Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik
Vandenhoeck & Ruprecht ln Göttingen
HANS WEDER
Einblicke ins Evangelium Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980-1991
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Für Robert Leuenherger
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnohme Weder, Hans: Einblicke ins Evangelium: exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik; gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980-1991/ Hans Weder. - Göttingen: Vandenhocck und Ruprecht, 1992 ISBN 3-525-53594-5
Umschlagentwurf: Karlgeorg Hoefer
© 1992 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. -Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Gulde-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Wer sich mit neutestamentlichen Texten beschäftigt, erhält überraschende Einblicke ins Evangelium. Das Evangelium spricht eine Sprache, die den Menschen liebt und sein lässt, weil es von einem Geschehen Zeugnis ablegt, in welchem die kreative Macht Gottes aufblitzt im Gemenge weltlicher Wirklichkeit. Je länger meine exegetische Arbeit am Neuen Testament dauerte, desto deutlicher kristallisierte sich das Evangelium als entscheidende hermeneutische Kategorie heraus. Wer die neutestamentliche Theologie in ihrem eigentümlichen Ansatz verstehen will, wird gut daran tun, hermeneutisch beim Evangelium anzusetzen. Was der Mensch aus eigener Kraft zu tun hat, sagt ihm das Gesetz. Die Wirklichkeit der fremden Kraft, die am Menschen arbeitet, erscheint im Evangelium. Beides hat seine eigene Würde. Doch kommt es darauf an, zu unterscheiden zwischen dem, was den menschlichen Kräften zugemutet werden muss, und dem, was der schöpferischen Macht Gottes zu verdanken ist. Wer diese Unterscheidung nicht macht, unterliegt meines Erachtens einem Selbstbetrug. In einem ersten Teil sind Aufsätze zusammengestellt, die als notwendige Ergänzung zu meiner Neutestamentlichen Hermeneutik 1 zu verstehen sind. Sie gliedern sich ein in den dort angefangenen Versuch, das hermeneutische Potential der neutestamentlichen Texte zu erkennen und für das gegenwärtige Verstehen des Neuen Testaments fruchtbar zu machen. Dabei kommen auch wissenschaftstheoretische und philosophische Probleme zur Sprache. Die Aufsätze des zweiten Teils haben ihre thematische Einheit darin, dass sie sich auf die anthropologischen Erträge theologischer Hermeneutik konzentrieren. Die Begegnung mit dem Evangelium hat schon im Neuen Testament zu interessanten Einblicken ins Menschliche geftihrt. Kennzeichnend ftir die neutestamentliche Anthropologie ist ihre Gestalt: das Humanum wird nicht systematisch definiert, sondern die Menschen werden auf das Menschliche angesprochen. Das Nachdenken über das Humanum ist also insofern
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Zürich 1986 (11989) (Zürcher Grundrisse zur Bibel).
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Vorwon
menschlich, als es schon von sich aus die Gestalt der Zuwendung zum Menschen hat. Die paulinische Theologie kann - namentlich in ihrer reifen Ausprägung als Rechtfertigung aus Glauben - verstanden werden als eine grossartige Entdeckung des Evangeliums. Arbeiten dazu sind im dritten Teil zusammengestellt. Sie lassen sich umreissen mit den Stichworten Freiheit, Sünde und Gesetz. Die schönste Frucht des Nachdenkens über den Christus. wie es im Neuen Testament stattgefunden hat, ist nach meinem Urteil die johanneische Theologie der Inkarnation. Hier liegen ungeahnte Schätze für die hermeneutische Bemühung verborgen. Die Arbeiten im vierten Teil sind ein Versuch, ein paar wenige Steine ans Licht zu bringen. Eine weitere Beschäftigung mit dem Inkarnationsgedanken des Johannesevangeliums scheint mir gerade hermeneutisch aussichtsreich. Alle Aufsätze wurden in formaler Hinsicht vereinheitlicht. Literaturangaben werden in den Anmerkungen mit Kurztiteln gemacht, die vollständigen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Viele haben zum Entstehen dieser Aufsatzsammlung beigetragen. Ich danke Herrn Dr. A. Ruprecht für seine Bereitschaft, das Buch in seinem Verlag erscheinen zu lassen. Ich danke Herrn K. Ruckstuhl, meinem Assistenten auf Zeit, der die Sammlung mit grosser Exaktheit bearbeitet und bei der Erstellung des Layouts mitgeholfen hat. Ich danke Frau C. Holstein, meiner Sekretärin, die die Druckfahnen sehr aufmerksam durchgelesen hat. Ich danke Herrn K. Haldimann, meinem Assistenten, der wertvolle sachlichen Hinweise zu einzelnen Arbeiten gegeben hat. Wer Auslegung des Neuen Testaments als theologische Aufgabe betreibt, ist angewiesen auf kritische Begleitung und freundschaftliche Ermutigung. Zum Zeichen des Dankes für viele Gespräche am Mittag sei dieses Buch Robert Leuenherger gewidmet. Zürich, den 1. November 1991
H.W.
Inhaltsverzeichnis
I Zur Hermeneutik neutestamentlicher Theologie Zum Problem einer »christlichen Exegese«. Ein Versuch, einige methodologische und hermeneutische Anfragen zu formulieren ...................................................................... 9 Die Gabe der ~'flVEi.a ( I Kor 12 und 14) ............................................. 31 »Evangelium Jesu Christi« (Mk 1,1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1,14) ................................................................................. 45 Wunder Jesu und Wundergeschichten ................................................. 61 Zur Hermeneutik des Lehrens. Neutestamentliche Überlegungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Didaktik ................... 95 Exegese und Dogmatik. Überlegungen zur Bedeutung der Dogmatik für die Arbeit des Exegeten ......................................... 109 Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament ......................... 137 Wirksame Wahrheit. Zur metaphorischen Qualität der Gleichnisrede Jesu .............................................................................. 151 Sprache und Wirklichkeit -Theologische Überlegungen .................. 167 Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangeneo ....................................................... 183 »Ich aber sage euch«. Zur Begründung der Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt ....................................................................... 20 I
II Einblick ins Menschliche Leiblichkeit. Neutestamentliche Anmerkungen zu einem aktuellen Stichwort ............................................................................. 219 Die Arbeit der Utopie ......................................................................... 239
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lnhallsverzeichnis
Geistreiches Seufzen. Zum Verhältnis von Mensch und Schöpfung in Römer 8 ................................................................. 24 7 Einblick ins Menschliche. Anthropologische Entdeckungen in der Bergpredigt ............................................................................... 263 Die Abwesenheit der Tugend. Neutestamentliche Überlegungen zum Problem des Tugendhaften .......................................... 287 »Bessere Gerechtigkeit« als Prinzip menschlichen Verhaltens .......... 297 II/ Paulus · F..ÄEU'6Epia und Toleranz ...................................................................... 309
Gesetz und Sünde. Gedanken zu einem qualitativen Sprung im Denken des Paulus ......................................................................... 323 Der Mensch im Widerspruch. Eine Paraphrase zu Röm 7,7-25 .......................................................... 347 IV Theologie der Inkarnation (Johannes) Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 .......... 363 Der Mythos vom Logos (Johannes I). Überlegungen zur Sachproblematik der Entmythologisierung ......................................... 40 I Die Asymmetrie des Rettenden. Überlegungen zu Joh 3,14-21 im Rahmen johanneischer Theologie ................................................. 435
Literaturverzeichnis .. .......................................................................... 467 Verzeichnis der ursprünglichen Veröffentlichungsorte ...................... 491
Zum Problem einer »christlichen Exegese« • Ein Versuch, einige methodologische und hermeneutische Anfragen zu formulieren Der Begriff »christliche Exegese« ist in mancherlei Hinsicht problematisch, nicht zuletzt deshalb, weil er suggerieren könnte, die wissenschaftliche Disziplin der Exegese sei methodologisch differenzierbar in eine christliche und eine nicht- bzw unchristliche Spielform. Eine derartige Annahme wird in den folgenden Überlegungen nicht gemacht. Die Verwendung des Begriffs »christliche Exegese« will lediglich einen fast selbstverständlichen Sachverhalt anzeigen: Einerseits ist das Faktum zu respektieren, dass Exegese vornehmlich - wenn auch nicht ausschliesslich - von christlichen Theologen betrieben wird. Und diese subjektive Disposition des Auslegers hat zweifellos einen beträchtlichen Einfluss auf die konkrete Gestalt wissenschaftlichen Arbeitens. Diesen Einfluss ausmerzen zu wollen, wäre sinnlos; sinnvoll ist jedoch, ihn in die methodelogische Selbstreflexion einzubeziehen. Andererseits besteht die »Christlichkeit« der Exegese grundsätzlich darin, dass in ihr ein axiomatisches System zur Anwendung kommt, das der theologischen Eigenart der auszulegenden Texte möglichst weitgehend zu entsprechen sucht. Wird dieser Grundsatz respektiert, so hat dies zweifellos auch methodische Konsequenzen. Ein Blick auf die gegenwärtig nicht nur in der Theologie! - angewendeten Auslegungsmethoden zeigt, dass diese - auch wenn man sie streng als instrumentellen Gebrauch der Vernunft versteht - durchaus nicht eindeutig oder gar wertfrei sind. So ist es beispielsweise eine offene Frage, ob eine materialistische Textexegese, welche den Text methodologisch zum Überbauphänomen macht, 2 überhaupt noch in der Lage ist, dem Selbstverständnis der neu1 Überarbeitete Fassung eines Referats. das am SNTS-Meeting 1979 (Durham) der Seminargruppe, welche das Thema der »Christlichen Exegese« bearbeitete, vorgetragen worden ist. lBetrachtet man die (christlich-)exegetische Rezeption solcher Auslegungsmethoden, so fällt auf. dass - selbstverständlicherweise - theoretisch immer wieder betont wird. es gehe nicht um die Übernahme eines materialistischen Unterbau-Überbau-Schemas. Wie weit dies im praktischen Voll:uK der Auslegung durchgehalten wird, ist meistens eine andere Frage. Gewisse Sprachregelungen lassen immerhin einige Zweifel aufkommen. Ein Beispiel möge
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese•
testamentliehen Texte gerecht zu werden. Es ist überflüssig zu sagen, dass selbstverständlich auch neutestamentliche Texte auf dem Hintergrund eines historisch-materialistischen Geschichtsverständnisses ausgelegt werden können. Wohl aber ist zu bedenken, ob auf diese Weise die Texte nicht methodologisch vereinnahmt werden und also ihnen die Möglichkeit entzogen wird, überhaupt noch zum Sprechen zu kommen. Eben diese Möglichkeit methodisch zu etablieren, ist wohl die grundlegende Absicht und Aufgabe jeder »christlichen Exegese«. Diese Absicht hat zur Folge, dass jeder instrumentelle Gebrauch der Vernunft auf seine weltanschaulichen Implikationen hin kritisch zu reflektieren ist. Diese Grundlagenreflexion führt notwendigerweise zu methodologischen Konsequenzen. Freilich gilt dies nicht nur im Blick auf das genannte Beispiel der historisch-materialistischen Textinterpretation, sondern ebensosehr beispielsweise im Blick auf das in der historischkritischen Methode implizierte Geschichtsbild, das ständig auf seine Adäquatheil hin zu befragen ist.
Ausgangspunkt Massgeblicher Ausgangspunkt der folgenden Überlegung ist, dass der christliche Glaube von allem Anfang an in einem intimen Verhältnis
dies erläutern: In einem Aufsatz über den Besitzverzicht der Jesusjünger (Wir haben alles verlassen 161-96) schreibt G. Theissen ausdrücklich. der vorliegende (soziologische) methodische Ansatz gehe davon aus. dass es keine soziale prima causa flir geschichtliche Phänomene gebe. sondern nur eine Reihe von Faktoren ökonomischer. ökologischer. politischer und kultureller Art (aaO 162. man beachte die Reihenfolge). Im praktischen Vollzug der Auslegung fallen dann allerdings bemerkenswerte Sätze: Die formale Vergleichbarkeit von Jesusbewegung und Zeloten -erklärt sich daraus. dass die Radikalität ihres Ethos hier wie dort Ethos sozial entwurzelter Menschen war• (aaO 185: die Radikalität wird alsofunktionalisi~rt und auf das allx~m~in~ Phänomen der Entwurzelung zurückgeführt). Ein anderes Beispiel: »Wenn deviantes Verhalten zur Basis (!) religiöser Erneuerung wird. dürfte es ein charakteristisches Symptom für den Zustand einer Gesellschaft sein« (aaO 189: hier wird. bedingt durch den methodischen Ansatz. Ursache und Wirkung in charakteristischer Weise eindeulig identifiziert: von der theoretisch angesprochenen Wechselwirkung ist nichts mehr zu verspüren). Vielleicht muss der von Theissen selbst n01ierte Sachverhalt. dass die Texte zwar über den religiösen Aspekt der Nachfolge sehr viel aussagen. während sie hinsichtlich des sozialen Aspekts spröde sind. doch auch methodologisch ein grösseres Gewicht haben als dieser Aufsatz es zulässt. Die hier gewählten Beispiele sollen lediglich das oben anvisierte Grundproblem illustrieren: sie sind keinesfalls als prinzipielle Einwände gegen soziologische Textinterpretationen und schon gar nicht gegen den in manchen Punkten erhellenden Aufsatz Theissens zu verstehen.
Ausgangspunkt
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zur Geschichte gestanden hat. 3 Dies erkennt man schon daran, dass weite Teile des Neuen Testamentes nichts anderes wollen als die Geschichte Jesu von Nazareth erzählen. Freilich sind sie nicht darauf beschränkt, jene Geschichte bloss um ihrer selbst willen zu erzählen. Die Geschichte des Menschen Jesus von Nazareth ist vielmehr von grundlegender Bedeutung für den Glauben an Gott und insofern folgenreich für die Existenz jedes Menschen. 4 Wer als Historiker diese bestimmte, im eigentlichen Sinne des Wortes theologische Weise des Umgangs mit der Geschichte feststellt, ist damit auf das äusserst enge Verhältnis des Glaubens zur Geschichte aufmerksam geworden. Gleichzeitig ist ihm dadurch das Problem gestellt, wie jenes Verhältnis präzise zu bestimmen sei. Es scheint evident, dass einerseits der Glaube nicht in die Geschichte aufgelöst werden kann, und dass andererseits der Glaube ebenso wenig an die Stelle der Geschichte treten darf. Ein allein auf sich selbst gegründeter Glaube ist ebenso unwahrhaftig wie eine fides historica. Die genannte Verhältnisbestimmung von Geschichte und Glaube hat darüber hinaus unmittelbare Konsequenzen für die Auslegungsproblematik selbst. Sofern man nämlich davon ausgeht, dass eine angemessene Hermeneutik nicht bloss eine von den konkreten Textphänomenen unabhängige Technik darstellt, sondern immer auch ein Korrelat ihres Gegenstandes ist, muss sie sich sinnvollerweise an der Eigenart ihres Gegenstandes orientieren. 5 Deshalb kann die hermeneutische Bemühung nicht unberührt bleiben von dem angesprochenen Geschichtsbezug der auszulegenden Texte. Folglich muss die Hermeneutik des Neuen Testaments immer eine geschichtliche Hermeneutik sein. Wie eine geschichtliche Hermeneutik aussehen muss, lässt sich meines Erachtens nur im Dialog mit verschiedenen Disziplinen erarbeiten, vorab mit der Geschichtswissenschaft, dann mit der philosophischen und theologischen Hermeneutik, und schliesslich auch durch die Besinnung auf die exegetischen Ergebnisse in der neutestamentlichen Forschung selbst. Im folgenden sollen einige (sehr fragmentarische) Bemerkungen gemacht werden zu gewissen Teilaspekten des Problemkreises, der mit dem Stichwort »geschichtliche Hermeneutik« zur Stelle ist.
Dazu Ebeling, Bedeutung 13f.45. Vgl Joh 1.14: Hebr 9,12: Röm 6.10: Ebeling. Bedeutung 14; Dodd, History II ff. bes 22f. ~zur Sachorientierung der Henneneutik vgl Fuchs, Henneneutik 1 1963 103-118; ders. Marburger Henneneutik 7-11: Eheling, An. Henneneutik 256-258. 1
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
Meine Überlegungen betreffen vier Teilbereiche der geschichtlichen Hermeneutik: I. Zum historischen Geschichtsbegriff, insbesondere zum Problem der Verifikation historischer Sätze. II. Zum Gegenwartsbezug des Geschichtlichen. III. Zum Problem eines theologischen Bezugs auf Geschichte. IV. Zur methodologischen Problematik der neutestamentlichen Exegese.
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker Schon ein flüchtiger Blick auf die für gegenwärtige Exegese massgebliche historisch-kritische Arbeitsweise zeigt, dass die Anwendung der genannten Methode bereits einen bestimmten Geschichtsbegriff impliziert. Bei etwas genauerem Hinsehen kann man eine interessante Entdeckung machen: der in den Urteilen der historisch-kritischen Arbeit implizierte Geschichtsbegriff ist der Geschichtsbegriff jener Zeit, in der diese Methode zur Hochblüte kam, nämlich derjenige des Historismus. Der Geschichtsbegriff des Historismus wird indessen vorsichtig ausgedrückt - gegenwärtig weder von Historikern noch von Exegeten uneingeschränkt geteilt. Er ist in vielen Punkten entscheidend modifiziert worden.t• Deshalb befinden wir uns in der merkwürdigen Situation, methodologisch einen Geschichtsbegriff vorauszusetzen, den wir inhaltlich gar nicht mehr teilen. Ein Teil des Unbehagens an der historisch-kritischen Arbeitsweise mag auf diese merkwürdige Situation zurückgehen. Daraus wird zwar mancherorts der Schluss gezogen, der historisch-kritischen Denkweise sei am besten überhaupt der Abschied zu geben. Dies bedeutet aber keine Bewältigung sondern eine Verdrängung jener merkwürdigen Situation. Sie wird meines Erachtens angemessen bewältigt, wenn sich die Exegese erneut in den Dialog mit der Geschichtswissenschaft begibt, insbesondere mit den geschichtswissenschaftliehen Bemühungen um einen adäquaten Geschichtsbegriff. Die Bemühungen laufen unter der wissenschaftstheoretischen Bezeichnung »Geschichtsphilosophie«. In jüngster Zeit ist es meines Erachtens besonders die analytische Geschichtsphilosophie (als repräsen"Zur Kritik am Historismus siehe Buhmann. Geschichte und Eschatologie 155-162. 169174: Robinson. Kerygma 83-90.
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker
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tative Beispiele dienen die Arbeiten von A.C. Danto und H. Lübbe)7, welche auf diesem Gebiet Entscheidendes, und zwar auch für die neutestamentliche Exegese Entscheidendes, geleistet hat. Zwei wichtige Aspekte sollen jetzt thematisch gemacht werden. Der erste Aspekt betrifft die eigentümliche Aufgabe des Historikers. Vorläufig könnte man sagen: Aufgabe des Historikers ist es, wahre Sätze über Ereignisse aus seiner Vergangenheit zu sagen. 8 Daraus könnte man den Schluss ziehen, der Historiker habe sich mit allen Mitteln der historischen Vernunft jener Position anzunähern, die ihm allerdings per definitionem verwehrt ist, der Position des Beobachers nämlich. 9 Man hätte dann vorausgesetzt, dass der Beobachter das grösste Mass an Wahrheit über Ereignisse aussagen kann. Nur in grösstmöglicher Annäherung an die Beobachterposition wäre es in diesem Falle dem Historiker möglich zu sagen, wie es wirklich gewesen ist. Um dies zu erreichen, muss er sämtliche Quellen und Urkunden durchforschen, muss er seiner Subjektivität Einhalt gebieten, muss er alles daran setzten, ein gegebenes Ereignis rein aus diesem selbst zu verstehen. Offensichtlich kann der Historiker diese Aufgabe niemals erftillen, da es ihm selbst unter optimalen Bedingungen nicht gelingt, sich in die Lage des Beobachters eines Ereignisses (im folgenden E-1 genannt) zu versetzen. Denn vom Beobachter ist der Historiker prinzipiell getrennt, weil Zeit verflossen ist. So scheint ihm nichts anderes übrig zu bleiben, als seinen Zeitabstand als unüberwindliches Hindernis zu beklagen, das ihn mehr oder weniger von der Erfüllung seiner eigentümlichen Aufgabe abhält. Indes ist die Frage, ob die Position des Beobachters überhaupt das Ideal des Historikers zu sein hat, bzw ob denn ein Beobachter zu sagen in der Lage ist, wie es wirklich gewesen ist. Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann man sich anhand eines einfachen Beispiels selbst ge-
7 Danto. Philosophie: Lübbe. Geschichtsbegriff. "Danto. Philosophie 49f. Zur hier implizierten Gegenständlichkeit des Vergangenen. die immer wieder in Zweifel gezogen worden ist. vgl Faber. Theorie 24: Gadamer. Wahrheit 268f: Buhmann. Geschichte und Eschatologie 192-237. "~Zum Problem vgl Danto. Philosophie 241-247. der zur Veranschaulichung die Vorstellung eines »idealen Chronisten« einführt. welcher alles. was zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 in der Geschichte und den Köpfen der Menschen geschieht. im Moment des Eintretens schon weiss. Dieser Chronist wäre freilich nicht einmal in der Lage. einfache historische Sätze wie »Der dreissigjährige Krieg begann im Jahre t618« zu bilden (aaO 246). Zur analytischen Einschätzung dieses Denkmodells vgl Fellmann. Ende 121 f.
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ben. Ein in Geschichtsbüchern zu findender Satz kann etwa so lauten: Mit der Besteigung des Mont Ventoux eröffnete Petrarca die Renaissance.10 Es leuchtet unmittelbar ein, dass dieser historische Satz jedenfalls nicht allein durch den Regress auf die Position eines Beobachters zu verifizieren ist. Selbst wenn wir einen Augenzeugenbericht, beispielsweise eine Tagebuchnotiz von Petrarcas Bruder hätten, der die angesprochene Bergbesteigung dokumentarisch schilderte, würden wir unseren Satz vergeblich darin suchen. Petrarcas Bruder nämlich wäre, gerade weil er Beobachter war, ausserstande gewesen, einen solchen Satz zu sagen. Dieser Satz über das Eintreten eines Ereignisses E-1 (Besteigung des Mont Ventoux) war ja erst möglich frühestens zum Zeitpunkt des Eintretens eines zweiten Ereignisses E-2 (der Renaissance). Den Satz auszusprechen war erst einem Historiker möglich, der über die Zukunft von E-1 (in unserem Falle: E-2) bereits Bescheid wusste. 11 Für die historische Verifikation dieses Satzes ist also gerade jener oben beklagte Zeitabstand konstitutiv. Andererseits wird niemand behaupten wollen, der Satz sage nicht auch Wahres über Petrarcas Bergbesteigung aus. Daraus folgt aber: die ganze Wahrheit über ein Ereignis E-1 ist keinesfalls zum Zeitpunkt seines Eintretens aussagbar. Oder: zu sagen, wie es wirklich gewesen, ist gerade dem Beobachter unmöglich. Daraus folgt weiter: Ereignisse, welche gegenüber einem zu beschreibenden Ereignis E-1 in der Zukunft liegen, machen es allererst möglich, ein grösseres Mass an Wahrheitserkenntnis im Blick auf E-1 zu erlangen, als dies zum Zeitpunkt seines Eintretens möglich gewesen wäre. 12 Vieles spricht dafür, dass genau diese Wahrheit zu erkennen die Zur Analyse dieses Beispiels vgl Danto. Philosophie 254f. Dieser vordergründig unscheinbare Neuansatz im Blick auf die eigentümliche Aufgabe des Historikers wird von Fellmann als kopunikaniJcht' Wt>ndunx in der Geschichtsauffasssung bezeichnet. »Die qualitative Differenz der Standpunkte äussen sich nicht darin. dass der Historiker mehr weiss. sondern dass er das Geschehen anders sieht. nämlich in Jt>int>r KontinRt>n:" (Fellmann. Ende 132. Hervorhebung von mir). 1: In diesem Zusammenhang macht Danto gellend. dass zugleich mit der (unbestreirbaren) Existenz von Zukunft.tkontinxt>nun auch die Existenz von Vt>r~:anxt>nht>it.tkontinxt>n:t>n gegeben ist. Wenn es die ersteren gibt. so muss es auch »mit der Sache unvereinbare Beschreibungen (geben). die gewissermassen über einem gegebenen vergangeneo Ereignis schweben. ausserstande. definitve semantische Beziehungen zu dem Ereignis herzustellen. solange sich nicht irgendetwas in der Zukunft ereignet« (Danto. Philosophie 312>. Eine vollkommene Erkenntnis der Vergangenheit kann es also grundsätzlich deshalb nicht geben. weil es keine vollkommene Erkenntnis der Zukunft gibt (und also nicht etwa deshalb. weil die Verg;angenheit der Beobachtung unzugänglich und nur lückenhaft überliefen ist). vgl aaO 246. 37. 315. Dies ist auf die uitlic·hkt>it der Ereignisse zurückzuführen. die eben darin besteht. dass jedes 10 11
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker
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eigentümliche Aufgabe des Historikers ist. Es versteht sich von selbst, dass er auch in diesem Falle verpflichtet ist, einen Regress auf das Ereignis E-1 zu vollziehen. Wäre Petrarca nicht auf jenen Berg gestiegen und hätte er nichts mit der (späteren) Renaissance zu tun gehabt, dann wäre unser Beispielsatz falsch. Selbstverständlich muss der Regress auf das historisch-faktische Geschehen vollzogen werden, aber er liefert nur Teilkriterien für die Verifikation historischer Sätze. Daraus ergibt sich: der Historiker hat schon als Historiker die Aufgabe, über das Faktische hinauszugehen, damit er zu zutreffenden Sätzen kommen kann. Nur andeutungsweise kann darauf hingewiesen werden, was diese Definition der historischen Aufgabe für die exegetische Bearbeitung neutestamentlicher Texte, insbesondere der Evangelien, bedeuten kann. Die bekannte Tatsache, dass die Evangelien die Geschichte des Jesus von Nazareth unter ausdrücklichem Einbezug des Wissens über seine Zukunft (d.h. aus nachösterlicher Perspektive) erzählen, berechtigt als solche noch keineswegs zum Urteil, sie kämen als geschichtliche Quelle über Jesus nur bedingt in Frage. 13 Der in der exegetischen Literatur gängige Rekurs auf den historischen Jesus, der unter Absehung von der Zukunft, welche Jesus gehabt hat, geschieht, wird in diesem Licht fragwürdig. 14 Mindestens der Anspruch, durch einen solchen Regress zu erkennen, wie es wirklich gewesen ist, muss als unsachgemäss bezeichnet werden. Zur Frage, wie es wirklich gewesen ist, tragen die über das faktische Geschehen hinausgehenden Evangelien mehr bei, als gewöhnlich angenommen wird. Dass die Evangelien allerdings in einer noch ganz anderen Weise über das Faktische hinausgehen, als der Historiker es tut, soll nicht verschwiegen werden. 1 ~ Und dass der exegeti-
Ereignis unlösbar verbunden ist mit dem Zeitpunkt. zu welchem es sich ereignet: vgl aaO 320 (in Auseinandersetzung mit dem logischen Determinismus). 11 Auf die erforderliche Neubewenung des Markusevangeliums hat Pesch. Marku.H•,·anKt'· lium 148-54 mit dem wünschenswenen Nachdruck hingewiesen. 14 Dieser Ansatz scheint in der neueren exegetischen Diskussion wieder an Boden zu gewinnen. Sozusagen auf die Spitze getrieben wird er. wenn Pesch in einem Aufsatz zur Entstehung des Auferstehungsglaubens schreibt: »Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu kAnn ... einmal durch das zeitgenössische religionsgeschichtliche Material, muss entscheidend aber durch Jesus selbst. sein Wirken. sein Geschick. seinen Tod. seine Person vermittelt sein: Durch den Glauben. den er gestiftet hat« (Entstehung 226: im Blick auf die zugrundeliegende Axiomatik ist der ganze Aufsatz sehr instruktiv). 1 ~ Immerhin bleibt zu beachten. dass auch der Historiker über das Faktische hinausgeht. indem er es im Lichte des Künftigen zur Sprache bringt. Deshalb kann jedenfalls der Unterschied zwischen dem historischen und dem theologischen Bezug auf Geschichte nicht mehr in
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
sehe Rekurs auf das Faktische auch seinen Sinn hat, soll noch weniger angezweifelt werden. Es soll lediglich betont werden, dass dieser Regress nicht das einzige Kriterium historischer Wahrheitstindung darstellt. Schon das allein dürfte für die gegenwärtige Praxis der historisch-kritischen Methode von nicht geringer Bedeutung sein. Der zweite Aspekt geschichtsphilosophischer Art betrifft die Sprache, welche der Historiker spricht, bzw zu sprechen hat. Ein Blick sowohl in die synoptischen Evangelien wie auch in die Geschichtsbücher der Gegenwart vermag zu zeigen, dass die Grundform geschichtlicher Rede die Erzählung ist.l 6 Die dem Geschichtlichen angemessene Sprachform ist geprägt von der erzählenden Grundstruktur: das geschah, dann geschah, und dann geschah. Das ergibt sich aus der Eigenart des Geschichtlichen selbst. Im Gegensatz etwa zum naturwissenschaftlichen Denken, das akkurat darum bemüht ist, alle erzählenden Sätze zu eliminieren und sie in »Wenn-Dann-Sätze« umzuformen, gelingt es der Geschichtswissenschaft nicht, auf erzählende Sätze zu verzichten. Dies hat seinen Grund darin, dass das geschichtlich Einzelne oder die individuelle Totalität des Geschichtlichen niemals reduzierbar ist auf bedingende Faktoren oder allgemeine Gesetzmässigkeiten (und selbst wenn es solche Gesetzmässigkeiten geben sollte, wären sie erst nach dem Eintreten eines Ereignisses auf dieses anwendbar). Darum kann der Historiker seine Sprache nicht auf »Wenn-Dann-Sätze« beschränken; solche Sätze stehen als sprachlicher Ausdruck einer Theorie, deren Ziel eine Invarianz gegenüber Zeit und Individuellem ist. Auf solche Theorien kann der Historiker sich nicht beschränken, weil das eigentliche Wesen des Geschichtlichen in der Temporalität und Individualität besteht. Deshalb kann man sagen: die Erzählung, die eben darauf verzichtet, das Einzelne in das Allgemeine aufzuheben, ist die Grundform geschichtlicher Redeweise. Sie respektiert die Unableitbarkeit des Geschichtlichen, seine Zufälligkeit 17 und seinen überraschen-
Analogie zum Unterschied von Faktum und Deutung formulien werden. Die Differenz ist vielmehr selbst auf der E~n~ d~r D~utunK anzusiedeln. 111 Das narrative Element im But'ich der G~schichtsschr~ihunx ist eben deshalb unentbehrlich. weil es sich bei der Geschichte um ein Geschehen handelt. das wesentlich Handlungsvorgänge und (nicht-handlungsrationale) Ereignisse umfasst; dazu Lübbe. Geschichtsbegriff 73.74.75; Danto. Philosophie 392: Fellmann. Ende 134: Für die Geschichte ist die Differenz von Erwanung und Erfllllung konstitutiv. 17 Vgl Lübbe. Geschichtsbegriff 63: Troeltsch. Historismus 51; Faber. Theorie 68ff. bes 8688; kritisch demgegenüber Acham. Geschichtsphilosophie 245f.333f. Unter Zufall wird hier
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker
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den Charakter. Es soll wiederum nicht behauptet werden, nomothetische Wissenschaften und Sprachformen hätten in der Geschichtswissenschaft nichts zu suchen. Es soll lediglich bestritten werden, dass sie das Idiographische, die erzählende Vergegenwärtigung des Vergangenen, jemals werden ersetzen können. Von hier aus wird der Blick geschärft für die Problematik mancher Methoden, die in jüngster Zeit in die exegetische Wissenschaft einbezogen werden. Sicher haben soziologische, psychologische oder strukturalanalytische Denkmodelle ihr Recht. Aber es wäre dennoch verfehlt, wenn die Exegese den nomothetischen Sprachformen und Denkweisen gänzlich verfallen würde und dabei ihre eigenste Aufgabe vergässe: die Aufgabe der wissenschaftlichen Respektierung der Individualität und Unableitbarkeit des mit Jesus Christus entstandenen Glaubens, der weder religionsgeschichtlich abgeleitet noch soziologisch oder psychologisch funktionalisiert werden darf, sondern von dessen Entstehen im Grunde nur erzählt und dessen Unableitbarkeit auf diese Weise respektiert werden kann. 1K In diesem Zusammenhang ist meines Erachtens von Bedeutung, dass die Sprache des christlichen Glaubens von allem Anfang an so eng mit der Sprache der Geschichte verwandt ist. Die Wahrheit, die in der Sprachform der Erzählung ausgesagt wird, ist eben von einer anderen Art als die, welche beispielsweise dem Satz des Pythagoras zukommt. Es ist eine Wahrheit, die dem menschlichen Geist nicht überall und jederzeit erschwinglich war, sondern die ihm als potestas aliena, als durch die Externität der Geschichte vermittelte Wahrheit zugekommen ist. Es ist eine Wahrheit, die zur unmenschlichen und entfremdenden Ideologie wird, sobald man sie unter Absehung von dem sie vermittelnden Geschehen zur Sprache bringt. Verdankt sich diese Wahrheit einem geschichtlichen Zufall? Ja - sofern damit gesagt werden will, dass mit dem Rekurs auf die zufällige Geschichte sichergestellt ist, dass der verstanden. was unter keine Handlungsratio zu bringen ist. was durch keine Gesetzmässigkeil vollständig zu erklären ist. was in keinen allgemeinen und höheren Endzweck aufzuheben ist. was schliesslich selbst die Erwanungen und Möglichkeiten des Denkens überschreite!. Der Zufall- so verstanden- ist die Bedingung der Möglichkeil historischen Redens überhaupt •x Die nomothetischen Denkansä!Ze haben die Tendenz. das Einzelne durch Rückführung auf Allgemeines theoretisch zu reduzieren beziehungsweise kausal zu erklären. »Das Verführerische der kausalen Betrach!Ungsweise isl. dass sie einen dazu fühn zu sagen: 'Natürlich. - so musste es geschehen.' Während man denken sollte: so und auf viele andere Weise kann es geschehen sein'« (Wingenstein. Vermischte Bemerkungen 76). Die Respeklierung des Einzelnen kann- wie die Entwürfe von Danto und Lübbe deutlich zeigen -durchaus auch M'isst'nschaft/ic·h vollzogen werden.
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Zum Problem einer >>Christlichen Exegese«
christliche Gebrauch des Wortes Gott keine menschliche Möglichkeit ist.
II. Zum Gegenwartsbezug des Geschichtlichen Mit dem oben angedeuteten Grundzug geschichtlicher Sätze hängt es zusammen, dass der Gegenwartsbezug erneut zum Problem wird. Erblickt man das Wesen des Geschichtlichen darin, dass es notwendig der Vergangenheit angehört, dann würde jene Weise des Gegenwartsbezuges, die auf das Gleichzeitigwerden mit dem Vergangenen aus ist, eben das zerstören, was sie auf die Gegenwart beziehen wiJJ.1 9 Denn der Historiker, der sich um Gleichzeitigkeit mit dem auf die Gegenwart zu beziehenden Vergangenen bemüht, macht dadurch gerade sein qualitatives Plus rückgängig, welches genau darin besteht, dass er mehr weiss über ein Ereignis als selbst bei idealer Gleichzeitigkeit zu wissen möglich wäre. Um es an einem neutestamentlichen Beispiel zu verdeutlichen: die Forderung, der irdische Jesus sei durch existentielle Begegnung und dabei unter Absehung vom Kerygma (d.h.: von der Zukunft des Irdischen) auf die Gegenwart zu beziehen, ist schon historisch gesehen unsachgemäss, weil sie dazu anhalten will, das Wissen um die Zukunft des Irdischen auszublenden. Von da aus wird die Behauptung, die Begegnung mit dem Irdischen führe zu demselben Resultat wie die Begegnung mit dem Kerygma, 20 sehr fragwürdig, weil diese Weise des Gegenwartsbezugs weder der Zeitlichkeit des Irdischen noch der Geschichtlichkeit des Kerygmas gerecht zu werden vermag. Die Frage nach dem Gegenwartsbezug des Geschichtlichen lässt sich umformulieren in die Frage, was aus der Geschichte zu lernen sei. Eine häufig gegebene Antwort lautet: aus der Geschichte kann man lernen, wie man sich verhalten soll. 21 Ihr scheinbarer Vorzug besteht darin, dass - vordergründig gesehen - der Vergangenheitscharakter der Geschichte unversehrt bleibt. Blickt man genauer hin, so entdeckt man freilich, dass die normative Bedeutung des Vergangenen nur durch jenen Abstraktionsvorgang gewonnen werden kann, der das Vergangene
1 ~ Dazu Fellmann. Ende 117 (mit Blick auf den existentialistischen Geschichtsbegriff): Bron. Wunder 106: Danto. Philosophie 419f. 2o So Robinson. Kerygma 112. 166-182. 2i Dazu Lübbe. Geschichtsbegriff 2~208.
II. Zum Gegenwartsbezug des Geschichtlichen
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zu einem Beispiel für allgemeine Normen werden lässt. Es handelt sich dabei nicht um eine Gegenwartsbedeutung des Geschichtlichen selbst, sondern der Gegenwartsbezug wird durch die Praxis des erkennenden Subjekts hergestellt. Es können jetzt nicht alle Fragwürdigkeilen dieses Umgangs mit der Geschichte genannt werden. Für den Moment möge der Hinweis genügen, dass diese praktische Gestalt des Gegenwartsbezuges jenen Hiatus verdeckt, der - auch im Blick auf die Geschichte zwischen dem Sein und dem Sollen aufgetan ist. 22 Was sich hier als Gegenwartsbezug des Geschichtlichen ausgibt, ist in Wahrheit bloss dessen praktische Ausbeutung. In gewisser Hinsicht verwandt ist jene Position, die die Bedeutsamkeil des Geschichtlichen darin sieht, dass es uns in die Situation der Frage und der Entscheidung führt. 23 Die Geschichte, in welcher der Mensch zwar auch als Handelnder aber nicht weniger als Leidender thematisch wird, gewinnt also ihre Bedeutung dadurch, dass sie den Menschen auf seine Handlungs- und Entscheidungsmacht anspricht, sofern sie ihn in jene Situation führt, wo er sich entscheiden und handeln muss. Hier scheint mir eine bedeutsame Reduktion im Spiel zu sein: warum soll der Mensch, der in der Geschichte als Handelnder und Leidender zur Sprache kommt, im Gegenwartsbezug derselben Geschichte nur noch als Handelnder, als einer, der sich entscheidet, thematisch sein? Ist es zutreffend, dass die Geschichte in dieser Ausschliesslichkeit meinen Willen anspricht? Demgegenüber ist die Vermutung angebracht, dass die Geschichte doch nicht nur in die Situation der Frage führt, sondern auch Gewährung ist, sofern sie mich auch zum Sein ermächtigt. Die Vergangenheit lässt sich (theologisch gesprochen) nicht exklusiv auf die Rolle des Gesetzes festlegen. Wer die neuere exegetische Literatur betrachtet, kann unschwer erkennen, dass die skizzierte Weise des Gegenwartsbezuges recht häufig ist. Daraus resultiert dann folgerichtig die Überbetonung der Entscheidungsdimension des christlichen Glaubens. Wer strikt von dieser Entscheidungsdialektik her denkt, tut so, als ob ich beispielsweise vor die gleiche Entscheidung gestellt wäre, der sich die Jünger Jesu gegenüber sahen. Demgegnüber sei die Frage erlaubt, ob sich nicht darin so etwas wie Gnade verbirgt, dass ich nicht mehr in der Situation bin, zwischen Jesus oder Barabbas wählen zu müssen, sondern mich mit Texten vorfinde, die in zuvor22 B
Vgl Lübbe. Geschichtsbegriff 215. Vgl Bultmann. Geschichte und Eschatologie 169 (gegen die historistische Position).
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Zum Problem einer »christlichen Exegese«
kommender Weise darauf aus sind, mich von allem Anfang an auf die Seite des Nazareners zu ziehen. Indes, was aus der Geschichte zu lernen sei, lässt sich noch anders bestimmen. Orientiert man sich am Beispiel der eigenen Lebensgeschichte, so ist klar, dass diese einem andern deshalb erzählt wird, damit er lernen kann, wer ich bin. Zu lernen, wer wir und andere sind, das ist die fundamentale Bedeutsamkeil der Geschichte. 24 Die Erzählung von Geschichtlichem vergegenwärtigt vergangene Identität. Deshalb ist über vergangene Identität - und insofern in einer obliquen Weise auch über gegenwärtige - etwas aus der Geschichte zu lernen. Die Lehre, die man daraus zieht, ist freilich nicht normativ, sie spricht nicht den Willen des Menschen an sondern seine Einbildungskraft. Die Geschichts-Erzählung lehrt, die Identität und damit die Unverwechselbarkeil des Erzählten zu respektieren. Die Distanz, die dabei zu Gesicht kommt, steht im Interesse einer grösseren Nähe des Geschichtlichen, als dies im Zuge der Vereinnahmung, die eine bloss scheinbare Nähe des Vergangenen darstellt, möglich wäre. In diesem Zusammenhang ist es meines Erachtens bedeutsam, dass der christliche Glaube sich nie darauf beschränkt hat, den erhöhten Christus in seiner allgegenwärtigen Bedeutsamkeil für das einzig Massgebende zu halten. Vielmehr wurde von allem Anfang an vom irdischen Jesus erzählt, wenn es darum ging zu sagen, wer der Christus sei. 2 ~ In den Erzählungen vom irdischen Jesus würdigt das Neue Testament den Sachverhalt, dass der Christus gerade nicht zur Disposition des Glaubens steht. Deshalb bringt es die lndisponibilität der Geschichte Jesu im Zusammenhang mit dem Christus des Glaubens zum Zuge. Damit sichert das Neue Testament prinzipiell den Erfahrungsbezug des Glaubens; dieser Erfahrungsbezug gründet in der Extemität und Unverwechselbarkeil der Geschichte Jesu 24 »Wir können ... daran festhalten. dass wir aus der Geschichte etwas lernen können. nämlich zu wissen, .,.,.~r wir und andu~ sind« (Lübbe. Geschichtsbegriff 213. Hervorhebung von mir). Dies gilt auch dann. wenn die Kritik an der Formel historia magistra vitae ernst genommen wird. B Entgegen einem weit verbreiteten theologischen Voruneil ist festzustellen. dass dies nicht bloss fLir die synoptische Tradition sondern gerade auch für Paulus gilt. Mit seiner ständigen Betonung des Kr~u=~stodes Jesu (vgl z.B. IKor 1.17.18-25: 2.2: Gal 2.19f: 3.1.13: Phil 2.8) bringt Paulus die Identität des geschichtlichen Seins Jesu (die für Paulus in dem Tod am Kreuz zu ihrem klarsten Ausdruck kommt) in die Rede vom kerygmatischen Christus ein. Zum Problem vgl Stuhlmacher. Christologie 454: Käsemann. Heilsbedeutung 67: Scheider, An. au~ 575. 6ff: Bornkamm. Verständnis 177f: ders. Paulus 2J976 166; Luz. Theologia crucis 117: Kenelge. Verständnis 124f: Schrage. Verständnis 60.
II. Zum Gegenwansbezug des Geschichllichen
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von Nazareth. Damit schützt es den Glauben zugleich vor dem bemächtigenden Griff nach Christus und eben so vor der Vereinnahmung Gottes selbst. Dies ist eine der pragmatischen Hauptfunktionen der Kategorie des Geschichtlichen im Kontext des christlichen Glaubens. Wir haben festgestellt. ~ass eine erzählende Vergegenwärtigung des Geschichtlichen den Menschen nicht auf seinen Willen. sondern auf seine Einbildungskraft anspricht. Schon in der Sprachform der Erzählung ist beschlossen, dass ich davor bewahrt werde, das Geschichtliche praktisch auszubeuten. Die Geschichts-Erzählung weckt vielmehr mein lnteresse 26 für die in ihr präsentierte vergangene Identität. Wenn aber mein Interesse geweckt ist, so geschieht meine Zuwendung zum Vergangeneo gerade nicht mit dem Zweck, irgend einen praktischen Nutzen daraus zu ziehen. Das Interesse ist der praktischen Ausbeutung so fremd wie die Liebe der besitzergreifenden Verfügungsgewalt In diesem Sinne kann man sagen, dass die Sprache der Geschichtlichkeil die Sprache der Liebe ist, jene Sprache also, die dem anderen Dasein einräumt, die das andere in seiner eigenen Identität zu respektieren bemüht ist. 27 Wenn die geschichtliche Sprache eine Grundform der Sprache des Glaubens ist, so ist schon mit der Weise, wie der Glaube spricht, dem Missverständnis vorgebeugt. dass von Gott aus irgend einem praktischen Interesse die Rede sein könnte. Im Kontext des Christlichen ist von Gott nur deshalb die Rede, weil er sich in Jesus Christus zur Sprache gebracht hat. Anders gesagt: Gott ist weltlich nicht notwendig; 28 und eben dies zu wahren ist die Funktion, welche die Sprachform der geschichtlichen Rede hat. Deshalb bedeutet sie einen Gegenwartsbezug des Geschichtlichen. der weder die Vergangenheit auf die Rolle des Gesetzes festlegt noch den Angesprochenen in die Position der Entscheidungsmacht und des Handlungszwangs versetzt. Vielmehr lenkt sie den Angesprochenen ab von sich selbst und seiner Gegenwart, um ihn auf diese Weise neu auf seine Gegenwart zu beziehen.
Vgl Lübbe. Geschichlsbegriff 159.191 f.297 (mil Verweis auf Blumenberg). ·Dit Spra,·ht dtr Gtschichtlichktit bilde! jenes Sagen ... aus. in welchem einer dem andem die Möglichkeil zumulel und einräum!. sich von der Weh so zu distan:itrtn. dass alle gerade an der Weh erfahren. was grösser isl als diese (Gal. 6.2f0.« Diese Sprache isl insofern die Sprache der Liebe. als Liebe »weder nur Gesinnung noch nur Hahung isl. sondern ein Einräumtn von Dasein und vor allem die Treue zu einem Won. das dem Gelieblen gegeben worden isl« (Fuchs. Hermeneulik 1 1963 174). 2A Dazu vgl Jüngel. Geheimnis 16-44. 211
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Zum Problem einer »christlichen Exegese«
III. Zum Problem eines theologischen Bezugs auf Geschichte In den vorangegangenen Überlegungen stand die geschichtswissenschaftliehe Problematik stark im Vordergrund, so dass zu wenig berücksichtigt wurde, dass zwischen dem historischen Bezug auf Geschichte und dem theologischen Bezug auf Geschichte qualitative Unterschiede bestehen. Auf diese soll jetzt eingegangen werden. Die eingangs gemachte Feststellung, dass der christliche Glaube ein intimes Verhältnis zur Geschichte habe, findet gegenwärtig fast allgemeine Anerkennung. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses enge Verhältnis in neuerer Zeit immer wieder Auflösungsversuchen ausgesetzt war. Insbesondere im Anschluss an den ebenso faszinierenden wie problematischen Satz Lessings von den zufälligen Geschichtswahrheiten hat man gemeint, einen fundamentalen Widerspruch zwischen der Zufälligkeit des Geschichtlichen und der sich aus ihr ergebenden prinzipiellen Unsicherheit einerseits und der Gewissheit des Glaubens andererseits feststellen zu müssen. Daran schlossen sich die verschiedensten Versuche an, den Glauben von der Zufälligkeit der Geschichte fernzuhalten. Die fides historica wurde zur allgegenwärtigen Gefahr für den Glauben emporstilisiert. 29 Alle diese Versuche haben den Nachteil, das Verhältnis des Glaubens zur vergangenenGeschichte nicht mehr angemessen würdigen zu können. Etwas pointiert ausgedrückt: alle diese Versuche haben einen Zug zur Gnosis, den sie übrigens an sich selbst wahrnehmen und der ihnen beträchtliche Schwierigkeiten macht. Ihnen gegenüber wäre die Frage erlaubt, ob es denn wahrhaftig so selbstverständlich sei, dass der Glaube mit zufälligen Geschichtswahrheiten so wenig zu tun habe. Ist denn die Wahrheit des Glaubens tatsächlich analog zu jenen allgemeinen Vernunftswahrheiten, für die zufällige Geschichtswahrheiten allerdings nie Beweis werden können? Ist die Wahrheit des christlichen Glaubens allgemein und atemporal wie die Wahrheiten der Vernunft? Im Blick auf den Ursprung des Glaubens muss dies verneint werden. Der christliche Glaube !"Eine weit verbreitele theologische Denkfigur argumentien. dass es dem Wt'st'n des christlichen Glaubens widerspreche. wenn er sich auf »historische Tatsachen« gründe. Zu dieser Denkfigur vgl etwa Robinson. Kerygma 58f.94f: Das »Wesen des Glaubens ist die Zurückweisung weltlicher Sicherheil als einer Werkgerechtigkeit«: geschichtliche Vergewisse· rung sei also »Auch! in eine theologische securitas• (aaO 95). Dieselben Vorbehalte macht auch Buhmann. Verhältnis I~ 14. Dieselbe Denkfigur begegnet neuerdings wieder bei Han· lieh. Historisch-kritische Methode 483.
111. Zum Problem eines theologischen Bezugs auf Geschichte
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ist grundlegend bezogen auf den Zufall des Daseins Jesu und insofern auch auf die Zufälligkeiten, denen sich der Glaube Israels verdankte. Daraus soll freilich nicht der Schluss gezogen werden, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens identisch mit den zufalligen Geschichtswahrheiten sei. Damit würde der Glaube in Geschichte aufgelöst und insofern gleichfalls seines Verhältnisses zur Geschichte beraubt. Was identisch ist, kann nicht zugleich in einem Verhältnis stehen. Im Interesse einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Glaube und Geschichte lohnt sich die Beschäftigung mit den exegetischen Ergebnissen der neutestamentlichen Wissenschaft. Hält man sich etwa vor Augen, wie die synoptischen Evangelien sich auf die Geschichte Jesu beziehen, so fällt auf, dass es nicht bloss um die Erzählung der Geschichte geht. Vielmehr verlassen sie den Bereich des Geschichtlichen immer wieder, indem sie die Geschichte Jesu als Geschichte der Ankunft Gottes in der Welt erzählen. Das ist ja auch der Grund daftir, dass sie sich nicht mit der Gattung der Biographie begnügen konnten. Von Jesus wird so erzählt, dass er als Logos Gottes, als Bote der Weisheit, als neuer Adam, als Sohn Gottes und so weiter, transparent wird. 30 Darin zeigt sich, dass der christliche Glaube von allem Anfang an über das Geschichtliche hinausgegangen ist, und zwar in qualitativ verschiedener Weise als der Historiker über das Geschichtliche hinausgeht. Das Faszinierende dabei ist indes, dass der Glaube das Geschichtliche dennoch nie hinter sich gelassen hat. Wer dieser Gottessohn ist, wird mit Bezug auf die geschichtliche Identität Jesu ausgesagt. Durch das Bekenntnis zum Gottessohn wird der Irdische gerade nicht entgeschichtlicht, sondern vielmehr als der Geschichtliche in seiner unendlichen Bedeutung ausgesagt.·'' Eben dies unterscheidet den christlichen Glauben prinzipiell von jeder gnostischen Konzeption. 32 Für ihn ist und bleibt der Bezug auf das Geschichtliche konstitutiv. Dass dies zutrifft,
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Besonders augenfällig ist dies. wenn Markus in Mk 1.1 das folgende Evangelienbuch mit
ciPl"' UIU riayyd.lodhpoü Xpunoü überschreibt. Das vom irdischen Jesus verkündigte Evangeli-
um Gottes (vgl 1.14!) gehön unaunöslich zur ciPXIi jenes Evangeliums. dessen Inhalt nunmehr Jesus Christus ist: vgl Amold. Eröffnungswendungen 123-127: Feuillet. commencement 163174. bes 166-169: Gnilka. Markus I 42f.65f. 11 Dazu vgl Leroy. Jesus von Nazareth 232-249. n Zur Problematik des gnostischen <Miss-)Verständnisses und seiner Abwehr durch den Rückgriff auf die geschichtliche Identität Jesu vgl Schweizer, Leistung 21-24 (flir Mk): sowie Käsemann. Heilsbedeutung 103: Eichholz. Theologie 152: Schweizer. Ökumene 105: Käsemann. Analyse 92f (ftir Phi I 2.8).
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
lässt sich nicht nur an den Evangelien zeigen, sondern auch an der pauIinischen Kreuzestheologie. Paulus hat sich bekanntlich nie darauf beschränkt, den Kreuzestod Jesu nur geschichtlich - etwa als Martyrium des Propheten- zur Sprache zu bringen. Er hat den Kreuzestod Jesu als die Tat der Liebe Gottes verstanden (vgl Röm 5,8). Andererseits hat Paulus das Kreuz Jesu als geschichtliches Ereignis nie hinter sich gelassen. Das Kreuz ist bei ihm nirgends zur theologischen Chiffre geworden. Vielmehr bezeichnet es den bestimmten, konkreten Tod Jesu und ist es in dieser Verweisungsqualität konstitutiv (vgl etwa Gal 3,13). 33 Die Einheit von theologischer und historischer Dimension ist festgelegt im paulinischen Ausdruck des Wortes vom Kreuz (zß IKor 1,18-25). Im Wort vom Kreuz kommt das Kreuz weder bloss als theologisches Symbol noch bloss als historisches Ereignis zur Sprache. Denn das Wort vom Kreuz ist einerseits Torheit und Ärgernis, andererseits Gottesmacht und Gottesweisheit. Die Ärgerlichkeil und Torheit des Kreuzes ist darin begründet, dass angesichts dieses konkreten Sklaventodes Jesu von Gott gesprochen werden muss (ohne den theologischen Bezug ist das Kreuz in keiner Weise ärgerlich und töricht!). Das Ärgernis und die Torheit ergeben sich demnach daraus, dass das Wort Gott so auf die Geschichte des Kreuzestodes Jesu bezogen wird, dass dabei zwar die Dimension des Geschichtlichen überschritten aber nicht übergangen wird. Die Macht Gottes kommt ja im Wort vom Kreuz als die Kehrseite der Ohnmacht des Gekreuzigten zur Sprache; das, was künftig Macht Gottes zu heissen verdient, kann nur in seinem Zusammenhang mit jenem konkreten Ereignis der Ohnmacht Jesu verstanden werden; deshalb muss diese Geschichte theologisch im eigentlichen Sinne des Wortes verstanden werden. Das Wort vom Kreuz ist demnach Grundform des theologischen Bezugs auf Geschichte (dasselbe gilt übrigens von der Gattung »Evangelium«): in ihm wird auf eine Weise über das Geschichtliche hinausgegangen, dass dieses dabei dennoch nicht übergangen wird. An diesem Wort vom Kreuz hat sich eine geschichtliche Hermeneutik des Neuen Testaments zu orientieren. Schliesslich ist darauf aufmerksam zu machen, dass der dem christlichen Glauben inhärente Rückbezug auf Geschichte den Glauben vor
H Zum Problem des historischen Bezugs. welchen das Schriftzitat in Gal 3.13 vornimmt. vgl die Tempelrolle von Qumran. Kol 64.8f (dazu Maier. Tempelrolle 64.1240. Zum Verständnis von Gal 3.13 vgl ferner Kenelge. Verständnis 129; Kuhn. Jesus 33-35; Mussner. Galaterbrief 233f mit Anm 112.
111. Zum Problem eines lheologischen Bezugs auf Geschichle
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dem Verlust seines Erfahrungsbezugs bewahrt. Dies gilt zunächst in dem Sinne, dass Jesus von Nazareth, mit dem der christliche Glaube seinen Anfang nahm, in seinem irdischen Dasein durchaus in der Reichweite der Welterfahrung liegt. Seine Geschichte ist in einem prinzipiellen Sinne öffentlich,J 4 auch wenn sogleich eingeräumt werden soll, dass die Berichte über Erfahrungen mit Jesus von der NichtÖffentlichkeit innerer Anschauungen der Berichtenden nicht unberührt sind. Diese prinzipielle Öffentlichkeit der Geschichte Jesu bringt es mit sich, dass der christliche Glaube diskutabel und intersubjektiv vermittelbar ist, weil und sofern er nicht in der Privatheil innerer Erlebnisse seinen Ursprung hat. Die mit dem Geschichtsbezug gegebene prinzipielle Öffentlichkeit ermöglicht es den Denkweisen dieser Welt (zu denen nicht nur Weisheitssuche und Zeichenforderung, sondern auch die historisch-kritische Methode gehört), überhaupt an Jesus Christus heranzutreten, um dann allerdings auch in die Kehre zu kommen. Dieser hier anvisierte Erfahrungsbezug des christlichen Glaubens macht eine allgemein einsichtige Hermeneutik allererst möglich und ist gleichzeitig ein Schutz gegen die Gefahr, einer hermeneutica sacra zu verfallen.u Die Herkunft des Glaubens aus geschichtlicher Erfahrung sorgt ferner für die Erfahrungsbezogenheil christlicher Existenz. Im Lichte der Geschichte des Kreuzes sind die Welterfahrungen des Christen als Gotteserfahrungen ansprechbar. Deshalb kann beispielsweise Paulus die Korinther an ihre (soziale) Herkunft erinnern (I Kor I ,26-31 ), um so ihre frühere Erfahrung der Nichtigkeit und Niedrigkeit zur Auslegung jener Liebe Gottes werden zu lassen, in der Gott die Korinther gerade in ihrer Nichtigkeit gerufen und also geliebt hat. Die Erfahrung der Nichtigkeit und Schwäche wird dadurch zur Erfahrung der Liebe Gottes, welcher den Nichtigen und Schwachen zum GeHiss seiner Auferweckungsmacht in der Welt erwählt hat (vgl 2Kor 13,4)Y, Gewinnt die
14 Auf die prinzipielle Öffenllichkeil des Kreuzesgeschehens nimm! Paulus insbesondere in Gal 3.1 Bezug ~~~~~ ~ ... JlpCirfpli.,V. Darnil isl das Kerygma der Willkür subjekliver lnlerprelalion prin:ipidl en1zogen. '~ Dazu Sluhlmacher. Verslehen 218-220: sowie ders. Hislorisehe Krilik 126: .. unser hermeneulisches Modell is1 also kein spezielllheologisches ... «. 11• Zu 2Kor 13.4 vgl Slählin. Art dcnlevtll; 489.41-43: Käsemann. Ami 126. Beizuziehen sind ferner 2Kor 12.9 und Gal 2.19f. sowie die charaklerislische Eigenan der paulinischen Perislasenkalaloge. welche den Zusammenhang von Kreuzeslheologie und aposlolischer Erfahrung sehr schön zeigen ... Die dem Leidenden geschenkle &imq&~ und 01'1 isl nichl eine
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
Welterfahrung eine solche theologische Dimension, so braucht sie nicht mehr beschönigt und/oder praktisch übersprungen zu werden, sondern kann in aller Sachlichkeit gesehen und akzeptiert werden. Mit dem Erfahrungsbezug des christlichen Glaubens, welcher in seinem Geschichtsbezug - genauer: in seinem Bezug auf die Geschichte des gekreuzigten Christus - gründet, ist also zugleich die Erfahrungsbezogenheil christlicher Existenz gegeben. Jener Erfahrungsbezug ermöglicht ein Sein im Fleisch, das dennoch nicht ein Sein nach dem Fleisch ist. Auf solcher Grundlage kann dann auch eine Liebesbeziehung des Menschen zur Welt, zu den Menschen und zu sich selbst entstehen (vgl Gal 5,6). Diese beiden knappen Hinweise mögen genügen, um die Bedeutung des Bezugs auf geschichtliche Erfahrungl 7 anzuzeigen.
IV. Bemerkungen zur Methodenproblematik der Exegese Im folgenden möchte ich einige wenige Bemerkungen zur »christlichen Exegese« machen, wie sie sich aus den obigen Überlegungen ergeben. Der Leser möge die thesenartige Form verzeihen; sie bringt noch einmal zum Ausdruck, dass es sich beim vorliegenden Papier um einen Versuch handelt, einige Anfragen an die exegetische Methodik und Methodologie zu formulieren. I. Eine Exegese, die sich mit Texten beschäftigt, welche einen unübersehbaren Geschichtsbezug haben, wird im Blick auf ihren Geschichtsbegriff eine sorgfältige Wahl zu treffen haben. Sie wird darauf
Schöpfungsqualität. sondern nichts anderes als das 'Leben Jesu' (2Kor 4. 10) und damit 'Leben aus dem Tode' (Röm 11.15).« Deshalb fehlt in diesem Zusammenhang ein »Rekurs auf einen Schöpfer. dertrotzaller Kalamitäten und Aporien doch für Harmonie und Ordnung sorgt und die Geschichte lenkt« (Schrage. Leid 153 ). 17 Mit dem Begriff der geschichtlichen Erfahrung soll angezeigt werden. dass es sich um etwas handelt. das gerade in seiner Bezogenheil auf geschichtliche Tatsachen über diese hinausgeht. Geschichtliche Erfahrung ist nicht mit Beobachtung zu verwechseln. Vielmehr ist die Nicht-Beobachtbarkeit die Bedingung der Möglichkeit der geschichtlichen Erfahrung. aus welcher der Glaube herkommt: der Glaube konnte diese seine Erfahrung erst machen. als er das Kreuz Jesu im Licht der Auferweckung zu verstehen begann. Sofern im Begriff der Erfahrung derjenige der Gegenwärtigkeil angelegt ist (dazu Danto. Philosophie 154). kann man Geschichtliches per definitionem nicht »erfahren«. Die Erkenntnis des Geschichtlichen schliesst eine Gleichzeitigkeit mit ihrem Gegenstand ausdrücklich aus. Dennoch steht sie in beträchtlicher Analogie zur Erfahrung. Um diese Analogie festzuhalten. wird hier nicht bloss von geschichtlicher Erkenntnis. sondern von geschichtlicher Erfahrung gesprochen.
IV. Bemerkungen zur Methodenproblematik der Exegese
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zu achten haben, dass sie einerseits nicht einem Geschichtsbegriff verfällt, der die Zukunftsdimension der Ereignisse auszublenden versucht und ein Ereignis bloss im Regress auf es selbst zu beschreiben trachtet. Sie wird andererseits darauf zu achten haben, dass sie- im Vollzug ihrer Methoden - die Einzelereignisse und Einzeltexte nicht theoretisch reduziert. Unter theoretischer Reduktion sei hier das verstanden, dass ein Ereignis oder ein Text mittels nomothetischer Kategorien beschrieben und also in den Bereich des Allgemeinen aufgehoben wird. Um einer theoretischen Reduktion entgegenzuwirken, wird sich die Exegese bei allem Recht, das auch den nomothetischen Überlegungsgängen soziologischer, strukturalanalytischer oder psychologischer Art eingeräumt werden soll - von der historischen Methodik der erzählenden Erklärung 38 leiten lassen, welche den Phänomenen ihre Unableitbarkeit und Individualität nicht abspricht. Di·e bis in die jüngste Gegenwart immer noch geübte Unsitte der religionsgeschichtlichen Ableitung müsste endlich durchschaut werden können: dann aber ist nicht einzusehen, wieso ihre Fehler soziologisch oder tiefenpsychologisch noch einmal wiederholt werden sollten. Welchen Gewinn verspricht man sich denn von der Einordnung eines Textes in eine psychologische Theorie, wenn dabei der Text bestenfalls noch ein Sprechanlass für die sowieso schon bekannten theoretischen Inhalte ist? 2. Eine Exegese von Texten, welche einen so eindeutigen Geschichtsbezug haben wie die neutestamentlichen, wird eben diese Verweisungsdimension der Texte auch methodologisch zu respektieren haben. Respektiert man die Verweisungsdimension der Texte, so ergibt sich daraus eine kritische Distanz zu allen Auslegungsmethoden, welche die Texte als Welt in sich zu betrachten heissen, ohne zugleich ihren Verweisungsbezug, ihr Sagen von Welt, in die Auslegung einzubeziehen.39 Die historisch-kritische Exegese ist genau jener methodische Gebrauch der Vernunft, welcher vom Glauben selbst gefordert wird, sofern dieser ständig auf das Extra-nos der Geschichte verweist und dazu anhält, seine Sprache an diesem zu messen. Dieser Verweisungsbezug berechtigt zu einem vernünftigen Messen der Sprache des Glau-
'K Zur »erzählenden Erklärung« vgl die Analyse von Danto. Philosophie 232-291.371-406 und Lübbe. Geschichtsbegriff 35--68. Lübbes Absicht ist. »einen Geschichtsbegriff zu entwikkeln. der genau dasjenige Element der Historie fasst. über das sie nicht im Modus theoretischer, sondern erzählender Texte spricht« (aaO 28). 19 Dazu Ricoeur. Konflikt 32-39.
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
bens an dem, worauf sie verweist, und eben dieser Messvorgang ist dann auch der legitime Ort der Sachkritik, welche mit der wissenschaftlichen Exegese notwendig gegeben ist. Das sachkritische Kriterium ist genau jene Mitte, auf welche die Schrift verweist. Beachtet man, dass die Schrift auf ihr Mitte verweist, so muss Abstand genommen werden von den Versuchen, einen Teil der Schrift als ihre Mitte und also auch als sachkritische Basis zu deklarieren, gleichgültig, ob dies der historische Jesus der Synoptiker oder das paulinische Evangelium sei. 40 3. Die Unterscheidung von historischem und theologischem Bezug auf Geschichte muss auch exegetische Folgen haben. Wenn es wahr ist, dass die Auferweckungsmacht Gottes die Kehrseite der Ohnmacht des Gekreuzigten ist, und dass von da her alle Welt und alle Geschichte in ein neues Licht gestellt werden, dann kann sich die Exegese jedenfalls nicht dazu hergeben, die Phänomene ausschliesslich auf ihre weltliche Wirklichkeit festzulegen. Zweifellos ist das Sehen mit den Augen Gottes Sache des Glaubens und nicht Sache einer säkularen Methode. Dennoch kann sich auch die säkulare Methode nicht davon dispensieren, unter Einsatz des methodischen Gebrauchs der Vernunft dafür zu sorgen, dass die Phänomene und Texte in ihrer Unabgeschlossenheit belassen werden. Es kann also nicht Sache einer säkularen Methode sein, den glaubenden Zugang zu dem, was sie bearbeitet und auslegt, zu versperren.41 4. Die Exegese hat von der Fiktion Abschied zu nehmen, als seien historische Phänomene dann und nur dann verstanden, wenn das Wissen des Auslegers um ihre Zukunft ausgeblendet wird. Die Wirkungsgeschichte - ein Begriff, der trotz seines kausalen Anscheins nicht kausal verstanden werden darf - gehört mit zur historischen Wahrheitserkenntnis über ein vergangenes Geschehen oder einen vergangeneo
40 Dies ist kritisch in Anschlag zu bringen gegen den Ansatz von Schutz. Mitte passim. bes 429-433. 41 P.Stuhlmacher nennt als »drille hermeneutische Dimension theologischer Exegese« die »Offenheit für die BeKeKnUnK mit der uns aus der Trans:enden: heraus :ukommenden Wahr· heit Gottes« (Stuhlmacher. Kritik 125) und verweist ausdrücklich auf die Problematik. welche mit dem der Schriftauslegung jeweils zugrunde gelegten Geschichtsbegriff gegeben ist. Wie weit die prinzipielle Offenheit von der Einftlhrung der fast normativen Grösse »kirchliche Tradition« gestört wird. und ob der Begriff der »Hermeneutik des Einverständnisses« dazu geeignet ist. jene Offenheit des Geschichtlichen angemessen zu wahren. wird noch gründlich diskutiert werden müssen.
IV. Bemerkungen zur Methodenproblematik der Exegese
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Text, welcher jener Wirkungsgeschichte vorausliegt. Unter Wirkungsgeschichte ist freilich nicht bloss positive Entfaltung der Texte in der »kirchlichen« Tradition zu verstehen (das wäre ja Auslegungsgeschichte), sondern ebenso sehr auch die mannigfaltigen Folgen jener Texte in Dichtung und Kunst, in Weltanschauung und Wissenschaft. Ausdrücklich sei gesagt, dass auch die negativen Folgen (also die Absetzung oder die Aufgabe von wesentlichen Aussagen der Texte) hinzuzurechnen sind. Wird auf diese Weise wirkungsgeschichtlich gedacht, dann ist die bloss historische Deskription der Texte42 nur ein wenn auch nicht unwesentlicher - Teil der exegetischen Aufgabe, die insbesondere dahingehend auszuweiten ist, dass der Ausleger mit derselben methodischen Klarheit auf den Wegen weiterdenkt, die nun nicht mehr einfach die Wege der Texte sondern vielmehr die von den Texten gewiesenen Wege sind. 5. Ausgehend davon, dass der Geschichtsbezug des christlichen Glaubens wesentlich zu diesem gehört, muss meines Erachtens sehr darauf geachtet werden, welcher Sprachformen sich die Exegese bedient. Wendet sie tempusneutrale und beschreibende Sprachformen an, ist damit die Gefahr gegeben, dass sie im Vollzug der Auslegung die Zeitlichkeit der Texte rückgängig macht und damit zugleich ihre Eigenart zerstört. Es sollen Sprachformen zur Anwendung kommen, die es erlauben, die Würde des historischen Einzelphänomens angemessen zu wahren (von hier aus muss es als problematisch erscheinen, wenn beispielsweise die paulinische Theologie, welche ja in Briefform vorliegt, exegetisch in eine Systematik theologischer Lehren verwandelt wird). 6. Die Wahl der Sprachformen wird besonders entscheidend, wenn es um den exegetisch intendierten Gegenwartsbezug geht. Es gibt ja Sprachformen, die einen Gegenwartsbezug des Vergangenen schon deshalb verunmöglichen, weil sie durch tempusneutrale Beschreibung der Vergangenheit dieser ihre Zeitlichkeit nehmen, die für einen Gegenwartsbezug unabdingbar ist (ein Beispiel kann in der Umsetzung neutestamentlicher Texte in existential~ntologische Kategorien gesehen werden). Es gibt ferner Sprachformen, die einseitig den Willen des Menschen ansprechen und diesen zur praktischen Vergegenwärtigung des \'ergangenen verleiten (appellative Sprachformen, die zur Gesetzlichkeit in der Theologie führen). Wenn es demgegenüber zutrifft, dass
42 Dazu
Schlier. Grundzüge 9-12.
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
der Gekreuzigte in seiner Vergangenheit von gegenwärtiger Bedeutung ist, dann müssen Sprachformen gewählt werden, welche den Angesprochenen von sich selbst ablenken, indem sie ihn in das vergangene Geschehen verwickeln, um ihn selbst auf diese Weise neu auf die Gegenwart zu beziehen. Schliesslich noch ein Wort zur Aufgabe der Exegese im ganzen der theologischen Disziplinen: Ihre spezifische Aufgabe ist es, den christlichen Glauben ständig an seine geschichtliche Herkunft, insbesondere an seinen geschichtlichen Ursprung, zu erinnern. Bildlich gesprochen verhält es sich mit der Exegese wie mit etymologischen Worterklärungen. Gewiss ist man in der Lage, die Sprache zu gebrauchen, ohne ihre etymologischen Hintergründe zu kennen. Aber etymologisches Wissen führt dennoch zu einer Steigerung der Sprachkompetenz, weil es zunächst einmal rätselhaft erscheinen lässt, was man selbstverständlich gebraucht, um das Selbstverständliche dann in einer gesteigerten Weise verständlich werden zu lassen. In ähnlicher Weise lässt sich von der Exegese sagen, dass sie verrätselt, was dem gegenwärtigen Glauben selbstverständlich (bzw dem gegenwärtigen Unglauben unverständlich) erscheinen könnte, um auf diese Weise den Glauben zu einer Steigerung seines Selbstverständnisses zu führen. Diese Steigerung des Selbstverständnisses beruht insbesondere darauf, dass die Exegese an jenen geschichtlichen Zufall erinnert, welchem sich der Glaube verdankt. So erinnert sie ihn ständig daran, dass er sich weder menschlichen Wünschen noch weltlichen (oder gar praktischen!) Notwendigkeiten verdankt, sondern dass er seinen Grund hat in dem alle Wünsche und Notwendigkeiten hinter sich lassenden Ereignis der Liebe Gottes, welches seine konkrete und unverwechselbare Gestalt in der Geschichte Jesu Christi gefunden hat.
Die Gabe der E~'flVEta ( 1Kor 12 und 14) »Das primäre Verslehensphänomen ist nicht das Verstehen von Sprache. sondern das Verstehen durch Sprache.«• Diese hermeneutische Einsicht G. Ebelings gehön an den Anfang unserer Überlegungen zur Gabe der ERL'fl\IE\a. Damit soll angezeigt werden. unter welchem Gesichtspunkt die paulinischen Ausführungen im I Kor betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was gibt der paulinische Text zu verstehen im Blick auf das hermeneutische Problem? Die Erinnerung an Paulus geschieht in der Hoffnung. es könne dadurch etwas beigetragen werden zum Verständnis theologischer Hermeneutik. Selbstverständlich handelt es sich bei der nun folgenden exegetischen Bemühung um einen Verstehensvorgang. der G. Ebelings hermeneutische Einsichten in hohem Masse voraussetzt. Der hermeneutische Zirkel besteht wohl immer darin. dass bestimmte Einsichten an einen Text herangetragen werden. damit dieser neue Einsichten zu erzeugen vermag. Insofern mögen die folgenden Überlegungen als eine Wirkung hermeneutischer Theologie in Zürich verstanden werden. Nun ist es ja auch eine hermeneutische Einsicht. dass die Ursachen nicht für ihre Wirkungen verantwortlich sind. Das gilt auch für die vorliegende Wirkung und ihre mögliche Ursache, und es sei allen Verursachern hermeneutischer Wirkungen zum Trost gesagt.
I. Die Gestalt der iPJ.L'JlVEia In einem ersten Überlegungsgang werde ich die Gestalt der ERL'fl\12\a zu umreissen versuchen. wie sie in den beiden genannten Kapiteln des ersten Korintherbriefes in Erscheinung tritt. Allgemein lässt sich festhalten, dass die EAt'fl\IE\a zu den xapiOJUX'ta. den Gnadengaben, zählt: sie findet sich neben anderen Gnadengaben wie etwa prophetische Rede, Unterscheidung der Geister oder Zungenrede als ein Moment der Entfaltung kirchlichen Lebens in Korinth (I Kor 12.10). 2 Auffallenderweise ist die ERL'fl\IE\a eng auf die Zungenrede bezogen: offenbar ist die Zungenrede das einzige Geistphänomen, das einer Übersetzung bedarf. 1 Ebeling. 2 Zur
Won Gottes .H3 (das ganze Zitat kursiv. Hervorhebungen gesperrt). unsystematischen Aufzählung von Charismen vgl Conzelmann. I Kor 246f.
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Die Gabe der *A&'ll'&ia (I Kor 12 und 14)
Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die Zungenrede ja ein ekstatisches Lallen war, ein Ausstossen von unverständlichen Lauten. Trotzdem hat der Glossolale nach der Meinung des Paulus etwas zu sagen. Deshalb muss der hermeneutisch Begabte einspringen, um die unverständlichen Laute zu übersetzen. Der Rahmen, in welchem sich die 2PJ.LllVEia entfalten kann, lässt sich indessen noch genauer bestimmen: im Kapitel 14 verwendet Paulus grosse Mühe darauf, dem Glossolalen den Propheten gegenüberzustellen. Der ekstatischen Zungenrede hält er die verständliche Prophetie entgegen, wobei er mit seinem Werturteil nicht hinter dem Berg hält. Für Paulus ist es keine Frage, dass die Prophetie, das verständige Wort, die wertvollere Gabe darstellt. 3 Dennoch will er die Glossolalie nicht aus dem Gottesdienst verbannen: ))Wenn jemand in himmlischer Sprache redet, gut! Aber nur zwei oder höchstens drei und einer nach dem andem, und einer soll es übersetzen« (1 Kor 14,27). Daraus ergibt sich: die Gabe der Übersetzung hat ihren Ort, wo es um die Überführung der Zungenrede in Prophetie geht. Die 2PJ.lllVEia verwandelt das ekstatische Lallen in prophetisches Wort. Das ist der eigentliche Rahmen dieser Gnadengabe. Wer ihre konkrete Gestalt näher kennenlernen will, muss sie an diesem Ort aufsuchen. Die EPJ.lllVEla ist die Überführung des ekstatischen Zungenredens in verständige prophetische Sprache. Aus dieser Ortsangabe ergibt sich, was unter Übersetzung zu verstehen ist. 1. Der Zungenredner spricht, wie Paulus feststellt, nicht zu Menschen, sondern zu Gott. Keiner versteht ihn, im Geist redet er Geheimnisvolles. Demgegenüber spricht der Prophet zu Menschen, um sie zu erbauen und zu ermahnen ( 14,2f). Aufgabe des Hermeneulen ist es also, das nur zu Gott Gesprochene, das für Menschen Unverständliche verständlich zu machen. Der hermeneutisch Begabte interpretiert das Zungenreden so, dass es nicht mehr bloss an die Adresse Gottes ergeht, sondern für andere Menschen verstehbar ist. Das heisst: aus der Glossolalie wird eine den Menschen ansprechende Sprache. Und dies geschieht ganz einfach dadurch, dass er den formlosen Lauten die Gestalt der bekannten Sprache gibt. Daran kann man erkennen, inwiefern das Zur-Sprache-Bringen schon ein hermeneutischer Vorgang ist. 4
lDies ist das ausdrückliche Thema von 14.1-5: vgl Senfl. JCor 173-175. 4 Dies ergibt sich schon aus der Wonbedeutung von iA&tprielll (vgl Behm. An. *A&TJIIIND.
659. 22-30). Zum Problem vgl auch Ebeling. An. Hermeneutik. Sp.243.
I. Die Ges1alt der iA&tlfti.a
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2. Ein weiterer Aspekt der hermeneutischen Tätigkeit kommt in I Kor 14,13f zu Gesicht. Paulus ermahnt hier den Zungenredner. darum zu beten, dass er es auch übersetzen könne. Denn wenn einer in einer himmlischen Sprache betet, so betet sein Geist (das JtV~), sein Verstand aber ist unfruchtbar.~ Mit dem Geist muss hier der göttliche Geist gemeint sein, der im Menschen Reaktionen erzeugt, bei denen der Verstand unfruchtbar bleibt. Was bedeutet es, wenn der Verstand unfruchtbar bleibt? Es bedeutet, dass der göttliche Geist gar nicht in den Menschen eingeht, dass er gleichsam unverrichteter Dinge im Gebet zu Gott zurückkehrt. Glossolalisch im Geist beten und dabei den Verstand nicht zum Zug kommen lassen ist dasselbe, wie wenn Christus nicht im Fleisch gekommen wäre. Die Zungenrede ist zwar eine Wirkung des Geistes, sie ist jedoch nicht in der Reichweite des Verstandes. Also betrügt sich der Mensch um die Früchte seines Verstandes, es sei denn. er könne die Geistwirkung übersetzen. Was sind die Früchte des Verstandes? Dazu Paulus in I Kor 14,19: »Aber in der Gemeindeversammlung will ich lieber fünf Worte im Verstand reden, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend in Zungenrede«. 6 Die verständigen Worte sind dem Verstand anderer Menschen zugänglich. Deshalb können diese die Sache vernünftig beurteilen, um daraus zu lernen. Der göttliche Geist ist wirkungslos, wenn er nicht in verständliche Sprache gefasst wird. Denn der Verstand ist es, durch den der Geist Eingang findet in den Menschen. Der Verstand ist es, wo die Inkarnation Gottes sich auswirken kann. Die Aufgabe der Hermeneutik besteht demnach darin, die Wirkung des göttlichen Geistes in verständliche Sprache zu übersetzen. Anders gesagt: sie besteht darin, die Geisterfahrungen in die Reichweite der Vernunft zu bringen. Die Hermeneutik sorgt dafür, dass der Verstand eben dort ins Spiel kommen kann, wo der Mensch von der Macht religiöser Erfahrungen überwältigt zu werden droht. Sie sorgt dafür, dass der Verstand Früchte trägt, indem der Mensch vom Geist Gottes berührt
5 Mi I dem Pneuma isl hier ein ekslalischer Zusland angesprochen. welcher in Anlilhese zum Versland slehl (vgl Conzelmann. I Kor 280. der auf den Zusammenhang mil lnspiralionsvorslellungen hinweis!: Senfl I Cor 177). • Die Unlerweisung meinl genau: Un1erich1 über den Glaubensinhalt (dazu Beyer. An. ICD'nlXC. 639. 18ff). Der Sprachgebrauch bei Paulus isl sehr inleressanl und be1on1 wohl besonders die Vemünfligkeil dieses Vorganges (vgl Senfl. ICor 178).
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Die Gabe der iA&1JI'&ia ( I Kor 12 und 14)
statt überwältigt wird. Man könnte auch sagen: Die Hermeneutik sorgt für die Inkarnation der göttlichen Geisterfahrung. 3. Ein drittes Charakteristikum der hermeneutischen Gabe kommt in I Kor 14,23-25 wiederum innerhalb einer Gegenüberstellung von Glossolalie und Prophetie zur Sprache. Paulus sagt: »Wenn sich nun die ganze Gemeinde versammelt hat und alle in Zungen reden, es kommen aber Uneingeweihte oder Ungläubige herein, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt? Wenn dagegen alle prophetisch reden, und es kommt ein Nichtglaubender oder Uneingeweihter herein, so wird er von allen in seinem Gewissen getroffen, 7 von allen geprüft, und das Verborgene seines Herzens wird offenbar... «. Im Unterschied zur Glossolalie ist die prophetische Rede eine Sprache, die auch den Nichtglaubenden und Uneingeweihten, den Aussenseiter, den l6u.O't11';. trifft. Warum trifft sie ihn so? Sie trifft ihn, weil sie ganz auf seine Situation eingeht, weil sie seine Situation wahrhaftig aufdeckt, so dass das Verborgene seines Herzens offenbar wird. Die prophetische Rede sagt das treffende Wort. Und darin kommt sie jener Unbetroffenheit zuvor, in welcher der Aussenstehende Verrücktheit konstatiert. Wir sagten schon, die hermeneutische Aufgabe sei es, Glossolalie in prophetisches Wort überzuführen. In unserem jetzigen Zusammenhang bedeutet dies: die hermeneutische Aufgabe ist es, das ekstatische Spektakulum in ein treffendes Wort umzumünzen. Und zwar in ein Wort, das auch den Aussenstehenden, der mit dem Sprachgebrauch der Eingeweihten alles andere als vertraut ist, zu treffen vermag. Der t~11VEia ist es anvertraut, die geistliche Sprache gegenüber dem Nichtglaubenden und dem Aussenseiter so zu verantworten, dass diese davon betroffen werden in ihrem Gewissen. Hier ist überdeutlich, dass es sich dabei um eine Gnadengabe handeln muss, um eine Tätigkeit, deren Gelingen keineswegs in den Händen des Henneneulen und schon gar nicht in der Macht methodischer Kniffe liegt. Ein Wort von Gott so zu sagen, dass es den gottlosen Menschen zu treffen vermag, ist gewiss ein Ereignis der Gnade eben desselben Gottes. Halten wir als Gestalt der ~fiVEia also fest: sie verleiht dem sprachlosen Zungenreden Sprache und macht es insofern verständlich; sie macht das Geistphänomen dem Verstand zugänglich, damit dieser seine Früchte bringen kann; schliesslich verwandelt sie religiöse Erfah-
7
Zur Übersetzung siehe Wilckens. NT zSI.
II. Die Bedeu1ung der tA&'l"ia
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rung und wohl auch religiöse Sprache in ein Wort, das den Aussenstehenden in seinem Innersten betrifft.
II. Die Bedeutung der EA-LTJVEia In diesem zweiten Überlegungsgang versuchen wir darzustellen, welchen Stellenwert Paulus der Überzeugungsgabe zubilligt. Wir werden auf diese Weise ihren Bedeutungsumfang oder ihre Tragweite etwas näher betrachten können. I. In I Kor 12 rechnet Paulus die EA111VEia zu den Gnadengaben, den xapl.OJ.UXm. Ihre Bedeutung ist also elementar dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Charisma ist. Schon in dieser Wortwahl ist bekanntlich eine Verschiebung eingetreten im Vergleich zum korinthischen Sprachgebrauch: die Korinther hätten wohl lieber von Geistesgaben gesprochen in diesem Zusammenhang. 8 Wenn Paulus dagegen die Geistesgaben zu Gnadengaben werden lässt, so verbirgt sich darin ein Interpretationsvorgang grösster Tragweite. Er kann jetzt nur in wenigen Bemerkungen angedeutet werden. Mit dem Ausdruck Charisma stellt Paulus eine enge Beziehung her zwischen den korinthischen Geistwirkungen wie Glossolalie, Prophetie oder eben auch f:Al1ll'ElQ einerseits und dem xapl.OJUX, der Gnadengabe, andererseits. Paulus signalisiert damit, dass alle diese Fähigkeiten als Auswirkung der Gnade zu verstehen sind. Was ist die Gnade? Das Wort meint weniger eine Eigenschaft Gottes als vielmehr seine Gnadentat Christus. Die Bezeichnung xaplOJ.UX bindet die Fähigkeiten eng an ihren Quell, an Christus. Nach korinthischem Verständnis waren diese Fähigkeiten eben KVE~tuai, eigenständige Besitztümer des Glaubenden, gleichsam religiöse Fähigkeiten in Privatbesitz. Diese Eigenständigkeil spricht Paulus ihnen ab, wenn er sie als Charismen identifiziert: so bindet er sie an Christus, ihren Geber, zurück. Durch diese Rückbindung der Gabe an ihren Geber verliert die Gabe ihre eigenständige Autorität. Sie kann fortan nicht mehr als selbstredendes Argument ausgespielt werden. Damit ist die Macht des Spektakulären gebrochen, gebrochen ist aber auch die alles entscheidende Autorität religiöser Empfindung. Jede Geisterfahrung und Geistäusserung hat sich fortan daran messen zu lassen, inwieweit ihr Geber in ihr gegen1 Zur
134.
Tragweile des Wechsels von Geis1esgaben zu Gnadengaben vgl Käsemann. Ami 109-
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Die Gabe der lw-1'1"\a (I Kor 12 und 14)
wärtig wird, beziehungsweise inwieweit sie dem Geist des Christus Raum gibt oder einem Ungeist. Auch die Gabe der EA1f1VE\a verliert in diesem Kontext ihre Unabhängigkeit. Auch die Tätigkeit des Übersetzens erhält ihr Kriterium darin, dass sie dem Geist des Gebers Raum geben muss. Der hermeneutischen Aufgabe kann es um nichts anderes gehen als um die Betroffenheit des Menschen, genauer: um die Betroffenheit des Menschen von Christus. Darin besteht die völlige Wertunfreiheit der Hermeneutik.9 2. In I Kor 14,5 koppelt Paulus die Gabe der Übersetzung direkt mit derjenigen der Prophetie: »Ich möchte wohl, dass ihr alle in Zungen reden könntet, mehr aber noch (möchte ich), dass ihr (alle) als Propheten reden könntet. Grösser nämlich ist der, der als Prophet spricht, denn der, der in Zungen redet, es sei denn, er übersetze (seine Rede) auch, ... «. Hier ist ganz deutlich, dass die Übersetzung aus der Zungenrede eine der prophetischen Rede gleichwertige Sache macht. Das Werturteil, von dem wir schon sprachen, gilt nur, solange die Zungenrede nicht übersetzt wird. Wird sie übersetzt, fallt ihre Minderwertigkeit dahin. Die Frage ist jetzt, aus welchem Grunde denn die EAt'flVE\a und die Prophetie eine solche Überlegenheit über die Zungenrede haben. Paulus begrundet die Überlegenheit zunächst damit, dass er vom Aufbaucharakter der Prophetie und der Übersetzung ausgeht. Beide dienen dem Aufbau, der ol1Co&Jill· Davon wird gleich noch zu reden sein. Vorher jedoch wenden wir uns einer Reihe von Beispielen zu. mit denen Paulus in I Kor 14,7-II die genannte Überlegenheit herausarbeitet. Paulus vergleicht die Zungenrede mit einem Flöten- oder Zithemspiel. dessen Töne nicht unterscheidbar sind (V. 7). Es mag grosse Empfindungen auslösen, verstehen aber kann man es nicht. Die EAtf1VE1.a hat hier die Aufgabe, dem formlosen Flötenspiel die Gestalt von Ordnung und Rhythmus zu verleihen. Paulus vergleicht die Glossolalie weiter mit einem undeutlichen Trompetenspiel, das niemanden dazu bewegt, sich zum Kampf zu riisten (V. 8). Jedermann hört die Trompete zwar, aber niemand bewegt sich, weil die Trompete nichts sagt. Dasselbe gilt von der Zungenrede, bei welcher man - wie Paulus sagt - in die Luft spricht. In die Luft spricht man, weil der Sinn beim Hörer nicht an-
•zur Wenunfreiheit vgl Fuchs. Marburger Hermeneutik 1-4.
II. Die Bedeutung der tw.11"i4
37
kommen kann. Aufgabe der EpflTJV2ia ist es, das unverständliche Gerede zum bewegenden Wort zu machen. Besonders interessant ist das letzte Beispiel, eine Bemerkung zur Sprache: So viele Sprachen gibt es, und dennoch ist keine unter ihnen gestaltlos, unverstehbar. 10 Und Paulus fährt fort: Wenn ich aber die Bedeutung der Sprache (die &Uva~u; der Sprache) nicht sehe, werde ich dem Sprechenden ein pcipPa~ sein. Wenn die 6\>va~u; der Sprache nicht erkenntlich ist, herrscht Barbarei zwischen Mensch und Mensch. Das heisst: die Macht der Sprache ist die Überwindung der Barbarei. Unter Barbarei ist jetzt nicht das zu verstehen, was wir gewöhnlich darunter verstehen. Barbarei meint hier vielmehr die völlige Geschiedenheit, die völlige Verhältnislosigkeit, die dadurch entsteht, dass einer für den andem keine Sprache hat. 11 Die Macht der Sprache ist es, die Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch zu überwinden. Dies kann aber nur die verständliche Sprache der Prophetie oder dann die übersetzte Glossolalie, die in vernünftige Rede verwandelte Empfindung. Die Gabe der ~TJV2ia ist demnach dazu da, die Verhältnislosigkeit in der Gemeinde zu überwinden. Das macht ihre Überlegenheit gegenüber der Zungenrede aus. Denn der Geber hat die Gabe gegeben, damit der Tod nicht mehr herrsche. Dies ist das Ziel seines Lebens und insofern das Gepräge seines Geistes. Der Tod aber herrscht in der Verhältnislosigkeit, in der Barbarei. Eben deshalb ist die EALTJV2ia als Überwinderin der Verhältnislosigkeit der Zungenrede überlegen. Das Werturteil geschieht nach Massgabe dessen, ob die Gnadengabe der Gnadentat entspricht oder nicht. Danach bemisst sich auch ihre Bedeutung. 3. Eine dritte Beobachtung zum Stellenwert der EALTJV2ia betrifft das Verhältnis zum Aussenstehenden. Am glossolalischen Gebet kritisiert Paulus, es verwehre dem Uneingeweihten, sein Amen dazu sprechen zu können. Denn er versteht ja das Gebet nicht (I Kor 14,16 ). Für Paulus ist es offensichtlich klar, dass der 1.8\0l~. der interessierte Gast, der nicht mit dem Reden und Denken der Gemeinde vertraut ist, sein Amen mit Bedacht sprechen können muss. Und an der Stelle des Aussenstehenden sind alle, die das glosso1alische Beten nicht übersetzen kön-
Conzelmann. I Kor 279 spricht hier (etwas rätselhaft) von »sprach-los«. Ein Barbar ist, wer des andem Sprache nicht versteht. wie das Beispiel von dem Wiedehopf (zitien bei Conzelmann. I Kor 279 Anm 43) deutlich macht. 1'
II
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Die Gabe der iA&'l"&Ux (I Kor 12 und 14)
nen. 12 So wertvoll die Glossolalie in religiöser Hinsicht auch sein mag, sie bedarf der Übersetzung, damit der Aussenseiter ein verstehendes Ja sagen kann. Die EAl11VEia sorgt demnach für den Einbezug der Aussenseiter; sie ermöglicht ihnen ein verstehendes Ja. Ganz ähnlich lautet die Aussage in 1Kor 14,23-25, von der bereits die Rede war. Hier geht es darum, dass der Randsiedler nicht sagen muss: ihr seid verrückt. Er soll sich nicht durch die Konstatierung der Verrücktheit um das betrügen müssen, was ihm die übersetzte Glossolalie oder die prophetische Rede zu sagen hat. Wenn er in verständlicher Sprache angesprochen wird, wird er keine Verrücktheit konstatieren müssen, sondern er wird auf sein Angesicht fallen und bekennen: Gott ist wahrhaftig unter euch (1 Kor 14,25 ). 13 Sache der EA.L11Veia ist es, den Aussenseiter so in seiner Erfahrung und in seinem Herzen zu treffen, dass er von der Gottesgegenwart in diesem Gottesdienst überzeugt sein kann. Ich glaube kaum, dass dieser Stellenwert der Hermeneutik noch überbietbar ist. Was kann die Kunst der Übersetzung Besseres wollen, als den Menschen mit der Gottesgegenwart bekannt zu machen? Ihre Sache ist nicht nur, die Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch zu überwinden, sondern auch die Beziehungslosigkeit zwischen Mensch und Gott. Ihre Bemühung ist es, den Aussenseiter und sogar den Gottlosen in ein Verhältnis zu Gott zu bringen. Diese Hinwendung zum Aussenstehenden ist ebenso eindrücklich wie erstaunlich: keine Rede von Forderungen an den lau:D~. er müsse zuerst von seinen distanzierten Denkweisen Abstand nehmen, um sich der Sprachwelt der Gemeinde anzupassen. Keine Rede auch davon, dass er, das »Weltkind«, einfach sich selbst überlassen bliebe. Nein, gerade ihm gilt die entschiedene hermeneutische Bemühung. Paulus gibt der EAlTtn:ia (und der Prophetie) diesen Stellenwert, weil er die offene Sprache, die Zugänge eröffnende Sprache, weit über den Insiderjargon stellt. Allzu häufig gebrauchen Gruppen ihre Sprache gerade nicht zum Einbezug, sondern vielmehr zum Ausschluss der inter-
u Am ehesten muss man bei den Aussenslebenden hier an alle Nicht-Ekstatiker denken (so Conzelmann. I Kor 282). das heisst an die. die weder die Gabe der Zungenrede noch die der Übersetzung haben (so Senft. ICor 177). u Da Gott die Herzen der Menschen kennt. gilt: »Ainsi. reconnu par Dieu. J'homme se decouvre et decouvre Ia presence de Dieu dans l'assemblee« (Senft. ICor 11!0) ... wo das Wort recht geschieht (sc wo das Wort Gottes geschieht). lichtet sich die Existenz (. .. )« <Ebeling. Wort Gottes 342, vgl 340f). An diesem Zusammenhang erkennen die Aussenstehenden die Gottesgegenwan.
II. Die Bedeutung der t~~~&~UI
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essierten Gäste. Eine solche Insider-Sprache verdient nach Paulus den Namen Sprache nicht. Denn sie errichtet Barrieren, macht den 1.3\0l't'flC; zum Idioten, statt ihn einzubeziehen in das Gesagte. Auch in dieser Bewertung der 2A-Lf1l'Eia wirkt sich aus, dass Paulus sie unter die Gnadengaben zählt. Als Gnadengabe hat sie jenem Akt der Gnade zu entsprechen, der den Namen Christus trägt: sie hat der Überwindung der Gottlosigkeit durch Gott zu entsprechen, und deshalb bemüht sie sich um das verstehende Ja des Gottlosen. Sie hat dem Brükkenschlag über den Abgrund der Sünde zu entsprechen, und deshalb kann sie den Aussenstehenden niemals distanzieren von der Gottesgegenwart in der Gemeinde. In der Gnadengabe ist die Gnade selbst gegenwärtig, indem der Geber der Gabe massgebend ist. 4. Wir richten unseren Blick von diesen Einzelbeobachtungen weg auf das zugrundeliegende Ganze. Dabei werden wir sogleich aufmerksam auf den Begriff der oi1co&t.Lf1, der Auferbauung. Paulus misst alle Fähigkeiten und Erscheinungen daran, ob sie dem Aufbau der Gemeinde dienen. In diesem Zusammenhang ist gerade die EAl1lVEia besonders wichtig. Denn unter oi1co&t.Lf1 kann jetzt nicht mehr ein Gruppenegoismus mit religiöser Note verstanden werden. 0\~11 ist durch die erwähnten Einzelbeobachtungen hinreichend bestimmt: oi1co&t.Lf1 ist nichts anderes als die Überwindung der Barbarei zwischen Mensch und Mensch, nichts anderes als die Aufhebung der Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch, oi1co&t.Lf1 ist nichts anderes als der intensive Einbezug des interessierten Gastes, nichts anderes schliesslich als die Überwindung der unendlichen Distanz zwischen Mensch und Gott. In diesem Sinne ist EAl1lVEia oi1co&t.Lf1, und auf die oi1co&t.Lf1 kommt alles an. Freilich ist der Gedanke der oi1co&t.Lf1 noch nicht die tiefste Ebene, die sich bei Paulus erreichen lässt. Das 14. Kapitel trägt nämlich eine vielsagende Überschrift: &\Oln'tE 'rilv doya1tf1ll, bleibt der Liebe auf der Spur! (14,1). 14 Darauf kommt alles an. Prophetie und EAlf1l'Eia dienen der Auferbauung. Die Auferbauung aber ist geboten, weil die Liebe sie gebietet. Insofern ist die Liebe das eigentliche Kriterium aller Fähigkeiten und Erfahrungen, sei es der Zungenrede sei es der 2A-Lf1l'Eia. Wenn die EAlf1l'Eia sich nicht von der Liebe leiten liesse, könnte sie nicht mehr Gnadengabe heissen.
14
Zur Übersetzung vgl Wilckens. NT zSt.
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Die Gabe der lw-11"tUI (I Kor 12 und 14)
An diesem kleinen Beispiel wird ersichtlich, wo die Bedeutung der EAJ.fl\'Eia ihren Ort hat. Sie ist alles andere als eine neutrale Technik. Sie muss ihre Fragestellungen beträchtlich ausweiten, um dorthin zu gelangen, wo es um die wahrhaftigen Verslehensprobleme geht. Eben dahin, wo zur Debatte steht, ob und inwiefern die Liebe das einzig Wahre sei. Und dabei ist es die Aufgabe der Hermeneutik, die Liebe als das einzig Wahre so zur Debatte zu stellen, dass auch Ungeliebte und Lieblose einbezogen werden. Die Hermeneutik ist der Anwalt der Aussenstehenden. Dies kann sie nur sein, wenn sie die Sprache der Liebe spricht. Was die Sprache der Liebe ist, kann nicht in einem Wort gesagt werden. Jedenfalls kennzeichnet es die Sprache der Liebe, dass sie dem verstehenden Ja des Aussenseiters Raum gewährt, indem sie das Verborgene seines Herzens offenbar werden lässt. Zur Bedeutung der EAJ.fl\'Eia halten wir also fest: Sie ist ein Charisma und insofern dem Kriterium des Gebers unterstellt. Sie überwindet die Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch. Sie kümmert sich um den Uhm'tt'lC; und den Nichtglaubenden, indem sie ihnen Zugang zur Gottesgegenwart verschafft. Schliesslich dient sie der Auferbauung der Gemeinde, indem sie die Gemeinde auf die Spur der Liebe bringt.
111. Die Übersetzung der Zungenrede In diesem dritten und letzten Gedankengang wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem Umgang des Paulus mit dem Phänomen Zungenrede zu. Es lässt sich ja nicht verkennen, dass Paulus in diesen Kapiteln so etwas wie eine Hermeneutik der Zungenrede vollzieht, das heisst: eine Übersetzung des Phänomens selbst, abgesehen von glossolalischen Einzelaussagen. Die hermeneutische Leistung des Paulus besteht darin, dass er die Zungenrede sachgemäss zu verstehen gibt. Er bringt das Phänomen als solches zum Sprechen, beziehungsweise er verhilft einer religiösen Empfindung zur Sprache. I. Paulus ist weit davon entfernt, die Zungenrede zu verachten. Wenn er in den genannten Kapiteln mehrfach kritisch dazu Stellung nimmt, so geschieht dies im Interesse der Würdigung dieser Gnadengabe. Wer in Zungen redet, redet zu Gott (14,2), er baut sich selbst auf (14,4); er macht also eine wichtige Erfahrung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Einwände hat Paulus vielmehr gegen die selbstverständliche Autorität
III. Die Übersetzung der Zungenrede
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einer solchen Erfahrung. Dass die ekstatischen Phänomene in Korinth so hoch bewertet wurden, beruht eben darauf, dass diese Gemeinde in der Erbauung des Selbst, in der religiösen Empfindung des Einzelnen, in dem spektakulären Erlebnis der Geistesgegenwart die höchste Form religiösen Lebens sah. Deshalb war für die Korinther alles Nötige gesagt, wenn einer in Zungen zu reden vermochte. Dieser Fehleinschätzung gilt die Kritik des Paulus. Das ekstatische Phänomen als solches vermag seiner Meinung nach überhaupt nichts zu sagen, da es gar nicht kommunikativ ist. Es mag dem anderen Eindruck machen, dennoch spricht es nicht zu ihm, weil es sich nicht in verständigen Worten an seinen voüc; wendet. Paulus wehrt sich dagegen, etwas für vielsagend auszugeben. das doch erst zur Sprache gebracht werden muss, um etwas bedeuten zu können. Zur Sprache aber muss es kommen, weil nicht die Erbauung des Selbst, sondern die Erbauung der Gemeinde der Inbegriff der Geistesgegenwart darstellt. Wo die Gnadentat Christi massgebend ist, da geht es nicht mehr um die Findung des Selbst im überwältigenden Erlebnis, sondern um die Findung des Gastes, des Gottlosen sogar, im verständigen Wort. Der Geber dieser Gnadengabe steht ja für die göttliche Findung des Aussenseiters und des Gottlosen. Deshalb muss einer Gabe um so grösserer Wert zukommen, je mehr sie im Interesse der Überwindung von Verhältnislosigkeit steht. Dies ist ein eigentlich hermeneutisches Prinzip, ein Leitfaden nämlich, anhand dessen Paulus die Fähigkeiten und Erscheinungen in der korinthischen Gemeinde zum Verstehen bringen kann. Anhand dieses hermeneutischen Prinzips stellt Paulus die Glossolalie an den Ort, wo sie hingehört und auch ihr Recht hat: in den Zusammenhang der Selbstfindung nämlich, die jedoch zugunsten der Findung des Gastes überholt werden soll. 2. Einer hermeneutischen Leistung von besonderer Eindrücklichkeil begegnen wir zu Beginn des 12. Kapitels dieses Briefes. Hier setzt sich Paulus ganz allgemein mit den JtVE'q.La'tuai auseinander, mit den Geistesgaben, die in Korinth so hoch geschätzt wurden. 1 ~ Unter dem Begriff der mE'qla'tUai wurden in Korinth Erfahrungen ekstatischer Art verstanden. Dazu Paulus: »Was nun aber die Geistesgaben betrifft, ihr
15 Ich gehe davon aus. dass die korinthische Theologie weder judaistisch noch gnostisch ist, sondern ein Enthusiasmus im weiteren Sinne des Wortes (als Beispiel ftir viele Autoren sei Conzelmann. I Kor 28-31 genannt). Kennzeichen dieses Enthusiasmus ist es. dass die ekstatische Erfahrung des Hingerissen-Seins grösstes Ansehen geniesst.
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Die Gabe der tAl'l"&ia (I Kor 12 und 14)
Brüder. so will ich euch nicht in Unkenntnis lassen. Ihr wisst: als ihr noch Heiden wart. trieb es euch mit unwiderstehlicher Gewalt fort zu den stummen Götzen« ( 1Kor 12.1 0. Zur Beurteilung der jetzt so hoch geschätzten Geistesgaben verweist Paulus die Korinther an ihre frühere heidnische Erfahrung. Wichtig ist zunächst die Erfahrung des Mitgerissen-Werdens. 16 Diese ist den Korinthern schon aus der heidnischen Vergangenheit gut bekannt. Was besagt dies? Mit der Erinnerung verfolgt Paulus die Absicht. der gegenwärtigen Ekstase den Anstrich des besonders Christlichen zu nehmen. Aus der Unwiderstehlichkeit des Mitgerissen-Werdens lässt sich gar nichts ableiten hinsichtlich der Wahrhaftigkeit dieser vermeintlichen Erfahrung des Geistes Christi. Dieselbe unwiderstehliche Kraft übten auch die heidnischen Götzen aus. die als Bilder Gottes gar nicht mehr in Frage kommen. Indem Paulus an die heidnischen Erfahrungen erinnert. weist er auf die Mehrdeutigkeit der ekstatischen Phänomene in der christlichen Gemeinde hin. Das Mitreissende ist kein untrügliches Zeichen des Christlichen. Das Hinreissende mag sich noch so sehr des Menschen bemächtigen. es ist dennoch kein Ausdruck für die Gegenwart des Geistes Christi. Mitreissend waren schon die Götzen. mitzureissen ist demnach kein eindeutiges Erkennungszeichen des wahren Gottes. Paulus stellt ganz deutlich heraus: Gerade die Geisterfahrung bedarf der Unterscheidung der Geister. Gerade der ekstatischen. unwiderstehlichen Erfahrung muss mittels kritischer Reflexion die Unwiderstehlichkeit genommen werden. Paulus nennt die Götzen ausdrücklich äqxova. sprachlose. stumme Götzen. Vielleicht hat diese Bezeichnung kein allzu grosses Gewicht. weil sie traditionell und formelhaft ist. Allerdings wäre es meines Erachtens sinnvoll. die Frage aufzuwerfen. ob Paulus nicht einen Zusammenhang sieht zwischen der Stummheit und der Unwiderstehlichkeit dieser Götzen. Vielleicht will er zu Bewusstsein bringen. dass die Sprachlosigkeit dieser Bilder zu tun hat damit. dass der Mensch von ihnen mitgerissen wird. Könnte es nicht sein. dass die unwiderstehliche Gewalt dieser Bilder gerade auf ihrer Wortlosigkeit beruht? Die stummen Bilder geben niemals Antwort. sie überlassen den Fragenden sich selbst. Kann ich nicht gerade dann die grösste Macht ausüben. wenn ich 16 Zur Wiedergabe der schwierigen Wendung in V. 2 Ende vgl Bauer. Wb s.v.4. Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass der Mensch nicht mehr Herr seiner selbst ist (im Aktiv wird das Verbum von Gefangenen gebraucht).
Ill. Die Übersetzung der Zungenrede
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dem andern das Wort verweigere? Die Bilder sind stumme Mächte, weil zu ihnen kein Verhältnis möglich ist. Sie geben weder Zustimmung noch äussern sie Widerspruch, und eben diese Schweigsamkeit macht sie unwiderstehlich. Sie verweigern die Gnade der Sprache. So war die Erfahrung der Korinther in der Zeit, als sie noch Heiden waren. Paulus dagegen setzt sich immer wieder dafür ein, dass die sprachlose Empfindung zur Sprache gebracht werde, insbesondere die sprachlose Zungenrede. Die unfassbare Ekstase soll in fassbare Worte gefasst werden, wenn sie überhaupt einen Sinn und eine Bedeutung haben will. Denn der Aussenstehende muss Gelegenheit zu einem verstehenden Ja erhalten. Man dürfte wohl im Sinne des Paulus ergänzen: er soll auch die Möglichkeit haben, ein verstehendes Nein auszusprechen. Diese Möglichkeit aber hat er erst dann, wenn die Gabe der EAt11VEia zum Zug gekommen ist: sie übersetzt die sprachlose Zungenrede in vernünftige Sprache. Wenn nicht alles täuscht, nimmt Paulus hier Abschied von der Unwiderstehlichkeit wortloser Götzen, um sich hinzuwenden zur Widerstehlichkeit des göttlichen Wortes. Wenn nicht alles täuscht, nimmt Paulus hier Abschied von der mitreissenden Ekstase, um sich dem klaren und vernünftigen Reden und Denken zuzuwenden. Dieses erst eröffnet dem menschlichen Ja, dem verstehenden Ja, einen Raum und vermag gleichermassen das Nein als menschliche Möglichkeit zu respektieren. Mit der Eindeutigkeit spektakulärer Empfindungen wird häufig genug operiert. Paulus vergleicht diese Eindeutigkeit mit der Unwiderstehlichkeit der stummen Bilder. Seine hermeneutische Leistung kommt einem Bildersturm gleich. Bildersturm aber heisst für ihn, die Götzen zum Reden zu bringen, die angeblich alles entscheidende Empfindung dem deutenden Wort und damit der vernünftigen Reflexion zu unterziehen. An diesem kleinen und gewiss unbedeutenden Beispiel erkennen wir etwas vom hermeneutischen Ansatz des Paulus: Alle Erfahrungen sind auszulegen im Kontext des Christus, in welchem sie neu zum Reden kommen. Die Geister sind zu unterscheiden nach Massgabe jener Widerstehlichkeit, wie sie dem göttlichen Wort zukommt. Die Widerstehlichkeit dieses Wortes Gottes gibt der menschlichen Antwort einen ungezwungenen Raum und bringt also die Freiheit der Antwort mit sich. Dieser hermeneutische Ansatz des Paulus ist ein Reflex dessen, dass
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Die Gabe der *Al'I"Eia (I Kor 12 und 14)
Gottes Sohn in die Hände der Menschen ausgeliefert worden ist, oder dass es dem menschlichen Wort gegeben ist, Gottes Wort zu sagen. 17
17
Dazu Ebeling. Won Gottes 340-344.
»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1,1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1,14)
0 Vorbemerkungen In den vorliegenden Ausführungen wird die These vertreten werden, dass der Wechsel vom Evangelium Gottes, das Jesus verkündigte (Mk I, 14 ), zum Evangelium von Jesus Christus, dessen Anfang das Markusevangelium beinhaltet (Mk 1,1 ), den Grundvorgang neutestamentlicher Theologie veranschaulicht. Die Vielfalt des Neuen Testaments ist darin begründet, dass der theologische Grundvorgang vom Evangelium Gottes zum Evangelium Christi in mannigfaltiger Weise zur Sprache fand, erzählerisch oder argumentativ dargestellt, christologisch oder anthropologisch akzentuiert. Die Einheit des Neuen Testaments ist indessen dadurch gegeben, dass in all den mannigfaltigen Darstellungen der eine Grundvorgang zur Sprache kommt: die Menschwerdung Gottes. Mein Lehrer Eduard Schweizer hat es immer wieder verstanden, mir die Augen für jene Vielfalt zu öffnen, ohne mir freilich den Blick für die Einheit des Neuen Testaments zu verstellen. Ihm sind diese Ausführungen in Dankbarkeit gewidmet. Es ist schon längst beobachtet worden, dass das Wort E'ÜayyEA.\ov bei Markus relativ zu den anderen Evangelien am häufigsten vorkommt 1• Es ist weiter aufgefallen, dass das Wort E'ÜayyEA.\ov bei Markus häufig absolut gebraucht wird 2; eine signifikante Ausnahme bilden zwei Stellen am Anfang des Evangeliums: der absolute Gebrauch liegt nicht vor in Mk 1,1, wo vom Evangelium Jesu Christi die Rede, und in Mk I, 14, wo es um das Evangelium von Gott geht. Die auffällige Gemeinsamkeit, die diese beiden Stellen gegenüber dem sonstigen Gebrauch im Markusevangelium haben, rechtfertigt es, diese beiden Verse auf ihre
1 Vgl zB Schweizer. Leistung 27: Feneberg. Markusprolog 146. - Die Zahlen lauten: Mt 4mal (nie absolut); Mk 7mal (ohne 16.15): Lk nie (2mal in Apg); Joh nie. Das Verbum ~' findet sich dagegen stark gehäuft in Lk und Apg. 2Jnsbesondere steht es in den fünf Jesuswonen ( 1.15: 8.35; I0.29; 13.10; 14.9) absolut (vgl Lohmeyer. Markus 7).
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1.14)
gegenseile Beziehung hin zu befragen. Dies ist die Absicht der folgenden Überlegungen. Die Einleitung des Markusevangeliums, wie sie in den Versen 1-15 vorliegt, ist zwar nicht von der Art etwa eines Johannes- oder Lukasprologs3. Dennoch lässt sich ihr prologartiger Charakter schwerlich verkennen. In dieser Einleitung wird eine Brücke geschlagen von der alttestamentlichen Verheissung (V. 20 über die Wirksamkeit des Täufers (V. 4-8), über Taufe und Versuchung Jesu (V. 9-11.120 bis hin zu einer programmatischen Zusammenfassung der Wirksamkeit Jesu in V. l4f. Eine genauere Analyse könnte die kompositorische Einheit dieser Einleitung ohne weiteres einsichtig machen 4 ; ftir unseren Zusammenhang mag der Hinweis genügen, dass wichtige markinische Begriffe die einzelnen Elemente dieser Einleitung zusammenhalten: Eixlyy2Ä.tov findet sich in V. 1,14 und 15; ~lv in V. 4.7.14, um nur die beiden wichtigsten zu nennen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit geht die Komposition dieses Abschnitts auf Markus selbst zurück. Dies schliesst selbstverständlich nicht aus, dass eine Reihe von traditionellen Stücken hier verwendet worden ist. Zuweilen wird die These vertreten, der markinische Einleitungsteil ende schon mit V. 13 (Versuchung Jesu)~. An dieser These dürfte richtig sein, dass V. 14f in der Tat eine Sonderstellung einnehmen, insofern als diese beiden Verse gleichsam die Gelenkstelle zwischen dem Prolog und dem ersten Hauptteil des Evangeliums bilden6 • V. 14f sind sowohl die Klimax der Einleitung 7 als auch die Themenangabe, bzw die zusammenfassende ÜberschriftM der irdischen Existenz Jesu in Galiläa, während in V. l so etwas wie die 1 Mit Lohmeyer. Markus 9 könnte man diesen Anfang als Prolog vom Himmel her betrachten. der jedoch zugleich mehr ist als ein Prolog: es beginnt mit ihm bereits das eschatologische Geschehen selbst. Zum Charakter der Ähnlichkeit und des gleichzeitigen Unterschieds tu anderen Prologen vgl auch Anderson. Mark 62f: Gnilka. Markus I 39. nennt den Teil das »lnitium«. •zu den verschiedenen Argumenten vgl Anderson. Mark 6~5: Gnilka. Markus I 39f: Pesch. Markus I 71 f. ~Vgl Schweizer. Markus 214. vgl 1~19.- ln V. II endet der Prolog nach Feneberg. Markusprolog passim. Aus unerfindlichen Gründen rechnet Schmithals. Markus 73f. V. I nicht mehr zum ursprünglichen Markusevangelium. sondern betrachtet diesen Satz als »Hinweis eines Abschreibers•. Soll dann das ursprüngliche Markusevangelium mit V.l begonnen haben? 11 Nach Pesch. Markus I 71 haben V. 14f »Schamierfunktion«. 7 Dies ergibt sich insbesondere aus dem programmatischen Charakter dieser Aussagen: mit Pesch. Markus I 72. "So Gnilka. Markus 164f.
I Der Bezugsrahmen von Mk 1.1
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Überschrift über das Evangelienbuch überhaupt vorliegt. Beide Verse fungieren demnach als Überschrift, der eine über das Wirken Jesu, der andere über die Wirkung Jesu. Auch diese Gemeinsamkeit in kompositorischer Hinsicht vermag eine Besprechung ihrer gegenseitigen Beziehung zu rechtfertigen.
1 Der Bezugsrahmen von Mk 1, 1 Man könnte zunächst auf den Gedanken kommen mit dem Anfang sei bloss der Einsatzpunkt des Evangeliums gemeint.· Apx11 würde sich dann auf die folgende Erzählung vom Täufer beziehen. Der Satz wäre dann etwa so zu verstehen: Das Evangelium von Jesus Christus hat mit dem Auftreten des Täufers seinen Anfang genommen. V. I würde siCh dann bloss auf die Täuferperikope beziehen. Daraus ergäbe sich jedoch: wenn sich schon V. I auf den Täufer beziehen würde, müsste dies erst recht ftir das Schriftzitat in V. 2f gelten. Diese Annahme erfahrt auf den ersten Blick eine Stütze dadurch, dass das Wort vom Rufer in der Wüste (V. 3) schon längst vorMarkusauf den Täufer bezogen worden war (vgl Mt 3,30; auch Joh I ,23, literarisch unabhängig von der synoptischen Tradition)9 • Allerdings stehen dieser Auffassung erhebliche Bedenken entgegen. Zum ersten: wenn das Schriftzitat in V. 2f sich primär auf Johannes beziehen würde, hätten wir den beinahe einzigartigen Fall vor uns, dass ein mit m'6c0~ ytypa7mll eingeleitetes Schriftzitat vor dem Ereignis steht, das es als Erfüllung der Schrift darstellen will 10• Schon diese Einzigartigkeit spricht eher daftir, dass Markus das Schriftzitat primär auf V. I und erst sekundär auf Johannes beziehen wollte. Das Schriftzitat belegt, dass in dem vorliegenden Buch wahrhaftig der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus vorliegt 11 • Überdies wird ja das Jesajazitat durch den Satz aus Maleachi erweitert: dadurch wird das Zitat zur Anrede an den Christus (»siehe, ich sende meinen Boten vor
9 Dazu Polag. Christologie 157.2: Mt 3,3 könnte freilich auch als Abänderung des MkTextes angesehen werden (so offensichtlich Schweizer. Matthäus 1973, 23). Zum traditionsgeschichtlichen Aspekt der johanneischen Stelle vgl Becker. Johannes I 90f. 10 Die Zitierform ist im Urchristentum geläufig. erscheint jedoch bei Markus so nur hier. Vergleichbar ist allerdings 7,6 und 14,27 (wo das Schriftzitat noch der Beziehungsgrösse kommt). 11 Dazu Lohmeyer, Markus IOf.
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« <Mk 1.14)
dir her«) 12 , und der Täufer wird ausdrücklich als Vorläufer des Christus (nicht mehr- wie möglicherweise der historische Täufer gedacht haben mag- des Herrn selbst) identifiziert 13 • Auch dieser bedeutsame Wechsel, auf den jetzt nicht näher eingegangen werden kann, spricht dafür, dass in V. I nicht bloss der Einsatzpunkt des Evangeliums bei der Verkündigung und dem Wirken des Täufers bezeichnet werden soll, sondern dass hier eine Inhaltsangabe über das ganze Buch beabsichtigt ist: die ciPX"'l des Evangeliums von Jesus Christus wird in dem folgenden Buch erzählt bzw ist in dem erzählten Geschehen zu sehen. Zum zweiten: antike Bücher werden in den meisten Fällen nicht mit dem Einsatzpunkt des Geschehens begonnen, sondern an ihren Anfang wird eine Überschrift gestellt, die so etwas wie eine Inhaltsangabe des ganzen Buches darstellt. Ist V. I hier als Inhaltsangabe in diesem Sinne anzusprechen, dann kann sich auch die ciPX11 nicht bloss auf den Täufer, sondern muss sich auf das ganze folgende Buch beziehen. Zum Bezugsrahmen von V. I lässt sich also festhalten: Mk I, I ist die Überschrift, welche den Inhalt des folgenden Buches angibt; sie bezieht sich nicht bloss auf die Täufererzählung.
2 Zur Bedeutung von Mk 1, 1 Wenn in Überschriften antiker Bücher das Substantiv ciPX"'l oder das Verbum ciPXEa6cn vorkommt, so kann damit schlicht gemeint sein, hier - mit der Überschrift - beginne das vorliegende Buch.· Apx11/ciPXE0'6al bezieht sich in diesem Falle einfach auf das Schriftstück, dessen Anfang damit ausdrücklich angegeben wird 14 • Allerdings ist diese Bedeutung nicht die einzige.· Apx1i in einer solchen Überschrift kann auch ausdrücken, in dem folgenden Buch sei der Anfang, der massgebliche 11 So zB Gnilka. Markus I 44f. Markus kommt es darauf an. den Kyrios Jesus als den Erwaneten hinzustellen. dessen Weg der Täufer bereitet und dem Gott einen Boten voranschickt Die christologische Akzentuierung durch dieses Mischzitat ist überdeutlich. Sie dürfte dem Evangelisten zuzuschreiben sein (mit Gnilka. ebd). 11 Dem historischen Täufer (oder seiner Gemeinde) ist zuzutrauen. dass er das Jesajazitat im Sinne der Vorläuferschaft Jahwes. bzw des Kommens zum Gericht verstand: dazu Schweizer. Markus II f: ders. Manhäus.26f. Diese Vorläuferschaft wird christlich umgedeutet in die Vorläuferschart gegenüber dem Kyrios Jesus. 14 Dazu Amold. Eröffnungswendungen 123-127. der entsprechende Parallelen auffühn. Delling. An. eint 481. 5f möchte den Auszug im Sinne des zeitlichen Anfangspunktes der evangelischen Verkündigung Jesu festlegen.
2 Zur Bedeutung von Mk 1.1
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Anfang, des mit dem Titel angegebenen Themas beschrieben 15 • Dann bedeutet V. I: in dem folgenden Buch, dessen Thema das Evangelium von Jesus Christus ist, wird der massgebliche Anfang desselben beschrieben. Oder: der Inhalt des nun folgenden Buches ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus. Dabei fallen in dem Wort ciP%11 zwei interessante Bedeutungsaspekte zusammen: einerseits geht es um den zeitlichen Anfang, nämlich um den Anfang des unter dem Stichwort Evangelium von Jesus Christus bekannten geschichtlichen Geschehens, und andererseits geht es bei diesem Inhalt um die fundamentalen Prinzipien, dh um die gleichsam ontologischen Grundlagen des Evangeliums von Jesus Christus. Die Doppelbedeutung von zeitlichem Beginn und fundamentalem Prinzip ist dem Begriff »Anfang« von Hause aus eigen 16• Es ist im höchsten Masse bemerkenswert, dass im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der christlichen Gemeinde bekannt ist, der ontologische und der zeitliche Bedeutungsaspekt von df'X1i ineinanderfallen. Die ontologische Begründung des Evangeliums ist offenbar nicht anders als durch Rekurs auf zeitliches Geschehen zu leisten. Ist so die Bedeutung der Überschrift angemessen skizziert, dann folgt daraus: >>Eooyyd.lov 'ITpoü Xpt.crto'Ü<< ist das Thema dieses Buches. Es will zur Sprache bringen, was es mit dem Evangelium von Jesus Christus auf sich habe, indem es auf den massgeblichen Anfang dieses Geschehens zurückgreift. Auf diese Weise geschieht die Grundlegung des Evangeliums von Jesus Christus. Mit dem Stichwort »Evangelium« ist ein reiches Assoziationsfeld zur Stelle. Dieses kann zwar hier nur in knappen Strichen umrissen werden. Aber es muss dennoch die ganze Breite des Assoziationsfeldes angedeutet werden, weil sich die Bedeutung dieses Satzes Mk I, I nicht auf die ursprüngliche Intention des Verfassers beschränkt. Zur Bedeutung gehört ebenso, was die Rezipienten dieses Satzes dabei hörten. Wer Evangelium hörte, dachte dabei wohl an die Freudenbotschaften der antiken Welt, von Herolden verkündigt, vom Volk gefeiert; dachte an 1
~
Dazu Pesch. Markus 176 und Feuillet, 'Commencement' 163-174. Die Doppelbedeutung kommt sowohl in der Profangräzität (vgl Delling. An. cipxll 478, 26-32) als auch in der hellenistisch-jüdischen Literatur vor (namentlich in der Septuaginta. vgl etwa Ps IIO,IOpar; Prov 1.7: Sir 1,14). Dem Doppelsinn am nächsten kommt Mk 10.6, wo ja der Verweis auf den Anfang der Schöpfung das Ziel hat. das Massgebliche auszudrücken. Derselbe Gebrauch liegt auch im Hebräerbrief vor (vgl Feuillet. 'Commencement' 164f, der für Mk auch diesen Sprachgebrauch feststellt. vgl 167f). 16
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« <Mk 1,14)
Botschaften von erfochtenen Siegen, von der Geburt des Kaisers, von der Thronbesteigung eines mächtigen Herrschers 17 • Allen diesen Freudenbotschaften ist es gemeinsam, dass sie ein Ereignis proklamieren, und zwar ein Ereignis, das die Adressaten betrifft. Ein Ereignis, das für die Adressaten neue Lebensbedingungen schafft. Wer Evangelium hörte, mag wohl auch an die Hoffnung Tritojesajas gedacht haben, daran, dass einst, am Ende der Zeiten, den Armen die frohe Botschaft von Gott verkündigt werden wird. Das Stichwort »Evangelium« evoziert, dass die Zeiten zur Erfüllung gekommen sind und dass Gott in seiner heilsamen Gegenwart offenbar geworden ist 18 • Wer Evangelium hörte, erinnerte sich wohl an die Wirksamkeit des irdischen Jesus, deren Herzpunkt die Proklamation der Nähe Gottes, die Ansage des anwesenden Gottesreiches gewesen war. »Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?« So lässt der Täufer nach der Logienquelle durch zwei seiner Jünger fragen. Und die Antwort: »Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen, und Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taube hören: Tote werden auferweckt, und Armen wird das Evangelium verkündigt« (Mt II ,3-5). Auch wenn man nicht ohne weiteres annehmen kann. hier die Antwort des historischen Jesus zu vemehmen 19, ist mit ihr dennoch die Wirksamkeit Jesu in aller Präzision erfasst: seine Sache ist es, Gottes heilsame Nähe zu vollziehen, sei es mit dem Zuspruch der Seligkeit an die Armen, Trauemden und Unterjochten, sei es in seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, sei es in seinen Kampftaten gegen Krankheit und Tod. Jesus vollzog die Freudenbotschaft von Gott, zusprechend, feiernd, tätig.
17 Man wird nicht ohne weiteres annehmen wollen. Markus selbst habe diese Bedeutung intendien (dagegen spricht vor allem der Kontext von »Evangelium« in Mk 1.140. vgl Stuhlmacher. Das paulinische Evangelium 236-238. Dennoch musste sie für hellenistische Leser selbstverständlich gegenwänig sein: vgl Schweizer. Markus II f. 1" Zum alttestamentlich-jüdischen Hintergrund des Evangeliums vgl Stuhlmac her. Das paulinische Evangelium I09-153. Nach Stuhlmacher kann der christliche Sprachgebrauch auf diesem Hintergrund hinreichend erklän werden. 19 lmmerhin zeigt die Nähe unseres Textes zu den Seligpreisungen von Mt 5 (welche auch von Stuhlmacher. Das paulinische Evangelium 222f festgestellt wird. obwohl er den Text traditionsgeschichtlich auf die urchristlichen Propheten zurückfühn). dass eine Annahme jesuanischer Herkunft nicht ganz fern liegt. Nach Schweizer. Matthäus 165f muss jedenfalls die Täuferanfrage älter sein als Q. Wie immer man traditionsgeschichtlich entscheidet: der Text ist ein deutlicher Beleg daflir. dass die Gemeinde die Tätigkeit Jesu wesentlich als Verkündigung des Evangeliums an die »Armen« verstand.
3 Zum Verhältnis von Mk 1.1 und 1.14
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Wer Evangelium hörte. dachte schliesslich an die seit Ostern ergehende Verkündigung der christlichen Gemeinde. und zwar an das Wort. das Jesus Christus als die Tat der Liebe Gottes zu verstehen gab2°: Dass im Namen Jesus Christus die grundlegende Wende der Welt. ja die Liebe Gottes selbst sich verkörpert habe. Der einzige Inhalt des Evangeliums war Jesus Christus, in seiner Eigenschaft als Tat der Liebe Gottes. in seiner Eigenschaft als Ankunft Gottes in der Welt. Im Rahmen dieses vielfältigen Assoziationshorizonts gewinnt der Satz von Mk 1.1 seine spezifische Ausprägung. Man wird sich vor einer monokausalen Betrachtungsweise hüten müssen. Alle genannten Aspekte konzentrieren sich in dem Ausdruck »Evangelium von Jesus Christus«. Das Thema dieses Buches ist das Evangelium von Jesus Christus. das Evangelium. das Jesus Christus zu seinem einzigen Inhalt hat. Der Genetiv ist demnach als genetivus objectivus aufzulösen2 1• Es geht nicht in erster Linie um das Evangelium. wie Jesus es verkündigte. sondern um das Evangelium. das Jesus Christus zum Inhalt hat. Es geht nicht in erster Linie um das Wort Jesu. sondern um das Wort. das im Namen Jesu Christi zu sagen war. Allerdings zeigt gerade das unter dieser Überschrift stehende Buch des Markus. dass er einen Zusammenhang herstellen will zwischen dem von Jesus verkündigten und dem als Jesus Christus verkündigten Evangelium. Daraus ergibt sich der nächste Überlegungsgang.
3 Zum Verhältnis von Mk I, I und I, 14 Nach Markus muss das nachösterliche Wort über Jesus in engem Zusammehang mit dem vorösterlichen Wort Jesu vom Evangelium Gottes gesehen werden. Während 1.1 das nachösterliche Wort über Jesus im Blick hat. nimmt 1.14 das vorösterliche Wort Jesu in den Blick: nachdem Johannes ausgeliefert worden war. kam Jesus nach Galiläa und verkündigte das Evangelium Gottes. das da lautete: Der Zeitpunkt ist erfüllt. die Gottesherrschaft ist nahe, kehrt um und glaubt an das Evan-
20 Dieser Sprachgebrauch liegt insbesondere in der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus vor: dazu Stuhlmacher. Das paulinische Evangelium 245-286. Auffallend an diesem Sprachgebrauch ist die nunmehr entschlossene christologische Reflexion des ursprünglich theologischen Begriffs •Evangelium« (vgl Stuhlmacher. ebd. 2870. 2 ' Gegen Gnilka. Markus I 43. der beide Aspekte gleichzeitig berücksichtigen möchte.
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1.14)
gelium. Vergleicht man die beiden Stellen, die - als einzige Stellen im Mark.usevangelium - eine Näherbestimmung des Begriffs »Evangelium« liefern, so fällt sofort eines auf: im einen Falle wird das Evangelium durch den Genitiv 'ITpO'Ü :Xpunoü, im andem Fall durch den Genitiv &oü näher bestimmt. Dieser Unterschied ist von höchster Bedeutung. Wenn es darum geht zu sagen, wer Jesus von Nazareth wirklich gewesen ist, dann muss seine Botschaft zusammengefasst werden als Evangelium Gottes 22 • Sie ist Vollzug der heilsamen Nähe Gottes, sie ist Näherung des Gottesreichs. Damit hat Markus (oder wer auch immer diese Zusammenfassung verfasst haben mag) 23 das Wesentliche der Existenz Jesu getroffen. Diese Existenz hat ihr Wesen darin, dass sie Ereignis der Nähe Gottes ist. Sie ist - will man sie unverhohlen verstehen - ganz und gar von der Gottesherrschaft her zu verstehen. Das heisst: sie ist im eigentlichen Sinne des Wortes theologisch zu verstehen, weil in ihr Gott sich ausspricht. Und wenn sich etwas über den irdischen Jesus sagen lässt, dann dieses: er explizierte sein eigenes Tun und Reden mit Rückgriff auf die Nähe Gottes. Dies kommt insbesondere in seinen Gleichnissen schön zum Ausdruck. Bekanntlich sind diese Gleichnisse nicht Belehrungen über Gott, sondern machen Gott zum Ereignis am Hörer. Und eben in dieser Eigenschaft erklären sie das Verhalten Jesu. Daraus folgt: Jesus erklärte seine eigene Existenz, sein Wort und sein Tun, mit dem Wort »Gott«; er explizierte seine Existenz theologisch, oder- wie Markus sagt - er verkündigte das Evangelium Gottes 24 • Was dies für Markus bedeutete, wird in I, 15 ausgeführt: Jesus selbst muss verstan22 Diese grundsätzlich tht-oloRischt- Ausrichtung der Verkündigung Jesu ist nicht vorschnell christologisch zu verdecken. Wenn Jesus das Evangelium Gottes verkündigt. so forden (und ermöglicht!) er damit eben nicht Glauben an sich selbst. sondern bringt Gott und seine Herrschaft so in des Menschen Nähe. dass dieser sich darauf einstellen kann. Dies ist gegen die vorschnelle Christologisierung. wie Pesch. Markus I 106f sie vornimmt. festzustellen. n Über die traditionsgeschichtliche Situation herrscht Uneinigkeit. Einer einseitigen pauschalen Zuweisung an die markinische Redaktion ist jetzt eine differenzienere Beuneilung gefolgt (vgl. Gnilka. Markus 164(). Die Frage. ob in dem ~\. .. ~crii (V.I5a) ein authentisches Jesuswon vorliege. ist fllr unseren Zusammenhang unwesentlich. Übereinstimmung herrscht ja darin. dass diese Zusammenfassung die Verkündigung Jesu sachgemäss wiedergebe. 24 Deshalb ist es fraglich. ob der Ausdruck »Evangelium Gottes« auf dem Hintergrund der hellenistischen Missionspredigt zu verstehen sei (so etwa Gnilka. Markus I 65). Hier wäre er nämlich. wie I Thess 2.9 vgl 1.9f zeigt. selbstverständlich christologisch zu verstehen (so auch Stuhlmacher. Das paulinische Evangelium 263 und oft). Demgegenüber müsste der Ausdruck bei Markus 1.14 wohl besser beim Won genommen werden: Es war die Pointe der geschichtlichen Existenz Jesu. Gottes Herrschaft nahe zu bringen. Das war sein Evangelium von Gott.
3 Zum Verhältnis von Mk 1.1 und 1.14
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den werden als der Ort, wo sich die Zeit erfüllt hat, weil Gottes Herrschaft in ihm die Gestalt der Nähe gewann. In dem Reden und Tun Jesu wird die Gottesherrschaft wesentlich, d.h.: sie kommt nahe, so dass der entscheidende Augenblick zur Erfüllung gekommen sein muss. Umkehr müsste dann heissen, dass man sich auf diese Nähe Gottes einstellt, bzw dass man sich diese Nähe als frohe Botschaft gefallen lässt. Es ist sehr bemerkenswert, dass Markus seinem Buch nicht die Überschrift »Evangelium Gottes« gibt. Der Wechsel vom »Evangelium Gottes« zum »Evangelium von Jesus Christus« muss verstanden werden als Auswirkung jenes Geschehens, das jetzt bloss stichwortartig mit dem Begriff >>Ostern« angegeben werden kann. Der genannte Wechsel spiegelt den Ursprung der neutestamentlichen Christologie oder den Ursprung des christlichen Glaubens wider. In ihm erscheint der Grundvorgang neutestamentlicher Theologie. In nachösterlicher Perspektive ist offenbar nicht mehr Gott die angemessene Näherbestimmung von Evangelium, sondern eben Jesus Christus. Anders gesagt: der, der einst das Evangelium von Gott verkündigt hatte, ist jetzt so in dieses eingegangen, dass er als Jesus Christus geradezu zum einzigen Inhalt des Evangeliums geworden ist. War Jesus von Nazareth nicht unter Absehung von Gott zu verstehen, so ist jetzt Gott nicht mehr unter Absehung von Jesus Christus zu verstehen. Aus der theologischen Selbstexplikation Jesu wird die explizite Christologie der nachösterlichen Gemeinde. Und dieser Vorgang wird für den Glaubenden desto mehr innere Stringenz haben, je klarer er die theologische Dimension der Existenz Jesu erfasst. Dieser Vorgang ist die Grundlage der christlichen Verkündigung, des sogenannten Kerygmas. Interessant ist jedoch, dass Markus sich keineswegs mit der expliziten Christologie begnügt. Vielmehr vollzieht er den Rückgriff auf den irdischen Jesus, sofern er unter dem Titel »Evangelium von Jesus Christus« verhandelt, was über Jesus von Nazareth zu sagen ist 2 ~. Das heisst: das Evangelium von Jesus Christus versteht nur angemessen, wer es in seinem grundlegenden Zusammenhang mit dem von Jesus gebrachten Evangelium Gottes sieht. Ja, das von Jesus verkündigte Evangelium Gottes ist die dPX11, der massgebliche Anfang, das Evangelium von Jesus Christus. Auf diese Weise bindet Markus das Evangelium 2 ~ Dabei weiss Mk bei aller Betonung der Kontinuität zwischen Verkündigung Jesu und Verkündigung der Kirche sehr wohl zu unterscheiden zwischen beiden: mit Gnilka. Markus I 65f.
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gones« (Mk 1.14)
Christi zurück an die Lehre und das Leben Jesu. Er bindet das Kerygma von Jesus Christus zurück an die Geschichte Jesu. Damit ist die Identität des kerygmatischen Christus der Beliebigkeil spekulativer Christologie entzogen. Damit ist der Glaube an Jesus Christus verwiesen auf die geschichtliche Gestalt des Jesus von Nazareth. Und eben so ist der Glaube an etwas verwiesen, an welchem er nichts mehr ändern kann weder durch die Macht seiner Wünsche noch durch die Anpassung an das Passende -, an welchem er aber auch nichts mehr ändern muss weder durch die Werke des Gesetzes noch aufgrund der Übermacht der Anfechtung. Darin, in dieser Herstellung der Verbindlichkeit des Glaubens, besteht die kaum zu überschätzende theologische Leistung des Markus, wie sie sich im Vergleich der beiden Verse 1,1 und 1,14 darstellt. Man hat diese theologische Leistung nicht selten in Zusammenhang gebracht mit der zeitgeschichtlichen Situation, in welcher Markus sein Evangelium schrieb2 6 • Gewiss: es drohte die Gnosis. Die Unverwechselbarkeil und Externität des Christus drohte aufgezehrt zu werden im Namen des allgemeinen und internen Erlösungshungers. Gewiss: es drohte die Entleerung des Kreuzes zu einer theologischen Chiffre, die mit beliebigen Inhalten gefüllt werden konnte 27 • Die Entleerung der Botschaft zu einer Leerformel für wahres Leben, losgelöst von den konkreten Ereignissen, denen sie sich verdankt, und damit auch abgeschnitten von der Macht des Lebens, die in ihr wirksam war. Gewiss: manchenorts drohte der Glaube seines unverwechselbaren Inhalts verlustig zu gehen, so dass er dann beliebige Verbindungen eingehen konnte: Glaube und Gesetz2 8, Glaube und Philosophie 2 '~, Glaube und Mythologie3°.
~b Dies geschieht zu Recht bei Schweizer. Leistung 21-24. vgl besonders den folgenden Satz: »Am Horizont wurde eine Kerygmatheologie sichtbar. die alle Wurzeln in der Geschichte verloren haue und ebenso gut an Hermes wie an Jesus angehängt werden konnte« (22). Besonders die vorpaulinischen Hymnen zeigen eine punktuelle Berührung des himmlischen Christus mit dem irdischen Jesus. Das mythologische Denken blieb so lange unberühn. wie die irdische Existenz Jesu keine bestimmende Rolle spielte. Doch: die Menschwerdung Gones ist ohne das Menschsein Jesu undenkbar. ~ 7 Eine solche im Grunde mythologische Christologie dürfte die Weisheitsposition der Korinther gewesen sein. mit welcher sich Paulus I Kor 1.17.18-25 auseinandersetzt. In dieser Christologie spielte das Kreuz keine bestimmende Rolle und war deshalb entleen. aufgehoben in den mythologischen Rahmen. ~·So etwa die Position der galatischen lrrlehrer. Zu Recht spricht Lührmann. Galater 107. von einer »ehristliche(n) Theologie des Gesetzes«. Eine solche Theologie konnte eben don
3 Zum Verhältnis von Mk 1.1 und 1.14
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In dieser Situation hat Markus auf seine Weise daran erinnert, dass der Glaube seine Unverwechselbarkeil zu hüten habe. Er rief in Erinnenmg, dass die Identität des geglaubten Christus so lange eine bloss mythologische (und damit beliebige!) Identität bleibe, als sie nicht an die geschichtliche Identität des Jesus von Nazareth gebunden werde 31 • Innerhalb der zeitgeschichtlichen Situation war diese Stimme des Markus gewiss notwendig, den Glauben an seine Sache zu erinnern. Es wäre allerdings fatal, wollte man diese theologische Leistung des Markus aus der zeitgeschichtlichen Situation erklären. Dass die Erinnerung des Markus zeitgeschichtlich notwendig war, bedeutet noch lange nicht, dass sie ihre Entstehung der Situation verdankt, in der sie notwendig war. 32 Es gilt festzuhalten, dass Markus keineswegs der erste war, der die irdische Existenz Jesu als massgeblich für den Christusglauben erachtete. Im Sinne einer (jetzt nicht näher begründbaren) These sei gesagt: nicht nur bestanden längst vor Markus Überlieferungen über Jesus, die von christlichen Gemeinden als massgeblich erkannt wurden, nicht nur gab es einen Paulus, der nichts anderes verkündigen wollte als Christus, und diesen als Gekreuzigten, sondern schon mit dem Bekenntnis »Jesus Christus« ist die fundamentale Bezogenheil des Christusglaubens auf das Geschick Jesu festgehalten. »Jesus Christus« konnte nicht ernstlich als Bekenntnis gesprochen werden, ohne dass die konkrete Gestalt der irdischen Existenz Jesu eine Rolle spielen musste (vgl elementar schon in 1 Kor 15,3lr5). Markus ging mit seinem Evangelium einen Weg, der durch den christlichen Glauben von allem Anfang an gewiesen war33 • Nur mit dieser Präzisierung ist von einer theologischen Leistung des Markus zu sprechen, der zum ersten Mal das Evangelium von Jesus Christus in Zusammenhang brachte mit der ganzen Existenz Jesu, angefangen bei seiner Taufe durch Johannes, zu entstehen. wo der Tatsachenbezug des Glaubens (auf den Kreuzestod Jesu! vgl Gal 3.1) verlorengegangen war. 29 Dazu vergleiche man die Position der kolossischen Irrlehrer und die im Namen des Paulus ergangene Kritik in Kot 2.6-23 (Schweizer. Kolosser 97-130). ' 0 Diese Verbindung erscheint bloss an den Rändern des Neuen Testaments: vgl immerhin I Joh 4.2. wo die »Aeischlichkeit« des Kommens Jesu ausdrücklich betont werden muss. " Dazu Schweizer. Leistung 23f. n Diesen Eindruck können (nicht: müssen) manche Ausführungen zur •theologischen Leistung des Markus« hinterlassen. 1 ' Es ist deshalb unzutreffend. diesen Schritt des Theologen Markus als eine •völlige Überraschung« (vgl Schweizer. Leistung 23) darzustellen. Das Evangelium von Jesus Christus hatte zu allen Zeiten von Jesus selbst zu erzählen. wenn es Christus zur Sprache bringen wollte.
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1.14)
Ende gekommen mit dem Tod am Kreuz, in Wahrheit offenbar geworden an jenem Morgen, wo in Jerusalem ein Grab leer angetroffen wurde. Diese Geschichte, die Markus hier zu erzählen hat, will er als ciPXf1 verstanden wissen: als zeitlichen Anfang und massgebliche Grundlage des Geschehens, welches das Evangelium in der Welt darstellt. Im hellenistisch-heidenchristlichen Milieu des Markus war die Frage nach der ciPVi eine nicht eben selten gestellte Frage. Die Frage nach der ciPVi einer Sache muss geradezu als hellenistische Kardinalfrage angesehen werden, als eine Kardinalfrage, in welcher die Hauptstrukturen des griechischen Denkens sich ebenso auswirken, wie sie ans Tageslicht kommen. Freilich zielte sie nicht bloss darauf zu erfahren, wie etwas angefangen hatte. Dieser sozusagen alltäglichen Gestalt 34 der Frage nach der ciPVi steht gegenüber jene tiefsinnige Frage, welche, indem sie nach der ciPVi fragt, nach der Grundlage sucht, man könnte fast sagen, auf die fundamentale Begründung einer Sache zielP 5 • Es soll jetzt nicht behauptet werden, Markus habe mit dem Stichwort ciPVi zu Beginn seines Evangeliums subjektiv die Intention gehabt, etwas zu jener tiefsinnigen Frage zu sagen. Immerhin mag es erlaubt sein, bei der Auslegung eines Textes auch die rezeptionsästhetischen Aspekte mit zu berücksichtigen. Die Bedeutung eines Satzes erschliesst sich nicht schon, wenn der Rekurs auf die Intention des Autors gemacht ist; die Bedeutung eines Satzes wird auch erschlossen durch die Vorstellungen, die er in den Köpfen seiner Rezipienten zum Klingen bringt. Der Sinn einer Aussage ist objektiver als die ursprüngliche Intention des Sprechers. In diesem Sinne wird hier an die ciPXit-Frage des hellenistischen Kulturraums erinnert 36 • Nach den ciPXai des Seienden, nach dem, worauf alles Sein in seiner wechselhaften Unstetigkeit zurückgeführt werden kann, haben bekanntlich schon die Vorsokratiker gefragt. In der Folgezeit gewinnt ciPXf1 den Sinn von ewigen Gesetzen, grundlegenden Ordnungen, nach denen sich das Werden der Welt vollzieht. ciPVi ist die Zahl, sagen die Pythagoreer, ciPVi ist der Airy~. der v~. die alles durchwaltende Vernunft, lehrt man bei den Stoikern. Und in Prov I ,7 heisst es:
14
Dazu Delling. An. ciP1'1477. 32ff.
1~
Apx11 bedeutet in jedem Fall einen Primat. sei es der Zeit. sei es des Ranges
liptll477. 300. '"Zum Folgenden vgl Delling. An. tipp 477. 29-479. 41: Feuillet. 'Commencement" 167f: Pesch. Markus I 76 (vor allem die Belege).
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ciPX11 oocp\a~ cpOpcx; '6Eoü, Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht. Dabei ist die Gottesfurcht nicht etwa bloss zeitlicher Anfang der Weisheit, sondern vielmehr der Weisheit Grundlage, der Weisheit fundamentale Begründung. Die Weisheit beruht fundamental auf Gottesfurcht. Bemerkenswert ist nun, dass die ciPX"l - mindestens im griechischen Kulturbereich - selbst etwas Zeitloses ist. Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Die Frage nach der ciPX"l des Seienden ist geradezu die Frage nach der theoretischen Elimination des Zeitlichen-n. Die ciPX11 ist das, was gegenüber dem Wechsel der Welt und der Abfolge der Zeiten invariant ist. Strukturell vergleichbar ist die Frage nach der ciPX11 der Theoriebildung in den modernen Naturwissenschaften, die ja zum Ziel hat, eine immer grössere Anzahl von Phänomenen unter einem Grundsatz zu subsumieren und also eine immer grössere Zeitinvarianz zu erhalten. Wer immer nach der ciPlll fragt, fragt durch das Zeitliche hindurch. Er fragt nur nach dem Zeitlichen, um es als Zeitliches dem Überzeitlichen einordnen zu können. ln diesem kulturgeschichtlichen Zusammenhang steht auch das Markusevangelium, wenn es von dem Anfang des Evangeliums von Jesus Christus spricht. Und in diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang muss einem die Antwort des Markus einigermassen erstaunlich vorkommen. Die ciPX11 ist hier eine höchst zeitliche Geschichte. Seinen Anfang nahm das Evangelium und seine massgebliche Grundlage hat es in Tagesereignissen. Das Evangelium von Jesus Christus hat - etwas pointiert ausgedrückt - seine massgebliche Grundlage in einem geschichtlichen Zufall. So etwas sollte als ciPX11 eigentlich nicht in Betracht kommen. Eine solche Antwort auf die ciPX11-Frage muss die Frage selbst im Innersten betreffen. muss sie vom Zentrum her verändern. Über das Stichwort tixxyyf:Ä.tov ist jener geschichtliche Zufall verbunden mit dem Glauben an die vollendete Ankunft Gottes in der Welt, gleichsam an das Ereignis des Absoluten in der Welt. Das Evangelium Gottes, wie es in der zufälligen Existenz Jesu zur Sprache gekommen war, wurde verwandelt in das Evangelium von Christus. Das heisst aber, dass jener geschichtliche Zufall des Daseins Jesu zur inhaltlichen Bestimmung jenes Wortes wird, das das Ereignis des Absoluten in aller
17 Wer nach der dP%11 fragt. fragt ja nach den Gesetzen des Werdens und Vergehens (vgl Delling. An. cipp 478. 19f). Er fragt nach dem. was der Zeitlichkeit nicht unterworfen ist. Besonders deutlich wird dies etwa bei den Elementen des Anaxagoras (vgl Windelband Geschichte 36) oder den Zahlen der Pythagoreer (ders. aaO 39).
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1.14)
Welt verkündigt. Evangelium zielte als Begriff auf die Endereignisse, auf das endgültige Geschehen. Dieser Begriff wird nun inhaltlich bestimmt mit einem Namen, der für die Tagesereignisse steht. Dadurch wird der geschichtliche Zufall des Seins Jesu gesteigert, gesteigert ins Absolute. Oder besser gesagt: aus dem concretum der Existenz Jesu wird das concretum universale der Menschwerdung Gottes.
4 Ausblick Wenn das Evangelium einen Anfang von solcher Gestalt hat, wie er im Markusevangelium festgehalten wird, dann muss davon die Wahrheit dieses Evangeliums ihrerseits betroffen sein. Sie kann jedenfalls keine zeitlose, durch theoretische Abstraktionen zu erhebende Wahrheit sein. Sie gelangt vielmehr dann zur Erkenntnis, wenn man sich dem Einzelphänomen zuwendet, sie gelangt zur Erkenntnis in der Erinnerung an die Geschichte des Jesus von Nazareth. Die Wahrheit des Evangeliums ist deshalb auch nicht in dem Sinne allgemein, dass sie von ihrer zeitlichen Entstehungsgestalt abstrahiert werden könnte. Sie ist nicht in dem Sinne zeitlos, dass sie der menschlichen Vernunft jederzeit zugänglich und erschwinglich wäre. Die Vernunft kann keine Zufälle produzieren, und wenn sie das zu tun versucht, sind es eben keine Zufälle, sondern dann unterliegen sie den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die vom Glauben in Kraft gesetzte Vernunft jedoch kann sich etwas sagen lassen von dem ins Absolute gesteigerten Zufall der Existenz Jesu. Die Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus ist in dieser Weise zeitlich und geschichtlich konkret. Mit der eben angesprochenen Zeitförmigkeit der Wahrheit hängt es zusammen, dass sie nicht (logisch oder wie auch immer) deduzierbar ist, so dass jeder vernünftige Zuhörer mit Notwendigkeit darauf kommen und sie akzeptieren müsste. Insofern hängt es mit der genannten dP%11 zusammen, dass dieser Wahrheit gegenüber überhaupt eine Entscheidung im echten Sinne möglich ist. Das Evangelium selbst spielt mir die Freiheit zur Entscheidung zu, oder besser: will mich zur echten Einstimmung in es bewegen, sofern es mir nahelegt, in diesem Zufall keinen anderen als Gott selbst am Werk zu sehen. Und mit jener dP%11 hängt es schliesslich zusammen, dass das Evangelium schon an seinem Ursprung distanziert ist von der Produktivität
4 Ausblick
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des menschlichen Geistes. Weder verdankt es sich menschlicher Spekulation. noch beruht es auf wunschorientierter Projektion, sondern es verdankt sich wesentlich dem geschichtlichen Zufall des Daseins Jesu von Nazareth. Dass auch geschichtliche Ereignisse der menschlichen Projektionsfreudigkeit unterworfen sind, soll hier gar nicht bestritten werden. Dafür ist die galatische Position einer neuen christlichen Lehre des Gesetzes oder die gnostische spekulative Vereinnahmung des Jesus von Nazareth ebenso ein Beispiel, wie gegenwärtige ideologische Erscheinungsformen des christlichen Glaubens. Mit der Rückbindung des Evangeliums an Jesus aber hat Markus dem christlichen Glauben eine Anregung gegeben, die Anregung nämlich, selbstkritisch zu denken und also denkend seine eigenen Yereinnahmungsversuche zu erkennen und die von ihm ausgehenden projektiven Elemente ins Licht zu stellen. Wenn es zuträfe, dass- wie nicht wenige sagen - Religion wesentlich eine Projektion menschlicher Wünsche wäre, dann müsste man sagen: Weil das Evangelium diesen Anfang hat, ist der Glaube an dieses Evangelium von allem Anfang an religionskritisch, und zwar nicht in dem gegenwärtig so modischen und gern geübten Sinne, dass die religiösen Wunschvorstellungen der anderen kritisch destruiert werden, sondern in dem viel beschwerlicheren, aber auch viel mehr versprechenden Sinne, dass Religionskritik als Kritik an den eigenen Wünschen und Phantasien vollzogen wird. Indem Markus den massgeblichen Anfang des Evangeliums von Jesus Christus bestimmte als die Verkündigung des Evangeliums Gottes durch Jesus von Nazareth, gab er den Nachgeborenen eine entscheidende Anregung: die Anregung nämlich, wenn schon religionskritisch, dann wenigstens selbstkritisch zu denken.
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0 Einleitung Charakteristisch für die heftige Auseinandersetzung um die Wunder des Neuen Testaments, wie sie im Rahmen der Entstehung des neuzeitlichen Bewusstseins in der Theologie stattfand, ist die Reduktion der Wunderproblematik auf die Frage, ob die biblischen Wunder tatsächlich geschehen seien. Im Gegenzug gegen die Eindimensionalität der neuzeitlichen Fragestellung wurde in unserem Jahrhundert die Tatsachenfrage als fast völlig unerheblich abgetan 1• Wenn auch dieser Umschlag angesichts der beschriebenen Engführung wohl verständlich ist, vermag
'Vgl Kenelge. Wunder 13.
0 Einleitung
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die Ausblendung der Tatsachenfrage dennoch nicht zu überzeugen. »Die neutestamentlichen Wundergeschichten berichten nur scheinbar von merkwürdigen Ereignissen aus dem Leben des irdischen Jesus. In Wahrheit verkündigen sie, was Gott durch Jesus als den Christus, das heisst durch den gekreuzigten und auferstandenen Herrn der Gemeinde, an dieser Gemeinde tat und an der Welt tun will« 2• Eine solche Auskunft bringt zwar die neutestamentliche Wissenschaft in die komfortable Position, sich nicht mehr um die historische Beurteilung der Wundergeschichten kümmern zu müssen. Der dafür bezahlte Preis jedoch ist hoch. Auf dieser Grundlage kann erstens nicht mehr einsichtig gemacht werden, wieso die Jesusüberlieferung, die angeblich den gegenwärtig handelnden Herrn verkündigen will, so viele Wundergeschichten erzählt, es sei denn sie wären »zufällige« Einkleidungen des urchristlichen Kerygmas. Vor allem aber kann zweitens nicht erklärt werden, aus welchem Grunde die Überlieferung an den Wundem als vergangenen Taten des irdischen Jesus festhält In der Literatur über das Wunderproblem findet sich häufig die Auskunft. der Gemeinde gehe es gar nicht um die vergangenen Ereignisse, sondern um den Glauben des gegenwärtigen Hörers, um die Verkündigung des gegenwärtigen Herrn\ Diese eingängige Alternative könnte aber überhaupt falsch sein. Es ist ja immerhin nicht zu übersehen, dass zumindest die Jesusüberlieferung die Verkündigung des gegenwärtigen Herrn so vollzieht, dass sie von seinem vergangenen Reden und Tun erzählt. Wer Christus ist, entscheidet sich an der Frage, wer Jesus war. In diesem Kontext stehen gerade auch die Wundergeschichten, und deshalb ist die Frage nach ihrer Ereignisdimension - die sich historisch ja sowieso nicht verbieten lässt - eine auch theologisch bedeutsame Frage. Es ist darum zu begrüssen, wenn sie in neuesten Publikationen wieder vennehrt gestellt wird. Allerdings findet sie nur zaghaft Eingang in die exegetische Literatur: Die in vielerlei Hinsicht ausserordentlich interessante und weiterführende Arbeit von Gerd Theissen (auf die noch zurückzukommen sein wird) 4 widmet dieser Frage ganze drei Seiten (274-277). Ausdrücklicher wird sie bei Rudolf Pesch gestellt und beantwortet 3 • Immerhin, der Tatsachenbezug der urchristlichen
2 Schmithals.
Wunder 25. Als Beispiel seien Schmithals. Wunder 25f und Suhl, Wunder 508 genannt. ~Theissen. Wundergeschichten. ~ Pesch. Taten 15-34.135f. 1
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Wunder Jesu und Wundergeschichten
Wundergeschichten wird nicht gänzlich ausgeklammert; das Problem, welche Bedeutung der Bezug auf den irdischen Jesus für die urchristlichen Wundergeschichten habe, bleibt wenigstens in der Sichtweite.
1 Wunder und historischer Jesus Wer die Frage nach den tatsächlichen Ereignissen stellt, die den Wundergeschichten zugrunde liegen, sieht sich vor schwierige formale und materiale Probleme gestellt. Deshalb wird das Thema »Wunder und historischer Jesus<< in zweierlei Hinsicht angegangen: als methodologisches Problem einerseits, als inhaltlich-sachliches Problem andererseits. I . I Methodologische Aspekte War die neuzeitliche Diskussion in überwältigender Weise geprägt durch das Vorherrschen von allgemeinen Urteilen über die Faktizität von Wundem, so wird in der neuesten exegetischen Diskussion grosses Gewicht auf die historische Einzelargumentation gelegt. Dies mag vor allem damit zusammenhängen, dass uns ein eindeutiges Wirklichkeitsverständnis abhanden gekommen ist und dass demzufolge auch die Möglichkeit fehlt, allgemein über vergangene Faktizität zu urteilen6 • Es mag auch die Einsicht allmählich Platz greifen, dass in historischen Fragen grundsätzlich der dokumentarische Beweis über dem begrifflichen steht, dass also das im einzelnen historisch zu belegende Urteil zuverlässiger ist als das Urteil aufgrund allgemeiner Annahmen über die Wirklichkeit. Jedenfalls legt Simon Legasse7 grossen Wert auf das Zusammentragen der neutestamentlichen Wundergeschichten. Steht der Historiker vor der Tatsachenfrage, so gilt es, eine Reihe von Arbeitsgängen zu durchlaufen. Wer die Einstellung der Evangelisten zu den Wundem untersucht8 , kommt zum Schluss, dass diese ein unkritisches Verhältnis zur Tatsachendimension hatten (was sie mit der Mehrheit der Auffassungen ihrer Zeit verbindet). Das aber heisst: ihre Wiedergabe von Wundem ist vom historischen Standpunkt aus kritisch zu
Vgl Pesch. Taten 135-143. Ugasse. L"historien. •Vgl Ugasse. aaO 109-114. 6
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I Wunder und historischer Jesus
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überprüfen 9 • Dies geschieht zunächst durch eine Erhellung von Fonn und Überlieferung der Wunder Jesu 10 • So wird die älteste Gestalt einer Wundergeschichte rekonstruiert. Einzubeziehen in die historische Beurteilung sind sodann verschiedene Fragehinsichten, etwa die Frage nach der Absicht der Erzählung 11 , nach dem Lebens- und Lokalkolorit 12 , nach archaischen oder für Jesus sonst typischen Heilpraktiken 13 und schliesslich nach dem Verhältnis von Fonnung und Ereignisbezug einer Erzählung 14 • Dieser Katalog wäre wohl noch auszubauen. Wichtig daran ist indessen, dass derselbe Text unter möglichst vielen Gesichtspunkten betrachtet wird 15 • Auf diese Weise kann der Historiker hoffen, zu einer gewissen »Konvergenz der Indizien« 16 zu gelangen, welche seinem Urteil eine mehr oder wenigergrosse Plausibilität vermitteln. Neben diesen dokumentarischen Bemühungen steht die Verpflichtung des Historikers zur Selbstkontrolle. Namentlich hat er ständig mit dem Einfluss von allgemeinen Vorurteilen 17 zu rechnen. Sein Urteil kann beeinflusst sein durch ein religiöses oder philosophisch-religiöses Vorurteil 18 , durch vulgäres Erfahrungsdenken 19 oder durch das szientistische VorurteiJ2°. Diese Voreinstellungen sind indessen nicht dem Belieben des Historikers anheimgestellt; weil sie zum Geist der Zeit gehören, wird der einzelne Historiker sie nicht einfach ausschalten können. Dies aber verpflichtet ihn, die prinzipielle Relativität seiner Erkenntnisse stets kenntlich zu machen2 1• »Lucidite et modestie, ces vertues fondamentales de l'historien, ont leur röle a jouer lorsque celui-<:i est amene a se prononcer sur Ia realite evenementielle des miracles de I'Evangile«n. Betrachtet man von hier aus das übergreifende Urteil, das der Historiker Legasse über die Wunder Jesu abgibt, wird einem die
Ugasse. aaO 114. Vgl Legasse. aaO 115-118. II Ugasse. aaO 13~ 132. 12 Ugasse. aaO 132f. 1 1 Ugasse. aaO 133f. 1• Ugasse. aaO 135-138. 1 ~ Ugasse. aaO 138. 1" »Convergence d'indices«, Ugasse. aaO 138. 11 »Option prealable« oder »preconditionnement« genannt. Ugasse. aaO 139f. 1M Ugasse. aaO 140f. Vgl auch Suhl. Wunder 464f. 19 Ugasse. L'historien 141. zo Ugasse. aaO 141 f. 21 Ugasse. aaO 143. 22 Ugasse. aaO 143.
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Relevanz dieser Überlegungen unmittelbar deutlich. Die »miracles sur Ia nature« 23 gehören zur Legende, während die Heilungen (inklusive Exorzismen und Totenerweckungen) im wesentlichen durch die historische Wirklichkeit gedeckt sind24 • Wie gross ist der Anteil allgemeiner Annahmen über das Mögliche gerade an einem solchen Urteil? Ein solches Urteil bestätigt jedenfalls die These von Legasse, wonach jede historische Feststellung über den Ereignisbezug der Wundergeschichten immer wieder der methodologischen Reflexion bedarf.
1.2 Historische Ergebnisse Eine Zusammenfassung historischer Ergebnisse hinsichtlich der Wundertätigkeit Jesu lässt sich in der hier verlangten Kürze nur sehr schwer geben, weil von den jeweiligen Details nicht abstrahiert werden kann. Dennoch lässt sich generell sagen, dass die Wundertätigkeit Jesu im Sinne von wunderbaren Heilungen und Exorzismen (möglicherweise auch von Wiederhefebungen von Toten) historisch nicht bestreitbar ist 25 . Dass die neutestamentliche Wunderüberlieferung einfach aus der Luft gegriffen oder durch das allgemeine geistige Milieu bedingt wäre, wagt heute kein ernsthaft arbeitender Historiker mehr zu behaupten2 6 • Wohl aber gibt es eine Reihe von Wundergeschichten, die dem Historiker kein Urteil über die Ereignisdimension mehr erlauben, es sei denn, er fälle ein Urteil aufgrund allgemeiner Annahmen. Ein gutes Beispiel wird aufgezeigt durch Jean-Marie van Cangh 21 , der in einer monographischen Untersuchung den verschiedenen Interpretationsstufen der Brotvermehrungsgeschichte nachgeht. In ähnlicher Weise differenziert lautet auch das Urteil von Franz Annen 211 über die Gerasenergeschichte Mk 5,1-20. Annen unterscheidet zwischen mehreren Erzählstufen und einer historischen Basis (den Exorzismen Jesu)2 9 . Schliesslich gibt es andere Wundergeschichten, bei denen eine sorgfältige Prüfung des religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterials die Annahme einer sekundären Übertragung auf Jesus sehr wahrscheinlich macht (dies gilt etwa für
Ugasse, aaO 118. Legasse. aaO 121-129. n Vgl Ugasse, aaO 128 und Theissen. Wundergeschichlen 274. 2~> Vgl Suhl. Wunder 499-504: Bei7./Grimm. Wesen 30-53. 1 7 Cangh. muhiplicalion. 2M Annen. Heil. zq Annen. aaO 199f. B
24
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die Stillung des Seestunns 30 oder für den SeewandeP 1; beide Erzählungen gehören nach Kratz zu den »Rettungswundem« und haben christologische und soleriologische Aussageabsichten). Wer ein historisches Urteil über die Wunder Jesu fällen will, muss die Bereitschaft haben, ein differenziertes Ergebnis entgegenzunehmen, ohne sogleich in theologische Untergangsstimmung zu verfallen. Eine differenzierte Beurteilung des historischen Sachverhalts wird gewiss auch erschwert durch eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit, wie sie bei uns zur Herrschaft gelangt ist 32 • Eine differenzierte Beurteilung wird aber ebenso erschwert durch dogmatische Fixierungen einerseits und durch apologetische Generalangriffe auf die wissenschaftliche Forschung andererseits. Neuerdings scheint die Parapsychologie wieder vermehrt beigezogen zu werden, wenn es um die »Glaubwürdigkeit« biblischer Wunder geht. So ziehen Betz/Grimm Sterbeerlebnisse und Meditationserfahrungen bei, um offenbar die Faktizität von Epiphaniewundem plausibel zu machen ( 109-120). Von hier aus mag ein Blick auf die unwissenschaftliche Literatur zu diesem Thema instruktiv sein. In dem soeben erschienenen Buch von Rudolf Passian 3-' wird unter ständigem Beschimpfen von Theologen, Medizinern und Naturwissenschaftlern (was für eine reizvolle Zusammenstellung!) dargetan, dass sämtliche Wunder Jesu ohne weiteres »möglich« sind, da für alle verbürgte Parallelen existieren. Der Schilderung dieser »Fälle« ist denn auch der grösste Teil dieses Buches gewidmet, während von den Wundem Jesu selten die Rede ist. Ärgerlich ist nicht etwa der Einbezug parapsychologischer Erkenntnisse, ärgerlich ist vielmehr die Engstirnigkeit einer bestimmten Lehrmeinung (der spiritistischen in häufiger Absetzung von der »irrtümlicherweise« vorherrschenden animistischen) und die Pauschalität, mit welcher hier Urteile über theologisch-wissenschaftliches Denken gefällt werden. Doch lassen wir die Gedankenlosigkeit der Dogmatisten! Sei es nun parapsychologische oder natürliche Erklärung, sei es dogmatistische Bestreitung der Wunder Jesu, in allen diesen Ausführungen herrscht eine verhängnisvolle Eindimensionalität. Die Eindimensionalität näm-
Vgl Kratz. Rettungswunder 197-219. Kratz. aaO 268-291. '2 So mit Recht BeiZ/Grimm. Wesen 2 und oft. '' Passian. Neues Licht auf alle Wunder. PSI klän Bibelwunderstreit. Kleinjöri/Fiensburg 1982. '0
' 1
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lieh, dass die Wunder Jesu auf Faktizität reduziert werden und dass sie dann, selbst wenn ihre Faktizität »erwiesen« sein sollte, keine Bedeutung mehr haben. Das Entscheidende auch an den geschehenen Wundem Jesu ist doch wohl, was sie zu sagen haben. Dies gilt wenigstens, sofern man die Einstellung Jesu zu seinen Wundertaten mitberücksichtigt Es gehört zu den sichersten historischen Erkenntnissen über Jesus, dass er seine exorzistische (und wohl auch heilende) Wundertätigkeit als Ereignis der Gottesherrschaft im Jetzt verstand (dies wird von Theissen, Wundergeschichten 274ff deutlich herausgestellt, wenn auch mit etwas unglücklichen Ausdrücken wie »mythisches Drama«, »wunderbare Verwandlung der ganzen Welt« zur Gottesherrschaft, die eine etwas unreflektierte apokalyptische Sicht auf Jesus übertragen; vgl auch Pesch, Taten 151-155). Man könnte wohl auch sagen: in den (episodalen) Wundertaten Jesu vergegenwärtigt sich die (univerSale) Gottesherrschaft, die Wunder ziehen die (bisher als apokalyptisch verstandene) Zukunft Gottes ins Jetzt herein. Mit diesem Wunderverständnis sind wir auf ein religionsgeschichtlich singuläres Merkmal der Erscheinung Jesu gestossen. Theissen bespricht die - ohnehin spärlichen - religionsgeschichtlichen Belege und kommt zum Schluss, dass die (nur noch in der Logienquelle erhaltene!) »Verbindung von Eschatologie und Wunder ... bei Jesus singulär« ist (277). In dieser Verbindung liegt zugleich beschlossen, dass Wunder und apokalyptisches Zeitverständnis sich gegenseitig modifizieren (276): der negative Unheilszusammenhang ist aufgebrochen durch die Gegenwart »episodalen Heils«; die Wunder als episodale Ereignisse haben eine universale Bedeutung, sie vergegenwärtigen die Gottesherrschaft Diese Beobachtung Theissens ruft ein Charakteristikum des irdischen Jesus in Erinnerung. das von überragender Bedeutung ist. In diesem Wunderverständnis ist nicht nur der Grund für eine kritische Einstellung zum Apokalyptischen gelegt, wie sie im Urchristentum da und dort zum Durchbruch kam, sondern auch ein Moment bezeichnet, das wesentlich zum Ursprung der Christologie gehört. Auf der Ebene der Wundergeschichten wird dies daran sichtbar, dass das eschatologische Verständnis der Wunder Jesu fast völlig verschwindet. um der christologischen Botschaft der Wundergeschichten Platz zu machen. Die Christologie der Gemeinde ist die adäquate Antwort auf das eigentümliche Zeitverständnis, wie es auch im Wunderverständnis Jesu zum Ausdruck kommt. So sehr Theissen darin zuzustimmen ist, dass Wun-
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der und Apokalyptik sich gegenseitig modifizieren (und interpretieren), so sehr ist hinter seine Schlussfolgerung ein Fragezeichen zu setzen: »Jesus versteht seine Wunder selbst als Ereignisse, die auf etwas Niedagewesenes hinzielen. Sie antizipieren eine neue Welt. Sie wollen 'allemal schon neuer Himmel, neue Erde im Kleinen sein' (Bloch)« (277). Wird hier mit dem Stichwort der Antizipation nicht gerade die entscheidende Modifikation des Apokalyptischen rückgängig gemacht? Kann Jesus mit den messianischen Denkformen Blochs adäquat erfasst werden, ohne dass das Apokalyptische erneut über ihn zu herrschen beginnt, ganz so, als ob seine Kritik am Apokalyptischen nicht gewesen wäre? Jedenfalls macht das eschatologische Wunderverständnis Jesu deutlich, dass die Wundertaten in den Zusammenhang seines ganzen Wirkens gehören. Dieses Wirken als Ganzes ist geprägt von der eigentümlichen Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft, man denke etwa an die Gleichnisse, die Gottes Herrschaft jetzt massgeblich machen, an die Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der das künftige Freudenmahl am Tische Gottes vergegenwärtigt wird, oder an die Gesetzesauslegung Jesu, in welcher das Jetzt dem endgültigen Willen Gottes ausgesetzt wird. Damit soll gesagt sein, dass die Wundertaten jedenfalls nicht jene Ausnahmeposition einnehmen, die sie durch die geistesgeschichtliche Situation der Neuzeit erlangt haben. Und es soll ebenfalls gesagt sein, dass das faktische Geschehen zwar eine wichtige Frage angesichts von Wundergeschichten ist, dass aber eine noch viel wichtigere Frage an die Wunder Jesu zu stellen ist, die Frage nämlich, was sie bedeuten, beziehungsweise was sie sagen. Sache der wissenschaftlichen Bemühung um die Wunderproblematik ist es, die Eindimensionalität der Reduktion auf das Faktische zu durchbrechen, und zwar in ihrer modernistischen wie auch ihrer apologetischen Gestalt, um den Blick für die Mehrdimensionalität der Wunder Jesu frei zu machen: nicht schon das Aussergewöhnliche selbst sagt alles, sondern es ist zu achten auf die individuelle Gestalt der aussergewöhnlichen Tat Jesu, die im Zusammenhang der Gottesherrschaft ihre Bedeutung und Tragweite erhält. Darin, dass bei Jesus beispielsweise Strafwunder fehlen (Theissen 117), spricht sich eben viel mehr aus, als das bloss Aussergewöhnliche zu sagen vermöchte. Jesus steht flir die Überwindung des ius talionis (das in den epidaurischen Strafwundem sanktioniert wird, ebd), ebenso wie er für die Nähe des Gottes steht, der auch dem Sünder Leben ge-
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währt (im Gegensatz zu den jüdischen Strafwundem, welche die Todeswürdigkeit des Gesetzesübertreters aussprechen, 118). Dergleichen Beispiele wären viele zu nennen. Sie alle würden illustrieren, dass die Wunder Jesu - wenn einmal der Bann der Reduktion auf das Faktische gebrochen ist -eine vielfältige und vieldimensionale Bedeutung haben. Schliesslich gehört es zu den historischen Einzelergebnissen, dass die Wunder Jesu gleichsam zwei Rahmenbedingungen haben, die ihr Verständnis entscheidend beeinflussen: die (mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den irdischen Jesus zurückgehende) Verweigerung der Zeichenforderung (vgl Kertelge 23-27; Koch 155-159; Betz!Grimm 7f) und das Ausbleiben des Wunders am Kreuz (diese zweite Rahmenbedingung wurde insbesondere von dem Evangelisten Markus als wichtiges Interpretationsprinzip aufgegriffen; sie wird deshalb im redaktionsgeschichtlichen Abschnitt besprochen werden). Dass diese beiden Rahmenbedingungen den Wundem (und damit dem urchristlichen Wunderverständnis) sozusagen »zugekommen« sind, ist auf das Wirken des irdischen Jesus zurückzuführen. Die Verweigerung der Zeichenforderung gehört unablösbar zum wundertätigen Jesus und vermittelt dem urchristlichen Wunderverständnis wesentliche kritische Impulse. Welche? Betz!Grimm 8f bezeichnen Zeichenwunder einerseits und Heilungswunder beziehungsweise Exorzismen andererseits als »zwei völlig verschiedene Vorgänge: letztere hat Jesus als messianische Aufgabe übernommen, erstere hat er leidenschaftlich abgelehnt«. Worin liegt der Unterschied? Das Zeichen verbleibt auf der Horizontalen, die Theophanie dagegen zielt auf die Vertikale ( 19). Verleitet durch eine zu einseitige Fixierung auf die Zeichen und Wunder des Alten Testaments, welche erst noch politisch interpretiert werden, verstehen die Verfasser die Haltung Jesu gegenüber der Zeichenforschung in dem Sinne, dass Jesus damit von der politisch-messianischen Erwartung Abstand nimmt (67-71; dazu will allerdings die Zeichenforderung am Kreuz Mk 15,31f schlecht passen). Die Schwierigkeit dieses Ansatzes besteht wohl darin, dass die Unterscheidung von Zeichen einerseits und echten Wundem andererseits vorgenommen wird auf der Ebene des wunderbaren Geschehens selbst. In ähnliche Schwierigkeiten kommt auch Koch, der in der Zeichenforderung sowohl ein »apokalyptisches Zeichen« als auch ein »Zeichen als Selbstausweis Jesu« gemeint sehen kann (157f; ähnlich auch Legasse 124f). Waren denn nicht gerade die Wunder Jesu apokalyptische Zeichen, wenn auch auf ihre eigene Art? Waren sie
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nicht Selbstzeugnisse Jesu? Einer einleuchtenden Lösung näher kommt KertelKe, der das entscheidende Problem in der Forderung der EindeutiKkeit sieht (26: zu vergleichen ist auch Weiser 35; Polhili 393f). Die Zeichenforderung verlangt von Jesus, dass er seine göttliche Eindeutigkeit herstelle, und zwar nach Massgabe der Forderer. Die Ablehnung der Zeichenforderung beruht nicht auf dem Unterschied des Geschehens, sondern vielmehr auf dem Unterschied der Rezipienten: bedingunglos Hilfe suchende Verlorene auf der einen Seite, Eindeutigkeit nach ihren eigenen Bedingungen verlangende Herren der Lage auf der anderen Seite. Das theologische Problem der Zeichenforderung liegt in dem experimentellen Umgang mit dem Gottessohn, in der bedingten Wahrnehmung seiner gewöhnlichen und aussergewöhnlichen Taten. Der Glaube ist »radikale Grenzüberschreitung, die die ganze Existenz des Menschen herausfordert. Dieser Glaube muss Zeichen ablehnen, die dem Menschen diesen Schritt (so sich ganz herausfordern zu lassen) ersparen, die ohne grenzüberschreitenden Glauben wären« (Theissen 293). Den experimentellen Umgang mit Gott können auch Pseudopropheten und Pseudochristusse zufriedenstellen (vgl Mk 13 par Mt 24: KerteiKe 27-29), das Wunder geschieht, wo immer es geschieht, stets als eine Überraschung, die sich keinen Konditionen unterwerfen lässt. Das Ausbleiben des Wunders am Kreuz macht eine schmerzliche Probe auf dieses Exempel. Diese relativ ausführliche Behandlung der Wunder Jesu könnte den Eindruck erwecken, der historische Tatsachenbezug fande eine entsprechende Beachtung in der besprochenen Literatur. Dies ist nicht der Fall. Dem historischen Problem widmen viele Untersuchungen nur einen verschwindend kleinen Bruchteil ihres Raums, andere lassen es gar ganz ausser acht (als Beispiel sei Schmithals genannt). Ihr Interesse gilt den formgeschichtlichen, literarkritischen, redaktionsgeschichtlichen Problemstellungen. Die Frage mag erlaubt sein: welche grundlegende theologische Orientierung spricht sich in dieser durchgehenden Gewichtung aus?
2 Wundergeschichten und ihre Umwelt Im Blick auf die religionsgeschichtliche Betrachtung der neutestamentlichen Wundergeschichten lässt sich allgemein die Tendenz zu
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Wunder Jesu und Wundergeschichten
vorsichtigeren und differenzierten Urteilen feststellen, als sie im Zuge der religionsgeschichtlichen Schule und bis heute in manchen Bereichen unreflektierter religionsgeschichtlicher Arbeit üblich waren und sind. Lange Zeit vollzog sich die Einordnung der Wundergeschichten in einen (zumindest hellenistischen) grösseren Zusammenhang ebenso pauschal wie auf der anderen Seite die Einzigartigkeit der neutestamentlichen Überlieferung summarisch »festgestellt« wurde. Demgegenüber wird in neueren Publikationen der Blick geschärft für die Individualität sowohl der biblischen als auch der ausseTbiblischen Erzählungen (Po/hili 392). Diese Tendenz ist sicher zu begrüssen. 2.1 Zum alttestamentlich-jüdischen Milieu Während die Forschung sich bis vor kurzem weitgehend auf den hellenistischen Bereich konzentrierte, wird neuerdings der alttestamentlich-jüdische Hintergrund zur Erklärung neutestamentlicher Wundergeschichten stärker herangezogen. Hierin drückt sich eine notwendige Korrektur einer etwas einseitigen Sicht aus, auch wenn zugleich vor neuer Einseitigkeit (wie sie etwa bei Betz/Grimm vorliegt) gewarnt werden muss. Zum Verständnis der Exorzismen Jesu ist es von erheblicher Bedeutung zu sehen, dass der Glaube an okkulte Einflüsse von Dämonen und bösen Geistern wohl ebenso verbreitet war im jüdischen Milieu, wie im griechischen und gemeinorientalischen (Gre/ot 64). Dies wird auch durch den strengen Monotheismus des Judentums nicht aufgehoben. Dabei war die Grenze zwischen Besessenheit und Krankheit nicht scharf zu ziehen (63.70). In diesem Zusammenhang geraten Heilungen und Exorzismen in grosse Nähe zueinander, und beide werden zum Ausdruck eines umfassenden Kampfes gegen das Böse in allen seinen Gestalten. Und dieser Kampf wird als endgültiger, eschatologischer Kampf verstanden, wie etwa Mt 12,27f; Lk I 0, 18; Joh 12,31 und viele andere Stellen zeigen (67-70). Vom jüdischen Hintergrund her gesehen ist es ohne weiteres verständlich, dass die Exorzismen Jesu selbst nicht umstritten waren, wohl aber ihre sachgemässe Erklärung: während Jesus und seine Nachfolger darin die endgültige Wende zur Gottesherrschaft sahen, wurden dieselben Geschehnisse von seinen Gegnern dämonologisch interpretiert: Mit dem Beelzebul treibt er die Dämonen aus (zB Mk 3,22). Daran kann man erkennen, dass Wunder und Wundergeschichten gerade auch in einem durchaus »wundergläubigen« Milieu
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alles andere als Eindeutigkeit und Beweiskraft haben. Manches Urteil über die Bedeutung der urchristlichen Wundergeschichten im Milieu der Antike muss von hier aus revidiert werden: es kam immer schon darauf an, dass einer Augen hat zu sehen, beziehungsweise immer schon war entscheidend, was die Wundergeschichte sagte. Bemerkenswert an den neutestamentlichen Exorzismen ist vielleicht ein Detail: während sich (in der jüdischen und hellenistischen) Umwelt mancherlei Exorzismen finden, welche die Befreiung von Orten und Zeiten aus der Hand des Dämonischen zum Ziel haben, ist neutestamentlich der Exorzismus auf den Menschen beschränkt (Theissen 97f). Daraus wird man wohl entnehmen dürfen, dass es für das Neue Testament und namentlich ftir Jesus nur einen Ort gibt, wo der eschatologische Kampf gegen das Böse in allen seinen Formen ausgefochten werden muss, den Menschen nämlich, der aus dämonischer Selbstentfremdung zu sich selbst zurückzuführen ist. Auch dieses Detail ist im Zusammenhang der ganzen Erscheinung Jesu recht vielsagend. Was es zu sagen hat, wird von der Faktizität des Aussergewöhnlichen gar nicht erreicht. Wichtig für das Verständnis neutestamentlicher Wundergeschichten ist ferner die zeitgenössische rabbinisch-pharisäische Einstellung zum Phänomen des Wunders. Im Unterschied zu den breiten Volksschichten, für welche das Wunder »Une realite incontestable et quotidienne« war (Hruby 90), verhielten sich die pharisäischen Lehrer (wie übrigens alle bestimmenden Gruppen des Judentums) in Sachen Wunder sehr zurückhaltend (91 f; Betz 23f). Diese Zurückhaltung ist - wissenssoziologisch gesprochen - wohl verständlich: die Definitionsmacht über die Wirklichkeit hatte das Gesetz inne. Die Auslegung ·des Gesetzes war nichts anderes als ein Vorgang, in dem das Wirkliche definiert wurde. Deshalb waren Wunder, welche das wohlgefügte Konstrukt zu erschüttern pflegten, nicht erwünscht, und Wundertäter (wie auch Jesus) wurden nicht selten dämonologisch oder magisch interpretiert (Hruby 93; zu vgl ist bSanh 43a [Bar], Betz 24 mit Anm II, wo der Vorwurf gegen Jesus auf Zauberei lautet). Die Wunder - von denen auch rabbinischerseits einige überliefert werden - konnten in keinem Fall als Argument gegen eine halachische Entscheidung dienen (van Cangh 55f). Wundertaten können denn auch niemals Erkennungszeichen eines wahren Propheten sein; er gibt sich vielmehr dadurch zu erkennen, dass er »s'abtient de toute innovation par rapport aux paroles de Ia Torah« (Hruby 93). Die Reserve gegenüber Wundem und Wundergeschichten
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ist hier eindrücklich gepaart mit einer entschlossenen lnnovationsfeindlichkeit. In diesen Zusammenhang passt es auch recht gut, dass von Rabbinen nicht wenige Strafwunder überliefert sind (Belege bei Theissen 114-120). Strafwunder haben die Funktion, die herrschende Konstruktion von Wirklichkeit zu sanktionieren. In diesem Zusammenhang gewinnt die beinahe vollständige Abwesenheit von Strafwundem im Neuen Testament (mit der bezeichnenden Ausnahme in Apg 5,1-11 !) deutliche Konturen. Nimmt man sie zusammen mit der völlig unreservierten Haltung der Erzähler gegenüber Wundergeschichten, mag sie auf den hohen Stellenwert hinweisen, welche die Innovation im Urchristentum einnahm. Der Zusammenhang von Wunder und Innovation ist jedenfalls ein interessanter Gesichtspunkt zur Beurteilung und Deutung gesellschaftlicher Prozesse. Schliesslich ist der Historiker Josephus zu nennen, dessen Wunderverständnis durch eine Studie von Otto Betz gewürdigt wird. Bei »Josephus ist es vor allem das Feld der Geschichte, auf dem sich das Wunder bewährt« (25). In ihm erscheint die geschichtsentscheidende Macht Gottes und lässt deshalb auch den Sinn der Geschichte aufleuchten (26). Unübersehbar ist allerdings auch die an rationale Erklärungen erinnernde Behandlung der Wunder und erst recht die innere Distanznahme des Josephus zum erzählten Geschehen (260. Dieser Zug wird von Betz etwas herabgespielt, aber gerade an ihm kann man erkennen, welche Welten zwischen dem Wunderverständnis dieses philosophischen Historikers und den ersten Christen liegen: bei den letzteren fehlt jede innere Distanznahme zu den Wundererzählungen (s unten). Josephus kennt darüber hinaus das Wunder auch als Zeichen des Gottesboten (27f0. Die hier entstehende Wahrheitsfrage beantwortet Josephus ganz eindeutig: ein wahres Zeichen lässt sich von einem falschen dadurch unterscheiden, dass im ersten Falle eintrifft, was das Zeichen verheisst (29). Diese Beurteilung ist (wie Betz zu Recht feststellt, 30-32) teilweise bedingt durch die Gegenwartserfahrungen des Josephus: es gab nicht wenige »Propheten«, die sich anheischig machten, ein Zeichen der Befreiung zu tun und dadurch ansehnliche Massen in Bewegung zu setzen vermochten (Theudas; der ägyptische Jude, der die Mauem Jerusalems zum Einsturz zu bringen verprach; ein unbekannter »falscher Prophet«; der Weber Jonathan; Belege bei Betz 30--32). Josephus bezeichnet alle diese Zeichentäter als Falschpropheten und Goeten, weil ihre Zeichen von der faktischen Geschichte Lügen gestraft
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wurden. Für den Neutestamentler dürfte aber weniger diese (an Dtn 18,22 erinnernde) Antwort auf die Wahrheitsfrage von Interesse sein, als vielmehr der von Josephus übernommene Zeichenbegriff Das Charakteristikum eines Zeichens ist es, dass es auf etwas anderes verweist: so die Zeichen der zelotischen Propheten auf die erst bevorstehende Befreiung Israels. Ihr Zeichen der Freiheit ist nicht ein Zeichen, das Freiheit schafft, sondern eines, das von kommender Freiheit kündet. Hiermit dürfte zusammenhängen, dass Jesus sich der Zeichenforschung verweigerte: seine Wundertaten bringen Gott näher als die Zeichen der zelotischen Propheten, welche das Moment des Apokalyptischen wenn auch in gesteigerter Naherwartung - unkritisiert in sich tragen. Die charakteristische Differenz der johanneischen Zeichen (welche bei Bet: 34ff leider nicht herausgearbeitet wird) zu den Zeichen des Josephus besteht eben darin. dass sie aussprechen, wer der gegenwärtige Christus ist. Gewiss legitimieren beide Zeichen, aber während das prophetische Zeichen seinen Täter durch Verweis auf das Kommende legitimiert, legitimiert ihn das johanneische Zeichen durch das. was es jetzt tut. 2.2 In der hellenistischen Welt Auch in diesem Arbeitsfeld zeigt sich, dass allgemeine Aussagen (etwa über die prinzipielle Gleichartigkeit einerseits oder die Ungleichartigkeit andererseits) einer Einzelüberprüfung nicht standzuhalten vermögen. Bei eingehenden Vergleichen kommt die Eigenart der neutestamentlichen Wundergeschichten immer deutlicher zur Anschauung (George 95-108). Namentlich lässt sich zeigen, dass eine eschatologische und universale Bedeutung der Wunder in der hellenistischen Welt fehlt: »L'absence d'histoire du salut dans Ia pensee grecque ne pennet pas au miracle d'etre Je signe d'un salut eschatologique et universel« ( 108). Auch im Blick auf einzelne Wundergeschichten stellt sich heraus, dass die Feststellung hellenistischer Parallelen bisweilen etwas voreilig war: so lassen sich beispielsweise für die häufig in den hellenistischen Wunderkontext eingeordneten Geschichten vom Weinwunder zu Kana (Betz 43f) und von der Speisung der Fünftausend (van Cangh 50) keine wirklichen Parallelen aus dem hellenistischen Bereich beibringen. Als eine generelle Gemeinsamkeit zwischen Urchristentum und hellenistischer Welt könnte man allenfalls den Wunderglauben bezeich-
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nen, der übrigens in keinem grundsätzlichen Gegensatz zu »natürlichen Erklärungen« stand (weder in Epidauros noch bei Plutarch und den Philosophen schloss das Wunder die physische Kausalität aus; George 108). Allerdings gilt auch diese Gemeinsamkeit nur mit erheblichen Einschränkungen, wie besonders Gerd Theissen neuerdings gezeigt hat. Schon der antike Wunderglaube als solcher ist kein einheitliches Phänomen, denn es gilt zu unterscheiden zwischen verschiedenen Epochen: »die archaische und klassische Zeit (bis ca. 300), die hellenistische Zeit (bis ca. Christi Geburt) und die Spätantike, die durch die Krise des 3. Jahrhunderts in zwei Perioden aufgegliedert wird« (263). Während die hellenistische Zeit möglicherweise »die am wenigsten abergläubische Zeit des Altertums« war (266), ist die Zeitenwende »durch eine allgemeine Intensivierung des Wunderglaubens charakterisiert« (270). Der neue Irrationalismus konnte sich freilich in den ersten beiden Jahrhunderten nicht durchsetzen, erst die Krise des 3. Jahrhunderts brachte den entscheidenden Durchbruch (270f). Eine differenzierte Betrachtung der Antike führt zum entschiedenen Widerspruch gegen die häufigen Beteuerungen, wonach »urchristlicher Wunderglaube ... im Rahmen der damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches« darstelle (272). »Ungewöhnlich ist vielmehr die allgemeine Intensivierung und Expansion des Wunderglaubens um die Zeitenwende. Ungewöhnlich ist die Steigerung charismatischen Wunderglaubens im Urchristentum und die Polemik gegen andere Formen antiken Wunderglaubens« (273). Es gilt deshalb, auch nach der bedingenden Rolle des Urchristentums im Rahmen der Entwicklung des antiken Wunderglaubens zu fragen (ebd). Auffallend im zeitgenössischen Vergleich ist beispielsweise die »ganz ungebrochene Schätzung des Wunders«, die unverhohlene »innere Steigerung« der Wundergeschichten (Theissen 281 ); während etwa die epidaurischen Priester zu versichern scheinen, dass bei ihnen Wunder alltäglich sind, erscheint im Urchristentum das Wunder »als etwas völlig Unwahrscheinliches« (280 mit Verweis auf Mk 2,12; die Kategorie des Überraschenden würde den Sachverhalt wohl besser treffen). Dazu passt, dass die Wunderüberlieferung schon rein quantitativ gesehen einen viel wichtigeren Stellenwert hat in der Jesusüberlieferung als etwa in der häufig als Analogie beigezogenen Vita des Apollonius von Tyana (wo die Wunder nur drei Prozent des Textes ausmachen, vgl George 106). Auch werden Zweifel und Reserve in neutestamentlichen Wundergeschichten nicht geäussert (dazu George 99; Le-
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gasse II 0). Daraus ergibt sich, dass der Wunderglaube des Urchristentums in gewisser Hinsicht weit entschlossener war als der häufig apostrophierte Mirakelglaube der Umwelt: »So sehr wir daher das Urchristentum in eine allgemeine religionsgeschichtliche Entwicklung einordnen müssen, so sehr ragt es doch aus dieser Entwicklung hervor. Auf die paradoxen Taten von Wundercharismatikem fällt hier ein Akzent religiöser Bedeutung wie nirgendwo sonst« (Theissen 282). Die Entschlossenheit des Wunderglaubens mag zusammenhängen damit, dass sich der Glaube in einzigartiger Weise auf eine Gestalt konzentrierte, auf Jesus Christus als seinen Grund und Inhalt zugleich. Diese Konzentration wirkt sich auch in den Wundergeschichten aus, besonders darin, dass das Moment des Glaubens einen eigentümlichen Ort erhält. Zwar gehört es zum gemeinantiken Verständnis, dass Wunder und Glaube aufeinander bezogen sein können (Theissen 133). Während in den allermeisten Wundergeschichten der Umwelt, in denen das Motiv des Glaubens überhaupt vorkommt (nicht selten in Verbindung mit der zweifelnden Skepsis an der Wahrheit des Erzählten), der Glaube »nicht Voraussetzung des Wunders, sondern seine Folge ist« ( 135), hat der Glaube im Neuen Testament oft seinen Ort vor dem Eintreten des Wunders ( 137f), und es kann gar heissen: »Dein Glaube hat dich gerettet« ( 137). »'Glaube(') ist in der Antike primär ein Verhalten zum Wundergeschehen, im NT dagegen ein dem Wundergeschehen immanentes Verhalten beteiligter Personen« (142). An der Veränderung des Motivfeldes, wie sie hier anhand des Glaubensmotivs gezeigt wurde, ist ersichtlich, mit welcher Entschlossenheit die neutestamentlichen Zeugen Partei für die Bedeutsamkeil des Wunders ergriffen. Wodurch ist dieser charakteristische Unterschied bedingt? Einen Hinweis erhält man, wenn man sich der »&ioc;-dv~Vorstellung« zuwendet. Neuere Arbeiten haben gezeigt, dass die Wundergeschichten Jesus keineswegs- wie häufig angenommen wurde- nach dem Vorbild der hellenistischen &io\ civlipE~ (zu fragen wäre erst noch, welche bestimmten göttlichen Männer hier gemeint sein könnten, vgl Theissen 264!) zeichnen (so etwa Polhili 389-392; Betz 36f; Legasse 116; George I 04-1 07). Eine genauere Analyse ergäbe die Erkenntnis, dass die Vorstellung vom »Gottmenschen« nicht etwa zu hoch gegriffen ist für das, was die Gemeinde über Jesus Christus sagen will, sondern vielmehr zu tief: die manchmal fast unerträgliche Steigerung der Wunder in den Wundergeschichten (dazu Theissen 277-282) ist ein Reflex dessen,
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dass schon Jesus selbst seinen Wundertaten universale Bedeutung beimass. Diese universale (eschatologische) Bedeutung wurde festgehalten dadurch, dass Jesus in den Wundergeschichten nicht bloss als »Gottmensch« erscheint, sondern als Gott in Person. Dies gilt sowohl für die stärker palästinensisch-judenchristlich orientierten Wundergeschichten, welche im Handeln Jesu Gott selbst gegenwärtig sehen (Schenke 3730, als auch für die eher hellenistisch-judenchristlichen, wo - möglicherweise in Anlehnung an die &io<;-dvTp-Vorstellung Jesus als der »überragende 'Mann Gottes'« dargestellt wird (379). Auch hier stossen wir auf eine Eigentümlichkeit neutestamentlicher Wundergeschichten, namentlich im Vergleich mit Apollonius von Tyana (dem Jesus am nächsten kommenden »Gottmenschen« der Antike): »Der Gedanke, er sei der, durch den der eine heilschaffende Gott so gehandelt und seine Nähe den Menschen erwiesen hat, dass darin end-gültiges Heil für alle Menschen zeichenhaft deutlich g~macht und anfanghaft schon verwirklicht worden ist, liegt vollkommen fern. Gerade dieser Gedanke ist aber kennzeichnend für die Wunder Jesu und ihre Darstellung im Neuen Testament« (Weiser 156). Hier ist der entscheidende Unterschied zwischen dem »Gottmenschen« Apollonius und dem »Christus« Jesus, zwischen Aretalogie und Christologie genau getroffen. Zu fragen wäre einzig, welche apokalyptischen Restbestände in den Ausdrücken »zeichenhaft« und »anfanghaft« noch ihrer Eliminierung warten! 2.3 Zur religionsgeschichtlichen Arbeit Gerd Pet:.ke widmet der »religionsgeschichtlichen Problematik«, die seiner Meinung nach »überhaupt noch nicht bewältigt« ist, einen methodologisch orientierten Aufsatz (367-385). Er beschäftigt sich vornehmlich mit der »Versuchung« der Theologen, Unterscheidungen zwischen neutestamentlichen und aussemeutestamentlichen Wundem einzuführen (368). In diesem Bemühen Petzkes zeigt sich eine Tendenz zur Einebnung der neutestamentlichen Wundergeschichten in die Wunderüberlieferung der Antike; sie beherrscht den ganzen Aufsatz. Bezeichnenderweise führt der Verfasser seinen methodologischen Versuch anhand eines Beispiels durch, das seiner vorgefassten Meinung nur Recht zu geben scheint: er vergleicht Lk 7,llff mit Philostrat, Vita Apollonii IV ,45 (einer ganz ähnlichen Totenerweckung). Die Unterschiede sind selbst an diesem Extrembeispiel noch deutlich genug;
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Petzke verfeHlt aber einer nivellierenden Betrachtungsweise (trotz des ausdrücklichen Hinweises Philostrats auf den Scheintod etwa, um nur ein Detail zu nennen): ))Solange man diese Erzählungen nicht durch den weiteren theologischen Kontext belastet, sind sie - ... - ohne Schwierigkeit vertauschbar« (376). Interessant an dieser nivellierenden Tendenz scheint mir der folgende Aspekt zu sein: möglicherweise wird Petzke gerade von seiner eigenen Vorstellung von religionsgeschichtlicher Arbeit dazu verleitet, das Individuelle der Einzelerzählung zugunsten des Allgemeinen zu übersehen. Das wäre methodologisch sehr instruktiv: Vergleiche können entweder angestellt werden, um das Gemeinsame festzustellen, oder aber um das Individuelle in den Blick zu bekommen. Für neutestamentliche Texte dürfte (schon weil sie ein Individuum schlechthin zur Sprache bringen wollen!) das letztere methodisch geboten sein. Petzke weist ferner ausdrücklich (und kritisch gegen die offenbar herrschende Exegese) darauf hin, dass die ))Verbindung von Wunder und Lehre« (385) keineswegs typisch neutestamentlich sei, sondern ebenso für Philostrat gelte. Das ist zweifellos richtig. immerhin jedoch übersieht Petzke, dass die entscheidende religionsgeschichtliche Frage gar nicht lauten kann, ob hier eine funktionale Parallelität vorliege. sondern lauten muss, welche Wunder mit welcher Lehre jeweils in Verbindung gebracht werden. Gewiss gilt von neutestamentlichen wie auch von aussemeutestamentlichen Wundergeschichten, dass ihre Bedeutsamkeil nicht von ihrer Historizität abhängt (auch hier wären allerdings Einschränkungen anzubringen!) (385), religionsgeschichtlich viel wichtiger aber ist die Frage, was die Wundergeschichten jeweils sagen, beziehungsweise welche Bedeutung genau sich mit historischen oder unhistorischen Erzählungen verbindet. Auf dieser Ebene liegt - wie die oben besprochenen Arbeiten gezeigt haben -der wirkliche Sinn religionsgeschichtlicher Arbeit. Die Tendenz zur Einebnung der neutestamentlichen Wundergeschichten, wie sie bei Petzke im Blick auf die hellenistische Welt zutage tritt. lässt sich neuerdings auch im Blick auf alttestamentlich-jüdisches Milieu beobachten. Die Arbeit von Ber:!Grimm ist dafür ein gutes Beispiel. wo selbst die Kategorien der verschiedenen Wunder aus dem Alten Testament abgeleitet werden ( II ff.6 gegen Bultmann). Wenn auch - wie der ~ortgang der Untersuchung zeigt - der Einbezug der alttestamentlichen Texte wesentliche hermeneutische Einsichten vermittelt (etwa über die johanneischen Semeia, vgl 150) so ist dennoch
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der Gefahr der alttestamentlichen Ableitung der neutestamentlichen Wundergeschichten nicht überall mit der wünschenswerten Deutlichkeit entgegengetreten worden. Beispielsweise kann der Hinweis darauf, dass die Bezeichnung »Geschenkwunder« (Theissen) unsachgemäss weil »schlicht unbiblisch« sei, als solcher überhaupt nichts besagen (Betz/Grimm 58 Anm.92). Das entscheidende Problem der religionsgeschichtlichen Arbeit, dem sie grösste methodologische Aufmerksamkeit zu schenken hat, ist das der Ableitung selbst und damit der methodischen Aufhebung der historischen Individualität (dazu Theissen 41: »Das Spezifische religionsgeschichtlicher Fragestellung liegt allein im strengeren Beachten der zeitlichen Folge von Texten und Ereignissen sowie in der sorgfältigen Beschreibung des Individuellen, Untypischen und Unverwechselbaren.«). Diesem Fundamentalproblem gegenüber ist es von sekundärer Bedeutung, ob nun das Individuelle aus dem alttestamentlich-jüdischen oder dem hellenistischen Bereich abgeleitet werde.
3 Funktionale Betrachtungsweise urchristlicher Wundergeschichten Bedingt durch die Entwicklung des historisch-kritischen Denkens in der Neuzeit waren die neutestamentlichen Wundergeschichten lange Zeit auf ihre Ereignisdimension beschränkt worden. Wissenschaftlich interessant schien nur die Frage nach dem Ausmass historisch zuverlässiger Überlieferung. Dies brachte es mit sich, dass Fragen wie die nach der Funktion der Wundergeschichten im Urchristentum stark in den Hintergrund traten. Dass dies nicht von Voneil war, zeigen die neueren Arbeiten, welche durchwegs funktionale Fragestellungen anwenden und auf diesem Wege eine überraschende Mehrdimensionalität der Wunderüberlieferung zu entdecken vermochten. War die Mehrdimensionalität schon bei den Wundem Jesu festzustellen (vgl oben 6671 ), so ist sie erst recht bei der nachösterlichen Gemeinde nicht zu übersehen. Die funktionale Betrachtungsweise wurde von Gerd Theissen in eindrücklicher Weise durchgeführt und methodisch auf den Begriff gebracht: Theissen sieht in den Wundergeschichten symbolische Handlungen des Urchristentums (229 und oft). »Texte sind spezifische For-
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men menschlichen Handelns; sie sind symbolische Handlungen, die sich mehrdeutiger Zeichen bedienen und daher der Interpretation bedürfen« (37 mit Berufung auf K. Burke, der den Begriff der symbolischen Handlung prägte). Als symbolische Handlungen können die Wundergeschichten unter funktionalen Gesichtspunkten betrachtet werden. Theissen unterscheidet »drei funktionale Aspekte ... : ihre soziale Funktion in Urchristentum und antiker Gesellschaft, ihre religionsgeschichtliche Funktion innerhalb der religionsgeschichtlichen Entwicklung und ihre existenzielle Funktion innerhalb antiker Lebenswelt« (38). Eine symbolische Handlung ist einflussnehmend und bewältigend auf die Situation des Menschen bezogen, sie verwandelt Erfahrung nicht mit äusserer Krafteinwirkung, sondern durch »Nennen, Urteilen, Interpretieren, durch Erzählen, Spekulieren und Phantasieren« (44). Als interagierende symbolische Aktionen sind die Wundergeschichten nicht zu verwechseln mit »enacted parables« (Richardson), »die ganz anderes meinen, etwa die Überwindung von Sünde oder dergleichen; sie beziehen sich auf wirkliches Elend, auf wirkliche Not« (Theissen 43). Die Frage mag hier wohl erlaubt sein: Wie »Wirklich« ist denn nach Theissen die Sünde wirklich? Möglicherweise unterschätzt er ihre Wirklichkeit. 3.1 Die christologische Funktion Von hervorragender Bedeutung sind die Wundergeschichten für die Christologie der Gemeinde, weil diese Erzählungen als »symbolische Handlungen die historische Gestalt Jesu über alle Massen steigerten. Denn nur die in symbolischer Verwandlung gesteigerte Gestalt konnte die unbedingt motivierende Kraft ausstrahlen, die jenen tiefgreifenden Wandel antiken Daseinsverständnisses herbeiführen konnte, der mit dem Namen des Christentums verbunden ist« (Theissen 282; er ordnet die christologische Funktion der religionsgeschichtlichen unter [262], was nicht ganz unproblematisch ist). Die funktionale Betrachtungsweise müsste allerdings nicht eo ipso dazu verleiten, so schnell das Moment der »motivierenden Kraft« ins Zentrum zu rücken. Die von Theissen zu Recht herausgestellte »Überprägnanz« und »symbolische Steigerung« der Wundergeschichten (277.279.282) kann auch verstanden werden als adäquate Umsetzung des jesuanischen Wunderverständnisses in die nachösterliche Situation: sah Jesus in seinen Wundertaten die universale Wende Gegenwart werden, so sieht die Gemeinde
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jene universale Wende in der Person Jesu selbst, der demzufolge als Christus verkündigt wird. Diese Tendenz von dem eschatologischen Wunderverständnis Jesu zur mit Hilfe der Wundergeschichten explizierten Christologie der Gemeinde entspricht dem für die gesamte neutestamentliche Überlieferung fundamentalen Wechsel vom eschatologischen Selbstverständnis Jesu zum christolgischen Verständnis der Eschatologie in der Gemeinde (vgl auch Leon-Dufour 344f; Legasse 125-127; Breuss 50). Bei der Wunderüberlieferung dürfte es weniger um das Moment der Propaganda gegangen sein, als vielmehr um den Versuch, auch an und in den Taten Jesu die konkrete Gestalt der universalen Wende zu sehen. Die Wende wurde christologisch dargestellt. Zugleich hatte die Wende soleriologischen Charakter. Dass Jesus in den Wundergeschichten als der »vollmächtige Gesandte Gottes« auftritt, »der die Menschen von ihrer Verfallenheil an den umfassend verstandenen Tod befreit« (Schmithals 97), zeigt sehr schön, dass Christologie nichts anderes als Soteriologie sein kann. Dass der Gesandte Gottes als solcher rettet, vermögen gerade die Wundergeschichten zur Sprache zu bringen. 3.2 Die existentielle Funktion Sofern die Wundergeschichten eine im oben beschriebenen Sinne christologisch-soleriologische Funktion haben, betreffen sie elementar die existenzielle Situation des Einzelnen, genauer: die »Negativität« der Situation: »Wundergeschichten sind symbolische Handlungen menschlicher Subjektivität, in denen die konkrete Negativität des Daseins transzendiert wird« (Theissen 285}. Als solche stehen sie im Kontext der neuen Leidenschaft für die Subjektivität, die in der Spätantike zu beobachten ist (286). Solche Geschichten stehen in der Neuzeit von vomherein unter dem Verdacht, Ausdruck eines regressiven Bewusstseins zu sein; zu fragen ist allerdings, ob die reduzierende Hermeneutik Feuerbachs und insbesondere Freuds den Phänomenen überhaupt gerecht zu werden vermag (Theissen 283-285 beantwortet diese Frage mit Nein, wobei die vorgebrachten Argumente doch etwas spärlich wirken}. Immerhin ist die Absetzung vom Verdacht der Regression wichtig (vgl auch Leon-Dufour 339), weil damit nicht nur die Legitimität der Wundergeschichten, sondern ebensosehr diejenige des Überschreitens gegebener Grenzen auf dem Spiel steht. Der Protest gegen das Wirkliche auch wo er in das Gewand des Wunsches gekleidet ist- darf nicht vor-
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schnell mit Naivität abgetan werden: gerade hierin liegt der Unterschied zwischen dem Urchristentum einerseits und der Illusionslosigkeit der stoischen Philosophie sowie der Weltfeme der Gnosis andererseits. »Weder wird in stoischer dupa;ia der Realität der menschliche Wunsch geopfert, noch zieht er (wer?) sich auf eine innere Welt des Lichts zurück« (Theissen 286). Vielleicht wäre es erlaubt, in diesem Zusammenhang an die »Geschenkwunder« (111-114) zu erinnern. Gerade sie überholen selbst das Erbetene (vgl 111 ), sie betonen die Spontaneität des Wundertäters aufs höchste. Gewiss lebt auch in solchen Geschichten der Wunsch auf (113); aber könnte man nicht sagen, dass sie in ihrer erzählerischen Vergegenwärtigung eines Überflusses an Lebensmitteln gerade den Wunsch überholen, der in ihnen auflebt? Jedenfalls wird in ihnen Jesus als Geber des Lebens im Überfluss dargestellt, und zwar als Geber, der ungefragt gibt, ungebeten hilft, das mehr als Notwendige tut. Mit dem Stichwort »Überwindung der Negativität des Daseins« ist freilich der Sinn urchristlicher Wundergeschichten noch nicht hinreichend beschrieben, denn primär »zeugen (sie) von einer Offenbarung des Heiligen« (Theissen 287). Diesen Sinn gilt es festzuhalten gegenüber allen Versuchen der Exegese, die Wundergeschichten diesbezüglich zu relativieren (287-294, wo die verschiedenen Relativierungsstrategien zumeist zu Recht kritisiert werden). Wie kommt es zu der Exklusivität, mit welcher im Urchristentum das Heilige in der Person Jesu wahrgenommen wird? Seine historischen Taten und Worte mögen dafür keine adäquate Erklärung mehr sein, so sehr sie für eine solche unentbehrlich sind. Hier hat aber auch die nachösterliche Begegnung mit Jesus und der daraus resultierende Osterglaube eine wesentliche Rolle gespielt (Leon-Dufour 350-352). Erst diese neue Erfahrung erschloss die vollendete Gegenwart des Heiligen in der Person Jesu. Deshalb besitzen Wundergeschichten eine symbolische Dimension, »die über jede menschliche Daseinsbewältigung hinausweist« (Theissen 296). Die urchristliche Gemeinde bleibt freilich nicht bei dieser symbolischen Grenzüberschreitung stehen; die Offenbarung des Heiligen wird zur Verpflichtung. »Wo der Einspruch gegen menschliche Not durch Offenbarung des Heiligen geschieht, da ist deren Beseitigung nicht nur wünschenswert; sie ist schlechthin verpflichtend« (297). Deshalb sprechen die Wundergeschichten »eher aller bisherigen Erfahrung ihre Gültigkeit ab als menschlicher Not das Recht, beseitigt zu werden«
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(ebd). Vielleicht hätte man hier statt Verpflichtung besser Ermächtigung gesagt. Vielleicht ist hier die »Aufruf-Struktur« als hermeneutische Grundkategorie des (im Prinzip gesetzlichen) Entwurfs Gardavskys doch zu sehr in den Vordergrund gerückt. Auf diesen Mangel hätte sich Theissen nicht zuletzt von dem (von ihm mehrfach apostrophierten) »hermeneutischen Tiefsinn« etwa eines Ernst Fuchs hinweisen lassen können (294.295 und öfter), und dies durchaus zu seinem Vorteil! 3.3 Die soziale Funktion Die soziale Funktion der Wundergeschichten ist gegeben mit der »Durchsetzung und Legitimation einer neuen Lebensform. ( ... ) Urchristliche Wundergeschichten sind kollektive symbolische Handlungen unterer Schichten, in denen traditionell legitimierte Lebensformen verlassen werden« (Theissen 256; Wundertäter setzen eine »dynamique sociale« in Bewegung, vgl Leon-Dufour 335; in diesem dem Entwurf Theissens recht stark verpflichteten Abschnitt wäre ein deutlicher Hinweis auf diesen Autor wohl angebracht gewesen). Dass sie allerdings zunehmend in höhere Schichten eindringen, verdankt sich ihrer sozialen Intention: »sie verheissen Rettung, Heil, Erlösung« (Theissen 257). Sie haben einen werbenden, propagandistischen Charakter (257f: LeonDufour 340). Wieso Wundergeschichten an die Stelle von Wundem treten können, ist mit dem propagandistischen Aspekt freilich nicht erklärt. Wundergeschichten über Jesus können durch die Wundertaten seiner Nachfolger deshalb nicht ersetzt werden, weil sie Einmaliges bedeuten, weil sich in ihnen der christologische Grund auch der nachträglichen Wunder ausspricht (der Hinweis auf die »neue Lehre« [Theissen 257] ist ungenügend). »Urchristliche Wundergeschichten sind symbolische Handlungen einer religiösen Minderheit der antiken Gesellschaft, die dazu aufgebrochen ist, die ganze Welt zu erobern« (258). Zu ergänzen ist: im Namen dieses bestimmten Jesus Christus, weswegen seine Wunder erzählt werden müssen. Auch in dieser Hinsicht gewinnen die neutestamentlichen Erzählungen ihre Eigenart: »Während Heil- und Orakelstätten ftir die Aufrechterhaltung der gültigen Ordnung und Lebensform sorgen, Zauber und Magie dagegen eine individualistische Reaktion auf wachsende soziale Desintegration darstellen, erhebt im charismatischen Wunderglauben eine neue Lebensform ihren Anspruch« (261: Leon-Dufour 341 ). Auch diese Eigenart wird wesen~lich durch den Stifter der neuen Lebensform bedingt sein.
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Konkret äussert sich dieses soziale Funktionsmoment darin, dass normüberschreitende Wundergeschichten, wie etwa die Heilung dessen mit der verdorrten Hand am Sabbat (Mk 3,1-6) (Theissen 120) oder die Heilung und Sündenvergebung des Gelähmten (Mk 2,1-12) (118), eine Ermächtigung der Jesusnachfolger zur Relativierung des Sabbats und zur Praxis der Sündenvergebung (vgl vor allem die Mt-Version 9,1-8) darstellen. Es äussert sich darin, dass neben den Erzählungen von aufgehenden Gefängnistüren und gesprengten Fesseln der Gang der Gemeinde in die Gefängnisse steht (vgl Mt 25,31 fO. Es äussert sich darin, dass die Abendmahlspraxis von der gleichzeitig erzählten Wundergeschichte der Speisung der Fünftausend neue Impulse erhält (vgl von Cangh 171 und passim), wobei zugleich das Abendmahl zum hermeneutischen Prinzip jener Wundergeschichte wird. In diesem Zusammenhang darf noch einmal an das beinahe völlige Fehlen von Strafwundem erinnert werden: Strafwunder haben es an sich, herrschende Ordnungen zu legitimieren. Dazu war im nach neuer Lebensform strebenden Urchristentum wenig Anlass. Es wäre jedoch eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, wollte man das Fehlen von Strafwundem gleichsam soziologisch herleiten aus der Innovationsfreudigkeit des Urchristentums. Ihr Fehlen beginnt auf einer viel früheren Stufe: Strafwunder entsprechen in keiner Weise dem Gottesverständnis Jesu, also können sie weder in der Christologie noch in der Ekklesiologie eine wichtige Rolle spielen.
4 Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen Wichtige Arbeiten der neueren Forschung beschäftigen sich mit redaktionsgeschichtlichen Fragestellungen, insbesondere mit dem Wunderverständnis der Evangelisten Markus und Lukas. 4.1 Kreuz und Wunder (Markus) Dem markinischen Wunderverständnis sind die drei grossen Monographien von Kar/ Kertelge ( 1970), Ludger Schenke (1974) und Dietrich-Aiex Koch (1975) gewidmet. Alle drei Untersuchungen nehmen an, dass der Evangelist die ihm vorliegende Wundertradition auf mannigfache Weise interpretierte und mit neuen Akzenten versah (Koch 180--182: Kertelge 185-189: Schenke 389). Die entscheidendsten Im-
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pulse zu neuem Wunderverständnis gingen davon aus, dass Markus erstmals die Wunder in den »Aufriss der 'Geschichte' Jesu« einreiht (Kerle/ge 186; Schenke 390), dass er also die Wunder im grösseren Zusammenhang des »Lebenslaufs« Jesu interpretien. Deshalb wird die Kategorie des »Weges« dominierend (wichtig ist der Einschnitt 8,27. vor welchem Markus die Hauptmasse der Wunderüberlieferung plazien, vgl Koch 181 ). Einig sind sich alle drei Untersuchungen ferner in der Feststellung, dass Markus die Wunder primär christologisch interpretien. Der Evangelist verstärkt hier ein Moment, das schon traditionell zur Wunderüberlieferung gehöne (Kerle/ge 190). Allerdings nimmt er dieses Moment kritisch auf. veranlasst durch den Passionsweg Jesu, so dass sich die Frage nach einer doppelten Christologie stellt (Koch 182). Will man eine solche Annahme nicht treffen, so ergibt sich als Hauptproblem der Markusredaktion die Frage nach dem Verhältnis von kritischer und positiver Sicht der Wunder Jesu (vgl Kerle/ge 191 ). Unverkennbar ist zunächst, dass Markus dem traditionellen Wunderverständnis kritische Anfragen entgegenhält. Die in den Wundem zutage tretende »Vollmacht« ist die Vollmacht des Gekreuzigten (Koch 183: Schenke 393f). Die theologische Denkfigur, mit welcher die Wunder in den Kontext des Scheiteros am Kreuz gebracht werden. ist das sogenannte Messiasgeheimnis: »Gültiges Bekenntnis ist erst in der Passion möglich. Vor Ostern und ohne die Passion gibt es kein angemessenes Verstehen von Jesu Person und Werk: während und aufgrund des irdischen Wirkens Jesu allein ist dies nicht möglich« (Koch 196: mit Verweis auf Mk 15,39 und andere Stellen). Die leichte Unschärfe dieser Aussage wird von Koch in der Folge korrigien. indem er zu Recht anders als Kenelge das Kreuz als den entscheidenden Punkt des Messiasgeheimnisses bezeichnet. Kenelge spricht im Zusammenhang des Messiasgeheimnisses zu betont von Ostern (zB 192.193 ), als dass die kreuzesthologische Konzeption des Markus in den Blick kommen könnte (deutlicher herausgearbeitet bei Schenke 399~03). Vieles spricht dafür, dass die wunderkritischen Impulse gerade nicht von Ostern, sondern vielmehr von der Passion Jesu ausgingen. Die kritische Position des Evangelisten wirkt sich auch andemons aus: etwa don, wo er Verbreitungsverbote einfühn (Koch 184), oder wo er Jesus bewusst in Distanz zur herbeiströmenden Menge darstellt (ebd). Eine interessante Beobachtung ist auch, dass Markus alle Naturwunder, die traditionell den Charakter »grosser« Epiphanien hatten, mit dem völligen
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Unverständnis und Unglauben der Jünger konfrontiert (Koch 185: Schenke 4030. Diese wunderkritische Sicht führt zu einer Sonderstellung des Markus im zeitgenössischen Urchristentum (Kertelge 208210), das heisst zu einer Sicht des ohne Wundersucht auf Wunder bezogenen Glaubens, die ihn mit Paulus in eine Reihe stellt (so auch Kertelge 209). Allerdings dürfte diese »tiefe innere Übereinstimmung« zwischen Paulus und Markus wiederum nicht auf die AufersteJung Jesu (gegen Kertelge ebd), sondern auf die beiden gemeinsame Kreuzestheologie zurückzuführen sein. Während in den Untersuchungen von Koch und Schenke die kritischen Momente der markinischen Interpretation sehr schön herausgearbeitet werden, gelingt es ihnen viel schlechter, auch die (von beiden ausdrücklich festgestellten) positiven Aspekte zu würdigen. Etwas unbestimmt wirkt die Aussage, die positive Funktion der Wunder bestehe in der Betonung der Würde Jesu (Koch 188-190) oder in der Offenbarung Jesu auch in seinen irdischen Taten, eine Aussage, die sogleich wieder relativiert wird (Koch 192). Es trifft sicher zu, dass der Zugang zum »Verständnis der irdischen Taten Jesu ... nicht aus diesen selbst zu gewinnen (ist), sondern für Markus nur von Kreuz und Auferstehung her möglich« ist (ebd). Immerhin wäre aber - wenn schon nach dem Positiven der Wunderüberlieferung gesucht wird- die Frage zu stellen, in welchem Sinne denn die Wundergeschichten ihrerseits (oder gar die irdischen Taten Jesu) für das Verständnis von Kreuz und Auferstehung aufschlussreich waren (hier wäre in der von Schenke 415f gewiesenen Richtung der »Kreuzesnachfolge« und ihrer » Verheissung« weiterzudenken). ln der am Weg Jesu orientierten (in einer bestimmten Weise »narrativ« vorgehenden) Christologie haben die Wunder deshalb einen so hervorragenden Platz, weil sich in ihnen das Evangelium ausspricht (was von Kertelge zu Recht festgestellt wird [200f], der überhaupt ein besseres Auge für die positive Wunderfunktion zu haben scheint). Die Wunder bilden die wohltuende Wirklichkeit der Gottesherrschaft ab, von ihnen zu erzählen bedeutet eine »Intensivierung des im irdischen Wirken Jesu anbrechenden Eschaton« (202). Nicht zuletzt dürfte es den Wundergeschichten zu verdanken sein, dass es Markus dann gelingt, die ganze Erscheinung Jesu als Wunder zu begreifen (206). Allerdings wird auch bei Kertelge die Frage nach der Erschliessungsfunktion der Wunder nicht gestellt, obwohl die Ereignishaftigkeit (und damit das
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Prae der Wunder[-geschichten] vor aller theologischen Deutung im Zusammenhang von Passion und Ostern) ernst genommen wird (206f, gegen »spiritualisierende« und »reduzierende« Interpretationen). Die positive und kritische Einstellung wird durch den Evangelisten vereinbart und begründet im gekreuzigten Gottessohn, beziehungsweise im eminenten Glaubensbezug der Wunder: dem Glauben ist es gegeben, die Wunder Jesu zu »verstehen«, das heisst, sie zu begreifen als Offenbarung des Endgültigen, ohne dabei ihre Mehrdeutigkeit zu verkennen. So werden in der Darstellung des Markus die Wundergeschichten zum »Zeugnis des Glaubens für den Glauben« (Koch 193). 4.2 Erfüllte Gegenwart (Lukas) Die redaktionsgeschichtliche Fragestellung, der die ausführliche Monographie von Ulrich Busse gewidmet ist, befindet sich bei Lukas auf methodisch einigermassen zuverlässigem Boden, mindestens soweit ~ oder Mk-Stoffe verarbeitet sind. Einschränkungen sind im Blick auf das Sondergut zu machen (50f.402). Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Wunderüberlieferung bei Lukas zu einem literarischen Abschluss und auch zu literarischer Vollendung gelangt ist. Lukas versteht es, mit den Mitteln der kunstgerechten Schilderung, dem Einbezug des Lesers, der dramatischen Gestaltung die Wundergeschichten zu bedeutsamen Teilen seines Evangeliums zu machen (451-462). Lukas benutzt Wundererzählungen zur anschaulichen Darstellung theologischer Einsichten. Hinsichtlich dieser Funktion lassen sich nach Busse drei Typen unterscheiden: >>Der Haupttyp illustriert das in Jesu Wirken gegenwärtige Heil Gottes, die zweite Form unterstreicht mehr den den Wundem innewohnenden Zeichencharakter, der auf das messianische Wesen Jesu hindeutet. Die dritte Ausprägung hingegen greift die Aussagen des Haupttyps auf und aktualisiert sie in Hinsicht auf eine Jüngerbelehrung, die ihr nachösterliches Verhalten in gewisser Weise mitnormieren soll« (461 f). Im Blick auf das hauptsächliche Aussagemotiv unterscheidet sich Lukas nicht vom übrigen Urchristentum: auch für ihn haben die Wunder primär christologische Bedeutung, wobei die Christologie soteriologisch verstanden wird (460). »Die Jesusgeschichte ist für Lukas zum Evangelium über Gottes eschatologisches Heilshandeln geworden« (470). Dem zustimmend kann man nur fragen: War sie jemals etwas anderes? Der christologischen Aussageabsicht entspricht es, wenn die
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Souveränität Jesu von Lukas herausgestrichen wird (471 ). Auffallenderweise sieht sich aber auch Lukas veranlasst, diese Macht Jesu mit seiner Ohnmacht zu verknüpfen (472; mit Verweis auf z.B. 9,37-45). Liegt hier eine Nachwirkung der markinischen Kreuzestheologie vor? Das mag dahingestellt bleiben, Lukas seinerseits interpretiert das Ineinander von Macht und Ohnmacht weniger kreuzestheologisch als heilsgeschichtlich: »Macht und Ohnmacht Jesu sind für Lukas im göttlichen Heilsplan untrennbar miteinander verknüpft« (473). Jedenfalls fehlt den Wundem die Beweiskraft. Sie vermögen die irdische Erscheinung Jesu nicht voll aufzuschliessen, erst der Auferstandene löst das Kreuzesrätsel (475). Die theologische Aussageabsicht der meisten Wundererzählungen ist gegeben damit, dass das »Wunder ... den Inhalt der Reichsbotschaft« illustriert (479). Sie charakterisieren Jesus als eschatologischen Heilsträger, woraus sich für Busse ergibt, dass Lukas die »historisierte Gegenwartseschatologie in einen heilsgeschichtlichen Rahmen« stellt (480, was immer das auch heissen mag!). Die Wundergeschichten sind bei Lukas zu einer gewissen Eindeutigkeit gebracht, sie werden denn auch durchgängig mit heilsgeschichtlichen Kategorien interpretiert, während das Geheimnismotiv (der Markus-Vorlage) gemieden wird (485).
5 Hermeneutische Bemühungen um die Wunderfrage Überblickt man die verschiedenen Zugänge zu den Wundergeschichten, so kann man sagen, dass wir - nach drei vergangenen Zugängen (»dogmatique, critique, litteraire«) - nunmehr eingetreten sind in die »ere hermeneutique« (Leon-Dufour II ). Das bedeutet: in jene Ära der Interpretation, die ihr besonderes Augenmerk auf die Beziehungen zwischen den Wundergeschichten des Neuen Testaments und der >>Rationalität« der Gegenwart richtet, beziehungsweise sich der Frage zuwendet, unter welchen Bedingungen die Wundergeschichten sagen können, was sie zu sagen haben. Das hermeneutische Problem stellt sich gerade bei dieser Art neutestamentlicher Texte mit besonderer Schärfe. Deshalb verwundert es nicht, wenn auf diesem Feld die hermeneutischen Bemühungen intensiviert wurden.
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5.1 Mehrdimensionale Auslegungsmethoden Wichtigste hermeneutische Erkenntnis ist, dass die Wundergeschichten nicht auf Eindeutigkeit (und schon gar nicht auf Eindeutigkeit historischer Aussagen) festgelegt werden können. Ihre Mehrdeutigkeit dürfte der Grundtenor aller Interpretationsansätze sein. Ihr entspricht eine Mehrdimensionalität der methodischen Zugänge. Die Vieldeutigkeit (im Sinne von: Mehrschichtigkeit) eines Textes springt unmittelbar in die Augen, wenn dieser einer semiotischen Analyse unterzogen wird (vgl Cal/oudet all51-181). Am Beispiel von Mk 5,1-20 ergibt eine semiotische Analyse, dass derselbe Text auf ganz verschiedenen Bedeutungsebenen spricht. Der »transforrnation radicale« der konkreten Situation des Besessenen entspricht in der Erzählung ein »changement dans !'ordre de Ia communication et des relations entre des personnages«, zum Beispiel das Verhältnis von menschlicher Gemeinschaft und Besessenem betreffend ( 179f). Der Körper erscheint nicht mehr nur in seiner materiellen Vordergründigkeil (obwohl diese Dimension nie verlassen wird}, sondern auch als »lieu et resume des signifiants humains«: der Mensch im Spannungsfeld von Natur und Kultur wird in den Subjektstatus eingewiesen ( 180). Schliesslich entdeckt die Erzählung an der »restitution de Ia sante« eine Fortsetzung: »elle se prolonge en don de Ia foi et en accueil de Ia misericorde« (ebd). Man könnte auch sagen: die semiotische Analyse intendiert, den Text in seiner Ganzheit ernst zu nehmen und also seine Interaktion mit dem Gesamt des menschlichen Daseins zu entdecken. Die hier in den Vordergrund gerückte Mehrdeutigkeit der biblischen Texte begegnet nicht selten einem gewissen Misstrauen. das (wie Breuss 21 andeutet) durch die möglicherweise auf die aristotelische Sprachauffassung zurückgehende Tendenz zur eindeutigen Auslegung genährt wird. Dieses Misstrauen scheint gerade bei den Wundergeschichten wenig angebracht. Immerhin ist die semiotische Analyse, die erkenntnistheoretisch der Strukturanalyse zuzurechnen ist, mit beträchtlichen Prämissen behaftet, die es zumindest im Auge zu behalten gilt. Besonders schwerwiegend ist die »Behauptung der Möglichkeit einer totalen Reflexion der Geschichte» (51). beziehungsweise die nomothetische Bewältigung des Geschehens und damit die theoretische Aufhebung des Kontingenten. Gerade neutestamentliche Texte tragen das Gepräge des Kontingenten, und es ist deshalb nicht unbedenktlich, wenn die »strukturale Exegese ... den historischen Jesus nur als Anlass
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zur Bildung der Evangelien« betrachtet (52). Hierin wirkt es sich eben aus. dass der strukturalanalytische Zugang eine bestimmte Antwort auf die Frage nach dem ontologischen Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem voraussetzt: die ontologische Priorität des Allgemeinen nämlich. Immerhin gilt es. ob dieser (allerdings fundamentalen) Problematik auch die Ertragsfähigkeit dieses Zugangs nicht zu verkennen: er macht auf die Grenzen der historischen Methode aufmerksam (54), er lenkt den Blick auf die den Texten immanente Logik (54f, das »muss« der biblischen Erzählungen darf freilich nicht mit dem nomothetischen Denken vennengt werden, wie Breuss dies tut; mit dem »muss« wird vielmehr gerade die Kontingenz des Jesusgeschehens gewürdigt), er betrachtet die Endgestalt der Schriften als massgebende literarische Einheiten (56t), er macht den Versuch einer Transfonnation des Sinns über die Zeiten hinweg (58 stellt Breuss freilich mit Recht fest, dass es nicht auf die Transfonnation, sondern vielmehr auf die Umgestaltung der Zeit selbst entscheidend ankommt). Ebenfalls im Interesse des multidimensionalen Zugangs stehen die psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Bemühungen. Da die Psychoanalyse ein wesentliches Verslehensinstrument der Gegenwart ist, kann man sich von einer psychoanalytischen Bearbeitung der Texte als solcher schon entscheidende Übersetzungseffekte versprechen (Beirmaert zeigt dies am Beispiel Mk 5,1-20, 183-188). Tiefenpsychologische Überlegungen können auch dazu dienen, die strukturanthropologischen Voraussetzungen des exegetischen Erkenntisvorgangs aufzudecken und bewusst zu machen. Johannes Tenzler macht auf die Relation zwischen dem neuzeitlichen cartesianischen Menschenbild einerseits und den Ergebnissen der neuzeitlichen Exegese andererseits aufmerksam (120-128). Nun trifft es gewiss zu, dass die cartesianische Aufteilung des Wirklichen in die res cogitans und res extensa verantwortlich ist für eine Engführung der Erkenntnisleistungen beziehungsweise für eine illegitime Zerstörung eines ganzheitlichen Welt- und Menschenverständnisses ( 125f). Fraglich bleibt freilich das Ziel der »Strukturanthropologischen Gesundung«, das Tenzler ( 128) folgendermassen fonnuliert: »die ratio sobria (die nüchterne Vernunft) des Historikers hat mit der ratio ebria (der trunkenen Vernunft) des vom Geiste Gottes erleuchteten Gläubigen zur Lebenseinheit zu verschmelzen, wie es nach der Menschwerdung Gottes auch gar nicht anders sein soll«.
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Neben der explizit hermeneutischen und der erkenntniskritischen Funktion psychologischer Überlegungen ist selbstverständlich der kognitive Ertrag nicht zu übersehen: die neuentdeckten Zusammenhänge zwischen Leib und Seele lassen manche Heilungen Jesu und manche magischen Praktiken in einem neuen Licht erscheinen (Tenzler 128135; problematisch wäre freilich auch hier, wenn die Tiefenpsychologie bloss die Faktizität der Heilungen akzeptabel zu machen hätte). Entscheidendes Kriterium für die Anwendung aller Interpretationskategorien ist, ob und inwieweit der Text dem Zugriff des neuzeitlichen Subjekts entzogen werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnis kann nur das Ziel haben, den Gegenstand in seiner Fremdheit sein zu lassen. Deshalb ist gegenüber der exklusiven Anwendung einer bestimmten (womöglich noch synchronisch verfassten) Methode Skepsis am Platz. Der Würdigung des historischen Gegenstandes dient es wohl am besten, wenn die Texte in ihrem Werdegang, das heisst: in ihrem geschichtlichen Gewordensein, betrachtet werden (A/etti 189-198; ausführlich wird eine solche diachronische Beschreibung bei Pesch, Gerasa 14-64 vollzogen). So wird ihre historische Individualität erkannt, und im Rahmen dieser Erkenntnisbemühung findet auch eine mehrdimensionale Anwendung verschiedener Methoden ihren Platz (auch die phänomenologische Methode, die Breuss 11-13 skizziert, dient nichts anderem als dem »Zugang zu den 'Sachen selbst'«). 5.2 Henneneutische Einzelprobleme Der Bericht über neuere Literatur zur Wunderproblematik soll abgeschlossen werden mit ein paar Fragen hermeneutischer Art, wie sie sich bei der Durcharbeit eingestellt haben. Immer wieder wird festgestellt, den Wundergeschichten gehe es eigentlich um die Verkündigung dessen, was der auferstandene Christus für den Glaubenden bedeute. Dies könnte dazu verleiten, Wundergeschichten in die von ihnen gemeinte Botschaft zu transformieren. Hier jedoch stellt sich das Grundlagenproblem der Ersetzbarkeil einer bestimmten Sprachform (Wundergeschichte) durch eine andere (kerygmatische Aussage). Es steht zu vermuten, »dass Form und Inhalt als Momente eines Ganzen zu verstehen sind« (Breuss 21 ). In diesem Falle müsste man fragen: Geht nicht auch die Botschaft der Wundergeschichte verloren, wenn sie in eine kerygmatische Aussage transformiert wird? Sind also Wundergeschichten unersetzbar, wenn der christliche
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Glaube sich zur Sprache bringt? Besonders relevant wird diese Frage bei der Entmythologisierungsforderung: gerade Wundergeschichten sind von ihr stark betroffen. Sind sie ersetzbar durch unmythologische Sprache? Oder geht es vielleicht »weniger um die Entmythologisierung des Evangeliums als um eine Entmythologisierung des privaten und öffentlichen Lebens durch die exorzistische (ekstatische) Kraft jener Rede, die Niederschlag der Teilhabe am Sterben Jesu ist« (Breuss 63)? Welche Rolle in diesem Entmythologisierungsvorgang können die Wundergeschichten spielen? Es ist unverkennbar, dass das historisch-kritische Denken angesichts der Wundergeschichten in eine gewisse Verlegenheit gerät. Könnte diese Verlegenheit zusammenhängen mit der Prägung der Exegese durch die aristotelische Sprachphilosophie (vgl Breuss 18-23)? Charakteristisch für dieses Sprachverständnis ist es, von der Abbildungsfunktion der Spache auszugehen. Dadurch kann der Zugang zu nicht-abbildenden Sprachformen (wie etwa Gleichnissen, Aufforderungen) erheblich gestört werden. Vielleicht hängt die Verlegenheit der historischkritischen Methode damit zusammen, dass auch Wundergeschichten nicht adäquat erfassbar sind, wenn sie unter dem Aspekt der Abbildungsfunktion der Sprache erfasst werden (und zwar gleichgültig ob sie nun ein wunderbares Ereignis oder einen Wunderglauben abbilden sollen). Es wäre denkbar, dass die Geltung der Wundergeschichten nicht durch das in ihnen Abgebildete zustandekommt, sondern ausschliesslich durch das, was sie zu sagen haben. Dies könnte jedoch nur zum Verstehen kommen, wenn die Abbildtheorie der Sprache entscheidend modifiziert würde. Schliesslich ist auf den Glaubensbezug der Wundergeschichten hinzuweisen. Gerade die neutestamentlichen Schriftsteller legten Wert auf die Mehrdeutigkeit des Erzählten (etwa Markus mit dem Unverständnis der Jünger, oder Johannes mit dem »Weltlichen« Missverständnis), um so den Glaubensbezug des Wunders zu wahren: der Glaube sieht in dem erstaunlichen (aber nicht per definitionem unmöglichen!) Geschehen Gott am Werk, und eben deshalb erzählt er davon in der Gestalt einer Wundergeschichte. Die Mehrdeutigkeit des Erzählten steht im Interesse der Freiheit zu glauben. Sie indiziert zugleich den Zeugnischarakter (Bornkamm 5-44) jener Erzählung, welche das Mehrdeutige als Wunderbares zur Erkenntnis bringt. (Abgeschlossen am 30. September 1982)
Zur Hermeneutik des Lehrens Neutestamentliche Überlegungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Didaktik Die Didaktik hat - wenn ich recht sehe - unter anderem die Aufgabe, zwischen dem Unterrichtsgegenstand und den Adressaten zu vermitteln. Sie arbeitet an der Be:iehung zwischen der Sache, über die etwas gelernt werden soll, und den Menschen, die etwas lernen sollen. Die Didaktik leistet also hermeneutische Arbeit. Denn das Geschäft jeder Hermeneutik ist es, Beziehungen zu entdecken. So ist es das Geschäft neutestamentlicher Hermeneutik, die Beziehungen zu entdecken, die es zwischen dem Neuen Testament und seinen heutigen Lesern gibt. Einer elementaren hermeneutischen Einsicht gernäss existiert die Sache, von der das Neue Testament spricht, gar nicht ohne den vernehmenden Menschen. Christus, die Gottesherrschaft, das Evangelium, sie treten wesentlich in Beziehung zu den Menschen. Sie sind als solche Beziehungsphänomene und kommen insofern ohne Adressaten gar nicht aus. Zum Christus gehört wesentlich der Mensch, dem er sich zuwendet. Zur Gottesherrschaft gehört wesentlich der Mensch, der sich auf sie einstellt. Zum Evangelium gehört wesentlich der Mensch, der sich im Glauben ihm anvertraut. Ihr Wesen ist die Beziehung, die Zuwendung zum Menschen. Man könnte also sagen: Christus, Gottesherrschaft, Evangelium vollziehen das, woran die Didaktik arbeitet. Deshalb könnte es für die Didaktik lehrreich sein zu beobachten, welche konkrete Gestalt jene Zuwendung zu den Menschen hat. Man kann ja kaum annehmen, die Didaktik sei eine ihrem Gegenstand neutral gegenüberstehende Technik; die Didaktik hat sich vielmehr auf ihren Gegenstand einzustellen, um sich von seinen Beziehungen zu den Adressaten leiten zu lassen. Wenn Christus, die Gottesherrschaft, das Evangelium wesentlich in Beziehung zu den Menschen stehen, ist von ihnen auch Aufschluss zu erwarten über das Wesen der Beziehung, die sie eingehen. Aufschlüsse über die Charakteristika dieser Beziehung können für die Didaktik lehrreich sein. Einige didaktisch interessante Aspekte neutestamentlicher Hermeneutik werden im folgenden zur Diskussion gestellt. Da es sich um skizzenhafte Überlegungen handelt,
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Zur Henneneutik des Lchrens
wird auf Anmerkungsapparat und Auseinandersetzung mit der Literatur verzichtet.
1 Die Widerstehliehkeil des Vernünftigen In der Gemeinde von Korinth wurde die Zuwendung des Christus zum Glaubenden erfahren in der Präsenz des Pneumatischen. Die ekstatischen Phänomene, namentlich die Zungenrede, galten bei manchen als untrügliche Zeichen der Christusgegenwart. Paulus wagt es, gegenüber dieser Untrüglichkeil Zweifel anzumelden. »Ihr wisst: Als ihr noch Heiden wart, trieb es euch mit unwiderstehlicher Gewalt fort zu den stummen Götzen« ( 1Kor 12,2). Die Unwiderstehlichkeit der ekstatischen Phänomene ist demnach kein Merkmal dessen, dass die Korinther in Beziehung zum Christus stehen. Mit unwiderstehlicher Gewalt wurden sie ja schon von den stummen Götzen angezogen. Die Übermacht der Geist-Empfindungen besagt noch nichts über ihre Echtheit, über ihre Herkunft aus dem heiligen Geist. Ein Geist ist - nach der Meinung des Paulus- überhaupt nicht nach seinem äusseren Erscheinungsbild zu beurteilen, sondern nach dem, was er sagt. Der heilige Geist nun ist daran zu erkennen, dass er Jesus als Herrn bekannt macht (vgl I Kor 12,3). Darüber hinaus wäre erst noch zu fragen, ob unwiderstehliche Attraktion überhaupt zu einer Beziehung führt. Herrscht nicht in der unwiderstehlichen Gewalt jene Beziehungslosigkeit, die das Verhältnis von Herrscher und Beherrschtem prägt? Der Wunsch nach einem unwiderstehlichen Wort ist wohl niemandem fremd, auch nicht dem didaktisch Versierten. Es ist der Wunsch, das Wort möge nicht unverrichteter Dinge verhallen, der Gegenstand möge die Adressaten packen. Aber schafft das unwiderstehliche Wort jene Beziehung, an der die Didaktik arbeitet? Kann eine Didaktik der Unwiderstehlichkeit verpflichtet sein? Paulus verhandelt das Problem der unwiderstehlichen Gewalt, indem er die Geistesgaben der Zungenrede und der Prophetie gegeneinander abwägt. Nach eingehenden Überlegungen kommt er in I Kor 14 zum Schluss, dass die Prophetie einen höheren Wert hat als die Zungenrede. Der Hauptgrund liegt darin, dass die Prophetie der Beziehung verpflichtet ist. Sie dient dem Aufbau der christlichen Gemeinde. Die Zungenrede dagegen dient der persönlichen Selbsterbauung (die Paulus
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gewiss auch nicht verachtet), sie erschwert die Beziehung der Menschen untereinander, weil sie -gleichsam an diesen vorbei - direkt an Gott gerichtet ist. In diesem Zusammenhang fällt ein für unser Thema interessanter Satz: »Doch in der Gemeindeversammlung will ich lieber nur fünf Worte in verständlicher Sprache reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend in himmlischer Sprache« (I Kor 14, 19). Verständig sind die Worte, sofern sie dem Verstand der Menschen zugänglich sind. Verständige Sprache ist unterweisend, weil die Vernunft der Angeredeten nicht ausser Kraft gesetzt wird. Sie können das Gesagte vernünftig beurteilen, um daraus zu lernen. Wo der Geist des Christus massgebend ist, wird in verständiger Sprache geredet. Denn der Geist des Christus ist interessiert an einer Beziehung zu den Menschen. durch die sie etwas lernen können. Wenn der Geist in dieser Gestalt kommt, versagt er sich die Unwiderstehlichkeit der Götzen. Er hat Teil an der Widerstehliehkeil des Vernünftigen. Und er entdeckt an dieser Widerstehlichkeit, dass sie beziehungsträchtig ist. Widerstehliches Reden sucht sich die Sprachformen aus, in denen es gedeihen kann. Ein gutes Beispiel ist die Gleichnisrede. Das Gleichnis lässt keinen Zweifel darüber offen, wo es den Hörer haben möchte. Und zugleich verzichtet es auf jeden Versuch, ihn dorthin zu zwingen. Dies sieht man besonders deutlich an jenen Gleichnissen, die die Gestalt einer (rhetorischen) Frage haben. Das Gleichnis zwingt dem Hörer ebensowenig eine Einstellung zur Gottesherrschaft auf, wie ein Witz jemandem das Lachen aufzwingt. Das Gleichnis partizipiert insofern an der Ohnmacht, die jedes vernünftige Nachdenken über Gott auf sich nehmen muss. Doch zugleich gewinnt es den Lebensraum, den Jesus den Sanften verheissen hatte (Mt 5,5). Gernäss dieser Seligpreisung Jesu gehört ja das Erdreich, der Lebensraum schlechthin, denen, die ohne Macht sind. Müsste ich aus den Gleichnissen eine Figur benennen, die diese Eigenart anschaulich macht, so wäre es der Vater im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15,11-32). Er geht hinaus, um den verärgerten Sohn zum Fest zu bewegen. Er redet ihm bittend zu (mpamA.Eiv), weil er ihn beim Fest haben will. Er verzichtet auf brachiale und verbale Machtanwendung. Er will seinen Sohn nicht verlieren, deshalb kann er nicht unwiderstehlich sein. Dieser Vater bildet die Widerstehliehkeil des Wortes Gottes ab. in dessen Raum Lebensbeziehungen gedeihen.
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Zurück zu Paulus. Das Erkennungszeichen des heiligen Geistes ist, dass er Jesus als den Herrn bekannt macht. Er ist nicht an der unwiderstehlichen Gewalt zu erkennen, mit der er mich hinreisst. Dass Jesus der Herr ist, ist in keiner Weise zwingend, ist in keiner Weise eine Notwendigkeit und ist dennoch die vernünftigste Sache der Welt. Vom Geist, der Jesus als den Herrn bekannt macht, kann ich nur lernen, wenn er prophetisch spricht, wenn er zur Widerstehliehkeil des Vernünftigen findet. Lernen ist keine Unterwerfung unter die Notwendigkeiten, weder die der Vernunft noch die des Handelns. Lernen ist jene Bewegung, die vom bittenden Zureden ausgeht. Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass Paulus das Wirken der Verkündiger auf den Begriff des Bittens bringt: »Wir bitten an Christi Statt, lasst euch versöhnen mit Gott« (2Kor 5,20b). Sich versöhnen lassen mit Gott heisst in einer bestimmten Relation zu Gott stehen. Um eben diese Relation kann nur gebeten werden. Denn die Versöhnung lebt davon, dass sie nicht erzwungen ist. Eine Gestalt der Bitte ist auch das verständige Wort, das die Vernunft auf ihr Urteil anspricht, ohne sie mit unwiderstehlicher Gewalt dorthin zu ziehen, wo es sie haben will. Lernen ist jene Einsicht, die im Raum des verständigen Wortes gedeiht. Von hier aus gesehen wäre das didaktische Hauptproblem nicht, den Unterrichtsgegenstand mit Macht auszustatten, sondern ihn in der gebotenen Ohnmacht zu belassen, deren es für eine Lebensbeziehung der Adressaten zu ihm bedarf. Das didaktische Hauptproblem wäre es, allen Unterrichtsvorgängen die Gestalt der Bitte um Versöhnung zu geben.
2 Über Rezeptivität und Kritik Bei Paulus begegnen wir der elementaren Einsicht, dass aus Werken des Gesetzes kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt wird (Röm 3,20). Das Gerechtfertigtsein vor Gott ist ein theologischer Ausdruck für die Wahrheit menschlichen Lebens, für dessen wahre Identität. Dann bedeutet der Satz des Paulus, dass Werke des Gesetzes nicht an die Wahrheit meines Lebens heranreichen. Der Satz wird häufig so missverstanden, dass man ihn auf die fehlenden Werke bezieht: weil mir die rechten Werke nicht zu Gebote stehen, komme ich wirkend nicht an die Wahrheit meines Lebens heran. Paulus geht es keineswegs um die fehlenden Werke, sondern vielmehr um die vorhandenen: die
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menschlichen Werke, so gross ihre Reichweite auch sein mag, reichen nicht bis zur wahren Identität. Die menschlichen Werke stehen für die Produktivität. Dann bedeutet der paulinische Satz, dass der Mensch durch seine Produktivität nicht zu seiner Wahrheit kommt. Dann ist allerdings die Frage, wie ich an die Wahrheit meines Lebens herankomme. Die Antwort des Paulus lautet bekanntlich: Die Gerechtigkeit entsteht durch den Glauben an Christus (vgl zB Röm 3,22; 5,1). Der Glaube nimmt in Christus die Verkörperung der rechtfertigenden Kreativität Gottes wahr. Der Glaube ist jene »Bewegtheit«, in welcher die Menschen sich die Kreativität Gottes gefallen lassen. Daraus folgt: der Glaube ist die menschliche Rezeptivität angesichts göttlicher Produktivität. Und der Glaube ist zugleich jene »Bewegtheit«, die mich der Wahrheit meines Lebens gewahr werden lässt. Der Glaube ist jenes Sehen, das mich einen Blick auf meine Wahrheit tun lässt. Das bedeutet aber, dass ich an meine wahre Identität nur -rezeptiv (nicht produktiv) herankomme. Jetzt wird auch klar, inwiefern gerade die vorhandenen (nicht die fehlenden) Werke nicht an meine Wahrheit heranreichen. Denn im Wirken verdränge ich das Empfangen, genauso wie ich, wenn ich mir Respekt verschaffe, die Liebe verspiele, die mir entgegengebracht werden könnte. Das Wirken verspielt genau dort, wo es das beste aus sich macht, das, was nur empfangen werden kann. Die Wahrheit meines Lebens besteht im Angewiesensein auf das Externe, das mich rettet, auf die Zuwendungen, die ich erfahre, und insofern auf Christus, die Zuwendung aller Zuwendungen. Man muss sich klar machen, dass dieser Ruf zur Rezeptivität in einer Zeit ergeht, die fast ausschliesslich auf Kritik setzt, in einer Zeit, die sich grösste Fertigkeiten auf dem Felde kritischer Analyse erworben hat. Dieser Ruf trifft Menschen, die darauf abgerichtet sind, sich das Externe vom Leib zu halten. Er trifft Menschen, die sich von Rezeptivität nicht viel versprechen. Solchen Rahmenbedingungen trägt beispielsweise das Gleichnis vom vielerlei Acker (Mk 4,3-9) Rechnung. Sache der Gleichnisrede ist es, die Gottesherrschaft im Jetzt zu vollziehen. Gleichnisse machen Gott zum Ereignis. Man kann deshalb das vorliegende Gleichnis verstehen als eine Arbeit Gottes an der menschlichen Rezeptivität. Es ist zweiteilig aufgebaut und bringt einen seltsamen Kontrast zur Darstellung. Einer übertrieben breit geschilderten Geschichte des Misserfolgs (V. 4-7) steht eine ganz knappe Erzählung übertriebenen Erfolgs gegenüber (V. 8). Der Same begegnet verschie-
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densten Feinden: den Vögeln, die ihn fressen; der Sonne, die die schnell aufgeschossenen Halme versengt; den Domen, die alles ersticken. Wo der Same nicht rezipiert wird, haben seine Feinde ein leichtes Spiel. Wo er hingegen auf gute Erde fällt, ist sein Ertrag überwältigend. Es bedarf nicht einmal der Mitwirkung eines »Freundes« für den Erfolg. Wo der Same aufgenommen wird, kann man des Erfolgs gewiss sein. Das Gleichnis führt vor Augen, wie ertragreich das Aufnehmen ist. Es ist ein Gleichnis für die Lebensträchtigkeit des Hörens, wie auch seiner Rahmung zu entnehmen ist (vgl V. 3a.9). Unsere Situation ist gekennzeichnet dadurch. dass wir uns dem Rezipieren nicht anvertrauen und stattdessen die Fertigkeiten der Kritik kultivieren. Dies sieht man schon daran, dass jeder Abiturient ohne weiteres in der Lage ist, einen Text kritisch zu analysieren, während er grosse Mühe hat, ihn zu rezipieren. Das Gotteswort des Neuen Testaments aber tritt so an die Menschen heran, dass es an ihrer Empfänglichkeit arbeitet. Ihm gegenüber kommt alles auf das Hören an. Ein wichtiges didaktisches Anliegen wäre es demnach, die Einübung in das Rezipieren voranzutreiben. Dabei geht es gar nicht bloss um die Rezeption des Bibelworts, sondern auch um das Seinlassen-Können der Lieder und Gedichte, der Geschichten und Überlegungen, die vor mir in der Welt waren. Gewiss ist die Würde aufklärerischer Befreiungsbewegung nicht anzutasten. Aber es wäre doch zu fragen, ob die Alternative zur selbstverschuldeten Abhängigkeit die selbsterschaffene Unabhängigkeit sein kann. Es wäre wohl einer Überlegung wert, ob die Arbeit des biblischen Wortes an der Rezeptivität der Menschen nicht auch in unseren aufgeklärten Zeiten einen Lebenswert darstellt. Das didaktische Bemühen müsste sich dann darauf konzentrieren, diese Arbeit ungehindert geschehen zu lassen. Es könnte ja sein, dass die wahre Alternative zur selbstverschuldeten Abhängigkeit das menschliche Angewiesensein auf das Gegebene wäre. Dann müsste es zu den didaktischen Hauptanliegen gehören, statt der Kritik die Rezeptivität zu kultivieren. Jedenfalls didaktisch alles daran zu setzen, dass man dem biblischen Wort nicht ständig in den Arm fällt, wenn es seine Arbeit an den Menschen tun will.
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3 Vom Segen der Widersprüche Die Bibelauslegung der Neuzeit ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass man einen gewissen Sinn für die Widersprüchlichkeil der Schrift entwickelte. Dies hängt wohl damit zusammen, dass die Bibel in der Neuzeit nicht mehr als Gottes Wort sondern als menschliches Wort betrachtet wurde. Einst hatte das Wort Gottes den Bibelleser, der auf Ungereimtheiten stiess, eher an sich selbst als am Wort zweifeln lassen. Jetzt hingegen ist die Vernunft jederzeit bereit, Widersprüche zu entdecken, um sie als Indizien für die Menschlichkeit dieses Wortes zu verwenden. Die Bibelauslegung der Neuzeit ist sozusagen erpicht auf die Widersprüche der Schrift. Im Lichte neutestamentlicher Hermeneutik gesehen ist freilich die skizzierte Alternative von Gotteswort und Menschenwort unangemessen. Vielmehr ginge es darum, das Wort Gottes im menschlichen Wort Jesu und seiner Zeugen zu erkennen. Das Wort Gottes tritt in der Gestalt des menschlichen Wortes in Beziehung zum Hörer. Da erhalten auch die Widersprüche in diesem Wort eine neue Bedeutung. Ein Beispiel betrachten wir im Folgenden etwas näher. In lJoh 4,8b fällt der wichtigste theologische Entscheid der Urchristenheit: »Gott ist Liebe.« Dieses Qualitätsurteil über Gott verdankt sich einer langen Geschichte des Nachdenkens. Es begann damit, dass die Sendung des Sohnes als Liebestat wahrgenommen (Joh 3,16) und der Sohn als das uranfängliche göttliche Wort identifiziert wurde (Joh 1, 1-18 ). Damit war der Grund gelegt für die Wahrnehmung Christi als des menschgewordenen Gottes und dann auch für die ausschliesslich an Christus orientierte Wahrnehmung Gottes. War einmal entschieden, dass der Christus das fleischgewordene Wort Gottes ist, so war der Weg nicht weit bis zu der Einsicht, dass Gott ganz von Christus aus zu denken ist. Und auf dem Boden dieser Einsicht kommt es zum Satz »Gott ist Liebe«. Doch dieser Satz steht nicht allein im Neuen Testament. In merkwürdigem Widerspruch zu ihm steht beispielsweise das theologische Denken der Apokalypse. Da träumt man wieder vom endzeitlichen Reiter auf dem weissen Pferd- sein Name ist »Wort Gottes« -; seine Augen sind wie eine Feuerflamme und sein Gewand ist getränkt vom Blut seiner Feinde (Apk 19,11-16). Ein scharfes Schwert fährt aus seinem Munde, er schlägt damit alle Völker. Wie verhält sich diese Vorstellung vom endgültigen Kommen Gottes zum Qualitätsurteil
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von IJoh 4,8? Ist dieser Traum zu vereinbaren mit der Einsicht, dass Gott Liebe ist? Kann man von der Liebe, deren Wesen die Kreativität ist, denken, sie wirke jemals vernichtend? Wo ist die Ohnmacht der Liebe gegenüber allem, was nicht Liebe ist, geblieben? Es ist meines Erachtens nicht sinnvoll, den unverkennbaren Widerspruch dieser zwei neutestamentlichen Gottesgedanken durch exegetische Tricks aus der Welt zu schaffen. Er muss in der ganzen Schärfe stehen bleiben. Wenn er stehen bleibt, nötigt er die Bibelleser zu einer sachkritischen Entscheidung. Gerade wenn sie das biblische Wort ernst nehmen, sind sie zur kritischen Entscheidung darüber herausgefordert, wo nun in Wahrheit Gott zur Sprache komme, in der Einsicht des IJoh oder im Traum von Apk 19. Diese Kritik dient nicht dem Abstandnehmen, sie dient vielmehr dem Rezipieren des Gesagten. Sachkritik ist niemals zu verwechseln mit der Arroganz des Besserwissers, der kritisch darüber befindet, was ihm noch genehm ist und was nicht mehr. Gewiss gibt es seit der Entstehung des historischen Bewusstseins eine Sachkritik an biblischen Aussagen, die im Grunde darauf beruht, dass wir manches besser wissen (hierher gehört die Sachkritik am mythologischen Weltbild, das einer sorgfältigen Interpretationsleistung bedarf). Dies ist jedoch eine relativ harmlose Sachkritik im Vergleich zu derjenigen, die gerade dem aufgenötigt wird, der einen Sinn für die sachlichen Widersprüche innerhalb des Neuen Testaments entwickelt. Die Nötigung zur Sachkritik entsteht nicht durch das Besserwissen, sondern durch die inneren Spannungen des Neuen Testaments. Das neutestamentliche Gotteswort nähert sich den Menschen in der Gestalt widersprüchlichen menschlichen Worts. Der Segen dieser Widersprüchlichkeil liegt darin, dass sie dem Adressaten den Spielraum der Entscheidungsfreiheit eröffnet. Mit religiösen Grunddokumenten verbinden wir häufig den Wunsch nach absoluter Widerspruchsfreiheit. In diesem Wunsch meldet sich der Versuch des Menschen, sich aus der Verwicklung in die Wahrheitsfrage zu befreien. Das Neue Testament als die Quelle des christlichen Glaubens gewährt diese Widerspruchsfreiheit nicht. Eben deshalb spielt es den Lesern die Freiheit zu, sachkritische Entscheide zu fällen und insofern in die theologische Wahrheitsfrage verwickelt zu sein. So sehr sich die Leser wünschen mögen, in den Texten einen Schlüssel zur Aufbebung des elementaren Widerspruchs zwischen dem Gott der Liebe und dem vernichtenden Gott zu finden, so sehr widersetzt sich das Neue Testament solchen Operationen und sorgt
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auf diese Weise dafür, dass das menschliche Subjekt sich nicht davonstehlen kann, wenn es um die Wahrheit geht. Im Einbezug des Menschen in die Frage nach der Wahrheit Gottes liegt der Segen der Widersprüche im Neuen Testament. Wenn dies zutrifft, so hat es Konsequenzen für die Didaktik. Ihr müsste es um das Herausarbeiten der Widersprüchlichkeil gehen (statt um das Zudecken). Ihr müsste es um ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeil gehen, die es auch dem Schüler erlaubt, vorzukommen in den Dingen, die da verhandelt werden. Ihr müsste es darum gehen, solche Widersprüche zu erschliessen als Zeichen für die Würde des in das menschliche Wort eingegangenen göttlichen Wortes, statt sie als Indizien für das bloss allzu Menschliche zu verwenden. Vielleicht wäre es ein interessantes Nebenprodukt solcher didaktischer Bemühungen, dass man überhaupt eine neue Einstellung zum Widerspruch bekommt, derso sehr er einem wie eine logische Katastrophe vorkommen mag manchen Phänomenen des Lebens angemessen ist.
4 Die Verbindlichkeit der Bilder Das Neue Testament greift gerne zu Bildern, wenn es von Gott sprechen will. In besonderem Masse gilt dies für die Gleichnisrede Jesu. Bilder haben es an sich, mehrdeutig zu sein. Es ist nicht von vomherein ausgemacht, was der angeredete Mensch in den Bildern sehen muss. Im Gegenteil! Bilder sprechen seine Einbildungskraft an. Verschiedene Menschen sehen im selben Bild verschiedene Wahrheiten. Bilder laden zu produktiver Deutung ein, ohne den Angesprochenen auf seine Eigenproduktivität festzulegen. Dies wird durch die Beobachtung anschaulich gemacht, dass die Gleichnisse ein unerschöpfliches Sinnpotential in sich tragen. Ihre Auslegung kommt nie zum Abschluss, weil sie immer neue Menschen mit immer neuen Erfahrungen zur Phantasiearbeit an ihren Bildern einladen. Dies wird in eindrücklicher Weise dokumentiert durch die verschiedenen Deutungen, die manches Gleichnis schon in der urchristlichen Traditionsgeschichte erfahren hat. Weist das Gleichnis vom verlorenen Schaf die matthäisehe Gemeinde ein in die Suche nach denen, die sich auf ihrem Lebens- und Glaubensweg verirrt haben (Mt 18,14 ), so führt dasselbe Gleichnis bei Lukas den Zuhörern
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Zur Henneneutik des Lehrens
die Freude Gottes über den wiedergefundenen Sünder vor Augen. Gleichnisse ermöglichen die Vielfalt des Verstehens. Man könnte auch sagen: Gleichnisse versammeln verschiedene Menschen mit verschiedenen Gedanken um das Bild, das sie ihnen unterbreiten. Die Verbindlichkeit dieser Bilder besteht genau darin, dass sie Menschen um das Bild versammeln, ohne sie zur Uniformität des Gedankens zu zwingen. Ihre Verbindlichkeit besteht darin, dass sie ein Band schaffen, welches die Vielfalt der Gedanken einigt. Normalerweise verstehen wir etwas anderes unter verbindlichem Reden. Verbindlich redet einer, in dessen Macht es steht, die Geltung seiner Worte durchzusetzen. Verbindlich ist ein Wort, dessen Geltung erzwingbar ist, ein Wort, nach dem ich mich richten muss, gleichgültig ob es mir passt oder nicht. Verbindlich ist ein Wort, das alle Angeredeten dazu zwingt, dasselbe zu denken. Die Verbindung unter solchen wird vorgestellt als gegeben durch die Gleichheit der Gedanken. Die Verbindlichkeit der Gleichnisse ist eine andere. Sie schaffen die Verbindung unter den Menschen dadurch, dass sie diese um dasselbe Bild versammeln. Die Verbindung besteht nicht in der Gleichheit des Gedankens, sondern in der Selbigkeit des Bildes, das verschiedene Gedanken ebenso aus sich entlässt wie um sich versammelt. Die Verbindlichkeit der Bilder lebt von der Verbindung, die sie zu jedem Menschen in seiner jeweiligen Eigenart eingehen, indem sie gerade diese Eigenart für die Auslotung des Sinnpotentials in Anspruch nehmen. In diesem Sinne wiederholen die Gleichnisse, was Jesus in seiner Praxis der Sammlung vollzog und was die Kirche in ihrem Verständnis des Abendmahls aufbewahrte. Durch seinen Ruf in die Nachfolge sammelte Jesus Menschen um sich, die von sich aus nichts miteinander gemein hatten. Aller historischen Wahrscheinlichkeit nach waren unter den Nachfolgern ein Zelot und ein Zöllner (vgl Mk 2,14; 3,18 par Lk 6,15), Personengruppen. die sich sonst abstiessen wie Feuer und Wasser. Allein der Ruf Jesu schuf die Verbindung unter ihnen. nicht etwa ihre gemeinsamen politischen oder religiösen Ziele. Dasselbe lässt sich beim Herrenmahl beobachten. Die Verbindung unter den Geladenen entsteht nur dadurch, dass sie am selben Tisch Platz nehmen, an einem Tisch, den sie nicht selbst gedeckt haben (vgl I Kor I 0,16f). Die Verbindung ist den Verbundenen gegenüber fremd. Sie haben sie nicht geschaffen und können sie also auch nicht vernichten (sie können sie höchstens ignorieren). Darin liegt die Verbindlichkeit des Rufes Jesu
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ebenso wie die der Einladung zum Tisch des Herrn. Das ganze Wirken Jesu ist geprägt von einem Zug zur Sammlung und dementsprechend von der Abstandnahme zur Scheidung. Es ist eine natürliche Vorstellung, dass die Bereinigung menschlicher Lebensverhältnisse durch die Vernichtung der Unreinen zustandekommt, durch die Scheidung von Rein und Unrein. Jesus dagegen verlegt sich auf die Sammlung, er stellt die Ganzheit wahrer Gemeinschaft durch Vergebung statt durch Vernichtung her. Auch in dieser Hinsicht besteht die Verbindlichkeit seines Wirkens (genau wie seiner Bilder) in der Sammlung, in der Verbindung, die es unter Beziehungslosen herstellt. Vielleicht ist es lehrreich auch für didaktische Überlegungen, diese Gestalt von Verbindlichkeit zu berücksichtigen. Es könnte ein lohnendes didaktisches Ziel sein, die Leistung der Mehrdeutigkeit herauszuarbeiten. Herauszuarbeiten, inwiefern die Verschiedenheit der Gedanken um das Bild versammelt und dadurch eine Verbindung entstanden ist, die nicht von der Uniformität des Denkens lebt (aber auch nicht die Disparatheil der Menschen zum Ausdruck ihrer Eigenständigkeil emporstilisieren muss). Es könnte ein lohnendes didaktisches Ziel sein, den Schüler zum Gast an einem fremden Tisch zu machen. Dies könnte ihn befreien von seiner Fixierung auf den erzwungenen Gedanken, einer Fixierung, der er gerade auch im vehementen Widerspruch gegen alles Biblische ja erliegt.
5 Die Forderung des menschgewordenen Gottes ln der Einleitung zu den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5, 21-48) hält Matthäus ausdrücklich fest, Jesus sei nicht gekommen, Gesetz und Propheten aufzulösen, sondern zu vollenden (Mt 5, 17). Diese Aussage kann einfach heissen, dass es Matthäus um die Konservierung des jüdischen Gesetzes geht. Sie kann heissen, dass er für ein gesetzeskonformes Christentum eintritt. Man könnte sich freilich einmal fragen, warum eine solche Beteuerung ausgerechnet angesichts der Antithesen vorgenommen werden muss. Ein Blick auf die Antithesen gibt dazu näheren Aufschluss. Die Antithesen sind dadurch charakterisien, dass Jesus mit dem »Ich aber sage euch« seine eigene Vorstellung vom Willen Gottes dem gegenüberstellt, was im Gesetz geschrieben steht. Man könnte auch sa-
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gen: in den Antithesen lässt Jesus das Gesetz unter die Augen Gottes treten und entdeckt dabei den Willen Gottes am Gesetz. Dies geht nicht ohne eine kritische Interpretation des Gesetzes ab. Sie liegt in den Antithesen tatsächlich vor. Die Alternative von Gesetzeskonservierung und Gesetzesabschaffung greift hier nicht. Denn weil Jesus im Gesetz den Willen Gottes entdeckt, muss er dieses kritisch interpretieren; weil er die Intention des Gesetzes bewahrt, muss er es kritisieren. Im Blick auf die Ansage des Willens Gottes durch Jesus fällt zweierlei auf. Erstens stellt Jesus sein Ich offenbar mindestens auf dieselbe Stufe wie das Mosegesetz. In diesem Verfahren steckt ein Anspruch, der auch religionsgeschichtlich gesehen auffällig ist, da es keine eigentlichen Parallelen dazu gibt. Was für eine Vollmacht offenbart sich darin? Wer kann sprechen, als ob er an Gottes Stelle stünde? Zweitens ist auffällig, dass Jesus flir seine Vorstellung vom Willen Gottes keinerlei Autoritäten mehr ins Feld führt, weder Stellen aus der heiligen Schrift noch gleichlautende Meinungen bekannter Schriftgelehrter. Man könnte ein solches Verfahren apodiktisch nennen und es wiederum dem autoritären Denkmuster einordnen. Man könnte aber auch genauer hinsehen und feststellen, dass es für diese Ankündigung des Willens Gottes gar keine Autoritäten mehr gibt, die ins Feld geführt werden könnten. Mit dem »Ich aber sage euch« zieht sich Jesus ganz auf sein Ich zurück, wenn es um die Auslegung des Willens Gottes geht. Und da sein Ich kein anderes Gewicht hat als das anderer \'tenschen, kann es nicht dazu dienen, der Ansage des Willens Gottes himmlisches Gewicht zu verleihen. Was aber gibt ihr dann Gewicht? Die Antwort muss lauten: die Auslegung des Willens Gottes hat kein anderes Gewicht mehr als das, welches im Gesagten selbst liegt. Jesus gibt sich ganz an das Gesagte selbst preis, wenn er mit dem »Ich aber sage euch« seine Auslegung des Willens Gottes vorträgt. Er überlässt sich ganz der Evidenz, die das Gesagte selbst hat. Das bedeutet. dass diese ethische Forderung keine fremden Gewichte mehr hat. Demzufolge sucht sie nichts anderes als das Einverständnis der Angeredeten, auf welches sie ganz angewiesen ist. Hermeneutisch gesehen haben wir hier die Forderung eines Gottes vor uns, der Mensch geworden ist. Die Forderung eines menschgewordenen Gottes kann kein metaphysisches Gewicht beanspruchen. Sie kann nicht von oben herab sprechen. Sie redet sozusagen auf dem Erdboden. Konkret geschieht dies so, dass Jesus sich ganz auf das Gewicht
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des Gesagten zurückzieht. Konkret geschieht dies so, dass die Ansage des Willens Gottes nichts anderes sucht als das Einverständnis der Angeredeten. Die ethische Belehrung auf dem Erdboden findet nicht mehr vom hohen Thron über die Köpfe der Menschen hinweg statt, sie gestaltet sich vielmehr als die Arbeit des menschgewordenen Gottes an jedem menschlichen Herzen. Die Arbeit am menschlichen Herzen, die Jesus auf vielerlei Weise vollzog- gerade auch die Gleichnisse könnten ein Beispiel für diese Arbeit sein - , ist die konkrete Gestalt einer Auslegung des Willens Gottes, die auf dem Erdboden angekommen ist. Wenn das Gesetz auf diese Weise vom Himmel heruntersteigt, befürchtet man Chaos und Auflösung. Deshalb ist es wohl begreiflich, dass angesichts der Antithesen Jesu beteuert werden muss, es gehe ihm nicht darum, Gesetz und Propheten aufzulösen. Freilich kann sich nur der auf sein Ich zurückziehen, der nicht willkürlich spricht. Gerade das willkürliche Reden, obwohl es im äussersten Masse subjektiv ist, versieht sich gerne mit fremden und objektiven Gewichten, mit der Würde uralter religiöser Tradition, mit dem Heiligenschein modernster Humanwissenschaft, oder auch mit der Schuld der zu Belehrenden, und mit dem Zwang, es müsse alles anders werden, wenn der Untergang der Welt verhütet werden solle. Weil Jesus nicht willkürlich sprach, konnte er auf solche Gewichte verzichten. Worin hatte seine Verkündigung des Willens Gottes ihren Grund? Die Antithese von der Feindesliebe (Mt 5,43-48) lässt diesen Grund noch erkennen. Jesus appelliert an die tägliche Erfahrung des Regens und der Sonne, welche die Feindesliebe Gottes anschaubar machen und deshalb das Gebot der Feindesliebe als Auslegung des Willens Gottes evident machen sollen. Jesus erschliesst die alltägliche Erfahrung der Sonne und des Regens als Erfahrung der Feindesliebe Gottes, und deshalb kann er die so Geliebten wiederum auf Feindesliebe ansprechen. Beachten wir diesen Begründungszusammenhang, so erkennen wir, dass nach Jesus der Wille Gottes eben der Anspruch ist, den das Gegebene an mich stellt. Man könnte dies an vielen Beispielen zeigen. Die gegebene Sonne und der Regen tragen in sich den Anspruch, dass der Mensch ebenso unbegrenzte Liebe walten lasse wie Gott. Die Gabe der Sprache trägt in sich den Anspruch, mit jedem Wort die Wahrheit zu sagen, statt sie auf Grenzfcille zu beschränken (vgl Mt 5,33-37). Das Leben selbst trägt in sich den Anspruch, dass es masslos bewahrt wird, statt dass die Verletzung des Lebens auf die Grenzfälle des Tötens be-
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schränkt wird (vgl Mt 5,21 t). Die Auslegung des Willens Gottes durch Jesus hat ihre Eigenart darin, dass sie diesen Willen erkenntlich macht als den Anpsruch, der in den Gaben des Lebens liegt. Didaktisch interessant sind an der Auslegung des Willens Gottes durch Jesus mehrere Aspekte. Zum ersten wird hier ein Reden entdeckt, das auf jedes fremde Gewicht verzichtet. Welche didaktischen Konsequenzen hätte es, wenn wir uns ganz der Evidenz des Gesagten anvertrauen wollten? Welche didaktischen Konsequenzen hätte es, wenn allein das Gewicht der Sache herausgearbeitet würde? Zum zweiten wird hier ein Ursprung des Ethischen entdeckt, der meines Erachtens gute Wege zu weisen vermag. Das Ethische ergibt sich daraus, dass ich nach dem Anspruch frage, welchen die mir gegebenen Lebensgrundlagen haben. Statt immer zu fragen, was ich mit den Menschen und der Welt anfangen kann, welche Ansprüche ich an die Dinge habe, welche Forderungen ich an die Talente stelle, die mir gegeben sind, könnte ich fragen, welche Ansprüche Menschen und Welt an mich stellen. Ich könnte fragen, welchen Anspruch meine Fertigkeiten auf mich haben. Statt immer zu fragen, was ich mir schuldig bin, könnte ich fragen. was ich dem Gegebenen schuldig bin. Damit käme man zu einem Umgang mit dem Ethischen. welcher das Moralistische ebenso wie das Utopistische hinter sich lassen könnte. Das Tun des Guten rechtfertigt sich weder mit der moralischen Würde des Menschen noch mit dem künftigen Reich, an dessen Verwirklichung es arbeitet. Das Tun des Guten hat keinen finis mehr, weil es seinen Sinn in sich selbst hat. Man käme auf diese Weise zu einer Ethik des Gegebenen. Welche didaktischen Konsequenzen hätte es, wenn wir uns darauf einlassen würden? Zum dritten schliesslich hat eine ethische Belehrung, die sich als Arbeit am menschlichen Herzen konzipiert, die Allmachtswünsche überwunden. Im Blick auf die Theologie erhält man nicht selten den Eindruck, als seien die totalen Definitionsansprüche aus der Ontologie. wo man sie nicht mehr zu stellen wagt, in die Ethik ausgewandert. Je weniger die theologische Weltdefinition in der Ontologie stattfinden kann, desto breiter macht sie sich in der Ethik. Dabei ginge es wohl eher darum, überhaupt auf totale Definitionsansprüche zu verzichten zugunsten der Arbeit an jedem einzelnen menschlichen Herzen. Es könnte wohl sein, dass nur diese Arbeit die Aussicht hat, zum Tun des Guten zu führen. Wie sähe eine Didaktik aus, die sich ganz und ausschliesslich der Arbeit ammenschlichen Herzen verpflichtet weiss?
Exegese und Dogmatik Überlegungen zur Bedeutung der Dogmatik für die Arbeit des Exegeten Am Anfang meiner Überlegungen sollen zwei Reminiszenzen stehen: die eine stammt aus einem Roman und spricht von einem Vikar, der als Typos für eine bestimmte Denkrichtung in der Pfarrerschaft des 19. Jahrhunderts dient, die andere stammt aus einem Brief und spricht von einer Begegnung zwischen einem Dogmatiker und einem Exegeten des 20. Jahrhunderts. Zuerst hat der Dichter das Wort: »Der arme Vikari! Er war stark in der Exegese. und seine Professoren hatten ihn im Hebräischen und Griechischen stark gefuchset und wenn er auf eine dunkle Stelle kam im Hiob oder in den Sprichwörtern. so kriegte er Angst. zog Stiefel an und lief auf Bern, denn es war ihm heiliger Ernst um die Sache. Wenn ihm dann dort einer sagte, es sei ein Punkt versetzt oder das Ding beziehe sich aufs Nachfolgende und nicht aufs Vorhergehende. ihm den Schlüssel zum verschlossenen Heiligtum in die Hände gab. so ward er wieder glücklich. lief heim. den Kopf voll Licht, lief herum daheim mit langen Beinen, und es dünkte ihn. es sollte ihm jedermann ansehen. was er Neues heimgebracht. welch tiefen Grund er gefunden.<< 1
Die theologische Existenz des Vikari, von dem Jeremias Gotthelf hier erzählt, brachte es mit sich, dass er auf dunkle Stellen stiess, in Hiob oder in den Sprichwörtern. Es steht zu vermuten, dass die Dunkelheit dieser Stellen, besonders im Hiob, von den dogmatischen Problemen herrührte, mit denen der Vikari konfrontiert war. »Ihm war« ja »heiliger Ernst«, und bei Dunkelheit bekam er es mit der Angst zu tun, so dass er sogleich die Stiefel anzog, um »auf Bern« zu laufen. Zwar war er stark in der Exegese, noch stärker aber waren seine Lehrer in Bem. Und sie belehrten ihn über versetzte Punkte oder syntaktische Besonderheiten, was ihm zu seinem theologischen Glück vollauf genügte. 1Gotthelf.
Anne Bäbi Jowäger 62.
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Exegese und Dogmatik
Zufrieden, den Schlüssel zum verschlossenen Heiligtum gefunden zu haben, pflegte er vom exegetischen Nachhilfeunterricht zurückzukehren. Was will er mehr? Besteht die Armut des armen Vikari darin, dass er die exegetische Belehrung mit dem tiefen Grund theologischer Einsicht verwechselt? Nun zur zweiten Reminiszenz. Die Begegnung des Exegeten mit einem Dogmatiker fand nicht in Bem, sondern im nahen Basel statt. In einem Brief an Gerhard Ebeling erzählt Ernst Fuchs von seinem Besuch bei Karl Barth.2 »Natürlich erwartete er (sc Barth) von mir nicht nur. dass ich seine Dogmatik im Kopf hätte - ... -. sondern vor allem. dass ich Ja und Amen dazu sage .... Warum ich keine Theologie des Neuen Testaments vorlege, so dass er mit einer Gesamtkonzeption von mir diskutieren könne? Ich sagte. dass wir- wie er mir vorhielt- 'Aufsatzsammlungen' herausgeben. komme eben davon her. dass wir. meine Generation. seine Dogmatik nicht so schnell bewältigen konnten.«'
Der Dogmatiker, von dem anzunehmen, er sei stark in der Dogmatik, wohl nicht vermessen ist, beanstandet beim Exegeten, er gebe bloss Aufsatzsammlungen heraus. Die Aufsatzsammlung steht für die Konzentration auf das Detail, für die Widerständigkeil exegetischer Arbeit gegen die Gesamtkonzeption, das dogmatische System. Dem Dogmatiker scheint die Arbeit des Exegeten erst verwendbar, wenn dieser die Exegetica auf den dogmatischen Begriff gebracht hat. 4 Doch der Exeget weiss offenbar, dass erst die bewältigte Dogmatik der Schlüssel zum Heiligtum der Gesamtkonzeption wäre. Und weil er diese Dogmatik biographisch und exegetisch noch nicht bewältigen konnte, schreibt er Aufsatzsammlungen. Die Hauptpersonen beider Reminiszenzen machen denselben Fehler. Der in der Exegese starke Vikari, der sich dogmatische Probleme exegetisch lösen lässt, und der in der Dogmatik starke Professor, der sich die Exegese in dogmatischer Gestalt wünscht, beide scheinen die ele-
2Ebeling. Freundesbriefe 63-66. Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich meinem Assistenten Henn Dr.Herben Kohler. 1 Ebeling. Freundesbriefe 64. 4 Deshalb meint Banh. •jeder Exeget sei ein verkappter Systematiker« (Ebeling. Freundesbriefe 64).
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mentare Spannung zwischen Exegese und Dogmatik zu übersehen, ganz im Gegensatz zu den jeweiligen Erzählern, die beide die Spannung durchblicken lassen. Die Erzähler erweisen sich als Anwälte ihrer Zeit, für welche es charakteristisch ist, dass das Verhältnis von Exegese und Dogmatik problematisch geworden ist. 5 Wie problematisch dieses Verhältnis geworden ist, kann man schon daran erkennen, dass ein Rezensent kaum einen grösseren Vorwurf an eine exegetische Arbeit macht als den, hier werde dogmatische Exegese getrieben. 6 Die Theologie der Neuzeit, und nicht zuletzt die Exegese leidet nach wie vor darunter, dass sich die historisch-kritische Denkweise einer Integration ins Ganze der Theologie bisher entzogen hat, jedenfalls dort, wo man nicht bereit war, die Theologie als Ganze zu einem Departement der historischen Arbeit werden zu lassen.' Problematische Verhältnisse haben es an sich, die geistige Anstrengung zu stimulieren. In den Rahmen solcher Anstrengung stellt sich auch der folgende Versuch, die Bedeutung der Dogmatik für die Arbeit des Exegeten zu umreissen.
'Grass. Historisch-kritische Forschung 9f spricht von einem Auseinanderbrechen von Dogmatik und Exegese seit der Aufklärung, wobei diese Entwicklung ihre Wurzeln schon in der Dogmenkritik und kritischen Schriftinterpretation Luthers (und der Reformation überhaupt) hatte. Damit hängt zusammen, dass man mit der ,.frage nach dem Verhältnis von Dogmatik und Exegese ... heute weithin Krise und Missstimmung« assoziiert (Ebeling, Dogmatik und Exegese 269). Schon Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode 729-753. beklagt sich über die völlige Beziehungslosigkeit von Dogmatik und Exegese. Die Theologie betrachtet die Exegese unter dem Aspekt ihrer Einzelergebnisse, die je nach Bedürfnis in das dogmatische System eingebaut werden, ohne dass sie dieses selbst zu prägen vermöchten. ,.Die Exegeten und Historiker mögen dann schauen, wie sie gegenüber ihren Forschungsergebnissen jene rein dogmatischen Postulate bewähren, wie umgekehrt die Historiker ihrerseits sich an die zeitgeschichtlichen Bedingtheilen zu halten pflegen und ftir die Prinzipienfrage auf die Dogmatiker verweisen. Man wird in dieser Art von Theologie ständig vom Pontius zum Pi Iatus geschickt« (aaO 731 ). hVgl Schmithals, ThLZ 109( 1984)731; Strecker. Einführung 79 ( .. Dogmatisierung der Gleichnisverkündigung Jesu• ). 7 Rahner, Exegese und Dogmatik 28f warnt die Exegeten davor, zu vergessen, dass sie katholische Theologen sind. Auch wenn er damit Wünsche verbindet, die von den protestantischen Exegeten nicht erftillt werden können, ist sein Hinweis auf die theologische Verantwortung der Exegese ernst zu nehmen. Diese verbietet es, Exegese als rein historische Disziplin zu vollziehen.
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Exegese und Dogmatik
l Dogmatisches Denken und Exegese Wenn der Exeget Auskunft geben soll über das, was dogmatisches Denken für seine Bemühungen um neutestamentliche Texte austrägt, so muss er vor allen Überlegungen beschreiben, was er unter Dogmatik versteht. Die gegenwärtig herrschende Spezialisierung der theologischen Disziplinen bringt es mit sich, dass ein Exeget, der die Dogmatik zu definieren sucht, zum Dilettanten wird.K Er ist angewiesen darauf, dass ihm solcher Dilettantismus von den zünftigen Dogmatikern nachgesehen wird. Das Thema Exegese und Dogmatik könnte durchaus so angepackt werden, dass bestimmte exegetische Erkenntnisse mit einzelnen dogmatischen Lehren ins Gespräch gebracht würden. Dieses Verfahren wird hier nicht eingeschlagen. Statt dass auf einzelne dogmatische Gedanken der gegenwärtigen Theologie eingegangen wird, soll der Versuch unternommen werden, das dogmatische Denken rein als solches9 in seiner Bedeutung für die Exegese thematisch zu machen. Vorausgesetzt ist dabei, dass sich dogmatisches und historisches Denken unterscheiden lassen. 10 Als Grundlage für den Versuch. die Hauptmerkmale des dogmatischen Denkens festzuhalten, dient die Definition Schleiermachers: »Die zusammenhängende Darstellung der Lehre, wie sie zu einer gegebenen Zeit, sei es nun in der Kirche im allgemeinen, wann nämlich keine Trennung obwaltet, sonst aber in einer einzelnen Kirchenpartei geltend ist, bezeichnen wir durch den Ausdrukk Dogmatik oder dogmatische Theologie.« 11 In dieser Definition, die in manchem ergänzt werden könnte, kommen wichtige Charakteristika des K Dieser Dilettantismus ist freilich schon aus dem Grunde zu wagen. weil auch die Exegese »an der Gesamtverantwonung der Theologie unmittelbar beteiligt ist« (Hahn. Exegese 33). ~Das gewählte Verfahren verdankt sich den Überlegungen von Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode 729-753. Troeltsch geht es um die Bedeutung der historischen Methode ftir die Theologie. und er betrachtet aus diesem Grunde nicht ihre Einzelergebnisse. »Ich meine die historische Methode rein als solche. das Problem 'Christentum und Geschichte', wobei freilich unter diesem Problem nicht die Sicherstellung des Christentums gegen einzelne historische Ergebnisse und Betrachtungsweisen, sondern die Wirkung der modernen histori· sehen Methode auf die Auffassung des Christentums überhaupt zu verstehen ist« (aaO 730). In Analogie zu diesem Verfahren soll die Bedeutung des dogmatischen Denkens selbst. nicht die einzelner dogmatischer Aussagen. für die Exegese erkundet werden. 10 Zur Unterscheidbarkeit. die auch eine Errungenschaft der Neuzeit ist. vgl Ebeling. Dog· matik und Exegese 271 f. In Anlehnung an eine These Ebelings formulien Sauter. Methoden· streit 89-92 den Unterschied zwischen Exegese und Dogmatik durch die Begriffe Auslegung und Ausführung eines Textes. 1 1 Schleiermacher. Darstellung Paragraph 97.
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dogmatischen Denkens zur Sprache. Drei davon werden herausgegriffen. Dogmatisches Denken zielt erstens auf die Lehre. Dogmatik wiederholt nicht einfach die kirchlichen Bekenntnisse und Dogmen, denen sie nachdenkt, oder die biblischen Texte, die sie interpretiert, sondern sie formuliert, was diese Bekenntnisse und Texte lehren. 12 Sie begibt sich auf eine qualitativ andere Sprachebene als der Stoff, den sie bedenkt. Denn mit der Dogmatik ist immer der Übergang ins Theoretische oder Reflexive verbunden. 13 Dogmatisches Denken impliziert zweitens die zusammenhängende Darstellung der Lehre. die sie entfaltet. Dogmatik begnügt sich nicht damit, einen chronologischen oder sachlichen Katalog einzelner Lehrstücke zusammenzustellen, sondern sie unternimmt die Anstrengung. die einzelnen Lehrstücke in ihrem sachlichen oder systematischen Zusammenhang zu begreifen. 14 Dies bedeutet beispielsweise, dass sie auch Lehrstücke, die von Hause aus oder historisch gesehen nichts miteinander zu tun haben, in einen sachlichen Zusammenhang zu bringen wagt. Das dritte Charakteristikum des dogmatischen Denkens ist schliesslich, dass es auf die Geltung seiner Ergebnisse aus ist, und zwar auf die Geltung zu einer bestimmten Zeit. Diese Aufgabenstellung verbietet es
12 Dieses bei Schleiermacher vorkommende Element der Lehre wird auch von der moder· nen Dogmatik festgehalten. »"Dogmatik' ist die Darstellung der Lehnradition für unsere ge· genwänige Lage• (Tillich, Systematische Theologie I 41 ). Sowohl Ebeling. Dogmatik 12f. als auch Tillich, Systematische Theologie 41 f bringen den Begriff der Dogmatik in Zusammenhang mit dem ursprünglichen Sinn des Wortes Dogma. welches philosophische Lehrmeinung bedeutete. Dogmatik leitet sich vermutlich her von der Bezeichnung für eine bestimmte Redeweise in der Theologie, dem modus dogmaticus loquendi (vgl Ritschl. dogmaticus 2~272). Jüngel, Geheimnis Xf spricht in diesem Zusammenhang von der ,.[)enkbarkeit Gottes«, um die sich die Dogmatik bemüht. Der Stoff des dogmatischen Denkens spricht für Jüngel die »Erfahrung der Denkwürdigkeit Gottes« aus. während der Dogmatik die Aufgabe zufallt. »aus der Erfahrung der Denkwürdigkeit Gottes dessen Denkbarkeil freizulegen«. 1 ' Diesen Übergang hat auch die Definition von E.Herms im Blick: »Dogmatik ist die begriffliche Entfaltung des Glaubens hinsichtlich seines spezifischen (... ) ontologischen oder kategorialen Gehaltes und damit selbst jeweils eine spezifische ( ... ) explizite Gestalt der im Glauben selbst implizienen Ontologie oder Kategorienlehre« (Beitrag 285. ganzes Zitat kursiv). Deshalb gilt: »Etwas von Gedankendichtung wird Dogmatik immer an sich haben - " (Mildenberger. Theorie 120). 14 Brunner. Dogmatik I 89 spricht von der »Klarheit der Begriffe« und der »Durchsichtigkeit und Umfassendheil der Zusammenhänge•. welche von der Dogmatik anzustreben sind. Zu vergleichen sind auch Lessing. Dogmatik 358. der von der .. :usamm~nhänR~nd~n BnrachtunRsw~is~· des christlichen Glaubens spricht. und Ebeling. Dogmatik II: »Aufgabe theologischer Dogmatik ist die systematisch verfahrende Rechenschaft über den christlichen Glauben.•
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Exegese und Dogmatik
der Dogmatik, bei der blossen Beschreibung oder philologischen Repetition dogmatischer Lehrstücke anderer Zeiten stehen zu bleiben, so sehr auch dies zur Aufgabe - wenigstens der anständigen - Dogmatik gehört. Sie wird vielmehr dazu gezwungen, Rechenschaft abzulegen über das Gültige. Dies gibt der Dogmatik einen Zug unübersehbarer Zeitlichkeit. Die Dogmatik kann sich nicht damit begnügen, zu beschreiben, was andere als Wahrheit betrachtet haben mögen, sie muss sich - im Blick auf ihre eigene Zeit - vielmehr selbst der Wahrheitsfrage stellen.'s In Anlehnung an Schleichermachers Definition und in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Bestimmungen kamen drei Merkmale des dogmatischen Denkens zum Vorschein: die Konzentration auf die Lehre, die Aufgabe systematischer Darstellung, und das Moment der Geltung. An diese drei Merkmale werden wir uns im Folgenden halten, um die Bedeutung der dogmatischen Methode rein als solcher (und abgesehen von einzelnen Dogmatiken) für die exegetische Arbeit zu erkunden. Bekanntlich öffnet sich bei allen drei Merkmalen neben dem festen Grund des vernünftigen Gebrauchs auch der tiefe Abgrund des Missbrauchs von Lehre, Systematik und Geltungsanspruch. Doch selbst am Abgrund kann die Exegese von der Dogmatik profitieren. Deshalb sollen jeweils beide Aspekte eines Merkmals, sowohl seine positive als auch seine negative Seite, hinsichtlich dessen betrachtet werden, was sie die Exegese lehren. 1.1 Die Konzentration auf die Lehre Die dogmatische Methode als solche ist am Theoretischen interessiert, und insofern führt sie in gewisser Weise immer von besonderen zu allgemeinen Aussagen. Sie denkt dem Einzelphänomen (etwa einem Bekenntnissatz oder einer Schriftstelle) so lange nach, bis sie sich der
1 ~ »ln der Dogmatik kommt die Wahrheitsfrage unmittelbar auf uns zu. Hier können wir nicht mehr die Geschichte für uns antworten lassen, sondern wir müssen selbst antworten« (Trillhaas, Dogmatik I). Der Dogmatik eignet eine innere Spannung: »von Überlieferung und gegenwärtiger Verantwortung, von Lehre und Lebensvollzug, von kirchlichem Konsens und Überzeugung des Einzelnen. von Gewissheit und kritischer Wachsamkeit« (Ebeling. Dogmatik 13). Während Schleiennacher, Darstellung. Paragraph 97, von der Geltung zu einer bestimmten Zeit in der Kirche oder in bestimmten Kirchenparteien spricht, setzt Jüngel den Geltungsbereich des dogmatischen Denkens ungleich viel weiter an: »Das Denken geht hier seinen Weg sozusagen von innen nach aussen. von der spezifisch christlichen Glaubenserfahrung zu einem universale Geltung beanspruchenden Gottesbegriff• (Geheimnis X).
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allgemeinen Konsequenzen und Implikationen bewusst geworden ist. 16 Mit dem ihr eigenen Zug zur Reflexivität lotet sie die Dinge aus, welche im Vordergrund der Glaubenswelt angesiedelt sind. Doch neben diesem festen Grund der Konzentration auf das, was das Einzelphänomen lehn, tut sich der Abgrund des Theoretisierens auf, der Abgrund einer Glaubenslehre etwa, die vom Glauben selbst nichts lernt, sondern sich an dessen Stelle setzt. Von beidem, der Reflexivität der Dogmatik und ihrem Hang zum eigenständigen theoretischen Beschluss, kann die Exegese lernen. Nicht selten herrscht in der Exegese eine gelehrte Gedankenlosigkeit. Ihre Gelehrtheit besteht darin, dass man über die philologischen Details, die traditionsgeschichtliche Situation, die Absichten des ursprünglichen Autors und die religionsgeschichtlichen (vermeintlichen oder wirklichen) Parallelen eines Textes genauestens im Bild ist. Die Gedankenlosigkeit besteht darin, dass einen dieses Wissen nicht dazu anhält, zu bedenken, was der Text lehn. Nicht dass die Gedankenlosigkeit damit überwunden werden könnte, dass man den Exegeten - wie noch um 1960 K.Rahner dies tat - die Aufgabe zuweist, die dogmatischen Lehren in der Schrift wiederzufinden oder, falls dies nicht möglich ist, wenigstens nachzuweisen, dass sie implizit darin enthalten sind. 11 Wohl aber kann es für die Exegese instruktiv sein mitanzusehen, in welchem Ausmass sich die dogmatische Arbeit auf neutestamentliche Texte einlässt.18 Wer beispielsweise einen Blick auf die Geschichte wirft, die der Satz von der Fleischwerdung des Wortes (Joh 1,14a) in der Dogmatik gehabt hat, bekommt eine Ahnung davon, was es heisst, das Gewicht dieses Satzes wahrzunehmen. Und mit einem Schlage wird klar, inwiefern die Gelehrtheit der Exegese zugleich ihre Gedankenlosigkeit ausmacht. Das Wissen, das in der Exegese angehäuft wird, bezieht sich in aller Regel auf das, was man die Produktionsbedingungen eines Textes 16 Vgl Mosten. Menschwerdung I: •In einer dogmatischen Frage gehl es darum. mil Hilfe der Schrift, der Tradition und der Spekulation ein Dubium zu klären.« 17 So Rahner. EÄegese und Dogmatik 30f: »Wenn ein durch das spätere Lehrami als geoffenban erkläner SalZ in den ersten Jahrhundenen von den Kirchenvätern in den uns noch zugänglichen Schriften nicht eÄplizil gelehn wird(.) und es historisch klargemacht werden kann. dass er damals auch nicht 'mündlich' eÄplizil vorge-/tragen worden isl ( ... ). dann muss der betreffende Satz implizit in der Lehre der Schrift enthalten sein.« In der aus diesem Satz folgenden Beweisfl.ihrung haben die hegelen die Aufgabe. den Boden des dogmatischen Beweises zu bereiten. 11 Im Anschluss an Jüngel und Banh versteht Trowitzsch. Gon 16-20 ein massgeblich an biblischen TeÄlen oriemienes dogmalisch-lheologisches Denken als »konsequente EÄegese«.
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nennen könnte. Und es ist der Sog dieses Wissens, der den Exegeten immer tiefer in die Erforschung der Produktionsbedingungen zieht. Und dieser Sog hält ihn davon ab, das Gewicht der Texte selbst wahrzunehmen, ihre Sache, 19 oder eben das, was sie lehren.2o Die dogmatische Konzentration auf das, was Einzelphänomene lehren, macht die Exegese aufmerksam auf die spezifische Gestalt ihrer Gedankenlosigkeit: sie hat die Gestalt eines ungeheuren Wissens um die historischen Bedingungen, unter denen ein bestimmter Text zustandegekommen ist. Zunächst mag dies als eine Problematik erscheinen, die bloss durch die Unterscheidung zwischen historischer und theologischer Wissenschaft bedingt ist, ganz so, als ob dem Historiker im Unterschied zum Theologen verboten wäre, etwas anderes als historische Einordnungen vorzunehmen. Das dogmatische Denken rein als solches bringt das Ausmass der Verharmlosung zum Vorschein, welche durch die Beschränkung auf die Produktionsbedingungen neutestamentlicher Texte entsteht. Und da der Exeget als Theologe nicht anders denken kann, als er als Historiker denken muss, führt die Einsicht in die genannte Verharmlosung zu einer Kritik auch an der Beschränkung der historischen Wahmehmung auf die historische Einordnung. 21 Jedenfalls die Exegese des Neuen Testaments zieht aus dem dogmatischen Denken als solchem die Lehre. dass der Schritt von den Produktionsbedingungen zur Sache des Textes unbedingt getan werden muss. Wichtig an der Konzentration auf die Lehre ist ferner das Moment der Reflexivität. Die dogmatische Methode verlangt, dass einem Ge19 Dazu Buhmann. Problem 211-235, bes 222-227 wo die (historistische) Frage nach den Entstehungsbedingungen durch die verstehende Frage nach der Sache eines Textes überwunden wird. 2o Jn einem postum herausgegebenen Vonragsmanuskript unterscheidet Buhmann die Philosophie von der Theologie dadurch, dass in der ersteren die Wissenschaft mit der Lehre identisch ist. während die »Theologie 'lehn'. was das Neue Testament 'lehn'«: Buhmann fasst diesen Vorgang exegetisch unter den Begriff der »Übersetzung« (Buhmann. Theologie als Wissenschaft 460). 2 1 Hengel. Geschichtsschreibung 108 unterscheidetzwischen »historischem Faktenwissen«, das noch nicht »Verstehen« ist, und •Verstehen«, das »identisch ist mit dem Erfassen der lntenti<"l eines Autors eines Textes«. Hier muss freilich die Frage gestellt werden. ob der Regress auf dtc Intention eines Autors tatsächlich historisches Verstehen ausmacht. oder ob nicht gerade der Abstand des Historikers zum Autor einen produktiven Beitrag zum Verstehen darstellt Der Anspruch. wir könnten die Intentionen eines Autors besser verstehen als dieser selbst. ist allerdings fragwürdig (mit Hengel. ebd). Die These. wir könnten aus dem Abstand die Sache. von der ein Autor spricht. besser verstehen als dieser selbst, scheint mir zumindest erwägenswen zu sein.
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danken oder einem Satz bis zu den letzten Konsequenzen nachgedacht wird. Die Exegese dagegen bleibt häufig bei der blossen Registrierung von Gedanken stehen. Nicht dass die Notwendigkeit historischer Inventarisierung bestritten werden soll. Aber bei der unreflektierten Registrierung von Sätzen oder Gedanken geschieht es häufig, dass die Gedankenlosigkeit der Gegenwart auch vergangeneo Phänomenen stillschweigend unterstellt wird.22 Als Beispiel mag das Zeitverständnis dienen. Der markinische Satz »fmtnv 1i fbcnl.Eia 'tOÜ &oo« (Mk 1,15) heisst wörtlich übersetzt: »die Gottesherrschaft ist in die Nähe gekommen (und ist jetzt nahe 23 )«. Von einer erdrückenden Mehrheit von Exegeten wird er jedoch in dem Sinne ausgelegt, dass die Gottesherrschaft jetzt dann kommen werde 24 • Die Näherung der Gottesherrschaft wird eingeordnet in einen unreflektierten linearen Zeitbegriff, und dabei verwandelt sich ihre Nähe zur Gegenwart unversehens in faktische Abwesenheit. In diesem Zusammenhang hilft die dogmatische Reflexion zunächst insofern, als sie Konturen und Problematik des gegenwärtigen linearen Zeitverständnisses herausarbeitet. Diese können den exegetischen Sinn schärfen für die Wahrnehmung fremder Aussagen zur Qualität der Zeit. 25 Der markinische Satz wird dann nicht mehr einfach mit einem banalen Zeitverständnis unterlegt, um dann erst noch als Beleg für dieselbe Banalität verwendet zu werden. Der markinische Satz wird insofern ernster genommen, als unter Aufbietung der ge-
22 Hengel, Geschichtsschreibung 107 spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von der »auf einen 'dogmatischen' Positivismus reduzienen 'historisch-kritischen Methode'«, deren Grenzen und Konsequenzen zu wenig bedacht worden sind. Auch Rahner. Exegese und Dogmatik 31 f weist auf die Folgen einer dogmatisch unreflektienen Exegese hin. Viele exegetischen Sachverhalte könnten klarer dargestellt werden. wenn der Exeget das Reflexionsniveau der dogmatischen Tradition hälle. l' Zu beachten ist insbesondere das Perfekt, welches eine Handlung der Vergangenheit hinsichtlich ihrer Folgen für die Gegenwan in den Blick nimmt. 1' Mit obligatem Verweis auf die sogenannte Naherwanung der Urchristenheit beziehungsweise Jesu. vgl Gnilka. Markus I 66f. Mit der These, hier seien Zukunft und Gegenwan in eine spannungsvolle Verbindung getreten, schlichtet Gnilka zwar den Streit der Ausleger. ob die Gouesherrschaft in naher Zukunft komme oder schon gegenwänig sei. aber er löst das Problem nur scheinbar, weil er das unterliegende. unreflektiene lineare Zeitverständnis nicht reflektien. H Sauter. Methodenstreit 89 sieht hier eine Aufgabe der Systematischen Theologie gegenüber der Exegese: •Im Zusammenhang damit (sc der Formulierung allgemeiner, philosophisch garantiener Kategorien und Themen) soll der systematische Theologe über die Kategorien der Exegeten wachen und deren systematisierende Voraussetzung aufdecken ... Unklar ist hier freilich. was Sauter genau mit »systematisierend« meint. Nicht schon die Systematik der Exegesen überhaupt ist aufzudecken. sondern erst ihre verfehlte.
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samten Reflexivität der Versuch gemacht wird, die in ihm festgestellte Nähe der Gottesherrschaft so zu verstehen, dass sie nicht nur als mehr oder weniger grosser Abstand auf der Zeitgeraden zur Gegenwart erscheint. Vielmehr kann die Gottesherrschaft als eine die gegenwärtige Zeit qualifizierende Zukunft erkennbar werden, die nicht näher kommen muss als eben in die Nähe. 26 Die dogmatische Reflexivität hilft ferner insofern, als sie die Exegese ermutigt, die von ihr bearbeiteten Sätze auch beim Wort zu nehmen. Es muss gewagt werden, auch einzelne historische Phänomene oder Sätze zu bedenken auf ihre Konsequenzen hinsichtlich solcher Dinge wie das Zeitverständnis. Daraus ergibt sich eine nachdenkliche Exegese, eine Exegese, die ihren Stoff nicht bloss inventarisiert, sondern ihm nachdenkt, auch hinsichtlich seiner theologischen, anthropologischen, ontologischen Implikationen. Die Reflektiertheil der Dogmatik fordert und ermöglicht die Nachdenklichkeil der Exegese. Es steht zu vermuten, dass jede Lehre in der Gefahr ist, sich selbständig zu machen. Auch an der Dogmatik lässt sich beobachten, dass ihre Lehre plötzlich auf eigene Füsse zu stehen kommt und dann nicht mehr mitsagt, auf welchen materiellen Grundlagen sie ruht. Die Lehre von der Inkarnation beispielsweise lebt von ihrem Bezug auf das Einzelphänomen des Inkarnierten. Wird die Lehre eigenständig, so verschweigt sie ihren Bezug auf das Gegebene und macht das Einzelphänomen zum blossen Beispiel ftir allgemeine Theorien. Es ist der Abgrund der Inkarnationslehre, den Inkarnierten selbst zu vergessen, mit der Folge, dass er dann wieder postuliert werden mussP So verliert sie 2 ~ Erst unter solchen Prämissen kann auch respeklien werden. dass im selben Sall perfekrisch von der Erfllllung der entscheidenden Zeit gesprochen wird (lliiJWpD'IIIl () ICIII!pO(ö. Zum Zeitproblem vgl Jüngel. Paulus 174-197: zum Ganzen vgl Weder. »Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gones« <Mk I. 14). in: Luz/Weder. Mine 399-411; ds.A.45ff. 27 Mosten. Menschwerdung 22f weist auf die Denkfigur des »Motivs« hin. welche in der Inkarnationslehre eine Weise der Verabschiedung des Inkamienen darstellt »Enlsland das genuin christliche Bekenntnis zu Jesus aus der Erfahrung. da'is menschliches Dasein 'eJtlra se· besieht. und war die Möglichkeil der Verifikation dieses Bekenntnisses an diese Erfahrung gebunden. so wird nun. da man nach den Motiven der Menschwerdung fragt. der Bekenntnisinhah als das denkerisch. wissenschaftlich. ideologisch Bekannte vorausgesetzt und ersl nachträglich sein anthropologischer Bezug geklän.« Daraus folgt. dass das Denken an die Stelle der Erfahrung Irin. dass es insofern in der Weise der Rekonslrukrion des Christus diesen genau vernichtet >>In dem zum Theorem gewordenen SalZ: 'Gon isr Mensch geworden' gewinne 'ich' meine Gewissheil gerade nicht mehr aus Gon. also eJtlra me. sondern in meinem eigenen Denken. in der Rationalisierung der Erfahrung.• Einen historischen Einzelfall der Theorelisierung bespricht Mosten. aaO 12f Anm 12.
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ihre Lebensgrundlage und wird zum theoretischen Beschluss, dessen Lebensfähigkeit sich nur noch nach der Durchsetzungskraft seiner Inhaber richtet. Die Exegese ist per definitionem auf das historische Einzelphänomen bezogen. Doch der Sog der Theoretisierung bedroht sie nicht weniger als die Dogmatik. Dies ist zunächst als Sprachproblem virulent. Wie kann exegetisch so über einen Text geredet werden, dass dieser in der Besprechung nicht rückgängig gemacht wird? Wie kann über einen Text, der den gnädigen Gott zum Ereignis macht, so geredet werden. dass nicht unversehens aus dem Gnadenerweis Gottes eine Theorie über seine Gnädigkeil wird? Wie kann über einen Text, der die Gestalt einer Liebeserklärung hat, so geredet werden, dass aus der Liebeserklärung nicht plötzlich ein Traktat über die Liebe wird? Auf das Theoretische kann gewiss nicht verzichtet werden, etwa so, dass Exegese zur blossen Nacherzählung wird. 28 Aber es gäbe Sprachformen der Umschreibung, die den konkreten Text in den Mittelpunkt des Interesses stellen, statt ihn durch eine Theorie zu ersetzen. 29 Die Theorie hat insofern einen nihilistischen Zug an sich, als sie zwar die Bedingungen beschreibt, unter denen die Dinge stattfinden oder wirklich werden könnten, dass sie aber genau durch diese Beschreibung der Bedingungen von der wirklichen Gestalt der Dinge abstrahiert.J 0 Die
lK Die von Jüngel. Freiheit 30 (These 1.3) getroffene Unterscheidung von »Ereignis der Rechtfenigung .. und »Rechtfenigungslehre«. welche analog der Unterscheidung von »Freiheit der christlichen Existenz« und »Freiheit der Theologie« ist. macht aufmerksam auf die notwendige Sprachdifferenz zwischen Exegese und Text. Dennoch lässt sich in der exegetischen Literatur beobachten. dass manche Transformationen vom Charakter .. Rechtfenigungslehre« das Ereignis der Rechtfenigung nicht zur Sprache bringen. sondern verflüchtigen. 2'1 Besonders virulent wird dieses Sprachproblem etwa in der Gleichnisexegese. wo der Interpret versuchen muss. die Sprachgestalt des Metaphorischen auch in der Reflexion zu wilrdigen. Ricoeur. Stellung 49 plädien dafilr. dass die Unübersetzbarkeit der Metapher durch die Umschreibung gewilrdigt wird. »Dass sie (sc die Metaphern) unübersetzbar sind. heisst nicht. dass man sie nicht umschreiben kann: aber die Umschreibung ist unendlich und erschöpft die Neueinfilhrung von Sinn nie.« .lO Fuchs. Marburger Hermeneutik 15-23 zeigt diese Problematik am Beispiel des Feuers. »Die Theorie erklärt die 'Wirklichkeit'. in welcher sich das Feuer unterbringen lässt« (aaO 17). Sie abstrahien gerade vom alltäglichen Umgang mit dem Feuer. welcher ein »Verständnis« des Feuers verlangt. das auf Erfahrungen beruht. »Ausschlaggebend sind die Erfahrungen. die beim Ereignis unmittelbar gemacht werden« (ebd). Ob sich diese Ambivalenz auf die Tätigkeiten des »Erklärens« bzw. des »Verstehens« veneilen lassen (wie Fuchs es tut). scheint mir weiterer Klärung bedürftig zu sein. Track. Begründung 118 erinnen an den Unterschied zwischen Denkbarkeil und Denknotwendigkeit Gones: .. Der Verzicht auf den Erweis der Denknotwendigkeit Gottes bedeutet nicht notwendig den Verzicht auf den Ausweis der Denkbarkeil
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Theoretisierung der Texte ist also ihre Vernichtung. die sich die Maske der Beschäftigung mit ihnen aufsetzt. Die Dogmatik ist per definitionem der Lehre zugeneigt. und die ihr drohende Theoretisierung. die der Exeget wahrnimmt. schärft seinen selbstkritischen Blick. Der Sog der Theoretisierung wirkt sich auch darin aus. dass die Wahrheit in der Abstraktion. in der Feme vom Vordergründigen gesucht wird. Doch gerade die neutestamentlichen Texte zeigen. dass die Wahrheit im Vordergrund und nur dort erscheint. Die paulinische Theologie zum Beispiel liegt nicht zuletzt deshalb in Briefform vor. weil sie vordergründig ist. weil sie im Handgemenge des Lebens entstanden ist und dort ihre Tragfähigkeit hat. An vordergründigen Phänomenen entdeckt Paulus tiefgreifende Zusammenhänge. sein Denken ist gezeichnet von der Leidenschaft ftir das Einzelne. Nicht selten dient die exegetische Erkenntnis polemischer Entstehungsbedingungen dazu. das Gewicht paulinischer Aussagen zu verflüchtigen. Doch die Tatsache. dass Paulus sein Rechtfertigungsthema fast ausschliesslich in polemischen Zusammenhängen entfaltet. ändert an der Sachlichkeit seiner Erkenntnis nichts. Im Gegenteil. jede exegetische Bearbeitung. die das Rechtfertigungsthema in eine Rechtfertigungstheorie verwandelt (etwa im Sinne einer anthropologischen Axiomatik. die Grundlage zu ethischen und dogmatischen Konstruktionen wird). verliert die Lebensgrundlage der Rechtfertigung aus dem Blick. Ein theoretischer Beschluss über den gerechtfertigten Menschen (oder gar über den rechtfertigenden Gott) verliert seine Evidenz genauso wie eine Theorie über das Sündersein des Menschen. Dieser Evidenzverlust ist meines Erachtens dadurch bedingt. dass sich die Theorie der Rechtfertigung losgelöst hat von der Erfahrung der Kreativität. der sich Rechtfertigung verdankt. 11 Keine Lehre hat die Vollmacht. das Gegebene zu erschaffen. Gottes.« Dem ist die Vermutung beizufügen. dass im Gegenteil die Denknotwendigkeit Gottes dessen Denkbarkeil erheblich gefahrdet. 11 Buhmann. Theologie als Wissenschaft 461 wehn die Transformation in Lehre mit dem folgenden Grundsatz ab: »Schriftsätze können nicht als Lehrgesetz übernommen werden; denn Gottes Offenbarung bedeutet nicht seine Offenbanheit. ... und so spricht sich der Glaube des Neuen Testaments nicht einfach in dogmatischen Sätzen aus. sondern diese selbst sind nur Ausdruck der glaubenden E"istenz in ihrer jeweiligen Situation ... Ob der Rückgang auf die glaubende E"istenz reicht. um das Phänomen des Theoretischen einzudämmen. kann bezweifelt werden. Denkbar wäre immerhin. dass die eltistentialontologische Theorie den Bezug auf die konkrete glaubende E"istenz ersetzen könnte. Demgegenüber muss darauf geachtet werden. dass die »glaubende E"istenz« streng hinsichtlich der Erfahrungen. die sie konstituieren. zur Sprache kommt. In der Christologie wird der Erfahrungsbezug festgehalten durch den
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wohl aber hat sie die Aufgabe, das Gegebene nachdenkend und kritisch zu würdigen. Dies lehrt gerade die Dogmatik selbst dort noch, wo sie zur eigenständigen Lehre fortschreitet, und sie lehrt insbesondere die neutestamentliche Theologie, auf den Zusammenhang mit den Erfahrungen, denen sie sich verdankt, sorgfältig zu achten. Andernfalls tritt das Denken an die Stelle der Wahrnehmung, und dabei wird gerade das Evangelium aufgezehrt von dem Gesetz. das jedes Denken beherrscht.32 1.2 Die Aufgabe systematischer Darstellung Zum Geschäft dogmatischer Theologie gehört es, Lehrstücke in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen. Damit respektiert die Dogmatik die Ganzheit und Einheit der Wirklichkeit, wie sie auch in vorwissenschaftliehen Ganzheitsbegriffen wie Welt, Gott oder Mensch zum Ausdruck gebracht wird. In einen Zusammenhang gebracht geben einzelne Einsichten auch Spannungen und sogar Widersprüche zu anderen Lehrstücken zu erkennen. Deshalb ist die systematische Darstellung notwendig ein kritisches Prinzip; gerade sie nötigt zum sachkritischen Urteil, welches der wissenschaftlich angemessene Umgang mit den genannten Spannungen und Widersprüchen ist, es sei denn, es lasse sich zeigen, dass ein bestimmter Widerspruch sachnotwendig ist. Doch auch hier tut sich bekanntlich ein Abgrund auf: die systematische Darstellung kann leicht umschlagen in den Systemzwang, wo das Denken nichts mehr zur Darstellung bringt ausser sich selbst. Es entsteht eine Dogmatik, in welcher nicht mehr die Einsicht ins Einzelne tragend ist, sondern der Zusammenhang. Statt einer Dogmatik mit innerer Konsistenz begegnet der Leser nun einer Dogmatik ohne Überraschungen. Lehrreich für die Exegese ist wiederum beides, die Systematik, die zur Wahrnehmung des Ganzen führt, und der Systemzwang, der zur Aufhebung des Denkstoffes zugunsten des Denkens verführt. Die syhistorischen Jesus: »Ihr (sc der Christologie) Rückbezug auf den historischen Jesus als den Christus entspricht der Unmillelbarkeit und auf nichts reduziblen Individualität des menschlichen Gouesverhähnisses« (Mosten. Menschwerdung 27). ' 2 Die Gesetzlichkeit des Dcnkens besteht genau darin. dass es von der Wirksamkeit Goues abstrahien. um die Möglichkeit seines Wirkens zu gewinnen. Daraus entsteht für den Menschen die Notwendigkeit. Goues Möglichkeit durch Werke in die Wirklichkeit zu bringen. Deshalb unterläuft nach Paulus die Glaubensgerechtigkeit gerade die Feme des Christus (Röm 10.6--8). Die denkerische Bewältigung des an Christus Erfahrenen hat zur Folge. dass dieser wieder in den Himmel hinauf versetzt wird. von wo er heruntergeholt werden muss. Genau dasselbe Gouesverständnis implizien auch das Gesetz. insofern als es nicht auf die durch Christus verwirklichte Nähe Goues abstellen will.
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stematische Anstrengung des dogmatischen Denkens erinnert die Exegese daran, ihre Ergebnisse im Zusammenhang des ganzen Christuszeugnisses des Neuen Testaments zu reflektieren. Aus dem exegetischen Ergebnis, dass Jesus Christus das Gesamtthema des Neuen Testaments ist,JJ muss der Schluss gezogen werden, dass Christus die Einheit des Neuen Testaments ausmacht. Zwar ist es methodisch geboten, bei der Betrachtung der Texte zunächst von dieser Einheit abzusehen. Aber es wäre verkehrt, wenn dies die Exegese dazu führte, einfach verschiedene kerygmatische Entwürfe des Urchristentums nebeneinanderzustellen, ohne auf ihren Zusammenhang mit dem Ganzen, mit Christus, zu achten. Beim Bedenken solchen Zusammenhangs registriert der Exeget sowohl Konvergenzen als auch Divergenzen.J 4 Das Nachdenken über die theologische Bedeutung solcher Konvergenzen und Divergenzen gehört genauso zum Geschäft der Exegese, wie die Reflexion auf die Einheit des Theologischen zur Dogmatik gehört. Deshalb sollte ein solches Nachdenken nicht mehr länger mit dem Vorwurf systematischer Überfremdung der Exegese geächtet werden. 35 Bei der neutestamentlichen Exegese besteht die Gefahr weniger, dass es zur geschichtsphilosophischen oder ontologischen Konstruktion des Zusammenhangs kommt. Denn die Exegese ist mit einem ihrer Arbeit schon vorgegebenen Zusammenhang konfrontiert, dem Kanon. Statt einen Zusammenhang zu konstruieren, hat die Exegese dadurch Gelegenheit, auf den schon entstandenen Zusammenhang des Kanons zu reflektieren.J6 Dies fuhrt keineswegs notwendig zur unkritischen Unter-·
1 ·1 Luz. Einheit und Vielfalt 146-157 rekurriert auf den historischen Jesus. der sowohl die Vielfalt der neutestamentlichen Christuszeugnisse ermöglicht als auch ihre Vielfalt begrenzt. Dieser Versuch. den Zusammenhang der neutestamentlichen Texte zu denken. muss verglichen werden mit jenem der kritischen Wahrnehmung des Kanons. H Luz. Einheit und Vielfalt 142-144 stellt die Zersplitterung und Divergenzen sehr stark in den Vordergrund. H Mit Hahn, Exegese 26f. Es muss insbesondere den Konvergenzen eine grössere Aufmerksamkeit geschenkt werden, ohne dass dies zur Nivellierung führen soll. Wer die Exegese der Neuzeit betrachtet, kann ihren Zwang zur Divergenz wohl nicht übersehen. Dies mag damit zusammenhängen. dass am Ursprung der neuzeitlichen historischen Kritik das Thema der Widerspüche in der Schrift den emanzipatorischen Interessen der Exegese und Theologie entgegenkam. 16 »Die fLir die evangelische Theologie stets so wesentliche Bedeutung der Heiligen Schrift als norma normans besteht nicht primär in ihren Einzelthemen, wohl aber in ihrer richtungsweisenden Gesamtintention• (Hahn. Exegese 32. vgl 33). Bis zu einem gewissen Grade kann die Einheit aus der »Konvergenz der Einzelthemen• rekonstruiert werden. Zunächst jedoch gilt es. die durch den Kanon angedeutete Konvergenz zu reflektieren.
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werfung unter die Kanonsentscheidung der Alten Kirche. Denn es gilt ja, den durch den Kanon geschaffenen Zusammenhang theologischer Entwürfe kritisch zu würdigen. Kritisch in dem Sinne, dass auch der Zusammenhang immer wieder problematisiert wird. Die Problematisierung des Kanons ist etwas prinzipiell anderes als die methodische Aufhebung desselben. Denn die methodische Aufhebung des Kanons führt - wie gerade die Bemühungen im zwanzigsten Jahrhundert belegen3 7 unausweichlich zum Zwang, den aufgelösten Kanon zu rekonstruieren. Und diese Rekonstruktion ist bisher nicht gelungen, weil es nicht in der Macht des Denkens liegt, das Gegebene zu rekonstruieren. 38 Wer dieser Grenzen eingedenk ist, wird an die Stelle der Rekonstruktion des zuvor methodisch aufgelösten Kanons dessen kritische Wahrnehmung setzen. Zur kritischen W ahmehmung des Kanons gehört es, die Spannungen und Widersprüche in aller Klarheit herauszuarbeiten, die unter den hier versammelten Schriften festzustellen sind. Genau diese Widersprüche sind es, welche den Exegeten zu sachkritischen Entscheidungen herausfordern. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Der Spitzensatz der johanneischen Theologie lautet: ö '6€~ dyam"' tcmv ( IJoh 4,8). 39 Die Apokalypse dagegen stellt sich das endgültige Kommen Christi vor als das Kommen eines Reiters auf einem weissen Pferd, dessen Mantel rot ist vom Blut seiner getöteten Feinde und aus dessen Mund ein scharfes Schwert hervorgeht, womit er alle Völker schlägt (Apk 19,11-
n Käsemann. Das Neue Testament versammelt eine Reihe von Aufsätzen, welche die Problematik des methodisch aufgehobenen Kanons klar vor Augen fUhren. Auf diesem Hintergrund ist auch Käsemanns eigene These einsichtig. wonach der neutestamentliche Kanon gerade nicht die Einheit der Kirche. sondern ihre konfessionelle Spaltung begründe (Käsemann. Einheit der Kirche 221 ). Sofern freilich der Kanon »Evangelium ist und wird«, »begründet dann auch er Einheit der Kirche« (aaO 223). JK Dies hat nicht bloss damit zu tun. dass die Exegese historisch arbeitet (gegen Käsemann. Einheit der Kirche 221 ). sondern vielmehr damit. dass dem Denken das Gewordene nicht mehr erschwinglich ist, wenn es einmal rückgängig gemacht worden ist. 311 ln gewisser Weise kann dieser Satz begriffen werden als die reife Frucht johanneischer Christologie. Auf der vorjohanneischen Stufe wurde (etwa in der Sendungsformel Joh 3.16) der Kreuzestod Jesu als Tat der Liebe Gones interpretien. Auf der Stufe des Johannesevangeliums wurde Christus zum Gott in Person (vgl besonders 20.28. das Bekenntnis des Thomas. nachdem er die Wunden gesehen hatte: b ~ ~ m\ b tue; ~). dh Christus wird ganz theologisch wahrgenommen. Diese Entwicklung setzt sich in den Johannesbriefen insofern fon. als hier die Christus zugeschriebenen Eigenschaften wieder zu Eigenschaften Gottes werden (vgl etwa das~ in IJoh 1.5 mit Joh 8,12: t,.i &it&t 110 .-D«ö 1DÜ ICiJat&ou). Damit ist aus dem theologischen Verständnis des Christus ein christologisches Verständnis Gottes geworden. Auf diesem Wege kommt es zum Spitzensatz der johanneischen Theologie.
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16). Durch d.en Kanon ist gegeben, dass beide Aussagen in einem Zusammenhang stehen. Und genau dieser Zusammenhang fordert eine sachbezogene Exegese heraus, kritisch zu fragen, welcher Aussage Wahrheit zukommt. Da der Liebe in der johanneischen Theologie ausschliesslich das Rettende zugeschrieben wird (Joh 3,16-18),40 und da der endzeitliche Christus in der Apokalypse eindeutig das Werk der Vernichtung vollbringt, können nicht beide Sätze zugleich wahr sein. Die Liebe kann nicht vernichten, da sie ausschliesslich kreativ ist. Also kann kein VernichteT im Namen des christologisch wahrgenommenen Gottes kommen. Diese sachkritische Frage braucht jetzt nicht beantwortet zu werden. Es ging vielmehr darum zu zeigen, dass gerade der Kanon eine Sachkritik ermöglicht, welche die Wahrheitsfrage an die Sache selbst stellt,41 und nicht bloss zum Anwalt moderner Bedürfnisse gegenüber biblischen Texten wird. Die Exegese lernt von der Dogmatik, den wahrgenommenen Zusammenhang des Kanons kritisch zu verantworten, statt bei der blossen Registrierung von Divergenzen stehen zu bleiben. Lehrreich für die Exegese ist jedoch auch das, was oben Systemzwang genannt wurde. Der Systemzwang, der zu einer Dogmatik ohne Überraschungen führt und in welchem der Zusammenhang zum scheinbar Tragenden und wirklich Beherrschenden wird, macht die Exegese aufmerksam auf den ihr eigenen Systemzwang. Obwohl Troeltsch vehement Stellung nahm für das historische Denken in der Theologie, sah er keinen unmittelbar theologischen Sinn in der historischen Wahrnehmung. Denn diese führt zur völligen Relativierung aller historischen Phänomene.42 Auf Relatives jedoch mochte Troeltsch keine Theologie
40 Diese bemerkenswene Asymmetrie zugunsten der Reuung ist charakteristisch für die johanneische Theologie. Sie verdankt sich der Einsicht in die soleriologische Qualität des Christus. die es verbietet. ihn zugleich als den Verniehier anzunehmen. Die Soteriologie wird ganz aus der Reuung gedacht. Deshalb wird das künftige Gericht so in die Gegenwan hereingezogen. dass nun die menschliche Ablehnung nicht mehr das Gericht nach sich ziehl. sondern selbst Gericht ist. ln dieser Asymmetrie spiegeh sich der elementare Sachverhah wider. dass der Mensch sich das Leben nicht geben. sondern nur nehmen kann. 41 Schon Buhmann. Theologie als Wissenschaft 462 weist auf das wesentlich sachkritische Moment der neutestamentlichen Theologie hin. das seiner Meinung nach darin besteht. die neutestamentlichen Formulierungen an der Sache zu messen. die sie zur Sprache bringen. Zum Zusammenhang von Sachkritik und Kanon vgl Stuhlmacher. Verstehen 2 1986 248-250. 42 Troehsch. Über historische und dogmatische Methode 737: Die historische Methode »relativien Alles und Jedes. nicht in dem Sinne. dass damit jeder Wenmassstab ausgeschlossen und ein nihilistischer Skeptizismus das Endergebnis sein müsste. aber in dem Sinne. dass jeder
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bauen.H Seine Lösung bestand in der »religionsgeschichtlichen Theologie«, einer Theologie, die nur aus dem Überblick über den Gesamtzusammenhang der Religionsgeschichte zu entwerfen ist. 44 Ist dies nicht eine fast deckungsgleiche Analogie zu einem dogmatischen System, in welchem der Zusammenhang tragend geworden ist? Gibt es einen Standpunkt über allen Dingen, der es einem menschlichen Subjekt erlauben würde, in dieser Weise religionsgeschichtliche Theologie zu treiben? Die Exegese ist Troeltsch bekanntlich nicht gefolgt. Was jedoch nicht heisst, sie sei dem Systemzwang aus dem Weg gegangen. Vielmehr hat sich durch das historische Denken ein neuer Systemzwang eingestellt. Dieser ist keine Analogie zum dogmatischen wie bei Troeltsch, sondern nimmt sich wie ein axialsymmetrisches Gegenstück zu jenem aus. Während in der pervertierten Dogmatik der Zusammenhang herrscht, herrscht in der pervertierten Exegese der Zwang zu historischer Vereinzelung. Es kommt zur Ausblendung des Zusammenhangs, in welchem die einzelnen Schriften des Neuen Testaments faktisch stehen. Und zwar des Zusammenhangs, der vom historischen Subjekt nicht konstruiert, sondern wahrgenommen wird. Die exegetisch sachgemässe Zuwendung zum Einzelnen artet zur Fixierung auf das Einzelne aus, ganz so, als ob dieses nur in der Vereinzelung wahrhaftig erkannt werden könne. Diese Fixierung verhindert ein Nachdenken darüber, was es beispielsweise für das Gesetzesverständnis des Matthäusevangeliums bedeutet, dass es durch den Kanon in Zusammenhang mit den paulinischen Briefen gekommen ist, oder für das Johannesevangelium, dass es in Zusammenhang mit der Apokalypse kommt, oder für die Paulusbriefe, dass im selben Kanon auch der Jakobusbrief steht. Der Systemzwang historischer Vereinzelung verhindert die Einsicht, dass der Zusammenhang, in welchem das Einzelne steht, die Erkenntnis des Einzelnen bereichert und nicht verstellt. In der Exegese muss analytisch gearbeitet werden. Aber der Systemzwang historischer Vereinzelung führt allzu leicht dazu, dass die Analyse die synthetische Wahrnehmung verhindert beziehungsweise die Moment und jedes Gebilde der Geschichte nur im Zusammenhang mit anderen und schliesslich mit dem Ganzen gedacht werden kann. dass jede Bildung von Wenntassstäben deshalb nicht vom isolierten Einzelnen. sondern nur von der Überschau des Ganzen ausgehen kann•. 4 J Troeltsch. Über historische und dogmatische Methode 736: »Es wird unmöglich. ihn (sc den religiösen Glauben) auf eine einzelne Tatsache als solche aufzubauen. ···"· 44 Troeltsch. Über historische und dogmatische Methode 738. vgl 737: »Überschau des Ganzen«.
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Sache des Textes verschlingt. Die Herrschaft der Analyse ist geboren aus dem nihilistischen Anspruch des Denkens, aus der Zersetzung des Stoffs, auf den das Denken um seiner selbst willen angewiesen ist. Der nihilistische Zug bleibt sich gleich, sei die Analyse nun historisch, soziologisch, feministisch oder fundamentalistisch gesteuert. Dies wird im Blick auf die Soteriologie bedeutsam und wirft noch einmal ein neues Licht auf den Systemzwang der Dogmatik. Es ist wohl nicht unvernünftig zu sagen, der Systemzwang der Dogmatik sei ein Indiz dafür, dass das Denken sich soleriologisches Vermögen zuschreibt.45 Diesem synthetistischen Zug des dogmatischen Denkens steht die Fixiertheit der Exegese auf die Analyse wiederum axialsymmetrisch gegenüber. Denn exegetisch wird das Rettende ins vereinzelte Material gebannt, das seiner Bedeutungsdimension verlustig gegangen ist. Der Zwang zum tragenden System, der sich dem soleriologischen Anspruch des Denkens verdankt, und der Zwang zur Analyse, der sich dem nihilistischen Zug des Denkens verdankt, verspielen beide das Rettende: der eine dadurch, dass er es ersetzt durch ein Denken, das in Wahrheit niemanden retten kann, der andere dadurch, dass er es im vereinzelten Material verschwinden lässt. Demgegenüber müsste die Exegese zu einer inkarnatarischen Theologie durchfinden, 46 welche nichts anderes unternimmt, als der schon wahrgenommenen &9x des Einzelnen nachzudenken. 47 Inkarnatarische Theologie veranlasst die Exegese, sich dem Einzelnen zuzuwenden, um dort die xciplc; zu entdecken, die es austeilt.
4 ~ Mosten. Sinn oder Gewissheit? 9: »Einmal scheint die Entwicklung neuzeitlichen Denkens in seinem Hauptzug weniger dadurch gekennzeichnet werden zu müssen. dass man es als Resultat des Verschwindens Gones oder des Seins versteht. sondern vielmehr dadurch. dass es die Bedingtheit des Menschen als etwas Negatives erfähn. demgegenüber es das Positive. als bejahendes Lebensgefühl. als Gewissheit. selbst erzeugen muss.« Das Denken. das sich an die Stelle seines Materials gesellt hat. erhebt soleriologische Ansprüche. gerade auch dann. wenn dieses Denken eine »Heilslehre• zu vermineln vorgibt. vgl auch 35-39. 46 Nach Buhmann. Theologie als Wissenschaft 462 ist die Inkarnation des Wones Gones Grundlage der »Christlichen Freiheit in der Gebundenheit an die Tradition•. an welcher Freiheit auch die Exegese als Wissenschaft panizipien. 47 Gerade wenn das Subjekt der Exegese streng zu unterscheiden ist vom Subjekt des Glaubens. welcher die 10Pp des Menschgewordenen wahrnimmt (vgl Joh 1.14). kann es der Exegese nur darum gehen, die wahrgenommene IOPp nachdenkend zu würdigen. Aus der Verschiedenheit der Subjekte folgt keineswegs. dass die Exegese von jener Würde Abstand zu nehmen hätte.
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1.3 Das Moment der Geltung Das dritte Charakteristikum des dogmatischen Denkens ist gegeben mit dem Moment der Geltung, und zwar näherhin der Geltung für eine bestimmte Zeit. Das dogmatische Denken vollzieht sich deshalb in enger Tuchfühlung mit dem jeweiligen Geist einer Zeit. 411 Daraus folgt, dass ihre Aussagen Verbindlichkeit beanspruchen und zugleich in einem strengen Sinne des Wortes zeitlich sind. Die Dogmatik formuliert Sätze, die sich angesichts der Wahrheitsfrage verantworten, aber dies sind keine tempusneutralen, sondern vielmehr temporale Sätze. 49 Die Zeit, in der sie gesagt werden, ist in ihnen wahrgenommen und gehört insofern zur Sache selbst, von der sie sprechen.~0 Die Tuchfühlung der Dogmatik mit dem jeweiligen Geist der Zeit bringt Versuchungen mit sich. Einerseits kann die dogmatische Wahrheit durch den Geist der Zeit so beherrscht sein, dass sie bloss diesen in theologische Sätze verkleidet wiedergibt. Dies ist ein Dogmatismus, in welchem der gegenwärtige Geist die Vergangenheit überwältigt und so zum Ungeist wird. Andererseits kann die dogmatische Wahrheit den Geist der Zeit so verdrängen, dass es zu einem Dogmatismus kommt, der die Gegenwart schlicht überwältigt. Von der dogmatischen Bezogenheil auf Geltung in einer bestimmten Zeit kann die Exegese wiederum manches lernen, sowohl was den richtigen Gebrauch als auch was den Missbrauch angeht. Die Exegese ist eingestellt auf die Erforschung der historischen Umstände, der Gestalt und der Bedeutung, die Texte ursprünglich hatten. Diese methodisch sinnvolle Konzentration auf das Vergangene hat indessen nicht selten zur Folge, dass die Interpretationsaufgabe verwechselt wird mit der historischen Beschreibung. Der Exeget beendet häufig seine Arbeit, wenn er Auskunft gegeben hat über Entstehungssituation
u Nach Schleiermacher. Der christliche Glaube. Paragraph I Ziffer 5. ist die Dogmatik mehr als die anderen Theologischen Disziplinen •in gewissem Sinn und Maass von der Weltweisheit« abhängig. Dies veranlasst Schleiermacher zur Warnung davor. dass die Dogmatik bei der ,.fortschreitung« des theologischen Studiums »vorzüglich den Ton angäbe« (aaO I 3). Auch Sauter. Methodenstreit 89 notien die Zeitbezogenheil der systematischen Theologie. 49 Zu diesem Sachverhalt vgl Weder, Kreuz 99. so Hahn, Exegese sieht darin »die entscheidende Funktion der Systematischen ... Theologie angesprochen: die derzeitigen geschichtlichen Bedingungen aufzuhellen. die entscheidenden Bezugspunkte zur christlichen Tradition herauszustellen und die fUr die eigene Zeit wesentlichen Problemfelder abzustecken und im einzelnen auszuarbeiten. innerhalb deren sich theologisches Denken und Entscheiden heute vollziehen kann« (33).
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und ursprünglichen Sinn der Texte.~ 1 In jüngster Zeit hatte dies zur Folge. dass die Auslegung aus den exegetischen Wissenschaften auszuwandern begann. etwa in die praktische Theologie, welche oft historisch nicht informiert ist, oder in die sogenannt kreativen Methoden. welche historisch gar nicht interessiert sind. Diese Auswanderung der Auslegung ist ohne Zweifel fatal, sie ist dennoch verständlich als Reaktion auf eine Exegese, die historische Beschreibung von Texten als deren Auslegung ausgibt. 52 Vom temporalen Charakter dogmatischen Denkens kann die Exegese lernen, dass eine Interpretation eines vergangenen Textes erst dann geleistet ist, wenn er zeitgernäss ausgelegt wird. Es gehört zur exegetischen lnterpretationsaufgabe, in Tuchfühlung mit dem jeweiligen Geist einer Zeit eine Auseinandersetzung mit dem auszulegenden Text herbeizuführen. Eine Exegese, die bloss noch mit der Frage historischer Archäologie und nicht mehr mit verbindlicher Vergegenwärtigung beschäftigt ist, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Die Interpretation einer Fuge von Bach wäre unakzeptabel, würde sie sich damit begnügen. die historischen Umstände und den mathematischen Bau der Fuge zu beschreiben. Das Musikstück muss gespielt werden. wenn es interpretiert werden soll. Genauso verhält es sich mit der Interpretation von Hölderlins Gedichten und von neutestamentlichen Texten.H Das bedeutet konkret, dass der Exeget die Fragen seiner eigenen Zeit an die vergangenen Texte heranträgt. dass er sie nicht bloss mit den Augen eines Menschen des ersten Jahrhunderts,
~~So die ,.formale Definitioncc, die Wilckens. Bedeutung 133 gibl: »Eine wissenschafllich verantwonbare Auslegung der Bibel ist allein diejenige Umersuchung der biblischen Texte. die unter methodisch konsequenter Anwendung der historischen Vernunft nach dem gegenwänigen Stande ihrer Kunst nachverstehend zu erkennen und zu beschreiben suchl. welchen Sinn diese Texte im Zusammenhang der urchrisllichen Überlieferungsgeschichte gehabt haben.« Schon geschichtsphilosophisch gesehen besteht allerdings ein Grundlagenproblem darin. dass die Möglichkeil des Historikers. auf die ursprünglichen Ereignisse selbst zurückzugehen. sehr fragwürdig ist (zum Problem vgl Weder. Kreuz 50-61 ). ~!Auch Hahn. Exegese 26f regislrien das Zurücktreten der Bibelorientierung in der gegenwänigen Theologie. Er bringt es in Zusammenhang mit einer Exegese. die bloss noch ,.Theologiegeschichte des Urchristentums• isl. ~· Stuhlmacher. Verstehen 2 1986 242 überwindet zwar die Beschränkung auf die historische Deskription ausdrücklich ( ·Dil' wm uns mrRt'SC"hlaRt'nl' J.:inhlid1t' Schriftausll'gung hlt'iht also nicht hl'i dt'r Bl'schrt'ihung dt's Tl'Xtl's als t'int'm historisclll'n Phännmt'n stt'hl'n, srmdt'rfl Rl'ht aus und dimt dm1 gl'gl'IIM'iirtigl'n fl:inhlichl'll/ Gt'hrauch dt'r Schrift.• ). es bleibt jedoch die Frage. ob der Horizont der Exegese mit dem •(kirchlichen) Gebrauch• der Schrift genügend weil angesetzt isl.
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sondern mit seinen eigenen Augen sehen lemt.s4 Die Fragen einer Zeit an einen vergangeneo Text herantragen ist nicht dasselbe wie die Fragen in den Text eintragen. 55 Gegenwartsbezogen exegesieren heisst nicht, einen Text mit der Modeme überwältigen. Gerade die historische Einstellung der Exegese hat den Sinn, die Fremdheit des Vergangeneo herauszuarbeiten. Dies geschieht jedoch nicht um der Fossilisierung der Texte willen, sondern im Interesse einer gegenwärtigen Begegnung mit ihnen. 56 Würde das Vergangene nicht als Fremdes gewürdigt, käme der Ausleger nie aus dem Selbstgespräch heraus. Erst im hermeneutisch verantworteten Vorgang der Begegnungs' kommt es zu einer Interpretation, die eine Verantwortung für ihre eigene Zeit übernimmt und an der theologischen Aufgabe, das Gültige aufzuspüren, partizipiert. Das dogmatische Denken als solches macht die Exegese auf diese Aufgabe aufmerksam. Zugleich unterstützt es die Exegese insofern, als es mit dem Geist einer Zeit reflektiert umgeht, worauf sich die Exegese in ihrer eigenen Verantwortung für die Zeit stützen kann.ss Weiter: Die Zeitlichkeit des dogmatischen Denkens ruft einen Sachverhalt in Erinnerung, den die Exegese in ihrer Konzentration auf historische Wahrnehmung leicht vergisst: die Relativität des Geschichtlichen. Zwar gehört es zum guten Ton der Exegeten, von der Relativität der historischen Gegenstände zu sprechen. Dies meint jedoch bloss ihre
~ 4 Schon Buhmann. Theologie als Wissenschaft 462 weist der neutestamentlichen Forschung die Aufgabe zu . ..für die Gemeinde die ReRenwärtiR sachRemässe FormulierunR des Keryl(mas zu erarbeiten«. ~~ Die Tatsache. dass die Tradition sich die Fragen noch nicht stellen konnte. die wir im Rückblick an sie stellen (so Trowitzl>ch. Gott 19). hat ein beträchtliches hermeneutisches Potential. sofern gerade solche Fragen Aspekte an der Tradition entdecken. die in der Ursprungssituation nicht entdeckt werden konnten. ~b Hahn. Exegese 28 sieht das Kernproblem der Exegese darin. »einen Text als eine uns und unserer Zeit in jedem Falle geschichtlich fremde Aussage zu interpretieren. Historisch-kritische Methode arbeitet nachdrücklich das Phänomen der zeitlichen Distanz heraus.« Im Gegensatz dazu lässt sich zeigen. dass gerade die Fremdheit herausgestellt werden muss. damit es zur Ablenkung des Adressaten von sich selbst kommt. H Dieser Vorgang der Begegnung scheint mir hermeneutisch bedeutend fruchtbarer zu sein als das mit dem Programm der »Wirkungsgeschichte« verknüpfte Postulat der »Horizontverschmelzung«, vgl Trowitzsch. Gott 18. Das Postulat der Horizontverschmelzung verlangt vom Exegeten. einzukehren in einen Horizont. den er niemals haben kann. Die Unerreichbarkeil jenes Horizonts ist jedoch gerade kein Defizit. sondern ein Plus des Exegeten. 5" Sauter. Methodenstreit 89 weist der systematischen Theologie die Aufgabe zu. der Vergegenwänigung der biblischen Texte den Boden zu bereiten. Zum Problem vgl Jüngel. Freiheit 21-24.
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Zufälligkeit im Gegensatz zu absoluter, zeitinvarianter Wahrheit.w Das dogmatische Denken macht jedoch klar, dass historische Texte nicht bloss zu ihrer eigenen Gegenwart und Vergangenheit ein Verhältnis haben, sondern auch zu ihrer Zukunft. Schon die historische Wahrnehmung besteht nicht nur darin, auf die Ursprungssituation eines Textes einzugehen. Da dieser Text auch in dem Sinne kontingent ist, dass er von Ereignissen und Texten aus seiner Zukunft betroffen wird, kann auch die historische Wahrheit über ihn nicht im Regress auf seine Ursprungssituation allein herausgefunden werden. 60 Die dogmatischen Erkenntnisse der letzten zwei Jahrtausende gehören in besonderer Weise zur Zukunft neutestamentlicher Texte. Die dogmatische Rezeption dieser Texte erschliesst Wahrheiten an ihnen, die zum Zeitpunkt ihres Ursprungs nicht erkennbar waren, und die dennoch Wahrheitsdimensionen dieser Texte sind. In diesem Sinne sind die Texte relativ, relativ auch zu ihrer Zukunft. Und eine Exegese, die diese Relativität nicht produktiv berücksichtigt, wird gerade auch ihrer historischen Aufgabenstellung nicht gerecht. 61 Damit muss neu überprüft werden, was etwa das exegetische Urteil, in einer bestimmten Auslegung werde Paulus durch die lutherische Brille gesehen, überhaupt heissen kann. Es ist schon historisch keineswegs zutreffend, dass die ganze Wahrheit über die paulinische Theologie durch den Rückgang auf die fünfziger Jahre des ersten Jahrhunderts entdeckt werden kann. 62 Normalerweise soll das genannte Urteil eine Auslegung disqualifizieren, und dabei verrät es, dass es mit der Relativität des Geschichtlichen noch lange nicht
~ 9 In dieser Hinsicht ist Lessings Satz von den zufälligen Geschichtswahrheiten von der begese (und Theologie) nur zu bereitwillig übernommen worden. vgl Weder. Kreuz 61-70. 110 Diese flir die exegetische Arbeit am Neuen Testament ausserordentlich folgenreiche gleichsam ontologische Relativität des Geschichtlichen geht weit über das hinaus. wao; man gegenwänig unter dem Stichwon »Wirkungsgeschichte« verhandelt. vgl Weder. Kreuz 7075.249. Eine etwas andere Sicht venritt Stuhlmacher. Verstehen 250-253. 61 Sauter. Methodenstreit 89f weist auf den exegetischen Positivismus hin. der aus solcher Vernachlässigung der historischen Aufgabe resultien. Allerdings muss man sich davor hüten. das Verhältnis von Schrift und Tradition nach dem Modell von impliziter und expliziter Wahrheit zu denken. Dieses Modell überspielt gerade die Kontingenz der Schrift und die Neuheit der Erkenntnis angesichtsder Tradition. 6 2 Gegen Wilckens. Bedeutung 121 f. der das kritische Element der historischen Methode zu ausschliesslich mit dem Rückgang auf die Ursprungssituation verbindet. Wilckens lässt nur die eine ccLeitfrage« zu. •ob und wieweit hier die biblischen Texte jeweils in dem Sinne. den sie zu ihrer Zeit und an ihrem On gehabt haben. ftir unser heutiges Nachverstehen zu Won gekommen sind« ( 121 ). Die anschliessende Kritik an Bultmanns Theologie ( 122-129) offenban denn auch den Mangel dieses Ansatzes deutlich.
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ernst gemacht hat. Hier muss ein Missverständnis ausgeschlossen werden. Die Relativität des Geschichtlichen auch exegetisch ernst zu nehmen, bedeutet keinen Freipass für die dogmatische Vereinnahmung biblischer Texte.f'J Es wäre gewiss möglich, dass die lutherische Brille die paulinischen Texte in einem falschen Licht erscheinen lässt. Ob dies der Fall ist, kann nur abgeklärt werden, indem einerseits die Ursprungssituation erforscht und andererseits das hermeneutische Potential der Auslegung Luthers für die paulinischen Texte ermessen wird. Inwiefern die lutherische Brille das paulinische Anliegen schärfer sieht als beispielsweise die Brille eines exegetisch fingierten Zeitgenossen des Paulus, kann nur sachbezogen und auf der Ebene der Stimmigkeit entschieden werden, jedenfalls nicht allein durch den Regress auf die ursprünglichen Intentionen des Paulus. Und genau wie man das »vere deus - vere homo« des Chalcedonense lesen kann als eine hermeneutische Anweisung zur Lektüre des Johannesevangeliums, so kann auch Luthers Paulusauslegung hermeneutischen Wert haben. Sie kann Wahrheitsmomente der paulinischen Theologie freilegen, die im ersten Jahrhundert nicht wahrnehmbar gewesen wären. Diese Relativität des Geschichtlichen zu berücksichtigen, macht die historische Wahrnehmung nicht einfacher, wohl aber zeitlicher und insofern auch zeitgemässer. Nun gibt es freilich im dogmatischen Denken auch den Dogmatismus, der sich dann einstellt, wenn es im Namen des Gültigen die Gegenwart64 überwältigt. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Exegese, seit sie ein historisch-kritisches Unternehmen ist,
h' Hahn. Exegese 36f weist in einer ausführlichen Schlussbemerkung darauf hin. dass es bei der Berücksichtigung wirkungsgeschichtlicher Erkenntnisse »nicht um eine durch kirchliche Tradition zu legitimierende Auslegung (gehl). sondern um eine an der Schrift selbst zu messende Einsicht. die neue Dimensionen eines Textes erschliesst«. Track. Begründung 124 sieht zu Recht die hermeneutische Funktion der Bekenntnisse und der theologischen Tradition darin. dass sie »nur als Einweisungen in das rechte Verständnis der Schrift zu sehen (sind). die immer wieder auch von der Schrift selbst her zu korrigieren sind«. M Man muss sich indessen davor hüten. die »Gegenwan« allzu unproblematisch als da~ sozusagen Selbstverständliche zu verstehen. Was die Gegenwart ist. stellt sich -gerade auch im Gespräch mit der dogmatischen Tradition -jeweils erst heraus. Dennoch verfehlt eine dogmatistische Dogmatik die Gegenwan darin. dao;s sie das »Gespräch mit den Zeitgenossen• (vgl Trowitzsch. Gott 16) gar nicht ftihn. sondern im theoretischen Beschluss gerade auch darüber verfügt. was diese die Gegenwan ausmachenden Zeitgenossen zu sein haben.
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einen antidogmatischen Charakter hat. 6 ~ Obwohl nicht wenige Exegeten stolz auf ihr antidogmatisches Werk sind, muss dieses seinerseits kritischer betrachtet werden, als dies der Stolz gewöhnlich zulässt. Ihre antidogmatische Gerichtetheit bezieht die Exegese wohl daraus, dass sie ein Kind der Aufklärung ist. Historisch-kritisch denkend vollzog die Aufklärung ihre Emanzipation von der herrschenden Tradition. 66 Das historische Denken erlaubte, die Abhängigkeit von der Überlieferung zu überwinden. Es ist jedoch die Frage, ob die emanzipatorische Abstandnahme die wahre Alternative zur genannten Abhängigkeit ist. Diese Frage verschärft sich gerade für eine Exegese, welche im Namer• historischer Wahrnehmung antidogmatisch wirkt. Denn die historische Wahrnehmung von Texten ist als solche die Einstellung auf das Wort, das sich das menschliche Subjekt nicht selbst sagen kann, weil es schon gesagt ist. Unverftigbarkeit gibt es ja nicht bloss im Modus des Entzugs, unverfügbar sind nicht bloss Dinge, die wir nicht haben, unverfügbar ist dem menschlichen Subjekt gerade auch das, was ihm gegeben ist, ohne von ihm produziert worden zu sein. Historische Wahrnehmung ist in diesem Sinne Beschäftigung mit der Unverfügbarkeit. Die historische Wahrnehmung ist der methodisch durchgeführte Respekt vor der Würde des Gewordenen. Von hier aus bedarf die aufklärerische Alternative von Abhängigkeit und Emanzipation einer Überprüfung. Der Freiheitsgedanke der Aufklärung ist vielleicht solange nicht zu Ende gedacht, als Freiheit sich als Emanzipation vollzieht. Der Vollzug der Freiheit wäre wohl erst dann erreicht, wenn es zum Angewiesensein auf das Gegebene käme. Die Mündigkeit des Menschen besteht nicht schon darin, dass er sich selbst alles sagt, sondern erst darin, dass er sich von Texten manches in aller Freiheit gesagt sein lässt. 67 Die Exegese ist insofern zu Recht antidogmatisch. als sie dem Dogmatismus, der die Gegenwart überwältigt, widersteht. Sie würde jedoch selbst dogmatistisch, wenn sie bloss ein Instrument in den Händen des auf sich selbst fixierten Ichs wäre, seine Emanzipation vom Vergangenen durchzuset~~Zum antidogmatischen Charakter der historisch-kritischen Exegese vgl Grass. Historisch-kritische Forschung 9-12. der ihn in Zusammenhang mit der Dogmenkritik der Reformationszeit bringt. Nach Troehsch. Über historische und dogmatische Methode 73Cr73!! macht die historisch-kritische Methode rein als Denkweise »die alte dogmatische Methode ungangbar«. ~ Vgl Grass. Historisch-kritische Forschung II: Wilckens. Bedeutung 91-96. ~ 7 Es steht zu vermuten. dass mit dieser Angewiesenheil auf das gesagte Wort die Freiheil der Theologie allererst entsteht. vgl Jüngel. Freiheil 15-17 und These 0.3 (29).
2 Das Ziel exegetischer und dogmatischer Erkenntnis
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zen. Dann wäre sie selbst ebenso nihilistisch wie der Dogmatismus, den sie zu beseitigen vorgibt. Exegese ist vielmehr so zu betreiben, dass sie die Wahrnehmung des Gegebenen einübt. Denn erst im Angewiesensein auf das gegebene Wort vollzieht sich dassapere aude in aufgeklärter Weise.
2 Das Ziel exegetischer und dogmatischer Erkenntnis Kehren wir zurück zu den eingangs erwähnten Reminiszenzen, zum armen Vikari, der sich dogmatische Fragen in Bem exegetisch lösen lässt, und zum Basler Dogmatiker, der sich Exegese in dogmatischer Gestalt wünscht. Gotthelf zeigt uns die Armut des Vikari noch einmal von einer neuen Seite. Er sieht sie darin, dass jener starke Exeget gleichsam einäugig durchs Leben geht. Gewiss, auch das ist nicht nichts. »So ist der Mensch glücklich zu preisen. welcher ein Auge hat, denn was ist der Mensch. wenn er kein Auge hätte! Aber schöner und besser als ein Auge sind zwei. und zwei hat Gott dem Menschen gegeben, und halbblind ist und bleibt der immer, der nur eines hat. Und wie Gott dem Menschen zwei Augen gegeben hat. so hat er ihm auch zwei Bücher gegeben. das heilige alte Buch. das nicht blos ein Vikari soll exegesieren können, sondern jeder Christ verstehen. aber auch das wunderbare Buch. das alt ist und doch jeden Tag neu wird, das wunderbare Buch. das, aus göttlichem Quell entsprungen, wie durch unzählige Bäche ein Strom, genährt wird durch Quellen aus jedes Menschen Brust, das Gott mit lebendigem Atem durchhaucht und Blatt um Blatt beschreibt vor der Menschen selbsteigenen Augen. Und wie die beiden Augen einander helfen auf unerklärliche Weise und eins ohne das andere verwaiset sich fühlt und einsam und nur halb so gut als früher. so hat es auch ein Buch mit dem andem Buch. ein Buch wirft Licht auf das andere Buch. beide strömen Leben sich zu und halbdunkel wenigstens bleibt ein Buch ohne das andere Buch .... Wo der Mensch mit beiden Augen in beide Bücher sieht, da nahen sich Himmel und Erde, ist der Himmel offen. Engel Gottes steigen auf und nieder, strömende Offenbarungen Gottes verklären das Leben. heiligen die Zustände. die
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Exegese und Dogmatik
Bibel gibt dem Leben seine Weihe. das Leben macht die Bibel lebendig.«~>M
Arm ist der Vikari, weil er bloss im Buch der Bücher liest, statt hin und wieder einen Blick ins Buch des Lebens zu werfen. Diese seine Armut offenbart ein Kriterium, das sowohl an exegetische als auch an dogmatische Arbeit anzulegen ist. Beide müssen daran gemessen werden, ob sie dem Leben seine Weihe, seine Würde geben. Exegese und Dogmatik stehen gleichennassen in der Gefahr, einäugig zu sehen. Einäugig sehen sie, wenn sie ihre Erkenntnisse bloss vor dem Buch der Bücher oder der kirchlichen Lehrtradition verantworten."9 Das Thema aber, das beide verhandeln, ist das Leben selbst, 70 dessen sachgemässe Wahrnehmung Kriterium überhaupt einer jeden Wissenschaft ist. Dem Leben gilt es gerecht zu werden, ihm muss die Würde zuerkannt werden, die es im Buch der Bücher gewinnt. Diese Aufgabe verbindet meines Erachtens Dogmatik und Exegese, trotz des Unterschieds, den der nach Basel gereiste Exeget hier sieht. »Und die Dogmatik?« fragt Fuchs. »Nun, befindet sie sich nicht ebenfalls im Umbruch? Wir sind Exegeten. Deshalb rechtfertigen wir unsere Arbeit nur hermeneutisch, indem wir unsre Phänomene der Sprache überantworten, welche uns unsre Texte lehren.« 71 Die hier gemeinte Sprache ist das Zuhause 72 des
Gotthelf. Anne Bäbi Jowäger 63f. Auch Track. Begründung 126 geht über die jeweilige Glaubensgemeinschaft hinaus. Theologische Aussagen dienen •>der Vorbereitung eines Konsensus. der über die je bestehende Glaubensgemeinschaft hinausgeht«. 7° Für die Dogmatik stellt Mosten. Menschwerdung I fest ...dass dogmatische Fragen im strengen Sinne immer existential interpretierbar sind. das heisst: Sie verraten ihre Verflochtenheit mit der menschlichen Erfahrung.« Track. Begründung 108 spricht von der »Entfaltung und Präzisierung der Erfahrungen. denen sich der Glaube verdankt•: vgl auch S.JI9. wonach »theologische Aussagen als Aussagen über die Sinntotalität der Erfahrung zu verstehen« sind. Für die Exegese nimmt Stuhlmacher. Exegese und Erfahrung 67-89 G.Ebelings Anregung zur Konzentration auf das Erfahrungsphänomen ausführlich auf. Stuhlmacher stellt der Exegese die Aufgabe. die Sprachgestalt der Texte auf ihren Erfahrungsgrund hin zu befragen und dadurch zu ermöglichen. dass man sich den Texten als »Erfahrungsmustem anvenrauen« kann (75). Stuhlmacher zeigt im folgenden an allen Hauptteilen des Neuen Testaments. dass die erfahrungsorientiene Exegese den Texten grundsätzlich angemessen ist. 71 Fuchs. Das Neue Testament 169. 72 »Was sagen Sie zu folgender These: Zu Haus~ spricht man nicht. damit man ''~rst~ht. sondnn w~il man 1·~rst~ht!.' Das ist der Satz. von dem ich ausgehen möchte« (fuchs. Das Neue Testament 150). Die Sprache ist der On. wo das menschliche Leben verstanden ist. 68
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menschlichen Lebens, die Sprache, die Jesus seinen Jüngern mit auf den Weg gab, 73 die Sprache, die an die Erfahrungen der Liebe 74 erinnert. Die hermeneutische Rechtfertigung der exegetischen Arbeit geschieht, wenn die Phänomene an jene Sprache überantwortet werden, die sie mit dem alltäglichen Leben zu verbinden weiss. Das bedeutet für die Exegese, sich entschiedener dem Erfahrungsproblem zuzuwenden. 75 Die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit ihrer Aussagen sind nur auf der Ebene der Lebenserfahrung zu verifizieren. Dabei ist sorgfältig auf die Vielfalt und Kontingenz der Lebenserfahrung zu achten. Wer von der »Grundsituation« 76 des Menschen ausgeht, wird besonders auf die Zeitlichkeit menschlicher Lebenssituationen achten müssen. Vielleicht wäre der Erfahrungsbezug der Exegese und der Dogmatik noch kontingenter zu denken, als dies mit dem Begriff der Grundsituation geschieht.7 7 Vielleicht wäre die Kategorie der »Begegnung« hermeneutisch ertragreich. Denn in der Begegnung mit biblischen Texten oder dogmatischen Sätzen entsteht so etwas wie Resonanz in der jeweiligen Erfahrungswelt eines Menschen. Das Modell der Resonanz ermöglicht es, den Erfahrungsbezug streng auf den kontingenten Augenblick der Begegnung zu beschränken. Dies entlastet den Exegeten davon, erneut hinter die Sache der Texte zurückzugehen und dort, im Hintergrund, nach Grunderfahrungen zu suchen. Und es entlastet den Dogmatiker davon, Grunderfahrungen zum hermeneutischen Kontinuum zu machen. 7K
" Fuchs. Das Neue Testament 148-150. »Jesus gibt seinem Hörer die Anrede auch noch mit auf den Weg« ( 149). 7• »Ich halte mich an die Sprache. Und ich halte mich so an sie. wie sie vom Tod herausgefordert I wird. Der Tod verhöhnt am Sarge den Überlebenden: Jetzt sprich Du! Und darauf muss man antworten: Die Liebe siegt!« (Fuchs. Das Neue Testament 1671). Der der Liebe angemessene Sprachzusammenhang ist derjenige »des alltäglichen Lebens•; wird das Neue Testament auf diesen zurückgeführt. so wird es verstanden. Das Neue Testament »hilft uns. unsere Sprache wieder zu Iinden. Das Neue Testament ist se/her ein ht~rmeneutisches Lehrbuch" (aaO 169). n Vgl Track. Begründung 113. der theologischem Nachdenken die Integration des jeweils zugeordneten Erfahrungsbereiches anvertraut. 76 Zu diesem Begriff vgl Ebeling. Dogmatik und EJ~egese 281-284; aufgenommen von Stuhlmacher. EJ~egese und Erfahrung 80. Schon Ebeling grenzt den Situationsbegriff einerseits gegenüber dem isolierten Augenblick und andererseits gegenüber der zeitlosen Struktur ab. 77 Namentlich Stuhlmacher. EJ~egese und Erfahrung 80 verwendet den Begriff der Grundsituation. um in gewisser Weise von der blossen geschichtlichen Kontingenz Abstand zu nehmen. n Vgl Track. Begründung 110. der auf den vorgreifenden Aspekt des Konsensbegriffs hinweist.
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Exegese und Dogmatik
Wie dem auch sei. Exegese und Dogmatik sind nicht darauf zu beschränken, historisch oder dogmatisch wahre Sätze zu finden. Sie sind vereint in der Aufgabe, dem Lebensphänomen gerecht zu werden, dem Leben die Würde zuzuerkennen, die es vor Gott hat. Denn in den fort und fort träumenden Dingen aller Lebenserfahrung schläft das Lied ihres Schöpfers. Dogmatik und Exegese sind vereint in der Suche nach dem Zauberwort, das, einmal gefunden, die Welt so zu singen anheben lässt, dass es weder Dogmatik noch Exegese mehr braucht.
Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament »Ach, wenn ich doch glauben könnte.« Dieser Satz fällt in vielen Gesprächen, die wir als Theologen, als Pfarrerinnen und Pfarrer, mit Menschen unserer Tage führen. Fast wie ein Stosseufzer mutet das an. Ein Seufzer über die verlorene Welt des Glaubens, von der man denkt: es wäre gut, man hätte sie wieder. »Ach, wenn ich doch nur glauben könnte.« In diesem Stosseufzer drückt sich das Verhältnis zum Glauben aus, wie es für europäische Menschen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts typisch ist. Wir lassen jetzt jene Gedankenlosen auf der Seite, die ihr Leben auf eine abwesende Art führen und deshalb nie zur Glaubensfrage vorstossen. Wir lassen auch jene Dogmalisten auf der Seite, die entweder bloss den Glauben des Pfarrers prüfen wollen, oder die ihm triumphierend den Sieg der Wissenschaft über den Glauben unter die Nase reiben. Beides wirkt ja schon ziemlich abgestanden. Typisch dagegen für unsere Zeit ist meines Erachtens der zitierte Seufzer. In ihm kommt dreierlei zum Vorschein: erstens die Einsicht, dass der Glaube eine Hilfe zum Leben ist, zweitens eine gewisse Wehmut über den Verlust des Glaubens, und drittens eine leise Bitte an den Theologen, er möge doch die neuzeitlichen Hindernisse aus dem Weg räumen, die einen vom Glauben abhalten. Das ist meines Erachtens die Situation, auf die wir uns als christliche Kirche einzustellen haben. Was könnte ich jemandem sagen, der beispielsweise den folgenden Stosseufzer tut: ))Ach, wenn ich doch wieder einmal lachen könnte.« Ich könnte ihm nachweisen, dass er - recht betrachtet - durchaus etwas zu lachen hätte. Ich könnte ihm auch psychologisch beweisen, dass er eine Lachhemmung habe und woher diese komme. Oder ich könnte ihm mit farbigsten Farben schildern, wie wichtig und gesund doch das Lachen für ihn wäre. Ich könnte ihn auch schlicht dazu auffordern, er müsse halt selbst lachen, wenn er lachen wolle. All dies sind Strategien, argumentative, psychologische, appellative Strategien unseres Umgangs mit elementaren Lebensphänomenen wie dem Lachen. Solche Strategien gäbe es wohl noch mehr. Allerdings, mit dem Stosseufzer ob des verlorenen Lachens könnte ich auch anders umgehen. Sie haben es erraten: ich könnte versuchen, den Seufzenden zum Lachen zu bringen. Wenn ich ihm etwas zu lachen gebe, umgehe ich die prinzipielle Schwäche aller argumentativen, psychologischen oder appellativen
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Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament
Strategien. Ihre prinzipielle Schwäche ist, dass sie das Lachen bloss bedenken oder fordern, statt es zu erschaffen. Der Glaube ist als ein Lebensphänomen dem Lachen ähnlich. Ähnlich sind auch die Strategien, mit denen wir häufig auf den Stosseufzer derer reagieren, die nicht glauben können. Doch der Glaube liegt - wie das Lachen - nicht in der Reichweite des Machens. Glaube ist zwar mein Tun, aber dennoch nicht mein Werk. Glaube wird mir zugespielt. Sowenig ich mich selbst zum Lachen bringen kann, sowenig kann ich mich zum Glauben bringen. Wenn wir uns also auf die Situation des verlorenen, zurückersehnten Glaubens einstellen wollen, müssen wir Abschied nehmen von den bekannten Strategien. Wir tun gut daran, keine Beweise flir die Notwendigkeit des Glaubens vorzutragen, keine Nachweise, dass Glaube für unser Leben unentbehrlich ist, keine Aufforderungen auch, sich nun endlich zum Glauben zu entscheiden. Wir halten besser nach Dingen Ausschau, die uns zum Glauben bringen. Vielversprechend ist in dieser Hinsicht das Neue Testament. Denn erstens kann man im Neuen Testament geradezu von einer Entdeckung des Glaubens sprechen. Keine andere jüdische oder hellenistische Schrift vor oder nach dem Neuen Testament verwendet das Wortfeld »glauben« auch nur annähernd so häufig. In diesem Buch trat das Wortfeld des Glaubens in den Mittelpunkt, weil offenbar das Phänomen des Glaubens auf eine vorher nicht dagewesene Art entdeckt worden war. Entdeckt, nicht etwa erfunden. Mancher Bodenschatz liegt ungenutzt in der Erde und tritt nur da und dort an die Oberfläche. Gleich einem solchen Schatz wurde der Glaube im Neuen Testament entdeckt. Entdeckt wurde etwas, was seit Urzeiten zum Menschsein gehört. Weil dieser Glaube keine Erfindung ist, greift etwa Paulus auf den Erzvater Abraham zurück, um vom neuentdeckten Glauben zu sprechen (Röm 4). Weil das Neue Testament das Dokument der Entdeckung des Glaubens ist, ist es meines Erachtens aussichtsreich, uns in der Zeit des verschütteten Glaubens auf das Neue Testament zu besinnen. Zweitens ist es aussichtsreich, weil dieses Buch tausend- und abertausendfach Menschen den Glauben zugespielt hat. Offensichtlich gab es den Menschen immer wieder etwas zu glauben. Deshalb ist es sinnvoll, wenn auch wir - auf der Suche nach den Kräften, die uns den Glauben zu entlocken vermögen -uns dem Neuen Testament zuwenden. Im folgenden werde ich versuchen, etwas von der kreativen Kraft der neutestamentlichen Texte durchschimmern zu lassen, aufmerksam
I An Gon glauben (Paulus)
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zu machen auf das, was uns das Neue Testament zu glauben gibt. Meine Überlegungen sind in drei Abschnitte gegliedert: an Gott glauben, Jesus und der Glaube, der Glaube in der Gemeinschaft der Kirche.
1 An Gott glauben (Paulus) In seinem Nachdenken darüber, welche Tragweite das Evangelium von Jesus Christus in unserer Welt hat, stiess der Apostel Paulus sehr schnell auf das Phänomen des Glaubens. Er bezeichnet das Evangelium als eine göttliche Kraft, welche auf Rettung gerichtet ist für jeden Glaubenden (Röm 1,16 ). Inhaltlich versteht das Evangelium das Kommen Jesu, seinen Tod und seine Auferstehung als ein Ereignis göttlicher Liebe. Das Evangelium spricht freilich nicht theoretisch, es beschreibt nicht einfach eine Theorie der göttlichen Liebe. Das Evangelium ist vielmehr eine Liebeserklärung an die Menschen, eine Liebeserklärung, die aus den höchsten himmlischen Höhen kommt und sich bis in die tiefsten Tiefen irdischen Lebens ausdehnt. Das bedeutet: der Himmel wendet sich der Welt in Liebe zu. Das Evangelium ist das Wort von göttlicher Zuwendung. Deshalb ist es eine rettende Kraft. Jede Liebeserklärung hat etwas Rettendes an sich. Denn sie gibt dem, dem sie gilt, ein Gewicht, das er sich niemals selbst verschaffen könnte. Sie gibt ihm die Würde des Geliebtseins. Und sie überwindet Einsamkeit, weil sie Präsenz verspricht. Paulus erfuhr das Evangelium als eine göttliche Liebeserklärung, so dass ihn weder Tod noch Leben, weder Höhen noch Tiefen von Gott scheiden können. Nicht weil er dem Himmel in allen seinen Lebenssituationen treu wäre, sondern weil der Himmel ihm treu ist. Darin liegt die rettende Kraft. Freilich, das Evangelium hat keine überwältigende Macht über alle Welt. Es ist eine rettende Kraft für die Glaubenden. Jede Liebeserklärung ist darauf angewiesen, dass sie Glauben findet. Sie ist machtlos gegenüber dem Spott, machtlos auch gegenüber dem Misstrauen. Wie sie ist auch das Evangelium ein machtloses und darin seine Kraft findendes Wort. Es kann mit Füssen getreten, es kann verdreht, es kann ins Gegenteil des Gesetzes verkehrt werden. Doch nur weil es diese Ohnmacht an sich hat, kann es Glauben finden. Denn im Glauben gestehen die Menschen dem machtlosen Wort des Evangeliums zu, ein göttliches Wort an sie zu sein. Und doch ist die Liebeserklärung aus
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den Höhen des Himmels mehr als eine blosse Möglichkeit, die wir erst zu verwirklichen hätten. Die Liebeserklärung kommt aus heiterem Himmel. Und sie hat- wo sie gehört wird- etwas Bewegendes an sich. Ihre Kraft ist viel mehr als blosse Möglichkeit und doch viel weniger als die Überwältigung. So weit, so gut. Aber gibt uns Paulus da etwas zu glauben? Oder ist sein Evangelium nicht einfach eine religiöse Vorstellung, die für ihn etwas bedeutet haben mag, für uns aber vergangen und verloren ist? Paulus sprach nicht von Vorstellungen, sondern von elementaren Erfahrungen der Menschen, die im Lichte des Evangeliums neu zum Leuchten kommen. Man müsste wohl genauer sagen: er sprach nicht nur von Erfahrungen, er legte sie allererst frei. Eine solche Erfahrung ist die Wende, die sein eigenes Leben vor Damaskus genommen hat. Da hat er erfahren, was es heisst, von Christus ergriffen, von Gott bewegt zu werden. In seiner Lebenswende legte Paulus die Erfahrung göttlicher Kreativität frei. Man hätte und hat auch ganz anders darüber sprechen können: der Last des Gesetzes überdrüssig, habe er sich zum Christus des Evangeliums geflüchtet. Sein anfanglicher Hass auf den Nazarener und seine Anhänger habe sich in plötzliche Liebe verwandelt. Durch nichts in der Welt können solche Erklärungen ausgeschlossen werden. Der Glaube ist auch gar nicht darauf angewiesen, sie auszuschliessen. Er hält solche Erklärungen aus, und sieht dennoch in der Wende die Kreativität Gottes am Werk. Gibt es sie wirklich nicht mehr, diese NeuanHinge von Menschen, die durch Christus berührt sind? Oder sind unsere Konstruktionen der Wirklichkeit so, dass psychologische und soziologische Erklärungen die Alleinherrschaft übernehmen? Dann wäre es an der Zeit, dass wir uns jene Konstruktioneh von Paulus erschüttern Hessen. Dann wäre es an der Zeit, erneut aufmerksam zu werden auf die schöpferische Kraft, die auch unter uns manchem Leben eine überraschende Wende gibt. Nehmen wir ein zweites Beispiel. Paulus zog Abraham heran, um zu zeigen, dass der Glaube keine Erfindung, sondern eine Entdeckung ist (Röm 4). Abraham sagt ihm: Wenn du an Gott denkst, musst du an sein grosses Versprechen denken: an das Versprechen, Leben zu schaffen, die Tödlichkeil zu überwinden. Abraham hatte am eigenen, abgestorbenen Leib erfahren, was göttliche Lebensmacht ist. Und er hatte mit Glauben darauf reagiert, mit Vertrauen auf die göttliche Lebensmacht angesichts dessen, dass sein und Sarahs Leib vom Tod schon gezeich-
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net waren. Paulus nun hält fest, dass dieser Glaube berechtigt war. »Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet« (Röm 4,3). Der Satz bedeutet: Abraham reagierte mit Glauben auf Gottes grosses Versprechen, und eben durch diesen Glauben wurde er Gott gerecht. Der Glaube, das Vertrauen auf die Lebensmacht ist das einzige, was dieser Macht gerecht wird. Denken wir daran, dass Paulus diesen elementaren Zusammenhang gegen die gesamte Auslegungstradition erst freizulegen hatte. Diese verstand unter dem Glauben Abrahams gerade nicht sein Vertrauen auf Gott, sondern seinen Gehorsam, der sich dann im rechten Tun auswirkte. Gernäss der ganzen Auslegungstradition wird der Mensch Gott dadurch gerecht, dass er tut, was dieser ihm gebietet. Von dieser Konstruktion der Wirklichkeit ist die Auslegungstradition beherrscht. Gegen sie hält Paulus fest, dass der Glaube allein jenes menschliche Verhalten ist, das Gott gerecht wird. Worum geht es hier eigentlich? Es geht um die Frage, ob ich mit meinem Tun meinem Leben gerecht werde, ob ich mit meinem Wirken an die Wahrheit meines Lebens herankomme. Die Antwort des Paulus lautet: dem Leben werde ich dadurch gerecht, dass ich auf seine Macht vertraue. An meine Wahrheit komme ich heran, wenn ich im Glauben jene Wahrheit sehe, die mein Leben in den Augen Gottes hat. Erfahren wir sie tatsächlich nicht mehr, jene Lebensmacht, die Erstorbenes überwindet? Verdankt sich unser Leben nicht auch jener Lebensmacht, die aus Toten Lebendige macht? Hat Abraham sich einer Illusion hingegeben, wenn er an das grosse Versprechen Gottes glaubte? Irren wir nicht gewaltig, wenn wir das Leben als etwas betrachten, woraus wir allererst etwas machen müssen? Gewiss, Abraham ist längst gestorben. Das wusste auch Paulus. Darum stellte er Abrahams längst vergangene Erfahrung der Lebensmacht in einen Zusammenhang von kosmologischer Weite. Abraham glaubte an den Gott, »der die Toten lebendig macht, und der das Nichtseiende ins Sein ruft« (Röm 4, 17b). Den Gott, der die Toten lebendig macht, hatte Paulus - und mit ihm Hunderte von Menschen - erfahren, als ihm der gekreuzigte Jesus in göttlicher Lebendigkeit erschienen war. Gewiss, auch dies mögen wir auf allerlei Weise erklären. Wir mögen sagen, es habe sich um innerpsychische Erfahrungen gehandelt. Wir mögen sagen, die Vision der Urchristen habe nichts mit der harten Realität zu tun. Wir mögen sagen, ihr Wunsch habe Jesus aus dem Totenreich heraufgeholt. Alle diese weltlichen Erklärungen mögen wir
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vorbringen. Aber verbietet eine von ihnen, in diesem Neuanfang die göttliche Kreativität am Werk zu sehen? Den Gott, der Nichtseiendes ins Sein ruft, können wir alle jeden Tag erfahren, wenn wir Ohren haben für das, was aus den Weiten des Universums herübertönt. Freilich, wir beginnen oft zu spät mit dem Denken: wir durchschauen Aufbau und Funktion der Welt, statt nachzudenken dartiber, welcher Kreativität sie ihre Existenz verdankt. Und oft hören wir zu früh mit dem Denken auf, wir überlegen uns, was wir mit unserer Welt alles machen könnten, statt die Würde der Schöpfung wahrzunehmen. Gewiss, unsere Augen sind gefüllt vom Verderben, das das Universum durchzieht: von Leiden und Tod, die mit dem Leben gegeben sind, und unsere Ohren sind vollgestopft vom Länn der Nichtigkeit und Zerstörung, die die Gattung homo sapiens über sich und die Welt. schon gebracht hat. Daran zerbricht vielleicht unser Glaube. Aber es wäre verfehlt, so zu tun, als ob wir die ersten wären, die solches im Universum sehen, und den Glauben an den Gott, der das Nichtseiende ins Sein ruft, der Naivität zu bezichtigen. Gerade Paulus hat all dies auch gesehen. Gerade er sprach vom Seufzen und Wehklagen, das die ganze Welt durchzieht. Aber Paulus machte einen Unterschied zwischen der Schöpfung, deren Klage ein verhaltenes Zeugnis vom Schöpfer ist, und der Welt, die auch Verderben in sich trägt. Er sieht für die Welt eine Zukunft: sie wird befreit werden zur Freiheit der Kinder Gottes, sie wird verwandelt werden in Schöpfung. Paulus musste diese Unterscheidung treffen, weil er das Gewicht vieler Erfahrungen nicht anders wahrnehmen konnte: das Gewicht seiner Lebenswende, das Gewicht der Auferstehung Jesu, das Gewicht der rechtfertigenden Macht Gottes, das Gewicht von Abrahams Neuanfang, das Gewicht dessen, dass ebensogut nicht sein könnte, was er als Universum vor Augen hat. Wir stellen uns die Entstehung des Universums als uranfänglichen Knall vor. Gibt nicht auch diese Vorstellung einen Blick frei für die Schöpfung aus dem Nichts, von der Paulus sprach? Gibt sie nicht den Blick frei dafür, dass wir jedenfalls nicht mit nichts anfangen, für die prinzipielle Asymmetrie unseres Lebens, dass wir uns das Leben niemals geben sondern immer nur nehmen können? Der Glaube an Gott, so halte ich zusammenfassend fest, wird bei Paulus entdeckt als eine Einstellung des Menschen auf göttliche Kreativität. Als Einstellung auf eine Erfahrung, die oft allererst freigelegt werden musste im Dickicht der Konstruktionen von Wirklichkeit. Die-
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sem Glauben kommt es vor allem darauf an, der Lebensmacht Wirklichkeit zuzugestehen.
2 Jesus und der Glaube Wie Jesus und der Glaube sich zueinander verhalten, machen wir uns an einer Erzählung der Evangelien klar. Jesus ist in einem Haus in Kapemaum. Und viel Volk ist ebenfalls da. Auf dem Weg zum Haus sind vier Leute; sie tragen einen Gelähmten auf der Bahre. Was bewegt sie, diesen Gelähmten zu Jesus zu tragen? Sie haben wohl von Jesus gehört, von seiner Fähigkeit, Menschen gesund zu machen. Deshalb tragen sie den Kranken her. Doch die Menge versperrt ihnen den Weg. Kurzerhand steigen sie aufs Dach, graben ein Loch hinein und lassen den Kranken auf einer Trage hinunter, Jesus grad vor die Füsse. Jetzt fällt in der Erzählung ein ganz entscheidender Satz: »Und Jesus sah ihren Glauben ... «. Damit macht die Erzählung klar, dass die vier Träger den Glauben zur Darstellung bringen. Was sah Jesus eigentlich? Er sah, dass die vier mit grösster Entschlossenheit seine Nähe suchten. Er sah, dass sie alles taten, um die Hindernisse zwischen Jesus und dem Kranken aus dem Weg zu räumen. Seine Lähmung überwanden sie, indem sie ihn trugen. Die Volksmenge überwanden sie, indem sie aufs Dach stiegen. Weil sie wussten, dass sie nichts ftir die Rettung des Gelähmten tun konnten, taten sie alles, um ihn zum rettenden Jesus zu bringen. Das sah Jesus, und das nannte er kurzerhand ihren Glauben. Glaube heisst, die Nähe des Rettenden suchen. Glaube heisst, die eigene Ohnmacht erkennen. um die Hilfebedürftigen in die Nähe dessen zu bringen, der helfen kann. Glaube heisst, unterscheiden können zwischen eigenen Kräften und der Macht Gottes. Was hat Jesus mit solchem Glauben zu tun? Ist das nicht eine ganz vage, theologisch verdächtige Sache, was da als Glaube verkauft wird? Gewiss wird der Glaube der Träger noch viel zu lernen haben, bis er die Ohnmacht Jesu am Kreuz mit der Macht Gottes zusammenbringen wird. Gewiss wird ihr Glaube noch gewaltig reifen müssen, bis er verstehen lernt, dass hier nicht bloss ein Wundertäter göttliche Kräfte hat, sondern dass Gott selbst zur Welt gekommen ist. Aber dennoch hat gernäss unserer Erzählung als Glaube zu gelten, was diese Träger dar-
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stellen. Diese Geschichte liest sich wie ein Plädoyer für ein grasszügiges Verständnis von Glauben. Und dennoch: Was hat Jesus mit dem Glauben zu tun? Zunächst das, dass er ihn diesen vier Trägem zuerkennt. Jesus sah den Glauben in ihr gewiss mehrdeutiges Verhalten hinein. Was hätte man alles sagen können über sie? Sie wollten bloss ein gutes Werk tun, als sie den Gelähmten zu Jesus brachten. Sie wollten bloss eine Sensation sein und in die Medien kommen, als sie ihn durch das Dach hinunterliessen. Wussten sie überhaupt, wen sie da aufsuchten? Das Verhalten der Vier ist mehrdeutig wie alles Menschliche. Diese Mehrdeutigkeit überwindet Jesus, indem er ihnen Glauben zugesteht. Was immer man sonst noch sagen könnte gegen oder über ihre Aktion, jetzt sagt Jesus, ihr Glaube habe hier Gestalt gewonnen. Die Zuerkenntnis des Glaubens steht hier für jene Eindeutigkeit, die menschliches Verhalten erhält, wenn es mit Jesus in Berührung kommt. Es steht für die Würde, die Jesus um sich verbreitet, bei diesen vier Trägem nicht weniger als bei jener Frau, deren verschwenderische Spende von den Jüngern ins Zwielicht gebracht wird. Ach, wenn ich doch glauben könnte! Vielleicht würde Jesus diesem modernen Stosseufzer schon die Würde des Glaubens zugestehen. Jesus hat ferner insofern mit dem Glauben zu tun, als er diesen Vieren Glauben entlockt, durch sein blosses · Dasein zunächst, und dann auch durch seine Macht, zu heilen. Glaube ist - so erkennen wir daran - keine subjektive menschliche Möglichkeit, keine seelische Tätigkeit, wozu ich mich selbst aufschwingen könnte. Glaube entsteht, wo das Rettende erscheint. Glaube ist etwas, das mir zugespielt werden muss, so wie das Lachen mir durch den Witz zugespielt wird, oder der Tanz durch die Musik. Gewiss, das Glauben ist ganz mein eigenes Tun, und dennoch ist es ganz und gar nicht mein eigenes Werk. Jesus entlockt den Menschen den Glauben, indem er sie von Besessenheit und Lähmung heilt. Er entlockt Menschen den Glauben, indem er - durch seine Gleichnisse- einen Raum schafft für Gott in ihrer Welt. Er überwindet Gottfeme, nicht dadurch, dass er die Menschen zu Gott ruft, sondern dass er Gott in ihre Nähe bringt. Wer den Glauben finden will, muss sich also dem Wort Jesu aussetzen. Einem Wort, das wir uns nicht selbst sagen können. Das Wort Jesu gleicht einer Kathedrale: Wir haben sie nicht erbaut, doch wir treten in sie ein und sind in eine andere Welt geschritten. Wir treten ein und lassen uns von diesem Raum die Begegnung mit dem Heiligen zuspielen. Wer den Glauben finden will,
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muss aufmerksam hören auf das, was Jesus über Gott zu verstehen gibt. Gewiss, unser Gehör ist stumpf. Aber das Wort Jesu verschafft sich selbst Gehör bei uns. Es öffnet uns die Ohren. Glaube lebt nie eigenständig, er existiert immer nur im Gegenüber zu dem Jesus, der ihn mir zuspielt. Genauso wie der Tanz immer nur in Verbindung mit der Musik lebt, die ihn hervorruft. Jesus hat ferner insofern mit dem Glauben zu tun, als er die Menschen in die Entscheidung führt. Die Entscheidung spielt in modernen Überlegungen eine sehr grosse Rolle, eine zu grosse, möchte man sagen. Denn es könnte fast scheinen, als ob der Glaube eine menschliche Entscheidung von riesigen, geradezu ungeheuren Dimensionen wäre. Daran ist richtig, dass der Glaube tatsächlich eine fundamentale Lebensentscheidung ist. Falsch daran ist, dass man sich diese Entscheidung als eine Entscheidung vorstellt, die der Mensch ganz auf sich gestellt macht, sozusagen in der Einsamkeit des existentiellen Nullpunktes. Und manchmal kommt man auf den Verdacht, die Aufblähung der Entscheidung sei ein Ersatz dafür, dass wir den grossenRuf nicht mehr vernehmen, dass wir das grosse Licht vor Damaskus nicht mehr sehen. Die Entscheidung zum Tanz werde aufgebläht, weil man die Musik nicht mehr hört. Jesus beleuchtet die Entscheidung zum Glauben ganz anders: »Gleich ist die Gottesherrschaft einem Schatz, der im Acker verborgen ist. Diesen fand ein Mensch, verbarg ihn wieder und in seiner Freude geht er hin, verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker« (Mt 13,44). Gewiss hat sich dieser Mensch entschieden, alles zu verkaufen, um den Acker mit dem verborgenen Schatz zu besitzen. Aber dies ist keine Entscheidung des einsamen Subjekts. Der Fund nimmt sie dem Finder ab. Wer einen solchen Schatz findet, muss sich ebensowenig entscheiden wie Paulus vor Damaskus oder Levi an der Zollstätte. Deshalb käme es wohl zuerst darauf an, die Augen und Ohren offen zu halten, Ausschau zu halten nach dem Schatz, der alles entscheidet, das Gehör zu schärfen für den grossen Ruf, den Jesus vielleicht mir zugedacht hat. Am Glauben der Träger hatten wir gesehen, dass der Glaube die Nähe des Rettenden sucht, und dass er ihnen durch Jesus zuerkannt wird. Manche Wundergeschichte erzählt davon, dass Jesus sogar noch einen Schritt weitergegangen sei. Zu manchem Geheilten habe er gesagt: »Dein Glaube hat dich gerettet.« Hier ist der Glaube die Voraussetzung des Wunders, nicht dessen Folge. Eine überraschende Aussage.
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Da scheint ja der alte Geheimrat recht zu bekommen mit seiner ironisch gemeinten These, das Wunder sei des Glaubens liebstes Kind. Man sollte doch denken, das Rettende werde ganz dem Christus zugeschrieben, nicht dem Glauben. Gewiss, in allen Geschichten ist es Jesus, der die Menschen rettet. Und dennoch schreibt er die Rettung ihrem Glauben zu. Inwiefern rettet der Glaube? So sehr die Jesusüberlieferung die Vollmacht des rettenden Wirkens Jesu beschreibt, so deutlich lässt sie auch seine eigenartige Ohnmacht durchblicken. In Nazareth, so erzählt Markus im Kapitel 6, konnte Jesus keine einzige Machttat tun, weil die Atmosphäre durch den Unglauben der Nazarener geprägt war. Daraus ersehen wir, dass das heilende und rettende Tun Jesu auf Glauben angewiesen ist. Darin liegt seine Ohnmacht, darin liegt überhaupt die Ohnmacht des Helfens. Es kann in der Welt keine Hilfe geben, wenn es keine Menschen gibt, die sich helfen lassen. Es kann in der Welt kein gutes Wort geben, wenn es keine Menschen gibt, die sich ein solches Wort sagen lassen, ohne ihm ins Wort zu fallen mit allen möglichen Abwehrstrategien. Das rettende Tun Jesu ist auf Glauben angewiesen, wenn es zum Ziel kommen soll. Denn der Glaube erst gesteht es Jesus zu, helfen zu können. In dieser Hinsicht gilt also, dass der Glaube die Menschen rettet, die bei Jesus Hilfe suchen. Ein letztes Moment ist noch zu bedenken. Jesus hat auch insofern mit dem Glauben zu tun, als er die Mehrdeutigkeit menschlicher Lebensvollzüge überwindet. Einem Vater, der einen besessenen Knaben zu Jesus bringt, verspricht Jesus: »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt« (Mk 9,23). Und der Vater antwortet: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben!« In diesem Ausruf kommt die ganze Zwiespältigkeit des menschlichen Glaubensvollzugs zur Sprache. Gewiss glaubt dieser Vater, sonst hätte er nicht Hilfe bei Jesus gesucht. Und dennoch ist der Unglaube seines Glaubens Begleiter. Unglaube ist hier Zweifel. Und der Zweifel gehört zum Glauben. Er ist nicht von einer bösen Macht hervorgezaubert, er verdankt sich seinerseits dem Glauben. Denn der Glaube ist der Nährboden, der Lebensgrund des Zweifels. Der Zweifel lebt insofern vom Glauben, als er in Frage stellt, was der Glaube für gewiss hält. Und eben gegen diesen Zweifel oder Unglauben - soviel weiss dieser hilfesuchende Vater -kann er wiederum nur Jesus anrufen. Von Jesus verspricht er sich, dass der Zwiespalt seiner eigenen Existenz überwunden werde. Deshalb ruft er ihn gegen seinen eigenen Unglauben zu Hilfe. Wir können daraus lernen: unser Zweifel an Jesus
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und seiner rettenden Macht ist gerade nicht etwas, was uns von Jesus trennt. Denn er lebt schon vom Glauben, den uns Jesus entlockt hat. Was also läge näher als erneut Jesus aufzubieten gegen die Nichtigkeit des Zweifels?
3 Der Glaube in der Gemeinschaft der Kirche Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, deren Zustandekommen sich Jesus verdankt. In der Kirche leben die Menschen in einem durch Jesus geschaffenen Raum, in dem Jesus absolut massgebend ist. Diese Gemeinschaft ist geschaffen und wird am Leben erhalten durch einen Tisch, den niemand von uns g.edeckt hat. Dieser Tisch wird anschaulich in der Feier des Abendmahls. In der Kirche haben wir es also mit einer Gemeinschaft zu tun, deren Zusammenhalt sich nicht den Teilnehmern verdankt. Der Zusammenhalt verdankt sich weder den gemeinsamen Interessen der Teilnehmer, noch ihrer gemeinsamen Handlungsstrategie für die Zukunft der Welt, noch der Gleichgestimmtheit ihrer Seelen. Die Kirche ist - wie Paulus in I Kor 12 erklärt - der Leib Christi und insofern der allen Glaubenden zuvorkommende Lebensraum ihres Glaubens. Wir haben es also mit einer Gemeinschaft zu tun, die es allein im Glauben gibt. Im Glauben daran nämlich, dass der Tisch, an dem wir Platz nehmen, kein anderer als der Tisch Gottes sei. Oder im Glauben, dass Jesus absolut massgebend sei. Wir sehen also: die Gemeinschaft der Kirche geht nur so weit, wie der Glaube ihrer Teilnehmer geht. Im Gegensatz zu allen modernen Versuchen, die Gemeinschaft der Kirche anders zu entwerfen, etwa als Interessengemeinschaft oder als Handlungsgemeinschaft, muss dies festgehalten werden. Denn dabei steht sehr viel auf dem Spiel. Es steht eine elementare Gegebenheit des Lebens selbst auf dem Spiel: die Gegebenheit nämlich, dass Gemeinschaft unter den Menschen nicht durch das entsteht, was sie sind oder produzieren, sondern dass Gemeinschaft schon mit ihrem geschöpfliehen Leben selbst gegeben ist. Solange dies in Erinnerung gehalten wird durch die Gemeinschaft der Kirche, sind die Menschen ansprechbar darauf, dass sie in Lebensbeziehungen eingelassen sind. Und sie sind insofern in Anspruch zu nehmen für das, was die Beziehungen ihnen gebieten. Gemeinschaft unter den Menschen ist - solange die Gemeinschaft der Kirche besteht - erkennbar als etwas, was dem
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ethischen Handeln vorangeht, als etwas, was der Nährboden und nicht das Produkt ethischen Handeins ist. Es ist auch mir nicht entgangen, dass Gemeinschaft heute anders entworfen und vorgestellt wird. Aber es ist meines Erachtens die Aufgabe der Kirche, der Versuchung gemachter Gemeinschaft zu widerstehen und allein bei der geglaubten Gemeinschaft zu bleiben. Denn es steht die wahre Natur menschlicher Lebensgemeinschaft selbst auf dem Spiel. Klar ist, dass solcher Glaube nicht in der Reichweite der kirchlichen Gemeinschaft liegt. Auch er muss den Menschen entlockt werden. Schon das Neue Testament weiss deshalb von der Gegenwart des heiligen Geistes: der heilige Geist ist jene Macht, welche die Gegenwart Jesu vertritt bei den Menschen. Er ist die Kraft, die in den Worten Jesu wohnt und Menschen überzeugt. Er ist dieselbe Kreativität, wie sie in der Entstehung des Universums, im Kommen Jesu, in der Auferstehung Jesu von den Toten schon am Werk war. Das Johannesevangelium nennt diesen Geist den Parakleten: den Fürsprecher oder Anwalt. So wie Jesus der Anwalt Gottes bei den Menschen war, so ist der Geist der Anwalt Jesu bei ihnen. Und er symbolisiert den Sachverhalt, dass es Dinge gibt, die sich selbst in Erinnerung rufen. Nicht ich halte Christus im Gedächtnis, er selbst ruft sich in Erinnerung bei mir. Der Paraklet ist das Symbol flir die kreative Natur des guten Wortes und der rettenden Tat. Deshalb wird in der Kirche gebetet: veni creator spiritus, komm Schöpfer Geist! Klar ist auch, dass eine solche, bloss dem Glauben zugängliche Gemeinschaft nicht ohne weiteres sichtbar ist. Im Gegenteil, sichtbar ist häufig das, was die Menschen voneinander trennt, sichtbar ist der Zusammenprall der Meinungen, die Intoleranz der Wahrheitsbesitzer, der Terror derer. die wissen, was für alle das Beste sei, und der Streit der politisch Engagierten. Diesen Widerspruch zwischen der sichtbaren Uneinigkeit und der unsichtbaren Einigkeit muss die Kirche aushalten. Jede andere gesellschaftliche Gruppe kann ihre Gemeinschaft so ins Werk setzen, dass sie Andersdenkende ausschliesst, dass sie Gleichgesinnte in sich vereinigt. Der Kirche ist dies verwehrt, weil in ihr die Gemeinschaft Gegenstand des Glaubens und nicht Ergebnis des Wirkens ist. Die Menschen stehen mir vor Augen als Konkurrenten oder Mitstreiter in einer guten Sache, als Gegenspieler oder gar Feinde in grossen und kleinen Gefechten. Erst der Glaube sieht in sie das hinein, was uns alle verbindet. Denn erst der Glaube erkennt auf ihren Gesich-
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tern das Gesicht Jesu Christi. Kein Wunder also, wenn soziologische Analysen und psychologische Tests nur die Uneinigkeit der Kirche zutage fördern. Die Einigkeit ist keiner berechnenden Methode erschwinglich, sie ist allein dem Glauben zugänglich, durch den sie besteht. Dennoch wünsche ich mir- vom Neuen Testament her gesehen - die Kirche als einen Raum, in welchem die Menschen mit neuen Augen angesehen werden. Hier soll ihnen jene Würde zugestanden werden, die Jesus den Menschen um ihn herum zugestand: die Würde eines von Gott geliebten Geschöpfs. Deshalb sollen sie in der Kirche nicht mit besitzergreifenden Augen angesehen werden, mit Augen, die sich der Menschen bemächtigen, die Menschen vereinnahmen in unerbittlichen Definitionen oder für übermenschliche Ziele. Deshalb sollen sie nicht mit den Augen der Anklage angesehen werden, die sich in unserer Welt überall breit macht. Mit Augen, die mich untergehen lassen zusammen mit dem Bösen, das ich zweifellos getan habe, Augen, die mir gerade die urchristliche Wohltat verweigern, dass ich vom Bösen, das ich produziere, unterschieden werde. Wer könnte die Kirche mit den Augen Jesu ausstatten, wenn nicht der Geist Jesu? Wie anders könnte sie sich solche Augen geben lassen, wenn nicht durch die Bitte: Veni, creator spiritus? Und ich wünsche mir- vom Neuen Testament aus gesehen - die Kirche als einen Ort, wo eine andere Sprache gesprochen wird. Eine Sprache nämlich, die mich nicht verdammt und verunsichert, sondern eine Sprache, die mich liebt. Man kann nicht das Evangelium der Liebe Gottes im Munde führen und zugleich selbst eine Sprache sprechen, die den Angeredeten gar nicht wohlgesinnt ist. Eine Sprache, die die Menschen liebt, muss nicht etwa alles unter den Teppich kehren. Aber es ist eine Sprache, die nicht schon in der Aufdeckung von Fehlern und in der Anklage von Verantwortlichen den höchsten kulturellen und religiösen Wert sieht. Nach dem ersten Johannesbrief (3, 19f) erkennen die Menschen, dass sie in der Wahrheit sind, daran, dass sie ihr Herz vor Gott beruhigen. Ihr Herz, das sie anklagt und gewiss mit Grund verurteilt. Das Sein in der Wahrheit ist also gerade nicht an der ständigen Unruhe und Aufgescheuchtheil erkenntlich, zu der sich heute auch viele Christen meinen bekennen zu müssen. Denn das Sein in der Wahrheit hat sein Gepräge nicht von dem anklagenden Herzen - es soll in Würde anklagen können - , sondern allein von dem Gott, der - wie es an der
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zitierten Stelle heisst - grösser ist als unser Herz. Grösser ist er sicher nicht darin, dass er Anzuklagendes grosszügig unter den Teppich kehrt, grösser ist er darin, dass er die Angeklagten mit den Augen der Liebe betrachtet und sie also befördert von Angeklagten zu Geliebten, die nicht mehr um sich fürchten müssen. Etwas von dieser grösseren Grösse Gottes gehört unbedingt in das Reden der Kirche. Und woher könnte sie sich den Glauben an das Sein in der Wahrheit und die Sprache der Liebe geben lassen, wenn sie sich nicht an der biblischen Rede zum Menschen orientieren würde? Wie anders könnte sich die Kirche diese Sprache herbeiwünschen, wenn nicht durch die Bitte: Veni, creator spiritus? Schliesslich gilt es zu bedenken, dass die Kirche der Ort ist, wo Glauben seine Zeit hat. Der Glaube versteht sich niemals von selbst. Er ist auch kein bloss informatives Phänomen. Der Glaube erschöpft sich nicht darin, mich darüber zu informieren, dass die Welt Gottes Schöpfung und die Menschen meine Brüder und Schwestern sind. Denn der Glaube ist selbst die Anbetung des Schöpfers, er ist selbst die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung, und er ist selbst die Würdigung der Menschen als Schwestern und Brüder. Diese Wahrnehmung und diese Würdigung sind keine punktuellen Informationen. Sie brauchen vielmehr ihre eigene Zeit, sie haben ihre eigene Ausdehnung. Der Glaube braucht die Zeit, wo er- nicht zuletzt im Kirchenraum -dem Heiligen begegnet. Der Glaube braucht den Raum, wo er ins Nachdenken über die Kreativität kommt, die das Leben begleitet. Er braucht den Raum der Andacht, wo es für einmal nicht darum geht, zu fragen, was wir mit der Welt machen können oder sollen und was wir aus den Menschen und aus uns selbst machen können oder sollen, sondern wo es für einmal darum geht, das wahre Gewicht der Welt, der Menschen und meines eigenen Lebens überhaupt zu verspüren. Diese Zeit und diesen Raum stellt die Kirche allen Menschen zur Verfügung. Diese Zeit und diesen Raum gibt sie freilich nur dann, wenn sie in ihren Räumen den Menschen etwas zu glauben gibt, statt dass sie ihnen bloss alle Hände voll zu tun gibt.
Wirksame Wahrheit Zur metaphorischen Qualität der Gleichnisrede Jesu Vom Gottesreich redete Jesus vornehmlich in Gleichnissen. Ein bedeutender Teil der Jesusüberlieferung weist die Sprachform des Gleichnisses auf. Sie scheint kennzeichnend für die Verkündigung Jesu zu sein. Deshalb beschäftigte sich die neuere Exegese zunehmend intensiver mit der Gleichnisrede Jesu. In neuester Zeit setzt sich immer deutlicher der Konsens durch, dass die Gleichnisse als metaphorische Rede zu verstehen sind. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf einen zentralen Aspekt metaphorischer Rede: auf ihre Wirksamkeit.
Traditionelle Sprachtheorie In der herkömmlichen, auf Aristoteles zurückgehenden Sprachtheorie gelten Metaphern als ein bildhaftes, uneigentliches Reden, das vom eigentlichen, begrifflichen Sprachgebrauch abweicht. Eigentliche Sprache wird im Rahmen einer Abbildungstheorie als Korrelat zur Wirklichkeit verstanden. Begriffliche Sprache bildet, wenn sie nicht lügt, adäquat ab, was in Wirklichkeit der Fall ist. Metaphorische Sprache dagegen wird im Rahmen einer Substitutionstheorie als Ausschmückung begrifflicher Sprache verstanden. Metaphorische Sprache ersetzt, wenn sie gelingt, die Begriffe durch Bilder. Und die Sachgemässheit der Bilder kann man überprüfen, indem man sie in die Begriffe zurückübersetzt, die sie veranschaulichen. Im Rahmen dieser Sprachtheorie sind die Gleichnisse Jesu bildhafte Darstellung des Begriffs vom Reiche Gottes. Sie stellen anschaulich dar, wie man sich das jenseitige und unanschauliche Gottesreich vorzustellen hat. Die Abweichung von begrifflicher Sprache ist zwar um der Wahrheit willen nicht notwendig. wohl aber um der Hörer willen erlaubt. Ebenso sind die Gleichnisse Jesu zwar um der Wahrheit des Gottesreichswillen nicht notwendig. wohl aber aus didaktischen Gründen erlaubt: die Hörer sollen die abstrakte Wahrheit des Gottesreichs in konkreten Bildern besser und angenehmer erkennen. Die Metapher hat ihren Ort in der
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Rhetorik, also dort, wo es darum geht, die Menschen zu bewegen. Metaphorische Sprache ist wirkungsvolle Sprache. Sie erzielt Wirkung, weil sie überraschende Zusammenhänge herstellt: die Metapher ))Lebensabend« zum Beispiel bringt überraschend die Bereiche ))Leben« und ))Tageszeiten« zusammen. Das Überraschende berührt die Menschen. Metaphorische Sprache erzielt ferner Wirkung, weil sie wirkungsvolle Bilder verwendet. Das Bild ))Lebensabend« ruft die Wirkung aller Erfahrungen hervor, die der Mensch mit dem Abend schon gemacht hat. Bilder wirken ja überhaupt auf den Betrachter, sei es durch ihre Schönheit oder Hässlichkeit, sei es durch ihre Verankerung in Erfahrung. Bilder bewegen die Menschen. Eben diese Wirkmacht wird in der Metapher ausgenutzt. Und nun bewegt sich der Mensch nicht mehr selbst, sondern er wird bewegt durch den Stoff, der ihm sprachlich vergegenwärtigt wird. Metaphorische Rede erzielt schliesslich dadurch Wirkung, dass sie ein Moment des Spiels in sich trägt. Sie umspielt die Wahrheit mit Bildern und unterbricht insofern die Anstrengung des Begriffs. Bilder spielen dem Menschen die Bewegung zu, in die sie ihn ~ersetzen. Metaphorisches Reden ist also, so zeigt selbst das didaktische oder rhetorische Verständnis, wirkungsvolles, bewegendes Reden. Diesen Aspekt gilt es auch dann festzuhalten, wenn die Metapher in den Rahmen eines anderen Sprachverständnisses gestellt wird, wie dies einerseits in der neueren Sprachtheorie und j.dererseits in der Gleichnisauslegung der jüngsten Zeit geschehen ist{
Neue sprachtheoretische Einsichten Neuere Arbeiten zur Sprachtheorie und zur Gleichnisauslegung konnten zeigen, dass die Metapher nicht aus rhetorischen oder didaktischen Gründen vom eigentlichen Sprachgebrauch abweicht. Die Metapher ersetzt nicht bloss den Begriff durch das Bild. Vielmehr ordnet sie einem bestimmten Subjekt ein Prädikat zu, das aus einem anderen Bereich stammt. Subjekt und Prädikat sind eigentlich unvereinbar. Die Metapher ))Die Natur ist ein Tempel« (Baudelaire) gewinnt ihre Bedeutung dadurch, dass sie dem Subjekt Natur das Prädikatsnomen Tempel zuordnet, eine Zuordnung, die eigentlich nicht möglich wäre. Der semantische Wert dieser Aussage beruht genau auf der Unvereinbarkeit
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von Natur und Tempel. Denn die Wörter Natur und Tempel interagieren miteinander, wodurch die Bedeutung der Aussage entsteht. Und daraus folgt: die Metapher kann nicht nach der Substitutionstheorie verstanden werden. Sie muss vielmehr nach der Interaktionstheorie begriffen werden als ein kalkulierter Intum, der Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern der die Wirklichkeit der Natur neu als Tempel zu verstehen gibt. Daraus folgt weiter: die Metapher ist nicht bloss eine aus didaktischen Gründen erlaubte Abweichung von eigentlicher Rede, sondern metaphorisches Reden ist aus sachlichen Gründen notwendig. Nicht der Hörer verlangt die bildhafte Einkleidung, sondern die Wahrheit selbst kann nur in der Gestalt bildhafter Rede zur Sprache kommen. Bewegend sind also die Gleichnisse nicht bloss aus didaktischen Gründen. Sondern das Gottesreich kommt deshalb im bewegenden Gleichnis zur Sprache, weil es selbst eine bewegende Wahrheit ist. Das Gottesreich ist der Ort, wo Gott in Aktion ist, und die Zeit, die durch Gott bestimmt ist. Diese göttliche Aktivität widerspiegelt sich insofern im Gleichnis vom Gottesreich, als diese Sprachform wesentlich eine bewegende ist. Daraus ist zu ersehen, dass die Sprachform Gleichnis sowohl eine theologische als auch eine anthropologische Relevanz hat. Ihre theologische Relevanz besteht meines Erachtens darin, dass sie als bewegendes Wort die göttliche Kreativität, von der sie ja spricht, unmittelbar erscheinen lässt. Dem kreativen Gott entspricht das bewegende Wort. Die anthropologische Relevanz dieser Sprachform besteht meines Erachtens darin, dass sie die menschliche Angewiesenheil auf den bewegenden Stoff zur Erfahrung bringt. Angesichts der Gleichnisse existiert der Mensch nicht als ein unbewegter Beweger der Dinge, sondern als ein von göttlicher Kreativität bewegtes, auf die Gegenwart des göttlichen Bewegers angewiesenes Geschöpf. Dem kreatürlichen Menschen entspricht die Angewiesenheil darauf, vom Wort bewegt und zur Wahrheit bewogen zu werden. Wirksam ist - zusammenfassend gesagt - die Sprachform des Gleichnisses, und das Gottesreich verlangt als wirksame Wahrheit diese Sprachform. Wir wenden uns jetzt der Frage zu, wie die Wirksamkeit der hier zur Debatte stehenden Wahrheit des Gottesreiches genauer zu beschreiben sei.
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Sprachlich geschaffene Wirklichkeit Es gibt eine Common-sense-Auffassung, wonach die Sprache bloss beschreibt, aber nichts bewirkt. Wonach die Sprache Wirklichkeit bloss abbildet, aber nicht schafft. Diesem Common-sense ist jetzt zu widersprechen. Wer allerdings der Sprache zutraut, Wirkliches nicht bloss abzubilden, sondern Wirklichkeit zu schaffen, setzt sich dem Verdacht aus, überwundener Sprachmagie erneut das Wort zu reden. Diesem Verdacht ist zunächst mit dem Hinweis auf den alltäglichen Sprachgebrauch zu begegnen. Hier gibt es durchaus Sprachfonnen, die Wirklichkeit schaffen, ohne dass man sie der Sprachmagie bezichtigen könnte. Die Beschimpfung etwa schafft ein bestimmtes Verhältnis zwischen Personen: wer den andern einen Esel nennt, schafft Wirklichkeit, auch wenn dem andern keine Eselsohren angezaubert werden. Oder der Witz erschafft ein bestimmtes Tun eines Menschen. Wer einen andern zum Lachen bringt, schafft Wirklichkeit, indem er den (theoretisch erkennbaren und beschreibbaren) Humor Ereignis werden lässt. Oder die Liebeserklärung schafft ein bestimmtes Sein eines Menschen. Wer einem andern die Liebe erklärt, schafft Wirklichkeit, indem er ihm die Würde des Geliebtseins zugesteht. Diese Beobachtung am alltäglichen Sprachgebrauch kann in einen sprachphilosophischen Zusammenhang gestellt werden. In neuerer Zeit wurde der Sprechakt entdeckt. Dabei handelt es sich um sprachliche Vorgänge, zu denen das Verb »tun« besser passt als das Verb »beschreiben«. Man denke an einen Satz aus der Trauliturgie: »Ich nehme diesen NN zum Mann.« Dies ist ein Beispiel für sprachliche Vorgänge, in denen die Wirklichkeit dessen, was ausgesagt wird, geschaffen wird. Und zwar wird sie geschaffen durch das Sagen selbst. Solches Reden beschreibt nicht, sondern es handelt. Deshalb spricht man von perfonnativer Sprache (einer Sprache, die eine performance, eine Wirksamkeit, hat) und stellt sie der informativen gegenüber (einer Sprache, die bloss Wirklichkeit beschreibt). In der analytischen Sprachphilosophie ging man bisweilen sogar so weit, der Sprache ihre Abbildungsfunktion überhaupt abzusprechen. Man prägte den Begriff der »deskriptiven Illusion«, um darauf hinzuweisen, dass alle menschlichen Sprachvorgänge im Grunde performativen Charakter haben. Wer allerdings den besonderen Charakter der Sprechakte respektieren will, wird nicht so weit gehen. Dennoch hat die Sprechakttheorie unüberhör-
Sprachlich geschaffene Wirklichkeit
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bar darauf aufmerksam gemacht, dass Sprache Wirklichkeit auch schaffen kann. Es ist sinnvoll, die Metapher als Sprechakt zu verstehen. Wer die Natur einen Tempel nennt, staUet die Natur mit einer neuen Wirklichkeit aus, die nur im Sagen selbst besteht. Dies ist keine Information über die Natur, es ist ein Sehen der Natur als einen Tempel. Wer eine solche metaphorische Aussage macht, gibt durch sein Sagen eine neue Wirklichkeit zu verstehen. So verstanden kann die Metapher mit hohem Ertrag zum Verständnis der Gottesreichsgleichnisse herangezogen werden. Das Gleichnis hat dann die Grundstruktur: Subjekt (Gottesreich)Kopula (ist, gleicht, ist wie) - Prädikatsnomen (die Gleichniserzählung). Es ordnet dem Subjekt Gottesreich ein Prädikat zu, das eigentlich kein Prädikat des Gottesreichs sein könnte. Das Gottesreich ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes als beispielsweise die Geschichte vom gefundenen Schatz (Mt 13,44). Doch gerade dem Gleichnis geht es nicht darum, über das Gottesreich zu informieren. Gleichnisse sprechen von alltäglichen Begebenheiten, von Abläufen in der Natur und menschlichen Verhaltensweisen. Sie sprechen vom Alltäglichen und beanspruchen dennoch, das Gottesreich zur Sprache zu bringen. Daraus folgt: Gleichnisse schaffen eine unvermutete Nähe zwischen transzendentem Gottesreich und alltäglicher, immanenter Wirklichkeit. Ihre Performanz besteht genau darin, dass sie das jenseitige Gottesreich ins Diesseits einkehren lassen. In diesem Punkt entsprechen die Gleichnisse dem Grundzug des christlichen Glaubens: der Inkarnation. Wie Christus verstanden wird als Verkörperung des göttlichen Wortes (nicht bloss als Information über dessen Inhalt), so wird das Gottesreich im Gleichnis sprachlich verkörpert (nicht bloss beschrieben). Das Gleichnis spricht gleichsam inkarnatorisch. Wie der Christus wahrgenommen wird als Austeilung göttlicher Gnade, so ist das Gleichnis wahrzunehmen als Wirksamkeit des göttlichen Königseins. Das Gottesreich ist insofern wirksame Wahrheit, als es am Menschen inmitten seiner Lebenswelt wirkt. Dieser Wirksamkeit entspricht das Gleichnis, indem es die Nähe Gottes zum menschlichen Leben erschafft.
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Wirksame Wahrheit
Einstellung auf das Gottesreich Gleichnisse erzählen Geschichten, die auf eine Pointe angelegt sind. Sie geleiten die Hörer Schritt für Schritt bis zu einem Punkt, wo eine bestimmte Reaktion selbstverständlich ist. Das Gleichnis vom Schatz im Acker etwa (Mt 13,44) malt den Hörern vor Augen, in welcher Freude ein Finder alles hingibt, um den Acker mit dem Schatz zu besitzen. Das Bild des Schatzes vergegenwärtigt den Reichtum des Gottesreiches, und das Bild des glücklichen Finders erschafft den Raum für eine menschliche Einstellung auf jenes Reich. Die gegenwärtige Einstellung auf das Gottesreich hat konkret die Gestalt der Freude über den Fund. Nicht etwa die Gestalt der überdimensionierten Entscheidung, mit der man alles zu opfern bereit ist. Das Gleichnis entwirft vielmehr ein Leben, das durch den Fund schon entschieden ist. Oder im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23-35) etwa werden die Zuhörer zu dem Punkt geführt, wo ihnen das Verhalten des Knechts gegenüber seinen Mitknechten unbegreiflich und hart erscheint. Wie kann er nur so hart mit seinem Schuldner verfahren, nachdem ihm unermessliche Schuld vergeben worden ist, so lautet die nahegelegte Reaktion. Das Gleichnis hat damit eine Einstellung zur unermesslichen Vergebung im Gottesreich geschaffen. Deshalb beginnen die Hörer, zunächst des Knechtes Unbarmherzigkeit und dann ihre eigene Härte unbegreiflich zu finden. An der Pointe angekommen, ist Vergebung selbstverständlich. Eben dies ist die gegenwärtige und menschliche Einstellung auf das künftige und göttliche Reich der Vergebung. Oder im Gleichnis von den verlorenen Söhnen (Lk 15, ll-32) werden die Hörer an den Punkt geführt, wo einerseits Heimkehr, andererseits das Hereinkommen zum Fest selbstverständlich geworden ist. Das Bleiben in der Fremde wäre unvernünftig angesichtsdes Vaters, der zuhause wartet. Und das Verharren im Ärger wäre unangemessen angesichts des Vaters, der zum Fest bittet. Das Gleichnis versammelt verschiedene Hörer jeweils an den Punkt, wo ihre Existenz, die Wahrheit ihres Lebens zur Entscheidung kommt. Genau die Heimkehr aus der Fremde und die Einkehr zum Fest der Liebe sind die gegenwärtige Einstellung auf das künftige Gottesreich. Dasselbe kann auch dadurch bewirkt werden, dass mich das Gleichnis mit neuen Augen ausstattet. »Wer unter euch, der hundert Schafe hat und eines davon verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wü-
Einstellung auf das Gottesreich
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ste zurück, um das verlorene zu suchen?« (vgl Lk 15,3-7) Eine solche Frage staUet mich - für einen Augenblick nur - mit fremden Augen aus: es scheint mir selbstverständlich, die 99 Schafe um des einen verlorenen willen aufs Spiel zu setzen. Absolute Priorität hat die Suche nach dem Verlorenen. So der erste Blick, den mich das Gleichnis auf die Welt tun lässt. Doch auf den zweiten Blick ist die Sache nicht mehr so klar. Wer wollte das Risiko eingehen, schätzungsweise 30% der Schafe zu verlieren, bloss um I% wieder zu finden? Der zweite Blick ist der vernünftige, in meiner Welt übliche, berechnende Blick. Doch das Gleichnis hat bereits dafür gesorgt, dass er immer der zweite Blick bleiben wird. Es ist der Berechnung zuvorgekommen, indem es mich zuerst mit Augen ausstattete, für die die bedingungslose Suche selbstverständlich ist. Die Beispiele zeigen, wie die Wirksamkeit des Gottesreiches durch das Gleichnis zu denken ist. Zugespielt wird den Hörern, dass sie jetzt eine Einstellung zum kommenden Gottesreich gewinnen. Eigentlich wäre dieses Reich streng jenseitig und zukünftig zu begreifen. Gegenwärtig werden könnte es dann nur in der menschlichen Praxis, in der menschlichen Arbeit nach dem Willen Gottes. Der menschliche Wille zum Guten wäre die Kraftquelle solcher Arbeit (oder gar - wenn es schlecht herauskäme - die menschliche Angst vor dem Gericht des Gottesreiches). Nun sorgt aber das Gleichnis daftir, dass jenes Reich aus dem Jenseits ins Diesseits hereinragt und aus der Zukunft in die Gegenwart hereinkommt. Man könnte auch sagen: das Gleichnis macht das Gottesreich jetzt und hier zum Ereignis - zum Ereignis an seinen Hörern. Das ist die Arbeit der Sprache. Ereignis wird es, indem die Hörer eine Einstellung gewinnen zu ihm. Gerade eine solche Einstellung wird die Menschen ihrerseits zum Tun veranlassen, zum Tun dessen, was angesichts des nahe gekommenen Gottesreiches an der Zeit ist. Gerade die Arbeit des Gleichnisses trägt auch im Wirken der Menschen Frucht. Aber diese menschliche Praxis hat nicht mehr den Charakter, das Gottesreich zu verwirklichen, sondern sie verdankt sich dem Gott, der sein Reich selbst verwirklicht hat. Statt dass menschliches Wirken den Abstand zwischen dem Dann und dem Jetzt, dem Oben und dem Unten, dem Drüben und dem Hier zu überwinden trachtet, lebt es davon, dass der Abstand schon überwunden ist. Eben darum konzentriert es sich auf die Überwindung der verbleibenden Abstände zwischen
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Wirksame Wahrheit
Mensch und Mensch, in der Liebe, die Grenzen überschreitet, und in der Vergebung, die Neuanfänge ermöglicht.
Raum für die Person Schon die frühere rhetorische Auffassung der Gleichnisse machte klar, dass es sich dabei um eine eminent anredende Sprachform handeln muss. Dies wird durch die neuere Sprachtheorie noch stärker in den Vordergrund gestellt. Wir hatten gesehen, dass das Gleichnis- wie die Metapher- eine Aussage macht, die jenseits der Abbildung des Wirklichen ist. Es geht über das Wirkliche hinaus. Denn es gibt Wirkliches auf andere Weise zu sehen, als dies gewöhnlich gesehen wird. Daraus ergibt sich der prinzipiell anredende Charakter der Gleichnisrede. Denn sie gibt immer einer angeredeten Person etwas als etwas zu sehen. Wenn eine Metapher die Natur als Tempel zu sehen gibt, so ist sie unbedingt darauf angewiesen, dass jemand sich mit diesen neuen Augen ausstatten lässt. Wenn Jesus das Gottesreich als Geschichte vom glücklichen Finder zu sehen gibt, so ist er unbedingt auf Personen angewiesen, die sich diese neue Sichtweise geben lassen. In der Gleichnisrede gehört demnach das Anreden unauflöslich zur Aussage hinzu. Sie ist der anredenden Sprache verpflichtet. Indem die Gleichnisrede prinzipiell anredet, hält sie von vomherein einen Raum offen für solche, die gleichsam die Rolle der Angeredeten zu spielen bereit sind. Der Lebensraum der Angeredeten wird also in zuvorkommender Weise durch diese Sprachform geschaffen. Das menschliche Subjekt ist vom Kampf um den Daseinsraum befreit. Wirksam wird die Wahrheit des Gottesreiches durch das Gleichnis darin, dass es den Daseinsraum schon jetzt eröffnet, den das Gottesreich für die Menschen bereithält. Im Unterschied dazu verflüchtigt abbildende Sprache die Subjekte. Wenn sie abbildet, was der Fall ist, so ist ihr Sagen unabhängig von den Subjekten, unabhängig vom Sprecher ebenso wie vom Hörer. So sehr die Sprache zum blossen Instrument der Verständigung verkümmert, so sehr werden gerade die Subjekte, die sich ihrer zu bedienen meinen, verflüchtigt. In den Gleichnissen weisen manche formalen Elemente auf diesen Anredecharakter hin. Manche Gleichnisse sind in die Form der rhetorischen Frage gegossen (etwa das Gleichnis vom verlorenen Schaf, Lk
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15,3-7). Die rhetorische Frage spricht Personen auf eine bestimmte Antwort an, sie legt ihnen eine bestimmte Anwort nahe, ohne sie ihnen aufzuzwingen. Die Angeredeten werden nicht auf sich selbst zurückgeworfen beim Finden der Antwort, und dennoch werden sie nicht von der Notwendigkeit des Beweises überwältigt. Andere Gleichnisse geben den menschlichen Denkweisen ausreichenden Raum in der Erzählung. Die Überlegungen etwa des vor dem Nichts stehenden Sohnes in Lk 15 werden breit erzählt. Seine vernünftige Einsicht, dass die Tagelöhner zu Hause ein besseres Leben haben als er hier. Und seine nicht weniger vernünftige Einsicht, es sei bei seiner Rückkehr erträglicher. beim Vater eine Anstellung als Tagelöhner zu erbitten. Ebenso wird dem Protest der Zuerstgekommenen in Mt 20,1-15 viel Raum gegeben. Ihrem Einspruch im Namen des Prinzips »gleiche Arbeit - gleicher Lohn«. Diese Beispiele- sie Iiessen sich ohne weiteres vermehren - zeigen, dass die Menschen mit ihren gewöhnlichen Denkweisen eine Heimat finden im Gleichnis. Ihnen wird durch die Erzählung ein Raum geschaffen, den sie sich nicht zu erkämpfen brauchen. Andere Gleichnisse weisen einen offenen Schluss auf. Die Erzählung bricht ab. So endet das Gleichnis von den Verlorenen Söhnen damit, dass der Vater draussen beim Verärgerten steht und ihm zuredet, ihn bittet, zum Fest zu kommen. Durch diesen Abbruch legt die Erzählung den Schluss in die Hände ihrer Hörer. Zwar hat sie alles getan, um ihnen einen Schluss im Sinne des Gottesreiches nahezulegen. Aber den Schluss zu machen, überlässt sie den Hörern selbst. Gleich einer offenen Ellipse schafft sie den Raum für solche, denen es gegeben ist, den intendierten Schluss zu machen. Die offenen Schlüsse sind verhaltene, aber unübersehbare Hinweise darauf, dass die Gleichnisrede geradezu unvollständig ist ohne ihre Hörer. Hier ist die Angewiesenheil auf Hörer mit Händen zu greifen. Ein weiterer Gedanke ist zu berücksichtigen. Eine als Abbildung des Wirklichen entworfene Sprache hat ein eindeutiges Wahrheitskriterium: sie kann daran gemessen werden, ob sie dem, was tatsächlich der Fall ist, entspricht. Die Wahrheitsfrage kann ohne die Berücksichtigung von Sprecher und Hörer beantwortet werden. Ganz anders bei der metaphorischen Sprache, verstanden als über das Abbilden hinausgehendes Reden. Ob der Satz »Die Natur ist ein Tempel« wahr ist, kann nicht aufgrund der Adäquation von Sprache und Wirklichkeit erfolgen. Der Satz gibt die Natur neu als Tempel zu verstehen. Die Wahrheitsfrage
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kann im Grunde nur von denen beantwortet werden, die ihn hören. Solche Sätze suchen nichts anderes als das Einverständnis der Hörer. Genauso verhält es sich mit den Gleichnissen Jesu. Dass es mit dem Gottesreich zugeht wie mit der Geschichte vom glücklichen Finder eines unermesslichen Schatzes, kann im Grunde nur der glückliche Finder bestätigen. Symbolisch aufs äusserste verdichtet erscheint dieser Grundzug der Gleichnisrede wiederum in jenem Vater, der seinen Sohn zum Fest hereinbittet. Die Bitte legt die Entscheidung ganz in die Hände des Sohnes, ohne dass sie ihn der Beliebigkeil des Kommens oder Fembleibens ausliefern würde. Die Bitte gewährt den Raum, wo in Würde Nein gesagt werden kann, und erschafft eben so den Raum für ein Ja, das diesen Namen verdient. Das Gleichnis lädt ein, seine Sicht der Dinge buchstäblich wahrzunehmen, ihr Wahrheit zuzugestehen. Eben so legt es die Wahrheitsfrage in die Hände der Hörer. Und dadurch spielt es den Hörern eine personale Würde zu, die sie sich niemals selbst erschaffen könnten.
Arbeit an menschlicher Verschlossenheit Die Metapher widersteht der Eindimensionalität der Sprache und insofern der eindimensionalen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Nicht zufällig ist sie vornehmlich in poetischer Sprache zuhause, der es darum geht, neue Dimensionen des Wirklichen zu entdecken. Die Metapher verlässt die Eindeutigkeit univoken Sprachgebrauchs, um Neues am Wirklichen zu verstehen zu geben. Man könnte sagen: die metaphorische Sprache zerbricht die jeweils herrschende Konstruktion der Wirklichkeit, um die Menschen näher an das Wirkliche heranzuführen. Ähnliches lässt sich auch von der Gleichnisrede Jesu sagen. Sie widersteht zunächst der Konstruktion, das Gottesreich sei in weiter Feme, indem sie es in die Nähe des alltäglichen Lebens kommen lässt. Sie widersteht auch der Konstruktion, der Mensch könne sich nur arbeitend auf das Gottesreich beziehen, indem sie an der Stelle des Gottesreiches am Menschen arbeitet. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit noch einem andem Grundzug der Gleichnisrede zu. In manchen Gleichnissen wird menschliches Denken und Verhalten geschildert, dessen Charakteristikum gerade darin besteht, dass es nicht mit dem Gottesreich rechnet. Der jüngere
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Sohn in Lk 15 zum Beispiel rechnet nicht mit der Liebe des Vaters, die ihm sein Sohnsein gnädig gewähren könnte, und verlegt sich deshalb darauf, den Vater um ein Arbeitsverhältnis zu bitten. Der ältere Sohn wiederum rechnet nicht damit, dass die Freude über den Zurückgekehrten das einzige ist, was seinen Vater bewegt, und geht verärgert nach draussen. Auch er hat seinen Vater verloren, nicht an einen heillosen Lebenswandel wie der Jüngere, sondern an die Berechnung, was ihm alles zustünde. Die zuletzt gekommenen Arbeiter in Mt 20 rechnen nicht damit, dass der Weinbergbesitzer seine Güte zum Mass des Lohnes machen könnte, und deshalb beharren sie auf dem verdienten Lohn. Der Schalksknecht in Mt 18 rechnet nicht damit, dass der zuvorkommende Erlass grosser Schuld seine eigene Wirklichkeit bestimmen könnte, und verharrt weiter in Unbarmherzigkeit, ganz so, als ob ihm nichts geschehen wäre. Alle diese Verhaltensweisen sind normal. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht mit dem gnädig Gewährten rechnen. Sie gründen darauf, dass die Welt der Berechnung und der Arbeit das einzig Massgebende sei. Theologisch gesprochen sind solche Verhaltensweisen Sünde, Abstand zu Gott, menschliche Verschlossenheit, Beschränktheit auf das Weltliche. Bemerkenswert ist nun, wie die Gleichnisse mit der Verschlossenheit umgehen. Wir hatten schon gesehen, dass sie ihr einen Raum geben, einen Ort, wo sie ausgesprochen werden kann. Schon dies ist ein Schritt über den Abgrund. Doch es lässt sich noch mehr sagen. Die Gleichnisrede erinnert an die Verschlossenheit des Menschen, um ihm das Wesen des Gottesreichs verständlich zu machen. Gerade wer seinen Vater nur noch als Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen wagt, wird verstehen, was die Umarmung bei der Heimkehr bedeutet. Wer sein Verhältnis zum Vater nur noch der Berechnung unterstellen kann, wird verstehen können, welche Dimensionen die Freude hat, die einen Vater zum Bitten bewegt. Wer ganz auf das Verdiente setzt, wird erst recht ermessen können, was das gnädig Gewährte ist, das im Gottesreich auch den Letzten zukommt. Und wer an sich selbst Unbarmherzigkeit beobachtet, wird verstehen, welchen Preis zuvorkommende Barmherzigkeit hat. Auf den Begriff gebracht heisst das: die Sünde des Menschen wird im Gleichnis unversehens zur Verständnisbedingung des Reiches Gottes. Angeknüpft wird gerade an die menschliche Verschlossenheit, nicht an die (vermeintliche oder wirkliche) Fähigkeit zur Offenheit. Die Verschlossenheit wird bis zu dem Punkt geführt, wo zumindest ihre Selbst-
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Verständlichkeit zerbricht. Dies ist die Arbeit, die das Gleichnis an den Menschen vollbringt. Man kann diese Arbeit Vergebung der Sünde nennen, wenn Sünde als menschliche Verschlossenheit gelten kann und Vergebung als deren Überwindung.
Identifikation und ihre Grenze Gleichnisse sind Erzählungen, die ihre Wirkung auch durch das Mittel des Identifikationsangebotes erzielen. Auch darin unterscheiden sie sich erheblich von theoretischer oder begrifflicher Sprache. Sie sind szenische Einheiten, kleine Theaterstücke, die die Hörer in ihre Geschichten zu verwickeln vermögen. Von solchen Geschichten gilt, dass sie Menschen herauszulocken vermögen aus dem Gehäuse ihres alltäglichen Lebens. Sie vermögen sie abzulenken von den Denk- und Verhaltensweisen, von denen ihre Lebensführung gewöhnlich geprägt ist. Es erfolgt eine Ablenkung von der Berechnung und der Lieblosigkeit, die das alltägliche Leben bestimmte. Gleichnisse haben eine ablenkende Wirkung, eine zum Besten der Hörer ablenkende Wirkung. Von solchen Geschichten gilt auch, dass sie Menschen in Bewegung setzen. Einmal ihrem Alltag entzogen sind die Hörer bereit, sich von der Erzählung in eine bestimmte Richtung geleiten zu lassen. Diese Bereitschaft wird wesentlich erhöht dadurch, dass die Erzählung Figuren anbietet, mit denen die Hörer sich identifizieren können. Es lohnt sich, solche Figuren etwas näher zu betrachten. Im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18) beispielsweise wird die Erzählperspektive so gewählt, dass die Hörer das Geschehen mit den Augen des Schalksknechts betrachten. Mit ihm sehen sie sich als Empfänger grosser Vergebung, mit ihm sehen sie sich auch hart und unbarmherzig sein gegen den, der ihm etwas schuldet. Mit ihm sehen sie sich schliesslich vor den König gestellt, der ihn fragt: »Hättest du dich nicht auch erbarmen sollen ... ?« Auch ihr Leben wird also auf die Vorgeschichte der Gnade aufmerksam, auch sie erkennen den objektiven Widersinn ihres Tuns, das jetzt zur Nachgeschichte der Gnade geworden ist. Es fällt aber auf, dass der König kein Identifikationsangebot an die Leser darstellt. Mit zwei verschiedenen Erzählperspektiven arbeitet das Gleichnis von den Verlorenen Söhnen (Lk 15). Zunächst werden die Hörer ganz in die Geschichte des Wegziehenden verwickelt. Sie erle-
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ben seinen Fall bis ins Angesicht des Todes. Das Gleichnis geht bis zum Äussersten, um klar zu machen: keine Verlorenheil ist so gross, dass es keine Heimkehr mehr gäbe. Und mit dem Sohn beginnen die Hörer in der Fremde vernünftig nachzudenken: Heimkehr ist besser als umkommen, man wird den Vater noch als Arbeitgeber ansprechen dürfen. Und mit ihm kehren sie zurück, werden sie überrascht von der Umarmung des Vaters und seiner Eile, den Heimgekehrten mit den Insignien der Sohnschaft auszustatten. Das Gleichnis macht dieses ldentifikationsangebot, um die Hörer in ihrer eigenen Verlorenheil aufzusuchen und sie zum Vernünftigen zu bewegen. Doch dann wechselt die Perspektive. Im zweiten Teil schauen die Hörer mit den Augen des älteren Sohnes, der von der Feldarbeit heimkehrt. Jetzt sollen sie sich mit seinem Ärger identifizieren können, um dann mit ihm vom Zureden des Vaters - vielleicht - berührt zu werden. Jetzt geht es nicht mehr um Verlorenheil in der Fremde, sondern um Verlorenheil an die heimische Berechnung. Jetzt geht es nicht mehr um vernünftige Rückkehr, sondern darum, beim Fest für den Rückkehrer dabei zu sein. Denn es kommt darauf an, dass man Umkehrende auch umkehren lässt. Das Gleichnis arbeitet dafür, dass sie nicht auf die Feme fixiert werden, sondern dass man sie in die Nähe, die sie wieder suchen, auch kommen lässt. Auch hier fällt auf, dass der Vater kein Identifikationsangebot darstellt. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) werden die zuerstgekommenen Arbeiter ins Rampenlicht gestellt. Ihr Geschick wird geschildert, ihre Hoffnung auf bessere Entlöhnung wird angedeutet, ihr Protest gegen die Gleichmacherei kommt ausführlich zu Worte. Und mit ihnen werden die Hörer den mehrfachen Argumenten des Besitzers für sein gütiges Verhalten ausgesetzt. Sie sollen verstehen, dass im Gottesreich alle gleich, nämlich alle Erste sind. Sie sollen verstehen, dass im Gottesreich Lohn gernäss der Gnade, nicht gernäss dem Verdienst ausgeteilt wird. Sie werden bearbeitet, damit ihnen die Güte des Gottesreiches selbstverständlich erscheine. Das Angebot der Identifikation ist auf die Zuerstgekommenen konzentriert. Auffallend ist wiederum, dass der Besitzer nicht als Figur zur Identifikation angeboten wird. Wir haben es hier mit einem theologisch bedeutsamen Grundzug der Gleichnisrede Jesu zu tun. Zur Identifikation angeboten wird nicht die leitende Figur, sondern die geleitete. Denn die leitenden Figuren verweisen metaphorisch auf Gott, die geleiteten dagegen auf die Men-
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sehen. Von ihnen aber ist nicht verlangt, dass sie göttliche Werke tun. Sie sind es nicht, die den Lebensraum und das Vermögen zur Verfügung stellen, sondern sie leben davon. Sie sind es nicht, die das Fest der Liebe veranstalten, sondern sie sind Gäste. Sie sind nicht die Liebenden, sondern die Geliebten. Statt dass ihnen die Leitung des Geschehens aufgebürdet würde, wird ihnen das Geleit des Gottesreiches angeboten. Über das Angebot der Identifikation lenkt die Gleichnisrede die Hörer ab von ihrem eigenen, orientierungslosen Leben. Und sie bewegt sie dorthin, wo sie das Geleit des Gottesreiches erblicken. Man könnte wohl sagen, dies sei eine Einführung des Menschen in seine Menschlichkeit. Gleichnisse arbeiten an der Menschlichkeit des Menschen, wenn unter Menschlichkeit das durch die Liebe geleitete Sein zu verstehen ist. Auf eine Ausnahme ist allerdings hinzuweisen. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15) werden die Hörer angehalten, die Sichtund Handlungsweise des Hirten selbstverständlich zu finden. Dies kann als Identifikationsangebot verstanden werden. Der Hirt verweist aber metaphorisch auf die Suche Gottes, des Menschen Ort wäre eigentlich an der Stelle des verlorenen Schafes. Fordert das Gleichnis zur Nachahmung Gottes auf? Die Ausnahme findet vermutlich eine ungezwungene Erklärung. Dass hier der Hirt als Identifikationsangebot erscheint, hat bloss damit zu tun, dass den Hörern die göttliche Suche selbstverständlich erscheinen soll. Zur Verlorenheil gehört ja, dass man sich eine solche unbedingte Suche gar nicht vorstellen kann. Eben die Selbstverständlichkeit dieser Vorstellung wird durch die rhetorische Frage erzeugt. Die Hörer existieren als Verlorene, und ihre Verlorenheil wird dadurch bearbeitet, dass sie auf die Fraglosigkeit der Suche angesprochen werden. Auch diese Ausnahme lässt sich demnach im Zusammenhang der anderen Gleichnisse Jesu verstehen. Das Angebot der Identifikation gibt das energetische Potential ab, die Menschen in ihre Menschlichkeit einzuführen.
Erinnerung an Erfahrung Oben ist gezeigt worden, dass die Gleichnisrede die Wahrheitsfrage in die Hände ihrer Zuhörer legt. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, die Wahrheit sei dem willkürlichen Konsens anheimgestellt. Dann wäre ebensogut ein Konsens mit der Lüge denkbar. Um diesem
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Fehlschluss vorzubeugen, ist auf eine weitere Dimension metaphorischer Sprache hinzuweisen. Das sprachliche Bild bezieht seine Wirkung aus der bewegenden Kraft dessen, was in ihm zur Erscheinung kommt. Die Gleichnisrede bringt das Gottesreich in den Zusammenhang mit Bildern aus der Welt der Natur oder des menschlichen Lebens: mit dem Wachstum etwa, oder dem Verhalten eines Vaters, eines Hirten, eines Weinbergbesitzers. Die Bilder, mit denen die Gleichnisrede arbeitet, rufen Erfahrenes in Erinnerung. Sie machen aufmerksam auf Vorgänge und Geschehnisse, die in unserer Welt vorkommen. Allerdings ist nicht die Welterfahrung das primäre Thema, sondern das Gottesreich. Aber das Gottesreich kommt dadurch in die Nähe, dass das Gleichnis an Welterfahrung erinnert. Offensichtlich kommt es dem Gleichnis nicht bloss auf die Willkür der Zustimmung, sondern vielmehr auf die Evidenz der Erfahrung an. Und die Antwort, die die Hörer auf die Frage der Wahrheit geben, beruht offenbar darauf, dass die in Erinnerung gerufene Lebenserfahrung Evidenz hat. So entdeckt das Gleichnis an der Welterfahrung die Dimension des Gottesreiches. Gewiss operieren die meisten Parabeln mit dem aussergewöhnlichen Verhalten von Figuren, gewiss übertreiben die meisten Gleichnisse die Grösse des Wachstums. Gewiss ist es aussergewöhnlich, dass ein Vater einen solchen Heimgekehrten umarmt und einen solchen Daheimgebliebenen zum Fest bittet, aber dennoch gibt es in der Welt die Umarmung und die Bitte der Väter und Mütter. Gewiss ist es aussergewöhnlich, dass ein Herr bei der Abrechnung so viele Schulden erlässt, aber dennoch gibtes-wenn auch im Fragment- die Vergebung auch unter gewöhnlichen Menschen. Gewiss ist es aussergewöhnlich, dass ein Bauer nach dem Säen nichts für das Gedeihen seiner Saat tut, aber dennoch ist einsichtig, dass er mit allem seinem Tun niemals das Wachstum ersetzen könnte, das zur Einrichtung des Lebens gehört. Die Nähe des Gottesreiches verursacht den Zug der Gleichnisse zum Aussergewöhnlichen. Die Welt erscheint als Schöpfung und die Menschen verhalten sich gernäss dem, was ihnen die Liebe eingibt. Aber gerade dieses Aussergewöhnliche ruft normale Erfahrung in Erinnerung, nicht bloss als Gegenwelt, sondern als Gottes Welt. Die Gleichnisrede spricht vom Aussergewöhnlichen, um die Spuren der Schöpfung zu entdecken, die im Gewöhnlichen gelegt sind. Auf diese Weise entdeckt die Gleichnisrede das Geheimnis des Wirklichen: sein Geheimnis ist es, auf verhaltene Weise das Gottesreich erkennen zu lassen. Entdeckt
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wird, dass die Umarmungen der Väter und Mütter etwas zu tun haben mit der Liebe, die im Gottesreich allein massgebend ist. Insofern erscheint Wahrheit in der Wirklichkeit der Umarmung. Entdeckt wird, dass die Wirkkraft, die im Sauerteig liegt, etwas zu tun hat mit der Wirkkraft des Guten, die dem Reich Gottes eignet. Damit wird die herrschende Konstruktion, wonach Sauerteig zum Symbol ftir die Macht des Bösen gemacht wurde, aufgebrochen. Insofern erscheint die Wirkungsmacht des Gottesreiches in der Unscheinbarkeit des Sauerteiges. Entdeckt wird, dass die Freude über gefundene Schätze etwas zu tun hat mit der Freude über die Nähe des Gottesreiches. Es erscheint eine neue Welt, in welcher die Aktivität der Funde auf die Kreativität des Gottesreiches deutet. Entdeckt wird, dass das Geheimnis des winzigen Senfkorns in dessen Zukunft liegt, im grossen Baum, der für alle Schatten spendet. Eben dies ist das Geheimnis auch der Gegenwart des Gottesreiches im Wort und im Tun Jesu. Entdeckt wird, dass im Wachstum eine Kreativität verborgen ist, die im Gottesreich bestimmend ist. Das Wachstum wird lesbar als eine Schrift über die Aktivität der Gnade, deren Wesen es ist, zu geben, ohne vorher genommen zu haben. Genau diesem Wachstum verdanken es die Menschen, dass sie auf dieser Erde am Leben erhalten werden. Es erscheint die Wahrheit des gnädig Gegebenen im Gewachsenen. Dies alles ist zu begreifen als eine Rückwirkung dessen, dass im Gleichnis ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem Gottesreich und der Welt der Menschen. Erkennbar wird, inwiefern das Gottesreich in die menschliche Erfahrungswelt hereinragt, nicht bloss via negationis, sondern via analogiae (fidei), auf dem Weg der Analogie, die erkennt, wer vom Gleichnis mit neuen Augen ausgestattet ist. Sofern in den Gleichnissen die Wahrheit wirksam erscheint, widerstehen sie ihrer Verkehrung in Gesetz. Das Wesen des Gesetzes besteht darin, dass es dem Menschen alles zu tun überlässt. Als Gesetz verstanden würden die Gleichnisse nicht selbst wirken, sondern sie würden die Tatkraft der Menschen beschwören; sie müsste die Verwirklichung des Gottesreiches im Alltag der Welt erwirken. Nun aber wirken die Gleic~_!li§~~ selbst, arbeiten sie an ihren Hörern, nicht zuletzt:maem sie auf die Kreativität aufmerksam machen, von der die Menschen im Alltag der Welt umgeben, getragen sind. Insofern sind die Gleichnisse nicht Gesetz, zu tun gebendes Wort, sondern Evangelium, tätiges Wort.
Sprache und Wirklichkeit Theologische Überlegungen Ich könnte meinen Vortrag mit dem Satz beginnen, das Thema Sprache und Wirklichkeit sei ein weites Feld. Und damit wäre er schon zu Ende. Denn das Reden pflegt ja aufzuhören, bevor es sich in weiten Feldern verliert. Am Anfang schon aufzuhören, gehört sich für Vorträge nicht. Es bleibt also der Versuch, von Sprache und Wirklichkeit so zu reden, dass man nicht in den spracheraubenden Sog der Weite dieses Themas gerät. Deshalb schränke ich das Thema ein. Nicht als Sprachwissenschaftler oder Philosoph kann ich hier sprechen, nicht einmal als Theologe. Vielmehr gelten meine Überlegungen eingeschränkt dem Problem von Sprache und Wirklichkeit, wie es sich für einen Neutestamentler stellt.
0 Problemstellung Wir machen uns die neutestamentliche Problematik anhand des folgenden Beispiels klar. »(Mit dem) Himmelreich ist (es) gleich wie mit (der Geschichte von) einem Schatz, der im Acker verborgen war. Diesen fand ein Mensch und verbarg ihn (wieder). Und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker.« 1 Dieses Gleichnis Jesu - es ist typisch für die neutestamentliche Sprache überhaupt - enthält die wesentlichen Konstituenten des Problems Sprache und Wirklichkeit. Das Himmelreich ist nach damaligem Verständnis ein Reich, das gegenüber der Welt absolut jenseitig ist, und eine Zeit, die gegenüber dem Jetzt absolut zukünftig ist. Wir würden dies etwa Transzendenz nennen. Verbunden damit ist aber eine Geschichte: sie erzählt von einem Menschen, der einen verborgenen Schatz findet und alles verkauft, um ihn zu besitzen. Solche Funde sind nicht gerade alltäglich, aber sie kommen vor. Die Geschichte erzählt von menschlicher Wirklichkeit. Das Gleichnis bringt das transzendente Himmelreich
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Mt 13.44. Zur Übersetzung vgl Weder. Gleichnisse 139.
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Sprache und Wirklichkeit
und die immanente Wirklichkeit in Beziehung zueinander (die Kopula »ist gleich wie«). Es sorgt für eine semantische Interaktion zwischen Himmelreich und Schatzgeschichte. Vom Himmelreich könnte man ganz anders reden. Man könnte es begrifflich beschreiben als ein Reich, in welchem alle Negativität beseitigt, alle Endlichkeit besiegt, alle Lüge überfuhrt, alles Böse überwunden, alle Beeinträchtigung aufgehoben sei. Damit wäre man bei einer metaphysischen Theorie, welche das Himmelreich sozusagen begrifflich ins Jenseits befördert. Gewiss ist die Sprache, derer man sich dabei bedienen muss, immer geprägt von zeitlicher und weltlicher Wirklichkeit. 2 Aber damit kann man wohl fertigwerden, indem man die Sprache via negationis braucht. So entsteht eine metaphysische Theorie, die sprachlich als Vemeinung der Wirklichkeit gestaltet ist. Davon unterscheidet sich das genannte Gleichnis grundsätzlich: es hält gerade am positiven Zusammenhang von Himmelreich und Weltwirklichkeit fest. Also kann es nicht wie eine metaphysische Theorie gelesen werden. Man könnte vom Himmelreich auch in Gestalt einer Theorie reden, die alles metaphysische auf seine physische Wirklichkeit zurückführt. Das Himmelreich wäre dann der Traum von jenseitigem Glück. der durch die Wirklichkeit diesseitigen Unglücks hervorgerufen wird. Oder es wäre - evolutionsbiologisch gesprochen - eine Idee, die dem Menschen bestimmte Überlebensvorteile gebracht hat.-' Das Himmelreich wäre dann eine himmlische Abbildung irdischer, sozialer und kultureller Wirklichkeit. So entstünde eine physische Theorie, die sprachlich als Beschränkung auf das Weltliche gestaltet ist. In diesem Falle hat das Himmelreich als Thema des Gleichnisses keinen Sachanspruch. Es ist bloss Vehikel ftir ein anderes Thema, die condition humaine. Das Gleichnis widersetzt sich indessen solcher Interpretation: es ist näher an der Wirklichkeit, als dass es diese bloss verneinen könnte, und zugleich näher beim Himmelreich, als dass es blosse Meinung menschlicher Subjekte darüber sein könnte.
2 Dazu Soskice. Metapher 73 (Hinweis auf das Geprägtsein der Sprache durch die Erfahrung von Raum und Zeit). 1 Vgl MacCormack. Metaphern 172-174. Die transzendenten Bedeutungen werden (reduk· tionistisch) zurückgeführt auf Projektionen normaler Erfahrungen. Sie haben also keinen Wahrheitswert. wohl aber einen funktionellen: sie sind nützlich ftir die evolutionäre Entwick· Jung des Menschen. Selbst die der Religion wohlgesinnten Soziobiologen reduzieren sie funk· tional auf den »genetischen Vorteil• (aaO 173).
I Zum sprachtheoretischen Hintergrund
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Das Gleichnis stellt die semantische Interaktion zwischen dem transzendenten Reich der Himmel und dem wirklichen Reich der Welt ins Zentrum des Interesses. Insofern spricht es eine typisch christliche Sprache. Denn das Herz des Christentums ist der Glaube an die Aeischwerdung des Wones Gottes im Menschen Jesus. Der Glaube also an die Inkarnation, verstanden als göttliche Interaktion mit der Welt. Dies hat unermessliche Folgen gehabt. Unter anderem ist eine neue literarische Gattung entstanden: das Evangelium. 4 Die Evangelienschriften sind weder Biographien noch Mythen. Sie erzählen zu viel vom Leben Jesu, um bloss Mythen eines die Welt nur flüchtig berührenden Gottes zu sein, und sie lassen zu viel von göttlichem Glanz durchschimmern, um bloss Biographien eines Wundenäters zu sein. Im Zuge des Inkarnationsgedankens wurde das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zur spannungsreichen Beziehung von Transzendenz, Immanenz und Sprache. Religiöse Sprache hat es ja überhaupt an sich, über die Wirklichkeit hinauszugehen. Die Sprache des christlichen Glaubens spricht, sofern sie inkarnatorisch redet, auf besondere Weise »dem Wirklichen ein Mehr an Sein« zu, »als das Wirkliche aufzuweisen hat«. 5 Das macht meines Erachtens ihre grosse Problematik aus, aber zugleich ihren eigentümlichen Reiz. Dieser Beziehung von Sprache, Wirklichkeit und Transzendenz soll im Folgenden genauer nachgedacht werden.
1 Zum sprachtheoretischen Hintergrund Es gibt einen common sense darüber, wie die Sprache sich zur Wirklichkeit verhalte. 6 Die Sprache ist- so lautet die Annahme -ein Mittel zur Abbildung der Wirklichkeit. Der Sprachgebrauch der modernen Medien ist weithin durch diesen common sense geprägt. Sprache ist lnformationsmedium für ausseTSprachliche Sachverhalte. Der common sense lässt sich sprachtheoretisch als mediale Funktionalisierung der Sprache verstehen. Sie ist Verständigungsmittel für sprechende Subjekte.
Dazu Fuchs. Sprache 260. s So mit Jüngel. Metaphorische Wahrheit 71. 6 Zum Stellenwen des common sense in der Sprachauffassung und ihrer philosophischen Rechtfenigung vgl die Ausführungen von Kjärgaard. Metaphor 110-116. 4
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Sprache und Wirklichkeil
Der skizzierte common sense kann auf eine breite philosophische Abstützung zählen. Er hat einerseits Tradition, stimmt es doch mit der antiken und bis ins zwanzigste Jahrhundert massgebend gebliebenen aristotelischen Auffassung überein, dass M-y~ und 1COOJ.LO<; einander entsprechen.' Das Gesamt des Seienden ist mit einem ihm entsprechenden Gesamt des Begrifflichen adäquat auszudrücken. Sprache und Wirklichkeit sind Korrelate. Deshalb wird die Sprache dann richtig verwendet, wenn ihre Wörter jeweils eine und genau eine Bedeutung haben (also: wenn sie univok gebraucht sind). Damit ist eine möglichst reine, begriffliche und widerspruchsfreie Sprache intendiert. Modeme Wissenschaftssprachen nähern sich diesem Ideal weitgehend an. So wird Sprache ihrem eigenen Wesen, eben der Abbildung, am besten gerecht. Kehren wir zu unserem Beispiel zurück. Wie müsste das Gleichnis vom Schatz im Acker in diesem Horizont verstanden werden? Es hat die Grundstruktur: Subjekt (Himmelreich) - Kopula (ist gleich) - Prädikat (Geschichte vom gefundenen Schatz). Sein Thema, sein Subjekt gleichsam, ist das Himmelreich, doch es spricht nicht begrifflich von ihm (etwa in dem Sinne: das Himmelreich ist jenseitig und zukünftig). Statt eines Begriffs ftir die Uenseitige) Wirklichkeit des Himmelreiches, steht an der Stelle des Prädikates eine Geschichte aus der Alltagswelt Dem Himmelreich wird ein Bild als Prädikat zugeordnet. Gernäss der herkömmlichen Sprachtheorie ist also das Gleichnis vom Schatz im Acker eine ins Bildhafte gehende Abweichung von begrifflicher Sprache. Nun ist die Verwendung von Bildern auch in der aristotelischen Auffassung von Sprache vorgesehen. Eine Forrn der bildhaften Sprache ist die Metapher. Bilder werden in der Metapher aus rhetorischen Gründen verwendet. Sie sind ein Ornament der Rede. Sie bereiten den Hörern Vergnügen und erleichtern das Verständnis. Die begriffliche, abstrakte Wahrheit kann mittels Bilder in konkreter, gefälliger Forrn dargeboten werden. Grund für den Gebrauch von Metaphern ist nicht etwa die auszusagende Sache. Sie könnte präziser mit dem Begriff ausgedrückt werden. Grund für metaphorisches Reden ist der Hörer. Metaphern haben keine logische oder sachliche, sondern eine didaktische Funktion. Sie sind nicht durch die Wahrheit selbst bedingt, sondern durch den Willen des Sprechers, Wahrheit in gefälliger Form darzubieten. Um den 7 Jüngel. Metaphorische Wahrheil sprich! von der »ftir die Anlike charakleristische(n) These von der Korrespondenz des Seins und des Begriffs« (79).
I Zum sprachtheoretischen Hintergrund
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Sachgehalt der metaphorischen Aussage zu prüfen, muss das Bild durch den Begriff ersetzt werden, den es (aus didaktischen Gründen) veranschaulicht. Um den Sachgehalt des Gleichnisses zu prüfen, müsste seine Bildgeschichte auf den Begriff gebracht werden. Etwa so: Das Himmelreich ist ein verborgener Wert, für den man alles hingeben muss-. Es ist unmittelbar spürbar, dass eine solche, wie immer zu perfektionierende begriffliche Umsetzung nicht wiedergibt, was das Gleichnis sagt. Metaphorisches Reden hat eine eigentümliche Widerständigkeit gegenüber seiner Umsetzung in begriffliche Sprache. Dieser Widerständigkeil ist es zu verdanken, dass in den letzten Jahrzehnten eine neue Theorie der Metapher entwickelt wurde, und zwar etwa gleichzeitig in den Bereichen der theologischen Exegese (namentlich der Gleichnisauslegung) und der allgemeinen Literaturwissenschaft.K Ich beschränke mich auf die grundlegenden Punkte der Neuorientierung: (I) Es wurde erkannt, dass die Metapher nicht bloss ein bildhaftes Wort ist, sondern die Struktur der Aussage, des Satzes hat. Sie enthält mindestens ein Subjekt, eine Kopula und ein Prädikatsnomen (bekanntestes Beispiel: Achill ist ein Löwe.). (2) Die Metapher vereinigt ein Subjekt mit einem Prädikatsnomen so, dass gegen die eigentliche Bedeutung der Wörter verstossen wird. Die Metapher sagt, was in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Das Subjekt Achill kann in Wirklichkeit nicht das Prädikat »ein Löwe« haben. (3) Der semantische Wert, die Bedeutung einer solchen Metapher beruht genau auf diesem Verstoss gegen den eigentlichen Sprachgebrauch. Wird sie in eigentliche Sprache umgesetzt, geht ihr semantischer Wert verloren (»Achill ist stark« oder »Achill ist ein mutiger Kämpfer« sagt nicht mehr dasselbe wie »Achill ist ein Löwe«.). (4) Die Metapher ist demzufolge nicht ein (didaktisch motiviertes) Ornament, sondern eine Sprachform, die durch die auszusagende Wahrheit bedingt ist. Sie ist nicht verlustfrei in andere Formen transforrnierbar. (5) »Metaphorische Rede ist weder uneigentliche noch vieldeutige Sprache, sondern eine besondere Weise eigentlicher Rede und eine in besonderer Weise präzisierende Sprache.«'~ Diese neuentdeckte Theorie der Metapher hatte erhebliche Rückwirkungen auf die allgemeine Sprachauffassung. Denn die Metapher ist offenbar eine Sprachform, die sich nicht in der begrifflichen Abbildung KZu
dieser Neuorientierung im ganzen vgl van Noppen. Metapher 7-51: Ricoeur. Stellung
45-70. q
Jüngel. Metaphorische Wahrheit 119.
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Sprache und Wirklichkeit
der Wirklichkeit erschöpft. Sie weicht im Gegenteil von der Korrespondenz mit der Wirklichkeit ab, um ihre Sache auszusagen. Etwas pointien ausgedrückt: sie weicht, bei unserem Beispiel, von der Wirklichkeit Achills ab, um- die Wahrheit über ihn zu sagen. Demzufolge ist es aber nicht mehr möglich, Sprache als Abbildung von Wirklichkeit zu verstehen. Vielmehr muss der Sprache eine schöpferische Aktivität zugeschrieben werden. Sache der Sprache ist es offenbar auch, Wirklichkeit zu schaffen, Wahrheit anzusagen, die das Wirkliche überschreitet. Diese Macht der Sprache zeigt sich nicht zuletzt via negationis, in der Kränkung oder gar der Destruktion, etwa in der mörderischen Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen vom Menschsein (»Ungeziefer, das auszurotten ist«). Sprache ist, wie die Metaphern zeigen, nicht nur mimetisch, sondern auch poetisch. Gewiss ist die Kritik etwa positivistischer Sprachtheoretiker an dieser Veniefung der Sprachauffassung bis heute nicht verstummt. Gewiss kann man weiterhin behaupten, alles Gesagte, das über die blosse Reproduktion der Wirklichkeit hinausgehe, sei eine mehr oder weniger milde Form der Lüge. Aber es wird immer deutlicher, dass die faktischen, gerade auch alltäglichen Sprachvorgänge nicht verstehbar sind mit der Abbildungstheorie. ln dieselbe Richtung ist man von sprachphilosophischer Seite vorgestossen. Die Abbildungstheorie der Sprache scheitert schon an der banalen Aussage: »Du bist ein Esel.« Einer Aussage, die nicht Wirklichkeit beschreibt, sondern neue Wirklichkeit schafft. Im Bereich der analytischen Sprachphilosophie wurde - zuerst durch Austin - der Sprechakt erforscht. Gemeint ist damit ein Reden, das zugleich schafft, was es sagt (ein Beispiel wäre die soeben genannte Beschimpfung, ein anderes der bei der Trauungszeremonie anzutreffende Satz: »Ich nehme diese und diese zu meiner Frau.«). Austin spricht -etwas überzogen von der »descriptive fallacy« 10 in der Sprache und erklärt die Abbildungsfunktion überhaupt ftir obsolet. Das Gleichnis vom Schatz im Acker- in diesem Kontext betrachteterzeugt eine semantische Interaktion zwischen dem Himmelreich und einer weltlichen Geschichte. Es geht über die Wirklichkeit des Himmelreiches insofern hinaus, als es das jenseitige und künftige Himmelreich in unmittelbaren Zusammenhang mit einer alltäglichen Geschichte bringt. ln Wirklichkeit war das Himmelreich transzendent. Diese Ge-
1n
Austin. How To Do Things 12.
2 Problemaspekte von Sprache und Wirklichkeit
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schichte soll offenbar etwas über die Wahrheit des Himmelreichs aussagen. indem sie seine Wirklichkeit überschreitet. Das Gleichnis geht über die Wirklichkeit der Findergeschichte insofern hinaus, als es diese der weltlichen Wirklichkeit entnommene Erzählung in unmittelbaren Zusammenhang mit dem göttlichen Reich bringt. Das göttliche Reich soll offenbar Wahrheiten an der Findergeschichte erschliessen, die in ihrer Wirklichkeit nicht einfach enthalten sind. Eine letzte sprachtheoretische Bemerkung ist unerlässlich. Es ist zu unterscheiden zwischen gewöhnlichem und theologischem metaphorischem Reden. Eine gewöhnliche Metapher wie »Achill ist ein Löwe« verstösst zwar gegen die Wirklichkeit, ohne jedoch den Bereich der Welt zu verlassen. Sie gesellt einem weltlichen Subjekt ein weltliches Prädikat bei. Demgegenüber gesellt die theologische Metapher wie »Das Himmelreich ist gleich dem verborgenen Schatz ... « einem nichtweltlichen Subjekt ein weltliches Prädikat bei. Es verstösst gegen die Wirklichkeit, indem es in den Bereich der Transzendenz vorstösst. Dies wird uns vor besondere Verslehensprobleme stellen, insbesondere im Blick auf die Wahrheitsfrage. Fassen wir zusammen: (I) Das Gleichnis vom Schatz im Acker konfrontiert uns insofern mit dem Problem von Sprache und Wirklichkeit, als es ein Reden darstellt, das über die Wirklichkeit hinausgeht und trotzdem beansprucht, die Wahrheit zu sagen. (2) Solches Reden- wie auch die metaphorische Redeweise der Dichtung - ist im Rahmen einer Abbildtheorie von Sprache nicht erfassbar. Sprache reproduziert nicht nur das Wirkliche, sondern schafft auch neue Wirklichkeit. (3) Das Gleichnis ist als theologische Metapher zu verstehen. Eine theologische Metapher unterscheidet sich von einer gewöhnlichen dadurch, dass sie nicht nur Welt und Welt, sondern Gott und Welt in einen sprachlichen Zusammenhang bringt.
2 Problemaspekte von Sprache und Wirklichkeit Die Andeutungen zum sprachtheoretischen Hintergrund Iiessen an manchen Punkten durchblicken, dass Sprache und Wirklichkeit in einem spannungsreichen Verhältnis stehen. Im folgenden werde ich einige theologisch wichtige Aspekte der Problematik nennen.
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Sprache und Wirklichkeil
2.1 Streit um das Wirkliche Wir haben gesehen, dass das Gleichnis vom Schatz im Acker in der Form einer Bildgeschichte, nicht einer Definition über das Himmelreich spricht. Zwischen bildhaftem und definitorischem Reden besteht ein prinzipieller Unterschied. 11 Die Definition ist der denkerische Griff nach der Wirklichkeit, die bildhafte Sprache arbeitet mit der Wirkung der Bilder. Der sprachliche Bezug zur Wirklichkeit kann sehr verschieden sein. Sprache kann ein Herrschaftsinstrument über das Gegebene sein, sie kann aber auch Wirklichkeit erscheinen lassen. Dies zeigt sich schon im Begriff, mit dem die Gesamtheit des Wirklichen benannt wird. Realität nennt man es und reduziert es dabei auf das Vorhandensein bestimmter res. Indes, Wirklichkeit ist ein Wort, das aufmerksam macht auf die Wirksamkeit des Gegebenen. 12 Das Gleichnis präsentiert das Himmelreich in der Gestalt einer bewegenden Findergeschichte. Insofern ist es der Wirksamkeit des Gegebenen verpflichtet. Je definitorischer das Reden, desto mehr wird Wirkliches auf das blosse Vorhandensein reduziert. Sprache kann Wirkliches offenbar unwirksam machen. Je mehr es auf Realität reduziert wird, desto mehr lastet der Zwang zum Wirken auf dem Menschen. Wer das Gleichnis wie eine Definition des Himmelreichs auffasst, wird es fast nur als Aufforderung zum menschlichen Wirken auslegen können. Das Himmelreich ist dann etwas, wofür der Mensch sich zu entscheiden und alles zu opfern hat. Das Gleichnis selbst aber lässt den Schatz im Acker vor unseren Augen erstehen, einen Fund, der alles entscheidet. Das Gleichnis lässt das Bild vom Finden arbeiten, um die Freude, nicht die Opferbereitschaft, zur menschlichen Einstellung auf das Himmelreich werden zu lassen. Viele haben das Himmelreich als streng jenseitig und zukünftig verstanden, so dass es mit der Wirklichkeit der Welt per definitionem nichts zu tun hat. Das Gleichnis spricht eine andere Sprache: es lässt das Himmelreich in die Nähe der gefundenen Schätze kommen. Das Jenseitige erscheint unversehens im Alltag der Welt. Daran erkennen wir eine weitere Ambivalenz der Sprache: Wirklichkeit kann sprachlich so oder anders konstruiert werden. Wirklichkeit liegt nicht einfach jenseits der Sprache vor. Sie wird vielmehr durch je verschiedene Sprache 11 Mit Grassi. Macht des Bildes 69f könnte man auch an den Unterschied von apodiktischer und von semantischer Sprache denken. Die Struktur beider Sprachen ist nach Grassi .. wesentlich verschieden•. n Dazu Fuchs. Marburger Hermeneutik 229.
2 Problemaspekte von Sprache und Wirklichkeit
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verschieden konstruiert. Die abständige Jenseitigkeil des Himmelreiches ist eine solche Konstruktion der Wirklichkeit, die durch das Gleichnis überwunden wird. Die Nähe des Himmelreiches, die es durch das Bild vom gefundenen Schatz erschafft, ist vielleicht selbst ein Schatz, der auf Finder wartet. Konstruktionen der Wirklichkeit treten häufig im Gewand höchster Realitätsgerechtheit auf. »Ohne Reue keine Vergebung.« Gibt es keine zuvorkommende Vergebung? »Im Leben wird dir nichts geschenkt.« Ist nicht das Leben selbst ein grosses Geschenk, ganz zu schweigen von allem, was wächst und mir geschenkweise zukommt? Neben der Reproduktion der Wirklichkeit liegt stets auch die Konstruktion auf der Lauer. Sprache könnte aber auch ein Haus sein, in dem Wirkliches vieldimensional bleiben darf. Schätze sind nicht bloss Bodenschätze, die unter Gewinnmaximierung auszubeuten sind. Das Gleichnis entdeckt am Schatz eine existentielle Dimension: Schätze haben auch mit der Freude des Findens zu tun. Wer Schätze sucht, will nicht bloss reicher werden, sondern er übt sich in der Angewiesenheil auf Finden. 2.2 Über das Wirkliche hinaus? Das Gleichnis vom Schatz im Acker geht über die Wirklichkeit hinaus, sowohl über die des Himmelreiches als auch über die der Welt. Sprache, die über das Wirkliche hinausgeht, steht unter dem Verdacht, zu lügen. Wenn Sprache bloss Abbildungsfunktion hätte, wäre dieser Verdacht leicht zu beurteilen. Man müsste nur fragen, ob das Gesagte dem Wirklichen entspricht. Zu überprüfen wäre, ob dieses Bild vom Himmelreich sagt, was korrekter religiöser oder metaphysischer Theorie entspricht. Diese Überprüfung würde zu einem negativen Ergebnis führen: das Himmelreich ist theoretisch etwas ganz anderes als die weltliche Geschichte vom gefundenen Schatz. Lügt das Gleichnis? Bei einer Sprache, die über das Wirkliche hinausgeht, stellt sich die Wahrheitsfrage nicht als Frage nach der adaequatio intellectus ad rem. Wie aber kann sie dann gestellt werden? Metaphorische Sprache istwenn wir uns an Wittgensteins Bestimmung halten- einem »Sehen als« verpflichtet. 13 Das Gleichnis lässt das Himmelreich sehen als Geschichte vom verborgenen Schatz. Und es lässt den verborgenen Schatz sehen als Geschichte vom Himmelreich. Man könnte auch sagen: das
11
Dazu Hesse. Ansprüche 137.
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Sprache und Wirklichkeit
Gleichnis gibt Wirklichkeit als etwas zu verstehen. Wenn etwas als etwas zu verstehen gegeben wird, liegt die Antwon auf die Wahrheitsfrage jedenfalls nicht mehr beim Satz oder beim Sprecher. Sie liegt vielmehr beim Hörer. Wahrheit kann einer bildhaften Aussage vom Rezipienten nur zugestanden werden. Wahrheit gesteht er ihr zu, wenn er sich die Sichtweise vom Gesagten zuspielen lässt. Bildhaftes Reden von Gott ist also auf eminente Weise anredende Sprache. Ein Sprecher, der Wirklichkeit abbildet, bedarf des Hörers im Grunde nicht. Die Aussage ist unabhängig von Sprecher und Hörer wahr. Wer dagegen metaphorisch über das Wirkliche hinausgeht, ist insofern absolut angewiesen auf den Hörer, als er dessen Einverständnis sucht. Er spricht den Hörer auf eine bestimmte Wahrheit an. Dieses Reden hat die Grundform der Bitte um Zustimmung, 14 eine Form, in welcher positiv Abstand genommen wird von jeder sprachlichen Vereinnahmung. Daraus ergibt sich: Gleichnisse gehören zu jener An von Sprache, die als Anrede geschieht und insofern überhaupt einen Raum erschafft für Personen. Wer Wirklichkeit nicht bloss abbildet, muss immer an das Du denken. Solches Reden bringt die menschlichen Subjekte nicht zum Verschwinden, sondern gesteht ihnen Wirklichkeit zu, ohne dass sie sich diese allererst zu erkämpfen haben. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass gerade das Himmelreich in einer solchen, der Person Raum eröffnenden Sprache ausgesagt wird. Stellt doch dieses Reich den Raum der Liebe dar, in welchem der Kampf der Subjekte gegen einander beziehungsweise für Lebensraum überwunden ist. Wenn die Wahrheit wesentlich auf Einverständnis beruht, könnte dies das Einfallstor der Willkür sein. Allgemeine Wahrheit wäre dann allgemeiner Konsens. Wie aber unterscheidet man den allgemeinen Konsens mit einer Lüge (den es ja zweifellos gibt) vom Konsens mit der Wahrheit? Von Metaphern gilt, dass sie jedenfalls nicht beliebig gebildet werden können. Sie müssen glücken. Geglückt ist eine Metapher, wenn sie die Hörer erreicht und also bewegt. Es ist nicht restlos geklärt, welche Voraussetzungen für das Glücken einer Metapher notwendig sind. Eine Voraussetzung ist - so weiss man seit alters -, dass die Metapher analogisch gebildet ist. Erfolgreich kann das Gleichnis vom Schatz im Acker nur sein, wenn sich Himmelreich und Findergeschichte entsprechen. Ein Schatz ist ein Reichtum, den ich nur finden,
14
Dazu Weder. Hermeneutik 325-330.
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nicht aber erarbeiten kann. Entsprechend liegt auch das Himmelreich nicht in der Reichweite meines Machens. Der glückliche Finder ist das Bild für das durch den Fund entschiedene Leben, nicht für die ungeheure Anstrengung der Entscheidung. Entsprechend ist das Himmelreich jener Raum, der als neue Situation das Leben zur Entscheidung bringt. Wer findet, freut sich über den Zufall des Externen. Entsprechend ist das Himmelreich die den Menschen entzogene, weil zufallig gewährte Nähe Gottes. Die Entsprechungen Iiessen sich ohne weiteres vermehren. Sie alle zeigen, dass die Wahrheitsfrage nicht willkürlich entschieden wird, sondern dass sich so etwas wie die Evidenz des Lebens einstellen muss. Das Gleichnis erschliesst am Finden jene Dimensionen, die es zum Denkmal des Himmelreiches werden lassen. Die Wahrheit der gewöhnlichen Metapher hat damit zu tun, dass sie etwas »aufblitzen« lässt »Von der Entsprechung, die die Welt im Innersten zusammenhält«. 15 Analog dazu könnte man von der theologischen Metapher sagen, ihre Wahrheit entscheide sich daran, ob sie etwas aufblitzen lasse von dem, was Gott und die Welt im Innersten zusammenhält. Theologisch gesprochen hält Gott und die Welt im Innersten zusammen, dass Gott der Schöpfer, die Welt das Geschöpf ist. Insofern erscheint der Schatz im Acker als in der Welt verborgener, durch Gott geschaffener Reichtum, der des Menschen Leben entscheidend bereichert. Und die Evidenz des Gleichnisses beruht auf der Evidenz der Erfahrungen, die Menschen mit dem Finden schon gemacht haben. Gewiss, diese Weise die Wahrheitsfrage zu beantworten, ist nicht so komfortabel wie die Adäquationstheorie. Auch wer das auf Evidenz beruhende Einverständnis zum Wahrheitskriterium macht, ist nicht davor gefeit, der Lüge an die Macht zu verhelfen. Wenn jedoch das Gleichnis sinnvollerweise über das Wirkliche hinausgeht, so gibt es, wie mir scheint, kein anderes Wahrheitskriterium. Es ist zwar nicht komfortabel, trägt aber wohl der Zerbrechlichkeit menschlicher Rede von Gott Rechnung. 2.3 Wissenschaftssprache Was jetzt als Problem wenigstens anzudeuten ist, können wir uns gerade anhand dieses Vortrags klar machen. Sein Thema ist theoretisch: das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Sein Stoff aber ist prak-
u Jüngel. Metaphorische Wahrheit 93.
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tisch: ein Gleichnis, also Sprache, die sich in bestimmter Weise zur Wirklichkeit verhält. Im Vortrag wird reflektiert über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, während es im Gleichnis vollzogen ist. Solche Reflexion steht in Gefahr, das faktisch vollzogene Verhältnis zu verflüchtigen. Das Problem wissenschaftlicher Reflexion ist es, Sprache und Wirklichkeit einander theoretisch zuzuordnen, zu beschreiben, wie beides aufeinander bezogen sein könnte, und in dieser Beschreibung gerade davon abzusehen, dass das Gleichnis jenes Verhältnis konkret vollzieht. Reflexive Sprache hat eine Neigung zur Theorie des Möglichen und verflüchtigt dabei leicht die Praxis des Wirklichen. Die sprachwissenschaftliche Präferenz für die Frage der Kompetenz statt für die Performanz wäre ein Beispiel: statt des Nachdenkens über Gesagtes konzentriert man sich auf eine Theorie des Sag baren. Wenn das Gleichnis als metaphorisches Reden gelten kann, so verschärft sich das Problem noch erheblich. Denn die Gefahr ist gross, dass das Gleichnis unversehens in begriffliche Sprache übersetzt wird. Wissenschaftliche Auslegung erfolgt in begrifflicher Sprache. Wir haben jedoch gesehen, dass metaphorisches Reden seinen semantischen Gehalt verliert, wenn es in begriffliche Sprache übersetzt wird. Der verflüchtigende Zug begrifflicher Sprache kann gerade in der Gleichnisauslegung in grossem Ausmass beobachtet werden. Dennoch kann es nicht angehen, auf die Reflexivität der Wissenschaft zu verzichten und beispielsweise Metaphern durch Metaphern auszulegen. Zu finden wäre also eine wissenschaftliche Sprache, die die Wirklichkeit des Beschriebenen nicht verflüchtigt. Eine Sprache, die ihre Angewiesenheil auf den Stoff stets mitsagt Wissenschaftssprache neigt zur Stoffbeherrschung. Zu entwickeln wäre eine Sprache der NachdenklichkeiL Statt dass ein Gleichnis theoretisch auf den Begriff gebracht und so verflüchtigt wird, müsste das Nachdenken darüber in umschreibender Sprache geschehen. Es müsste eine Sprache gefunden werden, deren Begriffe das Vorgegebene nicht ersetzen, sondern es in seiner Wirklichkeit allererst zum Leuchten bringen. Dies ist eigentlich ein wissenschaftsethisches Problem, wissenschaftsethisch nicht in dem Sinne, dass sich die Wissenschaft fragt, was mit ihren Ergebnissen geschehen solle, sondern wissenschaftsethisch in dem Sinne, dass das Verhalten der Wissenschaft selbst, ihre Sprache und Theoriebildung, als ethisches Problem wahrgenommen wird. Zwar ertönt in neuester Zeit der Ruf nach Ethik in allen Wissenschaften.
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Aber diese Ethik thematisiert zum grössten Teil die Folgen der Wissenschaft. Vielleicht wäre es an der Zeit, eine Ethik der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst in den Blick zu nehmen, nicht zuletzt zur Verbesserung ihrer Folgen. Denn wer erkenntnistheoretisch sich angewöhnt hat, die Welt wie Material zu beherrschen, wird sich diese Beherrschung in der Praxis schwer abgewöhnen können. 2.4 Transzendenz und Immanenz Das Gleichnis vom Schatz im Acker erinnert an den glücklichen Finder, um vom Himmelreich zu sprechen. Es erinnert an Immanentes, um von Transzendentem zu sprechen. Man könnte nun dieses Gleichnis so lesen. dass es das Immanente als sprachliches Vehikel ftir Transzendentes verwendet. Es gleitet gleichsam sprachlich hinüber ins metaphysische Drüben. Eine solche Sprache würde ich Sprache der Transzendenz nennen. Sie ist latent weltflüchtig. Wer ihr Glauben schenkt, wird zur Weltflucht angestiftet. Sie spricht von weltlichen Dingen nur uneigentlich, um eigentlich von nicht-weltlichen zu sprechen. Diese Sprache der Transzendenz geht über die Wirklichkeit so hinaus, dass sie die Wirklichkeit verlässt. Nun sprechen freilich die Gleichnisse nicht diese Sprache. Gleichnisse geben den Menschen nicht eine Vorstellung vom Himmelreich, sie verschaffen ihnen vielmehr eine Einstellung zum Himmelreich. Ihr charakteristisches Merkmal ist, das Himmelreich in die Nähe des Menschen, in eine unvermutete Nähe zu seiner alltäglichen Welt zu bringen. Statt hinüberzuschreiten ins Transzendente, bringen sie Transzendentes herein in meine Welt. Wer das Gleichnis vom Schatz im Acker hört, soll die Nähe des Himmelreichs zum glücklichen Finden verspüren. Das ist die Pragmatik dieses Gleichnisses. Schon aus diesem Grund bin ich skeptisch, hier eine Sprache der Transzendenz zu finden. Dazu kommt ein zweites. Das Gleichnis erschafft sprachlich eine innere Entsprechung zwischen dem Finden eines Schatzes und der Nähe des Himmelreichs. Damit entdeckt es am weltlichen Vorgang des Findens die Dimension des transzendenten Himmelreichs. Gefundene Schätze haben etwas Bewegendes an sich, es ist dieselbe bewegende Kraft, die auch das Himmelreich auszeichnet. So gelesen entdeckt das Gleichnis am Wirklichen ein Geheimnis. Man könnte sagen: es entdeckt die Wahrheit, dass das Wirkliche vom Schöpfer zur Bereicherung des Lebens gewährt wurde. Diese der Wahrheit des Wirklichen ver-
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pflichtete Sprache geht über das Wirkliche hinaus. nicht um es zu verlassen, sondern um intensiver auf es einzugehen. Ich hatte gesagt: Gleichnisse stellen die Menschen auf das Himmelreich ein. Sie leisten gleichsam Arbeit an den für das Himmelreich Verschlossenen. Dass diese Arbeit geleistet werden kann, verdanken die Gleichnisse wesentlich den Bildern, die sie aufbieten. Denn Bilder sind aktive Gegenstände der Wahrnehmung. Bilder bewegen. Das Bild des glücklichen Finders bewegt zur Aufmerksamkeit für den Fund des Himmelreiches. Und unversehens wird das Gleichnis selbst zu einem verborgenen Schatz, der Arbeit leistet an denen, die auf es stossen. Die Arbeit steht hier für die rettende Aktivität des Himmelreiches. Das entschiedene Leben wird zugespielt, und also wird das entschiedene Wirken für das Himmelreich unterlaufen. Damit wird eine weit verbreitete Konstruktion der Wirklichkeit unterlaufen. Oft stellt man sich das Himmelreich als ein Reich des Möglichen vor, das nur durch meiner Hände Arbeit verwirklicht wird. Und meine Arbeit wird zur Gottesverwirklichung, statt dass sie mir und andem eine Wohltat wäre. Nun ragt aber dieses Himmelreich wie verborgene Schätze in die Gegenwart herein. Jetzt wird klar, dass nur die Freude des Findens die Einstellung auf die Gegenwart des Himmelreiches ist. Das Hinausgehen des Gleichnisses über die Wirklichkeit könnte man mit der Kategorie des Möglichen begreifen. Vorausgesetzt allerdings, dass man unter dem Möglichen nicht bloss das versteht, was noch nicht wirklich ist. 16 Wer das Mögliche als noch nicht Wirkliches versteht, unterzieht es dem Diktat des Wirklichen. Was möglich ist, wird dann negativ durch die Wirklichkeit bestimmt. Doch dieser Begriff des Möglichen ist nicht sakrosankt. Zunächst ist zu sagen, dass es genug Wirkliches gibt, das eigentlich unmöglich ist, etwa die Destruktion des Wirklichen. Und überdies ist zu fragen, ob das Mögliche nicht besser aus ihm selbst wahrgenommen werde, statt dass es negativ aus dem Wirklichen gewonnen wird. Das Himmelreich ist die Möglichkeit vollendeter Liebe. Das Gleichnis vom Schatz im Acker ist ein sprachliches Werk. das im Jetzt Partei für diese Möglichkeit ergreift. Nun kann man sich Mögliches vorstellen, das gleichsam abseits von der Gegenwart vorübergeht.17 Das damit gemeinte Phänomen ist etwa als verpasste Gelegenheit vorstellbar. Sie ist eine Möglichkeit, die gleichsam abseits von 16
17
Dazu Jüngel, Welt 208-214. Fuchs, Henneneutik 127.
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unserer Wirklichkeit vorbeigegangen ist. Für diese Art von Möglichkeit nimmt das Gleichnis Partei, indem es mich jetzt auf sie einstellt. Die Einstellung auf gefundene Schätze heisst Freude. Und im Schatz leuchtet das Geschenk der Liebe auf. Eben für diese Möglichkeit soll die Gegenwart in Anspruch genommen werden. 18 Eben die Möglichkeit der Freude wird Wirklichkeit, wenn das Gleichnis beim Hörer ankommt. Vielleicht gibt es also eine Sprache, die über das Wirkliche hinausgeht und nach Möglichem greift, nicht um das Wirkliche zu verflüchtigen, sondern um es zu bereichern. Die Frage bleibt freilich, ob solche Griffe nach dem Transzendenten sinnvoll seien, um das Immanente zum Leuchten zu bringen. Es könnte ja sein, dass die Welt sich selbst genug wäre. Die Antwort entscheidet sich daran, ob die Sprache des Glaubensam Wirklichen· etwas Wahres entdeckt oder nicht. Der Glaube sagt zum Beispiel, das tägliche Brot sei ein Geschenk des Himmels. Ist damit das Brot tiefer verstanden als durch seine Zerlegung in chemische Bausteine? Verleiht die Sprache, die das Wort Gott verwendet, der weltlichen Wirklichkeit ein Gewicht, das ihr keine im Immanenten verbleibende Sprache gibt? Und ist dies das wahre Gewicht der Welt? Wer auf diese Fragen antwortet, entscheidet zugleich über den Sinn einer Sprache, die nach Transzendentem greift. Das weite Feld der Antworten möge nun wirklich Ihnen überlassen bleiben.
11 Nach Jüngel. Möglichkeit 230 gilt überhaupt für die Gleichnisse Jesu. dass sie »das vom Unmöglichen (nicht vom Wirklichen. Anm von mir) unterschiedene Mögliche als die Wirklichkeit unbedingt angehend so zur Sprache« bringen. »dass Wirkliches von Wirklichem unterschieden und so Freiheit eingeräumt und Yenrauen gewähn wurde«.
Evangelische Erinnerung 1 Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangenen »Ich will aber nicht suggestiv werden. Nicht überreden möchte ich - auch nicht mit Bildern-. sondern erinnern ..... 2
Im gegenwärtigen Sprachgebrauch meint »erinnern« in der Regel. etwas Vergessenes wieder ins Gedächtnis zurückzuholen. Doch »erinnern« ist ein altes Wort. Es setzte ursprünglich ein Innen voraus. in das hinein etwas von aussen gebracht wird) Erinnern bedeutete. dass jemand einer Sache inne wird. dass etwas aus der Aussenwelt einer Person zu Bewusstsein kommt oder gebracht wird:' Nicht bloss das Vergessene verlangt danach. in Erinnerung gerufen zu werden. sondern alles. was mir äusserlich bleibt. alles. was ich vor den Toren meines Innern unbeachtet liegen lasse. Der Erinnerung bedarf alles. wofür ich keine Aufmerksamkeit finde. Wer das Wort »erinnern« auf diese Weise etymologisch erschliesst. betreibt seinerseits so etwas wie Erinnerung. Er macht aufmerksam auf etwas an der Sprache. dessen wir uns nicht immer bewusst sind. auf ihre geschichtliche Dimension nämlich. Gewiss kann man die Sprache brauchen ohne an ihre Geschichte zu denken. Man kann sie rein funktional verwenden als VerständigungsmitteL Wer aber etymologisch fragt. stösst in eine andere Dimension der Sprache vor. Statt der Funktionalität wird jetzt die Dimension ihres Gewordenseins wahrgenom-
Pierre Bonnard. dessen Arbeiten manche Anregung zum Verständnis von Erinnerung ent· hallen, in Dankbarkeit gewidmet. Überarbeitete Fassung einer Gastvorlesung in der Sektion Theologie der Universität Halle vom Januar 1990. 2 Handke, Versuch 66. 3 Voraussetzung des Kompositums ist ein einfaches »innern«, vgl Grimm. Deutsches Wör· terbuch 111, 858. • Die ursprüngliche Bedeutung des Wones ist »aufmerksam machen auf«. »machen, dass jemand etwas innewird«. vgl Kluge. Etymologisches Wönerbuch, s.v. •erinnern•. 1
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Evangelische Erinnerung
men.s Jetzt erscheint die Sprache nicht bloss als Instrument der Verständigung, sondern als eine Schatzkammer, in der sich im Laufe der Zeit Möglichkeiten zur Deutung von Erfahrung angesammelt haben. Sich an die geschichtliche Dimension der Sprache zu erinnern, ist funktional gesehen nicht notwendig. Doch Erinnerung an Etymologie lässt einen mancher Dinge inne werden, die der jeweils herrschende Sprachgebrauch achtlos vor der Türe liegen lässt. Auch wenn die instrumentelle Sprachkompetenz dadurch nicht erhöht wird, findet dennoch eine Steigerung der sprachlichen Kompetenz statt. Man kann zwar sprechen, ohne die Geschichte der Sprache zu kennen, man verspielt dabei aber vieles, was die Sprache im Laufe ihrer Geschichte sagen konnte. Auch die Erinnerung an den neutestamentlichen Sprachgebrauch bedeutet, wie ich denke, eine solche Steigerung der Sprachkompetenz. Was für Wahrheiten sind es, die auf Erinnerung angewiesen sind? Zunächst einmal sind dies, wie der gegenwärtige Sprachgebrauch sagt, Wahrheiten, die vom Vergessen bedroht sind. Und es sind, wie der alte Sprachgebrauch sagt, Wahrheiten, die von aussen ins Innere der Menschen kommen müssen. Auf Erinnerung angewiesen sind also Wahrheiten, die dem Denken nicht jederzeit erschwinglich sind. Jederzeit erschwinglich sind etwa die notwendigen Vernunftwahrheiten. Würde der Satz von Pythagoras vergessen, könnte er jederzeit wieder neu entdeckt werden. Daneben gibt es jedoch Wahrheiten, die in geschichtlicher Erfahrung entdeckt werden. Sie sind auf Erinnerung angewiesen. Solchen Wahrheiten kommt eine gewisse Temporalität zu, obwohl sie über ihre Zeit hinaus wirksam sein mögen. Biographisch gesehen sind dies die Wahrheiten der Lebenserfahrung, historisch gesehen sind es die Wahrheiten der geschichtlichen Erfahrung der Menschheit. Zu eben diesen Erfahrungen gehört das Evangelium, gehört Jesus Christus. Zum Evangelium gehört deshalb wesentlich die Erinnerung. Dementsprechend war d.va~v~ ein Grundvorgang im Urchristentum. 6 Die folgenden Überlegungen gelten zunächst der konkreten Gestalt, die die Erinnerung im Urchristentum gewonnen hat, sie gelten darüber hinaus auch
~Zu den erkenntnistheoretischen Zusammenhängen dieser Fragestellung vgl Weder. Kreuz 49-119. besonders 103-119. 6 Mit Bonnard. L'anamnese 1-4. Wichtig ist vor allem Bonnards Herausarbeitung der Erinnerung als einer fundamentalen Struktur des theologischen Denkens im Urchristentum des ersten Jahrhundens.
I Ausgehaltene Erinnerung: Mk 14.53f.66-72
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der Bemühung um eine Erhellung des Lebensphänomens Erinnerung. Denn die Weise, wie das Urchristentum Erinnerung verstand und pflegte, könnte auch Aufschlüsse geben zu den Lebensvorgängen, die wir als Erinnerung betrachten.
1 Ausgehaltene Erinnerung: Mk 14,53f.66-72 Wir setzen ein mit einer Geschichte, die an die vorösterliche Vergangenheit des Petrus erinnert. Petrus hat sich bis in den Hof des Hohenpriesters vorgewagt. Er will wissen, was mit dem verhafteten Jesus geschehen wird. Unauffällig sitzt er am wärmenden Feuer. Doch eine aufmerksame Magd erkennt ihn. »Du hast doch auch zu diesem Nazarener Jesus gehört«, sagt sie zu ihm. »Weder kenne ich ihn, noch weiss ich, was du sagst.« Das ist die Antwort des prominenten Jüngers. Dreimal spricht ihn die Magd auf sein Verhältnis zu Jesus an. Dreimal verleugnet der verdutzte Jünger jegliche Beziehung zu Jesus. Am Ende der Geschichte weint er, vielleicht aus Wut über seine Feigheit, vielleicht aus Trauer über seine Untreue. Historisch müssen wir uns zweierlei vor Augen halten. Zum ersten: Bei Petrus handelt es sich nicht nur um einen Jünger, der schon zu Lebzeiten Jesu eine besondere Rolle gespielt hatte, sondern auch um einen Apostel, der - nach alter Tradition - als erster einer Auferstehungserscheinung gewürdigt wurde und der in der ersten Zeit der urchristlichen Gemeinde wohl eine Führungsposition innehatte. 7 Bei ihm handelt es sich um das, was wir urchristliche Prominenz nennen würden. Und ausgerechnet von ihm war solches in Erinnerung zu rufen. Zum zweiten: 8 auch wenn die Schachtelung mit dem Verhör vor dem Hohenpriester auf die markinische Redaktion zurückgehen mag, ist die Überlieferung von der Verleugnung des Petrus sehr alt. Sie wird auch im Johannesevangelium berichtet. Dies ist ein Beleg dafür, dass sie jedenfalls schon vor dem Auseinandergehen der vormarkinischen und der vorjohanneischen Traditionen entstanden sein muss. Es lassen sich keine plausiblen Gründe dafür angeben, dass eine solche Geschichte erfunden ist. Welche Gemeinschaft hätte ein Inter-
7 Vgl Schweizer, Mauhäus I 197 3 21 &-221 . KZum Folgenden vgl Schweizer. Markus 175f. Nach Pesch. Markus II 452 gibl es »keinen Grund. die Erzählung für eine späte Legende zu halten« (mit Aufzählung der verschiedenen Argumente S. 451 f).
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esse daran, von einem der prominentesten ihrer Mitglieder eine Geschichte zu erzählen, die man am liebsten möglichst schnell vergessen würde? Wir haben deshalb damit zu rechnen, dass das Versagen des Petrus historische Wirklichkeit ist, eine Erfahrung also, die Petrus mit sich selbst gemacht hatte. Und Petrus steht bekanntlich nicht allein, seine Geschichte steht stellvertretend für das Verhalten des Zwölferkreises, der schon vor der Kreuzigung das Weite gesucht hatte.~ Biographien werden zwar meistens mit der Geburt begonnen, aber das Problem der Erinnerung an einen Menschen stellt sich gewöhnlich nicht bei seiner Geburt, sondern bei seinem Tod, in dem Augenblick, wo er den Hinterbliebenen entzogen ist. Bei Jesus trifft dies freilich nicht genau zu. Am Ende seines Lebens gab es kaum jemanden, der an Erinnerung interessiert sein konnte. Seinen Anhängern hatte er eine grosse Enttäuschung bereitet. Sie, die in ihm den Messias gesehen hatten, den gewaltigen Erneuerer der Weltzeit, mochten nicht einmal mehr zusehen, wie er sich von der Obrigkeit hinrichten liess. 111 Der prominente Petrus verleugnete seine Beziehung zu Jesus, der Zwölferkreis beendete sie mit der Flucht nach Galiläa. 11 Ihre Enttäuschung über Jesus mag sich gepaart haben mit der Enttäuschung über sich selbst. Und solche Enttäuschungen sind nicht gerade erinnerungsfreundlich. Die Flucht nach Galiläa sieht aus wie eine Flucht vor der Erinnerung, vor der Erinnerung an das Versagen ihres Meisters und an ihr eigenes. Wer mag es den Geflohenen und erst recht Petrus verdenken, dass sie die Sache möglichst bald vergessen wollten? Doch bald nach dem Tod Jesu schien die vormals gefährliche Erinnerung an Jesus lebenswichtig zu werden. Der Ursprung der Erinnerung an Jesus liegt nicht in seinem Tod, sondern in einer neuen Erfahrung mit dem getöteten Jesus. Die urchristlichen Zeugen schlossen aus dieser Erfahrung, dass Jesus von den Toten auferstanden sei. Sich an ihn zu erinnern, wurde notwendig, weil Ostern ein neues Licht auf die alten Erfahrungen geworfen hatte. Und zwar sowohl auf den enttäuschenden Weg des Messias als auch auf das enttäuschende Verhalten seiner Anhängerschaft. Der enttäuschende
9 Und dieses wiederum steht stellvertretend flir die Haltung des Volkes. das sich enttäuscht von Jesus abwandte. »als er dem Zugriff der Macht sich unterwarf« (Holtz. Jesus aus Nazareth 133). 10 Mit Petrus scheidet der letzte Jünger aus dem Geschehen aus- »nur noch die galiläischen Anhängerinnen Jesu bleiben in der Nähe des Gekreuzigten ( 15.40f0• ( Pesch, Markus II 452 ). II So die Notiz Mk 14.50. die historisch zuverlässig ist: mit Gnilka. Markus II 272.
I Ausgehallene Erinnerung: Mk 14.53f.66-72
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Weg des Messias wird nun zum Angelpunkt, in welchem die ganze Messiaserwartung einer fundamentalen Korrektur zugeführt wurde. 12 Dieser Seite können wir jetzt keine weitere Aufmerksamkeit widmen. Unser Augenmerk gilt für diesmal dem enttäuschenden Verhalten der Jünger, für das die alte Geschichte von der Verleugnung kennzeichnend ist. Auch auf sie war ein neues Licht gefallen. Erst dieses neue Licht vermag zu erklären, warum eine Gemeinschaft wie die urchristliche Gemeinde solche Erinnerung auszuhalten vermag, beziehungsweise warum sie geradezu ein Interesse an solcher Erinnerung haben kann. Es fallt ja auf, dass die eher peinliche Geschichte von der prominenten Verleugnung ungeschminkt erzählt wird. Petrus wird nicht schlechter gemacht als er ist, was sich sonst Erzähler nicht selten erlauben, um ihre eigene Überlegenheit zu sichern. Petrus wird auch nicht besser gemacht als er ist, was sich sonst Erzähler auch nicht selten erlauben, um die Vergangenheit einigermassen erträglich zu machen. Statt dessen wird nüchtern vom Versagen erzählt. Dass dies geschehen kann, hat seinen Grund in der österlichen Perspektive. Die Jünger hatten mit dem getöteten Jesus eine neue Erfahrung gemacht (wie diese historisch oder psychologisch zu erklären wäre, lassen wir jetzt auf sich beruhen). Sie hatten ihre Beziehung zu Jesus abgebrochen, der Auferstandene aber ging ein neues Verhältnis zu ihnen ein. Ostern muss so etwas wie die Erfahrung eines neuen Anfangs gewesen sein (später wurde dieses Phänomen Vergebung der Sünden genannt). Deshalb kam die alte Geschichte vom versagenden Petrus an ein neues Licht. 13 Ihr Thema war jetzt nicht mehr allein die Verleugnung, die einen allerdings zum Weinen bringen könnte. Ihr Ziel konnte nicht mehr sein, Petrus in sein eigenes Versagen zu bannen. Die alte Geschichte ist jetzt nicht mehr vom Pathos getragen, die peinliche Wahrheit über Petrus aufzudecken. Denn von dieser Vergangenheit war zu erzählen, um überhaupt die Dimensionen ermessen zu können, welche der neue Anfang hatte. Wer weiss, wie Petrus seine Beziehung zum Nazarener beendet hat, kann erst ermessen, was die neugeschaffene Beziehung des Auferstandenen zu Petrus ist. Göttliche Kreativität kam in ihr zum Zuge, Krea-
12 Anzeichen dieser fundamentalen Korrektur finden wir schon in Mk 8.27-33. wo das Petrusbekenntnis zur Messianität Jesu. das Petrus zum Einspruch gegen den Weg Jesu ins Leiden flihn. einer grundlegenden Kritik unterzogen wird. 1~ Pesch. Markus II 452 sieht im Bild vom weinenden Petrus wohl nicht zu Unrecht eine Andeutung der Begnadigung und Neuberufung dieses Jüngers nach Ostern (vgl Mk 16,7).
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tivität, die an nichts anknüpft, weil sie aus eigener Kraft Neues schafft. Die Erinnerung bleibt zwar Erinnerung an ein klägliches Versagen, aber nun wird sie zugleich Erinnerung an das, was durch den Auferstandenen überwunden ist. Die ganze Wahrheit über Petrus war eben nicht das Versagen, sondern das vom Auferstandenen ertragene Versagen. Diese österliche Perspektive dürfte der Grund dafür sein, dass solche Erinnerung nicht nur ausgehalten werden kann, sondern dass sie geradezu lebenswichtig wird. Auch wenn die alte Geschichte ungeschminkt an das Versagen erinnert, bedroht sie weder den prominenten Petrus noch die übrigen Anhänger Jesu. Denn evangelische Erinnerung geschieht nicht, um die Menschen in den Bann ihres eigenen Versagens zu schlagen. Sie geschieht nicht deshalb, um sie auf ihre eigenen Möglichkeiten der Beschönigung oder der Verdrängung zurückzuwerfen. Sondern sie geschieht, um aufmerksam zu machen auf die kreative Macht, die an Ostern ans Licht der Weltöffentlichkeit getreten ist. Erinnerung in österlicher Perspektive geschieht nicht, um die Betroffenen zu bedrohen, sondern um zu dem vorzustossen, was auch die Versagenden trägt. Die Menschen eben dieses Tragenden inne werden zu lassen, das ausserhalb der Möglichkeiten sogar Prominenter liegt, ist demzufolge ein Grundzug der evangelischen Erinnerung. Evangelisch ist die Erinnerung eben darin, dass sie nicht bloss an das Enttäuschende erinnert, das der Mensch aus sich heraussetzt, sondern genau dieses zum Anlass nimmt, an das Externe zu erinnern, das das Enttäuschende trägt.
2 Verschwenderische Würdigung (Mk 14,3-9) » ... wo immer das Evangelium verkündigt wird in der ganzen Welt, da wird auch von dem geredet, was sie getan hat, zu ihrem Andenken.« So endet eine weitere Erzählung, die wir zur Erschliessung des Phänomens evangelischer Erinnerung heranziehen (Mk 14,9). Als Jesus im Hause eines Sirnon zu Tische liegt, kommt eine nicht namentlich genannte Frau mit einem Alabastergeniss voll echten, kostbaren Nardenöls. Sie zerbricht das Gefass und giesst das Öl über das Haupt des essenden Jesus. Die Jünger, vernünftig wie sie sind, protestieren unwillig: Wozu diese Verschwendung! Das Salböl hätte für mehr als dreihundert Denare verkauft werden, und der Erlös hätte den Armen gegeben wer-
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den können. So fahren sie die Frau an. Jesus aber ergreift ihre Partei: Lasst sie, warum macht ihr der Frau Schwierigkeiten! Ein gutes Werk hat sie an mir getan. Allezeit habt ihr Arme bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. Auch dies ist eine alte Geschichte. Sie hat eine Variante 14 in Lk 7 ,36ff (die grosse Sünderin) und erscheint bei Johannes in einer Gestalt, die am besten als Kombination der vormarkinischen und der vorlukanischen Tradition zu verstehen ist. 15 Die älteste Gestalt der Erzählung lokalisiert die verschwenderische Salbung in Bethanien und hat ihre Pointe darin, dass die Armen allezeit da sind, Jesus dagegen nicht (V. 7a.c). Diese Gestalt dürfte geschichtliche Wirklichkeit wiedergebenY' Im Laufe der Traditionsgeschichte wurde die Erzählung gegen das Missverständnis gesichert, dass sie gegen die Wohltätigkeit gegenüber Armen in Anschlag gebracht werden konnte (Einfügung von V. 7b: »und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen wohltun«). Später wurde die Salbung der Frau neu verstanden als prophetischer Hinweis auf das Begräbnis (möglicherweise in dem Moment, als die Geschichte in die Passionserzählung eingefügt wurde). Für Markus schliesslich war besonders wichtig, dass die Verkündigung des Evangeliums für immer verbunden war mit dem Andenken an den prophetischen Hinweis der Frau, wonach die wahre Würde Jesu in seinem Gang ans Kreuz erschienen ist. Fragen wir nach den besonderen Konturen dieser Erzählung, so fällt zuerst der Wert des Salböls auf: dreihundert Denare entspricht ungefähr einem Jahresverdienst eines normalen Tagelöhners. Einen Jahresverdienst also giesst die Frau über dem Haupt Jesu aus. Was ftir eine sinnlose Verschwendung! Die Erzählung unterstreicht den ungeheuren Luxus, den die Salbung darstellt. Und sie legt Wert darauf, dass auch der vernünftige Protest gegen diese Verschwendung seinen Raum bekommt. In der Tat: wieviel Gutes hätte man mit dem Jahresverdienst an den Armen tun können! Und dennoch ergreift Jesus die Partei der Frau. Der Grund dafür ist, dass sie zu unterscheiden verstand zwischen der immerwährenden Gegenwart der Armen und der flüchtigen Gegenwart Jesu. Sie hatte erkannt, dass die Gegenwart durch die Anwesenheit Jesu entscheidend qualifiziert wurde, so wie die Hochzeit
14 Die Existenz von traditionsgeschichtlichen Beziehungen zwischen Mk 14 und Lk 7 wird abgelehnt durch Gnilka. Markus II 222. 1 ~ Ähnlich Schweizer, Markus 156f: die folgende Traditions- und Redaktionsgeschichte wird im Wesentlichen von Schweizer übernommen. 16 Zur historischen Beuneilung vgl Gnilka, Markus II 226f.
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durch die Anwesenheit des Bräutigams qualifiziert wird (vgl Mk 2,1822). Und sie hatte das besondere Gewicht dieser Zeit erkannt: Jetzt ist nicht die Zeit zu vernünftiger Fürsorge, jetzt ist die Zeit zu verschwenderischer Würdigung. Hochzeitsgäste fasten ja auch nicht, denn sie haben den Bräutigam nicht immer bei sich. Ein Jahresverdienst wird verschwendet, weil Jesus nicht jederzeit gewürdigt werden kann. Die Handlung der Frau ist motiviert dadurch, dass sie das Gewicht der Gegenwart erkennt. Sie ist eingestellt auf die Gegenwart. Sie ist dessen inne geworden, was vor ihren Augen ist. Und deshalb hat sie getan, was sie vermochte. Dem Hinweis des Evangelisten können wir entnehmen, dass ihr gutes Werk erzählt wird, wo immer das Evangelium verkündigt wird, zu ihrem Andenken. Was ist ihr Andenken? Wofür steht die Erinnerung an diese Frau? Dass sie Jesus salbt, stellt erzählerisch dar, was die Christologie der Gemeinde bekenntnishaft vollzogen hat. 17 Es ist eine verschwenderische Geste, wenn dieser Jesus Messias, Menschensohn, Gott in Person genannt wird. Wird er nicht viel zu wichtig genommen durch die Christologie? Die Christologie ist ein Luxus, nicht erzwungen durch die Notwendigkeiten der Welt. Denn es ist ein Luxus, in Jesus nicht nur einen imponierenden Menschen, sondern die Verkörperung des göttlichen Wortes zu sehen (wie es das Johannesevangelium dann sagen wird). Wird er nicht verklärt durch die Christologie? Die Christologie gehört - so wird aus der Analogie zur Salbung deutlich in den Bereich des Schmückens. 18 Das Salböl schmückt das Haupt Jesu. Die Christologie ist der Schmuck, den der Glaube Jesus zugesteht. Schmuck gehört nicht in den Bereich der Zweckmässigkeit menschlicher Personen, jedenfalls wenn er in Lauterkeit geschenkt wird. Er dient der Verschönerung, der Würdigung einer Person jenseits des Zweckmässigen. Wenn das Andenken der Frau bewahrt wird, so wird damit ihre christologische Erkenntnis in Erinnerung gehalten. In Erinnerung gehalten wird, dass sie das Gewicht dessen erkannte, der vor ihren Augen zu Tische lag. Insofern stellt sie selbst eine Gestalt der Erinnerung dar, deren Sache es ja ist, aufmerksam zu werden auf die Würde 17 Wesemlich unter dem Niveau der Erzählung ist die neuerdings vorkommende Deutung. wonach die Geschichte an diese Frau als Frau erinnern wolle. Erinnen wird nicht bloss an die Tatsache. dass eine Frau Jesus erkannt haue. sondern an die Tatsache. dass diese Frau Jesus in seinem wahren Gewicht erkanm halle, und dass mithin ihr Tun so etwas wie eine pragmatische Christologie darstellt. IK Dazu Fuchs. Das Neue Testamem 139: »Auch der Glaube kann schmücken. Warum soll er nicht auch den historischen Jesus haben schmücken können?•
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dessen, was uns vor Augen steht. Erinnerung hat etwas mit Schmücken zu tun, genauso wie der christliche Glaube Jesus einen Schmuck zugesteht, der nicht den Gesetzen der Notwendigkeit gehorcht. Erinnerung hat etwas damit zu tun, dass ich der Würde dessen innewerde, was ich vor meinen Augen habe, dass ich aufmerksam werde auf die wahren Dimensionen dessen, was ich erfahren habe. Insofern kann man vielleicht sagen, dass die Welt und die Menschen erst in der Erinnerung zu der Würde kommen, die sie in den Augen Gottes haben. 19 Evangelische Erinnerung zeichnet sich dadurch aus, dass sie verschwenderisch umgeht mit dem Schmuck, mit dem sie Jesus ausstattet. Diese Verschwendung ist eine Metapher dafür, dass der Glaube Jesus unendlich wichtig nimmt. Und niemand sollte die Verschwendung der Christologie ausspielen gegen das Wohltun gegenüber den Armen. Jesus ist der wahre Mensch, den es unendlich wichtig zu nehmen galt, damit erinnert werden kann an das besondere Gewicht jenes Augenblicks. Und es ist gar nicht gesagt, dass, wer Jesus unendlich wichtig nimmt, nicht auch die Armen endlich wichtig zu nehmen vermag. Allerdings ist der schmükkende Glaube hinfort vor das Problem gestellt, zu unterscheiden zwischen der geschmückten Wirklichkeit Jesu einerseits und der bloss geschminkten Wirklichkeit Jesu andererseits. Denn die Erinnerung ist stets in der Gefahr, zu schminken, statt zu schmücken. Der Glaube bearbeitet dieses Problem im Prinzip von zwei Seiten her. Auf der einen Seite schützt er sich durch die Erinnerung an den irdischen Jesus vor dem Schminken der Wirklichkeit Jesu (bei den Synoptikern und Johannes als Besinnung auf den faktischen Lebenslauf, bei Paulus als Konzentration auf den gekreuzigten Christus). Auf der anderen Seite muss der Schmuck daraufhin betrachtet werden, ob er zum Gesicht des Gekreuzigten passe 20 (deshalb werden die christologischen Titel nicht selten einer fundamentalen Kritik unterzogen, weil sie diesen Menschen Jesus schmücken müssen, was man beispielsweise am Menschensohnti-
19 Dazu Leuenberger. •Wahrnehmbar dem Herzen ... « 201-209. Leuenberger stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Glauben bei Pascal und der Liebe. die sich bei Proust als Erinnerung an die verlorene Zeit gestaltet. zo Die kritische Frage von Fuchs, Das Neue Testament 139 begleitet gerade den Glauben von allem Anfang an: »Denn es könnte sehr wohl so sein. dass alles, was Jesus nach seiner Kreuzigung zugeschrieben wurde, gar nicht zu dem historischen Jesus passte, sondern weit eher zu denjenigen Menschen, die an ihn glauben wollten.«
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tel gut beobachten kann). 21 Der Werdegang der Christologie könnte von hier aus gesehen dargestellt werden als ein Paradigma für eine Erinnerung, die Erinnertes zu schmücken wagt und zugleich darauf verzichtet, dessen Gesicht durch Schminken zur Maske verkommen zu lassen.
3 Die Gestalt der Erinnerung: das Abendmahl ( 1Kor 11,17-34) Einen gewichtigen Platz nimmt das Wort Erinnerung in der Abendmahlsüberlieferung von I Kor 11 ein. Sowohl nach dem Brotwort als auch nach dem Kelchwort wird die Aufforderung ausgesprochen: »Das tut zu meinem Gedächtnis« (I Kor II ,24 und 25). Diese Aussage findet sich schon im lukanischen Abendmahlsbericht, mit dem der paulinische am nächsten verwandt ist, 22 dort allerdings nur einmal. Wir gehen davon aus, dass diese paulinisch-lukanische Version der Abendmahlsüberlieferung aus der antiochenischen Tradition stammt. Daraus folgt die Feststellung, dass das Stichwort Erinnerung in der hellenistischen Gemeinde eine besondere Rolle spielte. Dies lässt auf eine gewisse Nähe zu den hellenistischen Gedächtnismählern schliessen, die den Glauben an die Gegenwart des Erinnerten in der Mahlgemeinschaft widerspiegeln. Nach hellenistischer Auffassung vollzog das Mahl in gewisser Weise die Vergegenwärtigung dessen, der es gestiftet hatteP Dieser Aspekt wird auch in der lukanisch-paulinischen Abendmahlsversion eine Rolle spielen. Doch erinnert die Betonung der Anamnesis nicht weniger an das Passamahl, das nach jüdischem Verständnis wesentlich dem Andenken an die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens diente. 24 Der Vergangenheit gedenken, so wurde in der jüdischen Passamahltradition entdeckt, bedeutet keine Konservierung, keinen musealen Umgang mit Vergangenem. Der Vergangenheit gedenken
21 Zum Menschensohntitel vgl Holtz. Jesus aus Nazareth I 07-111: zur Korrektur der Messiaserwartung die auf historischer Erinnerung beruhende Erzählung vom Messiasbekenmnis des Petrus (Mk 8,27-33). n Mit Stuhlmacher. Jesus von Nazareth 81: vgl 84. n Mit Klauck, Herrenmahl 317. Die Erinnerung an eine einzelne Person in einem Gedächtnismahl ist - so Klauck - ohne Analogie im ganzen alnestamentlich-jüdischen Material. während sie im hellenistischen Stiftungsmahl eine weitgehende Analogie hat. 24 So Stuhlmacher. Jesus von Nazareth 84.
3 Die Gestalt der Erinnerung: das Abendmahl (I Kor 11.17-34)
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bedeutet, ihren rettenden Impuls für die Gegenwart wahrzunehmen. 25 Es ist anzunehmen, dass Paulus selbst den Hinweis auf das Gedächtnis in der Abendmahlsüberlieferung verdoppelte. Dies lässt darauf schliessen, dass gerade für ihn der Aspekt der Erinnerung an Jesus wichtig war. Dazu passt gut, dass das Abendmahl nach Paulus insbesondere die Verkündigung des Todes Jesu darstellt, genauer: die Vergegenwärtigung der rettenden Macht dieses Todes. Dazu passt ebenfalls gut, dass bei Paulus das Bewusstsein des jetzt abwesenden Jesus besonders gut entwickelt ist. Wenn das Herrenmahl also zur Erinnerung an Jesus geschieht, geschieht es als Vergegenwärtigung des durch den Kreuzestod entzogenen Jesus, als Vergegenwärtigung der rettenden Macht seines Todes. Dass die Erinnerung im zentralen Brauch des Abendmahls festsitzt, macht noch einmal klar, wie grundlegend die Erinnerung an Christus für das Leben der urchristlichen Gemeinden war. 26 Die Abendmahlsüberlieferung der hellenistischen Gemeinden macht aufmerksam auf zwei wichtige Aspekte der Erinnerung an Jesus. Zum ersten macht sie aufmerksam auf den dynamischen Aspekt von Erinnerung: im Abendmahl wird in Erinnerung gerufen. Das Abendmahl setzt Erinnerung nicht voraus, sondern vollzieht sie, als Erinnerung an das, was Jesus damals seinen Gästen zugute getan hatte. 27 Jesus selbst hatte ja sein eigenes Verhalten und Reden sakramental verstanden, als Austeilung der Gegenwart Gottes, als Arbeit an der Einstellung der Menschen auf die Nähe der Gottesherrschaft, als Kampf um die Lebendigkeit der durch Krankheit, Borniertheit und Sünde ins Totenreich verbannten Menschen. Dieses sakramentale Verständnis bringt Jesus in den Deuteworten zum Ausdruck, die am ehesten den Anspruch auf historische Ursprünglichkeit erheben können: Das ist mein Leib, das ist mein Sterben. 28 Erinnerung an Jesus bedeutet also, der sakramentalen,
B Mit Klauck. Herrenmahl 316: ••Das gedenkende Tun holt das Vergangene in die Gegenwart hinein (herein?). als heilsames Geschehen. das den Feiernden zugute kommt.« In der Erinnerung sieht Bonnard demzufolge die Alternative sowohl zur »tentation passeistecc als auch zur »tentation actualiste« des Urchristentums (l'anamnese 2). 2~> Mit Bonnard. L'anamnese 5: »Nous ne sommes pas loin de penser que cette structure anamnesique. loin de ne caracteriser que Je rite eucharistique. est presente dans tout Je developpement de Ia vie et de Ia pensee chretiennes au premier siede.« 27 Vgl Michel. An. l'lfU111"C~lm. in: ThWNT IV 679.32-36 mit Anm 6. 2M Zur sakramentalen Dimension vgl Bornkamm. Jesus von Nazareth 148 und Holtz. Jesus aus Nazareth 125: »Soviel lässt sich indessen mit Bestimmtheit sagen. dass die BezweiOung dessen. dass Jesus mit seinen Jüngern am Abend vor seiner Verhaftung eine Mahlzeit gehalten
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der austeilenden Dimension seines Lebens und Sterbens innewerden. Auch dies ist ein Grundzug des Phänomens Erinnerung: in der Erinnerung werde ich aufmerksam auf das, was die Vergangenheit meiner Gegenwart austeilt, sei dies in der Erinnerung an verstorbene Menschen, sei dies in der Erinnerung an befreiende Ereignisse. In der Erinnerung werde ich also aufmerksam, dass die Gegenwart nicht allein für sich selbst aufzukommen hat. Zum zweiten wird in der Abendmahlsüberlieferung anschaulich, dass die Erinnerung immer auch den Vollzug der Vergegenwärtigung bedeutet. Das Abendmahl zum Andenken an den toten Jesus feiern heisst, ihn, den Abwesenden, gegenwärtig machen in der einzig möglichen Gestalt, in der er gegenwärtig sein kann, bis dass er kommt. Erinnerung ist also zugleich ein Vorgang, der die Gegenwart mit Dingen anreichert, die sie nicht sich selbst verdankt. Wer sich erinnern lässt, lässt Vergangenes gegenwärtig werden. Für unsere Überlegungen ist nun besonders wichtig, welche konkrete Gestalt die Erinnerung an Jesus im Abendmahl gewonnen hat. Zu seiner Erinnerung wird Brot gegessen und Wein getrunken. Man kann diese Gesten nicht formalisieren, ganz so, als ob es gleichgültig wäre, in welcher Weise Jesus in Erinnerung gehalten wird. Jesus wird beispielsweise nicht durch das Abhalten von olympischen Spielen vergegenwärtigt, nicht durch den feierlichen sportlichen Wettkampf, sondern durch ein Essen und Trinken, das die Menschen zu Gästen an seinem Tisch werden lässt. Essen und Trinken steht für die Nahrungsaufnahme, die zum Leben notwendig ist. Es steht für den Empfang der Dinge, die ich zum Leben brauche und mir dennoch nicht selbst verschaffen kann. Essen und Trinken steht dafür, dass der Mensch durch fremden Stoff am Leben erhalten wird. Wenn dieses Essen die Menschen zu Gästen macht. so schafft es unter ihnen eine Gemeinschaft. die nicht auf ihnen selbst, sondern allein auf dem Gastgeber beruht. 29 Es schafft eine Gemeinschaft, die nicht von menschlicher Hand gemacht ist, und die deshalb auch nicht von menschlicher Faust zerstört werden kann. Wenn es also nicht gleichgültig ist, welche Gestalt die Erinnerung an Jesus gewinnt, dann besteht ein innerer Zusammenhang zwischen diesem Essen
hat. in der er Brot und Wein in eine besondere Beziehung zu sich und seinem Weg setzte und so seinen Jüngern darreichte. unbegründet ist.• 29 In diesem Zusammenhang stehen die paulinischen Ausflihrungen vom Leib Christi. der nicht durch die Glaubenden gebildet. sondern ihnen gegenüber präexistent ist: vgl Käsemann. Problem 196f.
3 Die Gestalt der Erinnerung: das Abendmahl (I Kor 11,17-34)
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und dem Christus. Denn dieses Essen stellt selbst den gegenwärtigen Christus dar, es macht konkret, als was der Christus gegenwärtig wird. Er wird gegenwärtig als einer, der Nahrung zum Leben austeilt und dadurch eine Lebensgemeinschaft unter seinen Gästen stiftet. Wir können diesen Zusammenhang verstehen als einen Prozess wechselseitiger Erinnerung. Einerseits erinnern Brot und Wein so an Christus, dass sein Wesen gegenwärtig wird, andererseits erinnert der Christus so an Brot und Wein, dass ihr Wesen neu erschlossen wird. Brot und Wein erinnern daran, dass das Wesen des Christus im Austeilen bestand, im Austeilen von Lebensmitteln aller Art. Gerade beim Essen wird also der Essende daran erinnert, wer Christus gewesen war und als wer er in der Gegenwart existiert, nämlich als der, der elementare Nahrung zum Leben gibt. Wir dürfen, so scheint mir, allerdings nicht vergessen, dass der Prozess des Erinnerns noch eine andere Seite hat. Denn im Abendmahl erinnert der Christus auch an vergessene Dimensionen von Brot und Wein. Daran nämlich, dass das Sakramentale, das im Christus verkörpert ist, auch im täglichen Brot und Wein begegnet, dass auch diese Phänomene der Austeilung sind, die die Menschen versorgen mit dem, was sie zum Leben brauchen. Im Abendmahl erinnert Christus seinerseits an das wahre Gewicht, das Brot und Wein haben. Erinnerung bedeutet demnach das pure Gegenteil der Überredung: die Überredung sucht Menschen von ihren Erfahrungen zu entfernen, während die Erinnerung sie an ihre Erfahrungen weist, indem sie sie neu erschliesst. Wir erkennen an dieser Wechselseitigkeit ein wichtiges Moment der Erinnerung: Gegenwärtiges kann Vergangenes so in Erinnerung rufen, dass dessen Austeilen ins Bewusstsein kommt, und Vergangenes kann Gegenwärtiges so erschliessen, dass dabei seine ~. seine Würde oder sein Glanz allererst zum Vorschein kommt. Erinnerung bedeutet also viel mehr als blosses Zurückrufen ins Gedächtnis, es bedeutet eine Erschliessung der Vergangenheit, die bloss gewusst oder real war, auf ihre Wirksamkeit hin. Erinnerung macht aus der blossen Realität der Vergangenheit ihre lebendige Wirklichkeit. Und es bedeutet eine Erschliessung der täglichen Erfahrung auf das hin, was unbeachtet vor unseren Augen steht. Evangelische Erinnerung macht in besonderer Weise aufmerksam auf den sakramentalen Charakter von Vergangenern und Gegenwärtigem. So stellt die evangelische Erinnerung einen Widerstand dar gegen den menschlichen Verfall in den Wahn, alles selbst
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produzieren und nur aus eigenen Mitteln leben zu müssen und sich dann einzureden, es auch zu können.
4 Die Kraft der Erinnerung (Joh 14,26) In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums begegnet uns die interessante Gestalt des Parakleten. Dieses Evangelium hat in besonderer Weise über das Problem des Abschieds Jesu nachgedacht, über das Problem also der Endlichkeit seiner rettenden Gegenwart. Dadurch erklärt sich die im Urchristentum einzigartige Breite, in der der Abschied Jesu in Kp 13-17 bedacht und bearbeitet wird. Der Paraklet spielt die Hauptrolle in diesem Reflexionsprozess. 30 Von ihm heisst es ausdrücklich, er könne nicht kommen, wenn Jesus nicht gegangen sei ( 16, 7). So erscheint er als die Frucht dessen, dass die Gegenwart Jesu endlich war. Vom Parakleten heisst es auch ausdrücklich, dass er sozusagen den abwesenden Jesus bei den Jüngern vertreten und dass er auf ewige Zeiten bei ihnen sein werde (14, 16 ). Er ist unüberholbar. Der Paraklet ist demnach jene Figur, die so etwas wie die ewige Erinnerung an den entscheidenden Augenblick Jesu darstellt. Die Figur des Parakleten ist der johanneische Versuch, konkreter zu fassen, was urchristlich heiliger Geist (7tVE~ äytov, heilige Geistkraft) heisst (vgl ebenfalls 14,26). Die Sendung des Parakleten ist ganz und ausschliesslich an den gesandten Christus gebunden. »In meinem Namen«, sagt der johanneische Christus, »wird ihn der Vater senden«. Das Verständnis dieses Ausdrucks ist nicht einfach. Wenn das b lokal verstanden wird, heisst er: dort, wo mein Name genannt wird, an dem Ort, wo der Name des Christus genannt wird, wird der Vater den Parakleten senden. Wenn das b instrumental verstanden wird, heisst er: durch meinen Namen. Dadurch, dass der Name des Christus genannt wird, wird der Paraklet gesandt. Wie immer man sich entscheiden mag, ganz deutlich ist, dass der Paraklet eng an den Christus gebunden bleibt (insofern war das filioque eine glückliche Entscheidung der Kirche, da sie damit den Geist vom Vater und vom Sohn ausgehen liess). Der Paraklet ist also die immerwährende Gegenwart dessen, was im Namen Christus einmal verkörpert wurde. Dementsprechend heisst es dann vom Parakleten: »jener wird
Jo
Vgl Becker. Johannes 11470--475.
4 Die Kraft der Erinnerung (Joh 14,26)
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euch alles lehren und wird euch alles in Erinnerung rufen, was ich euch sagte« (Joh 14,26). Das lit&ianlv ist schon in der Septuaginta ein umfassender Bildungsvorgang, der nur wenig mit unserem theoretisierenden Verständnis von Lehre zu tun hat. Lehren heisst eigentlich, jemanden auf das Wesentliche aufmerksam machen, jemanden in die Lebenswahrheiten einftihren. 31 So lehrt etwa der Blinde in Joh 9,34, indem er die Gegner auf die Gottessohnschaft Jesu hinweist. Lehren bedeutet dort, die Wahrheit der Dinge aufdecken. Dies alles tut der Paraklet in umfassender Weise: er lehrt sie mvm, alles, seine Einführung in die Lebenswahrheit bedarf keiner Ergänzung. Und er löst seine Aufgabe so, dass er den Zurückgebliebenen alles in Erinnerung ruft, was ihnen Jesus gesagt hatte. Der Paraklet hat allerdings nicht bloss die Aufgabe, sie daran zu erinnern, wie alles gewesen war. Der Paraklet ist kein weltlicher Protokollant. Welcher Art die Erinnerung des Parakleten ist, können wir am Johannesevangelium selbst erkennen. Es beschreibt seinem Selbstverständnis nach - entschieden die irdische Wirklichkeit des Jesus von Nazareth, aber es sieht zugleich eine &Qx in den Fleischgewordenen hinein, eine Würde, vergleichbar jener Würde, die ein Einziggeborener bei seinem Vater hat. 32 Die Erinnerung des Parakleten bedeutet keine Reduktion auf das, was weltlich zur Darstellung kam, sondern es ist die durch die Ostererfahrung bereicherte Erinnerung daran, welche &Qx diesem Menschen zukommt, der vor aller Augen ist. Es ist eine Erinnerung, die in das, was vor aller Augen ist, etwas hineinsieht, was nicht allen Augen sichtbar ist, sondern nur dem erschwinglich, der gelehrt wurde, mit den Augen des Vaters zu sehen. Man könnte also sagen, der Paraklet sei die Gestalt gewordene österliche Erinnerung an den Menschen Jesus. Damit ist zugleich etwas gesagt über die Gestalt, die die Erinnerung an Jesus als solche hat: sie ist ein naJXidTttoc;. 33 Dies kann Tröster bedeuten. Des Trostes bedarf, wer sich selbst überlassen ist. Des Trostes bedarf, wer durch den Abbruch wichtiger Beziehungen in Haltlosigkeit zu versinken droht. Ein Tröster ist jemand, der angesichts abgebrochener Lebensbeziehungen auf das Tragende aufmerksam macht. Der napadTttoc; kann auch ein Fürspre-
Vgl Rengstorf. An. Wc!GICII n1.. in: ThWNT II 140,8-20. n Dazu 1.14b und Buhmann. Johannes 44: »Es ist ein Bekenntnis derer. die. den Anstoss überwindend. im Menschen Jesus die göttliche Herrlichkeit wahrgenommen haben.« 11 Zum Folgenden vgl Becker. Johannes II 471f. der sich für die Bedeutung Beistand entscheidet. 11
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eher sein, ein Anwalt. Eines Fürsprechers bedarf, wer beim Urteil für zu leicht befunden zu werden droht. In diesem Sinne verstanden ist die Erinnerung gleichsam der Anwalt des Christus bei den Menschen. 34 Der Fürsprecher, der das Gewicht des Christus in Erinnerung ruft. Man könnte auch sagen: der Fürsprecher, der die Menschen dessen inne werden lässt, was sie als Christus vor ihren Augen hatten. Evangelische Erinnerung konzentriert sich darauf, angesichts der Haltlosigkeit auf das Tragende, angesichts der Banalisierung auf das Gewichtige hinzuweisen. Der Paraklet wiederholt, was Jesus verkörpert hatte, heisst es doch von ihm ausdrücklich, ein »anderer Paraklet« werde nach dem Abschied Jesu gesandt. Daraus ergibt sich, dass schon Jesus als Paraklet in den Blick genommen wird. In der Erinnerung wird klar, dass es Sache Jesu gewesen war, auf das Tragende aufmerksam zu machen, darauf aufmerksam zu machen, dass Gott nicht zu leicht genommen werden darf. Eben in dieser fürsprechenden Gestalt wird er durch den Parakleten in Erinnerung gerufen, und zwar genau dadurch, dass der Paraklet seinerseits auf das Tragende aufmerksam macht und auf das Gewicht Gottes und der Welt hinweist. Interessant an dieser Figur ist schliesslich, dass sie so etwas wie ein Symbol darstellt ftir die Kraft, die der erinnerte Christus selbst hat. Der Paraklet steht genau dafür, dass Erinnerung nicht bloss die menschliche Fähigkeit ist, sich Dinge wieder ins Bewusstsein zu rufen. Gerade anhand des Parakleten wird klar, dass der Mensch auf die Dynamik des Stoffes angewiesen ist, des Stoffes, der sich selbst in Erinnerung zu halten vermag. Dieses Phänomen erfahren wir insbesondere via negationis in der Gestalt von Bildern, die uns nicht mehr loslassen. Der Paraklet stellt gleichsam die kreative Gegenseite dieser Erfahrung dar: er erinnert an die Mächtigkeit der Stoffe, die sich dem Menschen einprägen und die sich so leicht nicht vergessen lassen. Damit wird der Paraklet zum Inbegriff evangelischer Erinnerung. Der Furcht, alles und jedes sei dem menschlichen Erinnerungsvermögen anheimgestellt, begegnet er mit dem Hinweis darauf, dass sich der Christus immer wieder selbst in Erinnerung ruft.
J 4 So auch Becker. Johannes 11472: »Aber der Geist-Paraklet ist nicht Fürsprecher vor Gott wie der Erhöhte JJoh 2.1 und sinngernäss 14.14, sondern vor allem als Stellvenreter des nun Erhöhten bei den Jüngern verstanden.«
Schluss
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Schluss Müsste ich das charakteristische MerkmaJ der Erinnerung nennen, wie sie im Urchristentum vollzogen wurde, so würde ich sagen, siebeziehe sich wesentlich auf einen Augenblick im Vordergrund der Welt. In allen Prozessen des Erinnerns ginges-wie wir beobachtet habendarum, jenes geschichtlichen Augenblicks inne zu werden, in welchem Jesus von Nazareth in den Dörfern und Städten Galiläas und in Jerusalem auftrat. Genauer: des Gewichtes inne zu werden, das jener Augenblick hatte. Der Erinnerung im Urchristentum geht es wesentlich darum, jenen geschichtlichen Augenblick im Vordergrund der Welt unendlich wichtig zu nehmen und seiner Bedeutung bis in die tiefsten Hintergrunde des Geistes nachzudenken. Vornehmstes Objekt der Erinnerung ist also das Geschehen im Vordergrund. Dieses Charakteristikum wird umso plastischer, wenn man etwa das platonische Konzept von dv
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Evangelische Erinnerung
halten und die sakramentale Dimension gegenwärtiger Erfahrung ins Bewusstsein zu bringen. Und evangelische Erinnerung macht schliesslich darauf aufmerksam, dass der Mensch nicht einfach auf sein Erinnerungsvermögen zurückgeworfen ist, sondern dass es Stoffe gibt, die je und dann ihre eigene Kraft entfalten, sich in Erinnerung zu rufen. Von dieser Kraft lebt alle Erinnerung, nicht zuletzt auch die, welche mit diesen Überlegungen beabsichtigt war.
»Ich aber sage euch« Zur Begründung der Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt Wer die Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt zum Thema macht, könnte versucht sein, dies durch historische Deskription zu tun. Er wäre dann einem Archäologen gleich, der seine Funde analysiert und beschreibt, bevor er sie ins Museum zurückstellt. Nun ist die Bergpredigt- wie die Verkündigung Jesu überhaupt -kein Museumsstück. Ihr wohnt eine seltsame Kraft inne, die Kraft, sich einzumischen in das Leben jeder Generation. Vielfältig waren und sind die Versuche, diesen Text zu entfernen aus dem aktuellen Leben, sei es in die Rumpelkammer, wohin das Überlebte gehört, sei es ins Museum, wo ehrwürdige Gegenstände aufbewahrt werden. Doch die Bergpredigt ist auf ebenso vielfältige Weise immer wieder zurückgekehrt ins Leben. Ihre seltsame Kraft, das Leben zu behelligen, hat andere Generationen dazu veranlasst, hier vom Wort Gottes zu sprechen. Wer dies respektieren will, wird sich mit historischer Beschreibung nicht begnügen können. Er wird den Schritt zu neutestamentlicher Theologie wagen. Um ein Stück neutestamentlicher Theologie also soll es im folgenden gehen. Freilich könnte neutestamentliche Theologie getrieben werden als »Urchristliche Religionsgeschichte« 1, das heisst im Sinne einer Beschreibung bestimmter religiöser Ideen und Vorstellungen einiger heterodoxer Juden des ersten Jahrhunderts nach Christus. Gewiss könnte die Bergpredigt betrachtet werden als Quelle, die uns über die Religion Jesu und seiner ersten Jünger informiert. Doch wer sich mit diesem Text näher beschäftigt, wird berührt von einem ganz anderen Anspruch. Nicht nur über die Religion Jesu will er Auskunft geben, sein Sachanspruch geht weit darüber hinaus: sein Gebrauch des Wortes »Gott« bringt den Leser dazu, selbst Theologie zu treiben. Thema ist unversehens nicht mehr, was vor zweitausend Jahren über Gott gedacht wurde,
1 So die berühmte These W.Wredes. Aufgabe 153f: »Der fllr die Sache (sc der neutestamentlichen Theologie) passende Name heisst: urchristliche Religionsgeschichte bzw Geschichte der ur-/christlichen Religion und Theologie.«
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»Ich aber sage euch«
Thema ist vielmehr der Gottesgedanke hier und heute, seine Problematik und seine Wahrhaftigkeit. Alte Vorstellungen über Gott können dann nicht bloss religionspsychologisch beschrieben werden. Sie müssen konfrontiert werden mit dem, was das Wort »Gott« unter uns bedeutet. Bei einer Theologie, einer Rede von Gott im technischen Sinne, können wir erst recht nicht stehen bleiben. Denn wer über Gott nachdenkt, wird hineingezogen in elementare Fragen des Menschseins. Alt ist die Einsicht, dass Gotteserkenntnis immer auch Selbsterkenntnis einschliesst. Wer im Anschluss an das Neue Testament über Gott nachdenkt, wird deshalb entlassen in die universale Weite anthropologischer und philosophischer Überlegung. Denn mit »Gott« meint das Neue Testament eine schlechthin universale, jede menschliche Person anredende Wahrheit. Er wird durch die Texte in jenes Theologietreiben geführt, das Hendrik Boers »theology outside the ghetto« nannte. Ihm und diesem seinem Anliegen sollen die folgenden Überlegungen gewidmet sein. Die Beschäftigung mit neutestamentlichen Texten geht immer aus von der historischen Deskription, sie führt über die religionsgeschichtliche Betrachtung zur Theologie und von dort zu elementaren philosophischen und anthropologischen Fragen. Diese Bewegung soll im folgenden an einem Beispiel durchgespielt werden. Mein Thema ist - deskriptiv gesehen - die Begründung der ethischen Forderung Jesu in der Bergpredigt. Und zwar die Begründung, wie sie in der antithetischen Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetz vorliegt.2 Theologisch gesehen geht es dabei um das Phänomen des Willens Gottes. Die Antithesen zeigen, dass offenbar unterschieden werden muss zwischen Gesetz und Gotteswille. Offenbar wartet der Wille Gottes sozusagen darauf, im Gesetz entdeckt zu werden. Diesen Entdeckungsvorgang haben wir in Mt 5,21--48 vor unseren Augen. Und die Frage muss weiter sein, welches Lebensphänomen das Gesetz und die Forderung Jesu darstellen. Welchen Anspruch formulieren die Forderungen der Antithesen? Welcher Art ist die Autorität dessen, was hier geboten wird? Im Grunde geht es dann um die anthropologische Frage, inwiefern der Lebensvorgang als solcher angewiesen ist auf so etwas wie den Willen Gottes. 2 Wir belrachlen dieses Problem im Zusammenhang der •Anlilhesen« MI 5.21-48. Zu den hislorischen und exegelischen Problemen vgl Luz. Manhäus 244-250 und Weder. Rede 99102.
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Ergibt es sich aus dem Lebenszusammenhang selbst, dass vom Willen Gottes gesprochen wird?
I Der Ausgangspunkt: »Ich aber sage euch ... « Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet die auffällige Formel »Ich aber sage euch«. Sie ist charakteristisch für die Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt. Auffällig ist diese Formel zunächst darin, dass sie mit schöner Regelmässigkeit auftaucht, wo eine Forderung Jesu dem geschriebenen Gesetz gegenübergestellt wird.3 Der antithetische Aufbau geht wohl nur in zwei Fällen auf den historischen Jesus zurück; in den übrigen vier stammt er aus der vormatthäisehen Gemeindetradition oder von Matthäus selbst.4 Der Aufbau dieser Antithesen weist eine grosse formale Konsistenz auf: (I) Am Anfang steht ein »Ihr habt gehört, dass (zu den Alten) gesagt worden ist«. (2) Es folgt ein Gebot oder Verbot aus der Thora. (3) Darauf antwortet Jesus mit einem »Ich aber sage euch«. (4) Dieses leitet ein oder mehrere Jesusworte ein, welche das Gesetz kritisch auslegen. Die durchgehende Konstanz dieses Aufbaus macht deutlich, dass die Formel »Ich aber sage euch« am Angelpunkt zwischen dem Gesetz und dem durch Jesus neu entdeckten Willen Gottes steht. Auffällig ist die Formel ferner darin, dass aus dem jüdischen Kulturraum palästinensischer und hellenistischer Prägung keine eigentlichen Parallelen beizubringen sind.5 In sachlicher Hinsicht vergleichbar ist etwa die Einleitung des Botenspruchs, wie er bei den alttestamentlichen Propheten vorkommt. Sie lautet in der Grundform: »So spricht der Herr« (es folgen unter Umständen weitere Gottesbezeichnungen). Mit 'Es wäre nicht angemessen. hier von einer Entgegenstellung zu sprechen. Denn die Anti· thesen bilden zum Teil eine effektive Aufhebung des Gesetzes (zum Beispiel in Mt 5.33-37: Verbot des Meineids - Schwurverbot), zum Teil aber auch eine die Grenzen des Gesetzes positiv überschreitende Auslegung (zum Beispiel in Mt 5,21 f: Ausdehnung des Tötungsverbots bis zum hannlosen Schimpfwort). • Die Frage nach der genauen traditionsgeschichtlichen Herleitung aller Antithesen kann hier unberücksichtigt bleiben. da das Antithetische zumindest in zwei Fällen auf Jesus zurückgeht (dazu Luz. Matthäus 249). ~ Käsemann, Problem 206 rechnet diese Fonnel •zum Erstaunlichsten in den Evangelien überhaupt• und hält meines Erachtens zu Recht fest: •Dazu gibt es keine Parallelen auf jüdischem Boden und kann es sie nicht geben.• Zur historischen Beurteilung dieser Fonnel vgl auch Schweizer, Matthäus 71.
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dieser Fonnel wird das Wort eingeleitet, das der Prophet im Namen Gottes ausrichtet. Bezeichnend für diese Einleitungsfonnel ist, dass sie in der dritten Person fonnuliert ist. Das Ich des Propheten kommt in ihr gerade nicht vor. Das Ich erscheint erst recht nicht in der Betontheit, mit welcher im f:yo) & AElfO 4Li.v das f:yo) herausgestellt wird. Die Formel macht klar, dass es beim Propheten um Gottes Wort und also gerade nicht um sein eigenes geht. In formaler Hinsicht ist die Einleitungsfonnel vergleichbar, die gelegentlich in der rabbinischen Gesetzesdiskussion vorkommt. Allerdings springen bei der fonnalen Ähnlichkeit die Unterschiede umso mehr ins Auge. Mit der Fonnel »Ich sage aber« kann sich der Rabbi zuweilen absetzen von der Auslegung eines andem Schriftgelehrten,6 nicht aber vom Gesetz selbst, wie Jesus dies hier tut. Dazu kommt, dass der betreffende Rabbi in aller Regel mit Schriftzitaten begründet, warum er sich von der abgelehnten Auslegung absetzt. Eine solche Argumentation mit Schriftzitaten fehlt in sämtlichen sechs Antithesen der Bergpredigt - ein Sachverhalt, der von grosser Tragweite ist. Schliesslich ist festzuhalten, dass es dem Rabbi stets um die Auslegung des Gesetzes geht, um dessen Anwendung auf die Erfahrungswelt, nicht um dessen kritische oder gar ablehnende Bearbeitung.? Der Rabbi legt das Gesetz als Willen Gottes aus, Jesus entdeckt den Willen Gottes im Gesetz. Schon die Evangelien nahmen die Auffalligkeit der Einleitungsformel Jesu wahr. Matthäus, der Endredaktor der Bergpredigt, bringt die Lehre Jesu in den Zusammenhang der t;oooia. »Die Menge geriet ausser Fassung über seine Lehre. Er lehrte sie nämlich wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten« (Mt 7 ,28b.29). Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Art und Weise, wie Jesus seine Entdeckung des Willens Gottes der Thora gegenüberstellte, in entscheidender Weise mitverantwortlich ftir die grosse Vollmacht, die in seiner Lehre wahrgenommen wurde. Der Abschluss der Bergpredigt ist bei Matthäus mit einer Aussage fonnuliert, die er aus dem Markusevangelium übernahm. Dort wird die Lehre Jesu in Vollmacht an einem Exorzismus erkannt (Mk I ,27), auf sein Lehren in der Synagoge ausgeweitet und der Lehre der Schriftgelehrten gegenübergestellt (Mk I ,22). Mit
Vgl Luz. Manhäus 247 mit Anm 13. wo ein paar wenige Belege genannt werden. jüdischen Schriftgelehnen treten dem mosaischen Gesetz nicht gegensätzlich gegenüber. sondern konfrontieren verschiedene Toraauslegungen miteinander« (so Strecker. Bergpredigt 65 ), 6
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dem Begriff der Vollmacht spricht Matthäus demzufolge weniger die Herkunft oder Begründung als vielmehr die Wirkung der Lehre Jesu an. Nach dem Urteil des Matthäus löste die Lehre Jesu Fassungslosigkeit und Erschrecken aus, was gewöhnlich zu den wohlbezeugten Wirkungen von Exorzismen oder Wundem gehört. Was an dieser Lehre hat solche Fassungslosigkeit hervorgerufen? Wäre es etwa ihre Gewalttätigkeit? Wäre es, weil sie alle jene Gefasse zerbricht, in die man Welt und Gott bisher gefasst hatte? Matthäus selbst gibt einen wichtigen Hinweis zur religionsgeschichtlichen Einordnung der Lehre Jesu. Namentlich in dem »Ich aber sage euch« kommt eine Vollmacht zum Ausdruck, die Jesus offenbar von den Schriftgelehrten unterscheidet. So ähnlich er ihnen - gerade was das Lehren angeht - in vielen Punkten gewesen sein mag, so sehr unterscheidet ihn offenbar die e~O'UCJ'ia von ihnen. Worin besteht dieser Unterschied? Man hat ihn nicht selten in der psychodynamischen Wirkung dieses Redners sehen wollen: sein feuriges Temperament überrenne die unterkühlte Sachlichkeit der pharisäischen Gelehrten. Man hat den Unterschied auch als Steigerung verstehen wollen: Jesus habe zwar dieselbe Vollmacht wie die Pharisäer, bloss habe er mehr davon als sie. Der Wortlaut des Textes spricht mindestens gegen die zweite These. Nicht mehr Vollmacht hatte Jesus, sondern er hatte überhaupt Vollmacht, im Unterschied zu den Pharisäern, deren Lehre ohne Vollmacht erfolgte. Von entscheidender Bedeutung im Blick auf die Lehre Jesu ist jedenfalls die e~ooo\a. Sie gibt die Dimension an, in welcher auch das »Ich aber sage euch« Jesu verstanden werden muss.
2 Vollmacht und Gesetz Von der matthäisehen Bergpredigt lassen wir uns den Hinweis geben, dass Vollmacht im Spiel ist, wo immer der Wille Gottes von Menschen gelehrt wird. Wer den Willen Gottes ausspricht- und auch wer ihn verschweigt -, konfrontiert die Menschen mit einem schlechthin geltenden Gebot - oder enthält ihnen dieses eben vor. Durch seine Verbindung mit dem Willen Gottes erhält das Gebotene eine besondere Dignität und Autorität. Wer würde es wagen, dem Willen Gottes zuwiderzuhandeln? Darum stellt sich bei der menschlichen Auslegung des Willens Gottes von selbst die Frage nach der Vollmacht. Was berechtigt einen Men-
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sehen, bestimmte Weisungen als Willen Gottes zu kennzeichnen? Diese Frage nach der Vollmacht ist identisch mit der Frage nach der Begründung, die jemand für seinen Spruch des Willens Gottes angeben kann. Im folgenden werden wir deshalb nach der t~O'Ueria fragen, die ausgeübt wird, wenn der göttliche Wille ausgesprochen wird. Und zwar konzentrieren wir uns auf den Zusammenhang, der zwischen der Vollmacht und dem Begründungsvorgang besteht. Drei ungefähr zeitgleiche Modelle aus demselben kulturellen Kontext werden einander gegenübergestellt: das pharisäisch-rabbinische, das apokalyptische und das jesuanische. 2.1 Das pharisäisch-rabbinische Modell Das eigentliche Pathos pharisäischen Denkens und Lehrens ist es, die alltäglichen Lebensvorgänge bis in die letzten Verästelungen hinaus mit dem Willen Gottes zu durchdringen.S Es geht um die praktische, konkrete Übereinstimmung mit dem Willen Gottes im Alltag der Welt. Die schriftgeiehrte Arbeit hat in dieser Hinsicht Bewundernswertes geleistet.9 Sie nahm - gerade durch ihre Konzentration auf die Auslegung der Schrift - unverkennbar Abstand von jedem fundamentalistischen Versuch, den Buchstaben durchzusetzen und damit das Leben gesetzlich zu vergewaltigen. Statt der fundamentalistischen Repetition der Gebote hat die schriftgeiehrte Arbeit die besonnene Anwendung des Gebotenen zu ihrer Sache gemacht.Jo Damit sind wir bereits am zentralen Punkt angelangt, wo wir einen Blick auf die hier ausgeübte Vollmacht tun können. Im pharisäisch-rabbinischen Bereich wird der Wille Gottes in einem Stil zur Sprache gebracht, der wesentlich exegetisch (im besten Sinne des Wortes) ist. Die Vollmacht des Schriftgelehrten erweist sich nicht anders denn durch die Auslegung, die er vorzutragen weiss. Die Voll-
RThoma. Christliche Theologie des Judentums 97. weist darauf hin. dass die Pharisäer ,.Offenbarungs- und zeitgemäss« zu leben suchten. »Dies sollte durch ... intensive Versuche. die Offenbarung Gones ftir alle Lebenslagen zur praktischen Norm zu erheben. praktizien werden.« Wichtig ist hierbei. dass die Offenbarung Gones einen prinzipiell normativen Charakter erhält. 9 lm Grunde ging es um so etwas wie wissenschaftliche Auslegung (Schürer. History II 314380 spricht zu Recht von »Torah Scholarship«) des Gesetzes. eine Tätigkeit. die den Schriftgelehnen hohes Ansehen einbrachte (so Schürer. aaO 327). 10 Der Schriftgelebne ist primär der Auslegung der Thora verpOichtet. Als solcher ist er ftir die pharisäische Lebensführung geradezu »lebensnotwendig« (mit Meyer. Tradition 42).
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macht, die hier ausgeübt wird, ist demnach ebenfalls von exegetischer Gestalt. Sie leitet sich gänzlich ab von der Vollmacht, die dem Gesetz selbst zugeschrieben wird. Ziel der Auslegung ist es gerade, die persönliche Tönung dessen, was zur Sprache kommt, auszuschalten. Insofern kann man sagen, dass im Rahmen einer exegetischen Vollmacht die Person des Auslegers keine fundamentale Rolle spielt. Dies erkennen wir schon an einer vordergründigen sprachlichen Beobachtung. In pharisäisch-rabbinischen Gesetzesauslegungen ist das Pronomen »es« (meistens in einem passivum divinum oder einem sonstigen passivum verborgen) weitaus häufiger als das Pronomen »ich«: es ist verboten, es ist erlaubt, es steht geschrieben. Die Vollmacht des Schriftgelehrten ist abgeleitet. Sie reicht genau so weit, wie die t;()'U(J\a des Gesetzes reicht. Deshalb richtet der Schriftgelehrte den Willen Gottes so aus, dass er ihn mit dem Gesetz begründet. Diese etwas allgemein formulierte These zur Vollmacht des Schriftgelehrten soll im folgenden erläutert werden. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an einige Charakteristika des pharisäisch-rabbinischen Denkens. Zunächst ist es gewiss nicht als Zufall zu betrachten, dass im Schosse der Pharisäer zum ersten Mal formelle Auslegungsregeln entwickelt wurden. Sie wurden auf Hillel zurückgeführt, der auch in manch anderer Hinsicht zum Modellfall des Thoragelehrten werden sollte.'' Gewiss war das Phänomen der Auslegung schon seit Jahrhunderten wichtig im Frühjudentum. Aber die Tatsache, dass Auslegungsregeln geschaffen werden, bedeutet einen Schritt darüber hinaus. Denn dies verdankt sich dem Bemühen, die Auslegung vor der Willkür des Auslegers zu schützen. Regeln zur Auslegung des Gesetzes werden entwickelt, weil die Macht des Gesetzes geschützt werden soll vor der Gegenmacht des Auslegers. Dass die Grundtendenz pharisäisch-rabbinischer Vollmacht exegetisch war, zeigt sich ferner darin, dass derselbe Hillel aus einem bestimmten Grunde in den Ruf kam, ein Vertreter kunstgerechter Auslegung zu sein. Es gelang ihm nämlich, einen schwierigen Fall mit Hilfe von Schriftexegese befriedigend zu lösen, obwohl er in der heiligen
11 Zu den Hillelzugeschriebenen Regeln vgl Bousset. Religion des Judentums 160; Schürer. History II 344 mit Anm 21 (Literaturangaben). Zur Berühmtheit des Paares Hitlei und Schammai vgl Schürer. aaO 363-367.
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Schrift nicht vorgesehen war.12 Dass die ~0'\Xri.a allein der Schrift gehört, wird ferner daran deutlich, dass in der schriftgeiehrten Schulbildung eine eindeutige Regelung getroffen wird für die Fälle, wo zwei Schriftworte sich widersprechen. In diesem Fall gibt ein dritter Schriftvers den Aussschlag. Dieselbe formale Vorordnung der Schrift zeigt sich in der überall spürbaren Zurückhaltung, die der schriftlichen Niederlegung der mündlichen Gesetzesauslegung entgegengebracht wurde. Es ist sicher kein Zufall, dass die Mischna erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts und nicht ohne Widerstände schriftlich festgehalten wurde. Man wehrte sich lange Zeit dagegen, die Autorität der Schrift mit der Autorität schriftlicher Auslegung zu unterlaufen. Schliesslich passt sehr gut dazu, dass man das Gesetz als eine ewige Grösse betrachtete: vor Anbeginn der Welt war es da, und es wird das Ende der Welt überdauern.tJ Diese Vorstellung teilt das pharisäisch-rabbinische Denken mit beinahe dem gesamten antiken Judentum. Man kann hier von einer Verewigung des Gesetzes sprechen. In ihr geht es selbstverständlich nicht bloss um die zeitliche Erstreckung seines Geltungsbereichs, sondern vielmehr auch um seine Autorität, die nicht einmal durch das Ende der Welt angetastet werden kann.t4 Es ist ohne weiteres evident, dass persönliche Vollmacht weder erfordert noch erwünscht ist, wo es prinzipiell um ein exegetisches Verständnis des Willens Gottes geht. Deshalb ist es nur konsequent, dass sich innerhalb der schriftgeiehrten Tradition schon bald die Legende bildete, die die mündliche Tradition (der Gesetzesauslegung) ihrerseits auf den Gesetzgeber Mose zurückführt.ts Diese Fiktion hatte formal den Sinn, die prinzipielle Überlegenheit des Gesetzes über die Auslegung festzuhalten. Doch trotz dieses formalen Sinnes hatte die Fiktion faktisch zur Folge, dass die rabbinische Auslegung das sinaitische Gesetz zu dominieren begann. Fragen wir uns schliesslich, welchen Stel12 Es handehe sich um die Frage. ob es erlaubt sei. das Passaopfer auch dann an einem Sabbat durchzuführen. wenn der Rüsuag auf einen Sabbat fiel. vgl Pes 66a und Bousset. Religion des Judentums 154f. nvgl Schürer. History 11314-321: Bill I 244-247. 14 Als indirekter Zeuge fLir diese Dimension kann Paulus gellen. der sich im Galaterbrief nicht zufällig darum bemüht. das Gesetz entschieden zu verzeitlichen (vgl Gal 3.170. Paulus nahm präzise wahr. dass die Verewigung des Gesetzes nichts anderes zum Ziel hatte, als dessen universale Definitionsmacht zu etablieren. IS So mAv 1.1: ausgeflihne Darstellung bei Bill IV 446-449: vgl Bousset, Religion des Judentums 157. Zur Diskrepanz zwischen der formalen Ueberordnung der Thora und der faktischen Dominanz der Auslegung vgl Schürer, History II 341 f.
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lenwert die Eifahrung im Rahmen des gesamten Auslegungsvorgangs hat. Im Gegensatz etwa zu einem fundamentalistischen Verfahren, wo die Erfahrungswelt durch den Dogmatismus des Bibelwortes verflüchtigt wird, wird sie im pharisäisch-rabbinischen Denken durchaus ernst genommen. Dies zeigt sich schon an dem Auslegungsverfahren, dem sich die schriftgeiehrte Tradition als ganze verdankte: es ging doch darum, dass die Gebote des Gesetzes ausgelegt werden für alle möglichen Erfahrungssituationen (Man hat dieses Verfahren bisweilen mit dem nicht ganz glücklichen Begriff der Kasuistik belegt.). Doch so wichtig die Erfahrung hier genommen wird, so sehr wird sie auf eine einzige Dimension konzentriert: die Erfahrungswelt ist grundsätzlich das Anwendungsgebiet der Thora. Gerade indem die Erfahrung exegetisch ernst genommen wird, verliert sie ihre Eigenständigkeil und wird zum Feld, wo das Gesetz in seiner Auslegung zur Anwendung kommt. Offenbarungsqualität hat allein das Gesetz,16 die Erfahrungswelt hat deshalb keine. Die Erfahrungswelt ist in der Regel der Ort, wo verwirklicht wird, was das Gesetz gebietet. Sie ist im besten Fall Illustration der Offenbarung, was namentlich aus den rabbinischen Gleichnissen hervorgeht: sie sind prinzipiell exegetisch!? in dem Sinne des Wortes, dass sie mit einer Geschichte, die aus der Welt der Erfahrung gegriffen sein mag, einen Satz der Thora illustrieren. 2.2 Das apokalyptische Modell Die apokalyptischen Schriften zeichnen sich aus durch ein Offenbarungsverständnis, das mit dem Stichwort »Himmelsreise« bezeichnet werden kann. In der griechischen Baruchapokalypse zum Beispiel wird der Seher in den fünften Himmel erhoben. Je höher er kommt, desto tiefer wird seine Einsicht in die Geheimnisse der Wahrheit (grBar lh Dies ist nicht exklusiv für die pharisäisch-rabbinische Richtung festzustellen. da es - wohl seit den Tagen. da Esra die Thora dem Volk vorlas und sich dieses feierlich darauf verpnichtete (Neh 8-10) -für die jüdische Religion überhaupt kennzeichnend ist: »The whole piety of the lsraelite was primarily directed towards obeying in all its details. and with zeal and Iove. the God-given Torah« (Schürer. History II 314). Offenbarungscharakter wird allein der Thora zugeschrieben. sofern sie entweder als Ganze vom Himmel herunter kam und Mose übergeben wurde oder mindestens von Gott diktiert und vom göttlichen Geist bestätigt worden war (mit Schürer. aaO 315f). 17 Dazu Lauer{fhoma. Gleichnisse 22-26. »Profanerzählung und Offenbarungstexte helfen zusammen. um das mit der Offenbarung zutiefst Gemeinte besser ins Bewusstsein zu rücken« (aaO 26J. Offensichtlich ist das eiRentliche Referenzobjekt der Illustration doch nicht die Thora. sondern das »mit der Offenbarung zutiefst Gemeinte•.
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2.3.4.1 0.11 ). Diese Offenbarung aus den verschiedenen Himmeln
übergibt der Seher nach seiner Heimkehr seinen »Brüdem«.lll Im äthiopischen Henoch begegnet die ähnliche Vorstellung, dass dem Seher ein himmlisches Gesicht19 zuteil wird (äthHen I ,2; 37, I). Sein Geist steigt in den Himmel auf, wo ihm alle göttlichen Geheimnisse gezeigt werden (71, 1.4 ). Ähnliches gilt auch von der Offenbarungsquelle des vierten Esra. Hier ist es der Engel Uriel, welcher die göttlich autorisierte Offenbarung dem Seher übergibt. Esras Sache ist es, Fragen zu stellen und Einwände zu formulieren, während es an Uriel ist, die rechten Antworten darauf zu geben. Esra ist Anwalt einer enttäuschenden und beklemmenden Welterfahrung, Uriel ist Vertreter der alles klärenden göttlichen Offenbarung. Hier im vierten Esra wird explizit, was für das apokalyptische Modell überhaupt kennzeichnend ist: Der Mensch ist als solcher gar nicht in der Lage, die göttliche Wahrheit zu kennen. »Du kannst nicht, vergänglich in einer vergänglichen Welt, den Weg dessen, der unvergänglich ist, erkennen« (4Esr 4, II ). Dem Offenbarungsempfang durch die Himmelsreise entspricht die Offenbarungslosigkeit des Erdenlebens. Die Lebenserfahrung der Menschen in der Welt offenbart nichts von der göttlichen Wahrheit.20 Die Rolle der Lebenserfahrung ist viel111ehr die des Einspruchs, der Anklage gegen das Göttliche. Wer könnte nicht - mit Esra - verstehen, dass die Welterfahrung gegen Gott spricht? Aber wer wollte- mit Uriel -die Wahrheit des Göttlichen bloss noch kontrafaktisch behaupten'? Offenbarung hat stets zu tun mit dem Willen Gottes. Der Wille Gottes ist nach dem 4Esr niedergelegt im Gesetz. Da das Sein in der Welt keine Offenbarungsqualität hat, kommt es nur als Argument gegen das Gesetz in Frage, gegen die Sinnhaftigkeit des im Gesetz formulierten Willens Gottes. Wer auf Esra, den Seher, hört, ahnt etwas vom Gewicht der Welterfahrung. Dennoch wird- durch den Offenbarungsengel Uriel
1R So grBar 17. Der Seher preist Gott wegen der Ehre, deren er ihn gewürdigt hat. und sagt dann: »Um deswillen sollt auch . i h r. meine Brüder. die ihr einer deranigen Offenbarung teilhaftig geworden seid. Gott verherrlichen ...... Thoma. Christliche Theologie 79f nennt dies den t-sotuischt-n Charakter der Apokalyptik. 19 Zum Ueberwiegen der Visionsberichte in den Apokalypsen vgl Vielhauer. Einleitung 408f. zo Dies zeigt sich auch darin. dass der kommende Aeon immer schroffer dem gegenwänigen gegenübergestellt wird. bis er eigentlich nur noch so viel mit diesem zu tun hat, dass er ihm ein Ende setzt (vgl Vielhauer. Einleitung 412-414).
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-das Gesetz in aller Schärfe gegen die Welterfahrung durchgesetzt. Als Esra beispielsweise den Einwand vorträgt, das Gesetz funktioniere nicht, weil es Israel keinen Zugang zum Leben gebracht habe, da entgegnet Uriel: »Pereant enim multi praesentes, quam neglegatur quae anteposita est Dei lex.«21 Esra will das Gesetz daran messen, ob es zum Leben führe oder nicht. Diesem Argument hält der Offenbarungsengel entgegen, es sei um der Unantastbarkeit des Gesetzes willen in Kauf zu nehmen, dass viele zugrunde gehen. Die Offenbarung lässt sich nicht einmal durch den Untergang der Menschen irritieren. Vom Gesetz aber galt seit je her, dass es Leben bringe, nicht Leben vernichte. Diese Einschätzung des Gesetzes wird auch im vierten Esra nicht angetastet. Das Gesetz bringt Leben, allerdings nicht in diesem jetzigen Äon, sondern erst in der kommenden Welt.22 Die Gegenwart ist dagegen die Zeit, wo der Mensch den Kampf mit sich selbst um die Erfüllung des Gesetzes kämpft. Das Tun des Gesetzes ist der Modus des Warrens auf das erst im kommenden Äon eintreffende Leben.23 Insofern kann man sagen, dass das Tun des Gesetzes nicht mehr die Weise des Lebens, sondern die Weise des Wartens auf das Leben geworden ist. Denn in dieser Welt findet das eigentliche Leben nicht statt; vielmehr sind die Zugänge (zum Leben) und die Wege dieser Welt eng geworden. Sie verlangen den Ausblick auf die Weite der kommenden Welt.2 4 Es waltet eine tiefe Entsprechung zwischen der Natur der Offenbarungsquelle und der Art und Weise, wie das Verhältnis von Leben uild Gesetz bestimmt wird. Die Offenbarungsquelle wird in den Himmel verlegt; der Offenbarungsempfänger Esra ist ein Mensch aus lange zurückliegender Vergangenheit. Also können wir sagen: Die Offenbarung des Göttlichen findet erstens in der Vergangenheit und zweitens durch einen himmlischen Boten, in anderen Apokalypsen gar durch eine Himmelsreise des Sehers, statt. Das Jetzt ist als Offenbarungsquelle gleich in zweifacher Hinsicht ausgeschlossen. Dem entspricht es vollkommen, dass der Mensch seinen Blick wiederum nicht auf das Jetzt zu 2 1 »Mögen also eher viele der jetzt Lebenden zugrunde gehen. als dass das vorgelegte Gesetz Gottes verachtet werde« (4Esr 7.117f].l0). 22 Dazu Harnisch. Verhängnis 146-165. 23 Thoma. Christliche Theologie 76f zählt es zu den Charakteristika apokalyptischer Weltanschauung. dass »die wenigen Getreuen in ihrer Treue zu stärken und zum weiteren Ausharren zu motivieren« seien. 24 4Esr 7.12ff.
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richten hat, wenn es um den Sinn des Gesetzes geht. Im Jetzt ist er keineswegs erkennbar. Denn der Sinn des Gesetzes, nämlich das Leben zu bringen, wird erst in der Zukunft offenbar: »Et quare non accepisti in corde tuo quod futurum, sed quod in praesenti?«25 Hier spricht sich das Zeitverständnis des Apokalyptikers in konzentriener Weise aus. Es ist ein Zeitverständnis, das dem Offenbarungsmodell der Apokalyptik schön entspricht. Die Vollmacht des Sehers ergibt sich aus der himmlischen Herkunft seines Wissens. 2.3 Offenbarung des Willens Gottes in den Antithesen
Werfen wir von hier aus einen Blick auf die Begründung des Willens Gottes in den Antithesen der Bergpredigt. Auch hier halten wir uns an die Leitfrage, welche Gestalt die hier ausgeübte Vollmacht habe. Ausgangspunkt ist die Annahme, die Antithesen seien charakteristisch für die Weise, wie Jesus den Willen Gottes zur Sprache brachte. Jesus begründet seine Neuentdeckung des Willens Gottes im Gesetz mit einem blossen »Ich aber sage euch«. Man könnte nun versucht sein, auch diese Begründung dem Autoritätsmodell einzuordnen. Dann müsste man das Ich Jesu als eine noch höhere Autorität ansehen als die beiden soeben besprochenen: höher als die Autorität des Gesetzes, höher als die eines himmlischen Boten.26 Auf der Ebene des Matthäusevangeliums mag eine solche Annahme durchaus angehen. Denn man könnte ja sagen, hier sei der Gottessohn selbst der Bringer himmlischer Geheimnisse. Seine Auslegung des Willens Gottes sei wahr, weil sie in der Autorität des Gottessohnes geschehe. Nun ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Formel »Ich aber sage euch« schon die Gesetzesauslegung des Menschen Jesus von Nazareth kennzeichnete. Und welche
B »Und warum hast du dir nicht das Künftige zu Herzen genommen. sondern die Gegenwan?« (4Esr 7.16). 26 Soweit ich sehe. ist dies die opinio communis der Ausleger. Stellvenretend seien die folgenden beiden Stimmen genannt: •Dagegen (sc gegen die Toraauslegung der Rabbinen) steht Jesus in Distanz zur Tora Moses. Der Kyrios steht über der Tora; seine Autorität ermöglicht es. Torakritik zu üben. die bis zur Auflösung von Einzelgeboten und bis zur Aufstellung von neuen Weisungen fühn« (Strecker. Bergpredigt 65). Hier wird die Autorität des Kyrios von vomherein über die des Gesetzes gestellt. In ähnlicher Weise uneilt auch Käsemann. Problem 206. der das Ganze auf den Begriff des •Anspruchs« bringt: die »einzige Kategorie«. die einem solchen Anspruch gerecht wird. ist »die des Messias«. In beiden Fällen wird die Autorität gleichsam an der Person Jesu festgemacht: sie wird als Kyrios oder Messias noch höher gestellt als die traditionellen Autoritäten des Judentums.
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zum voraus feststehende Autorität könnte dieses Ich haben, die es über Gesetz und himmlisches Wissen emporhöbe? Im vorliegenden Fall ist meines Erachtens davon abzusehen, die Ansage des Willens Gottes nach dem Autoritätsmodell zu verstehen. Unter dem Autoritätsmodell verstehe ich die oben skizzierte pharisäisch-rabbinische und apokalyptische Gesetzesauslegung. Sie hat ihr Charakteristikum darin, dass sie das Gesagte mit einem Gewicht versieht, das ausser diesem selbst liegt. Das Gesagte hat im einen Falle Gewicht, weil es mit der Autorität des Gesetzes übereinstimmt, es hat im andem Falle Gewicht, weil es eine himmlische Herkunft hat. Demgegenüber rekurriert Jesus nicht auf eine fremde Autorität. Er rekurriert allein auf sein Ich. Und dies bedeutet, dass kein fremdes Gewicht das Gesagte gewichtig macht, sondern dass es nur noch das Gewicht des Gesagten gibt. Damit stimmt gut überein, dass Jesus in keiner Antithese mit der hebräischen Bibel argumentiert. Seine Entdeckung des Willens Gottes im Gesetz steht allein in der Gestalt seiner Aussage selbst da. Deshalb verzichtet er darauf, Stützen aus dem anerkannten Offenbarungsschatz zu benennen. Jesus führt keine fremden Autoritäten ins Feld, weder Stellen aus der heiligen Schrift, noch ehrwürdige theologische Lehrer, noch die himmlische Herkunft seines Wissens. Daraus ist meines Erachtens der Schluss zu ziehen, dass es gar keine fremde Autorität mehr gibt, die diese Aussagen stützen könnte und müsste. Ihre Wahrheit besteht ganz und gar in dem, was sie sagen. Deshalb gibt es nichts, was der Aussage Gewicht verleihen könnte, ausser dem Gewicht, das das Gesagte selbst hat. Und deshalb gibt es nichts, was die Adressaten zum Tun des Willens Gottes bewegen könnte, ausser das Einverständnis, das diese Aussagen beim Adressaten suchen. Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Jesus hier eine eschatologische Ethik vertrete. Die Autorität seiner Lehre sei die Gottesherrschaft, die in seiner Person nahekomme.27 Zwar ist in den Antithesen der Bergpredigt kein direkter Bezug zur Gottesherrschaft festzustellen. An keiner Stelle argumentiert Jesus mit dem kommenden
27 So etwa Strecker. Bergpredigt 74 (zur zweiten Amithese): .. Hier bringt Jesus seine Voll· macht zur Sprache. die über der Tora des Mose steht Sein Anspruch begründet sich aus der kommenden Gonesherrschafl. die in seiner Person nahegekommen ist Das eschatologische Recht. das Jesus aufrichtet. ist also nicht wehhaft orientiert. sondern von der kommenden Got· tesherrschaft bestimmt«
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»Ich aber sage euch«
Gottesreich. Aber selbstverständlich ist es richtig, dass Jesus entscheidend von der Gottesherrschaft her zu verstehen ist. Dennoch ist es ungenau zu sagen, die zukünftige Gottesherrschaft stelle die Begründung für die Autorität seiner jetzigen Lehre dar. Vielmehr hat die Verkündigung Jesu von der Gottesherrschaft darin ihre eigentliche Pointe, dass es ihr um die Ausdehnung der kommenden Basileia in die Gegenwart der Menschen geht. Deshalb ist auch seine Gesetzesauslegung ein Akt der Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft. Die Gottesherrschaft ist also nicht die Antwort auf die Frage, welche Autorität die Gesetzesauslegung Jesu habe, sondern die Basileia ist die Antwort auf die Frage, welche Zeit denn in der Lehre Jesu in die Gegenwart eintrete. Die Gottesherrschaft steht nicht als fremde Autorität hinter dem, was Jesus lehrt, sondern sie erscheint in seiner Auslegung des Willens Gottes. Und die Macht, die die Gottesherrschaft durch diese Lehre im Jetzt gewinnt, ist keine andere als die Macht des Gesagten selbst. Jesus beansprucht mit seiner Lehre einen Raum der Freiheit, in welchem nur noch das Gesagte zählt. Matthäus nennt diesen Raum zu Recht t;ouc:ri.a, den Raum, wo einer die Freiheit findet, sich auf die Evidenz des Gesagten und also auf die Zustimmung der Angeredeten zu stützen. Nun muss allerdings die Frage gestellt werden, wie Jesus dazu komme, einen Raum solcher Freiheit für sich zu beanspruchen. Der Raum der Freiheit ist stets in der Gefahr, zu einem Raum der Willkür zu verkommen. Deshalb kann einen solchen Freiheitsraum nur beanspruchen, wer nicht willkürlich spricht. Dass die Entdeckung des Willens Gottes durch Jesus nicht willkürlich ist. sieht man gerade dort, wo sie auf die Spitze getrieben wird: im Gebot der Feindesliebe (Mt 5,4~8).
Hier wird der in der Schrift gebotenen Nächstenliebe durch ein einfaches »Ich aber sage euch« die Feindesliebe gegenübergestellt. Auch hier beruht das Gewicht dieses Gebotes auf der Evidenz. dass die Liebe - wenn sie zu Ende gedacht wird - sich bis zu den Feinden erstrecken muss. Die Evidenz der Forderung besteht also auch hier in ihr selbst. Doch sie wird in V. 45 noch auf eine andere Weise begründet: die Feindesliebe ist - wenigstens für den, der im Buch der Natur zu lesen weiss2!1 - dem Regen und der Sonne abgeschaut, welche Gott Bösen und Guten. Gerechten und Ungerechten zugutekommen lässt. Man 2K
149.
Zum Problem der Mehrdeutigkeit des Buches der Natur vgl Weder. Rede der Reden 147-
2 Vollmacht und Gesetz
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könnte diese Begründung schöpfungstheologisch nennen. Genauer ist es, von der Begründung der Feindesliebe in der alltäglichen Schöpfungseifahrung, in der Lebenserfahrung des Alltags zu sprechen.29 Offenbar erlaubte die Skepsis gegenüber der traditionellen Schöpfungstheologie keinen Rückgriff mehr auf sie. Es ist im höchsten Masse bemerkenswert, dass auf diese Skepsis weder mit der absoluten Autorität himmlischen Wissens (Apokalyptik) noch mit der Autorität des Gesetzes (Pharisäismus) operiert wird. Operiert wird vielmehr mit der Lebenserfahrung. Damit suchte Jesus genau jene Ebene auf, auf welcher sich das Reden von Gott nahelegen und seine Evidenz erhalten kann. Dieser Rückgang auf die Schöpfungserfahrung im Alltag durchzieht die Bergpredigt wie ein cantus firmus. Daran wird klar, worum es der Entdeckung des Willens Gottes im Tiefsten geht: sie deckt den Anspruch des Gegebenen auf.Jo Der Anspruch, die Feinde zu lieben, ergibt sich aus der Liebe, welche in der Gestalt von Sonne und Regen den Bösen wie den Guten entgegengebracht wird (Mt 5,43-48). Der Anspruch, mit jedem Wort (und nicht bloss mit dem Schwur) die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, ergibt sich daraus, dass Menschen mit Sprache begabt sind (Mt 5,33-37). Der Anspruch, Wohlwollen zu üben, ergibt sich aus der Tatsache, dass noch Zeit zur VerfUgung steht vor dem Ende, wo nur noch die lii1Cil, die Strafgerechtigkeit gelten wird.JI Aus der Lebensbeziehung zwischen Mann und Frau ergibt sich der Anspruch, sie als unauflöslich und einmalig zu betrachten.32 Wichtig an diesem Rückgriff auf das Gegebene ist, dass er nicht Schöpfungstheo~q Darauf legt Setz. Kosmogonie I OR besonderes Gewicht. Er beobachtet richtig. dass ·nicht auf die Schöpfungsgeschichte der Genesis zurückgegriffen wird. sondern auf das. »was vor Augen steht und kritisch nachprüfbar ist ... »Die Güte der Schöpfungsordnung wird daher durch die täglich zu machende Erfahrung begründet: ... Es gibt diese Erfahrung der Güte der Natur. und jeder. der bewusst davon lebt. kann es bezeugen.« Zum Wechsel von der Schöpfungsordnung zur täglichen Schöpfungserfahrung äussert Setz die interessante Vennutung. dass es offenbar starke Skepsis gegenüber der Schöpfungsordnung gibt (solche Skepsis wird nach Betz auch durch die Apokalyptik und die jüdische Apologetik bezeugt). 10 Zu dieser Sicht des Gesetzes vgl Weder. Henneneutik 295-304. 11 ln Mt 5.25f ist aus ursprünglicher Gerichtstenninologie eine Metapher flir den Lebensweg des Menschen geworden (so Strecker. Bergpredigt 71 ). für die Gegebenheit von Lebenszeit also. welche den Begabten für das Wohlwollen in Anspruch nimmt (von einer ·spiritualisierung· zu sprechen. ist nicht sinnvoll. gegen Strecker. ebd). 1 2(n diesem Zusammenhang ist auch auf Mk 10.2-9 hinzuweisen. wo ebenfalls Jesusüberlieferung vorliegt. Gerade diese Stelle ist insofern auffällig. als Jesus gerade nicht auf die Schrift. sondern auf den »Anfang« zurückgreift. auf die Schöpfungswirklichkeit selbst. die für alle Menschen erfahrbar ist.
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»Ich aber sage euch«
logie, sondern die alltägliche Lebenserfahrung zum Nährboden ethisch richtigen Verhaltens macht, die alltägliche Lebenserfahrung als Sonne und Regen, als Gabe der Sprache, als Haben von Zeit. Freilich sind auch diese natürlichen Gegebenheiten alles andere als eindeutig. Sie könnten niemals eine Autorität darstellen, auf die alle Menschen - wie auf eine Iex naturae - verpflichtet werden können. Auch wenn das Buch der Natur aufgeschlagen wird, bleibt es dabei, dass das Wort kein anderes Gewicht hat als das, was es zu sagen hat. Denn aus dem aufgeschlagenen Buch der Natur könnte auch ganz anderes gelesen werden. Das Wort Jesu gewinnt sein eigenes Gewicht dadurch, dass es die Erfahrung der Kreativität Gottes aufdeckt inmitten der Diffusität einander widerstreitender Lebenserfahrungen. Das Wort, das Evidenz herzustellen sucht im Gebotenen, muss zuerst Erschliessungsarbeit leisten. Die Kreativität, die der Nährboden des guten Tuns ist, liegt nicht offen zutage. Sie ist- weil sie das Geheimnis des Alltäglichen ist - allererst zu entdecken.
3 Folgerungen Zum Schluss soll versucht werden, aus den gemachten Überlegungen einige Folgerungen zu ziehen. 3.1 Eingangs wurde die Frage gestellt, welches Lebensphänomen der Wille Gottes sei. Sie könnte nun beantwortet werden: der Wille Gottes ist ein (theologischer) Begriff für den Anspruch, der den zum Leben gegebenen Dingen eigen ist. Diesem Anspruch entsprechen heisst, das Gegebene in Empfang nehmen. Es ist zu vermuten, dass das gegebene Leben verwirkt wird, wenn sein Anspruch nicht wahrgenommen wird. 3.2 Die Autorität des Gebotenen ist keine andere als die Autorität des Gegebenen. Dies bedeutet einerseits, dass es keine zwingende Autorität hat. Denn das Gegebene hat keine zwingende Macht über die Begabten. Da das Gebotene also nicht in der Gestalt der Forderung oder des Apodiktischen da ist, sondern in der Gestalt der Gabe, kann keine Macht der Welt es ausschliessen, dass die Gabe (und insofern auch ihr Anspruch) abgewiesen wird. Der Anspruch des Gegebenen ist demzufolge ein gleichsam »schwacher« Anspruch. Wenn das Gebotene in der Gestalt der Gaben da ist, die ich zum Leben brauche, so bedeutet dies andererseits, dass jeder Versuch aussichtslos ist, sich das einmal er-
3 Folgerungen
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kannte Gebotene vom Leibe zu halten. Denn die Frage nach einem Raum. wo mich der Anspruch des Gegebenen nicht treffen würde, ist sinnlos, da sich mein ganzer Lebensraum innerhalb des Gegebenen befindet. Also ist die Frage, was angesichts des Willens Gottes noch erlaubt sei, nicht mehr sinnvoll. Diese Frage fragt ja nicht nach dem Ethischen, sondern nach dessen Grenzen, sie fragt nicht nach dem Raum der Liebe, sondern nach der Grenze, wo die Liebe getrost enden könne. Sie ist durch die Frage ersetzt, was die Lebenserfahrung gebietet. 3.3 Im Blick auf das Gebotene oder den Willen Gottes hat sich, namentlich in der Neuzeit. immer wieder die Alternative von Heteronomie und Autonomie aufgedrängt. Unsere Überlegungen könnten darauf hinweisen, dass diese Alternative falsch ist. Legt mich die Gesetzesauslegung Jesu, indem sie den Anspruch des Gegebenen aufdeckt, auf die Heteronomie fest, oder spricht sie mich gerade auf autonomes Verhalten an? Was kann eine autonome ethische Entscheidung anderes wollen, als dem Eupo<; voJ.Loc; des Gegebenen zu entsprechen? Und wodurch könnte eine in diesem Sinne heteronome ethische Entscheidung begründet sein, wenn nicht durch den voj.loc;. der durch die Arbeit Jesu jedem Menschen selbst (aüto~) ins Herz gelegt ist? 3.4 Schliesslich möchte ich - mehr in Klammem - die Frage nach der erkenntnistheoretischen Relevanz der vorgetragenen Überlegungen zum »Ich aber sage euch« der Bergpredigt stellen. Das Lebensphänomen des Willens Gottes, wie es durch Jesus als Anspruch des Gegebenen aufgedeckt worden ist, zeigt ja unverkennbar, dass alles Gegebene auch hinsichtlich seines Anspruchs (seiner f:vtoA.T!) wahrgenommen werden will. Inwiefern geschieht dies in unseren (alltagspraktischen und wissenschaftlichen) Konzepten von Wahrnehmung? Oder inwiefern ist Wahrnehmung in der Neuzeit eingespannt in die eine Frage: was kann ich mit den Dingen anfangen? Welche meiner Ansprüche können sie erfüllen? Solche erkenntnistheoretischen Überlegungen in extenso zu verhandeln. würde dem Anspruch, dass die gegebene Zeit begrenzt ist, zuwiderlaufen: deshalb sollen sie hier abgebrochen werden.
Leiblichkeit Neutestamentliche Anmerkungen zu einem aktuellen Stichwort
I Ein Wort zum Einstieg Niemand wird behaupten können, eine Besinnung auf das Problem der Leiblichkeit befinde sich abseits des gegenwärtigen Allgemeininteresses. Die Leiblichkeit ist zu einem Hauptthema ganz unterschiedlicher Gruppen aus Wissenschaft und Kultur, aus Polititk und Gegenpolitik geworden. Eine Besinnung zu diesem Thema befindet sich deshalb in der glücklichen Lage, gleichsam am Puls der Zeit zu sein. Um ihre Aktualität braucht sie sich nicht zu sorgen. Diesem unbestreibaren Vorteil steht indes ein Nachteil gegenüber. Nachteilig ist, dass eine in so enger Tuchfühlung mit der Gegenwart befindliche Besinnung wesentlich in einer Gefahr steht: sie steht in der Gefahr, die Distanz zum Geist der Zeit zu verlieren. Im Bewusstsein dieser Gefahr gilt es, die grössten Anstrengungen zu unternehmen, um der Versuchung einer falschen Zeitgemässheit 1 zu widerstehen. Im falschen Sinne zeitgernäss ist eine solche Besinnung, wenn sie den Geist der Zeit in sich eindringen lässt, um ihn als ihren eigenen Geist der Gegenwart wieder zurückzugeben. Demgegenüber müsste Zeitgemässheit doch heissen, einen intensiven Bezug auf das Zeitgeschehen und das zeitgenössische Denken und Empfinden haben, ohne dadurch die Distanz aufzugeben. Zeitgemäss ist eine theologische Besinnung auf die Leiblichkeit, wenn das Fremde beispielsweise der neutestamentlichen Denkweise in die Nähe des gegenwärtigen Vertrauten gebracht wird, ohne seine Fremdheit zu verlieren. Zeitgernäss ist wohl am ehesten die Ablenkung einer Zeit von sich selbst, und zwar in ihrem eigenen Interesse. Einen intensiven Be-
1 Für die Theologie war es seit jeher von Nachteil. wenn sie sich in dem Sinne der Zeitgemässheil befleissigte. dass sie den Geist der Zeit als auch (!) ihren eigenen Geist ausgab. Will die Rede von Gott zeitgernäss sein, so muss sie gerade auch die jeweilige Zeit ablenken von ihrer Befangenheil in sich selbst. Dies versucht sie, indem sie den fremden Geist Gottes auf zeitgernässe Weise vermittelt. Zum Problem des Zeitgernässen vgl Ebeling. Bedeutung II f.
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Leiblichkeit
zug auf den gegenwärtigen Geist der Zeit zu haben, ohne ihn einfach versehen mit einem Heiligenschein widerzuspiegeln, ist gerade bei diesem Thema eine besonders schwierige Aufgabe. Sie kann nicht in einem solchen Referat gelöst werden. Sie muss mit vereinten Kräften angegangen werden. Im Verein dieser Kräfte geschieht auch dieser Versuch, dem Geist der Zeit zu einer gewissen Distanzierung von sich selbst zu verhelfen. Die oben genannte Gefahr lauert schon bei der blossen Sprachregelung. Auch wenn das Wort »Leiblichkeit« in den vorliegenden Wörterbüchern nicht eindeutig definiert ist, ist der herrschende Sprachgebrauch einigermassen einheitlich: unter Leiblichkeit versteht man gewöhnlich jene Aspekte des Menschen, die nicht mit dem Begriff der Geistigkeit abgedeckt sind. Es sind die Tätigkeiten und Wahrnehmungen des Leibes, welche konkret die Leiblichkeit des Menschen konstituieren. Nun ist der neutestamentliche Ausdruck der Leiblichkeit (es gibt ihn in dieser Abstraktbildung bekanntlich nicht) mit einer ganz anderen Bedeutung versehen. Zweifellos wäre es unklug, wollte man deshalb vom Wort Leiblichkeit keinen Gebrauch mehr machen im Zusammenhang mit dem Neuen Testament. Unklug deshalb, weil man das Wort dann dem Geist der Zeit überliesse und sich der Möglichkeit begäbe, über die Kritik des Missbrauchs eine Selbstdistanzierung eben jenes Geistes herbeizuführen. Um jedoch die Differenz in der Anschauung von Leiblichkeit zum Ausdruck zu bringen, schlage ich vor, im Zusammenhang des Neuen Testaments sowohl von Leiblichkeit als auch von Körperlichkeit zu sprechen. Neutestamentlich schliesst die Leiblichkeit die Körperlichkeit ein, unser Sprachgebrauch dagegen scheint Leiblichkeit und Körperlichkeit zu identifizieren. 2 Schliesslich ist auf eine Problematik hinzuweisen, die ebenfalls mit der grossen Aktualität des Themas zu tun hat. Aus dem Versuch, vergangene unsachgemässe Verslehensweisen von Körperlichkeit auszuschalten, kann leicht das Verhängnis werden, zu jenen alten Verslehensweisen komradependent zu sein. Je mehr man sich absetzt beispielsweise von der trichotomischen Anthropologie des Hellenismus-', 2 Darin ist unsere Vorstellung verwandt mit derjenigen der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (der Septuaginta). »GGipa« dient hier als Übersetzung von »basar• (Fleisch). vgl dazu Krieg. Leiblichkeit 10. Daraus ergibt sich. »dass C11iJM1 fast durchweg Kiirptrli<·hkeit meint. und zwar offenbar immer don. wo der Mensch sich als ganzen versteht« (Schweizer. An. GliiiD 1045.290. JZur hellenistischen, trichotomischen Anthropologie vgl Schweizer. An .. Drilpa 393.3ff.
I Ein Won zum Einstieg
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je mehr man sich absetzt beispielsweise von der spätantiken Abwertung der Leiblichkeit (das ist: der Körperlichkeit) 4 , desto wahrscheinlicher wird es, dass die neue, sachgemässe Verslehensweise gleichwo~l die Züge der alten trägt. Auf diese Weise kann sie von der alten negativ abhängig sein. Zwei oder drei Beispiele mögen dies erläutern: wenn heute auf einer Turnhalle geschrieben steht »mens sana in corpore sano« so ist dies zumindest missverständlich. Auf einer Turnhalle stehend suggeriert dieser Satz, es stelle sich ein gesunder Geist von selbst ein. wenn der Mensch das Notwendige für seinen gesunden Körper tue. Das ist insofern kontradependent von der alten Abwertung des Leiblichen, als ein wesentlicher Aspekt verdrängt worden ist: selbst die römischen Heiden wussten ja bekanntlich, dass die Gesundheit des Geistes in einem gesunden Körper Gegenstand des Gebets (und mithin einer geradezu exemplarischen mentalen Tätigkeit) ist. Der ungekürzte Spruch lautet denn auch: orandum est, ut sit mens sana in corpore sano-~. Die Verstümmelung eben dieses Spruchs auf einer neuzeitlichen Turnhalle lässt allerdings die Vermutung der Kontradependenz aufkommen. Besonders groteske Züge nimmt diese Kontradependenz noch in einem anderen Gebiet an. Der Inbegriff der Kultivierung des Leibes ist für weite Teile unserer Gesellschaft die sportliche Tätigkeit des Menschen. Genauer: die sportliche Spitzenleistung einzelner Sportler sind die Symbole für die Kultivierung der Leiblichkeit. Die grotesken Züge erkennt man, wenn man in Betracht zieht, wie jene Kultivierung der Leiblichkeit für die Menschen aussieht: sie tritt in Erscheinung als eine zu Hause vor dem Bildschirm gefeierte Sportlichkeit von Spitzenleuten; wobei gelegentliche Spitzenleistungen Anlass für das Öffnen einer neuen Flasche Bier sind. Die Kontradependenz der gegenwärtigen Feier der Leiblichkeit von der alten Verketzerung der Körperlichkeit zeigt sich schliesslich auch darin, dass unter Leiblichkeit eben dennoch nichts anderes und nichts mehr als Körperlichkeit verstanden wird. Die Tatsache, dass Leiblichkeit gegenwärtig nicht mehr sein kann als Körperlichkeit. zeigt doch ~In der Spätantike gilt weithin. dass der Leib die Beschränkung für die Seele oder das eigentliche Ich des Menschen darstellt. »Im irdischen Leben ist man an den Leib gefesselt« (Schweizer. An.~ 1035.29: im Blick auf die jüngere Stoa). Mit der Leiblichkeit aber ist nichts anderes gemeint als die körperliche. konkrete. neischliche Daseinsweise des Menschen. solange er im Bereich der irdischen Beschränkungen zu leben hat. 5Juvenal. Satiren 10.356 133. Will man Büchmanns »Genügelten Wonen« Glauben schenken. so ist erst die verstümmelte Form des Iuvenal-Zitats geflügelt worden (97).
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Leiblichkeit
deutlich, wie sehr die als überwunden gewähnte Abwertung des Leiblichen in der Reduktion auf die Körperlichkeit ihre neuerlichen Triumphe feiert. Man mag sich fragen, wie eigentlich Paulus mit dem Problem der dichotomischen Abwertung des Körperlichen umgegangen ist. Die Antwort ist ganz einfach: er ist auf die Abwertung der Körperlichkeit gar nicht eingegangen; er hat sich mit dem dichotomischen oder trichotomischen Menschenbild gar nicht auseinandergesetzt. 6 Er liess es links liegen, um den Begriff des
2 Neutestamentliche Anmerkungen zum Thema Leiblichkeit Schon längst ist erkannt worden, dass das Wort
'Dies erkennt man an den Bedeutungsnuancen von CJIIitMa. welche bei Paulus schlicht fehlen (dazu Schweizer. An. CJ11itMa 1057.5-17). 1 Dies ergibt sich schon aus dem quantitativen Sachverhalt: den rund 50 ausserpaulinischen Belegstellen im Neuen Testament stehen rund 80 paulinische und deuteropaulinische (in Eph und Kol) Stellen gegenüber. 1 Zu denken ist da etwa an die höchst bedeutungsvolle Verwendung des Wortes Leib in der Abendmahlsüberlieferung (Mk 14.22 par). Zu denken ist aber auch an solche Stellen. wo der Leib als das eigentliche Ich verstanden wird (Mt 5.29f: 6.22f: Jak 3.2f: zum Verständnis dieser Stellen vgl Schweizer. An.-..,... 1055.5ff).
2 Neutestamentliche Anmerkungen zum Thema Leiblichkeit
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dass darüber theoretisch reflektiert wäre. Es ist gerade kennzeichnend für Jesus, dass an die Stelle der theoretischen Reflexion die Erschaffung leibhaftigen Menschseins tritt, wie sie an Tat und Wort Jesu zu beobachten ist. Zu nennen sind zunächst die vielen Wundergeschichten, die Jesus aussergewöhnliche Taten zugunsten des (vordergründig gesehen) körperlichen Wohls zuschreiben. Von hervorragender Bedeutung ist im Blick auf unser Thema die Heilung des Gelähmten in Mk 2,1-12. Diese Geschichte, deren historische Detailfragen jetzt auf sich beruhen mögen, zeigt ganz deutlich, dass in der Begegnung mit Jesus Sündenvergebung und Heilung zwei Seiten derselben Sache sind. Geistige Integrität und körperliche Gesundheit, Heil und Heilung, gehören unabdingbar zusammen, wenn es um die Leibhaftigkeil des Menschseins geht. Gewiss bedeutet es Leibfeindlichkeit, wenn einer die Vergebung der Sünden verkündigt und zugleich die Gelähmten auf ihren Bahren liegen lässt. Aber es bedeutet nicht weniger Leibfeindlichkeit, wenn einer mit grösstem technologischem Aufwand Gelähmte zum Gehen bringt und keinen Sinn hat für die Not ihres Geistes und ihrer Seele. Leibfeindlichkeit hat nicht nur die Gestalt der Abwertung des Körpers, sie hat ebenso die Gestalt der Vergötterung des Körpers. Denn Leibfeindlichkeit besteht genau darin, dass einzelne Aspekte des Menschseins ausgeklammert werden, dass also der Mensch auf einen Sektor festgelegt wird, gleichgültig ob auf seinen Körper, seinen Geist, seine Leistung oder sein Herz. Der für Jesus typische Umgang mit der Leibhaftigkeil des Menschen dürfte seinen Ursprung in dem Gottesverständnis Jesu haben. Sündenvergebung, so könnte man sagen, ist ein Ereignis, in welchem Gott gegenwärtig wird. Und eben dieses Ereignis hat Jesus unlösbar verbunden mit der Materialität körperlicher Heilung. Sündenvergebung ist insofern konkret, als Gott sich in ihr verkörpert. Sie geschieht nicht nur in der Immaterialität des Zuspruchs, wiewohl sie nie ohne diesen eindeutig sein kann, sondern sie geschieht auch in der krassen Materialität einer solchen Heilung oder etwa der Festmähler, die Jesus mit verschiedensten Gestalten von Heillosen hatte. Die Gemeinschaft des Essens verkörperte die wohltuende Gottesgegenwart, zugleich wurde an der Materialität des Essens die Dimension entdeckt, dass es geistige Verbundenheit stiftet. In dieser Interdependenz von Geist und Fleisch erkennen
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Leiblichkeil
wir einen Vorschein dessen, was später m der Inkarnationslehre zu Ende gedacht wurde. Dass in der Erscheinung Jesu Leibhaftigkeil als Ganzheit erschaffen wird, kann besonders schön an den Gleichnissen, der für ihn überhaupt charakteristischen Sprachform, beobachtet werden. Denn gerade sie sprechen den Menschen auf vielfältige Weise an. Gewiss sticht zuerst der intellektuelle Aspekt in die Augen: die Gleichnisse geben zu denken. Sie sprechen allerdings nicht minder die Leidenschaft des Menschen an. Leidenschaftlich soll er sich freuen mit dem, der einen kostbaren Schatz findet. Leidenschaftlich mag er protestieren mit denen, die als Erste gegenüber den Letzten zu kurz gekommen sind. Gerade die Gleichnisse sind auf leidenschaftliches Mitgehen aus. Indes, sie sprechen nicht weniger die Phantasie, die Einbildungskraft des Menschen an. Sie inszenieren vor seinem inneren Auge ein Geschehen so plastisch, dass er sich Gott vorstellen kann. Man könnte sagen: sie bilden Gott dem Menschen ein, und gerade das erweist sie wiederum als inkamatorische Sprachform. Schliesslich sprechen sie auch den Willen des Menschen an: das Gleichnis setzt alles daran, damit der Mensch das Verlorene suchen will, damit er die Töchter und Söhne des Vaters als seine Schwestern und Brüder behandeln will. Aus der Vielfalt des Ansprechens ergibt sich: der so angesprochene Mensch wird im Akt des Angesprochenwerdens zur Ganzheit. Er wird auf seine Leibhaftigkeil angesprochen, indem alle seine Kräfte vereinigt werden. Er wird zu leidenschaftlichem Denken angeregt und zu phantasievollem Wollen ermächtigt werden. Das bedeutet: die Gleichnisse lassen den Menschen in seiner Leibhaftigkeil erstehen. Auch so sind sie die Verkörperung Gottes: denn wo Gott leibhaftig zur Welt kommt, wird das Menschsein leibhaftig. Von hier aus ergibt sich eine kritische Sonde, die es erlaubt, Leibfeindlichkeit zu entdecken, wo man sie nicht vermutet hätte, weil man sie immer mit Körperfeindlicheil identifizierte. Gewiss ist es leibfeindlich, den Menschen beispielsweise intellektualistisch zu isolieren. Es ist aber ebenso leibfeindlich, ihn auf sein Herz festzulegen. Denn das Herz bedarf eines kühlen Partners, und die kühle Sachlichkeit kommt ohne die Leidenschaft des Herzens dem Menschlichen nicht nahe. Im Folgenden wird der Hauptakzent auf einige besonders interessante Momente der paulinischen Reflexion über die Leiblichkeit gesetzt. Auf eine begriffliche Gesamterfassung des Themas soll freilich
2 Neutestamentliche Anmerkungen zum Thema Leiblichkeit
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verzichtet werden. Dies ist umso leichter möglich, als die anthropologischen und theologischen Voraussetzungen des Neuen Testaments weitgehend im Alten Testament gegeben sind. 9 Statt einer Wiederholung des bereits in der voranstehenden Arbeit Gesagten gilt unsere Aufmerksamkeit einigen Einzelaussagen, an welchen das Charakteristische der neutestamentlichen Vorstellung von Leiblichkeit zum Ausdruck kommt. Diese Einzelaussagen stammen aus den Bereichen der Christologie, der Anthropologie und der Ekklesiologie. 2.1 Christologie: das Won von der Leibhaftigkeil Gottes Ganz unverhohlen wird vom Neuen Testament der Leib Jesu als On jenes Geschehens verstanden, das zur Rettung der ganzen Welt geschehen ist. So spricht etwa der Hebräerbrief von dem Leib Jesu, der um der Rettung der Menschen willen dahingegeben ist (Hebr 10,5.10). 10 Gemeint ist damit sicher zuerst der Körper Jesu. Auffallend daran ist zunächst, dass gerade durch den Körper der entscheidende Dienst geschieht; eine Aussage, die uns vielleicht geläufig oder zumindest begreiflich sein mag, die aber im Rahmen der damaligen Einstellung zur Minderwenigkeit des Körpers einigermassen erstaunlich klingt. Es wäre viel eher zu erwanen, dass Jesus durch die Überwindung seiner Leiblichkeit das Heil der Welt schafft. Halten wir also fest: der Leib Jesu ist der On, wo das Entscheidende zugunsten der Welt geschehen ist. Allerdings wäre es verfehlt, wollte man das omJ.La Jesu auf sein körperliches Sein reduzieren. Gewiss meint omJ.La auch den Körper Jesu, aber es umfasst gleichzeitig ungleich viel mehr. Dies zeigen besonders schön die Abendmahlstexte. So heisst es beispielsweise in Mk 14,22 im Deutewon zum Brot: Nehmt, dies ist mein Leib! Selbstverständlich wäre es theoretisch möglich, auch an dieser Stelle den Körper Jesu zu verstehen, sofern man den Begriff omJ.La isolien von seinem Zusammenhang betrachtet. Tut man dies jedoch nicht, so zeigt sich eine ansehnliche Ausweitung des Sinnhorizontes (eine gewisse Ähnlichkeit mit 'Die Arbeit von M. Krieg. welche in mancher Hinsicht den neutestamentlichen Teil vorbereitet. ist in dieser Sache grundsätzlich orientien. Da die neutestamentliche Anthropologie weitgehend mit der aluestamentlichen übereinstimmt. kann hier auf grundsätzliche Ausführungen verzichtet werden. Sie könnten ohnehin nur wiederholen. was M. Krieg schon dargelegt hat (vgl Krieg. Leiblichkeit !Off). •• Die Stelle handelt deutlich von der Menschwerdung Christi. vgl zB Windisch. Hebräerbrief 88f und Michel. Hebräer 336.
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Leiblichkeit
alttestamentlichen Aussagen ist unverkennbar, obwohl om~ kein hebräisches Äquivalent hat) 11 : mit dem Leib ist hier nicht bloss der Körper Jesu, also nicht bloss seine fleischliche Erscheinung, gemeint, sondern vielmehr seine ganze Person. Im~ kann hier beinahe im Sinn des Personalpronomens »Ich« stehen, sofern man darunter nicht wieder eine von der körperlichen Erscheinung losgelöste Substanz versteht. 12 Das »Ich« im neutestamentlichen Denken ist ein Ausdruck für das, was die betreffende Person darstellt, was sie getan und erlitten hat. Das »Ich« ist nur als seine Geschichte gegenwärtig (und also keine von dieser leiblichen Geschichte abstrahierbare Substanz). Insofern meint das <XÖJ.LCX Jesu die Ganzheit seiner Person, das was er getan und erlitten hat. Im Ausdruck des Leibes verdichtet sich somit die ganze Erscheinung Jesu, wie sie in ihrer kurzen Geschichte zum Vorschein gekommen ist. Der »Leib<< meint dabei gleichermassen sein Essen und Trinken mit den verschiedensten Menschen wie seine Gleichnisrede zu Suchenden und Verlorenen. Unter der Leiblichkeit Jesu müssen seine Gebärden, mit welchen er dem Tod auf vielerlei Weise Einhalt gebot, gleichermassen begriffen werden wie sein ansprechendes Wort, mit welchem er die tödliche Mauer des Schweigens zwischen Gott und Mensch ebenso brach wie die zwischen Mensch und Mensch. Unter der Leiblichkeit Jesu ist gleichermassen die Leidenschaftlichkeit seines Streits für die Freiheit des Menschen zu begreifen wie seine Bereitschaft, die Ungerechtigkeit an seinem eigenen Körper zu Ende zu bringen. Die Leidenschaftlichkeit seines Denkens, womit er die Einbildungskraft des Menschen berührt, ist ebenso sein »Leib« wie die Leidenschaftlichkeit seines Zorns, mit welcher er den Todkranken anrührt. Wir halten fest: Der Leib Christi, wie er im Abendmahl gedeutet ist, ist seine Person, ist er selbst. Es gehört zu den fundamentalen Aussagen des Neuen Testaments, dass es in dem Leib Jesu mehr sieht als den Leib Jesu. In der Person Jesu sieht das Neue Testament Gott. n Der Leib Jesu ist Gott in Person.
'' Dazu Schweizer. Leiblichkeit 174f.
GliJ!a, sondern er ist ein Clllitla« (Buhmann. Theologie 195). u Zeugnis davon legen die verschiedenen Hoheitstitel ab. welche die Gemeinde Jesus beigelegt hat. Jeder von ihnen - man denke an Christus, Gottessohn. Menschensohn - bringt die eschatologische Gottesgegenwart zum Ausdruck. Beispielhaft ist die Geschichte Mk 2.1-12. wo in dem Zuspruch der Sündenvergebung durch Jesus (V. 5) der Vollzug der Sündenvergeu Neutestamentlich gilt: »der Mensch hat nicht ein
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Weil die Leiblichkeit Jesu zu dem Merkmal der Gottesgegenwart schlechthin geworden ist, sieht sich das Neue Testament veranlasst, von der Fleischwerdung des einen göttlichen Wortes zu reden (Joh 1,14). 14 So sehr wurde die Gegenwart des göttlichen Wortes in dem Leib Jesu wahrgenommen, dass die Gemeinde jede Differenz zwischen dem Leib Jesu und dem Gotteswort aufzugeben bereit war. Der Leib Jesu ist das reine Wort Gottes. Von der andem Seite her gesehen ergibt sich daraus: das reine Gotteswort hat einen Leib erhalten. Beachtet man dazu noch die neutestamentlichen Hoheitstitel wie Gottessohn oder Messias, die ja nichts anderes sagen wollen, als dass dieser Jesus Gott in Person gewesen sei, dann wird man noch einen Schritt weiter gehen müssen: man wird dann im Anschluss an das Neue Testament geradezu von der Leiblichkeit Gottes, von Gottes Leibhaftigkeil reden müssen, wie sie im Leibe Jesu zum Vorschein gekommen ist. Die Folgen eines solchen Schrittes sind viel zu bedeutsam, als dass sie in ein paar Sätze gefasst werden könnten. Wenn der christliche Glaube ernsthaft mit der Leibhaftigkeil Gottes rechnen will, wird er diese Leibhaftigkeil im Blick auf das konkrete Dasein Jesu verstehen müssen. Und das heisst im Blick auf ein vergängliches, ein ohnmächtiges, ein begrenztes Dasein. Gernäss der traditionellen Gottesvorstellung müssten diese Eigenschaften der Vergänglichkeit, der Ohnmacht und der Begrenztheit es von vomherein verbieten, sie mit Gott, dem allmächtigen, unendlichen, unwandelbaren in Zusammenhang zu bringen. 1s Wenn sich der Glaube allerdings auf das Wagnis einlässt, in dieser skandalösen Weise von der Leibhaftigkeil Gottes zu sprechen, dann wird er um die Konkretheil seines Redens nicht länger besorgt sein müssen. Er wird konkret sagen können, was das Wort Gottes sagt: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Das Wirken Gottes in der Welt hat eine konkrete Gestalt erhalten: sie ist gegenwärtig in der Gestalt des ohnmächtigen Christus, der das menschliche Nein zu Gott aushielt, der darauf verzieh-
bung durch den Menschensohn gesehen wird (V. 10). Eben dies ist die Gotteslästerung. deren die Kritiker Jesus bezichtigen. •• Zum qualitativen Sprung. welchen diese Vorstellung in sich schliesst. vgl Haenchen. Johannesevangelium 128-130. Die Aussage von der Fl~ischwudunx des göttlichen Wones geschieht präzise im Gegenzug gegen die spiritualistische Verflüchtigung der leibhaftigen Gegenwan Gottes. Das Cllllitla des Christus schliesst selbstverständlich seine Glil( ein. u Wenn aber Gott sich so auf die Vergänglichkeit einlässt. ruft dies nicht nur einer Revision der traditionellen Gottesvorstellung. sondern auch einer Neueinschätzung des Phänomens der Vergänglichkeit (dazu vgl Jüngel. Geheimnis 248-256).
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tete, ihm ein grösseres göttliches Nein entgegenzuschleudem, und stattdessen die machtlose Bitte aussprach, der Mensch möge sich doch von seinem Nein abbringen lassen. Der Bezug Gottes auf den Leib des Menschen Jesus begründet in einer Weise die Leibhaftigkeil Gottes, die dem christlichen Wort von Gott eine vollendete Konkretheil gibt. Angesichts dieser Leibhaftigkeil Gottes ist es fast bestürzend, wenn in unserem Sprachgebrauch das Wort »der Leibhaftige« alles andere meint als den leibhaftigen Gott. Fragt man sich endlich, worin denn die Leiblichkeit Jesu ihr besonderes Merkmal habe, so stösst man unwillkürlich auf einen weiteren Aspekt des Begriffes om~. Wofür steht die Person Jesu? Die Person Jesu steht für die Überwindung der Schranken, welche das Gesetz zwischen Menschen und Menschen aufgerichtet hatte. Die Person Jesu steht für die Überwindung des Schweigens, welches in seiner Zeit zur schmerzlichen Erfahrung Gottes geworden war. Die Person Jesu steht für die Überwindung der Verhältnislosigkeit, welche Recht und Sitte zwischen den verschiedenen Gruppen des Volkes herbeigeführt hatten. Wenn Jesus den Unberührbaren berührt oder den Hartherzigen zu erweichen sucht, dann steht beides in dem Interesse, Verhältnisse zu stiften, wo sie gestört oder überhaupt abwesend waren. Der Leib Jesu steht demnach für die Überwindung der Verhältnislosigkeit; für die Stiftung einer Relation des Menschen zu sich selbst, zu den Menschen und zu Gott. Wer im Anschluss an die Leiblichkeit Jesu von der Leibhaftigkeil Gottes spricht, wird Gott als jenes Geschehen verstehen lernen, in welchem wahrhaftige und deshalb dauerhafte Verhältnisse geschaffen werden. In der Berührung des Unberührbaren geschieht dasselbe wie in dem bittenden Wort, das Abgründe zu überwinden versucht. Es geschieht der leibhaftige Kampf Gottes gegen den Tod 11• und zugunsten des Lebens. Dieser Kampf spielte sich im Leben und als das Leben Jesu ab; und derselbe Kampf Gottes gegen den Tod spielte sich erst recht im Tode Jesu ab. Die Frage ist jetzt noch, wie denn ein Verhältnis zu jenem Geschehen möglich sei. Die Antwort muss lauten: ein Verhältnis ist jedenfalls nicht so möglich, dass man sich in diesen Kampf Gottes gegen den Tod einmischt, dass man ihn an der Stelle Gottes vollzieht; es ist auch nicht •• Der Tod ist in diesem Zusammenhang als Verhältnislosigkeit zu begreifen: »der Tod ist das Ereignis der die Lebensverhältnisse total abbrechenden Verhältnislosi~:keit (Jüngel. Tod 145).
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so möglich, dass man durch Selbstüberwindung seiner unvollkommenen Leiblichkeit Verhältnisse aus dem Nichts erschafft. Ein Verhältnis zu jenem Kampf Gottes gegen den Tod ist demgegenüber so möglich, dass man sich von jenem Kampf erzählen lässt. Ein Verhältnis gewinnt, wer sich dem Wort von jenem entscheidenden Geschehen anvertrauen will. Gewiss, dadurch wird es der Beherrschbarkeil entzogen, aber dafür zieht es den Angesprochenen in ein Gottesverhältnis, das nicht auf seinen Werken beruht. Es zieht ihn in ein Gottesverhältnis, das nicht auf der Unzuverlässigkeit der eigenen Werke, sondern auf der Gewissheit des Wortes Gottes beruht. Es zieht den Angesprochenen in ein Gottesverhältnis, das im Zuhören zustande kommt. Könnte man nicht sagen, dass in einem solchen Verhältnis eben die Leiblichkeit des Menschen konstituiert wird, seine Personhaftigkeit entsteht? Und müsste man dann nicht sagen, die Leiblichkeit des Menschen entstehe im Hören auf jenes Wort von dem leibhaftigen Gott? Doch dies bringt uns bereits zum nächsten Schritt: zum anthropologischen Gesichtspunkt der Leiblichkeit. 2.2 Anthropologie: die Leiblichkeit des Menschenangesichts der Leibhaftigkeil Gottes Bei Paulus findet sich die bemerkenswerte Aussage, dass dereinst eine d.1t0Ä.~ 'toi> oolJ.UX'toc;, eine Erlösung des Leibes, stattfinden werde (Röm 8,23). Im gleichen Vers wird diese Erlösung des Leibes erklärt mit der Einsetzung in die Sohnschaft Es handelt sich hierbei also um eine Aussage, welche auf das endzeitliche und damit auf das endgültige Geschehen Bezug nimmt. Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass Paulus nicht daran denken will, die Erlösung als Erlösung vom Leibe zu begreifen (was zeitgenössisch zur Hand gewesen wäre) 11 • Wenn er von der Erlösung des Leibes spricht, dann meint er, dass die Existenz des Erlösten ebenfalls die Signatur der Leiblichkeit habe. 18 Daraus ergibt sich unter anderem die folgende Überlegung: 17 Nicht zufallig übersetzt Lietzmann (falsch) mit »die Erlösung von unserem Leibe« (Zitat bei Schlier. Römerbrief 266). Die (apokalyptische) Erwanung des Paulus bezieht sich auf die Erlösung des Leibes von seiner Versuchliehkeil und Todesverfallenheit. 11 Diese Erlösung ist streng eschatologisch gedacht (gegen von der Osten-Sacken. Römer 8 269). Paulus denkt an die »leibhaftige Realisierung• der endzeitliehen Setzung Gottes. die jetzt im Won gegenwänig ist (mit Wilckens, Römer 157f). Der Auferstehungsleib unterscheidet sich nicht hinsichtlich der Leiblichkeit, sondern vielmehr hinsichtlich der Aeischlichkeit (»Körperlichkeit" l von dem jetzigen. sterblichen Leibe (vgl Buhmann. Theologie J93f).
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Leiblichkeit
Die Rede von der Erlösung des Leibes verhindert es, die jetzige Leiblichkeit des Menschen zu überspringen. Sie versöhnt den Menschen mit seiner Leiblichkeit. Worin besteht seine Leiblichkeit? Sie befindet sich unter den Bedingungen des Jetzt und ist demzufolge eine begrenzte, eine leidende, eine Leiblichkeit, die der Erlösung durchaus noch wartet. Man könnte auch sagen: sie ist eine sterbliche Leiblichkeit. Die Zeit des personalen Seins, welches der Mensch hat, ist begrenzt. Die Versöhnung des Menschen mit seiner sterblichen Leiblichkeit besteht nun gerade darin, dass er an die Erlösung seines Leibes glauben lernt. Wenn er daran glauben lernt, wird des Menschen Wahrnehmungsfähigkeit gesteigert: die weltliche Zeitlichkeit des Menschseins, welche er vorher ausschliesslich unter dem Aspekt der Begrenztheit wahrnehmen konnte, lernte er jetzt als Gewährung von Zeit kennen. Die Bemessenheil der Zeit erlaubt ein Zweifaches: die ihm zur Verfügung stehende Zeit kann der Mensch einerseits gleichsam als defizitären, als von der Eigentlichkeil trennenden, begrenzten Raum wahrnehmen, er kann jedoch andererseits die bemessene Zeit als gewährten, Leben möglich machenden Raum wahrnehmen. Im einen Falle vergegenwärtigt der Mensch sich ständig sein Nichtmehr-Sein, im andem Falle erinnert er sich an die Gewährung des Daseinsraums. Im einen Falle befindet sich der Mensch in einem todbringenden Streit mit seinen Grenzen, imandem Falle lässt er sich versöhnen mit seiner Endlichkeit und wird des göttlichen Schatzes gewahr, der in irdenen Gefcissen zu haben ist (vgl 2Kor 4,7). Ähnliches wie zur Zeitlichkeit liesse sich zur Bedingtheit der leiblichen Existenz sagen: man kann die Bedingtheit verstehen als etwas, was nicht eigentliches Leben ist, als etwas, was im ständigen Kampf zu überwinden ist. In diesem Kampf gegen die Bedingtheit ereignet sich nichts anderes, als dass der Mensch sich selbst fremd wird. Er will die Erlösung des Leibes, an die er »nur« glauben kann, selbst bewirken. Er will demnach Unmögliches und dabei wird er selbst unmöglich, verhältnislos zu sich selbst. Man kann in der Bedingtheit des Leibes aber auch die Wohltat der Geschöpfliehkeil sehen; also erkennt man die Bedingtheit als die Bedingung des Lebens. Es ist wahrscheinlich, dass die Versöhnung mit der Leiblichkeit ihren wahren Ursprung in der Leibhaftigkeil des Gotteswortes hat. Welche Würde muss der sterbliche Leib erhalten, wenn er zum Ort wird, wo das Leben Jesu offenbar wird (2Kor 4,10 vgl 11 ). Allerdings darf diese Würdigung des sterblichen Leibes durch die göttliche Lebensmacht
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nicht den Blick für die faktische Wirklichkeit des Leibes verdunkeln. Gerade die Hoffnung auf die Erlösung des Leibes macht unmissverständlich, dass das Sein im gegenwärtigen Leibe unter gegnerischen Mächten steht: unter den Mächten der Sünde und des Todes. 19 Wie aber kommen diese Mächte faktisch zum Zuge? Sie kommen am wirksamsten dort zum Zuge, wo der Mensch sich im Streit mit seiner Leiblichkeit befindet. Die Sünde ist ja nichts anderes als die Distanzierung des Menschen von seinem Schöpfer, sie ist nichts anderes als die menschliche Distanznahme von der Geschöpflichkeit. Die Distanzierung von der Bedingtheit durch Gott äussert sich konkret so, dass der Mensch über sie hinauskommen will. Er kann dies auf verschiedene Weise tun: zuweilen trifft man gleichsam eine idealistische Variante, wo der Mensch sein eigentliches, inneres Wesen von seiner Geschöpfliehkeil oder Zeitlichkeit distanziert. Er schreibt seinem Geist, seiner Seele jene Zeitlichkeit gerade nicht zu, die er an der Bedingtheit des Körpers erfährt. Er entzieht das eigentliche Ich den Bedingungen seines Leibes und kommt so über seine Bedingtheit hinaus, allerdings um den Preis, dass er in sich geteilt wird in einen eigentlichen und einen uneigentlichen Teil. Von dem genannten Hinauskommen gibt es eine praktische Variante: der Mensch strebt danach, mit seinen Taten über seine Bedingtheit hinauszugelangen. Er definiert sein eigentliches Leben als Produkt seiner Tätigkeit; er sieht das Leben bloss gegenwärtig in der Gestalt der Möglichkeit: jetzt besteht die Möglichkeit, dass das Leben (künftig) zur Eigentlichkeil kommt. Man müsste sich vielleicht einmal fragen, ob einem solchen Hang zur Lebenserfüllung nicht auch eine zerstörerische Macht zueigen ist. Wenn das Leben ständig nur als Möglichkeit geboten ist, kommt es von selbst, dass keine Tat zu gross ist, jene Möglichkeit endlich zu verwirklichen. Diese Variante distanziert das eigentliche Leben von der Leiblichkeit, indem sie es bloss noch als das gelten lässt, was ich aus der Leiblichkeit machen kann. Sie macht aus dem eigentlichen Leben das, was das jetzige Leben sein könnte - und also gegenwärtig nicht ist. Es ist die Frage, ob es keine andere Möglichkeit gibt, als praktisch oder träumend über die sterbliche Leiblichkeit hinauszukommen. Im Zusammenhang mit der sterblichen Leiblichkeit spricht Paulus vom Seufzen in unserem Inneren, vom Seufzen im Verein mit der ganzen
1'
Dazu Buhmann. Theologie 246-254. vgl auch 200f.
Kreatur (Röm 8,23.22, vgl 19). Die Leiblichkeit unter den Bedingungen des Jetzt veranlasst Paulus zur Klage. Die Klage ist eine Sprachform, welche den Versuch des Ich, über seine Bedingtheit hinauszukommen, unterbricht. Im Seufzen und in der Klage wird dem Menschen die Möglichkeit zuteil, mit seiner Leiblichkeit versöhnt zu sein, ohne diese zur Vollkommenheit emporstilisieren zu müssen. In der Klage kann der Mensch Abschied nehmen davon, sich tätig oder träumend über seine Leiblichkeit hinwegzusetzen. In der Klage hat der Mensch jenes Verhältnis zu Gott, das er in der Einsamkeit des unbedingten Subjekts oder des Krafttäters verloren hat. ln der Klage über die Sterblichkeit des gegenwärtigen Leibes vollzieht der Mensch seine wahre Leiblichkeit, verstanden als Verhältnis zu Gott. 20 ln der Klage schreitet er vom Tod zum Leben, aus der Einsamkeit des tätigen und träumenden Ichs in die Gemeinschaft mit dem Schöpfer des Vergänglichen. Ein zweiter Gedanke tritt hervor, wenn man die Rede von der Erlösung des Leibes in Röm 8,23 verbindet mit der paulinischen Vorstellung von der Auferstehung des Menschen in I Kor 15,35ff. Es ist unmöglich, in dieser Arbeit einigermassen genau auf diese Passage einzugehen. Unsere Aufmerksamkeit soll jetzt bloss einem Satz gelten, wo Paulus zur Differenz des jetzigen vom künftigen Leben Stellung nimmt. ln I Kor 15,44 heisst es: Gesät wird ein beseelter Leib, auferweckt wird ein geistlicher Leib. Dem jetzigen om~ 'lfUXUC:OV steht das künftige om~ 1tvEUj.UltUC:OV gegenüber. Bemerkenswert in dieser Aussage ist besonders, dass Paulus sich die künftige Existenz nicht anders als somatisch vorstellen kann. Offenbar ist die Leiblichkeit dermassen charakteristisch für den Menschen, dass auch eine Existenz im Himmel ohne die Leiblichkeit nicht denkbar ist. Wir haben schon gesehen, dass Paulus die Unterschiede zwischen dem Jetzt und dem Dann keineswegs überspielen will. Hier erscheinen sie zusammengefasst in den Ausdrücken psychisch und pneumatisch. Das Psychische, ganz im Unterschied übrigens zu weiten Teilen des zeitgenössischen Denkens, steht hier für die Geschöpfliehkeil und Vergänglichkeit des Menschen, während das Pneumatische gleichsam die vollendet gottgewirkte, die ungestörte
zo Die Christen stöhnen im Verein mit der gesamten Schöpfung. weil (nicht obwohl. gegen Wilckens. Römer 158) sie das Angeld des Geistes haben. Ihre Klage ist gerade der Vollzug jenes Verhältnisses. das Gott in seinem Geiste mit den Menschen eingegangen ist. Die Klage wahn dieses Verhältnis. indem sie leidenschaftlich vor sich geht. das heisst: die Klage geschieht im BrM·u.utuin. dass der Erlöser lebt.
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Leiblichkeit bezeichnen solJ.2 1 Zieht man also in Betracht, dass hier die Leiblichkeit die Konstante ist, welche zwischen der gegenwärtigen und der erlösten Existenz des Menschen besteht, so muss unter der Erlösung eine Befreiung zur wahren Leiblichkeit verstanden werden. Was ist die wahre Leiblichkeit? Antwort: die pneumatische Leiblichkeit, beziehungsweise die ganz von Gott gewirkte Leiblichkeit. Unter der von Gott gewirkten Leiblichkeit versteht man am besten so etwas wie ein ungestörtes Personsein 22 vor Gott, so etwas wie ein durch Sünde und Tod nicht mehr behelligtes Verhältnis mit Gott. Hier kommt also zutage, dass Gott das eigentliche Konstitutivum der menschlichen Leiblichkeit ist. Leib ist der Mensch, sofern er ein Verhältnis zu Gott hat, beziehungsweise richtiger gesagt: sofern Gott ein Verhältnis zu ihm hat.B Dazu passt aufs schönste die paulinische Rede von der Auferwekkung durch Gott: es kommt in jedem Leben die Stunde, wo der Mensch von sich aus keine Möglichkeit mehr hat, Verhältnisse einzugehen. In dieser Stunde seines Todes ist er gänzlich auf Gott den Schöpfer angewiesen, der von sich aus noch einmal ein Verhältnis anknüpft mit dem zu Ende gekommenen Menschen. Eben deshalb ist die Stunde seines Todes zugleich die Stunde seines wahren Lebens oder seiner wahren Leiblichkeit: sie ist die Stunde, wo er in der Situation ist, alle Lebensmacht von Gott zu erwarten und deshalb auf alle zum Tode führende Eigenmacht zu verzichten. Nimmt man schliesslich noch hinzu, dass Paulus ausdrücklich von der eschatologischen Verwandlung dieses Niedrigkeilsleibes in den Herrlichkeilsleib des himmlischen Christus spricht, wird vollends deutlich, wie sehr der Leiblichkeit des Menschen ein Widerfahrnischarakter zukommt. Der Niedrigkeilsleib widerfahrt dem Menschen ebenso wie ihm die Verwandlung in den Herrschaftsleib widerfahrt. Eben dies scheint ftir manchen Heutigen eine grosse Provokation darzustellen: er will die Leiblichkeit nicht der göttlichen Verwirklichung anheimstellen, stattdessen betrachtet er sie als Produkt der menschlichen Selbstverwirklichung. Selbst die Beeinträchtigungen durch den Körper werden hier zur Gelegenheit, die subjektive Macht des Menschen über sich
zt Zu diesem Gegensatz vgl Senft. ICor 206f. Vom pneumatischen Leib gilt: »Le corpsdes ressuscites est spirituel. parce que conforme selon Je dessein et par Ia puissance de Dieu au statut des realites du monde nouveau ... « (aaO 207). zz Zum Personbegriff in seiner Relation auf Gou vgl Ebeling. Luther 157-177.219--238. H Zur Relationalität des Leibbegriffs vgl Buhmann. Theologie 196.
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selbst hinaus zu bewähren. Die Grenzen des Körpers sind nur dazu da, überwunden zu werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Körperbeherrschung. Die Frage wäre doch, was für ein Selbst der Mensch hier verwirklicht. Ist es das einsame Selbst der Verhältnislosigkeit, auf niemanden und nichts angewiesen? Ist es das geistige Ich dessen, der die Überlegenheit des Geistigen über das Körperliche erträumt und sich damit seiner faktischen Wirklichkeit entfremdet? Die Antwort mag offen bleiben. Jedenfalls ist die wahre Leiblichkeit für Paulus etwas, was nicht der subjektiven Handlungsmacht unterliegt; sie ist ein Widerfahrnis, das Gott am Ende der Zeit bereithält (vgl I Kor 15,54-57 mit Jes 25,6-8). Die wahre Leiblichkeit widerfährt mir, wenn ich das Verhältnisse schaffende reine Wort Gottes dereinst ungestört vernehmen kann. Die gegenwärtige Leiblichkeit hat ihre gegenwärtige Wahrheit in genau demselben Gotteswort, das unter den Bedingungen der Weltlichkeit vernehmbar ist; sie hat freilich ihre Niedrigkeit darin, dass die Beziehungshaftigkeit des menschlichen Lebens ständig beeinträchtigt wird durch die distanzierenden Aktivitäten des menschlichen Subjektes. Die im Widerfahrnis des Zuhörens existierende Leiblichkeit des Menschen wird ständig bedrängt durch den Hang zur Herrschaft seines Ich über sein Selbst, zur Körperbeherrschung. Die Niedrigkeit des gegenwärtigen Leibes besteht nicht in dem Ausgeliefertsein an den Körper, wo doch das unaufdringliche Wort von der Geschöpfliehkeil vernehmbar würde. Die Niedrigkeit des gegenwärtigen Leibes besteht vielmehr in der gelungenen oder versuchten Körperbeherrschung, welche mir den Wahn ermöglicht, von der Bedingtheit losgekommen zu sein und loskommen zu müssen. Zur anthropologischen Seite der paulinischen Verkündigung wäre noch einiges zu sagen. Dies muss hier unterbleiben. Im Sinne einer blossen Bemerkung sei immerhin noch hingewiesen auf die Rede von der Verherrlichung Gottes in unserem Leibe. Gerade hier sieht sich das eigenmächtige Ich gerne mit einem Heiligenschein versehen, sofern es die tätige Vergegenwärtigung der Herrlichkeit Gottes in dem Leibe des Menschen mit dem verwechselt, was Paulus Verherrlichung Gottes in unserem Leibe nennt. Verherrlichung Gottes in unserem Leib wird aber zuerst und vor allem als Zur-Auswirkung-kommen-Lassen der Herrlichkeit Gottes zu verstehen sein. Was ist die Herrlichkeit Gottes? Dass er ein Verhältnis eingeht, dass er sein Wort an den Menschen richtet, dass er das menschliche Nein überwindet. Verherrlichung Gottes in un-
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serem Leibe wird deshalb ein Hören auf dieses ansprechende Wort sein müssen, sei es in den Gebärden der Tischgemeinschaft, sei es im ausdrücklichen Wort, das die Gebärden zur Eindeutigkeit bringt. Die Verherrlichung Gottes in unserem Leibe meint das leibhaftige Zutrauen zu dem, was Gott zu sagen hat, und insofern zielt es dann auch auf das, was im Anschluss an jenes verlässliche Wort zu tun ist. 2.3 Ekklesiologie: die Leiblichkeit der Kirche In überraschender und darum vielsagender Weise wendet Paulus den Leibbegriff auch auf die Kirche, auf die Gemeinschaft der Glaubenden an. Die Weite dieses Feldes kann hier nicht annähernd durchmessen werden. Ein paar Bemerkungen müssen genügen. Zunächst besteht die Leiblichkeit der Kirche darin, dass sie auf den Christusleib bezogen ist. Paulus kann die Kirche als einen Leib verstehen, der durch die Hingabe des Leibes Jesu ins Dasein gerufen wurde. So verstanden ist die Kirche der Leib Christi; das heisst: sie ist der Raum, wo die Liebestat des Christus massgeblich ist. Man könnte auch sagen: die Kirche ist der Leib Christi, sofern sie der Raum ist, in welchem das Hören auf das Wort Christi stattfindet. Wenn die Kirche damit ernst macht, dass sie ihre Gestalt als Christusleib nur hat, weil in ihr der dahingegebene Leib Jesu massgeblich ist, dann wird sie von selbst davon abgehalten, ihre eigene Tätigkeit oder ihre eigenen Strukturen als Darstellung des Leibes Christi auszugeben. Denn der Leib Christi kommt ja gerade nicht so zustande, dass Glaubende sich zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, um so eine Körperschaft zu bilden. Die Gemeinschaft der Glaubenden ist keine Darstellung des Christusleibes, sondern sie ist vielmehr seine Folge. Denn der Christusleib ist eben jener Raum, welcher die Gemeinschaft der Glaubenden allererst möglich macht, weil eben in diesem Raum die gemeinschaftsfeindliche Macht der unabhängigen Subjekte deplaziert ist. Denn wo das Wort von Christus gehört wird, ist die Autarkie des menschlichen Subjekts überflüssig geworden. Die Verhältnislosigkeit des autarken Subjekts- sei es in der idealistischen, sei es in der praktischen Variante - ist eben so beendet. Darin besteht also die Leiblichkeit der Kirche: sie ist genau dann und nur dann leiblich, wenn sie ein Verhältnis zum Leib Christi
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hat. Oder anders gesagt: die Kirche existiert darin leiblich, dass sie im Raum des Christusleibes stattfindet. 24 Dies bringt uns zum zweiten Aspekt der Leiblichkeit der Kirche. Als die durch den Christusleib möglich gemachte Gemeinschaft der Glaubenden ist die Kirche zugleich der Raum, in welchem die Verhältnislosigkeit des Menschen zu Ende kommt. Sie ist demnach der Ort der menschlichen Leiblichkeit. Denn der Leib Christi ist der Raum, wo der Mensch sein Angewiesensein auf andere und anderes entdecken kann, ohne angesichts dieser Entdeckung erschrecken zu müssen. Der Leib Christi ist der Raum, wo nicht mehr die Steigerung der Unabhängigkeit, sondern vielmehr die Steigerung des Angewiesenseins als »Selbstverwirklichung« erscheinen kann. Oder auf eine Formel gebracht: die Kirche als Lei~ Christi ist der Ort, wo die Leiblichkeit des Menschen unter den Bedingungen des Jetzt gedeihen kann. An solchen Orten wohnt die Weisheit. Denn Weisheit ist es, wenn die weltliche Bedingtheit als wohltuende Lebensbedingung aus der Hand des Schöpfers genommen werden kann. Gewiss ist dies nicht jene Weisheit, in welcher der Mensch sich über alle Dinge- und sei es gar über Gott selbst - erhebt, um aus dem Überblick festzustellen, dass die Botschaft von einem gekreuzigten Gott ein Unsinn und eine Torheit ist (vgl I Kor 1,18-25). Es ist dies vielmehr jene Weisheit, die als gottgewirkte Weisheit unter dem Kreuz des Christus entsteht; eine Weisheit, welche demzufolge die Lebendigkeit des Menschen weder in seiner subjektiven Leistungsmacht noch in seinem Traum von der zeitlichen Unbedingtheit seines körperlosen Selbst wahrnimmt. Es ist dies die Weisheit, .welche das Leben aus der Hand Gottes anzunehmen wagt, oder ganz knapp gesagt: es ist dies die leibhaftige Weisheit. Schliesslich kann Paulus die Kirche auch in einem metaphorischen Sinn als Leib bezeichnen. Er kann die Kirche oder die christliche Gemeinde mit einem Leib vergleichen, dessen Glieder durch eben diesen Leib verbunden und aufeinander bezogen sind (I Kor 12).H
1 ~Conzelmann stellt im Blick auf die Leib-Christi-Vorstellung zu Recht fest: »Der Christusleib ist in Beziehung auf die 'Glieder' präe~tistent« t I Kor 250). Ähnlich urteilt auch Schweizer. Art. aijMI 1069. 2f. Zum ganzen Problem nimmt grundlegend Stellung: Käsemann, Problem 61-107. 15 Einschränkend ist allerdings sofort festzustellen. dass die LeitrMetapher nicht ungestört verwendet wird. Dem damals gängigen Organismusgedanken tritt derjenige von der Präe~ti stenz des Christusleibes und damit ein »eigentlicher<< Gebrauch des Wortes Leib gegenüber. Zum Bruch in der Argumentationweise vgl Conzelmann. I Kor 249f.
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Allerdings kann dieses Bild nicht einfach vom zeitgenössischen Organismusgedanken her begriffen werden. Auch in diesem Bild kommt nämlich die Vorstellung vom Leib Christi zur Auswirkung, welcher die »Leibhaftigkeit« der christlichen Gemeinden allererst möglich macht. Worin besteht die Leibhaftigkeil der Kirche? Sie besteht darin, dass in ihr die Unterschiede zwischen Menschen, die Verschiedenheit ihrer Funktionen und Fähigkeiten, ihre trennende Macht verloren haben. Im Raum des Christusleibes sind die Funktionen und Fähigkeiten nicht mehr gebunden an die menschliche Selbstdarstellung, sie sind also entbunden zum Aufbau menschlicher Gemeinschaft. 26 Fähigkeiten und Funktionen, die an die Selbstdarstellung des Trägers gebunden sind, drängen darauf, verabsolutiert zu werden, und eben so trennen sie den Menschen vom Menschen. Während die an die Selbstdarstellung gebundenen Funktionen und Fähigkeiten die »Leibhaftigkeit« der christlichen Gemeinde verhindern, sind sie, wenn die Gemeinde sich durch den Christusleib bestimmen lässt, entbunden zum Geschehen der Liebe. Dabei stellt sich heraus, dass die Liebe die wahre und konkrete Gestalt leibhaftiger Existenz ist.
3 Ein Schlusswort Man könnte den nunmehr fälligen Weg zur Leiblichkeit sehen in einem Rückgang in jene Zeit, als die Vernunft des Menschen noch nicht zu seinem wesentlichsten Teil gemacht worden war. Bestechend an diesem Rückgang mag sein, dass die Vergötterung der Vernunft in der Tat eine besondere Spielart abendländischer Leibfeindlichkeit war. Leibfeindlichkeit freilich nicht darin, dass der Körper minderwertig wurde. Leibfeindlichkeit eher darin, dass die Vernunft sich zu einer Autorität machte, die sich nichts mehr sagen liess und also auch ihres Verhältnisses zu Gott verlustig ging. Leibfeindlichkeit also in dem gefahrlicheren und abgründigeren Sinne, als die Vernunft sich selbst eine verhältnis-
16 Deshalb kann Paulus das Prinzip der Auferbauung {o\ltCilqlfiJ (I Kor 14.3) als Beurteilungskriterium der verschiedenen Funktionen und Fähigkeiten einfUhren. Goll kommt selbst für die Unterschiede auf. und deshalb werden sie zu Elementen des Aufbaus. Das Kriterium des •Aufbaus« beruht auf dem noch fundamentaleren Kriterium: bleibt der Liebe auf der Spur (I Kor 14.1 L Darauf kann alles ankommen. weil es dem Selbst nicht mehr auf die Selbstinszenierung anlommen muss.
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reiche, leibliche Existenz verweigerte. Man wird sich allerdings fragen müssen, ob ein solcher Rückgang nicht gerade die Leiblichkeit des Menschen ausser acht lässt, welche auch darin besteht, dass er aus seiner zeitlichen Situation nicht aussteigen kann, weder im Regress noch im Progress. Wäre es nicht aussichtsreicher, man würde das beeindrukkende Potential der Vernunft einsetzen, um unterscheiden zu lernen zwischen einer vermeintlichen und einer wahrhaftigen Leiblichkeit? Die Leiblichkeit des Menschen ist gegenwärtig alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wäre es da nicht eine vernünftige Aufgabe, ihre Charakteristika aufzudecken, wozu ein erheblicher Aufwand an theoretischer Reflexion notwendig ist? Es gibt ja nicht nur jene theoretische Tätigkeit. welche in der Abstraktion vom Konkreten und damit in dem besteht, was wir gegenwärtig unter »Kopflastigkeit« verstehen. Es gibt auch jene theoretische Bemühung. die sich um die Freisetzung des Konkreten kümmert. die sich um die Würdigung einer Erscheinung in ihrer Ganzheitlichkeil bemüht. Es wäre wohl eine Selbsttäuschung, wollten wir die Wahrnehmung der Ganzheitlichkeil als etwas darstellen. was sich gleichsam von selbst ergibt. Es gehört zu unserer geschichtlichen Situation, im Kontext der verlorenen Ganzheitlichkeil zu stehen. Eben deshalb erscheint mir intensive theoretische Reflexion um des Ganzheitlichen willen unabdingbar. Es besteht nämlich Grund zu der Hoffnung, dass es auf diesem Wege zu einer Entdeckung kommen wird: der Entdeckung der gegenwärtigen Leiblichkeit des Menschen jenseits von Regress und Progress. Einer Leiblichkeit mit der Vernunft, mit dem Körper, mit der Leistung, und mit allem, was Gott als unsere sterblichen Leiber erschaffen hat.
Die Arbeit der Utopie Das Thema Utopie in der Religion wird im Folgenden anhand einiger Beobachtungen zur Gottesreichsverkündigung Jesu verhandelt. Der mir zustehende Raum erlaubt einige wenige Bemerkungen. Dies hat den Vorteil, dass die Geduld des Lesers nicht zu sehr strapaziert werden muss. Es hat allerdings den Nachteil, dass die ungewöhnlichen Einsichten des Jesus von Nazareth in dieser Kürze kaum eine Chance haben werden, gegen die Übermacht unseres gewöhnlichen Denkens aufzukommen. Mit dem Stichwort »Gottesherrschaft« (JUcnl.Eia 'tOÜ &oü) ist ein Phänomen in der Verkündigung Jesu bezeichnet, das in unserem heutigen Sprachgebrauch eine Utopiel genannt würde. Zur Zeit Jesu erwartete man das Kommen einer Gottesherrschaft, für die bereits das Moment der Jenseitigkeil konstitutiv war. Während frühere Generationen die Königsherrschaft Gottes noch als innergeschichtliches Ereignis erwartet hatten, 2 stellte man sich das Reich Gottes zur Zeit Jesu als etwas vor, das jenseits der Weltgeschichte liegt: die alte Weltzeit muss ganz zu Ende kommen, bevor das Gottesreich anbrechen kann. 3 Dieses Reich hat demnach keinen Ort in der Zeit, sondern erst an deren Ende. Es ist utopisch. Utopisch ist es auch in dem Sinne, dass es einen Zustand absoluten Wohlergehens meint. Alle Widersprüche der Welterfahrung
1 Unter Utopie verstehe ich die Vorstellung von einem Zustand. der die Grenzen des weltlich Möglichen sprengt. Ich halte mich an die Nominaldefinition des Wortes. das von einem Zustand spricht. der keinen Ort (w ~) in Natur oder Geschichte der Weh hat. So wurde der Begriff der Utopie an seinem Ursprung. bei Thomas Morus. verwendet (vgl Ludz. Art. Utopie und Utopisten 1217-1220): Hommes. Art. Utopie 1571-1577. 2 Während die Prophetie des Alten Testaments von zukünftigen Geschichtstaten Gottes im innergeschichtlichen Sinne sprach. wird erst in den »allerspätesten prophetischen Texte(n)«, j2 eigentlich erst in der Apokalyptik von Ereignissen geredet. »die ausserhalb des Historischer liegen« (von Rad. Theologie II 124. vgl 121-129). 1 Der Übergang von dem Denken. das Endgültiges innergeschichtlich erwartet. zu der Vor stellung. dass das Endgültige erst nach dem Bruch der Zeiten erscheinen kann. ist identisch mi dem Übergang des prophetischen Denkens in die Apokalyptik: Hatte die nachexilische Pro phetie »bis ins 3. Jahrhundert v.Chr. die Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft noch al inn~rR~schichtlich~ Heilswende verstanden. so herrschte seit den traumatischen Erfahrunge der seleukidisch-hellenistischen Religionsverfolgung der apokalyptisch~ Gedanke vor. da~ Gottes Königsherrschaft zugleich den Abbruch der jetzt ablaufenden
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werden in die Eindeutigkeit der Welt Gottes aufgehoben sein: weder Ungerechtigkeit noch Unfrieden, weder Tränen noch Schmerz wird es geben. 4 In dieser Hinsicht schlagen die Vorstellungen vom Reiche Gottes den grossen Bogen von der Endzeit zur Urzeit, von der Utopie zum Paradies. Der Übergang von der alten zur neuen Zeit ist in den allermeisten Fällen als eine grosse Abrechnung Gottes mit seinen Feinden, als ein vernichtendes Gericht über alles Widergöttliche vorgestellt. Dies macht den apokalyptischen Gedanken an die Utopie des Gottesreiches zu einem Gedanken, der Gewalttätigkeit in sich trägt. Eine Gewalttätigkeit, die jetzt noch die Gestalt des Traumes hat, die aber bloss darauf wartet, im Zuge der politischen Verwirklichung der Utopie zur praktischen Gewalttätigkeit zu werden. Grundsätzlich gilt von der Apokalyptik, dass sie die Reinheit der Neuen Welt nur so denken kann, dass die Unreinheit der Alten Welt vernichtet wird.
1 Zwei Besonderheiten der Verkündigung Jesu Mit dem Begriff der Gottesherrschaft ist die Mitte der Verkündigung Jesu bezeichnet. Zwei Besonderheiten, die schon lange aufgefallen sind, sollen in Erinnerung gerufen werden. Erstens: Will man Auskunft darüber, was die Gottesherrschaft nun eigentlich sei, so geht man bei Jesus praktisch leer aus. Bemerkenswerterweise entwickelte Jesus keine Lehre über die Gottesherrschaft Er gebraucht dieses Wort, ohne seinen Inhalt begrifflich genauer zu bestimmen. Wir finden höchstens ein paar Bilder, die andeutungsweise die Zustände im Gottesreich anvisieren: etwa das Bild von einem riesigen, fröhlichen FestmahP Zweitens: Jesus stellt keinerlei Berechnungen an darüber, wann die Gottesherrschaft kommen wird." Statt dessen betont er den Aspekt der Plötzlichkeit: 4 Als Beispiel möge die apokalyplische Schrift Assumplio Mosis 10.1 ff gehen. wonach das Königlum Gones über aller seiner Krealur erschein!. den Salan und die Traurigkeil vertreib! und Israel glücklich sein lässt ~Dass Jesus keine Lehre von der Gonesherrschafl enlwickehe. ergib! sich namentlich aus seiner Gleichnisrede: die Gleichnisse sind nichl Veranschaulichung einer Sache. einer Lehre über die Gonesherrschafl. sondern dienen der EinsleiJung des Hörers auf die Gonesherrschaft Zur Zurückhahung Jesu in Sachen Lehre über das Kommende vgl Schweizer. Jesus Chrislus 27. hAuch in dieser Hinsichl lässl sich bei Jesus eine grosse Zurückballung feslslellen. die ihn von der Berechnungsfreudigkeil des apokalyplischen Denkens unlerscheidet Dazu Bornkamm. Jesus 60f: Merk Iein. Jesu Bolschaft 53-56.
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niemand kann wissen, wann die Gottesherrschaft kommt, sie wird plötzlich erscheinen. Der Aspekt der Plötzlichkeil überwindet nicht nur die Berechnung des zeitlichen Abstandes, sondern auch das Zeitverständnis, das diese Berechnung beherrscht. Dieses berechnende Zeitverständnis ist dadurch charakterisiert, dass die Gottesherrschaft jedenfalls im Abstand zum Jetzt gedacht wird, wie kurz der berechnete Zeitraum auch immer sein mag. Nach Jesus ist es demgegenüber unsachgemäss, das Verhältnis von Gegenwart und Gottesherrschaft in der Kategorie des Zeit-zwischen-Raumes zu betrachten. 7 Insofern überwindet der Gedanke der Plötzlichkeil das Denken in Zeitabständen. Bei Jesus lässt sich also beobachten, dass er einerseits auf eine Theorie des Gottesreiches verzichtet und andererseits es ablehnt, den Zeitpunkt, zu welchem die Gottesherrschaft kommen wird, zu berechnen. Seide Beobachtungen weisen in dieselbe Richtung: Jesus kam es auf eine Lehre über die Gottesherrschaft nicht an, weil er sie in ein Verhältnis zur Gegenwart bringen wollte. Theorie ist als solche immer abständig, selbst dann, wenn sie mit Vehemenz der Frage ruft, wie sie in die Praxis umzusetzen sei. Bilder zielen dagegen nicht auf die praktische Verwirklichung, sondern vielmehr auf die Einstellung der Menschen. Diese Utopie soll den Menschen näher kommen, als ihnen eine utopische Theorie wäre. Zugleich kam es Jesus auf die Überwindung der Berechnung an, weil es ihm um die Nähe der Gottesherrschaft zum Jetzt ging. In der Berechnung des Zeitabstands herrscht immer der Abstand, und möge dieser noch so klein veranschlagt werden. Der Gedanke an das plötzliche Kommen der Gottesherrschaft überwindet den zeitlichen und insofern existentiellen Abstand zur Utopie, ohne aus ihr ein Objekt menschlicher Praxis zu machen. Die Utopie wird der berechnenden Verfügungsgewalt des Menschen entzogen, weil die Gottesherrschaft den Gedanken an einen Gott impliziert, der selbst handeln will am Menschen.
7 Gieichgühig wie man das Zeilverhähnis zur Gegenwart berechnele. •jedesmal wurde damil der Basileia ein Plall innerhalb eines Zeilraums angewiesen. der von einem in der Zeil exislierenden Ich aus RemeHen wird. so dass die Nähe der Basileia als EntfernunR zu einem zeillich exislierenden Suhjela vorgeslelh wird« (Jüngel. Paulus und Jesus 140).
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2 Die Gegenwart der Gottesherrschaft Die Vennutung, dass die Gottesherrschaft in unmittelbare Nähe zum Jetzt und zu den Menschen kommen soll, wird bestätigt durch das folgende Jesuswort: »Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft bis zu euch hingelangt« (Lk II ,20). 8 Der »Finger Gottes« ist eine Metapher für den göttlichen Eingriff. Mit den Fingern hat Gott den Himmel und die Gestirne gemacht (Ps 8,4). Die ägyptischen Zauberer erkennen in der Stechmückenplage den »Finger Gottes« (Ex 8, 15), eben Gott, sofern er ins Weltgeschehen eingreift. Was Jesus in der Befreiung der Besessenen vollbringt, gibt er mit der Metapher »Finger Gottes« zu verstehen als göttlichen Eingriff. Und zugleich als Eingriff, durch welchen sich die Gottesherrschaft ins Jetzt ausdehnt. Insofern gilt, dass Jesus sein eigenes fragmentarisches Wirken als Ereignis der Zeitenwende verstand. 9 Wir erkennen daran zwei Merkmale dessen, wie Jesus mit der Utopie der Gottesherrschaft umgeht. Erstens: Ihm geht es nicht um eine Lehre über die Utopie, sondern um die Ausdehnung der Utopie ins Jetzt. Die Frage ist nicht, was die Gottesherrschaft an sich sei oder dereinst sein werde, die Frage ist vielmehr, wie sie in der Gegenwart wirksam wird, d.h. Wirklichkeit gewinnt. 10 Gewiss bleibt sie jenseits der Zeit, aber sie "Zu diesem aus der Logienquelle stammenden Jesuswon (dessen Gestall bei Lukas wohl ursprünglicher ist) vgl Schweizer. Manhäus. Göttingen 11973. 184f.l86. Die sprachlich auffällige Wendung~~~~~~~ bedeutet eigentlich »hingelangen zu euch ... »die Wirksamkeit und Wirklichkeit bis zu euch ausdehnen«. Daraus ergibt sich klar die Vorstellung. dass die Gonesherrschaft weder in der Zukunft bleibt. noch einfach im Jetzt aufgeht. sondern das Jetzt unter ihren Einflussbereich nimmt. Damit ist die Vorstellung verabschiedet. wonach die Utopie nur insofern mit der Gegenwart lU tun hat. als sie ihr ein Ende setzt (wie dies im apokalyptischen Gedanken von der Äonenwende der Fall ist). ln dieselbe Richtung weist die Zusammenfassung der Verkündigung Jesu bei Mk 1.15. die die historische Wirklichkeit gut trifft: frryuiE11 fl jlacN&ia wü 11Eoü (»die Gonesherrschaft hat sich genähert«, was nicht dasselbe ist wie »die Gonesherrschaft kommt jetzt dann«). Dasselbe Zeitverständnis erscheint auch im Jesuswort Lk 17 .20. wo es ausdrücklich heisst. das Kommen der Gonesherrschaft sei jeder Berechnung (IDflll~) entzogen, denn die Gonesherrschaft ist- in der Person Jesu- tl~W~ö ~~~(inner halb des menschlichen Erfahrungsbereichs): vgl Merklein. Jesu Botschaft 63-65. 9 ln dieser auch religionsgeschichtlich gesehen singulären Einstellung verbindet Jesus »Zwei geistige Wehen. die vorher nie in dieser Weise verbunden worden sind: die apokalyptische Erwartung universaler Heilszukunft und die episodale Verwirklichung gegenwärtigen Wunderheils« (Theissen. Wundergeschichten 274. vgl überhaupt 27-277). 10 Im Wort •Wirklichkeit« ist das Wissen darum aufbewahrt. dass das Gegenwärtige nicht bloss durch ein Vorhandensein, sondern vielmehr durch ein Wirken gegenwärtig wird. Von Gottes Wirklichkeit kann nach Jesus nur in diesem Sinne die Rede sein, so dass sie gerade
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erstreckt sich im exorzistischen Wirken Jesu in das Jetzt herein. Im Exorzismus geht es jeweils darum, dass der Mensch von einem bösen Geist befreit wird. Der Exorzismus steht demnach für die Unterscheidung der Menschen vom Bösen. Das Böse wird vertrieben, damit der Mensch sich selbst zurückgegeben werden kann. Der Exorzismus als Unterscheidung des Menschen vom Bösen steht in einem gewissen Gegensatz zu gewöhnlichen utopischen Vorstellungen (und insofern auch gegenwärtiger Praxis) von der Bereinigung der Verhältnisse: nicht das Böse muss ausgetrieben, sondern die Bösen müssen vernichtet werden. Was hier aufblitzt, ist typisch für das gesamte Lebenswerk Jesu: der gegenwärtige Weg entspricht dem utopischen Ziel völlig. Die gute Zeit wird nicht auf bösen Wegen erreicht: die Bereinigung der Verhältnisse geschieht nicht durch die Vernichtung der Bösen, sondern durch ihre Befreiung vom Bösen. In gleicher Weise verschrieb sich Jesus der Vergebung der Sünde, statt der Vernichtung der Sünder. 11 Denn der Weg, auf dem die Verhältnisse bereinigt werden, muss seinerseits den neuen Verhältnissen entsprechen. Sonst kommt es zur Zumutung des Bösen und des Leidens im Namen der guten Utopie. Das Reich des Friedens kann nicht anders denn friedlich aufgerichtet werden, 12 das Reich des Guten kann nicht anders denn gütig erreicht werden. n Damit - so könnte man sagen - hat Jesus der Gewalttätigkeit utopischer Gedanken den Weg abgeschnitten. Zweitens: Wenn Jesus sein Augenmerk auf die Ausdehnung der Gottesherrschaft ins Jetzt richtet, so erhält dadurch die Gegenwart ihr eigenes Gewicht. Sie ist nicht bloss die Zeit des Wartens auf das Utopische, nicht bloss die Zeit, die man überstehen oder sich vertreiben muss, bis der Höhepunkt kommt. Die Gegenwart ist die Zeit, wohin die Gottesherrschaft sich ausdehnt: im Jetzt werden Räume wahren Lebens entdeckt, Räume, wo sie die unendliche Wahrheit auf endliche Weise nicht mit dem Hilfszeitwort »ist« verbunden werden kann lvgl Fuchs. Marburger Hermeneutik l-4). Dieser Sachverhalt wird durch das Fremdwort .. Realität« oft verstellt. 11 Kennzeichnend für den Umgang Jesu mit Sündern ist das Logion Mk 2.17: .. Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes. sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen. Gerechte zu rufen. sondern Sünder... Damit widerspricht Jesus der von vielen praktizierten Distanz zu den Sündern. einer Distanz. welche eine vorläufige Gestalt endgültiger Vernichtung darstellt. 11 Der endgültige Leben,raum wird deshalb den .. sanften .. versprochen. denen. die keine Gewalt anwenden. weil sie ohnmächtig 'ind
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Die Arbeil der U1opie
gestaltet. Wer an der Utopie hängt, dessen Leben könnte leicht zum permanenten Exodus werden, zu einem Leben, das ständig auszieht aus dem Jetzt, um dem Höhepunkt entgegenzugehen. Aber dabei wird es selbst utopisch: es ist weder hier noch dort, weder auf dem Höhepunkt noch im Jetzt. Das an der Utopie hängende Leben verliert den Kontakt mit der Gegenwart, ohne die Nähe zur Zukunft gewonnen zu haben. Da der Mensch unweigerlich an seine eigene (gegenwärtige) Zeit gebunden ist, kann er die Nähe zur Zukunft nur gewinnen, wenn diese selbst in seine Nähe kommt. Die Ausdehnung der Utopie des Reiches Gottes in das Jetzt entdeckt demgegenüber in der Gegenwart Räume des Bleibens. Im Johannesevangelium beispielsweise wird eine grosse Sensibilität für das Bleiben sichtbar.' 4 Der Raum des Bleibens ist jener Raum im Jetzt, der positiv auf die Utopie bezogen ist, jener Raum also, in welchem getan wird, was (utopische) Zukunft hat. 1 ~ Deshalb gilt: in dem Masse wie der Mensch seine Distanz zur Utopie aufgibt, und zwar indem er gerade das utopische Reich in seine Nähe kommen lässt, verliert er auch seine Distanziertheil zur Gegenwart. Lieblos ist die Praxis, die um der Verwirklichung der Utopien willen über Leichen zu gehen bereit ist. An dieser Lieblosigkeit aber wird auch die Feme zum Jetzt offensichtlich.
3 Der Umgang mit der Utopie in der Gleichnisrede Von der Gottesherrschaft sprach Jesus hauptsächlich in Gleichnissen. Die Gleichnisrede ist keine informative, sondern eine performative Redeweise. Die Gleichnisrede macht die Gottesherrschaft an den Men-
14 Besonders eindrücklich geschiehl dies in der Rede vom Weinslock (Joh l:'i.l-17). welche ja das Bild eines - im Un1erschied zum 1o1en Verharren im Allen - lebendigen Blcibens in Chrislus enlwirfl. Das lebenslrächlige Bleiben in Chrislus wird konkrel als Bleiben in seiner Liebe C15,10); dh einerseils, dass die Jünger eine Wohnslall haben in der Liebe. die Jesus ihnen en1gegenbrach1e. und andererseils. dass sie ihre Lebcnsverhähnisse auch uniereinander durch Liebe beslimml sein lassen. " ln diesen Zusammenhang gehön die paulinische Frage nach den »bleibenden• Phänomenen CIKor U.U). Während auch die grösslen LeislUngen der Gegenwan vergehen müssen lwie e1wa Pmphelengaben. ekslalische Rede und Erkennlnis. vgl l.l.M). überslehl die Liehe als die grössle der drei bleibenden Dinge den Bruch der Zeilen zwischen dem Jelzl und dem Dann. Das kann doch nur heissen. dass die Liehe eben deshalb nichl vergehen muss, weil sie selbsl da' wahre Tun unler den 8\.-dingungen ..ownhl der Gegenwarl als auch der Zukunfl isl.
3 Der Umgang mit der Utopie in der Gleichnisrede
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sehen zum Ereignis. 16 In formaler Hinsicht ist sie etwa mit der Sprachform des Witzes zu vergleichen, dessen Sache es ja ist, das Phänomen des Humors am Menschen zum Ereignis werden zu lassen (indem er ihn zum Lachen bringt). Zwischen Witz und Humor auf der einen Seite und Gleichnis und Gottesherrschaft auf der andem Seite kann die folgende Proportion aufgestellt werden. Zur Gottesherrschaft verhält sich die Gleichnisrede, wie der Witz sich zum Humor verhält. So wie der Witz den Humor verwirklicht, und zwar an den Menschen so verwirklicht, dass er sie zum Lachen bringt, so verwirklicht das Gleichnis die Utopie der Gottesherrschaft, und zwar verwirklicht sie sich so an den Menschen, dass sie jet:t eine Einstellung zur kommenden Gottesherrschaft finden. Ausgangspunkt für die Gleichnisrede ist die Tatsache, dass Menschen sich immer schon Vorstellungen von der utopischen Gottesherrschaft machen. Das Gleichnis entwirft jedoch keine apokalyptischen Bilder aus diesen Vorstellungen. sondern bildet sie vielmehr in alltäglichen Geschichten ab. Das Gleichnis arbeitet zwar mit utopischen Vorstellungen wie einer letzten Abrechnung oder dem königlichen Sieg Gottes. aber es verwandelt diese alltagsfernen Vorstellungen in alltagsnahe Einsichten. Dadurch bringt es das Reich Gottes in eine unvermutete Nähe zum Reich der alltäglichen Weh. Denn es taucht gerade das alltägliche Verhalten in das Licht der Utopie. Man könnte auch sagen: das Gleichnis bringt die ferne Utopie in die Nähe zum Alltäglichen. Für unser Thema der Utopie in der Religion können wir daraus unter anderem zweierlei lernen. Erstens: Das Gleichnis arbeitet mit den Kräften. welche in den utopischen Vorstellungen der Menschen aufbewahrt sind. Es lässt die Kräfte des Gottesgedankens der Gegenwart zugutekommen. Man könnte auch sagen: es entdeckt die Energien. die in der utopischen Vorstellung des Reiches Gottes liegen. Die \ 'orstellung iiha die wopisc/1(• Zeit da Liehe wird \'t'rH·andelt in eine Einstellung m~l die .fi"agmemarisclte Gt•ste da Liehe im Augenhlick. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn beispielsweise entdeckt in den Vorstellungen von einem Reich himmlischer Vaterliebe die Kräfte. die jetzige Väter zur Umarmung ihrer heimkehrenden Söhne und Töchter bewegen (vgl Lk 15.11-32).
"'Zur Gh:il·hnisth~uril·. dil' hil·r tugruntkgc:kgt "ird. 'gl Wc:dc:r.
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Die Arbeit der Utopie
Zweitens: Wir sehen hier einen Umgang mit der Utopie, der dem gewöhnlichen zuwiderläuft. Gewöhnlich fragen sich die, die Utopien haben, was sie zur Verwirklichung ihrer Utopien tun müssen. Dies steht im Zusammenhang der neuzeitlichen Vorstellung, wonach das Subjekt der grosse Realisator von Ideen und Gedanken ist. Arbeit leisten demnach also die Träger von Utopien. Jesus dagegen fragt nach dem, was die Utopien für die tun können, die sie haben. Indem er die Energien der Utopie entdeckt, lässt er die Utopie für die Menschen arbeiten, statt diesen die Verwirklichung ihrer Träume aufzuladen. Statt ihnen zuzumuten, die Wahrheit ihrer Utopien in die Wirklichkeit dieser Welt umzusetzen und dabei zu scheitern, lässt er die Wahrheit der Utopien arbeiten für die Wahrhaftigkeit des menschlichen Lebens. Er lässt gerade die Wahrheit im Jenseits bestehen, um die Menschen davor zu bewahren, sie im Diesseits etablieren zu müssen. Eingestellt auf die jenseitige Wahrheit werden die Menschen vielleicht lernen, von ihrer utopischen Praxis Abstand zu nehmen und wahrhaftiger mit ihrer Wirklichkeit umzugehen.
Geistreiches Seufzen Zum Verhältnis von Mensch und Schöpfung in Römer 8 »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.« 1 »Denn wir wissen: die ganze Schöpfung seufzt und erleidet Wehen bis jetzt. Doch nicht nur das, auch die selbst, die den Geist als Anzahlung haben, wir selbst seufzen in unserem Inneren, sofern wir die Sohnschaft erwarten, die Erlösung unseres Leibes.« 2 Gross ist die Distanz zwischen dem, was Karl Marx in Anspielung auf Röm 8,22f sagt, und der betreffenden Aussage des Apostels selbst. Für Paulus ist das Seufzen ein Indiz der Geistesgegenwart, ein Zeichen geistreicher Religiosität. Für Marx indes ist die Religion nur insofern der Seufzer der bedrängten Kreatur, als sie der Geist geistloser Zustände ist. Der Geist geistloser Zustände aber kann nur ein Ungeist sein; die Religion als dieser Ungeist ist dementsprechend ein Seufzer der Geistlosigkeit. Wo Paulus Geistreichtum wahrnahm, diagnostiziert Marx schiere Geistlosigkeit. Paulus und Marx rechnen beide damit, dass das Seufzen der Kreatur eines Tages verstummen wird. Freilich, Paulus hofft auf diesen Tag, weil er die Befreiung der Menschen und der Schöpfung von der Nichtigkeit erhofft, der sie jetzt noch unterworfen sind. Marx dagegen setzt auf die Arbeit des Menschen; sie wird die kreatürlichen Bedrängnisse überwinden. Paulus erwartet die Erscheinung göttlicher Wahrheit, Marx setzt auf die selbstmächtige Etablierung der Wahrheit im Diesseits. Paulus erhofft die Verwandlung der Menschen ins Ebenbild ihres Schöpfers, Marx setzt auf die Arbeit an der Humanisierung der Natur und an der Naturalisierung des Menschen. Paulus hofft auf die göttliche Kreativität, die den Menschen zu wahrer Leiblichkeit befreit. Marx macht den Menschen nicht nur zum Erzeuger seiner selbst, sondern auch zum Retter der ganzen Natur.
1
!
Marx. Kritik 378. Paulus. Röm 8.22f.
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Geistreiches Seufzen
Verschiedener könnte die Wahrnehmung der Welt und des Menschen kaum mehr sein. Was lehrt diese Distanz zwischen Marx und Paulus? Ist sie bloss bedingt durch den menschlichen Schritt von der religiösen Selbsttäuschung in Sachen Wahrheit zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit? Das müsste man denken, würde man die Marxsche Sicht der Dinge auf Paulus anwenden. Doch welche Sicht könnte so viel Immunität beanspruchen, dass sie alles unter ihre Definitionsmacht zwingen könnte? Zwar spricht Marx nur aus, was in der abendländischen Modeme weithin Allgemeingut geworden ist, seine Sicht der Dinge hat sich durchgesetzt, weit über den marxistischen Bereich hinaus. Die wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit und der entsprechende Einfluss auf die Natur haben zwar überall grosse Fortschritte gemacht. Aber: hat die Zukunft den Erwartungen des Philosophen Recht gegeben und den Apostel ins Unrecht versetzt? Eines ist sicher: der Seufzer der Kreatur hat sich nicht erledigt, im Gegenteil. Zutreffender als Marx' Prognose der Humanisierung der Natur hat sich die paulinische der Verknechtung der Natur erwiesen. Schon im 18. Jahrhundert hatte Johann Georg Hamann im Anschluss an Röm 8,22f den Finger auf des Menschen »usurpirende Gewaltthätigkeit über die seiner Eitelkeit unterworfene Creatur wider ihren Willen« gelegt - und dies mit Blick auf die Aufklärung.J Dies gibt zu denken. Könnte die Distanz zwischen Paulus und Marx nicht auch aufmerksam machen auf eine elementare Alternative in der Wahrnehmung der Welt, eine Alternative, die durch Fortschritt nicht aus der Welt geschafft werden kann? Vielleicht können wir diese Frage beantworten, wenn wir einen genaueren Blick auf Paulus geworfen haben.
I Der Ausgangspunkt: kommender Glanz Die Aussage vom Seufzen und Stöhnen der Kreatur steht bei Paulus in einem überraschenden Zusammenhang. Sie dient nicht etwa als Argument für die Sinnlosigkeit und Verlorenheil des Lebens, sondern sie begründet - für modernes Empfinden fast unerträglich - die Zuversicht des Apostels im Blick auf kommende Vollendung. 4 »Ich urteile näm1
Bayer. Schöpfung 48.
~Im Blick »auf das Folgende (hat V. 18) die Funktion einer These«: so Paulsen. Überliefe-
rung 108. Das Motiv der Gegenüberstellung von gegenwänigem Leiden und künftiger Herr-
2 Sensibilität für die leidende Kreatur
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lieh: Die Leiden der Gegenwart stehen in keinem Verhältnis zum kommenden Glanz, der an uns offenbart werden wird«( 8, 18). Die Gegenwart ist eine aussichtsreiche Zeit, ihr winkt der Glanz kommender Vollendung. Eine solche Aussage verlangt nach Begründungen. Paulus begründet sie in merkwürdig paradoxer Weise. Zur Begründung legt er drei Überlegungen~ vor, die alle nicht etwa von glanzvollen Streiflichtem der Zukunft handeln, sondern von den Leiden der Gegenwart. Der erste Gedankengang thematisiert das Seufzen, das die ganze Schöpfung durchzieht (V. 19-22), der zweite spricht vom Seufzen derer, die den Geist als Unterpfand der kommenden Befreiung schon haben (V. 2325), der dritte schliesslich lenkt den Blick auf den Geist, der seinerseits auf unaussprechliche Weise ins Seufzen der Kreatur einstimmt (V. 26f).
2 Sensibilität für die leidende Kreatur Wer sein Denken beim kommenden Glanz der Vollendung beginnen lässt, verfallt nicht eo ipso der illusionären Verblendung. Im Gegenteil, Paulus gewinnt Sensibilität für die Leiden der Kreatur. Religionsgeschichtlich gesehen teilt er diese Sensibilität mit der Apokalyptik. 6 Allerdings: während diese Welt für die Apokalyptik ohne Aussicht auf Rettung einer vernichtenden Katastrophe zusteuert, befindet sie sich nach Paulus im Zustand sehnsüchtiger Erwartung: »Denn die sehnsüchtige Erwartung der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes« (8,19). Das Leiden der Kreatur ist ein aussichtsreicher Schmerz, genauso wie die Wehen von 8,22 die Aussicht der Geburt in sich tragen. Im Leiden, das die ganze Kreatur durchzieht, zeigt sich nicht Sinnlosigkeit und Gottverlassenheit, in ihm zeigt sich sehnsüchtige Erwartung dessen, dass die Menschen endlich als Söhne und Töchter Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist nicht so verkehrt, dass sie nur durch die Katastrophe ihrer Vernichtung zur Vollendung gelangen könnte. Die Natur wartet nicht darauf, dass sie in einer apoka-
Iiehkeil ist wohl traditionell (so Paulsen. aaO III f>. von Paulus jedoch auf charakteristische Weise verwendet. ~Zum Verhältnis von V. 18 und V. 19-27 vgl von der Osten-Sacken. Römer 8. 139-142. ~Die nachalttestamentlich-apokalyptische Theologie ist überhaupt der traditionsgeschichtliche Hintergrund der Verse 19-22. mit Paulsen. Überlieferung 112-119.
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lyptischen Katastrophe völlig verwandelt wird, sie wartet nur sehnsüchtig darauf, dass die Menschen endlich zu ihrer Wahrheit finden, dass aus den Feinden Gottes Söhne Gottes 7 werden. Offenbar leidet die SchöpfungK weniger an sich selbst als unter den Menschen. Dies wird im nächsten Satz begründet: »Denn der Nichtigkeit ist die Schöpfung unterworfen worden, nicht freiwillig, sondern um dessen willen, der (sie) unterworfen hat, - auf Hoffnung hin« (8,20). Die Schöpfung hat den Weg in ihre Nichtigkeit nicht freiwillig gewählt, diese Freiheit hätte sie auch gar nicht. Die Welt wurde der Nichtigkeit unterworfen, weil Adam es vorgezogen hatte, seine Freiheit gegen den Schöpfer zu verwenden. 9 Adam riss die ganze Welt in die Vergeblichkeit hinein; deshalb wartet sie jetzt auf die Rückkehr Adams zu seiner Wahrheit. Der Gedanke, dass Adams Fall die ganze Welt in die Tiefe gerissen hat, kommt auch in der zeitgenössischen Apokalyptik vor: »Als aber Adam meine Gebote übertrat, wurde das Geschaffene gerichtet: Da wurden die Zugänge in dieser Welt eng, leidvoll und beschwerlich, wenig und böse, voll von Gefahren und mit grossen Nöten behaftet« (4Esr 7, II b.l2). Wie bei Paulus wird hier ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem gegenwärtigen Zustand der Welt und der Sünde Adams. Weil Adam unter Freiheit die Übertretung des Gebotenen verstanden und sich statt als Geschöpf Gottes als dessen Feind gebärdet hatte, wurde die Welt in Bedrängnis gebracht - unfreiwillig 10, wie Paulus ausdrücklich festhält Solches ist mythologisch gedacht; es ist uns nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Und dennoch hat es uns manches zu sagen, wenn wir uns der Mühe des Verstehens unterziehen.
7 Es mag sein. dass Paulus hier unwillkürlich an die Christen denkt (so Wilckens. Römer. 152). Dennoch liegt hier der Ton nicht auf den Christen. sondern auf den Söhnen Gottes. auf denen also. die ihr Arbeitsverhältnis zu Gott überwunden haben, weil sie durch die Adoption (vgl Röm 8,15) das Lebensverhältnis der Kinder Gottes gefunden haben. MGemäss dem exegetischen Konsens ist hier bei ~ primär an die aussermenschliche Kreatur zu denken. auch wenn der Naturbegriff nicht »SO selbstverständlich angewandt werden (sollte), wie das der Modeme naheliegt•: so Käsemann, An die Römer 224. 9 Die Aussage ist unklar, namentlich im Blick auf die Frage, wer der Unterwerfende sei. Aus dem Zusammenhang der paulinischen Theologie und im Kontext der apokalyptischen Vorstellungen von Adams Fall legt sich meines Erachtens die Annahme am nächsten. Adam habe durch seine Sünde verursacht. dass Gott die Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen habe: zum Problem vgl Wilckens. Römer 154 (Anm 7). 10 Damit wird ausdrücklich festgehalten. dass von schuldhaftem Vergehen nur im Blick auf den Menschen. nicht aber im Blick auf die Konstitution der Schöpfung geredet werden kann. Zum Problem vgl Schlier. Der Römerbrief. 261.
2 Sensibilität für die leidende Kreatur
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Paulus gibt selbst wichtige Hinweise zum Verständnis jenes mythologischen Gedankens. Zunächst ist im mythologischen Gewand die Ahnung aufbewahrt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen menschlicher Verfehlung und dem Leiden der Kreatur. Diesen Zusammenhang bekommt wohl erst unsere Generation in den Blick, da erst jetzt die anthropogene Zerstörung der Welt in die Reichweite praktischer Verwirklichung gekommen ist. Wenn wir einmal davon absehen, dass die Schöpfung viel mehr umfasst als unseren Planeten, dann haben wir in der Tat eine Anschauung von der Zerstörung der Welt durch Adams Habgier. 11 Wir verstehen den Mythos vom urzeitliehen Sündenfall Adams, durch welchen die ganze Schöpfung in Mitleidenschaft gezogen wurde, nicht mehr im Sinne eines metaphysischen Automatismus, der den Zustand der jetzigen Welt erklärt. Dennoch enthält der Mythos eine bemerkenswerte Wahrnehmung. Offenbar ist mit dem Menschen ein Geschöpf in der Welt aufgetreten, das mit einer zwiespältigen Freiheit bedacht worden ist: dieses Geschöpf lebt nicht mehr in der Geborgenheit gesetzter Lebensbedingungen, und es lebt noch nicht in der Freiheit derer, die als Söhne Gottes ihr Dasein gestalten. Deshalb kommt es vor, dass der Mensch mit der Freiheit der Gottessöhne verwechselt, was in Wahrheit Zerstörerische Grenzüberschreitung ist. Dieses Geschöpf ist nicht mehr selbstverständlich eingeordnet in die Natur, und es ist noch nicht verwandelt in das Ebenbild des Schöpfers. Deshalb kommt es vor, dass der Mensch - verliebt in sein eigenes Bild - die Ordnung des Lebens mit Füssen tritt. Weiter: Paulus spricht von der Nichtigkeit (p.amlO't'1l;). der die Schöpfung seit Adam unterworfen ist. Zur Nichtigkeit vergleichen wir den folgenden Satz aus Röm 1,21: »Denn obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn nicht wie einen Gott gewürdigt noch ihm Dank gesagt, sondern wurden nichtig gemacht durch ihre Überlegungen, und ihr einsichtsloses Herz wurde verfinstert.« Die Rede ist hier davon, dass alle
11 Nicht dass unsere Habgier grössere Ausmasse erreicht häne! Die Handgreiflichkeit der zerstörensehen Kräfte der Sünde entstand nicht durch Steigerung. sondern lediglich dadurch. dass die technologischen Möglichkeiten der »Ausbeutung• der Weh exponentiell anwuchsen und dass die Menschheit zahlenmässig gewaltig zugenommen hat. Prinzipiell sind die zerstörensehen Kräfte jedoch dasselbe wie Adams Sucht nach der Steigerung des Lebens durch den Konsum aller (auch der verbotenen) Früchte des Ganens.
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Menschen Gott erkennen können aus den Werken der Schöpfung. 12 Doch ihre Erkenntnis hat keine Folgen: sie geben Gott nicht das Gewicht, die ~a, die ihm zustünde, sie geben ihm nicht den Dank, der ihm angemessen wäre. Eben dadurch werden sie selbst nichtig gemacht. Die Banalität der ungewürdigten Werke der Schöpfung und die Leere der nicht verdankten Gaben Gottes greifen auf die Menschen selbst über. Wer von Banalem umgeben ist, wird selbst zur Banalität. Und vom Menschen ausgehend verbreitet sich die Nichtigkeit in der ganzen Schöpfung, die - zum blossen Material entleert - nichts mehr bedeutet. Durch die Banalisierung der Welt wird der Mensch selber banal. Man kann diesen Gedanken ruhig etwas weiter denken: je banaler sich die Menschen vorkommen, desto mehr Material brauchen sie, um sich von ihrer Banalität zu distanzieren. und desto tiefer wird die Welt unter das Verderben versklavt. In diesem Zusammenhang können wir vielleicht verstehen. was Paulus in 8,21 sagt: »Denn auch die Schöpfung selbst wird befreit werden von der Versklavung des Verderbens zur Freiheit der Würde (&Ql), die die Kinder Gottes haben (oder: die ihr die Kinder Gottes zugestehen).«!.' Die Schöpfung ist unter das Verderben versklavt, weil sie durch Adams Versuch, mehr aus sich selbst zu machen als ein Geschöpf, verbraucht, verzehrt, vernichtet wird. Sie wird befreit werden zur Freiheit einer Würde, die ihr dann zugestanden wird, wenn Adam nicht mehr für seine Würde zu kämpfen hat. Weil Paulus solche weiten Zusammenhänge sieht, sieht er auch in der gegenwärtigen Unterwerfung der Schöpfung Hoffnung. 14 Es besteht Hoffnung. dass die Menschen herausgeführt werden aus der Verkehrung zur Wahrheit der
1 ~ Genauer heisst es im vorliegenden Kontext. dass alle Menschen die Macht und die Gonheil Gones erkennen könnten. wenn sie in ihrer Vemunfl bedächten. wessen Werke sie vor sich haben. Hier geht es nicht einfach um eine natürliche (und insofern selbstverständliche) Theologie. wohl aber um eine Theologie. welche die Gegebenheiten der Natur und der Menschenweh in ihrem wahren Gewicht erkennt: vgl Käsemann. An die Römer 35-40. 11 Die Ausdrücke .. versklavung des Verderbens« und »Freiheit der Würde« sind parallel zu verstehen. wobei die Genetive als genetivi epexegetici angesehen werden können: mit Wilckens. Römer 155 Anm 676: die Versklavung hat konkret die Gestall des Verderbens. das der Mensch über die Weh bringt. und die Freiheit hat konkret die Gestall der Würde. die entweder der Mensch hat (genetivus subiectivus) oder die vom Menschen ausgehl an die Weh (genetivus auctoris). Die Parallelität der beiden Ausdrücke spricht meines Erachtens eher für den genetivus auctoris. 1 ~ Die Schöpfung ist zwar unterworfen. jedoch nicht ohne die Aussicht auf Befreiung. mit Schlier. Der Römerbrief. 261 f.
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Kinder Gottes, aus der Versklavung unter ihre eigene Würde zu der Würde, die ihnen als Kinder Gottes zugestanden ist. Besteht diese Hoffnung? Paulus leitet sie freilich nicht daraus ab, dass es sie einfach geben muss, wenn die Welt nicht zugrunde gehen soll. Aus dem Seufzen der Kreatur leitet Paulus keine soleriologischen Ansprüche an die Menschen ab. Hoffnung besteht nicht etwa deshalb, weil der Mensch noch handlungsfahig genug ist, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Hoffnung besteht vielmehr, weil es in der Welt die Erfahrung der Kreativität gibt- ein paar Verse später wird sie genannt werden: moe~. Geist. Paulus erfuhr diese Kreativität Gottes an seinem eigenen Leibe, als er auf dem Gesicht des gekreuzigten Christus Gottes Glanz zu sehen bekam (2Kor 4,6). Er erfuhr die Kreativität Gottes am eigenen Leibe, als aus dem alten Leben in der Selbstrechtfertigung das neue Geschöpf des Gerechtfertigten wurde (2Kor 5,17). Nach Paulus ist es derselben Kreativität zu verdanken, dass das Universum ins Sein gerufen wurde (Röm 4,17). Die Erfahrung dieser Kreativität bringt ihn dazu, die Leiden der Gegenwart in äusserst gewagter Weise als sehnsüchtiges Warten der Schöpfung zu verstehen. Die Kreativität gibt Anlass dazu, auch in der Unterwerfung unter die Nichtigkeit ein hoffnungsvolles Geschehen zu sehen. Und diese Sichtweise lässt Sensibilität für den Zusammenklang des Seufzens und Stöhnens der Welt entstehen, Sensibilität dafür, dass der »Chor der Tiefe ... das Weltall (erfüllt)« 1s. Denn die Tatsache, dass es Kreativität gibt, verspricht, dass die ganze Welt aus ihrem Seufzen und Stöhnen befreit werden wird zu einer Freiheit, die dann entsteht, wenn Würdigung an die Stelle der Vernichtung getreten ist -eben dann, wenn aus den auf sich selbst beschränkten Menschen die Kinder Gottes geworden sind.
3 In der Gesellschaft der Weltbilder Halten wir hier für einen Augenblick inne, um uns die Eigenart der paulinischen Sicht der Welt im Zusammenhang damaliger Weltbilder zu vergegenwärtigen. Neben Paulus gab es die jüdische Apokalyptik 16,
1~
Käsemann. An die Römer 228. hVgl Müller. Apokalyptik 202-251 und Vielhauer. Apokalyptik. 413: »Dieser eschatologische Dualismus der zwei Äonen ist das wesentlichste inhaltliche Merkmal der Apokalyptik: 1
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die ein dezidiertes Weltbild entwickelt hatte. Es ist gekennzeichnet durch die Erfahrung der Negativität des gegenwärtigen Äons. Für die jetzige Weltzeit besteht keine Hoffnung ausser der, in einer apokalyptischen Katastrophe vernichtet zu werden, damit eine ganz neue Schöpfung an ihre Stelle treten kann. Die wahre Welt ist von der wirklichen Welt durch einen apokalyptischen Zusammenbruch geschieden. Die Erfahrung gegenwärtiger Negativität führte in der Apokalyptik zum Entwurf einer Gegenwelt, die am Ende der Zeit Wirklichkeit werden wird. Diese Weltzeit ist der Warteraum der Zukunft geworden, der Warteraum für die, die sich durch unbeirrtes Tun des Gesetzes hinüberretten in die wahre Welt der Gerechtigkeit. Die gegenwärtige Welt ist eine Wildnis, deren endgültige Vernichtung die grösste Hoffnung des Apokalyptikers ist. Paulus teilt mit dem apokalyptischen Weltbild manches. Doch er unterscheidet sich mindestens in dem einen Punkt von ihr, dass auch die Gegenwart nicht auf die Erfahrung sinnloser Negativität festgelegt ist, sondern dass gerade die gegenwärtige Welt geprägt ist von der Erfahrung göttlicher Kreativität. Deshalb hört er im Chor der Tiefe die Stimme der Hoffnung, deshalb sieht er in den Leiden der Gegenwart das sehnsüchtige Warten auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Neben Paulus gab es auch die Philosophie der Stoa, die sich intensiv mit den Leiden der Gegenwart befasste. Wer die Welt als »das lebendige Erzeugnis einer zwecktätigen göttlichen Vernunft betrachtete und in dieser ihren einzigen Erklärungsgrund fand, musste .. . auch die Zweckmässigkeit, Güte und Vollkommenheit dieses Universums behaupten«17. Selbstverständlich verstellte dies nicht den Blick für das Übel, unter dem Mensch und Welt zu leiden haben. Die Frage entstand, wie dies dem Weltbild der Vollkommenheit einzufügen sei.'" Einerseits wurde die Lösung vorgetragen, die Widrigkeiten der Welt würden erst schädlich durch den falschen Gebrauch, den der Mensch von ihnen mache. Andererseits wurden die Leiden der Kreatur eingeordnet in den grossen Zusammenhang universaler Notwendigkeit, sei es als Strafe der Vorsehung, die auf die Besserung der Menschen zielt, sei es als willkommener Anlass zur Ausbildung der Kräfte im Menschen, die solche Widrigkeiten überwinden können. Interessant an diesem Lösungsver-
... Erst muss das Alte völlig verschwinden. bevor das Neue ... sich etablieren kann .... Die Jenseitigkeil des kommenden Äons schliesst eine radikale Abwenung dieses Äons ... in sich.« 17 Windelband. Geschichte der Philosophie 166 (Hervorhebung gespern). IR Zum Folgenden vgl Windelband. Geschichte der Philosophie 167.
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such, der ja bis auf den heutigen Tag aktuell ist, scheint mir zu sein, dass aus dem Chor der Tiefe eine Symphonie himmlischer Harmonie wird, sobald man genügend weit von den Dingen entfernt ist. Je höher der Betrachter steigt, desto reiner erkennt er die Harmonie, auf die das Ganze letztlich gestimmt ist. Die Widrigkeiten der Welt gleichen Dickichten, die dem Betrachter aus der Nähe sinnlos erscheinen mögen, die jedoch ein schönes Muster in der Landschaft ergeben, sobald aus grosser Höhe auf sie hinuntergeblickt wird. Paulus teilt auch mit der Stoa vieles. insbesondere den Gedanken, dass alles Geschaffene aus dem einen Gott herkommt und auf diesen hin existien. 1Y Dennoch vermag er im Seufzen der konkreten Kreatur keine himmlische Harmonie zu vernehmen. Die Erklärung. der Pessimismus des Apokalyptikers habe ihn davon abgehalten, greift meines Erachtens zu kurz. Vielmehr muss Paulus auf ganz andere Weise als ein Stoiker in der Nähe des Einzelphänomens festgehalten worden sein, am ehesten wohl deshalb, weil er einem Zufall, Christus, sein Leben neu verdankte. Schliesslich begegnet uns in manchen gnostischen Texten eine elegante Lösung unseres Problems. 20 Die gesamte geschaffene Welt wird auf den Demiurgen zurückgeführt, den Schöpfergott, dessen Werk weil es Materie ist - prinzipiell mangelhaft ist. Der Demiurg ist Gegenspieler des guten Gottes, dessen Wesen das Pneuma ist. Des Demiurgen Schöpfungswerk war es, die Funken des guten Geistes in die Materie zu bannen; so entstand der Mensch, im Kern Geist, der in die körperliche Materie eingesperrt ist. Hier bildet sich eine völlige Diastase zwischen der geistlosen Welt und dem weltlosen Geist. Die Schöpfung kann nicht auf Befreiung hoffen; ihre Leiden sind nicht sehnsüchtiges Wanen auf Vollendung, sondern Indiz für die Unfähigkeit des Demiurgen. Nicht zufällig strich Markion die Verse 19-22 aus seiner Version des Römerbriefes.21 Die Welt erscheint hier als eine Wüste, die mit beinahe unüberwindlichen Mauem umgeben ist, um den Geist gefangen zu halten. Während also die gegenwärtige Welt dem Apokalyptiker zur heillosen Wildnis gerät, während sie dem Philosophen von hoher Wane aus
1 ~ Vgl I Kor M.6 und Conzelmann. I Kor 171 f. der 'owohl auf den .. stoischen Pantheismus .. im Hintergrund hinweist al\ auch auf die chrio,tologische Fundamentierung des \loischen Bckenntni"e' durch Paulu,. ~"Zum Ganzen vgl Rudolph. Gno'i' 76-131 IZu,amrnenhang der dualisti..chen Kosmologie mll einer ento.prechenden Anthropologie). ! 1 Hamack. Mareion 60.10M*.
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betrachtet eine harmonische Landschaft wird, während sie der Gnostiker zum eingemauerten Stück Wüste erklärt, könnte man im Blick auf Paulus vielleicht sagen, die Welt sei in seinen Augen ein »Verwilderter Garten«.22 Die Metapher des verwilderten Gartens mag dazu anleiten, in dem, was in der Welt Leben gewährt, eine Erinnerung an den schöpferischen Gott zu erkennen, und zugleich Augen zu haben ftir die lebensfeindliche Verwilderung, die die Kreatur auf mancherlei Weise bedrängt. Diese Metapher widersteht jeder Ökoideologie, welche zwar viel von den Schandtaten des Menschen zu erzählen weiss, jedoch kaum Augen hat für die Gebrochenheil der Welt, und nicht selten das Natürliche zum Inbegriff des Guten macht. Die Welt- ein verwilderter Garten. Durch diese Metapher wäre vielleicht verstehbar, warum Paulus auch den Chor der Tiefe als Indiz für kommende Vollendung versteht. Denn dessen Klage über die Verwilderung ist eine weltnahe Gestalt, für den geahnten Garten Dankbarkeit zu zeigen. Die radikale Lösung, die in gnostischen Texten getroffen wurde, macht dagegen auf die klare Alternative aufmerksam: angesichts des Zustands der Welt kann man entweder die Welt verabschieden, um an den Gott des Evangeliums zu glauben - so etwa Markion - , oder man kann Gott verabschieden, um die Welt denkerisch zu ertragen- so die Lösung nicht weniger Menschen der Neuzeit. Paulus war beides verwehrt: die Welt konnte er nicht verabschieden, weil selbst der Gottessohn den Weg zu ihr unter die Füsse genommen hatte, Gott mochte er nicht verabschieden, weil ihm selbst aus der kreuzesgestaltigen Tiefe der Welt das Licht göttlicher Kreativität leuchtete. Deshalb der verwilderte Garten, ein Weltbild, das der Sensibilität für das Leiden der Kreatur nicht im Wege steht und das dennoch den Ursprung der Kreatur in Erinnerung zu halten erlaubt.
~z Fu<:h~. Hermeneutik: .. Weh kann m der Natur vers<:hwinden. 1.B. ein Garten. der immer 'tärker verwildert. Dann hat da-. Dasein ausgespro<:hen. Der Garten wurde tur Wildnis.« ln diesem Zusammenhang i-.t au<:h deutli<:h. dass es si<:h hci der Metapher des verwilderten Garten~ ni<:ht um eine kn~mnlngi'i<:he. -.nndern um eine existentiale Bestimmung handelt. Evnlutinn~theoreti'i<:h ist sie -.clh,tver,tändli<:h ni<:ht gemeint. wnhl ahcr eignet sie si<:h. das mens<:hli<:he Da,ein in der Welt /Um Au\dru~.:k lU hringen.
4 Mensch und Welt
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4 Mensch und Welt Im zweiten Überlegungsgang wendet sich Paulus der Stellung des Menschen in dieser Welt zu, genauer der der Glaubenden. »Nicht allein aber (sc seufzt die Schöpfung, so ist die Ellipse wohl aufzulösen), sondern auch die, die die Anzahlung des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in unserem Inneren, sofern wir Sohnschaft erwarten, die Erlösung unseres Leibes« (V. 23). Durch die Ellipse wirkungsvoll unterstrichen, deutet Paulus die Steigerung an: nicht nur die Schöpfung, sondern auch wir, die Geistbegabten, stimmen ein in den Chor der Tiefe. Die Gabe des Geistes hat den Charakter der cimP%11, einer Erstlingsgabe, 23 die das Ganze schon in sich schliesst. Das JtVE'ÜJ.&a steht für göttliche Geistkraft, göttliche Kreativität. Die Anwesenheit göttlicher Kreativität in der Gestalt des Geistes verspricht, dass sie einst in ihrem vollen Umfang erscheinen wird. Unverkennbar ist, dass die Gegenwart des Geistes den Glaubenden gerade nicht erlaubt, sich aus dem Zusammenhang des Seufzens der Kreatur davonzustehlen. Im Gegenteil: gerade der Geist geleitet die Menschen in die Solidarität des Klagens. 24 Das Seufzen, das im Ionern der Menschen entsteht, ist deshalb kein geistloses, sondern ein geistreiches Seufzen. Dabei läge es für die Geistbegabten nur zu nahe, das Seufzen der Kreatur als Ausdruck ihrer Geistlosigkeit zu deuten. Die Emanzipation der Geistbegabten von der geistlosen Natur steht gleichsam vor der Tür. Solcher Emanzipation ist Paulus schon bei den Enthusiasten in Korinth begegnet, welche im Namen des Geistes das Sein in der alten Welt übersprangen. Später gibt es diese Emanzipation in gnostischen Systemen, wo die Erkenntnis seiner Geistnatur einen Keil treibt zwischen Mensch und Welt, zwischen wahres Selbst und fremden Körper. Es ist die Emanzipation des Menschen von der Welt der Materie im Namen Gottes des Geistes. Es ist die Emanzipation vom Schöpfergott im Namen des Erlösergottes. Hat diese Emanzipation nicht ein merkwürdiges Gegenstück in der Neuzeit? Da gibt es doch die Emanzipation vom
21
Zur Bedeutung dieses Ausdrucks, der in theologischer Hinsicht parallel zum paulinischen
cipplljlli" (Anzahlung) steht. vgl Schlier, Der Römerbrief 264. Wichtig an dieser Metapher ist,
dass die Anzahlung den Grund für die Zahlung des vollen Betrags legt. 24 Käsemann, An die Römer 229 verweist in diesem Zusammenhang mit Recht auf die Kreuzestheologie, mit der Paulus »gegenüber der Schwärmerei der irdischen Realität den schuldigen Tribut gezollt und uns in die Gefolgschaft des leidenden Christus gestellt" hat.
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Geistreiches Seufzen
Geist im Namen der Materie. Da gibt es doch ungeheure Anstrengungen zur Weltverbesserung, zur Humanisierung der Natur, Anstrengungen, welche den Schöpfergott praktisch zum niederen Demiurgen erklären. Da gibt es doch den Menschen, der als einziger der übrigen Kreatur entgegentritt, indem er bloss nach seinem Recht und nach seinen Wünschen fragt, und also nicht nach dem Anspruch, den seine Mitgeschöpfe an ihn haben. Wie dem auch sei, Paulus ist den emanzipatorischen Weg nicht gegangen. Denn für ihn führt die Geistesgegenwart in dasselbe Seufzen, das auch die Schöpfung durchzieht. Das Kommen des Geistes hält nicht zum grossen Exodus an, weder zum religiösen Exodus in die Verabschiedung der Welt, noch zum irreligiösen Exodus in die praktische Ausbeutung der Welt. In dieselbe Richtung weist das, was die Anzahlung des Geistes verspricht: die Erlösung des Leibes. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert herein wird dieser Ausdruck so interpretiert, als ob er Erlösung vom Leibe hiesse. 25 Doch genau daran denkt Paulus hier nicht. Denn der Geist verspricht nicht die Auswanderung aus dem Leib, sondern die Erlösung des Leibes zu wahrer Leiblichkeit. Versprochen ist nicht der Abschied vom geschaffenen Leib, sondern dessen Wiederherstellung, dessen Rückführung in die Kreatürlichkeit. Erlösung kann sich Paulus nur als Geschehen am Leib vorstellen, etwa als Schritt vom »psychischen Leib« zum »pneumatischen Leib« (I Kor 15,44 ). Leibhaftigkeil bedeutet bei Paulus, in einem Verhältnis zu stehen zu sich, zu andem und zu Gott, ein Organismus zu sein, der im Frieden mit sich und der Welt lebt. 211 Diese Leibhaftigkeil ist unter den Umständen der Gegenwart gestört: an die Stelle des Verhältnisreichtums tritt häufig die Verhältnislosigkeit, an die Stelle des Friedens tritt häufig der Krieg gegen Gott und die Welt. Erlösung des Leibes bedeutet deshalb die Befreiung des Menschen zur Leibhaftigkeit. Oder die Befreiung des Menschen von emanzipativer Verhältnislosigkeit zum Sein im Ganzen der Schöpfung, zum Sein in der Freiheit der Kinder Gottes. Diese Erlösung ist nicht Wirklichkeit, sie wird vielmehr erwartet und erhofft. Die Gegen2~ Zur Untennauerung dieser Deutung wird häufig der »genetivus separationis« (dazu Kä· semann. An die Römer 229) bemüht. Noch Lietzmann. An die Römer 84. übersetzt mit ,.die Erlösung von unserem Leibe«. Dass der vorliegende Genetiv nur im Sinne der Erlösung des Leibes aufzulösen ist. geht deutlich aus der somatischen Gestalt des Auferstehungslebens in IKor 15.44 hervor. 2Kor 5.8-10. das oft als Argument herangezogen wird. hat ein anderes Thema. die nackte Erscheinung vor dem Richterstuhl Christi. u. Zum Problem vgl Weder. Leiblichkeit oben 229-235.
5 Die Hilfe des Geistes
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wart demgegenüber ist geprägt von der Geduld der Hoffnung (wie Paulus in V. 24f ausführt), beziehungsweise von der Solidarität des Seufzens. An anderer Stelle unterscheidet Paulus zwischen dem Schauen Gottes, das am Ende gewährt sein wird, und dem Glauben an Gott, welches das jetzige Leben zeichnet.n Indem Paulus die Gegenwart als Zeit der Hoffnung auf die Erlösung des Leibes zu verstehen gibt, gelingt es ihm, dem Menschen ein entspanntes Verhältnis zur Lebenswirklichkeit zuzuspielen. »Wenn wir erhoffen, was wir nicht sehen, stehen wir in geduldiger Erwartung« (V. 25). Die Heilsansprüche an das Jetzt werden bearbeitet durch die Hoffnung auf kommende Erlösung. Das Jetzt hat nicht die Qualität, das menschliche Leben zur Vollendung zu bringen. Damit wird die menschliche Verspannung ins Jetzt oder Nie bearbeitet. Die Vertröstung auf das diffuse Dann wird unterlaufen durch die Geduld, die das Erhoffte ins Jetzt hereinzieht. Die Vollendung, die im Dann erhofft wird, erstreckt sich bis ins Jetzt herein, sei es in der Gestalt der Hoffnung, deren Frucht die Geduld des Wartens ist, sei es in der Gestalt des Geistes, der die Menschen in den Chor der Tiefe einstimmen heisst. Damit wird der menschliche Exodus ins Dann bearbeitet. Der kreative Geist überwindet in dieser Weise sowohl die Verspannung ins Jetzt als auch den Exodus ins Dann.
5 Die Hilfe des Geistes War in V. 19-22 das Seufzen der Kreatur, in V. 23-25 das Mitseufzen der Geistbegabten das Thema, so wendet sich Paulus jetzt dem Geist selbst zu (V. 260. Nicht bloss die Kreatur, nicht nur der Mensch, sondern auch der Geist äussert sich in unsagbarem Seufzen. »In gleicher Weise aber kommt auch der Geist unserer Schwachheit zu Hilfe (oder: hilft er unserer Schwachheit auO. Denn was wir beten sollen, so wie (gebetet werden) muss, wissen wir nicht, aber er, der Geist, tritt für uns ein durch unaussprechliches Seufzen« (V. 26 ).
n Vgl 2Kor 5.7: »Denn durch Glauben führen wir unser Leben. nicht durch Schauen.« Oder I Kor 13.12. wo zwischen dem jetzigen Sehen »wie durch einen Spiegel auf ein Rätselbild« und dem künftigen Schauen »von Angesicht zu Angesicht« unterschieden wird. Die Kontinuität zwischen dem Jetzt und dem Dann wird so beschrieben: jetzt erkenne ich Stückwerk. dann aber werde ich so erkennen. wie ich erkannt wurde (durch Gott. nämlich: ganz): I Kor 13.12.
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Nicht ohne weiteres verständlich ist, was der Geist mit unserer Schwachheit tut. Unwillkürlich versteht man die Wendung cruvav't1.).a~vE1U\ 't'fl da&ve~ TJ,uDv so, dass der Geist unsere Schwachheit beseitigt. Gernäss dem Wortlaut und dem Duktus des Satzes trifft dies jedoch nicht zu; 28 der Geist hilft vielmehr insofern der Schwachheit auf, als er sie als Schwachheit vor dem höchsten Thron vertritt. Statt sie zu beseitigen, richtet er die Schwachheit auf. Was meint hier dc:J'&2nux? Aus dem vorliegenden Satz geht zunächst hervor, dass die Unfähigkeit zu beten gemeint ist, die Unfähigkeit, so zu beten, wie es Gott entsprechen würde. Wie verwandelt man das Seufzen der Kreatur in ein Gott adäquates Gebet? Das besorgt der Geist, jedoch nicht indem er das Gebet der Schwachheit in ein Gebet der Stärke verwandelt, nicht indem er das Seufzen der Kreatur zum Lobpreis göttlicher Harmonie werden lässt. Nein, auch der Geist trägt nichts anderes als das Seufzen vor Gott, und eben so tritt er für die Schwachheit der Kreatur ein. Schwachheit begegnet im vorliegenden Abschnitt auch darin, dass der Mensch nicht die Macht hat, leibhaftiges Leben sich selbst zu erwirken, sondern dass er auf die Erlösung des Leibes hofft. Schwachheit meint bei Paulus auch das menschliche Sein, das die Signatur des irdenen Gefässes hat (2Kor 4,7f0. 29 Schwachheit meint jene Zerbrechlichkeit des Lebens, in der göttliche Kraft zur Vollendung kommt (2Kor 12,9). Schwachheit ist ganz einfach die Signatur des geschöpfliehen Seins. Gegen den allgegenwärtigen Zwang zur Stärke, sei es als Macht der Zeichengebung, sei es als Kraft zu imposanten Werken des Gesetzes, gegen diesen Zwang zur Stärke hält Paulus die Schwachheit für eine aussichtsreiche Lebensform. Gerade ihr hilft der Geist so, dass er sie zum Zuge kommen lässt. Zu überlegen wäre wohl, ob die Schwachheit nicht auch eine aussichtsreiche Lebensform wäre im Umgang des Menschen mit der Welt. Viele Untergangspropheten appellieren dagegen an die Stärke des Menschen, an übermenschliche Anstrengung zur Rettung der Welt. Es ist begreiflich, dass angesichts der Zerstörung soleriologische Hoffnungen
~KZur Wortbedeutung von cnwa~v!GGIIL vgl Bauer. s.v. und 81-Debr § 202 (»die Hand reichen«. ,.zu Hilfe kommen«, usw). Dass daraus geschlossen werden kann. der Geist komme uns M't'Rt'n unserer Schwachheil zuhilfe (so Schlier. Der Römerbrief 268). gehl aus dem Text nicht hervor. wo vielmehr die Schwachheil eindeutig das ist. welchem aufgeholfen wird. ~ 9 Zu dieser Existenzfonn im Horizont der Kreuzestheologie vgl Schrage. Leid 141-175.
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an die Menschen geknüpft werden. 30 Doch immerhin müsste zu bezweifeln erlaubt sein, dass so der Zerstörung gewehrt werden kann. Ist die Macht, die jetzt alles zum Guten wenden soll, nicht aus demselben Holz geschnitzt wie die, die manches ins Schlechte gewendet hat? Ist es nicht die Machtförmigkeit unserer Kultur, die für das gestörte Verhältnis zur Schöpfung verantwortlich ist? Gewiss, die Machtförmigkeit unseres praktischen Umgangs mit der Welt ist gegenwärtig in aller Bewusstsein getreten. Und es sieht so aus, als ob die notwendig gewordene Umkehr ein Problem des Handeins wäre, ein ethisches Problem also. Von Paulus aus gesehen müsste man sich allerdings die Frage stellen, ob die Machtförmigkeit nicht zu spät bekämpft wird, wenn sie erst im Handeln bekämpft wird. Wichtiger wäre es wohl, auf die Machtförmigkeit des Sehens, auf die Machtanwendung im Erkenntnisvorgang aufmerksam zu werden. Zu hoffen wäre auf eine Kehre in der Machtförmigkeit des Denkens: auf die Kehre vom denkerischen Zugriff auf die Welt zum nachdenklichen Ionewerden der Welt als Grundlage allen Lebens. Vielleicht wäre es an der Zeit, der Macht ganz den Rücken zu kehren, der guten ebenso wie der bösen, und auf den Aussichtsreichtum der Schwachheit zu setzen, einer Schwachheit, die darauf hoffen kann, vom höchsten Geist unterstützt zu werden. Dann wäre die primäre Lebensfrage nicht mehr, zu welchen Umkehrleistungen wir uns aufschwingen können, sondern welchen Kräften wir uns auch im Denken aussetzen, um der Kreativität des Geistes teilhaftig zu werden. Wie dem auch sei. Paulus gibt in diesem Abschnitt den Geistreichturn des Seufzens zu erkennen. Die Alternative zwischen der Sicht, die die Modeme - vertreten durch Marx - hat, und dem paulinischen Bild der Welt ist wohl tatsächlich elementar: die religiöse Wahrnehmung der Welt auf der einen Seite, die postreligiöse Bearbeitung der Welt auf der andem Seite. Die Alternative zwischen religiöser und postreligiöser Wahrnehmung der Welt ist keine Frage des Fortschritts, sondern eine Frage elementarer Evidenz. Die religiöse Wahrnehmung gewinnt Sensibilität für das, was die Welt sagt, und wenn es das Seufzen der Kreatur wäre, die postreligiöse sieht in der Welt das Material, dessen sich der Mensch zur werktätigen Herstellung seiner selbst bedient. Die religiöse Wahmehmung versetzt gerade den geistbegabten Menschen in den Zusammenhang der Schöpfung, und wenn es der Zusammenhang IQ Zu den neuerlichen soleriologischen Ansprüchen an den Menschen vgl Timm. Weltweis· heit 350f.
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der Klage über das Leiden und desWartensauf die Erlösung des Leibes wäre, die postreligiöse sieht im Menschen den einzigen potentiellen Retter, dem sie es zutraut, die Kräfte seiner Destruktivität ins Gegenteil wenden zu können. Die religiöse Wahrnehmung erkennt in der Gegenwart göttlicher Geistkraft das, was Schwachheit zu einer aussichtsreichen Lebensform macht, die postreligiöse sieht im Geist - wenn überhaupt - höchstens noch den Antrieb zu übermenschlicher Stärke. Es ist schwer zu sagen, welche Sicht der Welt und dem Leben gerechter wird, die religiöse oder die postreligiöse. Es ist jedoch nicht schwer zu sagen, dass in Zukunft menschliches Leben in hohem Masse davon abhängt, ob der Mensch der Welt gerecht wird oder nicht.
Einblick ins Menschliche Anthropologische Entdeckungen in der Bergpredigt 1 Die folgenden Überlegungen gelten dem Phänomen des Menschlichen. Dass in der Theologie anthropologische Themen verhandelt werden, ist nicht selbstverständlich. Skepsis meldet sich zu Wort. Problematisch erscheint einerseits, dass die Theologie, wenn sie vom Menschen zu sprechen beginnt, nicht mehr bei ihrem eigentlichen Thema, bei Gott, ist. Problematisch erscheint andererseits, dass die Theologie, wenn sie dem Menschlichen auf die Spur zu kommen sucht, ihre Kompetenzen überschreitet. Für das Menschliche scheinen die Humanwissenschaften zuständig zu sein. Diese zweifache Problematik macht zwei Vorbemerkungen notwendig.
0 Vorbemerkungen 0.1 Anthropologie statt Theologie Wer in der Theologie nach dem Menschlichen fragt, setzt sich dem Vorwurf aus, »blosse« Anthropologie zu betreiben. Noch ist es nicht lange her, dass Ludwig Feuerbach die Behauptung aufgestellt hat, das Geheimnis der Theologie sei nichts anderes als die Anthropologie. 2 Feuerbach, der religionskritische Theologe, meinte damit, das Geheimnis all dessen, was die Theologie über Gott sagt, sei darin zu sehen, dass sie in Wahrheit über den Menschen spricht. Weil dies das Geheimnis der Theologie sei, müsse sie - so Feuerbach - unverzüglich 1 Mit den folgenden Überlegungen soll Joachim Gnilka gedankt werden für seine exegetische und theologische Arbeit. Seine Auslegung der Bergpredigt im kürzlich erschienenen Matthäuskommentar (Matthäusevangelium I) zeichnet sich aus durch seine intensive Beschäftigung mit der Frage nach der Verbindlichkeit neutestamentlicher Überlieferung. Verbindlichkeit gewinnt Jesus in der Wahrnehmung der Evangelien. Es ist demnach sorgfaltig auf die Verslehenshinweise zu achten. die die erste Wirkungsgeschichte Jesu in den Evangelien im Blick auf das Verbindliche gibt. Dies soll im Folgenden versucht werden. wobei das Augenmerk besonders auf die anthropologische Verbindlichkeit gerichtet werden soll. 2Feuerbach. Wesen 250.
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in Anthropologie verwandelt werden. Ausdrücke wie etwa »Vater« oder »Finger Gottes« wären dann nicht menschliche Bilder für Gott. sondern umgekehrt wären alle Gottesaussagen göttliche Bilder für den Menschen. Theologie wäre die Selbstreflexion des Menschen. Angesichts der Bergpredigt freilich ist es nicht sinnvoll, Theologie in Anthropologie zu verwandeln. Denn die Bergpredigt ist Buchstabe für Buchstabe gezeichnet von der Berührung durch das Heilige. Wie kaum ein anderer Text legt sie Zeugnis ab von der Begegnung des Menschen mit Gott. Doch bei einer solchen Begegnung mit Gott kommt es auch zum Einblick ins Menschliche. Der Theologie ist seit langem bekannt, dass Gotteserkenntnis die Menschen stets zur Selbsterkenntnis angehalten hat. Jesus, der Bergprediger, benennt mit dem Wort Gott Phänomene, die schlechthin ausserhalb menschlicher Reichweite liegen: die Kreativität, die Beseitigung aller Not, die unbedingte Feindesliebe. Jesus konzentriert sich ganz auf das Licht Gottes, und eben in diesem Licht ergeben sich nicht nur Einsichten ins Göttliche, sondern auch Einblicke ins Menschliche. In diesem Licht kommt es zu einem Nachdenken über das Menschliche, das sich nicht bloss aus der Selbstreflexion des Menschen ergibt. Statt sich selbst zu betrachten, ist der Mensch berührt durch eine ihm schlechthin fremde Macht. Ins Licht Gottes gestellt erscheint der Mensch in einem andem als seinem eigenen Licht. Dies ist in der Tat das anthropologische Geheimnis der Theologie. Dieses Geheimnis ginge aber auf der Stelle verloren, würde man Feuerbachs Spuren folgen. 0.2 Geschichtliche Anthropologie Eine zweite Vorbemerkung gilt dem hier gewählten Vorgehen, Aussagen über das Menschliche aus einem religiösen Text der Vergangenheit zu gewinnen, aus einem historischen Text also. In der Modeme werden anthropologische Erkenntnisse üblicherweise von den Humanwissenschaften geliefert. Diese gehen entweder empirisch vor wie etwa im Falle der Sozialwissenschaften, oder sie gehen naturwissenschaftlich vor wie etwa im Falle der Humanbiologie. In beiden Fällen werden Erkenntnisse so gewonnen, dass Wesensmerkmale des Menschen durch Verallgemeinerung aufgrund von vielen Einzeldaten herausgearbeitet werden. Auf diesem Wege gelangt man zu einem System des Menschlichen.
0 Vorbemerkungen
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Demgegenüber konzentrieren wir uns im Folgenden auf ein historisches Einzelphänomen, den Text der Bergpredigt, um etwas über den Menschen zu erfahren. Wir treiben also- mit Carl Friedrich von Weizsäcker zu reden - »geschichtliche Anthropologie«.·' »Geschichtliche Anthropologie kann sich konkret nicht in einem System des Menschlichen, sondern nur in einem 'Garten des Menschlichen' darstellen.« 4 Der Garten steht für ein Stück Land, in welchem es viele Wege und noch mehr Blumen und Sträucher gibt. Uns geht es nicht darum, das architektonische Prinzip dieses Gartens zu durchschauen, sondern vielmehr darum, uns einer einzigen, wie mir scheint schönen und fremden, Blume zuzuwenden, die diesen Garten ziert. Gewiss kann auch dieses Vorgehen beanspruchen, empirisch zu sein, allerdings in dem Sinne, dass wir versuchen werden, statt einer Vielzahl von Daten eine Einzelerfahrung des Menschlichen in ihrem Gewicht zu verstehen. Es ist nicht sinnvoll, diese geschichtliche Anthropologie gegen die herrschenden anthropologischen Systeme auszuspielen. Wichtig ist wohl, die Unterschiede zu kennen. Eine Differenz soll hervorgehoben werden. Ein naturwissenschaftlich oder empirisch gewonnenes System des Menschlichen kann den Anspruch erheben, für alle Menschen gültig zu sein. Es definiert den Menschen, und zwar gleichgültig wie dieser sich zur Definition verhalten mag. Wenn die Humanbiologie den Menschen als Säugetier definiert, so ist dabei unmassgebend, ob der einzelne Mensch sich in dieser Definition wiederzuerkennen vermag. Anders die an einer Einzelerfahrung orientierte Anthropologie. Sie wird zwar auch Aussagen machen, die über diesen Einzelfall hinaus Geltung haben. Die allgemeine Geltung solcher Aussagen kommt jedoch nur so zustande, dass viele Menschen sich in dem Bild wiedererkennen, das von ihnen gezeigt wird. Die allgemeine Geltung kann nur durch allgemeine Zustimmung~ erreicht werden. Die an historischen Einzelerfahrungen gewonnenen Einsichten ins Menschliche haben deshalb einen prinzipiell anredenden Charakter. Sie sind angewiesen auf die Zustimmung der Menschen, denen sie vorgebracht werden. Werangesichts der Bergpredigt Einblick ins Menschliche gewinnen will, betreibt eine an-
'Weizsäcker. Ganen 15·21. Ganen 15. ~Einverständnis isl deshalb eine fundamentale Kategorie dieser An von Anthropologie. Sie ist in ihrem Zentrum verbunden mil dem elementar hermeneutischen Ansatz der Theologie. Zum Phänomen des Einverständnisses vgl Stuhlmacher. Verslehen 222·225. ~weizsäcker.
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sprechende~>
Anthropologie. Eine Anthropologie, in welcher die Menschen nicht definiert, sondern um Zustimmung gebeten werden. 7 Vielleicht ist dies eine besonders menschliche Weise, sich über das Menschliche zu verständigen. In dieser Anthropologie wird jedenfalls das menschliche Subjekt nicht verflüchtigt. 8 Vielmehr erhält es einen Daseinsraum dadurch, dass es auf das Menschliche angesprochen wird.
l Aussichtsreiche Leidenschaften Zuerst wenden wir uns zwei Phänomenen zu, welche nach antikem Verständnis zu den menschlichen Leidenschaften gehören: der Trauer und dem Mitleid. Beide erscheinen in den Seligpreisungen (Mt 5,4.7). Ich gehe davon aus, dass die Seligpreisungen keine verkappten Mahnungen, sondern ein Wort zur Situation des Menschen sind,9 ein Wort, das - in unserem Falle - die Trauer und das Mitleid ins Licht der Gottesherrschaft treten lässt. 1.1 Trauer Die Seligpreisung der Trauemden stellt einen Zusammenhang her zwischen Trauer und Trost: Selig, die (jetzt) trauern, sie werden (in der Gottesherrschaft) getröstet werden. Der Trauer wird ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Gottesherrschaft zugesprochen. Was haben die Trauer, welche uns als ein Indiz für versehrtes Leben erscheint, und die ~Dazu Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch 290-317. Die anthropologischen Konsequenzen des prinzipiell als anredend wahrgenommenen Gottes sind grundsätzlich darin zu sehen. dass der Mensch als Hörender sein wahres Wesen gewinnt .. oas wahre Sein des Menschen isl seine durch ein ihn anredendes Won ermöglichte Entsprechung zu der in Jesus Christus geschehenen Bewegung Gottes herab zum Menschen« (aaO 316). 7 Zur Bitte als fundamentaler Sprachform des Evangeliums vgl Weder. Hermeneutik 325330. xBesonders deutlich wird dies in der Rechlfenigungslehre. •Rechlfenigung des Sünders isl demgegenüber dasjenige Ereignis, das den Menschen definitiv in ein Verhähnis bringt, das ihn auf ein Gegenüber bezieht« (Jüngel. Der Gott entsprechende Mensch 299). 9 Zur Begründung vgl Weder. Rede. Gerade wenn die Seligpreisungen vom irdischen Jesus her in den Blick genommen werden. isl dies besonders klar: •für Jesus isl der unbedingte. kategorische Heilszuspruch an Menschen. die in einem heillosen Zustand sind. das entscheidende« (so Luz. Matthäus I 204). Ähnlich verslehr auch Gnilka, Mauhäusevangelium I 130: •Jesu Makarismus isl im Vollsinn Zusage des eschatologischen Heils, und zwar so. dass er nicht an menschlichen Leislungen oder religiösen Bedingungen anknüpft Die Armen sind die wirklich Armen. denn sie sind gleichzeitig die Hungernden und die Weinenden.«
I Aussichtsreiche Leidenschaften
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Gottesherrschaft, welche als Zeit des vollendet erfüllten Lebens gilt, miteinander zu tun? Etwa bloss dies, dass die Gottesherrschaft gegenwärtige Defizite ausgleichen wird? Worin bestünde dann die jetzige Seligkeit der Trauernden? Seligkeit kann Trauer nur bedeuten, wenn sie ein unmittelbares Verhältnis zur Gottesherrschaft hat. 10 Diesem Verhältnis kommen wir auf die Spur, wenn wir uns das Phänomen der Trauer vor Augen halten. Auch in antiken Texten wird das Wort »trauern« oft im Zusammenhang mit einem Todesfall gebraucht. Der Tod kann mir einen Menschen entrissen haben, der zu meinem Leben gehörte und dessen Dasein zu meiner eigenen Lebendigkeit beitrug. Trauer entsteht, wo Lebendigkeit entzogen worden ist. Trauer äussert sich in Weinen und Klagen." Weinen und Klagen sind die Zeichen eines vom Verlust betroffenen Lebens. In der Trauer gewinnt die Leidenschaft für die Ganzheit des Lebens Ausdruck. Trauern ist beschwerlich. Umso begreiflicher ist der Wunsch, der Trauer aus dem Wege zu gehen. Namentlich in der stoischen Literatur erscheint es als wichtiges Ziel weiser Lebensführung, sich von Trauer freizumachen. 12 Die Trauer entsteht, weil der Mensch in Abhängigkeit von Gütern und Menschen existiert. Die Trauer entsteht, weil die weise »Distanz zum Faktischen« fehlt. 13 Könnte der Mensch davon unabhängig werden, bräuchte er nicht mehr zu trauern. Denn der Entzug trifft nur den, der auf anderes angewiesen ist. Wer trauert, macht sich zu viel aus Menschen und Dingen. Die Unfähigkeit zu trauern gehört hier zur Kultur des Weisen. Jesus dagegen heisst die Trauemden selig, weil sie in ihrer Trauer auf den Trost der Gottesherrschaft eingestellt sind. Nur Trauemde kön-
10 Auch Hoffmann, Studien 325f sieht diesen Zusammenhang. freilich vennittelt durch das zum Evangelium passende Auftreten der Boten: »ln ihrer Existenzweise demonstrieren sie schon das Programm des Friedens und der Feindesliebe. das sie ihren Hörern im Namen des Menschensohnes Jesus vorlegen« CaaO 326). Es wäre allerdings sinnvoll gewesen. diesen Sachverhalt stärker gegen ethisches Missverständnis abzugrenzen. 11 So die entsprechende Seligpreisung bei Lk 6.21 b, der mit dem Gegensatz »Klagen - Lachen• wohl die ursprüngliche Fassung der Logienquelle und insofern den jesuanischen Wonlaut bewahn hat: dazu Schulz. Spruchquelle 77f. 12 Dazu Buhmann. An. av~. av"_ 41,8-25. 11 Dazu Vollenweider. Freiheit 16f. der weniger die Autarkie des stoischen Weisen als die Einordnung des Menschen in den übergeordneten Zusammenhang der Weltordnung betont. »Die Freiheit ist für die Stoa so wenig wie flir Paulus Indifferenz im Sinne von Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit. wohl aber tiefe. gerade das Wesen des Menschen ausmachende Distanz zum Faktischen.«
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Einblick ins Menschliche
nen getröstet werden. Nur in der Leidenschaft für das unversehne Leben sind die Menschen auf eben dieses erfüllte Leben eingestellt. Deshalb ist die Trauer eine aussichtsreiche Leidenschaft. So schmerzlich sie sein mag, so gewiss ist sie ein Indiz einer in die Gegenwan hereinragenden Seligkeit. 14 An der Tatsache, dass Menschen in Trauer verfallen, ist nicht bloss die Sinnlosigkeit ihres Lebens ablesbar. Die Trauer ist lesbar als eine Spur, die der Schöpfer ins Lebendige gelegt hat, und als ein verhaltener Hinweis auf das unversehne Leben in der Gottesherrschaft. Und die Trauer ist eine Spur dessen, dass man sich niemals zu viel aus den Menschen und Dingen machen kann. 1.2 Mitleid Auch die zweite aussichtsreiche Leidenschaft begegnet in den Seligpreisungen: »Selig die Mitleid üben, denn sie werden Mitleid finden« (Mt 5,7). Mitleid hat, wie etwa der hellenistische Sprachgebrauch zeigt, ein gespanntes Verhältnis zur Gerechtigkeit. Wenn es dem Angeklagten gelingt, den Richter zu Mitleid zu bewegen, kommt dieser von der Gerechtigkeit ab und wird unsachlich. 15 Dieselbe Spannung erscheint in einem Slogan unserer Tage: Gerechtigkeit statt Mitleid. Dieselbe Spannung zeigt sich. freilich von einer etwas anderen Seite, in der Pharisäerkritik des Matthäusevangeliums. Die eigentliche Intention der Pharisäer war es, Gerechtigkeit bis ins Kleinste zu üben. Die Kritik des Matthäusevangeliums dagegen lautet, dass sie Gerechtigkeit bloss im Kleinsten üben, während sie das Gewichtigere des Gesetzes, Gericht, Mitleid und Treue vernachlässigten (Mt 23,23). 16 Es ist beileibe nicht nur bei den Pharisäern zu beobachten, dass die Gerechtigkeit im Kleinen zum Panzer des Menschen wird, welcher das Mitleid erstickt. Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Mitleid besteht in der Tat, etwa auch don, wo statt des leidenschaftlichen Mitleids die bemessene Güte empfohlen wird. 17 Gerechtigkeit scheint das Sachlichere zu sein.
14 Kennzeichnend für das Zeitverständnis Jesu ist ja nicht bloss. dass er zwischen dem Jetzt und dem Dann unterscheidet. sondern dass in seiner Person die Gottesherrschaft sich bis ins Jetzt herein ausdehnt. vgl Lk 11.20Q. dazu Luz. Matthäus I 204. 1\ Dazu Buhmann. An.U&«i 475.8-29. 1b Vgl Schweizer. Matthäus 288. der herausstreicht. dass es bei den llapV1IqD nicht um das Schwerere. sondern um das Gewichtigere des Gesetzes geht. 17 Dazu Buhmann. An. U&«ö 475.24-29: die Stoa empfiehlt bestimmt nicht die Unbarmherzigkeit statt des Mitleids. wohl aber die XPPwftlli. die bemessene Güte.
I Aussichtsreiche Leidenschaften
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Freilich wird man die Seligpreisung derer, die Mitleid üben, nicht als Empfehlung zur Unsachlichkeit verstehen dürfen. Die Spannung des Mitleids zur Gerechtigkeit besteht ja nicht nur darin, dass es den Menschen zu unsachlichem Verhalten verführt, sondern vielmehr auch darin, dass es ihn zu einer grösseren Sachlichkeit als die Gerechtigkeit anhält. Die grössere Sachlichkeit besteht darin, dass die Menschen von Mitleid ergriffen - ihrer elementaren Verbindung zu den andern gewahr werden. Diese elementare Verbindung würde abgebrochen, wollte sich jemand das Mitleid verbieten. Ihre grössere Sachlichkeit besteht darin, dass sie nicht weniger als das Gerechte tut, sondern mehr. 111 Mitleid dient in der Septuaginta zur Widergabe des hebräischen Wortes »chäsäd«, Gnade.!'* Es meint eine Zuwendung zum andern, die die Welt des Bemessenen und Verdienten hinter sich lässt, eine Zuwendung, die sich nicht nach dem Recht, sondern nach der Not des andern Menschen richtet. Die Mitleidigen haben den Panzer der Gerechtigkeit abgelegt, um sich am Leid der andern zu orientieren. 1.3 Fazit Am Beispiel zweier Phänomene haben wir Einblick gewonnen in den Aussichtsreichtum der menschlichen Leidenschaften. Die schon in der Antike wahrnehmbare Skepsis gegenüber solchen Leidenschaften gründet in der fundamentalen anthropologischen Entscheidung, dass der Mensch erst als Unabhängiger bei sich selbst ist. 20 Demgegenüber zeigt die vorliegende Bewertung von Trauer und Mitleid an, dass Menschsein nicht in der Unabhängigkeit von Dingen und Menschen besteht, sondern im Angewiesensein auf das Gegebene. Dieser Einblick ins Menschliche wird dadurch gewährt, dass das Licht Gottes, des Gebers schlechthin, auf den Menschen fällt.
1M Die »Forderung nach Erbarmen« stellt »den Inbegriff der jüdischen Liebeswerke• dar (so Luz. Matthäus I 211 ). der Werke also. die ihrem Wesen nach das Gerechte übersteigen. 1 ~ Buhmann. An. I~ 475.31-476.19. zo Diese Autarkie des Weisen ist auch dann kennzeichnend für die Stoa. wenn sie so innig mit der Einordnung ins Ganze der Welt verbunden sein sollte. wie dies Vollenweider. Freiheit 37-40 postulien.
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2 Der Mensch als beziehungsreiches Wesen Was sich im ersten Überlegungsgang zu den aussichtsreichen Leidenschaften schon angekündigt hat, muss jetzt genauer betrachtet werden. Entgegen der Anthropologie der Unabhängigkeit sind die Menschen nach der Bergpredigt umso mehr bei sich selbst, je reicher ihre Beziehung zu den Menschen und zu Gott wird. 2.1 Suchen und Finden Wir vergegenwärtigen uns diesen Sachverhalt zunächst anhand des kleinen Textes vom Bitten, Suchen und Anklopfen in Mt 7, 7-11. 21 Wer bittet, dem wird gegeben, wer sucht, der findet, wer anklopft, dem wird aufgetan werden. Diese Aufforderung lässt sich von verschiedenen Seiten betrachten. Zunächst halten wir fest, dass ihr eine gewisse Selbstverständlichkeit zukommt. Es besteht ein elementarer Zusammenhang zwischen Suchen und Finden. Gewiss kann auch finden, wer nicht gesucht hat. Gewiss kann auch erhalten, wer nicht gebeten hat. Aber kann ich auch erhalten, wo ich gefordert habe? Kann ich auf eine offene Tür hoffen, wo ich mit der Tür ins Haus gefallen bin? Es gibt offenbar Verhaltensweisen, die mich vom Finden, Beschenktwerden und Einlass-Finden abhalten. Wer überall sich selbst sucht, findet keine fremden Schätze. Wer sich alles selbst gibt, kann nicht beschenkt werden. Wer sich zuhause einschliesst, kann in keinen fremden Häusern Einlass finden. Gegen solches selbstbezogenes Verhalten fordert der Jesus der Bergpredigt zum Bitten, Suchen und Anklopfen auf. Wir halten als zweites fest, dass Jesus hier elementare Lebensvorgänge in den Blick nimmt. 22 Die Verben dieses Satzes bezeichnen die menschliche Lebensbewegung. Es ist die Bewegung des Lebens aus sich heraus. Ich bitte, um Dinge zu erhalten, die ich mir nicht geben kann: etwas Brot zum Essen, ein gutes Wort zum Leben. Im Bitten sind Menschen auf das aus, was sie sich nicht erwirken können. Ich suche, um Verlorenes zu finden oder um an den Reichtum von Bodenschätzen heranzukommen. Im Suchen sind Menschen auf Dinge aus, von denen
2 1 Zum
Folgenden vgl Weder. Rede 223-230. ist deshalb nicht sinnvoll. auf die durchgehende "religiöse Dimension« dieser drei Verben im judenchristliehen Sprachgebrauch hinzuweisen. anders Luz. Matthäus I 383. Die Alltäglichkeit des Erfahrungsbereichs betont dagegen auch Gnilka. Matthäusevangelium I 262. 22 E.~
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sie sich viel versprechen. ohne sie selbst produzieren zu können. Ich klopfe an, um Einlass zu finden bei andem. Im Anklopfen sind Menschen auf Lebensräume aus, die sie sich nicht selbst eröffnen können. Diese Bewegung ist die elementare Lebensbewegung des Menschen aus sich heraus. Sie hat das Ziel, dem Leben näher zu kommen. Sie hat das Ziel, sich das zugute kommen zu lassen, was der menschlichen Produktionskraft nicht erschwinglich ist. Anthropologisch gesehen nimmt Jesus für ein Leben Stellung, das sich in gewisser Weise aus der Hand gibt, ein Menschsein. das durch das bereichert wird, was in den Händen anderer liegt. In diesem Sinne plädiert Jesus für das exzentrische Menschsein, das Menschsein, das aus sich heraus geht, um zu sich selbst zu kommen. 2.2 Die Relation zu Gott und zu den Menschen Der exzentrischen Anlage des Menschseins trägt ein weiterer Abschnitt der Bergpredigt Rechnung. In Mt 6,1-18 wird darüber nachgedacht, in welchem Verhältnis das Sein des Menschen vor Gott zum Sein vor den Menschen steht. Der Abschnitt beginnt mit einer These. Matthäus warnt seine Leser davor, ihre Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen. 23 Diese These wird interpretiert durch drei Beispiele: das Almosengeben, das Beten und das Fasten. Alle drei Beispiele sind analog aufgebaut. Deshalb können wir uns ohne weiteres auf eines, nämlich das Almosengeben (Mt 6,2-4) beschränken. Beim Almosengeben geht es um den Mitleidserweis. Der persönliche Mitleidserweis spielte im jüdischen Glauben der damaligen Zeit eine eminente Rolle. Wohltätigkeit war eine Hauptsache religiöser Praxis. 24 Kritisiert am Mitleidserweis wird hier, dass er ausposaunt wird. 25 Kritisiert wird also das Phänomen der genannt sein wollenden Spender, die es in der Antike ebenso gab wie heute. Achten wir genau auf die Argumentation der Kritik.
2.1 Als These dürfte sie auf die Redaktionstätigkeit des Mt zurückgehen. mit Schweizer. Matthäus 87 und Luz. Matthäus I 321. 14 So Schweizer. Matthäus 88f. Belege bei Luz. Matthäus I 323. 2~ Wahrscheinlich ist dies ein hyperbolischer Ausdruck. so dass die Feststellung. dass Trompetenblasen bei solchen Gelegenheiten nicht vorkam (so Luz. Matthäus I 323), nicht all· zuviel besagen kann. Der hyperbolische Ausdruck nimmt das Phänomen veröffentlichter Wohltätigkeit in seinem eigentlichen Wesen (nicht karikierend) in den Blick. Die ironische Note dabei hebt Gnilka. Matthäusevangelium I 203 hervor: •Der Akzent liegt auf dem selbst· gesteuenen Lob. das im Bild vom Horn. das sie für sich selber blasen. ironisicn wird.«
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Zunächst wird der ausposaunte Mitleidserweis Heuchelei geheissen. Solches tun die intoxpnai. Ein intoxpt~ ist im griechischen Sprachgebrauch zunächst einfach ein Schauspieler. 26 Kennzeichen des Schauspielers ist es, etwas als Rolle zu spielen, was er nicht selbst ist. Zur Darstellung einer Rolle bediente der Schauspieler sich häufig einer Maske. Sein Gesicht wurde ersetzt durch die Maske, welche seine Rolle zum Ausdruck brachte. Aus der Theatersprache fand das Wort intoxpt't'll<; Eingang in ethischen Sprachgebrauch. 27 Hier wurde es bildhaft verwendet in dem Sinne, dass der Heuchler etwas zu sein vorgibt, was er in Wahrheit nicht ist.2 8 Der Heuchler täuscht etwas vor. Er macht die ganze Welt zur Bühne und alle Menschen zu seinen Zuschauern. Jemanden einen Heuchler zu nennen bedeutete, ihn der Maskerade zu bezichtigen: statt seines wahren Gesichts zeigt er den Menschen eine Maske. In unserem Text allerdings hat das Wort Heuchler nicht diesen Sinn. Kritisiert wird hier nicht, dass der Heuchler etwas anderes vorspielt, als er in Wahrheit ist. Kritisiert wird, dass er veröffentlicht, was er an Mitleidserweisen tatsächlich vollbringt. 29 Dieser Schauspieler täuscht nichts vor, er spielt keine fremde Rolle. Dieser Heuchler spielt öffentlich aus, was er Gutes tut. Das bedeutet, dass er nicht eine fremde, sondern seine eigene Rolle spielt. Er spielt sein eigenes Sein als Rolle vor den Menschen. Wir kennen dieses Phänomen unter dem Begriff der Selbstdarstellung. Der vorliegende Text macht eine präzise Beobachtung zum Ziel jeder Selbstdarstellung: sie zielt darauf, von den Menschen gewürdigt zu werden. Wer sein eigenes Leben als öffentliche Rolle spielt, kann auf den Respekt hoffen, den er sich bei seinen Zuschauern verschafft.J 0 Zur öffentlichen Wahrnehmung kommen nur handgreifliche Taten. Mit diesen kann nach aussen bekannt gemacht werden, wer der Täter ist. Wer auf diese Weise nach aussen bekannt 2~>
Vgl Wilckens. An. VlrolqnvCJt~Dl559.7-32. An. 'illlollplvCJtlßl 562.8-14 weist darauf hin. dass das Won im ganzen hellenisti· sehen Kulturraum in übenragener Bedeutung gebraucht werden konnte. wobei es jedoch eine »VOX media« blieb. ein Won. das erst durch den Kontext jeweils auf seine positive oder negative Bedeutungsnuance festgelegt wird. 2x Dazu Luz. Matthäus I 323: •Übertragen auf den Bereich der Ethik. bekommt es griechisch wie jüdisch einen negativen Sinn und bezeichnet einen Menschen. der etwas anderes tut oder ist. als was er sagt« (gegen die Feststellungen von Wilckens im ThWNT). 29 Dieser Sachverhalt wird bei Luz. Matthäus I 323f verkannt. der den Vorwurf auf die Gesinnung der Wohltäter gerichtet sieht. Jo Vgl Schweizer. Matthäus 89 (»Ehre und Ruhm bei seinen Mitbürgern«). 21 Wilckens.
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macht, wer er sei, veräussert sich selbst. Deshalb ist Selbstdarstellung im vorliegenden Text dasselbe wie Selbstveräusserung. Der Selbstdarsteller verbindet mit seinen Mitleidserweisen den Lohngedanken. Ihm ist nicht genug, dass das Almosen den Bedürftigen zugute kommt. Es soll ihm selbst auch Lohn bringen, in der Gestalt des Respekts, den er vor den Menschen erwirbt. Eingespannt in die Aussenbeziehungen zum Forum der Menschen gerät die Wohltätigkeit zur menschlichen Selbstveräusserung. Sie gerät zur berechnenden Lohnarbeit. Genau dies kritisiert der Text, allerdings nicht so, dass er den Lohngedanken aufgibt. Vielmehr wird dem Lohn vonseiten der Menschen der Lohnvonseiten Gottes gegenübergestellt. Wer seine Mitleidserweise veröffentlicht, zielt auf den Respekt der Menschen. Und eben damit hat er den Lohn schon empfangen.31 Jesus dagegen verweist die Wohltätigkeit ins Verborgene, und der himmlische Vater, der ins Verborgene sieht, wird sie belohnen. Festgehalten ist der Lohngedanke, aufgegeben ist jedoch die Berechnung. 32 Der Gotteslohn ist jeder Berechnung entzogen, wie beispielsweise das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zeigt (Mt 20,1-15). 33 Hier muss der Protest der Zuerstgekommenen überwunden werden, ein Protest, der darauf beruht, dass diese den Gotteslohn für - nach dem Prinzip von gleicher Arbeit und gleichem Lohn - berechenbar halten. Matthäus seinerseits bringt die religiöse Praxis auf den Begriff der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein anderes Wort für die Wahrheit des Lebens. 34 Achtet darauf, dass die Wahrheit eures Lebens nicht zur Schaustellerei wird. Die Wahrheit des Lebens stellt sich nicht coram publico heraus. Wird diese Wahrheit veräussert, geht sie verloren. Denn nur coram Deo kann sich die Wahrheit des Lebens herausstellen. Anthropologisch gesagt heisst das: in der Veräusserung ziele ich stets auf den Respekt, den ich mir verschaffen kann; eben damit verspiele ich die
' 1 Das Verbum ciaze isttenninus technicus ftir die Quittung über empfangenen Lohn. vgl Schweizer, Matthäus 89. '2 Vgl Bomkamm. Lohngedanke 69-92. besonders 81-87. ~'Dazu Weder. Gleichnisse 218-230. Ein wesentliches Moment dieser Parabel besteht genau darin. den Menschen von der Leistungslohnvorstellung zu befreien. ohne dass der Lohngedanke selbst aufgegeben wird. Diese Parabel ist den Beispielen in Mt 6.2-4.5f.l6-18 durchaus analog. ' 4 Gerechtigkeit meint bei Mt das »rechte Verhältnis zu Gott« (mit Luz. Matthäus I 328). also die Wahrheitsdimension menschlichen Lebens. nicht bloss die Dimension des rechten Handelns.
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Liebe, die mir nur entgegengebracht werden kann. Mit dem erworbenen Respekt verspielt der Mensch die geschenkte Liebe. Der Respekt entspricht dem berechenbaren, die Liebe dem unberechenbaren Lohn: Respekt ist, was ich mir als Gewichtung meines Tuns erwirken kann, Liebe ist gnädige Zuschreibung von Gewicht an meine Person. Das Gottesverhältnis der Menschen wirkt sich in diesem Falle so aus, dass ihr Handeln von der Wahrheitsfrage entlastet wird. Wer seine Gerechtigkeit oder seine Wahrheit vor den Menschen zur Schau stellt, ist zu sehr mit seiner Gerechtigkeit beschäftigt, als dass er sich noch mit der Not der Menschen beschäftigen könnte. 35 Wer seine Wahrheit unter den Augen Gottes findet, findet die Freiheit zur Zuwendung, zum unbedingten, nicht-berechnenden Mitleidserweis. Insofern wirkt sich das Gottesverhältnis der Menschen so aus, dass es zur Steigerung der menschlichen Zuwendungen kommt. 2.3 Ethik aus der Beziehung entworfen Der letzte Abschnitt machte aufmerksam auf die Beziehungsstrukturen des Menschseins. Jetzt widmen wir dem elementaren Ansatz des Ethischen in der Bergpredigt eine kurze Überlegung. Nach dem Aufbau der Bergpredigt zu schliessen, kommt der Grundansatz des Ethischen in der Goldenen Regel zum Zuge (Mt 7, 12), welche die ethischen Abschnitte abschliesst. 36 »Also: Alles, was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen. Dieses nämlich ist das Gesetz und die Propheten.« Die Goldene Regel weist den Menschen an, andem immer jenes Gute zu tun, das er sich von ihnen wünscht. Die Charakteristik dieser Regel erkennen wir, wenn wir neuzeitliche Ansätze des Ethischen danebenhalten. In der Neuzeit wird die moralische Statur des autonomen Ichs immer deutlicher zur ethischen Fundamentalinstanz. Ethik wird entworfen im Rahmen der Vorstellung, dass das menschliche Subjekt ethisch angemessene Werke produziere, dass der Mensch also wesentlich das principium operum suorum sei. Ethik wird entworfen durch die Orientierung am handelnden Subjekt. Die Goldene Regel dagegen entwirft die Ethik aus dem Zusammenhang. in welchem ein Mensch faktisch steht; aus dem Zusammenleben mit anderen Men-
1 ~ Die Berührungspunkte mit der paulinischen Rechtfenigungslehre sind unübersehbar. auch wenn die Unterschiede zwischen mauhäischer und paulinischer Theologie - schon aus sachkritischen Gründen - keineswegs verwischt werden dürfen. "' Vgl Luz. Mauhäus I 387.
3 Die verpnichtende Begabung
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sehen. Nicht das handelnde Subjekt ist Kriterium, sondern das Zusammenleben menschlicher Subjekte. Schon bei der elementaren Begründung des Handeins wird der Mensch darauf angesprochen, dass er in Beziehungen steht, dass er ein relationales Wesen ist. Deshalb ist in diesem Entwurf die Zuwendung nicht etwa als ein ethischer Akt des autonomen Subjekts zu verstehen. In der Goldenen Regel begründet die Zugewandtheil zu andern Menschen vielmehr überhaupt das Ethische. Die Zugewandtheil kommt allem ethischen Handeln als Lebenshorizont bereits zuvor. Zugewandtheil ist nicht Ergebnis ethischen Handelns, sondern dessen Nährboden. Auch das Ethische wird also elementar aus der Beziehung entworfen, in welcher die Menschen immer schon stehen. Vielleicht wäre eine solche, aus der Beziehung zu Menschen und Welt gewonnene Ethik geeignet, den neuzeitlichen Menschen aus seiner ethischen Fixierung auf sich selbst zu befreien.
3 Die verpflichtende Begabung Die ethischen Forderungen der Bergpredigt sind gekennzeichnet durch den Rückgriff auf alltägliche Erfahrungen.n So wird etwa die Feindesliebe damit begründet, dass die Menschen täglich umgeben sind von der Sonne und dem Regen, welche Gott auch seinen Feinden nicht vorenthält. Die Ethik der Bergpredigt rekurriert auf die Begabung mit Lebensmitteln und formuliert den ethischen Anspruch, den diese Lebensmittel in sich tragen. Dabei geht es - wie wir sehen werden - nicht bloss um Lebensmittel wie Wasser und Licht, sondern auch um Dinge wie Sprache und Zeit. Auch von hier aus sind Einblicke ins Menschliche möglich. 3.1 Menschsein als Unterwegssein in der Zeit Das kleine Bildwort von den Prozessgegnern (Mt 5,250 nimmt das Leben unter dem Aspekt der Zeitlichkeit in den Blick. »Sei wohlgesinnt gegenüber deinem Gegner, sofort, solange du mit ihm unterwegs bist, damit der Gegner dich nicht dem Richter übergebe und der Richter dem
H Dies betont besonders Betz. Kosmogonie 78-110. Betz arbeitet namentlich heraus. dass weder griechische Schöpfungsmythen noch die Schöpfungstheologie des Alten Testaments entscheidend sind. sondern die creatio continua. die tägliche Erfahrung der schöpferischen Realität. Diese Realität ist ethisch im Sinne der 11.\t&~ massgebend.
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Gerichtsdiener und du in ein Gefängnis geworfen wirst. Amen ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Rappen zurückbezahlt hast.« Dieses Bildwort lässt vor unseren Augen zwei Menschen erstehen, die auf dem Weg zum Prozess sind, auf dem Weg zum Richter, dessen Gerechtigkeit sie gegeneinander anrufen wollen. Aller historischen Wahrscheinlichkeit nach spielt das Bildwort auf die Vorstellung vom letzten Gericht an. 38 Es arbeitet gleichsam mit den religiösen Zukunftsvorstellungen der damaligen Menschen. Das menschliche Leben erscheint hier als ein Unterwegssein zum letzten Gericht.39 Wichtig ist, dass das Bildwort sein Interesse gerade nicht auf das kommende Gericht, sondern vielmehr auf das jetzige Unterwegssein richtet. 40 Es unterstreicht, dass jetzt noch Zeit ist. Das Bildwort macht auf die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens aufmerksam: Leben heisst, in der Zeit unterwegs sein. Allerdings pflegen wir die Zeitlichkeit des Lebens als dessen Begrenztheit wahrzunehmen; zeitlich ist es, sofern ihm die Zeit einst entzogen sein wird. Dieses Bildwort dagegen versteht die Zeitlichkeit so, dass es auf die jetzt gewährte Zeit abhebt. Statt des Entzugs stellt es die Begabung mit Zeit in den Mittelpunkt des lnteresses. 41 Und es formuliert den Anspruch, der in der gegebenen Zeit liegt: sie beansprucht das Wohlwollen, das EÜvOEiv, das Sinnen auf das Gute. Zeithaben verpflichtet, Zeithaben verpflichtet zum Wohlwollen. 42 Damit ist der ethische Anspruch entdeckt, der in der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens liegt. Wenn die Gegner beim Gericht angekommen sind, haben sie ftir Wohlwollen keine Zeit mehr. Denn vor Gericht herrscht die 8i1CT), die Strafgerechtigkeit, wonach alles bis auf Heller und Pfennig zurückbezahlt werden muss.
So Strecker. Bergpredigt 71 f. Vgl Strecker, Bergpredigt 71. der auf die Verbreiterung der Bedeutung bei Mt hinweist (»Lebensweg«). Dass dadurch das Gericht aus dem Blick gekommen oder gar das Q-Logion spiritualisien worden wäre. hat keinen Anhalt im Text Gegen Streckers Interpretation wendet sich (mE überzeugend) Gnilka. Matthäusevangelium I 156 mit Anm 28. ~Fuchs, Zeitverständnis 311: »Muss man zwischen Gegenwan und Zukunft mindestens unterscheiden. wie der Lohngedanke meint. dann ist die Zukunft nicht einfach eine Verlängerung der Gegenwan.« Deshalb kann die Gegenwan nicht bloss Zeitpunkt. sondern muss sie entscheidende Zeit sein (aaO 312). • 1 Dazu Fuchs. Das Neue Testament 144 (der Mensch •ist ftir die ihm gegebene Zeit v~r antwortlich« ). •2 Vgl Fuchs, Zeitverständnis 311: »Diese Sprüche setzen voraus. dass Hah~n verpnichtet bzw. Folgen hat. Das gilt eben auch vom Zeit-haben. bevor es zu spät ist« JK
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3 Die verpflichtende Begabung
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Interessant ist, wie das Bildwort mit der Vorstellung von der kommenden Strafgerechtigkeit arbeitet. Es wäre ohne weiteres denkbar, dass der Gedanke an das kommende Gericht schon im Jetzt die Abrechnung mit dem Gegner nahelegte. 4 3 Doch nicht die Abrechnung ist jetzt gefragt, sondern das Wohlwollen. Damit kommen die beiden Gegner dem künftigen Gericht zeitlich und sachlich zuvor. Zeitlich insofern, als nicht das Dann, sondern das Jetzt als schlechthin entscheidende Zeit zu gelten hat. Sachlich insofern, als das jetzige Wohlwollen mehr ist als die künftige Strafgerechtigkeit, bzw. dass jetziges Wohlwollen künftige Strafgerechtigkeit überflüssig werden lässt. Das Bildwort gestaltet das Menschsein als Unterwegssein in der Zeit. Es entdeckt den Anspruch des Wohlwollens, den die gewährte Zeit an die Menschen stellt. Und insofern initiiert es ein Handeln, das nicht bloss eine gerechte, sondern eine gute Zuk.unft hat. Es weist an, jetzt das zu tun, was eine gute Zukunft gewährt. Damit erschliesst das Bildwort die menschliche Gegenwart neu als eine entscheidende Zeit, als eine Zeit, in welcher weder Strafgericht noch Gleichgültigkeit, sondern allein das Wohlwollen an der Zeit ist. Im Anschluss an dieses Bildwort heisst ethisch reden, den Anspruch der gegebenen Zeit entdecken. Nicht den Anspruch, den ich an die mir gegebene Zeit habe, sondern den Anspruch, den diese an mich hat. 44 Menschsein erscheint als beanspruchtes Sein, beansprucht nicht vom Zwang zur moralischen Statur, beansprucht vielmehr vom Lebensmittel Zeit, womit die Menschen begabt sind. 3.2 Begabung mit Sprache Als zweites Beispiel für den Anspruch des Gegebenen soll die Antithese vom Schwören dienen (Mt 5,33-37). Hier geht es um den Anspruch, der sich aus der Tatsache ergibt, dass den Menschen Sprache zur Verfügung steht. Das Schwurverbot steht antithetisch der Regelung des Gesetzes gegenüber, welches das Schwören ausdrücklich erlaubt, während es bloss den Meineid verbietet. Was gibt diese Regelung zu
41 Beispielsweise zeigt die in Qumran massgebende Vorstellung vom endzeitliehen Kampf der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis. dass dieser Kampf als Hass der Gottlosen beziehungsweise als Sezession von der massa perditionis im Jetzt seine direkte Entsprechung hat. «Mit Fuchs. Zeitverständnis 311 gesprochen heisst ethisch reden. die Verpflichtung formulieren. die im Haben des Menschen liegt.
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Einblick ins Menschliche
erkennen? Das Schwören dient dazu, für einen besonders wichtigen Fall die Wahrheit des Gesagten zu garantieren. Wahrhaftiges Reden wird zu einem besonders gekennzeichneten Grenzfall. Immerhin zeigt die Regelung des Schwörens, dass Wahrhaftigkeit des Redens - wenn überhaupt - nur gewonnen werden kann, wenn das Reden mit Gott in Berührung gebracht wird. Menschliche Wahrhaftigkeit entsteht erst im Gottesbezug, denn nur ein Gott, der den Menschen in seinem Innersten betrifft, kann ihn zu wahrhaftigen Äusserungen bewegen. In der Sprache liegt immer schon die Macht zu lügen:'~ Die Lüge kann durch nichts in der Welt ausgeschlossen werden. Dieser Zusammenhang zwischen dem Gottesbezug und der Wahrhaftigkeit wird unter anderem dadurch belegt, dass sich der Eid im Gerichtsverfahren bis heute weithin gehalten hat, obwohl die Säkularisierung weit fortgeschritten ist. Halten wir fest: die Praxis des Schwörens bringt den Gottesbezug der Wahrhaftigkeit ans Tageslicht, ihre Problematik besteht freilich darin, dass sie die Wahrheit auf Grenzfälle beschränkt. Dieser Regelung widerspricht das Schwurverbot Jesu. »Amen ich sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören. Vielmehr sei euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein.« 46 Wahr spricht. wer bei seinem Ja nichts anderes als ein Ja sagt und nicht etwa ein Nein mitsagt Jesus verbietet das Schwören rundweg, weil alles menschliche Reden unter den Augen Gottes stattfindet. Nicht erst beim Schwören kommt das Reden mit Gott in Berührung, sondern bei jedem Wort. Und damit ist bei allem Reden Gott als Geber der Sprachfähigkeit zur Stelle. Als Geber der Sprachfähigkeit hat Gott den Anspruch, dass seine Gabe unbegrenzt in seinem Sinne verwendet wird. Deshalb darf Wahrhaftigkeit nicht auf Grenzfälle eingeschränkt werden. Alles Reden steht unter dem masslosen Anspruch, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Anthropologisch gesprochen bedeutet dies: schon mit der Gabe der Sprache ist der Anspruch gegeben, nur die Wahrheit zu sagen. Sprachehaben verpflichtet zur Wahrhaftigkeit. Damit wies Jesus der Sprache noch einmal die Aufgabe zu, die ihr der Schöpfer zugedacht hatte.
"Vgl Ebeling. Einführung 109: •Durch Sprache öffnet sich überhaupt erst das Reich der Wahrheit. zugleich aber auch das der Lüge ... '~Zur Rekonstruktion des Schwurverbots aus Mt 5.37 und Jak 5.12 vgl Luz. Matthäus I 280f.
4 Empfangenes Leben
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3.3 Fazit Die beiden angeführten Beispiele könnten leicht vermehrt werden. Aus der Tatsache, dass es die Liebe gibt, folgt der Anspruch, sie grenzenlos auszudehnen bis hin zu den Feinden (Mt 5.43-48). Aus der Tatsache, dass es das Leben gibt, folgt der Anspruch, es masslos vor Verletzung zu bewahren, angefangen beim buchstäblichen Töten bis hin zum harmlos scheinenden Schimpfwort (Mt 5,21 0. Die ethischen Teile der Bergpredigt bringen die Menschen als Begabte zur Sprache. Ethik heisst hier, den Anspruch des Gegebenen zum Vorschein zu bringen. Deshalb ist Ethik nicht mehr die von oben herab gesprochene moralische Weltdefinition, sondern sie ist im Ansatz Verständigung unter Begabten über die Ansprüche ihrer Lebensmittel. Wäre diese Ethik - als Gespräch unter Begabten - nicht eine besonders menschliche Weise, Ethik zu treiben?
4 Empfangenes Leben An manchen Orten in der Bergpredigt kommt das Menschsein zur Sprache hinsichtlich seines Orts im Ganzen der Schöpfung. Es erscheint als ein Dasein, das sich aus der Hand des Schöpfers in Empfang nimmt. Auch diese Teile der Bergpredigt lassen anthropologische Einblicke tun. 4.1 Die Entdeckung der Sohnschaft Es ist kein Zufall, dass der Ort des Menschseins vornehmlich im Gebet entdeckt wird. Denn nach der Bergpredigt stellt sich dieser Ort primär im Gottesbezug und erst sekundär im Weltbezug des Menschen heraus. Wir vergegenwärtigen uns diesen Ort anhand des Unser Vater, welches den kompositorischen Mittelpunkt dieser grossen Rede bildet. 47 Ausgangspunkt ist die auffällige Anrede Gottes mit abba. Zwar ist es gerade im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt nicht ungewöhnlich, Gott das Epitheton Vater zu geben."x Auffällig ist also nicht, dass das Bild des Vaters für Gott gewählt wird. Auffällig ist vielmehr die ausge-
~7
Zu dieser Einschätzung vgl Luz. Matthäus I 318f. Vgl Luz. Matthäus I 339f mit Hinweisen auf Jeremias und vor allem Scheiben (Anm 54); Gnilka. Matthäusevangelium I 216f. u
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sprochen vertrauliche Anrede IT!it abba. So spricht man zuhause den Vater über den Tisch hin an, den Vater, der in unmittelbarer Nähe ist. In dieser Hinsicht ist die Anrede kennzeichnend für das Gottesverständnis Jesu. Nicht einfach Gott schlechthin, sondern vielmehr die Nähe Gottes erhält bei Jesus absolute Massgeblichkeit:'9 Mit der abbaAnrede in dem Gebet, das Jesus seinen Nachfolgern mit auf den Weg gab, hat er einen Raum geschaffen, in welchem Gott in seiner Nähe ansprechbar ist. Dies ist zugleich ein Raum, in welchem die Jünger in bisher ungeahnter Weise Gottes Kinder sind. Mit der Sohnschaft war ein Gottesverhältnis zur Stelle, das in einem qualitativen Sinne hinausging über andere Verhältnisbestimmungen. Damals konnte man sich den Gottesbezug des Menschen auch als ein Arbeitsverhältnis denken: die Menschen als Diener Gottes, als solche, die produktiv arbeiten zugunsten Gottes. In diesem Zusammenhang ist es dann nicht sehr entscheidend, ob das Arbeitsverhältnis nach dem Modell von Herrn und Diener oder nach dem Modell der Partnerschaft entworfen wird. Gestaltet wird das Verhältnis in jedem Falle durch die Arbeit, die der Diener oder der Partner leistet. Im Unterschied zu solchen Arbeitsverhältnissen bezeichnet die Sohnschaft ein Lebensverhältnis, ein Verhältnis also, das durch das Leben selbst gegeben ist.511 Dieses Verhältnis wird nicht durch Arbeit, sondern durch das Leben gestaltet. In anthropologischer Hinsicht sind zwei Dinge bemerkenswert. Im Gedanken der Sohnschaft wird dem Menschen ein Gottesverhältnis zugedacht, das es erlaubt, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Gott und Mensch zu denken - der zwischen Vater und Sohn - und das es erlaubt, der Unumkehrbarkeit dieses Verhältnisses Rechnung zu tragen - Väter und Söhne sind in keinem Falle austauschbar. Damit wird dem Menschen ein Daseinsort zugewiesen, der einer fundamentalen Asymmetrie des menschlichen Lebens entspricht: der Asymmetrie nämlich,
49 Vgl Jüngel. Paulus und Jesus 180: ., Wenn Jesus also die Nähe der Gottesherrschaft verkündigte. dann brachte er das Wesen der Gottesherrschaft zum Zuge.« Diese Nähe ist als »einfache Nähe« (aaO 181) zu verstehen. nicht im Zusammenhang von zeitlichen Strukturen wie Naherwartung und Parusieverzögerung. ~ 0 Es ist wohl kein Zufall. dass dieses qualitativ neue Gottesverhältnis bei Paulus ebenfalls im Kontext des dl!tki rufenden Geistes erscheint. vgl Röm 8.12-17. Dem JtYripa u\~. dem Geist. der ständig aus Knechten Söhne macht. der ständig das Arbeitsverhältnis in ein Lebensverhältnis verwandelt. steht das ~ aoul&~ gegenüber. der Geist der produktiven Arbeit. der die Furcht des Verlustes mit sich bringt.
4 Empfangenes Leben
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dass die Schöpfung dem Menschen zuvorkommt, beziehungsweise dass der Mensch sich das Leben immer nur nehmen, niemals aber geben kann. Zweitens wird die Verbindung unter den Menschen grundlegend anders als beim Arbeitsverhältnis gestaltet. Während dort die Verbindung die Gestalt des Zusammenschlusses derer hat, die arbeiten, wird die Verbindung hier auf den Vater gegründet: als Söhne sind die Menschen untereinander Brüder. Damit ist eine Verbindung unter den Menschen hergestellt, die nicht als deren subjektiver Akt oder gar Arbeitsleistung zu denken ist, sondern vielmehr als durch ihre Herkunft beziehungsweise durch ihr Sein als Geschöpfe gegebene Verbindung. Verbindung ist nicht etwas, worin sich das menschliche Subjekt allererst manifestiert, Verbindung unter den Menschen ist mit ihrem Leben selbst gegeben. Die Positionszuweisung, die durch die abba-Anrede als Sohnschaft präzisiert wird, findet ihre weitere Ausführung in den Bitten des Unser Vater. Nur wenige Hauptgedanken können jetzt herausgegriffen werden. Zunächst eröffnet dieses Gebet überhaupt den Raum des Bittens, den Raum also, wo der Mensch aus sich herausgeht, wo er sich die Lebensnotwendigkeit von Dingen eingesteht, die er sich nicht selbst geben kann. In den drei grossen Bitten des Unser Vater sind die elementaren Lebensmittel angesprochen: Brot, Vergebung, Erlösung vom Bösen. Die Bitte soll zwar Gott bewegen, zunächst aber bewegt sich der Mensch.~ 1 In der Bitte um diese Lebensmittel bewegt sich der Mensch an den Ort, wo er sich nicht mehr als Produzent aufspielt, sondern Ernpranger ist. Er bewegt sich an den Ort, wo er sein Leben selbst als empfangenes verstehen lernt. Brot erhält ihn am Leben, indem es dem Körper Kräfte zuführt. Vergebung erhält ihn am Leben, indem sie den menschlichen Verstoss gegen das Leben unwirksam macht, die Erlösung vom Bösen schliesslich erhält ihn am Leben, indem sie es gar nicht zum Verstoss gegen das Leben kommen lässt. Im Lebenszusammenhang ist also - dies entdeckt dieses Gebet - der Mensch zunächst als Empfänger anzusprechen, als ein Begabter mit Lebensmitteln. Und erst auf dieser Grundlage kann er zu einem gewissen Grade auch Produzent sein, nämlich als Verwalter der Gaben.
' 1
Dazu Weder. Rede 170-173.
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4.2 Sorgen und Sehen Einen letzten Blick auf den Menschen im Zusammenhang der Schöpfung tun wir anhand von Mt 6,25-34, der Warnung vor dem Sorgen. Dieser Abschnitt hat seinen cantus firmus in wiederholten lmperativen.~2 Dreimal findet sich die imperativische Aussage: Sorgt nicht (J.L11 ~~vciu V. 25; J.L11 ~~v1lcnlu V. 31.34)! Die Frage ist, wovor hier gewarnt werden soll. Die Sorge richtet sich zunächst auf das Leben (die 'lfUX11, vom hebräischen »näphäsch« her zu verstehen), die Lebendigkeit.~3 die nur durch die Zufuhr von Nahrung aufrechterhalten werden kann. Die sorgende Frage lautet: Was sollen wir essen? Die Sorge richtet sich ferner auf den Leib (to OIÖ!J.O, den Organismus). Die sorgende Frage lautet: Womit soll ich mich kleiden? Man könnte annehmen, hier werde vor der Beschaffung von Nahrungsmitteln und Kleidung gewarnt.~ 4 Doch konnte jemals ein Mensch, und sei es ein radikaler Wandercharismatiker, ohne die Beschaffung von Essen und Kleidung leben? Gibt es nicht einen Unterschied zwischen Sorge und Beschaffung? Gewarnt wird hier vor der Sorge mit dem Hinweis, dass das Leben und der Leib mehr seien als Essen und Trinken. Offenbar tastet die Sorge dieses Mehr an. Könnte es sein, dass die Sorge eine von Angst getriebene Sicherungsbewegung ist, eine Bewegung, in welcher ständig die allenfalls böse Zukunft in die Gegenwart hereingezogen wird?~~ Vielleicht kann man sagen, dass die so verstandene Sorge allerdings die Lebendigkeit auffrisst. Lebendigkeit ist offenbar mehr als gesättigt und gekleidet sein, Lebendigkeit ist Sorglosigkeit. Die Sorge ist eine Weise der Selbsterhaltung, in welcher sich der Mensch als Selbstversorger gebärdet. Die Warnung vor dem Sorgen fordert nicht etwa zur Selbstaufgabe auf, sondern vielmehr zum Abstandnehmen von der Selbstversorgung, der angstgetriebenen Selbstsicherung, welche das Mehr der Lebendigkeit antastet. ·~Zur sorgfaltig durchkomponicnen Struktur de~ Textes vgl Betz. Kosmogonie K4-90. "So Strecker. Bergpredigt 141 f; ebenfalls Gnilka. Manhäusevangelium I 247. Eine ganz andere Theorie venrin Betz. Kosmogonie 91-93. Betz interpretien ~ im Zusammenhang der griechischen Philosophie als »Seele« und nur in diesem Sinne dann auch als Lebendigkeit. so dass die Sorge um Essen und Trinken auf einer Verwechslung beruht. •• Nach Betz. Kosmogonie 93 handelt es sich auch hier um eine Verwechslung: »Analog lsc der Sorge für die ~I wird die Sorge für das Glitla mit der Beschaffung von Kleidung verwechselt." ''Dazu R.Bultmann. An. ~WX~~596.2K-.W7.19.
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Diese Auffassung von Sorge, die durch das gegenwärtige einseitig sozialgeschichtliche Verständnis dieses Textes verstellt wird, wird bestätigt, wenn wir die übrigen Imperative des Textes beachten: »Schaut auf, richtet eure Aufmerksamkeit auf« (E~\ji(XU V. 26) und »richtet euer Augenmerk auf« (mm~&u V. 28). Diese beiden Imperative stellen die Alternative zum Sorgen dar. Nicht sorgen sollt ihr, sehen sollt ihr. Die Imperative bringen den Menschen in Bewegung von der Konzentration auf sich selbst zur Wahrnehmung der Aussenwelt, und zwar zur Wahrnehmung von zwei unscheinbaren Erscheinungen aus dem grossen Zusammenhang der Schöpfung: die Vögel und die Lilien. Vögel und Lilien sind nicht Vorbilder für Untätigkeit, sondern Zeugen für die Einrichtung der Schöpfung.~" Sie bezeugen, dass die Selbsterhaltung gerade nicht mit der Selbstversorgung verknüpft ist. Sie bezeugen, dass es Selbsterhaltung durch Fremdversorgung gibt. Die Alternative zum Sorgen ist das Sehen. Die Sorge ist die Selbstbezogenheil des Menschen hinsichtlich seiner Selbsterhaltung, eine Selbstbezogenheit, die den Blick für den Zusammenhang der Schöpfung nicht mehr freigibt. Das Sehen ist die Extravertiertheil des Menschen hinsichtlich seiner Selbsterhaltung, eine Extravertiertheit, in welcher der Mensch sich der ihn versorgenden Schöpfung anvertraut. Gerade in der Sorge also ist der Mensch ein ausser der Welt hockendes Wesen. Die Zeugen für den Zusammenhang der Schöpfung sind bemerkenswert: Spatzen, die keinen Pfifferling wert sind, Lilien, Unkraut, dem niemand ein Gärtner sein will. Beide sind keine Selbstversorger und werden dennoch am Leben erhalten. Beide stehen für das Wertlose und Unwichtige, für dessen Leben der Schöpfer zu sorgen pflegt. Die Speisung der Spatzen und der Schmuck der Lilien sind Indizien für die göttliche Leidenschaft für das Unwichtige.~ 7 Es geht die Rede, der Mensch nehme sich in der Sorge zu wichtig. Gernäss dem vorliegenden Text müsste man eher sagen: in der Sorge nimmt sich der Mensch zu wenig wichtig. Der Sorgende übersieht, wie wichtig er Gott ist, und verlegt sich deshalb auf Selbstversorgung. Die negativen Imperative warnen vor dem sorgenden Selbstbezug. Die positiven Imperative halten zum Sehen, der Alternative zum Sor-
_,N(. eine Einsi~:hl von Heinri~:i aufnehmend. Mil dieser gönli~:hen Leidenschafl für das Unwi~:hlige. die erzähleris~:h im Glei~:hnis vom verlorenen &haf ( Lk 15.3· 7 par MI IIU 2·14) dargesleih isl (das Zahlenverhähnis W: I hal wohl nur diesen Sinn). legilimiert Jesus seine eigene Su~:he na~:h den Verlorenen. "'So Lu1.. Manhäus I \7
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Einblick ins Menschliche
gen, an. Ein letzter Imperativ gibt dem Leben des sehenden Menschen eine Richtung: an die Stelle des Sorgens ist das Suchen getreten (V. 33). Zu suchen ist die Gottesherrschaft und die Gott angemessene Gerechtigkeit.~ 8 Im Unterschied zum Sorgen, in welchem ich auf mich selbst aus bin und gar nicht nach aussen dringe, ist das Suchen der Gottesherrschaft ein Aussein auf Dinge, die jenseits meiner selbst liegen. Die Suche nach der Gottesherrschaft ist das Aussein auf jenes Reich, in welchem die Menschen unendlich wichtig genommen werden. Die Suche nach der Gott angemessenen Gerechtigkeit ist das Aussein auf Verhaltensweisen, die die Selbstversorgung hinter sich haben und deshalb für andere zu sorgen vermögen. Daraus ergibt sich der anthropologische Zusammenhang, dass der wichtig genommene Mensch allererst in die Lage kommt, andere Menschen wichtig zu nehmen.
5 Schlussbemerkung Wir haben einen schnellen Durchgang durch die Bergpredigt hinter uns. Blicken wir für einen Augenblick zurück, so können wir eine sprachliche Entdeckung zu unserem Thema machen: Einblick ins Menschliche haben uns Sprachformen ermöglicht, die allesamt nicht zur Kategorie der definierenden oder begrifflichen Sprache gehören. Seligpreisung, Weisung, Aufforderung, Gebet, Warnung. Bildwort Dies sind Sprachformen, die ihrerseits anklopfen, zugehen auf Menschen. Diese Sprachformen sind nicht deskriptiv, sie sind performativ .~" Sie leisten gleichsam Arbeit am Menschen. Deshalb wird. am Ende unseres Durchgangs. noch einmal ein neuer Einblick möglich. nicht nur ein Einblick ins Menschliche. sondern ein Einblick ins Reden über Menschliches. Der Jesus der Bergpredigt geht mit dem Menschlichen nicht einfach so um. dass er es definiert. über es aufklärt. nein. er leistet Arbeit zugunsten des Menschlichen. Deshalb steht Jesus in der Christologie der Gemeinde nicht einfach für die göttliche Forderung. nicht einfach für die Aufklärung über das Menschliche. die die Verwirklichung
'"Beiz. Kosmo~onie 101 1eig1. dass die Su~:he nach dem. was Gon ~ere~:hl wird. idemisch isl mil der Su~:he nach der Gonesherrschaft Ob dies so sehr auf dem Himer~rund der sogenannlen Naherwanun~ imerprelien werden solL wie Hoffmann. S1udien .1:!7 empfiehlt isl angesichls der völli~ fehlenden Verweise auf das nahe Ende der Zeil mehr als fra~lil·h. '"Dazu Auslin. How To Do Thin~s Wilh Words.
5 Schlussbemerkung
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den Angeredeten aufbürdet. Vielmehr steht Jesus für die göttliche Arbeit an der Menschlichkeit des Menschen. Wäre dies ein Hinweis auf die Schwäche der Aufklärung?60 Wäre es ein Hinweis darauf, dass sachgemässes Reden über das Menschliche immer die Gestalt der Arbeit am Menschlichen haben muss? In solchen Fragen tut sich ein weites Feld neuer Überlegungen auf, ein zu weites Feld, als dass es in diesem Aufsatz auch noch in Angriff genommen werden könnte.
60 Eine ähnliche Schwäche scheint Paulus (in Röm 8.30 für das Gesetz zu diagnostizieren. Sie kommt don zustande durch den Zusammenhang des Gesetzes mit den Menschen in ihrer geschöpfliehen Wirklichkeit (&ci ft!i; Glq*ilc;).
Die Abwesenheit der Tugend Neutestamentliche Überlegungen zum Problem des Tugendhaften Wir leben in einer Zeit, welche gekennzeichnet ist durch die eklatante Ausdehnung des Wissens. Unsere theoretischen Instrumente erlauben es, den Aufbau und das Funktionieren der Welt immer besser zu durchschauen. Das praktische Können hat - als Anwendung theoretischen Wissens in der Technik - ein nie dagewesenes Ausmass erreicht. Doch wo das Wissen wächst, wächst auch die Macht der Verfehlung. Das Ausmass des Könnens stellt die Menschheit immer unerbittlicher vor die Frage des Wollens oder Dürfens: Dürfen wir tun, was wir können? Was müssen wir wollen, wo wir doch so vieles können? Je grösser die Macht des Wissens und Könnens ist, desto dringlicher wird die Verantwortung des Tuns. Grund genug, sich erneut mit der Tugend zu beschäftigen, jener seit alters gepflegten Kultur des rechten Tuns. Je grösser die Macht des Wissens und Könnens ist, desto mehr ist jeder einzelne Mensch gefordert, mit seiner Macht gut umzugehen. Grund genug, sich erneut mit der Tugend zu beschäftigen, jener seit alters gelehrten Bildung moralischer Persönlichkeit. Als Neutestamentler befindet man sich allerdings in einer gewissen Verlegenheit. Denn das Thema der Tugend spielt im Neuen Testament eine geradezu verschwindend kleine Rolle. Tugend ist marginal, wie der Vergleich mit anderen ethischen Begriffen wie Mitleid (U.E~), Dienst (8un:ovia) oder gar Liebe (dyci7t1\) zeigt. 1 Zwar fehlt das Wort dpE'fll (Tugend) nicht völlig, im ethischen Sinne kommt es immerhin zwei Mal vor im Neuen Testament (von insgesamt vier Stellen). Dies dokumentiert jedoch - wenigstens auf den ersten Blick - eher das Desinteresse des Neuen Testaments am Phänomen der Tugend, als dass es Einsichten zur Tugend erwarten liesse. Dabei ist das Neue Testament ja durchaus am Ethischen interessiert. Die ethische Reflexion nimmt einen wichtigen Platz in diesem Grunddokument des christlichen Glaubens 1 ln
Zahlen ausgedrückt: Dienst kommt etwa 32. Liebe 103. Mitleid 26 und Tugend nur 4 Mal im Neuen Testament vor.
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Die Abwesenheit der Tugend
ein. Umso erstaunlicher ist die Beinahe-Abwesenheit der Tugend in der ethischen Urteilsbildung dieser Texte. Und sie ist erst recht erstaunlich, wenn man bedenkt, welch wichtige Rolle die Tugend in der zeitgenössischen Philosophie spielte. Hier könnte der neutestamentliche Beitrag zum Thema dieser Vorlesungsreihe bereits enden. Das tut er nicht. Denn es steht zu vennuten, dass der auffällige Sachverhalt Gründe hat, die zu kennen auch ftir eine Beschäftigung mit Tugend gut ist. Im folgenden soll die eigentümliche Zurückhaltung des Neuen Testaments positiv zur Sprache kommen. Die Abwesenheit der Tugend soll wahrgenommen werden als etwas, das unsere Überlegungen zur Tugend stören wird. Freilich nicht als einen Störenfried, der uns am Wesentlichen hindert, sondern als einen Störfaktor, der dem zugute kommen soll, was mit einer Besinnung auf die Tugenden beabsichtigt ist: dass nämlich das Gute, das nötig ist, auch getan wird.
I Die göttliche Tugend Zwei von den insgesamt vier neutestamentlichen Stellen wenden das Wort »Tugend« nicht auf den Menschen, sondern auf Gott an. »Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums, so dass ihr verkündigen sollt die Tugenden Gottes, der euch gerufen hat aus Finsternis in sein wunderbares Licht« (I Petr 2,9).2 Der erste Petrushrief versteht die christliche Gemeinde nicht etwa als Versammlung tugendhafter Menschen, sondern als göttliches Eigentum, als auserwähltes Geschlecht, als durch Gott geheiligtes Volk und königliche Priesterschaft. Was sie sind, sind sie kraft des schöpferischen Rufes Gottes, nicht etwa kraft ihrer eigenen Tugend und Tüchtigkeit. Ihre Sache ist es deshalb, die Tugenden Gottes bekannt zum machen im Erdkreis. Von den Tugenden Gottes zu sprechen, ist keine Erfindung des ersten Petrusbriefes. Dieser Sprachgebrauch tritt sowohl im Bereich griechischer Kultur als auch im hellenistischen Judentum der neutestamentlichen Zeit auf. Schon seit homerischen Zeiten konnte von der Tugend Gottes gesprochen werden. 3 Namentlich in der griechischen Über2Zum Folgenden vgl Bro~t. Petrusbrief 102-107. J Belege bei Bauern feind, An. cipm1459 Anm 12f.
I Die göttliche Tugend
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setzung der hebräischen Bibel steht dieser Sprachgebrauch im Vordergrund. Dort meint das Wort »Tugend«- ebenfalls auf Gott angewendet - den Ruhm und die Herrlichkeit Gottes. Gott hat die Macht, sich selbst als massgebende Wirklichkeit zu bekunden. Darin ist seine Tugend zu sehen. Tugend hat zu tun mit der Kraft der Selbstbekundung, mit der Macht, sich selbst durchzusetzen und in überzeugender Weise aufzutreten. Im ersten Petrushrief werden die Tugenden Gottes konkret ausgesprochen: sie bestehen darin, dass er die Menschen aus Finsternis herausruft, um sie in sein wunderbares Licht zu stellen. Schöpferische Macht Gottes war es, mit dem Licht die Finsternis zu überwinden. Dieselbe schöpferische Macht ist es, die im Finstern Irrenden herauszurufen ins göttliche Licht. 4 Die cipEmi, Tugenden kann man hier geradezu mit Wohltaten übersetzen. Tugenden besitzt, wer wohltätig zu handeln vermag. Hier begegnen wir einem ersten Bedeutungsaspekt von Tugend, der die eigentümliche Zurückhaltung des Neuen Testaments erklären kann, von der Tugend der Menschen zu sprechen. Denn die Macht, sich selbst zu bekunden, kommt Menschen nicht zu. Die Kraft, in durchschlagender Weise aufzutreten und neue Situationen zu schaffen, fehlt den Menschen. Ihre Sache kann es nicht sein, das Licht in ihrem Verhalten zu verwirklichen oder es gar erst zu erschaffen. Denn geschaffen ist es schon, und alles kommt darauf an, ins schon geschaffene Licht zu treten. Die Zurückhaltung, vom Menschen Tugend auszusagen, kann zu tun haben mit der neutestamentlichen Einsicht in das Ungleichgewicht zwischen Gott und Mensch: Gott ist der Schöpfer, die Menschen sind Geschöpfe. Gott hat kreative Macht, der Menschen Sache ist es, diese Macht zu bezeugen im Erdkreis, diese Macht zur Auswirkung kommen zu lassen in ihrem Leben. In besonderer Klarheit begegnen wir diesem Gedanken bei Paulus. Wenn Menschen sich selbst bekunden, setzen sie auf ihre Stärke. Dabei bemächtigen sie sich der andem.~ Jedoch wäre nicht Herrschaft, son-
4 Möglicherweise ist mit dem Übergang von der Finsternis zum Licht die Bekehrung zum christlichen Glauben gemeint. vgl Brm:. Petrushrief 106f. ~So spricht er es aus in 2Kor 4.5. in Auseinandersetzung mit den Superaposteln. die sich selbst- und insofern sich selbst als Herren - verkündigen. Paulus dagegen weiss sich der Verkündigung Jesu als des Herrn verpflichtet. so dass er sich selbst als Diener - um Jesu willen erklärt.
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dem vielmehr Dienst das, was im Horizont des Christus massgebend ist. Tugend könnte der menschliche Versuch sein, über die geschöpfliehe Zerbrechlichkeit hinauszukommen. Paulus setzt indessen weniger auf die starke Tugend als auf die zerbrechliche Schwachheit des Menschen. Denn in ihr hat statt der Macht des Menschen die Macht Gottes Raum. ))Die Macht (Gottes) kommt in der Schwachheit zur Vollendung«, so lautet ein anthropologischer Spitzensatz des Paulus. 6 Für den Menschen braucht Paulus das Bild des irdenen Gefässes, des zerbrechlichen Tongeschirrs. Die Tugend ist Gottes Sache, des Menschen Sache ist die Durchlässigkeit für die göttliche Tugend. Auf diesem Hintergrund verstehen wir wohl, dass das Neue Testament zurückhaltend ist in Sachen menschlicher Tugend.
2 Selbstbekundung des Menschen? Was Tugend bei Göttern ist- Macht zur Selbstbekundung- . ist sie auch bei Menschen. Menschliche Selbstbekundung zielt auf Ruhm, auf die Geltung, die ich bei den Menschen gewinne. Nach griechischem Sprachgebrauch kann Tugend auch den Respekt meinen, den ich mir bei Menschen verschaffe. Dann ist cipE't'il gleichbedeutend mit &Qx, Würde, Ruhm. 7 Diesen Aspekt thematisiert ein Text aus der Bergpredigt: ))Habt Acht auf eure Gerechtigkeit, dass ihr sie nicht zu einer Schau vor den Menschen macht; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel« (Mt 6,1 ). 8 Hier wird davor gewarnt. das gerechte Verhalten an die Adresse der Menschen zu richten. Ist es an diese Adresse gerichtet, zielt es auf den Respekt, den ich mir bei ihnen durch das Tun des Guten erwirken kann. Ist es dagegen allein an Gott gerichtet, bei dem sich niemand Respekt verschaffen kann, so geschieht es allein um Gottes, und das heisst allein um des Guten, willen. Ist das Tun auf den Respekt gerichtet, so degeneriert es nicht selten zu einem Spiel im Welttheater. Wir kennen dieses Phänomen, das eigene Leben als Rolle im Welttheater zu spielen, unter dem Begriff der Selbstdarstellung.
2Kor 12.9. Dazu Weder. Kreuz 173-175. Art. cipmJ 459.29ff. "Zum Folgenden vgl Weder. Rede 15Crl63. 6
7 Bauemfeinc:l.
3 Kampf gegen das Böse
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Zumindest wenn Tugend die Kultur des seiner selbst mächtigen Ichs ist, läuft sie Gefahr, zur Selbstdarstellung zu verkommen. Die Zurückhaltung des Neuen Testaments in Sachen Tugend könnte dadurch zu erklären sein, dass das Neue Testament das gerechte Tun davor bewahren will, Selbstdarstellung im Welttheater zu sein. Denn Selbstdarstellung verdirbt das Tun. In ihrem Horizont kommt das Werk gar nicht den Empfangern, sondern vielmehr den Tätern selbst zugute. Die Zurückhaltung in Sachen Tugend kann damit zu tun haben, dass das Neue Testament eine tiefe Skepsis entwickelt gegenüber der Beschäftigung mit eigener Gerechtigkeit. 9 Diese Skepsis könnte darin ihr Recht haben, dass ich - solange ich mit meiner Gerechtigkeit beschäftigt bin - noch nicht wahrhaftig der Not des andern zugewandt bin. Und diese Zuwendung zur Not des andern ist neutestamentlich gesehen das Fundamentalkriterium aller Ethik. Die Tugend müsste also alles Interesse daran haben, von jener Skepsis her kritisiert zu werden. Denn der Tugend kann es doch allein darum gehen, dass das Gute geschieht. Und das Gute geschieht erst - so die skeptische These der Bergpredigt - , wenn ich nicht mehr mit eigener Gerechtigkeit, mit eigener moralischer Statur beschäftigt bin, sondern nur noch damit, was andere brauchen.
3 Kampf gegen das Böse Ferner ist daran zu erinnern, dass Tugend schon immer den Aspekt der Tüchtigkeit im Kampf hatte. 10 Zunächst geht es um den Kampf gegen wirkliche Feinde, dann immer mehr um den Kampf gegen das Böse im Menschen selbst. Tüchtige Kämpfer sind die, die die Bosheit in sich selbst zu überwinden vennögen. Ihnen kommt dpETft zu. Die Vorstellung, im menschlichen Herzen tobe der Kampf zwischen Gut und Böse, ist in der Antike weit verbreitet, nicht nur im griechischen, sondern auch im jüdischen Denken. Doch dieses Modell hat seine Probleme. Denn ein solcher Kampf gegen das Böse setzt ein Subjekt voraus, das vom Bösen nicht besessen ist, ein Subjekt, das seiner selbst Herr ist. In einer jüdischen Schrift aus neutestamentlicher Zeit wird gesagt, im
9 ln diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen. dass ein Hauptsatz der Bergpredigt den Menschen das Suchen nach Gones Reich und seiner (nicht ihrer eigenen) Gerechtigkeit nahelegt. vgl Mt 6.33. 111 Belege bei Bauemfeind. An. cipn11 458.
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Die Abwesenheil der Tugend
menschlichen Herz befinde sich sowohl der Trieb des Bösen als auch das gute Gesetz Gottes, und es komme darauf an, dass der Mensch sich auf die Seite des Gesetzes schlage, um den bösen Trieb zu besiegen. 11 Dieses Modell setzt voraus, dass der Mensch die Tüchtigkeit hat, dem Bösen zu widerstehen. Und dies setzt wiederum voraus, dass das Böse zwar viel am Menschen besitzen mag, nicht aber ihn selbst. Im Neuen Testament, namentlich in den paulinischen Briefen, begegnen wir erheblicher Skepsis gegenüber diesem KampfesmodelL Das hängt damit zusammen, dass hier die Macht des Bösen - Sünde geheissen - viel radikaler gedacht wird. Die Sünde besitzt den ganzen Menschen, sie füllt ihn restlos aus, so dass es gar nichts gibt, was er aufzubieten hätte im Kampf gegen das Böse. 12 Hoffnung besteht für den Menschen nur, wenn es zu einer radikalen Wandlung kommt. Radikale Wandlung heisst bei Paulus, dass das Ich ganz stirbt, um dank göttlicher Macht als erneuerte Existenz jenseits der Sünde zu auferstehen (Römer 6). Radikale Wandlung heisst bei Johannes, von neuem geboren zu werden, so radikal neu anzufangen wie damals, als man auf die Welt kam (Joh 3,3). Kein Mensch kann sich zu neuer Existenz selbst auferwecken, kein Mensch kann aus eigener Kraft von neuem geboren werden. Radikale Wandlung ist in den Augen des Neuen Testaments ein Widerfahrnis göttlicher Kreativität. Dies erklärt die neutestamentliche Skepsis gegenüber dem KampfmodelL Und es erklärt vielleicht auch die neutestamentliche Zurückhaltung gegenüber der Tugend als kämpferischer Tüchtigkeit. Die Skepsis macht darauf aufmerksam, dass im Kampf immer nur das alte, vom Bösen besessene Ich siegt, und dass damit für die Wende zum Guten nur scheinbar etwas getan ist.
11 Im 4Esr wird feslgehallen. dass der .. böse Trieb« zusammen mir dem Geselz im mensch· Iichen Herzen isl. und dass alles darauf ankomm!. dass der Kampf gegen das Böse (und für das Geselz) gewonnen wird. vgl 4Esr 3.20: 7.127-131. Zum Problem vgl Harnisch. Verhängnis 165-175. 1: Der daraus resullierende elemenlare Zwiespallzwischen dem Wollen des Gulen und dem Tun des Bösen wird in Römer 7 eingehend beschrieben. Krafl dieses Zwiespalls kann das ganz von der Sünde beherrschle Ich nur über sich hinausfragen nach der renenden Mach!. die es herausreissen wird aus diesem »Leib der Sünde und des Todes«. Dazu Käsemann. An die Römer 199: »Übrig bleib! lellllich allein die Klage und der Schrei nach Erlösung. Darauf isl unsere Geschöpfliehkeil gleichsam zusammengeschrumpft«
4 Die Selbständigkeit des Weisen
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4 Die Selbständigkeit des Weisen In der ethischen Periode der griechischen Philosophie, also zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften, konzentrierte sich die ethische Reflexion auf das Ideal des Weisen (oocpc)<;).D Auf eindrückliche Weise wurde- mit dem Begriff der Tugend- das Gute im menschlichen Subjekt verankert. 14 Wurde zunächst als Argument für die Tugend der Lohn vorgebracht, den sie bringt, das gelungene Leben etwa, das dem Tugendhaften gewiss ist, so wurde dieser Gedanke immer mehr radikalisiert bis zu dem Punkt, wo die Tugend selbst ihr eigener Lohn war. Dies ist das eindrückliche Ende einer Verankerung des Guten im menschlichen Subjekt. 15 Dieses Subjekt, der Weise, wird zur Instanz, die das Gute allein um seiner selbst willen verwirklicht. Tugend ist Wissen um das Gute, und das Gute geschieht, weil der Mensch um es weiss. Freilich zeigte die Erfahrung, dass das Böse häufiger geschah als das Gute. Zwei Lösungen wurden im griechischen Kulturkreis dafür vorgeschlagen: (a) Wenn das Gute nicht geschieht, dann fehlt das Wissen. (b) Wenn das Böse wider besseres Wissen geschieht, dann ist das Wissen durch die Leidenschaften verdunkelt. 16 In beiden Fällen kommt das Gute aus dem Menschen, der über Unwissenheit oder LeidoAschaften siegt. Damit ist eine wichtige anthropologische Entscheidung gefallen: der Mensch hat als principium bonorum operum, als Ursprung der guten Werke zu gelten. Das Neue Testament traf eine andere anthropologische Entscheidung. Sie lautet - in einem paulinischen Satz aus dem Philipperbrief - wie folgt: »Denn Gott ist es, der in euch wirkt, und zwar das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.« Der Rückgriff auf Gott macht darauf aufmerksam, dass das Tun des Guten nicht in der Reichweite menschlicher Produktivität ist, nicht einmal das Wollen des Guten. Das principium bonorum operum ist allein Gott, der
Dazu Windelband. Geschichte 140-151. Die Tugendlehre ist grundsätzlich Individualethik ( Windelband Geschichte 140) und orientiert sich am »Eigenwert der moralischen Persönlichkeit« ( 150). 1 ' Snell, Entdeckung 142 weist darauf hin. dass die Tugend- im Unterschied zum Rechtkeinen Staat voraussetzt. Sie verankert das Gute allein im Individuum. Interessant ist. daneben die paulinische Vision vom »Leib Christi« zu halten. einem durch Christus geschaffenen Raum. in welchem die Menschen prinzipiell aufeinander bezogen und nur in dieser Bezogenheil auf das Gute ansprechbar sind ( vgl I Kor 12-14 ). 1 ~ Zu diesen Lösungsmodellen vgl Theissen. Aspekte 213-223. 11
14
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bEp'yEta hat, Wirkungsmacht Paulus stellt fest, dass das Böse ge-
schieht, obwohl der Mensch um das Gute weiss: »Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich« (Röm 7, 18b.l9). So lautet seine selbstkritische Analyse menschlichen Verhaltens. Wer könnte sie nicht aus tausendfacher Erfahrung bestätigen? Weder die Leidenschaft, die ich eindämmen könnte, noch die Unwissenheit, die ich überwinden könnte, ist für das Böse, das ich tue, verantwortlich. Verantwortlich ist die Sünde, eine Verfallenheil der ganzen Person. Es gibt kein Ich, das gegen sie siegen könnte. Deshalb gibt es nur den Ruf nach draussen, den klagenden Ruf nach göttlicher Kreativität, die mir das Gute zuspielt: »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen aus diesem Leib der Sünde und des Todes?« (Röm 7,24). Im Rahmen der antiken Tugendlehre entstand die Vorstellung, dass ich das Gute aus meinem Wissen um es produziere. 17 Im Neuen Testament dagegen fällt der schroffe Satz: »Ohne mich könnt ihr nichts tun« (Joh 15,5). Er steht im Zusammenhang des Bildes vom Weinstock. Christus ist der Weinstock, die Menschen sind die Rebzweige. Solange sie an ihn angeschlossen sind, bringen sie reiche Frucht, wenn sie sich von ihm emanzipieren, enden sie fruchtlos. Der Weinstock ist das Symbol der ausgeteilten Lebenskraft. Von dieser Kraft leben die Menschen, und nur solange sie von ihr leben, bringen sie Frucht. Die gute Tat ist verstanden als eine Frucht, die zwar durch mich hindurch aber dennoch nicht aus meinen Kräften wächst. Darin widerspiegelt sich ein Grundsatz, der für das Universum überhaupt gilt: von nichts kommt nichts. Das Gute im menschlichen Tun entsteht also daraus, dass das menschliche Sein an das Gute angeschlossen bleibt. Auch hier begegnen wir einem Moment, das die Zurückhaltung gegenüber der Tugend erklären kann. Denn im Horizont der Tugend könnte das Gute zu sehr im Rahmen des Produzierens verstanden werden. Dieses Produzieren ist nach neutestamentlicher Auffassung dem Menschen nicht erschwinglich. Deshalb zieht das Neue Testament die Metapher der Frucht der Vorstellung des Produktes vor.
17 Deshalb kann die cipm'j ganz in die Nähe der llnmiJ&'l kommen. vgl Snell. Entdeckung 132. und deshalb hält Sokrates unbedingt an der Lehrbarkeil der Tugend fest (aaO 159 ).
5 Abschied von der Leidenschaft
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5 Abschied von der Leidenschaft Schliesslich ist daran zu erinnern, dass die stoische Tugendlehre unauflöslich verbunden ist mit der Vorstellung menschlicher dm&ux, Leidenschaftslosigkeit. 111 Zum guten Verhalten kann ich erst dann vorstossen, wenn ich von keinen Leidenschaften mehr beherrscht bin. Die kühle Sachlichkeit ist der Ratgeber auch in ethischen Dingen, nicht das Pathos, das nur Kummer bringt. In der Tat, die Leidenschaften haben schon genug Unheil angerichtet. Und man versteht sehr gut das stoische Bemühen, von ihnen loszukommen. Eben dies ist das Ziel derer, die sich in der Tugend bewähren wollen. Im Neuen Testament dagegen wird den Leidenschaften ein höherer ethischer Wert zugestanden, namentlich dem lÄ.Eoc;, dem Mitleid. Den Mitleidigen gilt eine Seligpreisung Jesu: »Selig die Mitleid üben, sie werden Mitleid erfahren« (Mt 5,7). 19 Das Mitleid ist jene Leidenschaft, dank welcher ich in einer elementaren Verbindung zum andern Menschen stehe, genauer: zur Not des andern Menschen. Diese elementare Verbindung erlaubt keine Distanz kühler Sachlichkeit, sie ist eine Nähe, die mir das Helfen erleichtert. Diese Verbindung ist so elementar, dass sie allen vernünftigen ethischen Überlegungen vorausgeht. Im Mitleid nehme ich eine Zuordnung zu den Menschen wahr, die nicht das Produkt des ethischen Handelns, sondern vielmehr dessen Lebensgrundlage ist. Vielleicht will sich das Neue Testament jene elementare Verbindung bewahren und ist deshalb zurückhaltend gegenüber dem Modell kühler Sachlichkeit in der Tugend. Vernünftige Zuwendung kann jederzeit in vernünftige Distanzierung umschlagen. Vielleicht geht es dem Neuen Testament darum, dass die Zuwendung zu den Menschen nicht etwa als Ergebnis tugendhafter Lebensführung anzusehen ist, sondern vielmehr dass die mit dem Leben selbst gegebene Zugewandtheil der Menschen zueinander das ist, was das Tun des Guten am Leben erhält. In der Leidenschaft des Mitleids wird solche Zugewandtheil wahrgenommen. Und dies wäre ein guter Grund, gegenüber der am autarken Subjekt entworfenen Tugend Zurückhaltung zu üben.
IK Die Tugend des Weisen lä'ist sich überhaupt als dmet~a zusammenfassen (vgl Windelband, Geschichte 1430. sofern sie den Sieg über die vernunftwidrigen Affekte der Seele darstellt. Das eine grosse Laster ist dementsprechend die Herrschaft der Affekte über die Vernunft. 1 ~ Vgl Weder. Rede ~70.
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Die Abwesenheit der Tugend
3 Zum Schluss Unsere Überlegungen zur abwesenden Tugend im Neuen Testament haben - als wichtigste Momente - das Folgende erbracht: (I) Die menschliche Tugend steht immer in der Gefahr, zur Selbstdarstellung des Täters zu verkümmern. Doch dies verhindert gerade das, wozu die Tugend eingeübt werden soll: dass getan wird, was andere und die Welt nötig haben. Zu überlegen bleibt also, wie sich Tugend die Selbstdarstellung vom Leibe hält. (2) Wer auf die Kultur der Tugend setzt, könnte sich Illusionen machen über die Harmlosigkeit des Bösen. Zu überlegen bleibt, ob es in der Reichweite des Menschen liegt, aus eigener Kraft zum Guten vorzustossen, oder ob das Böse gerade auch seinen Willen zum Guten beherrscht. (3) Das Modell der Tugend muss von einem autarken Subjekt ausgehen, das das Gute aus sich heraus produziert. Zu überlegen bleibt, ob es dieses autarke Subjekt gibt, oder ob das gute Tun nicht doch zu begreifen sei als eine Frucht am Baum jener Kreativität, die die ganze Welt und alles Leben in ihr erschuf und am Leben hält. Zu überlegen bleibt, ob lieben kann, wer nicht zuerst geliebt wurde.
»Bessere Gerechtigkeit« als Prinzip menschlichen Verhaltens Kann es überhaupt etwas Besseres geben als Gerechtigkeit? Kann menschliches Verhalten mehr sein wollen als gerecht? Zu viele gibt es, die unter barer Ungerechtigkeit zu leiden haben. Welchen Sinn hat es, angesichts dieses Leidens nach besserer Gerechtigkeit zu fragen? Wer noch nicht herausgekommen ist aus dem Wünschen, es möge ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren, wird kaum Verständnis haben für die Frage nach besserer Gerechtigkeit. Wessen Hunger nach Gerechtigkeit noch nicht gestillt ist, wird sich kaum etwas Besseres gefallen lassen. Und wer gehörte nicht zu diesen Hungernden? Angesichts des Defizits an Gerechtigkeit, das unsere Gesellschaft und unser Leben weithin prägt, scheint es luxuriös, ja vermessen, nach besserer Gerechtigkeit zu fragen. Dies umso mehr, als auch im Dokument der Europäischen Ökumenischen Versammlung für Frieden in Gerechtigkeit keine inhaltlichen Überlegungen zur Gerechtigkeit angestellt werden. Sie wird dennoch zur höchsten Norm menschlichen Verhaltens erklärt. Was Gerechtigkeit ist, scheint klar zu sein, es geht nur noch darum, es auch in die Tat umzusetzen. In der Tat, wer an den Bedürfnissen der Zeit orieBliert ist, hat keinen Grund von besserer Gerechtigkeit zu sprechen. Das Thema ergibt sich nicht aus funktionalen Defiziten der gegenwärtigen Welt. Das Thema der besseren Gerechtigkeit gibt es, weil es Jesus von Nazareth gab. Wer in einer Jesusvorlesung von Gerechtigkeit sprechen will, kommt nicht darum herum, von besserer Gerechtigkeit zu sprechen. Denn bei Jesus spielte Gerechtigkeit eine sehr marginale Rolle. Es gibt kaum ein Jesuswort, das sich auf die Gerechtigkeit bezieht. Ihm ging es offensichtlich um mehr. Dies wird in einem Satz aus dem Matthäusevangelium prinzipiell zum Ausdruck gebracht: »Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Phärisäer und Schriftgelehrten nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« Zwar ist dies kein Satz des historischen Jesus, sprachlich und sachlich trägt er das Gepräge der matthäisehen Theologie. Aber man kann dennoch zeigen, dass dieser Satz auf das Zentrum dessen verweist, was Jesus mit dem Verhalten der Menschen im Sinn gehabt hat. Er fasst adäquat zusam-
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»Bessere Gerechtigkeit« als Prinzip menschlichen Verhaltens
men, wofür Jesus die Menschen in Anspruch nimmt. Das Verhältnis zur Gerechtigkeit wird mit einem doppelten Komparativ zum Ausdruck gebracht: »bei weitem« ist der erste Komparativ, »übersteigen« der zweite. Der doppelte Komparativ weist darauf hin, dass die neue Gerechtigkeit nicht einfach eine quantitative Steigerung der alten ist, sondern dass sie auf einem qualitativ anderen Niveau angesiedelt ist. Was diese qualitative Differenz genauerhin ist, wird in der nun folgenden Betrachtung der ethischen Verkündigung Jesu bedacht. Aus funktionalen Bedürfnissen der gegenwärtigen Welt ergibt sich wie gesagt - das Nachdenken über bessere Gerechtigkeit nicht. Dies sieht aus wie eine Ablenkung von aktueller Dringlichkeit. Doch es könnte wohl sein, dass das Nachdenken über bessere Gerechtigkeit, gerade weil es keinem aktuellen Bedürfnis entspricht, der dringlichen Frage nach Gerechtigkeit zugute kommt. Denn Ablenkung muss nicht von den Sachfragen wegfUhren, sie könnte auch Fixierungen und blinde Flecken einer Zeit überwinden. Deshalb wird die Frage, was die bessere Gerechtigkeit flir das Phänomen Gerechtigkeit austrägt, die nun folgenden Überlegungen begleiten.
1 Die Überwindung des Grenzfalles Wer erfahren will, was unter der Forderung Jesu nach besserer Gerechtigkeit zu verstehen sei, tut gut daran, einen Blick auf die Antithesen der Bergpredigt zu werfen. Denn der zitierte Satz bildet den Auftakt flir die ethische Verkündigung, die in der Bergpredigt zusammengestellt ist. Instruktiv ist die erste Antithese (sie heisst so, weil Jesus hier den alttestamentlichen Geboten seine eigene Auslegung des Willens Gottes antithetisch entgegensetzt): »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: 'Du sollst nicht töten'; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig. Wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig« (Mt 5,21 f). Das Verbot des Tötens steht hier für das Gerechte. Jesus dehnt nun dieses Verbot aus auf Dinge, die man nie mit dem Wort töten verbinden würde, auf den alltäglichen Zorn oder die harmlose Beschimpfung. Man verbannlost diese Ausdehnung, indem man sagt: der Zorn, die Beschimpfung ist
I Die Überwindung des Grenzfalles
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schon der Anfang des Tötens, so etwas kann ohne weiteres auf Tötung hinauslaufen. Das ist freilich nicht die Aussage Jesu. Jesus spricht nicht vom Beginn des Tötens im Affekt des Zorns, sondern er dehnt das, was unter den Begriff töten fallt, ins Grenzenlose aus: das harmlose Schimpfwort wird durch dasselbe Verdikt getroffen wie der buchstäbliche Mord. Diese grenzenlose Ausdehnung des Verbots zu töten zeigt, was bessere Gerechtigkeit heisst. Damit deckt Jesus eine grundlegende Problematik der Gerechtigkeit auf. Das Gerechte ist das Angemessene, das mit gerechtem Mass Zugeteilte. Die Gerechtigkeit gehört in die Welt des Masses und des Messens. Und deshalb wohnt in ihr ein Zug zum Grenzfall. Gesucht ist jene Verletzung des Lebens, die den Tatbestand des Tötens erfüllt. Jesus dehnt das Verbot des Tötens grenzenlos aus. Seine bessere Gerechtigkeit ist also dadurch charakterisiert, dass sie den Zug zum Grenzfall hinter sich hat. Sie kann nicht fragen, wo die Grenzen verbotener Verletzung des Lebens sein könnten. Sie kann nur jede Verletzung des Lebens unter das Verdikt Gottes stellen. Jesus formuliert hier den Anspruch, der mit dem Leben selbst gegeben ist: gerade die Verletzlichkeit des Lebens stellt den Anspruch, dass es auf keine noch so harmlose Weise verletzt werden darf. Bei der Gerechtigkeit geht es nicht selten darum, den Spielraum des menschlichen Verhaltens innerhalb der Grenzen göttlicher Verbote abzustecken. Es geht nicht selten um die Frage, was ich mir noch erlauben kann, ohne meine Gerechtigkeit aufzugeben. Die bessere Gerechtigkeit fragt nicht nach dem Spielraum, den ich als menschliches Subjekt habe, sie fragt vielmehr nach dem Anspruch, den das gegebene Leben auf mich hat. Und sie lässt diesen Anspruch in seiner Grenzenlosigkeit erkennen. Wird dadurch nicht auch der gewöhnlichen Gerechtigkeit ein beachtenswerter Hinweis gegeben? Dieselbe Grenzenlosigkeit zeigt sich in einer andern, mit grosser Wahrscheinlichkeit auf Jesus zurückgehenden Geschichte (Mk 3,1-6). Jesus ist in einer Synagoge. Sie ist voll von Leuten. Darunter ist einer mit einer verdorrten Hand. Es ist Sabbat; und die Hüter des Gesetzes beobachten Jesus scharf, ob sie ihn bei einer Ungerechtigkeit ertappen können. Sie beobachten ihn, ob er den Kranken am Sabbat heilen würde. »Steh auf, in die Mitte!« Dieser Ruf stellt den ins Zentrum, der Hilfe braucht. Und eine Frage stellt die Hüter der Gerechtigkeit zur Rede: »Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu retten oder Leben zu töten?« Eine Vexierfrage, die die Hüter der Ge-
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rechtigkeit verstummen liess. Gewiss, auch sie waren keine Unmenschen. Ihrer Meinung nach war es am Sabbat ausdrücklich erlaubt, Leben zu retten. Doch hier gehe es nicht um Lebensrettung, hätten sie argumentiert, wenn sie nicht geschwiegen hätten, hier gehe es um die Heilung einer abgestorbenen Hand, die eine Verletzung des Sabbatgebotes nicht rechtfertige. Sie seien nicht dagegen, dass ihm geholfen werde, aber das habe bis morgen Zeit. Die Pflicht zur Sabbatheiligung ist zwar durch den Grenzfall der Lebensrettung ausser Kraft gesetzt, nicht aber durch die aufschiebbare Hilfe an einen Kranken. Die Vexierfrage, die ihnen Jesus stellt, dehnt die Lebensrettung ins Masslose aus: nicht bloss Lebensrettung ist erlaubt am Sabbat, sondern das Tun des Guten ist grenzenlos geboten. Es ist nicht zulässig, sich am Grenzfall der Lebensrettung zu orientieren, denn alles Tun des Guten hat die Dimension der Lebensrettung. Die Gerechtigkeit fragt nach dem Angemessenen, die bessere Gerechtigkeit zielt auf ein Tun des Guten, das alles Angemessene bei weitem übersteigt. Das war eine Provokation ftir die Hüter des Gesetzes. Vielleicht täte die Gerechtigkeit gut daran, solche Provokationen des Grenzenlosen auszuhalten, um sich nicht selbst im Massvollen gefangenzuhalten.
2 Kreativität und Gerechtigkeit Zum Verständnis der besseren Gerechtigkeit ziehen wir eine weitere Antithese heran: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist 'Du sollst deinen Nächsten lieben' und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,43-45). Wenn es überhaupt etwas gibt, das auf den irdischen Jesus zurückgeführt werden muss, dann ist es dieses Gebot der Feindesliebe. Hier tritt uns seine Auslegung des Willens Gottes am lautersten entgegen. Zunächst bestätigt sich, was im vorhergehenden Überlegungsgang gesagt wurde: das Gebot der Nächstenliebe, die Gerechtigkeit also, hat einen Zug zum Grenzfall. Es tendiert auf die Frage, wer mein Nächster ist. Wer so fragt, fragt nicht nach dem Raum, wo Nächstenliebe geboten ist, sondern er fragt nach der Grenze, wo es erlaubt ist, mit der Liebe aufzuhören. Deshalb ist der Feindeshass der Zwilling der Näch-
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stenliebe. Das Gebot der Feindesliebe, die bessere Gerechtigkeit also, widersteht erneut der Begrenzung des Gebotenen. Diese Antithese ftihrt uns indessen einen Schritt weiter. Im Anschluss an sie werden zwei Fragen gestellt: »Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr da? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüsst, was tut ihr da Ausserordentliches? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?« (Mt 5.460. Zu lieben, wer mich liebt, ist gerecht; zu grüssen, wer mich grüsst, ist angemessen. Es ist angemessen, erfahrenes Gutes mit dem Erweis des Guten zu beantworten. Mit solchem Verhalten wird gleichsam das Niveau des Guten gehalten. Das ist nicht zu verachten, zumal es Verhaltensweisen genug gibt, die nicht einmal dies tun, sondern die das Gute vernichten. Die Gerechtigkeit ist genau darauf aus, dass das Verdiente gegeben wird, dass erfahrenes Gutes mit erwiesenem Guten beantwortet wird. Wenn Jesus Feindesliebe gebietet, zielt er auf mehr: dem in der Gerechtigkeit bloss gehaltenen Niveau des Guten stellt er das in der Liebe gewonnene Bessere gegenüber. Ausserordentlich ist die Liebe insofern, als sie mehr gibt, als was jemals gefordert werden könnte. Sie tut mehr als das Angemessene. Die Gerechtigkeit handelt nach der Ökonomie des Verdienten, die- wie gesagt- keinesfalls zu verachten ist. Diebessere Gerechtigkeit handelt nach der Ökonomie der Gabe. Mitten in die Welt des Verdienten bringt sie das Unverdiente, das Ausserordentliche, das jede Ordnung qualitativ übersteigt. Man könnte das Prinzip solchen Verhaltens auf den Begriff der Kreativität bringen. Kreativ ist es, weil es Gutes schafft, wo Böses gewesen ist, weil es Liebe übt, wo Hass gewesen ist. Und man fragt sich zu Recht, wo solches Verhalten begründet sein könnte. In der Gerechtigkeit jedenfalls nicht. Nicht zufällig hebt die vorliegende Begründung auf die schöpferische Macht Gottes ab: auf die Sonne, welche Böse und Gute wännt, auf den Regen, der Gerechte und Ungerechte erquickt. Sonne und Regen werden damit zum Denkmal dessen, dass die schöpferische Macht Gottes nicht bloss als theologisches Postulat oder romantische Spekulation über die Urzeit existiert, sondern dass sie alltägliche Erfahrung ist. Und eben die Erfahrung göttlicher Schöpfermacht ist der einzige Grund, den es für kreatives Handeln geben kann. Die Kreativität der besseren Gerechtigkeit verdankt sich der Kreativität, die in der Gestalt von Sonne und Regen den Alltag bereichert.
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Vielleicht wäre es einer Überlegung wert, ob es- weltweit gesehen ebenso wie im kleinen Massstab des Alltags - gerade der besseren Gerechtigkeit bedarf, damit den Armen Gerechtigkeit geschehe. Es wäre zu überlegen, ob die Ökonomie des Verdienenseine tragfähige Grundlage darstellt, die Reichen zur besseren Verteilung zu bewegen. Vielleicht geschieht Gerechtigkeit erst dann, wenn die Ökonomie der Gabe unter denen Platz greift, die etwas zu geben haben.
3 Schau vor den Menschen Nach Matthäus ist die Gerechtigkeit in Gefahr, zu einer Schau vor den Menschen zu degenerieren. »Habt acht darauf, dass ihr aus eurer Gerechtigkeit keine Schau vor den Menschen macht«, so leitet Matthäus eine Reihe von Texten ein, welche von der Kritik Jesu an der Heuchelei erzählen (Mt 6, I). Als Beispiel betrachten wir das Almosengeben (Mt 6.2~). »Wenn du Almosen gibst, lass es nicht ausposaunen vor dir her, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gewürdigt werden. Amen ich sage euch: Sie haben ihren Lohn (damit) gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine Linke nicht wissen, was die Rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen bleibe. Und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten.« Das Wort ÜKo1Cpl'ttlc;, Heuchler, bezeichnet ursprünglich den Schauspieler, der mit einer Maske vor einem Publikum etwas darstellt. Von Heuchlern nimmt man an, sie spielen einem etwas vor, was sie nicht sind. Nicht so hier: Heuchelei nennt es Jesus, wenn veröffentlicht wird, was jemand effektiv getan hat. Nicht etwas anderes wird vorgespielt, sondern das, was man aufzuweisen hat, wird ausgespielt. Heuchelei heisst hier, wenn Almosen, Mitleidserweise an die Öffentlichkeit gerichtet sind. An die Öffentlichkeit sind sie gerichtet, damit der Täter die angemessene Würde erhält. Gewiss, gerechtes Verhalten verdient öffentliche Würdigung. Dennoch erscheint es in den Augen Jesu als Heuchelei. Warum? Seine Kritik deckt ein weiteres Problem auf, das die Gerechtigkeit hat. Das Problem des Adressaten nämlich. An wen ist das gerechte Tun gerichtet? Richtet es sich an die Weltöffentlichkeit, um dort die verdiente Beachtung zu finden? Begreiflich, gewiss. Doch so gerichtet kann die Gerechtigkeit nicht bis zu ihrem Ziel vorstossen, bis zu den Menschen
3 Schau vor den Menschen
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nämlich, denen der Mitleiderweis gilt. Wenn erwiesenes Mitleid an die Weltöffentlichkeit gebracht wird, so lässt dies erkennen, dass der Täter eigentlich mit seiner eigenen Würde beschäftigt ist, nicht mit der Würdigung derer, denen seine Wohltat zugute kommen sollte. Es entspricht einem inneren Zug der Gerechtigkeit, dass sie sich als Eigenschaft des Subjekts zu etablieren versucht, eines Subjekts, das dann legitime Interessen hat, in seiner Gerechtigkeit gewürdigt zu werden von der Öffentlichkeit. Die bessere Gerechtigkeit dagegen handelt im Verborgenen, genauer: sie tut das Gute allein im Gegenüber zu Gott, sie tut es allein um des Gotteslohnes willen. Dies könnte man eine metaphysische Verschleierung der berechnenden Gerechtigkeit nennen. Doch man wird zu beachten haben, dass der Lohn im Himmel seit je als unberechenbar galt. Der Gotteslohn ist eine religiöse Vorstellung, man könnte sagen: eine religiöse Metapher dafür, dass der Erweis des Guten innerweltlich keine adäquate Belohnung finden kann. Der Erweis des Guten, das kreative Handeln, geschieht allein um des Gotteslohnes willen, und eben deshalb geschieht es ganz um des Nächsten willen. Mit der Gerechtigkeit ist ein subjektiver Grundzug des menschlichen Verhaltens von vomherein mitgesetzt. Durch die Gerechtigkeit schafft sich das Subjekt Respekt, Würde bei den Menschen. Ein so an das Forum der Menschen adressiertes Verhalten ist zu sehr mit der eigenen Gerechtigkeit beschäftigt, als dass es dem andem gerecht werden könnte. Dies trifft gar nicht nur für persönliche Subjekte zu. Mit der eigenen Gerechtigkeit können durchaus auch kollektive Subjekte so beschäftigt sein, dass sie die faktischen Bedürfnisse der Menschen gar nicht in den Blick bekommen. Eine Kirche zum Beispiel, die primär mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit beschäftigt wäre, ganz so, als ob überhaupt etwas anderes als das Evangelium glaubwürdig sein könnte, eine solche mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit beschäftigte Kirche müsste es eher früher als später verlernen, den Erweis des Guten ganz und ausschliesslich auf die zu konzentrieren, die das Gute nötig haben. Die bessere Gerechtigkeit, von der Jesus spricht, erinnert die Gerechtigkeit an den ihr eigenen Zug zur Selbstdarstellung und macht sie darauf aufmerksam, dass es einzig und allein darauf ankommt, den Menschen und ihren konkreten Bedürfnissen gerecht zu werden.
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4 Mitleid und Gerechtigkeit Der eben besprochene Text enthielt schon den Hinweis auf den jetzt zu behandelnden Aspekt. Wenn Jesus gutes Verhalten begründet, so spielt Gerechtigkeit kaum eine Rolle. In der Erzählung vom barmherzigen Samaritaner zum Beispiel, wo es um die Frage geht, wie jemand einem unter die Räuber Gefallenen der Nächste sei, wird die entscheidende Wende gerade nicht durch Gerechtigkeit herbeigeführt. Man könnte im Gegenteil sogar vermuten, dass der Levit und der Priester den Gefallenen genau deshalb liegen Hessen, weil sie zu sehr mit ihrer eigenen Gerechtigkeit - in diesem Falle mit der kultischen Reinheit beschäftigt waren. Vom näherkommenden Samaritaner dagegen heisst es: »er wurde von Mitleid ergriffen« (Lk 10,33). Vielleicht war er kein besonders guter Mensch, in den Augen der ursprünglichen Hörer Jesu war er bestimmt kein Gerechter, aber das Mitleid ergriff ihn, und deshalb konnte er den Gefallenen nicht liegen lassen. Das Mitleid brachte ihn dazu, diesem Gefallenen ein Nächster zu sein. Das Mitleid erschuf in ihm ein Verhalten, das dem Gefallenen gerecht wurde. Wir wissen, dass Mitleid seine Probleme hat. Deshalb fordern viele Gerechtigkeit statt Mitleid. Zu bedenken wäre aber auch das Problem, das darin liegt, dass Mitleid gegenwärtig nur noch als Herablassung verstanden wird. Mitleid wäre von Hause aus eine Leidenschaft, die gerade jede Herablassung vertreibt und den Menschen in die Tiefe führt, in die Nähe derer, die am Boden liegen. Ich denke, eben die Gerechtigkeit leiste oft Widerstand gegen diese Nähe, weil sie sich so vor der Herablassung fürchtet und dann ihren Weg in die Tiefe gar nicht findet. Das Mitleid ist eine Passion, die den Menschen nicht auf seine subjektive Produktivität zurückwirft, wenn es um das Gute geht. Es bewegt ihn vielmehr zu Gutem, wozu emporzuschwingen er von sich aus kaum in der Lage ist. Das Mitleid ist eine bewegende Kraft, die den Menschen davon befreit, selbst unbewegter Beweger aller Dinge sein zu müssen. An dieser Kraft wird anschaulich, was göttliche Geistkraft sein könnte. Die Erzählung vom bannherzigen Samaritaner macht ferner aufmerksam darauf, dass dem vom Mitleid Ergriffenen eines nicht mehr möglich war: er konnte sich nicht mehr von der Not des Gefallenen distanzieren. Bestimmt hätte auch er viele gute Gründe gehabt, ihn liegen zu lassen. Wer auf das Gerechte angesprochen wird, kann immer gute
5 Gerechligkeit und Gottesreich
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Gründe finden, es nicht zu tun. Die Gerechtigkeit eröffnet einen weiten Spielraum der Distanzierung. Einen Raum nota bene, der zum Leben zwar notwendig, der aber dem notwendigen Erweis des Guten selten förderlich ist. Das Mitleid dagegen stellt eine elementare Verbindung der Menschen untereinander dar, eine Verbindung, die noch vor dem vernünftigen Argumentieren kommt und damit jeder vernünftigen Distanzierung zuvorkommt. Wer immer die Forderung »Gerechtigkeit statt Mitleid« auf seine Fahne schreibt, möge sich gut überlegen, ob er nicht eine elementare Verbindung unter den Menschen durchschneide, eine Lebensverbindung gleichsam, auf die gerade ein Verhalten angewiesen ist, das den zu Boden Gefallenen gerecht werden will.
5 Gerechtigkeit und Gottesreich Jetzt ist es höchste Zeit geworden, auf den Bezug der besseren Gerechtigkeit zum Gottesreich einzugehen. Schon die eben besprochenen Aspekte haben ihren Gottesbezug unübersehbar gezeigt. Angesichts des Sabbats, der doch der Tag der Heiligung Gottes ist, kann es nur grenzenlose Lebensrettung geben. Der Anspruch der Feindesliebe ergibt sich aus der schöpferischen Macht Gottes, die den Menschen alltäglich am Leben erhält. Der Erweis des Guten, das Almosengeben, soll ausschliesslich unter den Augen Gottes geschehen. Und das Mitleid ist eine elementare, durch den Schöpfer selbst geschaffene Verbindung unter den Menschen. Nun soll - in einem letzten Gedankengang - dieser Aspekt des Gottesbezugs oder des Transzendenzbezugs eigens bedacht werden. Leitend ist dabei die Vermutung, dass die bessere Gerechtigkeit, von der Jesus spricht, zurückgeführt werden kann auf das, was im Gottesreich massgebend ist. Zu vermuten ist, dass die Überwindung des bloss Gerechten durch das Bessere ein Charakteristikum des Gottesreiches ist. Bekanntlich sind es die Gleichnisse, mit denen Jesus seinen Hörern eine Einstellung auf das Gottesreich vermittelte. Es ist deshalb sinnvoll, das Verhältnis von besserer Gerechtigkeit und Gottesreich anhand eines Gleichnisses zu bedenken. Besonders geeignet ist das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-15), das mit grösster Wahrscheinlichkeit von Jesus stammt. Ein Weinbergbesitzer geht frühmorgens auf den Markt, um Arbeiter anzustellen. Er kommt mit ihnen überein, dass
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der Tageslohn einen Denar betrage. Der Besitzer geht an diesem Tag noch mehrmals auf den Markt, Arbeiter anzustellen: um neun Uhr, um zwölf Uhr, um drei Uhr. Da, auf dem Markt, fällt das Stichwort der Gerechtigkeit: »Was gerecht ist, was recht ist, will ich dir geben«, so lautet die Abmachung mit diesen Arbeitern. Und auch um fünf Uhr nachmittags stellt er noch einige Arbeitslose an. Am Abend besorgt der Verwalter die Auszahlung der Löhne. Zuerst kommen die, die zuletzt angestellt worden sind: sie erhalten einen Denar. Dies ruft den vehementen Protest derer hervor, die zuerst gekommen sind: »Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und uns gleich hast du sie gemacht, uns, die wir die Last des Tages und die Hitze getragen haben.« Der Protest der Zuerstgekommenen geschieht im Namen der Gerechtigkeit. Das Prinzip, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit zu bezahlen sei, gibt das Recht zum Protest. Es wäre verfehlt, diesen Protest zu verurteilen, erst recht in einer Welt, die noch weit davon entfernt ist, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu bezahlen. Diese Gerechtigkeit soll niemand miesmachen. Auch der Besitzer versucht, mit der Gerechtigkeit zu argumentieren. »Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Denar?« Sicher, das stimmt. Aber man spürt dennoch, dass diese formale Gerechtigkeit brüchig ist. Es ist, als ob der Besitzer diese Brüchigkeit übertünchen möchte, indem er Argument an Argument reiht: »Nimm das Deine und geh! Ich will diesem Letzten so viel geben wie dir. Oder steht es mir etwa nicht zu, mit meinem Besitz zu tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?« Gewiss, mit dem Seinen kann er tun, was er will. Gerecht aber ist es nicht. Es gibt eigentlich nur ein Argument für sein Verhalten: Ich will diesem Letzten so viel geben wie dir. Dieser Rekurs auf das Wollen ist ein erzählerischer Hinweis darauf, dass es für dieses Verhalten gar keine Argumente mehr geben kann. Es ist grundlos, weil es zuteilt, wo nicht verdient wurde. Dem Gleichnis geht es nicht um die Regelung weltlicher Verhältnisse; keine Wirtschaft könnte existieren, würde sie ihre Löhne nach solchen Kriterien auszahlen. Dem Gleichnis geht es vielmehr darum, mit den Mitteln weltlicher Sprache das Gottesreich abzubilden, Raum zu schaffen für Gott inmitten der Welt. Die Zuerstgekommenen vertreten die Gerechtigkeit der Welt. Der Weinbergbesitzer vertritt dagegen die Güte des Gottesreiches. Das Gerechte kann immer begründet werden durch den Leistungsvergleich. Die Güte dagegen ist grundlos,
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nur noch im Willen des Besitzers verankert. Die Gerechtigkeit beruht kosmologisch gesprochen - auf dem grundlegenden thermodynamischen Prinzip, dass die Energie nicht mehr als erhalten bleiben kann, aber auch erhalten bleiben muss. Alltäglicher gesagt: dass von nichts nichts kommt. Die Güte dagegen beruht auf der Kreativität, sie rekurriert- kosmologisch gesprochen- auf die Entstehung des Universums, - theologisch gesprochen - auf die Schöpfung der Welt. Dies ist zugleich das Fundament dafür, dass Jesus das Verhalten der Menschen beanspruchen kann für die Güte, eben für die bessere Gerechtigkeit. Mit welchem Recht stellt sich Jesus das Gottesreich als ganz durch die Güte bestimmt vor? Es gibt ja die Schöpfung, so könnte man theologisch sagen, die eine Schöpfung aus dem Nichts ist. Es gibt ja die Güte im alltäglichen Leben, so könnte man hermeneutisch sagen, die wie ein Blitz da und dort aufleuchtet inmitten der Verhältnisse, in denen es bestenfalls gerecht zugeht. Vielleicht ist das Licht dieses Blitzes alltäglicher, fragmentarischer Güte Licht von einem Reich, in welchem eine grossartige Fülle von Güte schlechterdings alles bestimmt. Die Güte des Gottesreiches besteht nach dem besprochenen Jesusgleichnis darin, dass alle denselben Lohn erhalten. Man hat daraus nicht selten geschlossen, im Gottesreich seien alle Menschen gleich viel wert. Und dieser Gedanke passte schön in egalitäre Vorstellungen der Modeme. Wer das Gleichnis genauer nimmt, muss präzisieren: Im Gottesreich wird nicht einfach allen der gleiche Lohn ausbezahlt, sondern alle erhalten den Lohn der Ersten. Daraus folgt: Im Gottesreich gibt es nicht nur Gleiche, sondern es gibt nur Erste. Im Gottesreich sind alle gleich viel, nämlich unendlich viel wert. Mit dieser Optik stattet das Gleichnis seine Hörer aus, um sie dann auch ethisch für die bessere Gerechtigkeit in Anspruch zu nehmen. Deutlich wird hier ebenfalls, dass die bessere Gerechtigkeit nicht mit Ungerechtigkeit zu verwechseln ist. Denn die Güte handelt nicht weniger als gerecht, sondern mehr als gerecht. Die Güte hat ein Plus gegenüber der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bemisst Vorhandenes, Güte dagegen misst Neues zu. Das ist ihr Plus. Die Güte verlangt zwar nicht, dass auf Verdientes verzichtet wird, wohl aber verlangt sie, dass toleriert wird, wenn Unverdientes ausgeteilt wird. Die Güte des Gottesreiches zielt auf ein Verhalten, das andern mehr zugesteht, als ihnen gerechterweise zukäme. Dies wäre meinesErachtensein Verhalten, das in der weltweiten Völkergemeinschaft schon lange an der Zeit wäre.
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Schluss Die bessere Gerechtigkeit, so haben wir ( 1) gesehen, zielt auf ein Verhalten, das das Gute unbegrenzt tut. Sie zielt (2) auf ein kreatives Verhalten, das Gutes schafft, wo Böses gewesen ist. Sie zielt (3) auf ein Verhalten, das allein um Gottes willen und insofern allein um der Not des Nächsten willen geschieht. Sie beruht (4) auf Dingen wie Mitleid, Dinge, die eine elementare Verbindung der Menschen darstellen und so allen Distanzierungsversuchen zuvorkommen. Die bessere Gerechtigkeit ist (5) nur noch begründbar mit der Güte des Gottesreiches, die nichtamBemessen des Verdienten, sondern am Zumessen von Unverdientem interessiert ist. Insofern ist die bessere Gerechtigkeit das Prinzip eines Verhaltens, das menschlicher ist als die blosse Gerechtigkeit. Die bessere Gerechtigkeit hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Sie kann nicht erzwungen werden. Es gibt keine Sanktionen, mit denen Menschen auf sie verpflichtet werden könnten. Sie entsteht, weil sie sich der Güte des Gottesreiches verdankt, erst in der Berührung durch das Heilige. Solche Berührung geschieht seit alters nur im menschlichen Herzen, im existentiellen Zentrum der Personen. Wer Menschen zum Guten bewegen will, muss also die Güte des Gottesreiches in ihre Herzen legen. Die bessere Gerechtigkeit wird demnach geschaffen durch die Arbeit am menschlichen Herzen, die Jesus in seiner Zeit tat und die seine Geschichten in unserer Zeit leisten. Arbeit an den Herzen der Menschen. Wäre dies nicht der Beitrag der Kirchen zur Kultur menschlicheren Verhaltens? Man argwöhnt eine personalistische Verengung und mit sozialethischem Pathos weist man nicht selten solche Arbeit am existentiellen Zentrum der Personen von sich. Doch auch sozialethische Massnahmen können - wenigstens in westlichen Demokratien - nur getroffen werden, wenn es gelingt, eine Mehrheit der Personen von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Es ist die grosse Versuchung der Kirchen, sich ethisch auf das Erzwingbare zurückzuziehen. Mit Grund könnten sie dann noch auf das Gerechte pochen. Doch die Güte, die grundlos ist wie die Erschaffung der Welt, würde allen fehlen, die auf grundlos zugestandene Gerechtigkeit angewiesen sind.
· &Eu&pia und Toleranz Toleranz ist eine fürstliche Tugend. Zumindest gilt dies, sofern man auf den geschichtlichen Ursprung der Toleranz blickt. An ihrem Ursprung ist sie die Tugend der fürstlichen Landesherren, in ihrem Untertanengebiet eine Mehrzahl von christlichen Konfessionen zu dulden 1• Fragt man nach der theoretischen Begründung, welche es einem Fürsten möglich macht, sich auf den Standpunkt der Toleranz zu stellen, so tritt einem ein ganzes Geflecht von Motiven entgegen, das so leicht nicht zu entwirren ist 2 • Immerhin dürfte der aufklärerische Religionsbegriff eine prominente Rolle in der Begründung der Toleranz gespielt haben. Gemeint ist jetzt die Einführung des Begriffes der Grundwahrheiten, welche allen positiven Religionen zugrunde liegen. Diese Grundwahrheiten sind vom Standpunkt der natürlichen Vernunft ohne weiteres einzusehen 3• Als solche sind sie zugleich der gemeinsame Nenner, unter welchem die verschiedenen Konfessionen und sogar Religionen prinzipiell als gleichartig und gleichwertig begriffen werden können. Wer sich auf den Standpunkt stellt, wo die vernünftigen Grundwahrheiten das einzig Massgebende sind, ist unempfindlich geworden gegenüber der Verschiedenheit positiver Wahrheiten der Religionen. Und eben diese Unempfindlichkeit ist es, welche den fürstli-
Es gehl hier nicht um die mehr oder weniger deutlichen Voraussetzungen der Toleranzidee. wie sie etwa im theoretischen Selbstverständnis des Römischen Reiches um die Zeitenwende oder auch in einzelnen Äusserungen refonnatorischen Ursprungs vorliegen (dazu Bomkamm. Toleranz 934-940). Unter dem geschichtlichen Ursprung soll hier jener On verstanden werden. wo eine beginnende \1~rwirklichunx der Toleranzidee feststellbar ist Dies dürfte - wie auch die Begriffsgeschichte des Wones Toleranz nahelegt - in der landesherrlichen Duldung verschiedener Konfessionen der Fall sein (z.B. im Preussen Friedrichs des Grossen. oder das Toleranzpatent Josephs II.). »Die Idee der Toleranz hat einen eng umschriebenen geschichtlichen Ursprung«. Sie ist entstanden als Reaktion auf einen abennaligen Höhepunkt der Intoleranz am Ausgang des 17. Jahrhundens: vgl Schmidl. Toleranz 253. 2 Eine Zusammenstellung der verschiedenen Motive findet sich beispielsweise bei Rüsch. Toleranz 19-25. Die Vielschichtigkeil des Toleranzgedankens im 18. Jahrhunden. das uns hier besonders interessien. schildenund beleuchtel Schultze. Lessings Toleranzbegriff 11-23. 1 Dazu Rüsch. Toleranz 22f. der auf die Ambivalenz solcher Begründungen hinweist: Die natürliche Religion. welche in allen Konfessionen die Hauptsache ist. dient ebenso als Grund der Toleranz wie sie in »scharfe Intoleranz umschlagen« kann. Zum Begriff der »Grundwahrheiten« vgl auch Schuhze. Lessings Toleranzbegriff 15f Die rationalistische Grundlage der Toleranz wird auch von Stucki herausgearbeitet (Tolerance lt'rl8). 1
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· FAEVI)epi.a und Toleranz
chen Standpunkt der Toleranz ganz wesentlich mitbegründet4 • Die Einsicht in das wahre Wesen der Religion schafft die Möglichkeit, einen Standpunkt über den Religionen einzunehmen. Das Neue Testament beschäftigt sich seiner Natur nach nicht mit fürstlichen Tugendens. Statt dessen widmet es sich dem alltäglichen Bereich. Daraus ergibt sich, dass die aufklärerische Idee der Toleranz einer neutestamentlich orientierten Denkbemühung gar nicht erschwinglich ist. Fürstliche Standpunkte sind kein neutestamentliches Thema. Deshalb scheint eine Überlegung zum Verhältnis von tA.Eu&p\a und Toleranz von vomherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Nun lässt sich jedoch beobachten, dass die fürstliche Tugend der Toleranz im Laufe der Zeit gleichsam demokratisiert worden ist. Die aufklärerische Toleranzidee hat erhebliche alltagssprachliche Folgen gezeitigt. Toleranz ist nicht länger ein Fachausdruck aufklärerischer Religionspolitik, sondern bezeichnet eine menschliche Haltung oder ein menschliches Verhalten schlechthin, und zwar ein Verhalten, dessen ethische Qualität hoch eingeschätzt wird6 • Im Blick auf den alltäglichen Sprachgebrauch könnte man sogar sagen, die Toleranz sei die höchste Tugend. Eingedenk dessen, dass das Neue Testament sich nicht mit fürstlichen, sondern mit alltäglichen Phänomenen beschäftigt, will ich meine Überlegungen beschränken auf die alltäglichen Folgen des aufklärerischen Toleranzbegriffs. ~Dies gilt in besonderem Masse flir Joseph II.. den Urheber des Toleranzpatems von 1781. Seine Religionspolitik haue zum Ziel. -ein von allen 'Äusserlichkeiten' gereinigtes Christentum um Messopfer und Nächstenliebe mit stark rationalistischem. utilitaristisch-naiUrrechtlichem Grundzug« zu erschaffen (so Wolf. RGG '111 862f: zu vergleichen ist auch Friedberg. in: RE 1 XIX 830). Die gewisse Unempfindlichkeil gegenüber der positiven Wahrheit. wie sie im Standpunkt der fürstlichen Erhabenheit über das bloss Besondere implizien ist. fühne dann b1s zu der Vorstellung von der religiösen Neutralität des Staates. »Die Religionen werden nebeneinander geduldet .... weil dieser Staat selbst keine Meinung. keinen Glauben hat. weil er sich des Uneils enthält in Glaubensdingen« (Schmidt. Toleranz 258). ~Nicht nur ist das Neue Testament •Kleinliteratur«, befasst mit den allläglichen Dingen des Lebens. sondern in seiner engen Bezogenheil auf das konkrete Geschehen um Jesus Christus ist es auch äussersl spröde gegenüber fürstlichen Standpunkten üh~r den Dingen. E.'i verwunden deshalb nicht. wenn das Neue Testament auch die Umenanen wie Kinder. Frauen und Sklaven als Subjekte (und nicht bloss Objekte) ethischer Praxis ansieht und demzufolge als Adressaten von ethischer Belehrung (dazu vgl Schweizer. Kolosser J59f). 6 Die Toleranzidee. die sich einst am Religiösen entzündete. umfasst jetzt alle Lebensbereiche und nur so auch noch den religiösen. Zum umfassenden Charakter der Toleranz vgl Amery. Die Linke 66. Die überragende Bedeutung dieser Tugend ftir die Alltagswirklichkeit kann man sich beispielsweise auch anhand von pädagogischen Konzepten klarrnachen: Kaum eines ist zu finden. da'i nicht die Leitidee der Toleranz an prominenter Stelle auffuhne.
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Der gewöhnliche Sprachgebrauch lässt deutlich erkennen. dass Toleranz und Freiheit. tA.t:u&pl.a und Toleranz in einem gewissen Zusammenhang stehen. Tolerant zu heissen verdient der. welcher die beengende Partikularität bestimmter Einstellungen hinter sich gelassen hat. um einen Standpunkt der Freiheit einzunehmen. der es ihm ermöglicht. mancherlei Einstellungen neben der eigenen gelten zu lassen. Tolerant zu heissen verdient der. welcher freieren Auffassungen vom rechten Tun und Lassen keinen Widerspruch entgegenbringt'. Toleranz. so scheint es. beruht auf der Freiheit des Menschen von partikularen Bindungen. Sie beruht - wie man im Blick auf ihren Ursprung sagen könnte - auf einer fürstlichen Freiheit. Nun lassen sich freilich an der Alltagswirklichkeit der Toleranz Beobachtungen machen. die wohl als eine gewisse Problematisierung der Idee selbst ausgelegt werden müssen. Zwei solche Beobachtungen seien herausgegriffen. Da ist zum ersten zu erinnern an die fundamentale Kritik der Toleranzidee in neuester Zeit. wie sie sich unter dem Stichwort der »repressiven Toleranz« vollzogen hat 8 • Die zum Prinzip gemachte reine Toleranz hindere eine Gesellschaft letztlich daran. sich zum Besseren zu entwickeln. da ein Kampf gegen das Schlechtere weder im Rahmen der Massenmedien noch der Erziehung möglich sei. Der Kampf gegen das Schlechtere werde vielmehr durch das Prinzip der Duldung verunmöglicht oder wenigstens bis zur Wirkungslosigkeit entschärft. Diese Kritik entthront die Toleranz. um ihr einen Platz in der Hierarchie der Zwecke zuzuweisen9 • Zum zweiten will ich hinweisen 7 Wie sehr die ursprünglich am Religiösen orientiene Toleranzidee in der Alltagswirklichkeit banalisien worden ist. zeigt einerseits die Analyse des gegenwänigen Sprachgebrauchs durch Amery. Die Linke 66. und noch deutlicher zeigen dies die Abgrenzungen Schmidts, Toleranz 252f. die das Ziel haben. den Toleranzbegriff von seiner alltäglichen Banalität zu reinigen. "Dazu Schmidt. Toleranz 256. mit Verweis auf Herben Marcuse. Auch Amery. Die Linke 66. muss die Toleranz gegenüber ihrem angeblichen Missbrauch schützen. wenn er die folgende Einschränj(.ung macht: »Toleranz kann unter diesen Umständen nur darin bestehen. dass den verschiedenen Versuchen. der Humanität einerseits. der Wahrheit andererseits entgegenzuschreiten. Duldung zu gewähren ist. solange sich nicht klar erwiesen hat. dass Irrwege eingeschlagen wurden«. Allerdings: Es war wohl noch nie in der Geschichte ein besonderes Problem. denen gegenüber tolerant zu sein. die sich als Wahrh~itssucher erweisen. Ii [)er übergeordnete Zweck ist die Entwicklung zu einer neuen. befreiten Gesellschaft. Dieser Zweck ermöglicht es. »Unterscheidende Toleranz« zu üben. das heisst: Das Gute (lies: das dem Entwicklungszweck dienende) ist zu tolerieren. das Böse zu bekämpfen. Zum Problem vgl Schmidt Toleranz 256f. Die gerechtfenigte Intoleranz richtet sich nach der Intoleranz der bestehenden (und zu überwindenden) Gesellschaft (so Amery. Die Linke 74f). Die Frage
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'~\a
und Toleranz
auf eine Beobachtung, welche die faktische Praxis der Toleranz betrifft. Da fällt insbesondere auf, dass die wirklich praktizierte Toleranz sich auf diejenigen Phänomene beschränkt, welche mehr oder weniger gleichgültig sind. Beispielsweise beruht die gegenwärtig gewiss praktizierte religiöse Toleranz aller Wahrscheinlichkeit nach auf der religiösen Indifferenz der modernen Gesellschaft. Oder die gegenwärtig gewiss praktizierte Toleranz hinsichtlich des rechten Tuns und Lassens beruht wahrscheinlich auf der sittlichen Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaft. Es scheint sich bei der gewiss zu beobachtenden Zunahme von Toleranz in Wahrheit bloss um eine Auswanderung der Intoleranz auf andere. weniger gleichgültige Gebiete zu handeln 10• Bei der Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen dürfte es sich um die fürstliche Erscheinung handeln. die die Toleranz trotz ihrer Demokratisierung behielt. Diese beiden Beobachtungen zur Problematisierung der alltäglichen Toleranz geben Anlass zu der folgenden Vermutung: Es ist zu vermuten, dass die Zwiespältigkeit der Toleranz zurückzuführen ist auf eine Aporie in ihrer Begründung. Vermutlich liegt die Problematisierung der Toleranz beschlossen in der Problematik des Freiheitsbegriffs, auf welchem sie beruht. Diese Vermutung rechtfertigt es, das Verhältnis von Toleranz und U.w&pia zu bedenken. Ich will dies im folgenden auf eine anachronistische Weise tun: Toleranz als Leitidee der gegenwärtigen Alltagspraxis soll in Beziehung gesetzt werden zum paulinischen Begriff der U.Eu&pia, wie er im Galaterbrief in Erscheinung tritt. Schon ein erster flüchtiger Blick erkennt eine Auffälligkeit in puncto Herkunft der tuu&pia. Zur Freiheit hat uns Christus befreit, heisst es in Gal 5,1; ihr seid zur Freiheit !(erufen worden, variiert V. 13 densel-
drängt sich auf: Hat nicht eine Kritik der Toleranz. welche im Namen der »unterscheidenden Toleranz« geschieht. jene selbst geradezu aufgehoben? 1" Wie wenig die Entstehung der religiösen Toleranz in der Lage war. säkulare Folgen zu zeitigen. kann anhand der Auseinandersetzung um Kern- bzw. Atomkraftwerke ohne weiteres beobachtet werden. Es scheint. die gegenwänig gern und oft festgestellte Zunahme der Toleranz sei weitgehend bloss ein Zuwachs der Gleichgültigkeit gegenüber dem Besonderen. Zu vergleichen ist die ähnliche Analyse der (theologisciH:hristlichen) Situation bei Stucki. Tolerance 10. Dass Toleranz gewöhnlich nicht wenig zu tun hat mit Gleichgültigkeit. zeigt sich am technisch-industriellen Sprachgebrauch: Don bedeutet der Ausdruck »Toleranz von I mm haben«. dass Unterschiede hinsichtlich der Abmessungen von Einzelteilen in der Grössenordnung von I Millimeter gleichgültig sind.
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ben Gedanken 11 • Den Stand der Freiheit gewinnt der, der sich von jenem Ruf ansprechen lässt; befreit zur Freiheit wird der, der den Christus an sich herankommen lässt. Freiheit entsteht genau dort, wo der Mensch sich auf ein ganz konkretes Geschehen bezieht, auf das konkrete Geschehen, das mit dem Stichwort Christus zusammengefasst ist 12 • Nicht dass Christus etwa bloss der Inaugurator der t~ wäre!'B.Eu&pia besteht vielmehr überhaupt erst darin, dass die Existenz des Menschen in grundlegender Weise auf jenes Konkretum bezogen ist. Man kann sich dies klarmachen an der m.~: die m.~ ist nichts anderes als der Lebensbezug des Christusgeschehens, sie ist nichts anderes als der Bezug jenes Konkretums auf die Existenz des jeweiligen Menschen. Im Glauben kommt das Christusgeschehen an die Macht. Dazu Gal 5,6: In Christus (das ist: im Bereich des Christus) hat weder Beschnittenheil noch Unbeschnittenheit irgendwelche Macht, sondern nur der Glaube ... 13 • Der Glaube ist also das, was Christus als die neue Definitionsmacht des Lebens zur Geltung bringt. Der Glaube lässt insofern tÄEu'6q)ia ins Dasein treten, als er das ständige Angewiesensein des Menschen auf Christus zum Vorschein bringt und dieses
11 Das Stichwon »Freiheit« übernimmt Paulus aus 4,21-31. um es in dem Abschnitt 5.1-11 noch einmal zu entfalten im Blick auf die galatische Gefährdung der t~. Wichtig ist. dass die Freiheit hier nicht etwa als Handlungsfreiheit (also im Rahmen der Frage: Was soll ich tun?) thematisch wird. Gerade die scharfe Abweisung der Gerechtigkeit aufgrund des Gesetzes zeigt. dass die Identitätsfrage der eigentliche On des Freiheitsproblems ist (dazu vgl Lührmann. Galater 80). Selbstverständlich hat die im Rahmen der Identitätsfrage thematisiene Freiheit auch eine Tätigkeitsdimension. Dies zeigt die Wiederholung in Gal 5.13. wo mit dem Stichwon der Freiheit der ethische Teil des Galaterbriefs eingeleitet wird. 12 Die Freiheil vom Gesetz hat im Kreuzesgeschehen ihren Ursprung. in jenem Geschehen nämlich. wo das Gesetz selbst an sein Ende gekommen ist (vgl Gal 3.13 und etwa Röm I0,4 ). Im Tode Jesu hat sich das Geselz so ausgewirkt. dass es fonan mit seiner Wirkung aus ist (dazu Schlier. Galater 139f: von der Osten-Sacken. Verständnis 561 f). Deshalb bestimmt Paulus den Bezug auf das Christusgeschehen als den Ursprung der Freiheit. Wer statt dessen das Gesetz zur Bezugsgrösse seines Lebens macht. wird von den Wohltaten Christi keinen Nu1zen haben (Gal 5.2). oder er wird - was dasselbe ist - wiederum unter das Joch der Sklaverei kommen (Gal5.1). 1 ' Der Glaube unterscheidet den Menschen von dem. was er herkunftsmässig ist, auch von dem. was als seine »natürliche« Prägung verstanden werden kann (vgl Gal 3,28). und zwar indem er den Menschen in den Machtbereich Christi versetzt. Entscheidend (flir die Frage. wer der Mensch ist. und dann auch für die Frage nach dem ihn Bestimmenden) ist allein der Glaube an Christus. das heisst der Verzicht auf die Herstellung oder Stipulierung eigener Identität. Insofern ist der Glaube befreiend. Das n \GzUI' wird hier mit »Macht haben• (das ist: Definitionsmacht haben) wiederzugeben sein.
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Angewiesensein als wohltuendes Angewiesensein erkennen lässt 14 • · Fl.Eu&pia ist also, um es auf eine Kurzformel zu bringen, in der Bezogenheil auf jenes konkrete Geschehen überhaupt erst existent. Scharfe Konturen gewinnt dieser Freiheitsbegriff, wenn er etwa mit dem stoischen in Beziehung gesetzt wird. Die Herkunft der stoischen Freiheit ist gegeben mit der menschlichen Fähigkeit zum dialektischen Denken. Die Dialektik ist es, die mich von der Verfallenheil an das J.lß111\0V befreit, um mich in den Stand des über den zufälligen Dingen stehenden Freien zu versetzen•s. Freiheit ist hier verstanden als Unabhängigkeit vom Konkreten, ganz im Unterschied zu Paulus, der die Abhängigkeit vom Christusgeschehen als notwendige, nicht ersetzbare Begründung der Freiheit verstehen muss. Dem fürstlichen Standpunkt über den Dingen setzt Paulus die Unterordnung unter die Herrschaft des Christus entgegen 16• Es ist wahrscheinlich, dass die jeweilige Herkunft der Freiheit bestimmend ist für die konkrete Gestalt befreiten Lebens. Mit der Herkunft der tAEu&p\a aus der Bezogenheil auf das zufällige Christusgeschehen dürfte es zusammenhängen, dass Paulus durch das Konkrete in hohem Masse verletzbar ist 17 • Diese Verletzlichkeit ist einfach damit gegeben, dass das Konkrete dem nicht gleichgültig sein kann, der seine
1 ~ Wer sich selbst aufgrund des Gesetzes rechtfenigt. dh. wer die Frage nach seiner ldeniJiäl mit Werken des Gesetzes beantwonet. ist von Christus abgekommen und mithin der Gnade verlustig gegangen (Gal 5.4). Die Christusfeme ist mit der Verlorenheil in eins zu setzen: vgl Schlier, Galater 232. 1~ Dies ist besonders deutlich ausgedrückt bei Diogenes Laenius VII 46 (SVF II 130: zitien nach Wilckens, Weisheil und Torheil 227-229. Die Dialektik bewahn den Menschen vor der Erfahrung des jiQ111lOY, indem sie ihm den systematischen Überblick und also einen befreiten Standpunkt ermöglicht Freiheil ist immer auch Freiheil vom Seienden als die »grundsätzliche Möglichkeit. nun über das Seiende im Ganzen selbst zu verfügen« (aaO 251 ). Freiheil ist die Suche nach dem, was den Menschen cillliA,_ und a~cMncw macht <Epictel. Diss IV 1.62: vgl Schlier. An.~ 489. 57). 111 Der Tod gegenüber dem Gesetz ist konkret zu verstehen als Mitgekreuzigtsein mit Chri· slus. als Leben des Christus in mir (Gal 2.19f). als Bestimmtsein durch den Geist. der aus der Kunde des Glaubens kommt (Gal 3.3-5: vgl 5.5). als Gerufensein durch Christus (Gal 5.13). Die Freiheil verdankt sich dem Gesetz des Geistes des Lebens. wie er im Machtbereich Christi wirksam ist (Röm 8.2). 17 ln Gal 5.11 stell! Paulus einen engen Zusammenhang her zwischen der Tatsache. dass er verfolgt wird. und seiner Verkündigung des Kreuzes (und nicht der Beschneidung!). Paulus spricht den Menschen die Freiheit mit dem Gekreuzigten zu. statt sie aufgrund des Gesetzes in ihren Händen zu belassen. Eben diese An. die Herkunft der Freiheit zu verkündigen. macht ihn ausgesprochen verletzlich. wie seine Einstellung zu Leiden und Verfolgung eindrücklich zeigt (besonders die Peristasenkataloge sind hier aufschlussreich: dazu Schrage. Leid 141-175).
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Freiheit auf ein ebensolches Geschehen begründet weiss. Und weil Paulus diese Begründung nicht aufzugeben bereit ist, gewinnt seine Existenz die Signatur der Schwachheit, gewiss einer Schwacheit, in der Gottes Kraft zur Vollendung kommt 18, aber auch einer Schwachheit, die ihm Verfolgung und Leiden einbringt. Nun gilt es freilich zu beachten, dass die Schwachheit nicht etwa eine Einschränkung der U.E'U'&p\a ist, sondern dass zur Schwachheit befreit ist, wer sich von Christus zur Freiheit rufen lässt. Mit dem Verlust der Schwachheit wäre notwendigerweise auch die Freiheit verloren. Dem soleherrnassen an die Schwachheit Verwiesenen wird es freilich niemals möglich sein, den fürstlichen Standpunkt der Toleranz einzunehmen. Sollte ihm etwa die Toleranz überhaupt unerschwinglich sein? Dazu wird noch ein Wort zu sagen sein. Was jedoch jetzt schon gesagt werden kann, ist das Folgende: Der auf diese Weise zur Freiheit Gerufene wird jedenfalls Toleranz niemals als Gleichgültigkeit gegenüber dem Konkreten verstehen können. Er wird deshalb sich selbst auch nicht einbilden, tolerant zu sein, wo er bloss indifferent ist. Mit der Herkunft der thu&pia aus dem Christusgeschehen hängt es ferner zusammen, dass bei Paulus eine ausgesprochene Intoleranz hinsichtlich der Deutung jenes Geschehens zu beobachten ist. Gerade sofern die Freiheit nicht auf sich selbst gestellt ist, hat sie alles Interesse daran, ihren Grund der Beliebigkeil zu entziehen. Paulus nimmt sich deshalb die Freiheit heraus, im Blick auf das Christusgeschehen ein intolerantes Entweder-Oder durchzuhalten: Entweder verlässt sich der Mensch auf das Gesetz und insofern auf seine eigenen Möglichkeiten; dann ist es um seine Freiheit geschehen. Oder der Mensch ist gänzlich angewiesen auf Christus und insofern auf die Möglichkeiten Gottes; dann ist es um seine Unabhängigkeit und Stärke geschehen 19 • Dies ist
Dass die
cicr*n~a
ein Gefass Gones ist (2Kor 12.9). ist ersichtlich. sofern sie mitleis der (vgl 2Kor 8.9: 13.4) identifizierbar ist Weil die Schwachheit und Armut Jesu die Identität des jetzt lebenden Christus ausmacht. ist die Schwachheit des Apostels als Schwachheit in ChristuJ identifizierbar. In diesem Sinne gih. dass Paulus aufgrund seines Glaubens an Christus zur Schwachheil lwfr~it ist (und nicht bloss diese Schwachheit als unvermeidliches Übel hinzunehmen in der Lage ist). 1 ~ Dieses intolerante Entweder-Oder durchzieht den ganzen Galaterbrief. angefangen bei der Behauptung. es könne kein anderes Evangelium geben als da.'i. was Paulus verkündigt habe (Gal 1.6(). bis hin zu der scharfen Abrechnung mit den gegnerischen VerkUndigem in Gal 6,12f: Sie wollen bloss ihr Gesicht wahren und bemächtigen sich der Galater. indem sie sie als Selbstdarstellungsmaterial benutzen. Dieselbe Härte in der Auseinandersetzung um das wahre IK
Schwachh~it J~su
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das Entweder-Oder. Eine Verbindung etwa im Sinne einer christlichen Lehre des Gesetzes ist keinesfalls tolerierbar. Mit der Herkunft der Freiheit aus dem Christusgeschehen hängt es also zusammen, dass an der Bedeutung jenes konkreten Geschehens mit »schneidender Intoleranz«20 festgehalten wird. Die tMU'6rpia vollzieht sich hier als die Freiheit, auf jenes konkrete Geschehen angewiesen zu sein, oder als die Freiheit, jenes Geschehen für absolut massgeblich zu halten. Gerade der Vollzug der Freiheit verwehrt es also, über den Dingen zu stehen. Gerade mit dem Vollzug der Freiheit ist demzufolge die Intoleranz gegeben. Deshalb erscheint die Frage um so dringender, ob denn dieser Freiheit die Toleranz überhaupt erschwinglich sei. Richtet man diese Frage an Paulus, so erhält man nicht sogleich eine bündige Antwort. Eingangs sagte ich schon, die neuzeitliche Tugend der Toleranz beruhe wesentlich auf der Freiheit des Menschen, auf seiner Freiheit nämlich von partikularen Bindungen. Toleranz ist eine selbstverständliche Folge jener fürstlichen Freiheit. Respektiert man diesen Zusammenhang von Freiheit und Toleranz, dann muss die Frage an Paulus zunächst lauten, was denn die selbstverständlichen Folgen seiner t~ seien. Und dass die Antwort eben nicht lauten kann, dies sei die Toleranz, hängt nicht bloss mit dem anachronistischen Charakter einer solchen Frage zusammen. Es hängt vielmehr damit zusammen, dass tM'U&pia im paulinischen Sinne keinesfalls auf Toleranz. wie wir sie alltäglicherweise verstehen, hinauslaufen kann. Wenn Paulus von den selbstverständlichen Folgen der tM'U&pia spricht, redet er nicht bloss von Duldung des anderen, sondern vielmehr vom ~tv, vom Dienst an dem anderen 21 • Die Freiheit gewinnt hinsichtlich des anderen die konkrete Gestalt der Liebe 22 • Auch dies
Versländnis des Christus lässl sich in allen paulinischen Briefen erkennen (vgl etwa I Kor. 2Kor. Phil 3). 2o Zum Ausdruck vgl von Rad. Theologie I 216. 2 1 Dies gehl aus Gal 5.13 deutlich hervor. Die Freiheil wird don abgegrenzt davon. bloss eine »Gelegenheit flir das Fleisch« zu sein. Gemein! isl damil wohl nichl der gesetzliche. sondern viel eher der ungesetzliche Rückzug des Menschen auf sich selbst (vgl Schlier. Galater 242). Paulus grenz! die Freiheil davon ab. dass »damil dem Fleisch Gelegenheil gegeben wäre. nun zwar nicht mehr auf dem Umweg über das Gesetz in Selbsrgerechrigkeil sich zu behaupten. aber doch im Abweg vom Gesetz sich in Selbslsuchl zuzufallen«. Was das Fleisch 1u1. wird in Gal 5.19-21 geschilden (vgl Lührmann. Galater 86): Das Fleisch praklizien den masslosen Rückzug auf sich selbst 22 Das »Dienen durch die Liebe• isl nur scheinbar eine Einschränkung der Freiheil (mil Lührmann. Galater 86). Scheinbar deshalb. weil im Rahmen eines aulonomislischen Freiheits-
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hängt selbstverständlich mit ihrem Ursprung zusammen. Denn so wie die tÄ.E\J6q)ia sich selbst einem Akt der Liebe verdankt, wird sie auch als Liebe konkret. Und bekanntlich wäre es unangemessen, die Liebe etwa im Sinne einer Einschränkung der Freiheit zu verstehen, wie sie angesichts der Existenz von andem Menschen notwendig wird. Die Liebe gilt bei Paulus ja als Auswirkung der Freiheit, als das, worin die Freiheit allererst ihr Dasein hat 23 • Damit diese Liebe etwas anschaulicher wird, soll sie wenigstens in ihren Hauptaspekten mit ganz ähnlichen Aussagen stoischer Herkunft verglichen werden. Besonders klar wird der Vergleich dort, wo es gleichsam um die Bewährungsprobe der Liebe geht: im Umgang mit dem Bösen oder dem Feind nämlich. In stoischen Texten begegnet zuweilen die Aussage, dass Böses nicht mit Bösem vergolten werden solle und dass auch dem Feind der gebührende Respekt entgegenzubringen sei 24 • Ermöglicht wird ein solches Verhalten indes durch die Freiheit, durch eine Freiheit verstanden als wesentliche Unabhängigkeit vom andem und also auch vom Feind 25 • Dem Feind kann etwas entgegengebracht werden, was der Liebe in der Tat zum Verwechseln ähnlich sieht, aber eben deshalb, weil der wahrhaft Freie wie ein Fels inmitten des wogenden Meeres ist, unverwundbar vom Feind und deshalb auch darüber erhaben, ihm Böses mit Bösem zu vergelten2 6 • Die Duldung des Feindes ist möglich, weil der Freie begriffsdie vollendete Freiheit des Menschen in seiner Unabhängigkeit gesehen wird. »Dienen in der Liebe« ist demgegenüber ein ganz bewusst eingegangenes Abhängigkeitsverhältnis. Wer Liebe als Einschränkung der Freiheit betrachtet. setzt damit von vomherein einen entweder stoischen oder neuzeitlich-autonomistischen Freiheitsbegriff voraus. 21 So wie der Glaube. der den Menschen von den alten Definitionsmächten der Herkunft (oder: von der Sklaverei zur Sohnschaft: vgl Gal 4.1-7) befreit. sich in der Liebe auswirkt (vgl Gal 5.6). so muss auch die~ als in der Liebe sich auswirkend gedacht werden. 2 4 Als Beispiele seien genannt: Seneca. de ira II 32.1 ff: de beneficiis VII 30.2.5: IV 26: de otio 1.4: Epictet. Ench 42. Die Verwandtschaft der Aussagen mit solchen aus dem Neuen Testament ist - oberflächlich gesehen - recht gross. Zum Problem und den genannten Belegen vgl Piper. Love 20-21. H Seneca spricht von der Erhabenheit der grossen Seele über die Verletzung. einer Erhabenheit. die Vergeltung überflüssig macht. bzw welche eine Vergeltung von viel wirksamerer An darstellt: Wirklich erniedrigend ist die Vergeltung. wenn der andere sehen muss. dass er nicht einmal einer Vergeltung wen war (de ira II 32. I ff: vgl de constantia 14,3). Ein wahrhaft Weiser kann gar nicht verletzt und beleidigt werden (de constantia 4.1; vgl 7.2). weil die Beleidigung ihn gar nicht erreicht. 2~> Bezeichnend ist. dass Epictet den idealen Menschen minels der Stein-Metapher beschreibt: Wenn ein Mann zuhön wie ein Stein. was flir eine Beleidigung wird ihn dann erreichen (Diss I 25.29)? Dieselbe Unverwundbarkeit ist auch im Blick auf die Drangsale des Lebens festzustellen: Epictet. Diss I 24. If: I 25.28 (nur die lirnaa111 sind es. die uns in Drangsal
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der Reichweite feindlicher Schläge entnommen ist. So gut wie das Verhalten gegenüber dem Feind konstituiert wird durch den stoischen Freiheitsbegriff, dürfte auch die paulinische dltim'l konstituiert sein durch das Wesen der tl.2u&pia. Die Freiheit, die im Angewiesensein des Menschen auf Christus ihren Grund hat, verweist den Glaubenden auf sein Angewiesensein auf den andem. Die Freiheit wird geradezu darin konkret, dass der Standpunkt der Unabhängigkeit gegenüber dem andem preisgegeben wird. Die Freiheit wirkt sich aus in der Liebe, welche sich dem andem ausdrücklich zuwendet, statt bloss seine Existenz zu dulden. Die Freiheit, die durch den ständigen Bezug auf das Christusgeschehen entsteht, bedingt eine grundsätzliche Verletzlichkeit des Menschen. Diese Verletzlichkeit wirkt sich insbesondere als eine Disposition aus, die den Menschen gegenüber feindlichen Angriffen aussergewöhnlich empfindlich macht.' El.Eu&pia versteht sich konkret als Freiheit, sich vom Feind verletzen zu lassen, sich dem feindlichen Angriff nicht zu entziehen 27 • Es sind genau diese Bedingungen, unter denen die Liebe allererst zu ihrer Reinheit kommt: Die reine Liebe ist kreativ, schöpferisch insofern, als sie im effektiv angreifenden Feind den Bruder sieht. Die reine Liebe ist insofern kreativ, als sie ein Verhältnis schafft zu dem, der sich mir entgegenstellt. Deshalb duldet die Liebe den Feind nicht nur, sie schafft ihm geradezu einen Existenzraum. Es bleibt noch eine Frage zu stellen: die nach der Vereinbarkeil von Intoleranz einerseits und Liebe andererseits. Die Frage lautet namentlich: Wie ist die schneidende Unduldsamkeit, die mit der Herkunft der Freiheit gegeben ist, zu vereinbaren mit der weit über das blosse Dulden hinausgehenden Liebe, wie sie sich als selbstverständliche Folge der Freiheit einstellt? Es ist offensichtlich, dass Paulus im Blick auf die Wahrheit des Evangeliums ausgesprochen intolerant ist: Es gibt nur ein und genau ein Evangelium, das diesen Namen wahrhaftig verdient, und
und Enge versetzen: sie aber liegen in der Hand des Weisen). Ähnliche Äusserungen finden .sich auch bei Plutarch, moralia 1057E (über den stoischen Weisen). 27 Wie sehr das paulinische Verständnis von Evangelium und Freiheil zugleich eine Verleubarkeil implizien. zeigen nicht nur seine Bemerkungen zum Zusammenhang von Kreuz und Verfolgung (Gal 5.11 ), sondern auch die Auseinandersetzung mit den korinthischen Gegnern (2Kor I 0-13) und sein Kommen in Schwachheit und Furcht und Zittern (I Kor 2.3 ).
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wer nicht dieses verkündigt, soll verflucht sein 28 • Andererseits ist ebenso offensichtlich, dass die oben knapp skizzierte reine, schöpferische Liebe den konkreten Vollzug der f:A.EU'&p\a darstellt und also direkt mit der Intoleranz verknüpft ist. Wie verträgt sich der schärfste Widerspruch gegen die Unwahrheit mit der Freiheit, auch den Lügner zu lieben? Meines Erachtens müsste- im Sinne des Paulus- etwa die folgende Antwort gegeben werden: Die Intoleranz gegenüber der Unwahrheit vereinbart sich mit der Liebe zum Lügner genau so, dass der Lügner von seiner Lüge unterschieden wird. Genau genommen ist diese Unterscheidung selbst schon ein Vollzug der Liebe. Und dies deshalb, weil der Lügner nicht auf seine Lüge festgelegt wird. Die Unterscheidung vollzieht sich eben darin, dass der Vertreter der Unwahrheit im gleichen Masse akzeptiert wird, wie die Unwahrheit selbst kompromisslos bekämpft wird. Dasselbe hätte auch hinsichtlich der Unterscheidung des Bösen von seiner Bosheit, des Hassers von seinem Hass, des Irrenden von seinem Irrtum oder des Feindes von seiner Feindseligkeit zu gelten. Der Existenzraum des Feindes wird genau dort geschaffen, wo er von seiner Feindseligkeit unterschieden wird. Eine derartige Unterscheidung bildet meines Erachtens eine tragfähige Grundlage für eine Toleranz, die nun nicht mehr darauf angewiesen ist, sich selbst Grenzen zu setzen29 • Die knappe Erinnerung an die paulinische f:A.Eu&p\a könnte verstanden werden als eine Kritik am neuzeitlichen Toleranzgedanken. Die Annahme, es werde hier eine neuzeitliche Errungenschaft im Namen des vorneuzeitlichen Denkens kritisiert, wäre zweifellos ein Missver-
2K Und selbst wenn es ein Engel vom Himmel wäre (Gal 1,8.9)! Schon die Tatsache. dass Paulus diesen Brief nicht mit einem Dank filr die Gemeinde beginnt. lässt auf die Schärfe der Auseinandersetzung schliessen (vgl Lührrnann, Galater 18). 29 Die Liebe in ihrer reinen Form kann keine Grenzen haben. Zu Recht heisst es von ihr: lllli\1111 ~"'Cl Kor 13,7). Versteht man dagegen unter Toleranz die Duldung von Denk- und Verhaltensweisen, dann liegt es auf der Hand, dass sie nicht den »Genozid« und die »Philanthropie«, nicht die Unwahrheit und die Wahrheit dulden kann (so auch Amery. Die Linke 66). Es ist dann klar. dass die Toleranz selbst eine implizite Intoleranzzum Gebot macht. Allerdings ist die Frage. ob nicht die Toleranz darin grenzenlos sein müsse. dass sie jedem Menschen einen Existenzraum gewähn, gerade auch den Übeltätern und den Venretem der Unwahrheit. Diese Toleranz wäre dann allerdings mehr als bloss Ritterlichkeit auf dem »psychologischen Felde« (gegen Amery. Die Linke 74). Müsste nicht die Grenzenlosigkeit der Toleranz sich darin auswirken. dass die keinesfalls tolerierbaren Denk- und Verhaltensweisen unterschieden werden von ihren kompromisslos zu tolerierenden Trägem?
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·~und
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ständnis3°. Derartige regressive Absichten verfolgten die vorgetragenen Überlegungen nicht. Nicht die Toleranz in Misskredit zu bringen, war ihr Ziel, sondern das Gegenteil: Das in sich schon zwiespältige Phänomen der alltäglichen Toleranzpraxis sollte einer gewissen Eindeutigkeit entgegengeführt werden. Dabei hat sich - um das Gesagte kurz zusammenzufassen - ein Dreifaches gezeigt: I. Die aufklärerische Begründung der Toleranz vermittelst eines Standpunkts der Freiheit, welche über das Partikulare erhaben ist, hat in den alltagspraktischen Folgen dazu geführt, dass die Toleranz selbst zu einem Standpunkt geworden ist. Dabei hat sich jedoch eine Aporie gezeigt: Die Freiheit des toleranten Menschen gründet in seiner Unabhängigkeit vom Konkreten und sabotiert insofern die Toleranz, als das Konkrete und dann auch der konkrete Mensch gleichgültig werden. Demgegenüber gründet die paulinische EÄ.E\r6q>ia in der schlechthinnigen Abhängigkeit vom konkreten Christusgeschehen und versetzt als solche den Menschen in die Lage, wo er auf das Konkrete und auch den konkreten Menschen geradezu angewiesen ist. Dieses Angewiesensein ist überhaupt erst die Voraussetzung, unter welcher es zu einer wahrhaftigen Toleranz kommen kann. Die unter solchen Bedingungen praktizierte Toleranz schützt sich wenigstens davor, sich selbst mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. 2. Die als prinzipieller Standpunkt konzipierte Toleranz gerät notwendigerweise ins Zwielicht, weil sie eo ipso zu einer Begrenzung der Toleranzpraxis führen muss, die entweder gänzlich willkürlich ist oder bloss mit der Stabilisierung herrschender Verhältnisse legitimiert werden kann. Toleranz in Grenzen ist jedoch ein Unding, eine schlechte Maskerade gesellschaftlicher oder individueller Intoleranz. Versteht man dagegen Toleranz als selbstverständliche Auswirkung einer Freiheit, die für sich selbst nichts mehr zu unternehmen braucht, so kann diese Toleranz nur grenzenlos sein, was das Verhältnis zum andem angeht; sie kann jedoch überhaupt nicht sein, wenn der Grund der Freiheit auf dem Spiel steht. Toleranz hat zu geschehen im Rahmen einer Freiheit, die vor allem Freiheit zur Verletzbarkeil ist. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen ist sowohl ihre Grenzenlosigkeit als auch ihre Abwesenheit gegeben. Anders gesagt: Die Toleranz erstreckt sich auch Jo Die enormen Errungenschaften. welche die Neuzeit in Sachen der Freiheit gebracht hat. sollen keinesfalls geleugnet werden, schon gar nicht im Namen eines Glaubens. der an der Freiheit vital interessien ist. Zu vergleichen ist Ebeling. Dogmatik 111 183f.
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auf mutwillige Verbreiter von Unwahrheit, und zwar so, dass die Unwahrheit kompromisslos bekämpft und der Verbreiter ebenso kompromisslos geliebt wird. 3. Schliesslich gilt es zu beachten, dass die paulinische H•.EU'6q>ia sich nicht bloss als Toleranz, sondern vielmehr als Liebe auswirkt. Während die fürstliche Tugend der Toleranz es mehr oder weniger respektiert, dass es nun einmal Andersdenkende gibt und diese sich einen Existenzraum erkämpfen wollen, während also Toleranz der Versuch ist, mit der Unvermeidlichkeit derer umzugehen, die meine Freiheit beschränken könnten, ist es Sache der Liebe, dem andem, und gerade auch dem Andersdenkenden, einen Existenzraum zu erschaffen, noch bevor er sich diesen erkämpfen muss. Sache der Liebe ist es mithin, jener Unvermeidlichkeil zuvorzukommen, indem dem andem Existenzberechtigung zugestanden wird, noch bevor er sie geltend machen muss. Man sieht: Die anachronistische Konfrontation der alltäglichen Toleranzpraxis mit der paulinischen th'U'6q>ia ist unversehens zu einem Plädoyer für eine tolerantere Toleranz geworden, oder - wie man auch sagen könnte- zu einem Versuch, die fürstliche Tugend zu verwandeln in eine »friedensfürstliche«.
Gesetz und Sünde Gedanken zu einem qualitativen Sprung im Denken des Paulus Für Wolfgang Harnisch zum 12.Nov.l984
Das Verhältnis von Gesetz und Sünde zu bestimmen, könnte ein historisches Unternehmen sein. Wenn jedoch im Anschluss an Paulus über dieses Problem nachgedacht wird, kann es nicht beim historischen Unternehmen bleiben. Entgegen einem Trend der gegenwärtigen Forschung, Paulus bloss noch historisch wahrzunehmen, 1 will ich im Folgenden den Versuch machen, mich auch dem theologischen (und erst recht dem anthropologischen) Anspruch des paulinischen Denkens zu stellen.
0 Zur Einführung ins Thema Die folgenden Bemerkungen haben zum Ziel, den theologischen Ort des Themas »Gesetz und Sünde« anzugeben, den Ort also, den es im theologischen Denken einnimmt. Ferner werden einige Voraussetzungen für meine Behandlung des Themas genannt. 0.1 Der theologische Ort des Themas Man könnte das Verhältnis von Sünde und Gesetz so bestimmen, dass die Sünde durch das Gesetz definiert wird: Sünde ist Übertretung des Gesetzes. Dadurch wird Sünde auf den Aspekt der Untat reduziert. Sündigen meint ein bestimmtes, defizitäres Tun des Menschen. So wie er Stahl und Getreide produziert, produziert er auch Sünde. Diese Vorstellung von Sünde ist bloss die letzte Konsequenz aus der neuzeitli-
1 Das paulinische Gesetzesverständnis wird dann verhandelt unter dem Aspekt, ob der hi· storische Paulus das historische Judentum angemessen verstanden habe. In diese Richtung gehen eine ganze Reihe von neueren Arbeiten (einmal abgesehen von den jüdischen Autoren, bei denen eine solche Fragestellung sowieso zu erwanen ist). Als kennzeichnende Beispiele seien genannt: Sanders. Paul: Jervell. Der unbekannte Paulus: Räisänen, L.egalism: ders, Paul and the
Law.
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chen Anthropologie, wonach das menschliche Subjekt schlechthin alles seiner Produktivität zuschreibt: die Rekonstruktion der Welt, den vernünftigen Gottesgedanken, und nun eben auch die Sünde. In einer solchen Verhältnisbestimmung bleibt die Frage ausgeklammen, ob es eine tiefere Ebene des Sündigens gibt als die Untat. Man könnte andererseits in der Sünde ein unabwendbares Verhängnis sehen, das mit der physischen oder psychischen Verfassung des Menschen gegeben ist. An diesem Verhängnis änden auch das Gesetz nichts. Dann ist es nicht mehr möglich, die Haftbarkeit des Einzelnen zu denken. Es kommt zur Delegation der Sünde an überindividuelle Mächte, an Strukturen etwa oder an Interessengruppen. Begleitet wird diese Anschauung von der Übung des Anklagens ohne Selbstanklage, beziehungsweise der kollektiven Schuldzuweisung: In der Beteuerung, dass wir alle gleichermassen schuld sind an den gegenwänigen Zuständen, wird in undifferenzierter und beinahe lustvoller Weise die Ausweglosigkeit der Sünde in Erinnerung gehalten. Man könnte ferner das Verhältnis so bestimmen, dass die Sünde mit dem Gesetz (bzw mit dem ethisch richtigen Verhalten) gar nichts zu tun hat. Sünde ist dann nicht Übertretung des Gesetzes, sondern vielmehr eine innere Verkehrtheil des Menschen. Damit wird freilich der Tataspekt der Sünde preisgegeben. Sie wird zu einer dogmatisch falschen Gesinnung, die dann ohne Mühe ersetzt werden kann durch eine dogmatisch richtige. Das menschliche Tun kann dann nicht mehr unter dem Aspekt der Sünde verstanden werden; es gerät in jenen harmlosen Bereich, wo es nur noch um falsch oder richtig geht. Schliesslich kann man sich vorstellen, das Gesetz (bzw die Forderung ethisch richtigen Verhaltens) sei das Mittel zur Eindämmung der Sünde. Dann sieht man den richtigen Umgang mit dem Bösen darin, sich auf die Forderung des Guten (bzw auf das Verbot des Bösen) zu verlegen. Eine solche Forderung kann sich nur an das menschliche Ich richten. Ist dieses Ich wahrhaftig in der Lage, das Verbotene zu unterlassen und das Gebotene zu tun? Das hängt davon ab, wie weit die Macht der Sünde reicht. Würde die Macht der Sünde nicht bis ins menschliche Herz reichen, so wäre die Beseitigung des Bösen in der Tat eine gesetzlich zu organisierende Angelegenheit. Dann müsste sich die Kirche allerdings bestürzt fragen, was sie denn bisher erreicht habe als Verbesserungsanstalt des Menschen. Und sie stünde wohl schlecht da im Konkurrenzkampf der Organisatoren von neuen Verhältnissen,
0 Zur Einführung ins Thema
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von gerechten Strukturen, von effektiven Appellen. Denn in Sachen des Gesetzes ist die Welt immer einen Schritt voraus. 0.2 Voraussetzungen zur Behandlung des Themas 0.2.1 Die Bestimmung des theologischen Orts machte deutlich, dass das Thema »Sünde und Gesetz« auf der Ebene der Lebensphänomene abzuhandeln ist. Der theologische Ort ist keineswegs der sogenannte jüdisch-christliche Dialog, in welchem die paulinische Kritik am Gesetz verhandelt wird unter dem Aspekt, wer nun theoretisch recht habe, das Judentum oder Paulus. So wird jüdisches und christliches Denken zu einer Ideologie gemacht, was sich schon daran zeigt, dass in der Behandlung des Themas sich mythologische Theoretisierung breit macht. 2 Die paulinische Kritik am Gesetz aber ist kein religionspolitischer Kleinkrieg, sondern in erster Linie Selbstkritik. Es geht primär um den Rückschritt unter das Gesetz, wie er in christlichen Gemeinden auf mancherlei Weise vollzogen wurde und bis heute wird. Diese Auseinandersetzung kann man sich nicht ersparen. Zwischen Christus und dem Gesetz besteht ein fundamentaler Gegensatz, der um der christlichen Selbstkritik willen in aller Schärfe erkannt zu werden verlangt. 0.2.2 Die genannte Gegensätzlichkeit von Christus und Gesetz zeigt sich am merkwürdigen Phänomen des qualitativen Sprunges, wie er zum Beispiel in Röm 5,12-21 mehrfach zu beobachten ist. Ich konzentriere mich deshalb darauf, einige Beobachtungen zu jenen Aussagen dieses Textes zu machen, die nicht mehr als quantitative Steigerung des Alten begriffen werden können, sondern als ein qualitativer Sprung zum Neuen betrachtet werden müssen. 0.2.3 Ich gehe weiter davon aus, dass im 4.Esrabuch die am weitesten fortgeschrittene Reflexion der Position vorliegt, die auf der Grundlage des Gesetzes möglich ist.J Auch wenn diese Schrift möglicherweise nicht repräsentativ ist für das Judentum, welches Paulus kannte, 4 ist es meines Erachtens nicht zu bestreiten, dass hier eine 2 Ganz unbelastet von wichtigen henneneutischen Einsichten des 20.Jahrhunderts wird etwa die Frage verhandelt. ob Paulus die Ersterwählung des Volkes Israel respektiert habe oder nicht (vgl dazu Sanders. Paul 207) beziehungsweise ob Israel oder die Kirche »Gottes Volk« sei. Zu den mythologischen Grundzügen des genannten Dialogs vgl Klein. »Christlicher Antijudaismus« 411-450. 3 Zu diesem Urteil vgl Steck. Überlegungen 312-315: Harnisch. Verhängnis 323-327. 4 So Räisänen. Legalism 68: .. Jt should be noted that IV Esra. the exception to the general rule. can hardly come in question as a representative of the Judaism known by Paul.« Auch
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Theologie des Gesetzes vorliegt, die im Reflexionsniveau überhaupt mit Paulus vergleichbar ist. Dieses Reflexionsniveau wird weder von den Qumrantexten noch von der rabbinischen Gesetzestheologie erreicht. Deshalb müssen die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus gerade an dieser Schrift gemessen werden, will man es sich nicht zu einfach machen mit ihnen. Aus diesem Grunde werde ich die Position des 4.Esrabuches ständig in meine Überlegungen einbeziehen. Anzumerken ist, dass die Position des Verfassers nicht gleichmässig auf das Buch verteilt ist, sondern in den ersten Visionen durch den Engel Uriel, ab Visio 4 dann auch durch den Seher Esra ausgesprochen wird.s 0.2.4 Ich gehe schliesslich davon aus, dass Paulus den jüdischen Glauben seiner Zeit, seine tiefe Problematik ebenso wie seine grossen Schätze, gut kannte. Es gibt meines Erachtens kein brauchbares historisches Argument, ihm diese Kenntnis abzusprechen. Dass Paulus von Exegeten des zwanzigsten Jahrhunderts »ein Rigorist, ein Fanatiker« 6 genannt werden kann, oder dass ihm schlichte Unkenntnis des jüdischen Glaubens unterstellt wird, 7 ist sachlich unbegründet. Dazu kommt noch, dass es methodisch sehr fragwürdig ist, die paulinischen Aussagen zum Gesetz exegetisch zu falsifizieren mithilfe einer andem Sicht des Judentums (genauso fragwürdig ist es, jene Aussagen exegetisch zu verifizieren, was in der neutestamentlichen Wissenschaft nicht selten geschah). Die paulinische Gesetzeskritik deckt vielmehr ein Phänomen auf, das auf dem Boden des Gesetzes (sei es des jüdischen oder des christlichen) gar nicht einsichtig gemacht werden kann. Gemeint ist das Phänomen der Gesetzlichkeit, das im gegenwärtigen Judentum und Christentum ebenso vorkommt wie es im Pharisäismus und den frühen
wenn dies zutreffen sollte (vgl aber immerhin die in Anm 3 oben genannten Arbeiten und Da· vies. Paul 1-16). ist Räisänens Einschätzung dieser Schrift falsch. Sie kennt durchaus den ..covenantal nomism«. einen Nomismus. der nicht weniger gesetzlich ist als der »hard lega· lism« (zu diesem Ausdruck vgl Räisänen. Legalism 630. ~Vgl Brandenburger. Verborgenheit 148-154. 6 So Luz. Gesetz 99. Schwarz-Weiss-Malerei wird Paulus unterstellt von Sanders, Paul70. 7 So Räisänen. Legalism passim, zB 71.72.82f; ebenso die bei Räisänen (64--68) genannten Arbeiten von Schechter. Montefiore. Schoeps und Sanders. Dieses Urteil beruht - wie in jedem Falle leicht zu zeigen wäre - darauf. dass das eigentliche Problem des Gesetzes. das Paulus aufgreift. gar nicht zu Gesicht kommt. So wäre es Paulus nie eingefallen zu bestreiten. dass die Bundes»gnade« der Forderung des Gesetzes vorausgeht. Paulus wehrt sich ja gegen eine Vorstellung. die Gnade und Gesetz zusammenbindet (in seiner Sprache: Christus und das Gesetz). wie der Galaterbrief unzweifelhaft zeigt; vgl Lührmann. Galater 104-108 (Das Evangelium der Gegner ist eine ..christliche Theologie des Gesetzes«. Gegen diese wendet sich Paulus.)
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christlichen Gemeinden vorkam. In dem immer geläufiger werdenden Urteil, Paulus habe mit seiner Kritik den Gegenstand verfehlt, bringt man sich um die Einsichten, die jene Kritik in sich birgt. In diesem Urteil wirkt sich - wenn es nicht einfach kurzschlüssig ist - die latente Gesetzlichkeit der exegetischen Wissenschaft aus. Und man landet bei einem wohltemperiert gesetzlichen Paulus, der niemanden mehr ärgert aber auch niemandem mehr etwas gibt. Dies sollte meines Erachtens vermieden werden.
1 Beobachtungen zu Röm 5, 12ff Im Folgenden werde ich mich auf vier Beobachtungen beschränken, die - wie mir scheint - auf den qualitativen Sprung im Denken des Paulus hinweisen. 1.1 Die Allgemeinheit der Sünde (Röm 5, 12) Kennzeichnend für die Aussage von Röm 5,12 ist zunächst, dass Paulus zwei einander eigentlich widersprechende Feststellungen über die Sünde zusammenbringt: einerseits kam die Sünde durch das Sündigen Adams in die Welt (V. 12a-c), 8 andererseits wird die Universalität der Sünde begründet mit dem Sündigen aller Menschen (V. 12d).9 Einer ähnlichen Divergenz zwischen Verhängnis und Tat des Einzelnen begegnen wir im 4Esr, dort freilich verteilt auf zwei verschiedene Positionen: Der Einwände vortragende Esra neigt eher zum Verhängnisgedanken, während Uriel nur die Tat des Einzelnen als Sünde gelten lässt. Nach Esra sind die Menschen seit Adam mit einem bösen Herzen 111 ver-
"Der Einbruch der Sünde in die Welt bringt den Tod an die Macht. der nach V. 12c auf alle Menschen übergeht. Ganz gleichgültig woher diese Vorstellung religionsgeschichtlich kommen mag. legt sie den Gedanken des Verhängnisses nahe Cvgl Käsemann. An die Römer 134138). Der Verhängnisgedanke erscheint beispielsweise auch in äthHen 6-11; angedeutet in Sir 25.24; VitAd 34;44; ApkMos 10; eher als Ausnahme in rabbinischen Texten wie DtnR 9C206a) bei Bill. 111 221f und den bei Brandenburger. Adam und Christus 44 Anm 5 genannten Äusserungen; sodann in vielen gnostischen Texten (zusammengestellt bei Brandenburger. aaO 6467). Zum Ganzen vgl Brandenburger. aaO 20-21.42-45; Hübner. Gesetz 66f. ~ Dazu Wilckens. Römer I 316f. 1" So zB 4Esr 3.21. Die vorwurfsvolle Feststellung an die Adresse des Offenbarungsengels lautet: Gott hat das böse Herz nicht von den Menschen weggenommen. so dass die ständige Krankheit lpermanens infirmitas) entstand. welche auch das Gesetz nicht heilen konnte (3.20.22).
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sehen, das es ihnen unmöglich macht, ohne Sünde zu leben. 11 Diesen Verhängnisgedanken lehnt Uriel kategorisch ab: Im Unterschied zu Esra, der von der Bosheit des Herzens ausgeht, bezeichnet Uriel das Herz als den Ort, wo der Kampf gegen den bösen Trieb auszufechten ist. 12 Verliert der Mensch diesen Kampf, so erhält er ein cor malignum, gewinnt er ihn, so wird er ein iustus. Voraussetzung ftir den Kampf ist die Freiheit zu kämpfen, eine Freiheit, die Uriel dem Menschen ausdrücklich zubilligt.' J Die Aufteilung der Positionen im 4Esr ist recht aufschlussreich. Sie zeigt einerseits den Zusammenhang zwischen der Gesetzeskritik und dem Verhängnisgedanken: gerade weil Esra an der Tauglichkeit des Gesetzes zu verzweifeln droht, 14 kommt bei ihm das Verhängnis der Sünde in den Vordergrund. Andererseits existiert auch ein Zusammenhang zwischen der Aufrichtung des Gesetzes und dem Gedanken der Selbstverantwortung des Sünders: weil Uriel die Position der Heilsamkeil des Gesetzes vertritt, muss er die Sünde als Produkt des Menschen betrachten. Auf dem Boden des Gesetzes stellt sich mit Notwendigkeit die These ein, die Sünde sei ein Produkt individueller Unfahigkeit beziehungsweise individuellen Versagens. 1 ~ Insofern gilt, dass der Mensch ganz auf sich selbst festgelegt ist, auf das, was er aus sich macht. Diese beiden Beobachtungen scheinen mir für das Verständnis von Röm 5,12 wichtig zu sein. Paulus kann einerseits den Gedanken von der
Deshalb bedeutete der Sturz Adams unser aller Sturz (4Esr 7 .I I H). Vorstellung des Kampfes vgl 4Esr 7 .127f <der Sinn des Kampfes ist eben der. dass der Verlierer leiden muss. während der Sieger des Versprochenen teilhaftig wird): 14.34 <überhaupt ist die ganze Visio 7 eine Aufforderung zum Kampf gegen das Böse). 11 Besonders deutlich 4Esr H.56: »Nam et ipsi (sc die Zugrundegehenden I accipientes liberIalern spreverunt Altissimum ... •: 9.11: ..... et c.jUOic.juot fastidierunt Iegern meam. cum adhuc erant habenies libertatem ···"·Nach Schoeps. Paulus 195 denkt auch das Rabbinat so über die Freiheit des Menschen. sich gegen den bösen Trieb durchzusetzen. 1 ~ Man könnte sich freilich auch auf den Standpunkt stellen. dass die Verzweinung Esras eher als literarisches Darstellungsmittel fungiert. während der Buchverfasser seihst diese Position schon »domestiziert« hat. Er hat im Grunde den Zusammenbruch schon bewältigt und lässt deshalb die Position des Esra eher aggressiv in Erscheinung treten (mündlicher Hinweis von W.Harnisch). 1
12 Zur
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durch Adam bedingten Universalität der Sünde aufnehmen, weil für ihn nicht mehr das Gesetz gegen die Sünde aufkommen muss. Müsste das Gesetz gegen die Sünde aufkommen, wäre es unverzichtbar, dem Menschen die Möglichkeit des Nichtsündigens zuzuschreiben. Schon hier in V. 12a-c erscheint also etwas von der Gesetzeskritik, die später noch verschärft werden wird. Paulus kann andererseits nicht auf den Gedanken des individuellen Sündigens verzichten, weil er die Sünde nicht auf eine substantielle Befindlichkeit des Menschen (etwa auf seine Materialität) zurückführen will (V. 12d). Dies hat seinen Grund darin. dass die Reichweite der Sünde sich auf den ganzen Menschen erstreckt, nicht bloss auf einen niedrigeren Teil desselben. Weil ihm beide Aspekte unverzichtbar scheinen, muss Paulus diese widersprüchliche Aussage über die Sünde machen. Damit deckte er einen Widerspruch auf, der wohl im Phänomen der Sünde selbst liegt. Schon in diesem Widerspruch ist angedeutet, wo der qualitative Sprung liegt. Er wird deutlich ausgesprochen in der Feststellung von der Universalität der Sünde: »weil alle sündigten« (Röm 5, 12d). Diese Feststellung stösst immer wieder auf den Widerstand der Exegeten. Auch in neuester Zeit wird sie eine Übertreibung genannt, bedingt durch den »eschatologischen« Systemzwang des Paulus. 1 ~> Es ist meines Erachtens äusserst fraglich, ob man hier von einem eschatologischen Systemzwang sprechen kann. ln diesem sogenannten »Pauschalurteil« des Paulus zeigt sich vielmehr ein neues Verständnis von Sünde, welche nun nicht mehr auf der Grundlage des Gesetzes gedacht wird. Dass auf der Grundlage des Gesetzes die Aussage von der Universalität der Sünde nicht zu erwarten ist, belegt wiederum der 4Esr. Im Rahmen des Gesetzes sind quantitative Aussagen möglich. So weist Uriel immer wieder darauf hin, dass es zwar wenige sind, die gerettet werden. dass aber diesen Wenigen das Prädikat »gerecht« zusteht. 17 In diesem Punkt 1" So Luz. Gesetz 97f (im An~hluss an von der Osten-Sacken). Die ganze Fragestellung ist insofern schief. als sich die Sünde (Singular!) gar nicht auf eine Summe von Tatsünden redu· zieren lässt (gegen Wikkcns. Römer I ."ll6). 17 Die künftige Weh ist nur wegen wenigen er~haffen !4Esr M.l; zu vergleichen ist M.2f das Bild von der grossen Menge Tonerde im Gegenüber zur kleinen Menge Gnldstauh). Non esse multos iustos sed paucos. impios vcro muhiplicari (7 51). Gott wird sich über die wenigen freuen. die gerettet werden (7.6<1). während Esra nicht traurig sein soll übcr die Vielen. die verloren gehen (7.61 ). »Sn gehe denn die Menge zugrunde. die nutzlos geboren ist. und geret· Iet werde meine Beere und mein Spross. denn ich habe sie mit viel Mühe zustande gcbral·htu (9.221. Ganz deutlich ist. dass die universalen Aussagen Esras korrigien werden durch Uriel. vgl Brandenhurger. Adam und Christus .n.
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widerspricht er Esra, welcher - aufgrund seines Verhängnisgedankens -universale Aussagen macht.t 8 Esra steht eben auch nicht auf dem Boden des Gesetzes, wenn es um die Universalität der Sünde geht, sondern sein Urteil griindet auf der Universalität des Verhängnisses. Schon diese Differenz zwischen Esra und Uriel, die in anderen frühjüdischen Schriften ihre Parallelen hat, 19 legt den Schluss nahe, dass Paulus mit seinem Urteil die gesetzliche Position verlässt, und dass es also unsachgemäss ist, seine Aussage aufgrund gesetzlicher Evidenz zu kritisieren oder als Übertreibung darzustellen. Andererseits ist gerade in Röm 5,12 die Differenz zu der am Verhängnisgedanken (und an der apokalyptischen Negativbeurteilung dieses Aeons) orientierten Universalitätsaussage unverkennbar. Deshalb ist es ebenso unsachgemäss, die Aussage, dass alle gesündigt haben, der apokalyptischen Denkweise zuzuordnen. Dass alle ohne Ausnahme gesündigt haben, ist eine Aussage, die nur auf der Grundlage des Christus überhaupt möglich wird. Dies zeigt der Zusammenhang von Röm 3,23 (wo dieselbe Universalität der Sünde festgestellt wird) mit Röm 3,21 ff ganz deutlich: Die Sünde ist ausnahmslos von jedem Menschen auszusagen, weil jeder Mensch an der Gottesgerechtigkeit vorbeiexistiert hat, die nun offensichtlich geworden ist in Christus.~ 0 Dieser Gedanke entspricht in seiner Tiefe der Behaup-
IK »Ümnes enim qui nati sunt commixti sunt iniquitatibus et pleni sunt peccatis et gravati delictis• (4Esr 7.68: vgl auch 8.35). Esra scheint in der Aussage der Universalität zu schwanken zwischen .. alle« und »fast alle«. Zu diesem Problem und seinen textkritischen lmplikationen vgl Brandenburger. Adam und Christus 176-179. 1" Zu nennen ist hier namentlich der syrBar. der ganz ähnliche quantitative Urteile aufweist Gott kennt die Zahl(!) der vielen. die gesündigt haben. aber auch der nicht wenigen. die recht gehandelt haben 1::? 1.1 Of vgl 41.3f). Die Pointe der Argumentation dieser Schrift liegt darin. dass jeder sich sowohl sein Verderben als auch seine Rettung selbst zuzuschreiben hat (54.140. Von da her ist es unzutreffend. aus dem syrBar die Aussage von der Universalität der Sünde hero~uszulesen (gegen Luz. Gesetz 98. der diese Aussatze bei Paulus für ein traditionelles apokalyptisches Urteil hält und dann Röm 5.1::? mit syrBar 5-'.19 und -'Esr .~ ..:!I f auf die gleiche Stufe stellt: mit Brandenburger Adam und Christus ~60. ~~·Eine solche christologische Argumentation »dogmatic« zu nennen (so Sanders. Paul and Palestinian Judaism 48-'l. ist schon deshalb unzutreffend. weil sie auf dem Boden des Gesetzes gewonnen ist. Es wird umso fragwürdiger. wenn Sanders seine Paulusinterpretation dann so heilsgeschichtlich entwirft. wie er dies in der in Anm I genannten Arbeit tut (zB 7~81 l. Christologie und existentielle Phänomene sind bei Paulus gerade keine Alternativen. Problematisch ist es ferner. die Begründungsverhältnisse umzukehren: •n·i/ alle gesündigt haben. darum beruht ihre Rechtfertigung auf einem Gnadenakt Gottes: gegen Hahn. Gesetzesverständnis .H. Die bei Hübner. Gesetz M vorgenommene Unterscheidung zwischen Sündentaten (die durch das Gesetz erkannt werden) und der Sündenmacht (die erst durch Christus aufgedeckt wird) verschiebt den Akzent meines Erachtens in unzulässiger Weise. Der springende Punkt ist dass
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tung, aufgrund von Werken des Gesetzes werde kein Mensch gerecht (Röm 3,20). Auf der Grundlage des Gesetzes ist eine solche Aussage unmöglich. Das Gesetz spricht den Menschen ja im Gegenteil darauf an, die Gerechtigkeit in den Werken des Gesetzes zu suchen. Röm 3,20 ist erst möglich, wo eine Gerechtigkeit in den Blick gekommen ist, die völlig unabhängig vom Gesetz besteht. 21 Der hier festzustellende qualitative Sprung im Denken des Paulus besteht also darin, dass er die quantitative Aussage des Sünderseins einiger (vielleicht vieler) übersteigt durch die qualitative Aussage, dass schlechthin alle Menschen Sünder sind. Daraus ergibt sich die These, dass Paulus die Sünde gar nicht mehr durch das Gesetz definiert sein lässt. Daraus folgt wiederum, dass Sünde nicht mehr aussschliesslich ein Tatphänomen ist, 22 auch wenn Paulus den Tataspekt ganz und gar nicht ausschliesst. Der Tatsache, dass die Sünde unabhängig vom Gesetz begriffen wird, entspricht die andere Tatsache, dass die Gerechtigkeit ebenso unabhängig vom Gesetz verstanden wird. Die Abwendung von der Definitionsmacht des Gesetzes wird bestätigt durch Röm 5,13f. Diese Zwischenbemerkung zur Zeit zwischen Adam und Mose ist veranlasst durch die paulinische Aussage von der Universalität der Sünde bei gleichzeitigem Festhalten an der Verantwortlichkeit des Sünders. Paulus legt Wert darauf, festzustellen, dass es Sünde gibt, die nicht nach dem Modell Adams verstanden werden kann. Sünde nach dem Modell Adams ist Übertretung des Gesetzes. 23 Sünde
aufgrund der geschehenden Gnadentat eine Sünde erkenntlich wird, die gar nicht mehr einge· holt werden kann durch die Definition der SUnde als Übertretung des Gesetzes. Dem widerspricht nicht der paulinische Gedanke. dass es auch durch das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde kommt. 21 Das~ von Röm 3.21 ist sehr ernst zu nehmen: es bedeutet weder gegen das Gesetz noch arn Gesetz vorbei. sondern schlechthin unabhängig vom Gesetz, so wie eine Insel unabhängig ist vom Festland. Diese klare Position des Paulus wird verwischt durch Wilckens. Römer I 174-177 (Was soll denn eine »Rechtfertigung von Gerechten• sein?). Rechtfertigung aufgrund der Werke des Gesetzes gibt es nach Paulus weder für Sünder noch für Gerechte, aus dem ganz einfachen Grunde, weil das Phänomen der Rechtfertigung völlig unabhängig vom Gesetz ist. Wer die Unfähigkeit des Gesetzes zur Rechtfertigung erkannt hat, ist in der Tat insofern nicht mehr Jude (vgl Hübner. Gesetz 63), als er die Definitionsmacht des Gesetzes nicht mehr flir entscheidend hält. 22 Gegen Wilckens. Römer I 316, der mit dem seltsamen Ausdruck "TatsUnden" das Phänomen der Sünde auf seinen Tataspekt beschränkt. 21 Dass auch Adams Sünde in der Übertretung des göttlichen Gesetzes bestand, ergibt sich aus der Behandlung des Adam-Beispiels in Röm 7 .7ff. Auch nach frühjüdischen Anschauungen ist die Sünde Adams so zu beurteilen und sind die Sünden der Menschen definiert als
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im Zusammenhang des paulinischen Denkens aber ist nicht mehr bloss Übertretung des Gesetzes. 24 Die Menge der Sünden ist nicht mehr identisch mit der Menge der Gesetzesübertretungen. 25 Wohl hat das Gesetz immer noch die Funktion, Sünde berechenbar zu machen (5,13b), 2b aber es hat nicht mehr die Macht, Sünde hinreichend zu definieren. Der Begriff der Sünde ist insofern umfassender geworden, als die Menge der Sünden zwar als eine Schnittmenge auch gewisse Gesetzesübertretungen enthält, sich aber darüber hinaus auf Phänomene erstreckt, die gar nicht mehr in bezug auf das Gesetz definiert sind.H Die Frage wird sein müssen, welche Instanz denn an die Stelle des Gesetzes getreten sei. Im Sinne einer Vermutung will ich schon jetzt darauf hinweisen, dass hinsichtlich der Definition der Sünde die xap~ an die Stelle des Gesetzes getreten ist. 1.2 Die präzisierte Entsprechung (Röm 5,15-18) Die vorliegenden Ausführungen des Paulus stehen im Zusammenhang der These, dass zwischen Adam und Christus ein Entsprechungsverhältnis besteht. 28 Dieses Entsprechungsverhältnis wird in 5,14 Ende schon angetönt (Adam ist der Typos des kommenden, zu ergänzen ist Christus) und in 5,18 klar ausgesprochen: Wie Adam eine Wirkung auf
Übenretung des Gesetzes (vgl 4Esr 3.7 filr Adam. 3.8 für die Menschen nach Adam). Zum Ganzen vgl Schneider. An. ~i.vca 733.6-741.6. 24 Dies zeigt sich rein vokabelanalytisch auch daran. dass Paulus das Won mpcilla~ sehr zurückhaltend verwendet (im Unterschied etwa zu lllllpli~ und ciiJoCIPila. und dass an allen Stellen ~ auf die Übenretung des Gesetzes bezogen ist (vgl Röm 2.23: Übenretung des Gesetzes: 4.15: wo kein Gesetz ist. ist keine Übenretung: 5.14: nach dem Modell der (Gesetzes-( Übenretung Adams: Gal 3.19: wegen der Übenretungen wurde das Gesetz hinzugegeben). ln ähnlicher Weise unterscheiden zwischen Sünde und Übenretung des Gesetzes: Brandenburger. Adam und Christus 203: Hübner. Gesetz 63: Schlier, Der Römerbrief 182. 2~ Dies zeigt sich gerade auch daran. dass fLir Paulus das Gesetz keine universale Verbindlichkeit mehr hat (etwa in Sachen Reinheit oder rechtem Verhalten. wo das Gesetz -genauso wie entsprechende hellenistische und hellenistisch-jüdische ethische Erwägungen - heuristische Funktion hat). Der Hinweis auf Röm 7.12 verschlägt nicht als Gegenargument. da es hier bloss um die Unterscheidung des Gesetzes von der Sünde geht. 2" Man wird sich das Gesetz als eine An Buchungsinstanz vorzustellen haben. die Sünde anrechenbar macht. Unwahrscheinlich ist demgegenüber. dass das Gesetz die Funktion hat. den Sünder •definitiv der Folge seiner Sünde« zuzusprechen (gegen Wilckens. Römer I 3181). n Die Problematik der Analyse von Wilckens. Römer I 318-320 liegt vor allem darin. dass er die Sünde immer noch der Definition des Gesetzes unterstellt. 2M Vgl Brandenburger. Adam und Christus 219. Angesichts von V. 14 Ende ist es wohl problematisch. hier von einem •antithetischen« Entsprechungsverhältnis zu reden. gegen Wilckens. Römer I 308.322: zu wenig klar auch Käsemann. An die Römer 141 f.
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die Gesamtheit der Menschen hatte, so hat auch Christus eine universale Wirkung. Der Vergleichspunkt besteht also in der Wirkung des Einen auf die Vielen. Allerdings kann der Vergleich nicht einfach typologisch ausgeführt werden, da zwischen Adam und Christus ein qualitativer Unterschied besteht (was jedoch keine Antithetik impliziert). Diesen Unterschied sprechen die Verse 15-17 aus, indem sie das Unvergleichbare präzisieren, bevor in V. 18 das Vergleichbare ausgesprochen wird. In einem ersten Schritt wird das m; des typologischen Vergleichs verneint, indem das xapUJt.UX (Christi) vom napam:mJ.UX (Adams) abgehoben wird. Die Verfehlung Adams bestimmt die Vielen nicht so, wie die Gnadengabe Christi die Vielen bestimmt. Der erst negativ festgestellte Unterschied wird im folgenden positiv bestimmt durch ein xou.ql J,UiUov. Nicht nur wird ein Schluss vom Kleineren auf das Grössere vollzogen, sondern dieser Schluss wird darüber hinaus noch überboten durch das Verb tKI!piOOEOOE\1 von V. 15 Ende. In diesem doppelten Komparativ verbirgt sich erneut ein qualitativer Sprung. Denn vom Einfluss Adams auf die Vielen gelangt man nicht durch quantitative Steigerung zum Effekt Christi auf die Vielen. Der quantitative Vergleich (der in jeder Steigerung impliziert ist) wird ersetzt durch eine qualitative Entgegensetzung. Die Frage ist, worin dieser qualitative Sprung besteht. Ich beginne bei einigen Beobachtungen zur sprachlichen Struktur dieser sehr sorgfältig gestalteten Sätze. In V. 15b fällt zunächst ein interessanter Subjektswechsel auf: auf der Seite Adams sind die Vielen Subjekt, allerdings Subjekt des Sterbens. Im Gefolge der Verfehlung Adams haben sich die Vielen den Tod geholt, indem sie sich verfehlten. Im Gefolge Adams gelangen die Vielen in die Subjektsposition, allerdings in die Position des sterbenden Subjekts. Auf der Seite des Christus dagegen agiert ein anderes Subjekt: es sind die xapu; und die &opai, welche sich den Vielen in einer Weise erschliessen, die alles Vergleichbare überbietet.~ 9 Den Vielen wird die Wohltat gewährt, aus der Position des handeinen Subjekts entlassen zu werden. Stattdessen gelangen sie in die Situation von Adressaten, von Empfängern. Ein ähnlicher Subjektswechsel- diesmal freilich mit umgekehrtem Vorzeichen-
29 Zur doppelten Steigerung und damit zur Überwindung der Vergleichbarkeit vgl Brandenburger. Adam und Christus 223f. Die doppelte Steigerung ist ein sprachlicher Reflex dessen. da.'is das Denken. das von Haus aus immer auf dem Boden des Gesetzes angesiedelt ist. sich ins Zerbrechen führen lässt durch das Evangelium.
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liegt in V. 17 vor. Auch V. 17 hat die Absicht, die Negation der Vergleichbarkeit von Adam und Christus zu begründen. 30 Auch hier werden mpaJnmj.l(l und xap~pECi einander gegenübergestellt und auch hier erscheint der qualitative Sprung in der doppelten Steigerung von 7tO~ J,UiUov und..; 7tq)1.002ia. Im Blick auf die Handlungsverhältnisse stellen wir fest: auf der Seite Adams ist der Tod Subjekt, der durch den einen an die Herrschaft gelangt ist. Die Vielen existieren gar nicht mehr, sie sind - obwohl nach V. 15 scheinbar Subjekte - verschwunden. Auf der Seite des Christus aber sind nun die Vielen als Subjekt erschienen, genauer als ein empfangendes Subjekt oder als ein Subjekt, das die Tätigkeit von Adressaten hat (oi ~J.Ißcivov~) und das durch die Aktivität des Übermasses an Gnade und Geschenk bestimmt ist (was sich schon rein philologisch daran zeigt, dass das oi eine grosse Klammer von Bestimmungen eröffnet, bevor das eigentliche Subjekt genannt wird). Statt des Todes werden die Vielen zur Herrschaft gelangen, und zwar in der Lebendigkeit, die ihnen von Christus zugekommen ist. Vergleichen wir die beiden Sätze 15 und 17 hinsichtlich ihrer Aufbaustruktur, so können wir festhalten: Was sich auf der Seite Adams als Subjekt aufführt (V. 15), ist in Wahrheit gar keines; es ist das Subjekt dessen, der sich in seiner Verfehltheil den Tod holt und also den Tod selbst zum Subjekt macht (V. 17). Was auf der Seite des Christus bloss als Objekt erscheint, ist in Wahrheit ein Adressat, der durch die Aktivität der xcip~ zum lebendigen Subjekt wird. Der qualitative Sprung, der sich schon in den strukturellen Verschiebungen zeigte, kann durch einen Vergleich von Adam und Christus noch genauer definiert werden. Dabei wird man darauf zu achten haben, dass die Steigerung kein Weg von Adam zu Christus ist. Dieser Weg ist vielmehr eine fundamentale Neuorientierung hinsichtlich des Menschseins. Im Bereich des Adam ist der Mensch auf die Position des Subjekts festgelegt, des Subjekts nämlich, das in der gleichen Weise in der Welt agiert wie Adam. Adam wirkt also auf die Vielen so, dass es bei den Vielen zur imitatio Adams kommt. Adams Wirkung liegt in der Wiederholung seiner Tat. Im Bereich des Adam versteht sich das menschliche Subjekt wesentlich als Täter, als Wiederholungstäter. Genau dies gilt jedoch auch vom Bereich des Gesetzes, welches den Menschen fundamental als Täter definiert und ihn nur in der Weise des ' 0 Vgl das oüz von V. 16 und das .,ap in V. 17. V. 17 ist parallel zu V. 15b und steht in betontem Bezug zu V. 16a. welchen er erneut begründet: mit Schlier. Der Römerbrief 171.
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Agierens Subjekt sein lässt. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang wiederum ein Blick auf den 4Esr. Während Esra in seinen verschiedenen Einwänden immer wieder versucht, die Position des Gesetzes aufzuweichen und auf Gottes Aktivität zu rekurrieren, auf seine Barmherzigkeit und sein Erbarmen, beharrt Uriel bis zum Ende darauf, dass das rechte Verhältnis zu Gott die Sache des Einzelnen ist, genauer: seines eigenen Kampfes gegen das Böse und seines eigenen tätigen Gehorsams. Gottes Sache ist es, die Aktivität dieses Menschen zu beurteilen: »vacua vacuis et plena plenis«.3 1 Nach Paulus ist die Zeit Adams und damit die Zeit der gesetzlichen Selbstdefinition des Menschen vorbei. Deshalb sind auf der Seite des Christus neue Verhältnisse massgebend. Auf der Seite des Christus wird der Mensch als Empfänger angesprochen. Massgebend für sein Verhältnis zu Gott ist nicht, was er an Werken des Gesetzes zu tun vermag, massgebend ist vielmehr das Verhältnis, das Gott selbst zu ihm gewonnen hat. In diesem Übergang vom Täter zum Empfänger zeigt sich der qualitative Sprung zwischen ipyov und mO"t\c;. Der Bereich des EpyOV bestimmt den Menschen qualitativ anders als er im Bereich der mcmc; bestimmt ist. Zwischen Werk und Glaube gibt es keinen Kompromiss. Denn das Glauben ist eine fundamental andere Bewegung des Menschen als das Wirken. Paulus wehrt sich mit grösster Vehemenz gegen eine Kombination dieser beiden Bewegungen, gegen ein »und« zwischen dem Werk und dem Glauben, ganz so, als ob der Christus bloss für eine dem alten Bund gleiche neue Aktivität Gottes stünde, die ein dem Mosegesetz gleiches neues Gesetz aus sich heraus entlässt)! In diesem Zusammenhang wehrt sich Paulus
H 4Esr 7.25. Als weitere Beispiele seien genannt: 7,14 (die Menschen müssen in den Nöten des gegenwärtigen Äon sich bewährt haben, um die Frucht der Unsterblichkeit zu erhalten): 7.21 (der Herr hat nachdrücklich geboten, was sie tun sollen. um nicht bestraft zu werden): 7.33 (der Höchste offenbart sich auf dem Richterthron, Erbarmen und Langmut verschwinden): 7,35 (das Werk folgt nach. die gerechten Taten erwachen): 7,72 (es kommt darauf an. den Verstand zu gebrauchen. um das Gesetz zu halten). Die Beispiele könnten fast beliebig vermehrt werden. Auch Paulus stellt ja vom Gesetz zu Recht fest, dass es den Menschen auf das Tun festlegt (Röm 2.13). Jl Die Klarheit dieser Alternative wird vernebelt durch die Behauptung von Stendahl, Paulus 49f nach rabbinischer Auffassung gehe Erlösung und Verdammung Gottes mitten durch das menschliche Herz als die zwei Triebe. die miteinander kämpfen (Belege werden nicht genannt). Dieses noch in manch anderer Hinsicht skandalöse Buch (skandalös ist etwa schon der Titel. in welchem eine gesetzliche Unterteilung der Menschen in Juden und Heiden beibehalten wird. die im Bereich des Christus völlig irrelevant ist) versteigt sich denn auch zur Behauptung. die »Loyalität gegenüber Jesus Christus• sei von der frühen Kirche in •sektiereri-
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auch gegen das, was man neuerdings »covenantal nomism« nennt. Die bundesbestimmte Gesetzlichkeit ist genau jene Kombination zwischen Glaube und Werk, die für Paulus zum Bereich des Adam gehört. Diese höchst erstaunliche Einsicht gelingt Paulus, weil der Christus für den Gott steht, der eine ungeahnte Eindeutigkeit gewonnen hat. Diese Eindeutigkeit überwindet den Gottesgedanken des Gesetzes, durch welches Gott in der Schwebe zwischen Gnade und Gerechtigkeit gehalten wird. Das Problem liegt nicht etwa darin, dass das Gesetz bloss eine Forderung ohne vorhergehende Gabe wäre. 33 Entscheidend am jüdischen Denken seiner Zeit ist für Paulus, dass Gott nicht eindeutig als Geber gedacht wird, sondern bloss als bedingter Geber, und dass der Mensch nicht eindeutig als Empfänger gedacht wird, sondern bloss als einer, der empfängt, um besser wirken zu können. Selbstverständlich ist der Mensch in der Welt zugleich Empfänger und Wirkender. Der kritische Punkt ist jedoch dort, wo das Gottesverhältnis konsequent als Empfangen gedacht und also Gott konsequent als der Geber wahrgenommen wird. ln diesem Zusammenhang ist eine weitere Gegenüberstellung von Interesse. Nach V. 16 unterscheiden sich Adam und Christus in der Bewe~:un~:srichtun~:: während durch die Sünde Adams Gericht notwendig geworden ist. das zur Verurteilung aller Menschen (vgl V. 18) führen muss, ist durch Christus die Gnadengabe wirksam geworden, die aus der Fülle der Verfehlungen herauszuführen vennag zum Rechtfertigungsurteil.14 Die Verurteilung geht von dem Einen zu den Vielen über. während die Gnadengabe aus den vielen Verfehlungen das eine und einfache Rechtfertigungsurteil erzeugt. Bemerkenswert an dieser Gegenüberstellung sind einerseits die Phänomene xp\aJa und xaplO)JQ. KpiJJ.U ist das richterliche Urteil, das Urteil also, das aufgrund eines gegebenen Massstabs beurteilt, was vorhanden ist. Dieses Phänomen des Semessens stellt sich immer ein im Horizont des Gesetzes. »Der Höchste offenbart sich auf dem Richterthron ( ... ); das Erbannen vergeht (. .. ),
sche(r) Weise« verlangt worden. So kann nur sprechen. wer den Christus erneut der Definitionsmacht des Gesetzes unterstellt hat: dann aber muss er so sprechen. 1\ Neuerdings wird diese Gesetzeskritik Paulus immer wieder unterstellt. um dann als Missverständnis des jüdischen Gesetzes deklariert werden zu können (zB Räisänen. Legalism 77: auf diese Weise verfehlt man überhaupt das Problem des Gesetzes bei Paulus). '~ Hier muss &uuiattJa als Gegenbegriff zu m'lli~p~~a verstanden werden. Dann legt sich die Bedeutung .. Rechtfertigungsurteiloc im Gegensatz zum »verurteilenden Urteil• nahe. Zum Problem vgl Wilckens. Römer I 324 mit Anm 1086: Brandenburger. Adam und Christus 225.
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die Langmut verschwindet. nur das Gericht bleibt« (4Esr 7 .33.34a), so spricht Uriel die endgültige Bedeutung des Semessens aus. Nichts wird es mehr geben. was für den Beurteilten sprechen kann. ausser dem. was bei ihm vorhanden ist an Gerechtigkeit.3 5 Ganz im Gegensatz zum Kpi~ ist das xaptq.La ein Phänomen der Zuteilung: das Wort xaptq.La fasst die xa~ unter dem Gesichtspunkt, dass sie ausgeteilt wird. Xcipl<Jt.UX bezeichnet das. was dorthin gegeben wird, wo nichts vorhanden ist. Die Gnadengabe ist nicht das Bemessen von Vorhandenem, sondern das Zumessen von neuem Sein: insofern knüpft sie an nichts an. Die Gegenüberstellung von Kpi~ und xaptq.La macht auf der anderen Seite deutlich, dass dem bemessenden Urteil die Verurteilung und nur die Verurteilung entspricht, während der gnädigen Gabe das Rechtfertigungsurteil und nur dieses entspricht. Damit hat Paulus überraschende Zuordnungen vorgenommen. Auf der Basis des Gesetzes lässt das Kpi~ immer beide Möglichkeiten offen: es kann einerseits zur Verurteilung, andererseits zum Rechtfertigungsurteil führen. Diese traditionell jüdische Zuordnung 36 durchbricht Paulus, indem er den vernichtenden Charakter des Bemessungsphänomens klar erkennt. Diese Erkenntnis kann er sich leisten, weil er den schöpferischen Charakter des Zuteilungsphänomens der Gnade klar erkannt hat. Wir begegnen hier einem weiteren Indiz für den qualitativen Sprung im Denken des Paulus. Im Horizont der Bemessung des Vorhandenen gibt es zwar etwas. das man missverständlich Gnade nennt. Der bemessende Gott wird insofern als gnädig gedacht, als er die fehlenden Vorhanden-
1 ~ Das Phänomen des Semessens ist nicht nur am Ende das einzige. was bleibt, es gilt auch als das erste Geschöpf Gottes. vgl 4Esr 7 ,70. Nur das. was bei ihnen vorhanden sein wird. werden die Menschen in diesem Gericht vorbringen können (7,72-74). »Der Tag des Gerichts ist streng und zeigt allen das Siegel der Wahrheit. Wie jetzt schon kein Vater den Sohn ... entsenden kann. dass er für ihn krank sei, schlafe, esse oder geheilt werde. so wird auch dann niemand für einen andem bitten: denn dann trägt jeder selbst seine Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit« (7 ,I 04b.l 05 ). Deutlicher könnte das Zurückgeworfensein auf das, was der Mensch vorzuweisen hat, nicht mehr ausgedrückt werden. 36 Dazu Lührmann. Galater 56 (zu Gal 3.6-14): »Was bei Paulus durch Christus zu einem zeitlichen Nacheinander wird. wirkt im Alten Testament wie zwei gleichzeitige Möglichkeiten. deren jeweilige Realisierung sich am Verhalten gegenüber dem Gesetz entscheidet: Wer das im Gesetz angebotene Leben. die Verheissung des Bundes annimmt. steht unter dem Segen. wer sich dem Gesetz verweigert. steht im fluch. im Tod.« Diese schon im Gal feststellbare Umorientierung ist von grösster Bedeutung für ein Verständnis des Evangeliums. wenn dieses nicht bloss ein Abklatsch des Gesetzes sein soll.
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heiten nicht so schwer gewichtet, wie das die Gerechtigkeit erfordern würdeY Diese »Gnade« - und möge sie quantitativ noch so sehr gesteigert werden - bleibt im Rahmen des Gesetzes. Gnade ist jedoch bei Paulus keineswegs bloss das, was die menschlichen Defizite bis zu dem Mass ergänzt, welches für die Rettung notwendig ist. Gnade ist vielmehr die Aktion Gottes, welche den Menschen ganz dem Phänomen des Semessens entzogen hat, wenn es um seine Rechtfertigung, um seine Integrität vor Gott geht. Gnade ist es, wenn die Rechtfertigung des Menschen überhaupt verlegt wird an einen Ort xmp1.c; vOJ,Lou, an einen Ort also, wo das Gesetz in keiner Weise mehr massgebend ist.3 8 Damit ist die menschliche Aktivität überhaupt entlassen aus jenem Feld, wo das Gottesverhältnis des Menschen zur Frage steht. Diesen Entlassungsvorgang nennt Paulus eine Tat der schöpferischen Gnade Gottes. Damit ist die Gnade auf eine qualitativ neue Ebene gehoben.
xa,nc;.
1.3 Der konzentrierte Gehorsam (5, 19) Röm 5,19 macht- wie schon V. 18 - eine Aussage zur Entsprechung von Adam und Christus. Die Entsprechung liegt in der Wirkung des
17 Eine solche Vorstellung von Gnade ist mit der Definitionsmacht des Gesetzes notwendig gegeben. »God's mercy is greater than his justice.« In diesem nach Sanders. Paul and Palestinian Judaism 421 rabbinischen Grundsatz ist die oben beschriebene Gnadenvorstellung genau ausgedrückt. Noch schöner zeigt sie sich in der übrigen Literatur: »the usual formulation is that God punishes the wicked for th~ir duds, while bestowing m~rcy on th~ riRhuous« (ebd). Gewiss legt vor allem der Verfasser des 4Esr fast alleiniges Gewicht auf die Taten der Menschen. Dennoch ist der 4E
I Beobachtungen zu Röm 5.12ff
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Einen auf die Vielen.3 9 Fragt man allerdings nach dem Wie der Entsprechung, so stösst man auf ihren spannungsreichen Charakter. Dem Ungehorsam40 Adams steht der Gehorsam Christi gegenüber, genauso wie der Vorgang des Als-Sünder-hingestellt-Werdens dem des AlsGerechte-hingestellt-Werdens gegenübersteht. 41 Die nicht zu bestreitende Entsprechung wird also wiederum durch eine Unvereinbarkeit präzisiert. Es wäre freilich verfehlt anzunehmen, das Unvereinbare bestünde jeweils nur in dem Sein Adams und Christi beziehungsweise der Sünder und der Gerechten. Das Unvereinbare schlägt gerade auch auf die Relation von Adam zu den Menschen respektive von Christus zu den Menschen durch. Im Gefolge des Ungehorsams Adams sind die Menschen Täter, sie wiederholen den Ungehorsam Adams und werden insofern als Sünder hingestellt. Der eigentliche Ungehorsam des Sünders besteht darin, dass er am Hören vorbei existiert, indem er sich durch seine eigene Aktivität konstituiert. Im Gefolge des Christus dagegen sind die Menschen Empfänger beziehungsweise Hörer, sie beziehen sich empfangend auf den Gehorsam Christi und werden insofern als Gerechte hingestellt. Die eigentliche Lebendigkeit des Gerechten besteht darin, dass er aus dem Hören und Empfangen existiert, indem er sich das Sein zugute kommen lässt, das der Gehorsam des Christus ihm erschaffen hat. Auf eine Formel gebracht: in Adam sind die Menschen
39 Dazu Brandenburger. Adam und Christus 242. Vielleicht ist stärker zu beachten. dass die Differenz zwischen Adam und Christus (wie sie in V. 15-17 präzisiert wird) nur ausgesprochen wird auf der Grundlage der Entsprechung (V. 18f). 40 Eigentlich existiert Adam am Hören vorbei, wodurch er sich als Täter etabliert (vgl den griechischen Ausdruck mp~~ml!: Schmidt. Art. ci~ 224,1-29). Problematisch an der Wiedergabe mit •Ungehorsam« ist hier. dass das Am-Hören-vorbei-Existieren dadurch beschränkt wahrgenommen wird als Ungehorsam gegenüber den Geboten oder Forderungen Gottes. Hier erscheint eine viel tiefere Dimension: da.'l Überhören des guten Wortes. das dem Menschen gilt. 41 Nicht sicher zu erheben ist die Bedeutung des Futurs in der zweiten Satzhälfte. Es könnte einerseits eine Zeit meinen. die im Blick auf den Bestimmungsraum des Adam zukünftig ist und also den Bestimmungsraum Christi beziehungsweise die Gegenwart des Seins der Glaubenden bezeichnet. Es könnte andererseits eine eschatologische Zukunft meinen. so dass die Rechtfertigung der Glaubenden auch erst in dieser Zukunft gälte. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass bei Paulus die Rechtfertigung - mit der einzigen Ausnahme von Gal 5.5 - ein gegenwlrtiges oder vergangenes Geschehen darstellt, wird man das Futur in Röm 5,19 im ersten Sinne zu verstehen haben. Zum Problem vgl Brandenburger. Adam und Christus 234. der beide Möglichkeiten in Erwägung zieht. und Käsemann. An die Römer 148, der sich flir das eschatologische Futur entscheidet. ohne jedoch den Gegenwartsaspekt der Rechtfertigung damit zu verneinen.
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Täter wie Adam, in Christus sind sie Hörer auf Christus. Hier verbirgt sich wiederum ein qualitativer Sprung. In Adam und also im Bereich des Gesetzes existiert der Mensch stets in der Schwebe zwischen Ungehorsam und Gehorsam. Das Gesetz sagt ihm zwar, was gehorsame Lebensflihrung ist, aber es kann ihn aus der Schwebe nicht entlassen. Eindeutig wird der Mensch nur durch seinen eigenen Gehorsam. Paulus nun interpretiert diesen Bereich in einer ähnlichen Weise einseitig, wie wir es schon bei der Dualität von Verurteilung und Rechtfertigungsurteil (V. 16) beobachten konnten. Im Bereich des Adam gibt es für Paulus gar nicht mehr die Schwebe zwischen Gehorsam und Ungehorsam, es gibt vielmehr nur den Ungehorsam beziehungsweise das Sündersein. Diese Interpretation ist auf der Grundlage des Gesetzes unmöglich. Sie ergibt sich erst dort, wo entschieden ist, dass der Mensch - wenn er sich tätig auf Gott bezieht immer schon am Hören vorbei lebt und also der Sünde verfallt. Andererseits gibt es für Paulus die Schwebe von Gehorsam und Ungehorsam im Bereich des Christus nicht mehr. Denn der Gehorsam des Christus 42 erfordert nicht den Gehorsam der Menschen, sondern erbringt ihre Gerechtigkeit. Der Christusbezug der Gerechten wird am besten beschrieben mit dem Wort 'h:ot1 (oder: 7ti~. ÄaJ.IIkivelv, a1CO'Uelv, usw). Im Phänomen des Hörens haben sie einen qualitativen Schritt getan, einen Schritt, der sie dem Widerstreit von Gehorsam und Ungehorsam enthebt. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Paulus den Begriff der Gerechtigkeit gerade nicht für die Lebensflihrung des Menschen verwendet, sondern für sein Gottesverhältnis, während für die Lebensführung andere Wörter gebraucht werden. 43 Daraus folgt: Der Schritt von Adam zu Christus ist nicht einfach der Schritt von der Orientierung am Ungehorsam des Einen zur Orientierung am Gehorsam des Andern. Es ist vielmehr der Schritt dorthin, wo die Wohltat des einen Gehorsamen den Vielen zugutekommt Darum fehlt auf der Seite des Christus ein Gegenstück zu dem »Weil alle sündigten« (V. l2d), auf das Paulus im Blick auf Adam so grossen Wert legt. Die Wirkung der
4 ! Brandenburger. Adam und Christus 235 versteht unter dem Gehorsam Christi das Heilshandeln Jesu als eines Leidenden Gerechten. dessen Tun sühnende Kraft hat. Im Blick auf den Philipperhymnus könnte der Gehorsam des Christus so etwas wie »Treue zur Menschlichkeit« bedeuten. wobei Paulus dann die Menschlichkeit nicht mehr allgemein sondern konkret vom Kreuzestod Jesu her versteht (dazu Weder. Kreuz 211-215). 41 So auch Sanders. Paul 45.
I Beobachtungen zu Röm 5.12ff
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Sünde auf die Vielen beruht darauf. dass diese die Untat wiederholen, die Wirkung der Gnade auf die Vielen aber beruht darauf, dass diese die Tat des Christus sich zugute kommen lassen. Deshalb kann es ein Gegenstück zu dem ))weil alle sündigten« in der paulinischen Anthropologie gar nicht geben. 1.4 Die Vermehrung der Sünde (5,20) Damit sind wir beim letzten Moment angelangt, in welchem der qualitative Sprung im Denken des Paulus sichtbar wird. Nach Röm 5,20 ist das Gesetz dazwischen gekommen, damit (oder so dass) sich die Sünde vermehrte. Zunächst ist festzuhalten, dass die Bedeutung von wovat;uv nicht abgemildert werden kann auf ))voll machen« 44 oder ))gross machen«. 4 s Das Verbum meint eindeutig eine Vermehrung der Verfehlung. 46 Vermehrt werden kann nur. was schon da ist. Daraus folgt, dass diese Vermehrung der Verfehlung dem Sachverhalt zu verdanken ist, dass einerseits das Gesetz am Sinai gegeben wurde und dass andererseits die Sünde schon vor dem Gesetz in der Welt war. Die Frage ist, was unter dieser Vermehrung zu verstehen sei. Man könnte zunächst einen ganz banalen Sinn annehmen: je mehr Verbote in der Welt sind, desto mehr Übertretungen sind möglich. Nicht nur der Respekt vor der paulinischen Theologie verbietet eine solche Banalität, sondern sie erscheint auch unsachgemäss, wenn wir Aussagen wie Röm 7. 7ff einbeziehen. wo gerade festgehalten wird, dass sich die Sünde des Gesetzes bemächtigte, um den Menschen zu betrügen und zu töten. Vertreten wird ferner die These, das ))Mehr« bestehe darin, ))dass erst so (sc durch das Kommen des Gesetzes) die Sünde ihre volle, nämlich endzeitliche Vernichtungskraft erhält« 47 • Diese Deutung gibt den paulinischen Satz ungenau wieder. Die Verfehlung wird ja dadurch nicht vermehrt, dass sie eine endzeitliche Relevanz erhält, so wenig wie
44 Gegen Luz. Gesetz 101. der den Sachverhalt von V. 20 durch die Aussage verwischt. das Gesetz habe »also nur etwas bereits Vorhandenes zur Fülle gebracht«. Wie soll man den logischen Zusammenhang zwischen Vorhandenem und Fülle verstehen? Obwohl auch Delling. An. ~. die klare Bedeutung von mehren (vgl auch die Ableitung von WOI' aus ~) feslStellt (263.14-41: 264.47-57). lässt er die Aussage in Röm 5.20 merkwürdig im Unbestimmten zwischen »ganz gross werden« und »grösser werden« (aaO 265.1-29). 45 Gegen Hahn. Gesetzesverständnis 43. Eine solche Abmilderung des Wones verbietet sich schon aus Gründen der Wonableitung von 111to11. dem Komparativ von taM.Ui;. 411 Zutreffend Schlier. Der Römerbrief 177. 47 So Wilckens. Römer I 329.
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Schulden dadurch vermehrt werden, dass sie buchhalterisch festgehalten werden. Wenn wir die paulinische Aussage beim Wort nehmen, so ergibt sich eine meines Erachtens klare Bedeutung: zum Verhältnis von Übertretung und Verfehlung hatten wir oben festgehalten, dass die Menge der Sünden nicht mehr identisch ist mit der Menge der Übertretungen des Gesetzes, sondern diese nur als eine Teilmenge in sich enthält, während als Verfehlung noch andere Phänomene zu gelten haben. Hier nun spricht Paulus von der Vermehrung der Verfehlung, die durch das Kommen des Gesetzes ausgelöst wurde. Eine solche Aussage ist wiederum auf der Grundlage des Gesetzes völlig unmöglich, was gerade der Dialogpartner Esra zeigt, der in seiner Gesetzeskritik denkbar weit geht. Das äusserste, was Esra sagen kann, ist: das Gesetz hatte keinen Einfluss, dass es gegeben wurde, hat sich als Gegenmacht gegen die Sünde gar nicht bewährt. 48 Es wäre aber auch Esra unmöglich zu sagen, das Gesetz habe die Sünde vermehrt. Denn die Sünde ist ja definiert durch das Gesetz: Sünde ist die Menge jener Verhaltensweisen, welche das Gesetz oder den Willen Gottes übertreten. Wenn Paulus dagegen von der Vermehrung der Verfehlung anlässtich des Kommens des Gesetzes spricht, so kann er damit nur eine Verfehlung meinen, die innerhalb des Gesetzesraums angesiedelt ist. Offensichtlich wurde Paulus an einen Ort versetzt, von wo aus eine bisher ungesehene Dimension sichtbar wurde und also sichtbar wurde, dass es auch im Innenraum des Gesetzes Verfehlung gibt. Diese Verfehlung im Innenraum des Gesetzes kann - weil sie nicht Übertretung des Gesetzes ist - nur die Gestalt des Tuns des Gesetzes haben. Damit ist ganz und gar nicht gesagt, dass jedes Tun des Gesetzes Sünde sei, wohl aber ist gesagt, dass es ein Tun des Gesetzes gibt, das in Wahrheit von der Sünde beherrscht ist. Dieses Tun des Gesetzes kann nach Paulus nur ein Verhalten sein, das der in Christus verkörperten Gnadentat widerspricht. Die Gnadentat besteht darin, dass das Gottesverhältnis des Menschen nun ganz zur Sache Gottes geworden ist. Dieser Gnadentat widerspricht es, wenn der Mensch mit der Erfüllung des Gesetzes sein Gottesverhältnis bearbeitet. Eben so nimmt er Distanz zur Gnadentat. Weil Paulus die Sünde ganz
4 " Als Beispiele seien genannt: 4Esr 3,19f (die Gabe des Gesetzes konnte keine Frucht bringen, weil Gott das böse Herz nicht von den Menschen genommen hatte) 3.22 (das Gute schwand, das Böse blieb). Zu vergleichen ist das Gegenstück in Visio IV, wo Esra wieder Vertrauen hat in die Kraft des Gesetzes (9,31-37).
2 Ein Won zur Tragweite der paulinischen Einsicht
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als menschliche Abstandnahme zur Gnadentat versteht, gewinnt er einen Blick für die echte Vermehrung der Sünde, ausgelöst durch das Kommen des Gesetzes. Sein Denken ist ausgezeichnet durch den qualitativen Schritt zu der Einsicht, dass nicht nur die Untat des Menschen gegen Gott verstossen kann sondern auch die Tat.49 Im Anschluss an diese paulinische Einsicht wird man zu unterscheiden haben zwischen dem Tun des Gesetzes (das von der Sünde beherrscht ist) und der ErfUllung des Gesetzes (die im Bereich der Gnade geschieht). 50
2 Ein Wort zur Tragweite der paulinischen Einsicht Die Frage, ob der historische Paulus das historische Judentum und sein Gesetzesverständnis zutreffend wahrgenommen habe, ist von untergeordneter Bedeutung. Das Problem, das Paulus im Gegenüber von Werk und Glaube beziehungsweise von Christus und Gesetz aufdeckte, ist viel zu wichtig, als dass es zu einer religionsgeschichtlichen (oder wie es heute immer mehr geschieht gar zu einer religionspolitischen) Detailfrage heruntergespielt werden dürfte. Immerhin wäre zur Frage selbst noch zu sagen, dass jede Argumentation, die auf dem Boden des Gesetzes geschieht - sei es nun des jüdischen oder des christlichen mit Notwendigkeit zum Schluss kommt, Paulus habe das Gesetz falsch verstanden. In dieser Hinsicht sind die exegetischen Stimmen, die solches neuerdings sagen, keineswegs eine Überraschung. Nun ist es wohl das Geschick alles Denkens, auf der Ebene des Gesetzes verlaufen zu müssen. Das zwingt es aber nicht dazu, Paulus gesetzlich zu vereinnahmen. Selbst auf der Ebene des Gesetzes kann der qualitative Sprung wahrgenommen werden, woran das Denken zerbricht. Diese Möglichkeit des Zerorechens hat es, so wahr es selbst auch sterblich ist. 49 Gegen Wilckens. Römer I 329 Anm 1104. der Paulus diese Einsicht nicht zutrauen mag. obwohl sie in den paulinischen Schriften ganz deutlich ausgesprochen ist (zB Röm 7.13. wo von der Vollendung der Sündigkeil der SUnde die Rede ist. die dadurch zustande kam. dass die Sünde mir durch das Gute [!) den Tod bewirkte und im Übermass sündig wurde durch das Gebot: ferner Röm 10.3f; Phi I 3,9f). Die von Wilckens ohne Argument abgewiesenen Arbeiten Bultmanns. Brandenburgers und JUngeis sind- wie die obige Analyse zeigt - hier durchaus im Recht. Eine ähnliche Einsicht des Paulus konstatien Hübner. Gesetz 65 im Blick auf das Phänomen der »Begierde«. ~ 0 Vgl zB Röm 13.8-10. Zu überlegen ist. was in diesem Zusammenhang unter der »Rechtsforderung des Gesetzes« (Röm 8,4) zu verstehen wäre (mündlicher Hinweis von P.Stuhlmacher).
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Was ich als qualitativen Sprung im Denken des Paulus zu verstehen versucht habe, ist meines Erachtens von solcher Tragweite für das Verständnis heutigen Menschseins, dass es geradezu lächerlich anmutet, es auf die Frage nach dem Selbstverständnis des jüdischen Gesetzes zu reduzieren. Wahrheitskriterium für die Entdeckung des Paulus kann keineswegs sein, ob sie sich mit dem Selbstverständnis des jüdischen (oder eines sonstigen) Gesetzes verträgt. Ein solches Verfahren ist im Ansatz ideologisch und wird dem Argumentationsniveau des Paulus nicht gerecht. Die Entdeckung des Paulus kann nur gemessen werden an der Evidenz, die sie im Blick auf die faktischen Lebensvorgänge hat. Ich bin wohl verpflichtet, dazu wenigstens thesenartig ein paar Worte zu sagen: Bei der paulinischen Entdeckung geht es beispielsweise darum, ob der Mensch als Täter seiner selbst zu verstehen sei. Zur Debatte steht, ob seine Lebendigkeit durch den ständigen Tatbeweis entsteht. Die paulinische These dazu lautet: durch den Tatbeweis komme ich gar nicht an das Leben heran, so wenig ich durch das Werk an das Gottesverhältnis herankomme, das Gott schon geschaffen hat. Der Tatbeweis zielt immer auf den Respekt, auf das Urteil, in welchem bemessen wird, was bei mir vorhanden ist. Dieser Tatbeweis führt nicht zu dem Gottesverhältnis (anthropologisch gesagt: zu der Wahrheit des Lebens), welches bestimmt ist durch den ganz als Geber gedachten Gott. Die Würde, die der Mensch in den Augen Gottes hat, ist seiner Tatmächtigkeit entzogen. Sie muss auch nicht aufrechterhalten werden durch die Tätigkeit des Menschen. Das unterscheidet Paulus von jedem ))covenantal nomism«. ln dem Versuch, sich Respekt zu verschaffen, unterläuft der Mensch ständig das Verhältnis, das Gott zu ihm schon gewonnen hat. Anthropologisch gesehen geht es um das Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen Wahrheit. Es geht um die Frage, ob meine Wahrheit etwas ist, das zu vernehmen, wahrzunehmen, zu hören und zu glauben ist, oder aber etwas, was sich erst in dem herausstellt, was ich aus mir selbst mache. Mir scheint, unsere Situation zeige mit hinreichender Deutlichkeit, wohin das Prinzip geführt hat, dass der Mensch zu seiner und seiner Gattung Wahrheit ein praktisches Verhältnis hat. Gottesverwirklichung und Selbstverwirklichung sind strukturell dasselbe. Die paulinische Entdeckung stellt ferner die Frage, ob der Mensch prinzipiell auf sich selbst bezogen sei. Solange die Identität ein Resultat des Tuns ist, solange das Menschsein als eine praktische Angelegenheit
2 Ein Wort zur Tragweite der paulinischen Einsicht
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verstanden wird, herrscht die Sünde und durch sie das Gesetz über den Menschen. Dies kann man daran erkennen, dass selbst das Tun des Guten verdorben wird von der Frage, was ich mir selbst schuldig bin. Wo diese Frage massgebend ist, wird die andere, ethisch wahrhaft relevante Frage verdrängt, was ich der Liebe selbst und insofern den Menschen und der Welt schuldig bin. Wie sehr das Phänomen der Selbstdarstellung das faktisch nützliche Wirken unterläuft, kann heute gerade im Bereich des Ökologischen beobachtet werden, wo es wahrhaftig allerhöchste Zeit wäre, fortzuschreiten von der Frage, was ich mir und meinem politischen Bewusstsein schuldig bin, hin zu der Frage, was ich der Kreatur, genauer: der Liebe zur Kreatur, schuldig bin. Die Entdeckung des Paulus macht klar, dass die in der theologischen Kategorienbildung beherrschend gewordene Alternative von Indikativ und Imperativ schief und unbrauchbar ist. Auf dem Boden der Bundesgesetzlichkeit mag es noch angehen, im Bund die zuvorkommende Gnade (als den Indikativ) zu sehen, für deren Erhaltung der Gesetzesgehorsam (der Imperativ) notwendig ist. 51 Der paulinische Gedanke der Gnade ist qualitativ anders: Gnade bedeutet für ihn nicht eine dem Imperativ vorangehende indikativische Gabe. In der Rechtfertigung des Menschen ausseThalb des Gesetzes geht es nicht darum, die indikativischen Voraussetzungen des Handeins zu schaffen, es geht vielmehr um die Rechtfertigung des in der Welt handelnden Menschen. 52 Gnade bedeutet für Paulus, dass das Gottesverhältnis des Menschen auf eine Ebene versetzt wurde, auf welcher weder ein Gesetz noch Werke des Gesetzes etwas zu suchen haben. Gnade heisst, dem Werkzusammenhang enthoben sein und statt dessen in den Zusammenhang des schöp-
~ 1 Sanders. Paul and Palestinian Judaism 233f spielt die Bedeutung der Werke des Gesetzes für den Bund in der rabbinischen Theologie denkbar weit herab. Immerhin stellt auch er fest. dass der Ungehorsam gegenüber dem Gesetz das Bundesverhältnis zerstört. Daraus folgt. dass der Mensch tätig sein Gottesverhältnis bearbeitet. Genau hier erfolgte der entscheidende qualitative Sprung bei Paulus: mit den Werken des Gesetzes (deren Wahrheitskriterium nur die Liebe sein kann. vgl Röm 13.8-10) bearbeitet der Mensch nicht mehr sein Goues- sondern sein Weltverhältnis. Immerhin ist es gegenüber der Sicht von Sanders notwendig. auch andere Interpretationen des rabbinischen Judentums in Erwägung zu ziehen. die die Bedeutung des Gesetzes viel höher einschätzen: vgl zB Lang. Gesetz 305-320. der feststellt: Das »rabbinische Judentum betonte das gesetzliche Moment im Bundesgedanken. wie der Grundsalb zeigt: 'Es gibt keine berit ausser dem Gesetz" (MEx 12.6)« (311 ). Es gibt zahllose halakische Texte. welche dieses Prinzip praktisch durchführen. ~2 Mündlicher Hinweis von Dieter Lührrnann.
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ferischen, an nichts anknüpfenden Gottes eingegangen sein. Bei dieser Grundfrage geht es um das, worauf der Mensch eigentlich sein Vertrauen setzt. Das paulinische m\1X(icrtkn ist alles andere als eine moralische Kategorie. 53 Es meint vielmehr das ontologische Phänomen, dass der Mensch sein Leben auf das abstellt, was in seiner Tatmacht liegt. Die Entdeckung des Paulus stellt uns schliesslich die Frage, wie weit eigentlich die Wirklichkeit der Sünde reicht. Im Horizont des Gesetzes reicht die Sünde zwar bis an das menschliche Herz heran, ohne jedoch das Herz selbst zu erfassen. Man könnte jedes Gesetz interpretieren als ein Produkt der noch nicht menschlich gewordenen Wünsche des Menschen. Im Gesetz wünscht sich der Mensch, gegenüber der Sünde eine Unabhängigkeit zu haben, indem er sich den Kampf und den Sieg gegen das Böse zutraut. Das Abstandnehmen von der Sünde ist hier ~'Uivo\U, Umkehr, in welcher das Ich sich abkehrt von der Sünde. Nach Paulus ist dies eine Verharmlosung der Sünde. Ihre Macht reicht bis ins menschliche Ich hinein. Von ihr befreit werden kann das Ich deshalb nur, wenn es den qualitativen Schritt von der Eigenmacht des Tuns zum Angewiesensein auf die schöpferische Macht Gottes an sich vollziehen lässt. Nicht zufällig wird dieser Schritt mit dem Wort vom Mitgekreuzigtwerden des Ich und also mit dem Tod des Ich zur Sprache gebracht (vgl Gal 2, 19). Denn nur das Bild des Todes begreift den Schritt des Ich so radikal, dass mit ihm alles neu wird.
Der Mensch im Widerspruch Eine Paraphrase zu Röm 7,7-25 In diesem Abschnitt wird die menschliche Selbsterkenntnis bis an ihre äusserste Grenze vorangetrieben. Einblicke in das Dasein der Menschen werden gewährt, die auch in unserer Zeit ihresgleichen suchen.
0 Zur Einführung in den Text Im Aufbau von Röm 7,7-25a 1 lassen sich zwei grosse Abschnitte unterscheiden. Der erste, erzählende Teil (V. 7-13) spricht durchgehend in Vergangenheitsform und beleuchtet die Erfahrung des Menschen am Modell Adams. Es geht um das Verhältnis von Gesetz und Sünde. Die These lautet: das Gesetz ist nicht identisch mit der Sünde (V. 7ab). Sünde ist vielmehr existentielle Verkehrtheil des Menschen. Beim Kennenlernen dieser existentiellen Verkehrtheil spielte das Gesetz, das Normative eine Rolle, auch wenn es nicht selbst diese Verkehrtheil darstellt. In den folgenden Versen wird diese These begründet durch drei Überlegungen: ( l) Sünde bewirkt die Begierde, die ich durch Gesetz kennenlernte (V. 7c.8a). (2) Das Gebot führte zum Aufleben der Sünde und so zum Tod des Ichs (V. Sb-10). (3) Die Sünde benutzt das Gebot, um mich zu betrügen und zu töten (V. ll ). Diese drei Begründungen führen über zum Schluss (V. 12f): Das Gesetz ist also heilig. Die Sünde - nicht das Gesetz - wirkt den Tod. Der zweite, beschreibende Teil (V. 14-23) ist demgegenüber in der Zeitform der Gegenwart abgefasst. Auch er beginnt mit einer These: Wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, menschlich, verkauft unter die Sünde (V. 14). Dies führt in eine Aporie: Was ich bewirke, erkenne ich nicht (V. 15a). Diese These gibt Anlass zu zwei Gedankengängen. Ein erster Gedankengang (V. 15b-18) geht aus von der Erfahrung, dass ich tue, was ich nicht will, und er endet bei
1 Zu V. 25b. der aus telltkritischen Gründen als nachpaulinische Glosse zu betrachten ist. vgl Wilckens. Römer 96f.
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der Einsicht, dass mir zwar das Wollen zur Verfügung steht, nicht aber das Vollbringen. Der zweite Gedankengang (V. 19-23) geht ebenfalls aus von der Erfahrung, dass ich das Gute, das ich will, nicht tue, und endet bei der Einsicht, dass es offenbar zwei Gesetze gibt in mir: das Gesetz der Vernunft und das Gesetz, das in den Gliedern wohnt. In diesem Widerspruch stehen die Menschen. Der Widerspruch besagt, dass die Menschen keine Chance haben gegen die Sünde. Und diese Einsicht bereitet den Weg für die klagende Frage, mit welcher Paulus den Abschnitt beschliesst: »Wer wird mich erretten aus diesem Organismus des Todes?« (V. 24b) Das ist eine aussichtsreiche Klage. Zu klären bleibt die Frage, wer in diesem Abschnitt mit dem Ich gemeint ist.2 Verschiedene Aspekte vereinigen sich. Paulus spricht von einem Ich, das die individuelle Erfahrung jedes Menschen in den Blick nimmt (der »typische« Aspekt) und das zugleich von der Erfahrung des Paulus her geformt wird (der »persönliche« Aspekt). Sind die Juden gemeint? oder die Heiden? oder gar die Christen? oder vielleicht alle Nicht-Christen? Man kommt mit solchen soziologischen Kategorien nicht weiter. Vielmehr geht es um die Erfahrung, die alle Menschen machen können, sofern sie unter der Herrschaft der Sünde leben. Es wird zwar in diesem Text sozusagen heilsgeschichtlich gesprochen, Adam klingt an und das Kommen des Gesetzes. Dennoch ist nicht die Heilsgeschichte Thema. Vielmehr wird die Heilsgeschichte dazu verwendet, die Erfahrungen des Ichs zur Klärung zu bringen. Heilsgeschichte und subjektive Erfahrung durchdringen sich in einem ähnlichen Sinne, wie sich etwa in analytischer Psychologie Phylogenese und Ontogenese durchdringen. Das Ich steht für die anthropologisch dargestellte Universalgeschichte, es beschreibt das Menschsein vor Christus, aber nicht in einem geschichtlichen. sondern in einem erfahrungsmässigen Sinne. Es beschreibt das Menschsein vor Christus aus der Sicht des Christus. So ist es zu erklären, dass der Blick frei wurde für den radikalen Selbstwiderspruch des Menschen.
2 Dazu
Kümmel. Römer 7 74-138. und Theissen. Aspekte 194-204.
I Die Entlarvung der Sünde
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1 Die Entlarvung der Sünde »Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde«(V. 7a)? So lautet die Ausgangsfrage. In anderen Entwürfen (wie etwa dem 4.Esra) war das Gesetz das Heilmittel gegen die Sünde. Wäre es jetzt ihr Ursprung? Verdirbt das Normative den Menschen? Schränken ihn die Gebote so ein, dass er böse wird? Paulus: »Das ganz sicher nicht«(V. 7a)! Das Böse bleibt ein Rätsel. Dass der Mensch gegen das Leben verstösst, bleibt ein Rätsel, das auch auf der Grundlage des Gesetzes nicht gelöst werden kann. Aber das Gesetz spielte schon eine Rolle: »Die Sünde hätte ich nicht kennengelernt, wenn nicht durch das Normative« (V. 7b). Das Normative, das göttliche Gebot, führt zur Erkenntnis der VerfehltheiL Und man muss wohl noch mehr sagen: es führt zur Erfahrung der Sünde (vgl Röm 3, 20b). Um das zu entfalten, beginnt Paulus förmlich bei Adam und Eva. l.l Der Reiz der Übertretung Die erste Begründung (V. 7c.8a) der genannten These arbeitet mit dem Modell Adams, um die Universalität der Sünde zur Sprache zu bringen. Adam ist nicht der erste Mensch, Adam ist der Mensch schlechthin. Paulus bringt nun das Gesetz auf einen einzigen Begriff: du sollst nicht begehren. In der Paradiesesgeschichte kommt dieser Ausdruck zwar nicht so vor, passt aber der Sache nach ausgezeichnet dazu. In der jüdischen Auslegungstradition wird die Sünde Adams und Evas häufig als Begierde dargestellt. Dementsprechend wird das Gesetz im Judentum nicht selten darin zusammengefasst, dass es das Begehren verbiete (zB 4Makk 2,6)-J Paulus übernimmt diese Zusammenfassung. Sie gibt freilich nicht einfach das Gesetz selbst wieder, sondern das, was man am Gesetz für das Wichtigste hielt. Das Mosegesetz, wie es selbst ist, bekämpft gar nicht in erster Linie das Verlangen. Primär gibt es eine Weisung zum Leben, will es den Lebensspielraum des Menschen regeln. Das Gesetz selbst regelt das Leben. Zusammengefasst wurde es - schon vor Paulus - als Verbot gegen das Verlangen. Und schliesslich stellt Paulus fest, die Sünde beherrsche das Gesetz, nicht etwa- wie man immer dachte - das Gesetz halte die Sünde unter Kontrolle. Wie passt das zusammen?
'Dazu Wilckens. Römer 78f.
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Die Wahrnehmung des Gesetzes unter dem Aspekt des Verbotes lässt auf einen bestimmten Umgang mit dem Willen Goues schliessen. Der Wille Gottes, der absolute Anspruch, das Normative schlechthin, wird wahrgenommen als eine Begrenzung des menschlichen Lebensraums. Eine solche Gesetzeswahrnehmung macht aus der Frage nach dem Willen Gottes die Frage nach den Grenzen des menschlichen Lebensspielraums. Das Gesetz gibt- so gesehen - Auskunft darüber, wie weit Menschen gehen können, ohne den Willen Gottes zu verletzen. Deshalb wird der Wille Gottes zu einem Grenzfall: er wird zum Grenzfall des menschlichen Lebensraums. Das Gesetz als Wille Gottes kann dann den Lebensraum gar nicht mehr bestimmen. Es kann ihn nur noch begrenzen. Paulus nun bringt ein zusätzliches Moment hinein, wenn er von der Herrschaft der Sünde über das Gesetz spricht. Wenn Sünde verstanden wird als elementare Distanziertheil des Menschen zu Gott, dann ist schon die genannte Zusammenfassung des Gesetzes ein Indiz ftir ihre Herrschaft. Wer das Gesetz zusammenfasst in dem Verbot, zu begehren, hat schon damit Distanz genommen zum Willen Gottes. Das Wesen der Sünde ist es, in Gott nicht eine Leben gewährende Macht zu sehen, sondern bloss eine Macht, die das Leben der Menschen einschränkt. Dazu passt es gut, dass Paulus der Sünde zuschreibt, alles Begehren in ihm erschaffen zu haben. Wie man schon aus der Sündenfallgeschichte (Gen 3) ersehen kann, sind die Menschen auf die Überschreitung der Grenzen fixiert. Es entstand das Verlangen nach mehr Leben. Dieses Verlangen richtet sich auf das Unantastbare. Es strebt danach, sich alles einzuverleiben, auch das Unantastbare, auch das Heilige. Insofern kann man sagen, dass die Menschen- im Verlangen- nach einem Sein wie Gott streben, besser: nach einem Sein wie der von ihnen vorgestellte Gott, nach einem vollkommen unbeschränkten Sein. Sünde ist das Streben nach vollkommener Unabhängigkeit. Zwar wird Paulus an dieser Stelle oft banalisiert: mit dem Begehren sei nur die Übertretung des Gesetzes gemeint. 4 Das Verbot des Gesetzes reize zur Übertretung. Es ist indessen eine Abstraktion, die Sünde auf das bloss Antigesetzliche zu beschränken. Die Grenzen werden immer überschritten,
4
Gegen Wilckens. Römer 80f.
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weil man sich davon mehr Leben verspricht. Gerade das Überschreiten der Grenzen zeugt von menschlicher Selbstbehauptung. 1.2 Der grosse Betrug Die zweite Begründung (V. Bb-/0) der These setzt mit dem wuchtigen Satz ein: »Jenseits von Gesetz war die Sünde tot« (V. Sb). Man wird am ehesten annehmen müssen, dass die Sünde nicht existent war. Tot heisst ja ganz einfach, dass etwas nicht existiert, dass es keine Lebendigkeit und damit keine bestimmende Macht hat.s Lebendigkeit hatte die Sünde keine, dafür umso mehr das Ich. »Ich aber lebte einst jenseits von Gesetz«(V. 9a). Das Ich stellt sich hier wiederum anband des Modells Adams dar. Im Paradies - oder in einer Vision vom Eschaton - lebte Adam sozusagen selbstverständlich. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, nach mehr Leben zu verlangen. Adam brauchte nichts aus seinem Leben zu machen, weil er es eben lebte. Aber dann kam das Gebot in die Welt. Dies bedeutet eine epochale Wende. Das Gebot steht in der Paradiesesgeschichte für die Stimme Gottes. Das Gebot kann aber auch stehen für die Wahrnehmung des Menschen, dass es das Unantastbare gibt. Es steht für die Wahrnehmung des Anspruchs, den das ihm zum Leben Gegebene hat. Das Kommen des Gesetzes ist ein kultureller Vorgang.~> Es ist der Schritt von der Natur zur Kultur. Und eben in diesem Schritt geschah es, dass die Sünde auflebte. In sozialpsychologischer Hinsicht könnte man sagen, dass Paulus hier die Sünde nicht etwa auf die Natur zurückführt. Vielmehr bringt er sie mit der Entstehung der Kultur in Zusammenhang. Die Sünde erscheint als soziokulturelles Phänomen. Zusammen mit der kulturellen Errungenschaft, dass der Mensch den Anspruch des Gegebenen als heiligen Anspruch wahrnimmt, entsteht das Verlangen, dieses Heilige mit Füssen zu treten. Vielleicht darf man ja die Entdeckung des Heiligen als den Punkt bezeichnen, wo der Mensch zum Menschen wurde. In dem Augenblick also, wo er als Mensch erschaffen wurde, entstand zugleich sein Verlangen, ein Übermensch zu sein, ein Verlangen, das ihn faktisch zum Unmenschen macht. Die Adamsgeschichte stellt dann einen Zusammenhang her zwischen dem Verlangen und der Vertreibung aus dem Paradies, beziehungs~Es ist sachlich falsch. dieses Totsein der Sünde unversehens in eine 'Latenz' zu verwandeln. gegen Käsemann. An die Römer 186. 6 Zu dieser Einordnung vgl Theissen. Aspekte 192f.
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weise der Sterblichkeit der Menschen. Paulus modelliert diesen Zusammenhang so: die Sünde lebte auf, ich aber starb. Die Sünde ist auf den Tod aus, nicht nur auf den biologischen subjektiven Tod, sondern auf das Tödliche, welches durch das besitzergreifende Verlangen verbreitet wird. Das Gebot, so fährt Paulus weiter, das mir zum Leben gegeben ist, habe ich erfahren als eines, das in den Tod führt. Eigentlich wäre das Gebot mir zum Leben gegeben. Ich aber nehme es als Beschränkung meines Lebensraums wahr. Deshalb verlange ich nach mehr Leben, indem ich das Unantastbare antaste. Eben dies bringt mir den Tod, weil es meinen Lebensraum zerstört, sei es, dass die Lebensgüter vernichtet werden, sei es, dass die Menschen entmenschlicht werden. Das ist der grosse Betrug der Sünde. Die Sünde fand im Gebot eine tragfähige Ausgangsbasis (V. II ). Sie betrog mich gerade durch das Gebot und tötete mich durch es. Die Sünde gaukelte mir vor, durch das Verlangen sei das Leben zu gewinnen. Die Libido erschien als Lebensmacht. Paulus benützt das Beispiel Adams, um diesen Betrug aufzudecken. Der libidinöse Drang nach Leben ist in Wahrheit tödlich. Gerade auch dann, wenn er sich des Guten bedient. Denn des Guten bedient die Libido sich, wenn sie es zum Mittel ihres Wunsches macht, wie Gott zu sein. Des Guten bedient sie sich, indem sie das Gesetz zum Instrument der Selbsterhebung des Täters macht. Zum Instrument des Täters, in jene Höhen aufzusteigen, in welchen er Gott vermutet. Deshalb gibt es eine heimliche Verwandtschaft zwischen denen, die angesichts des Gesetzes nach dem Freiraum fragen, und denen, die sich im Tun des Gesetzes ihren Freiraum erschaffen. In beiden Fällen bestimmt nicht der Wille Gottes das Leben. Im ersten Fall wird der Wille Gottes an die Grenzen verbannt, im zweiten Falle wird er zum Untergeschoss eines Turms, der bis in den Himmel reichen soll und in dem sich das Selbst des Menschen ein Denkmal schafft. Darin besteht also der Betrug der Sünde, dass sie sich auch den Willen Gottes noch unterwirft und dadurch den Menschen an den Tod ausliefert. Denn das einzige, was der Wille Gottes will, ist das Leben der Menschen. 1.3 Das ins Leben gerettete Gesetz In V. 12f zieht Paulus den Schluss aus seinen Überlegungen. Wenn das Verhältnis von Sünde und Gesetz so zu bestimmen ist, dass das Ge-
setz nicht selbst Sünde ist, sondern vielmehr dass die Sünde sich des
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Gesetzes bemächtigt, dann ist das Gesetz selbst auf die Seite Gottes hinübergerettet. Paulus geht es darum, das Gesetz vor seinem faktischen Gebrauch zu retten. Es geht ihm darum, es der Sünde zu entreissen. Denn es wäre unsinnig, dem göttlichen Anspruch einfach den Abschied zu geben. Paulus kann dies nicht. Das Gesetz ist heilig. Also ist mir nicht das Gute zum Tod geworden, sondern die Sünde. Dabei ist aber Entscheidendes zum Vorschein gekommen. Die Sünde selbst ist ans Tageslicht gekommen, sie ist demaskiert worden als die Triebkraft des Todes. Gerade das Kommen des Gebots hat sie aus ihrem Grab auferweckt. Denn da wurde klar, dass die Sünde sogar das Gute auszubeuten weiss, um es gegen die Menschen zu verwenden. Durch das Gute bewirkte sie mir den Tod. Man hat bisher die tödliche Macht dem Bösen zugeschrieben, der Übertretung des Gesetzes. Jetzt kommt ans Tageslicht, dass das Böse gerade auch das Gute beherrschen kann, das Gebot und das Halten des Gebots. Das war - bevor Paulus die Geschichte Adams mit den Augen des Christus ansah - eine unerschwingliche Erkenntnis. Soweit der Gedankengang von V. 7-13. Er lässt das Gesetz als Stimulus der Sünde erscheinen. 7 Das Gesetz droht ständig mit dem Tod. Tust du das Gute, so wirst du leben, tust du das Böse, so musst du sterben. Das Normative wird zur Todesdrohung. Willst du überleben, so musst du dich entsprechend verhalten. Das Gesetz fixiert die Menschen so sehr auf das Überleben, dass ihr Überlebensdrang sich gerade auch auf das Gebotene stürzt. Die Todesdrohung des Normativen schlägt um in die Todesverdrängung des Menschen. Das Normative löst Angst aus, die sich als titanisches Handeln seiner bemächtigt und dann ihre zerstörensehe Kraft voll ausspielt. Das ist ein fundamentaler Selbstwiderspruch des menschlichen Daseins: Aus der Lebensfrage nach dem Tun des Guten wird eine Überlebensfrage. Paulus weiss davon, dass das Gesetz auch den Christus tötete. Es brachte ihn ans Kreuz und definierte ihn als Verfluchten (Ga I 3,13 ). 8 Nun aber ist dem Paulus der Gekreuzigte in einer ganz neuen Lebendigkeit erschienen. Dabei ist ihm aufgegangen: Es gibt etwas, das stärker ist als das Strafende. Es gibt etwas, das lebensträchtiger ist als die Todesdrohung. Es ist die Kreativität Gottes selbst, die ihre Wirklichkeit nicht irgendwelchen Helfershelfern verdankt, sondern die selbst ein1 Dazu Theissen. Aspekte 224-230. der hier allerdings etwas stark psychologisiert. MDazu Weder. Kreuz 186-193.
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bricht in die Welt des Todes. Weil Paulus diese Einsicht gewährt wurde, konnte er die Sünde demaskieren. Und weil er die Sünde zu demaskieren vermochte, konnte er das Gesetz auf die Seite Gottes retten. Jetzt stellt das Gesetz nicht mehr die Überlebensfrage, jetzt ist es eine (aber nur eine!) Antwort auf die Frage, wie Menschen zusammenleben sollen. Das Gesetz unterliegt nicht mehr dem Bestehenkönnen, es dient jetzt der Regelung beständiger Lebensbeziehungen. Damit ist das Gesetz, das Normative, ins Leben hinübergerettet.
2 Der Widerstreit der Gesetze (7,14-23) Den zweiten, beschreibenden Teil beginnt Paulus wiederum mit einer These: »Wir wissen nämlich, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde« (V. 14). Wenn das Gesetz wahrgenommen wird als der Anspruch, den Gott mit dem gegebenen Leben selbst stellt, gehört es auf die Seite des Lebens. Das Normative ist nur lebensbejahend, wenn es nicht vom Überleben aufgefressen wird. Das Ich dagegen ist verkauft unter die Sünde, allerdings nicht etwa deshalb, weil es zur niederen Materialität gehört, verkauft ist es gerade auch in seinen höchsten kulturellen Anstrengungen. Es ist insofern »fleischlich«, als es ein bestimmtes Verhältnis zum »Fleisch«, zur geschöpfliehen Welt, hat: es verfällt dem Bereich der Welt, es ist beschränkt auf das Weltliche, indem es Gott aus der Welt schafft. Es schafft Gott aus der Welt, indem es sich selbst zu seinem Stellvertreter macht. Es schafft Gott aus der Welt, indem es sich selbst die Kreativität zuschreibt, die Gott hat. Ich bin allein in der Welt, sagt es, ich beschränke mich auf das Fleisch, alles andere wäre unbescheiden. Es wäre unbescheiden, mich und andere als Kreatur Gottes zu verstehen. Und so macht es auch seine Bescheidenheit noch zu einer Gebärde der Überhebung. So verkauft ist das Ich unter die Sünde. Freilich, das Ich kann solches nicht akzeptieren, gerade weil es auf das Weltliche beschränkt ist. Die Sünde, von der du sprichst, wird es zu Paulus sagen, ist ein Mythos. Zu mir gehören eben die Kräfte der Zerstörung, ohne sie könnte ich nicht leben. Darin eine Sünde zu sehen, ist nichts anderes als Repression. So weist das verkaufte Ich die Sünde von sich. ln dieser Situation kommt Paulus dem Ich zuhilfe, indem er Erfahrungen ausspricht, die eine Einsicht in den wahren Zustand des Men-
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sehen zulassen: »Denn was ich bewirke, erkenne ich nicht«(V. 15a). Es handelt sich hier um eine objektive Unkenntnis über mein Tun. Ich bin darauf aus, das Leben zu gewinnen, es andern zu ermöglichen, zu kämpfen für das Gute. Ich meine, dem Leben in die Hände zu arbeiten. Und dennoch bin ich in Wahrheit dabei, den Tod zu verbreiten. Denn auch ich arbeite mit an der Demontierung der tragenden Einsichten, ich arbeite mit an der menschlichen Emanzipation vom Göttlichen, ich arbeite mit an der Verbesserung der Schöpfung. Die objektive Unkenntnis über mein Wirken besteht darin, dass ich es im Namen des Lebens tue, und dabei den Tod verbreite. Die objektive Unkenntnis besteht darin, dass ich vom Wirken das Leben erwarte, für mich und andere, und dass ich mir dabei das gegebene Leben verwirke. Daraus folgt: die objektive Unkenntnis besteht eigentlich darin, dass ich Ethik und Ontologie verwechsle. Ich mache etwas aus dem Leben, statt es zu leben. 2.1 Der Widerspruch zwischen Einsicht und Verhalten An diese Erfahrung knüpft Paulus an (V. 15b-18). Er formuliert die Unkenntnis um und sagt jetzt: »Denn was ich will, dieses tue ich nicht, sondern was ich hasse, dieses tue ich« (V. 15B). Damit nimmt Paulus eine allgemeine Erfahrung auf: den Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen. So allgemein war diese Erfahrung, dass sie in der Antike zum Topos wurde. Das wichtigste Paradigma für den menschlichen Konflikt9 zwischen Einsicht und Handeln war die Medea. Medea, von Rachegefühlen überwältigt, tötet ihre eigenen Kinder. Bei Euripides ist es Medeas Leidenschaft, die jede Kraft der Einsicht wegfegt und das Böse ungehindert geschehen lässt. 10 Die Einsicht hat keine Macht, weil die Leidenschaft stärker ist. Auch die beste Einsicht kann deshalb nicht dazu führen, dass das Böse verhindert wird. Anhand dieses Paradigmas wurde eine für die Antike richtungsweisende Betrachtungsweise entwickelt: der Widerspruch zwischen der Einsicht in das Gute und dem Tun des Bösen wird erklärt mithilfe der Leidenschaft, die jede Einsicht auszuschalten vermag. Euripides hält am unüberwindlichen Zwiespalt fest, der mit der menschlichen Natur gegeben ist. Die Einsicht mag er den Menschen nicht absprechen (ganz im Unterschied etwa zu manchen modernen Politivzum Folgenden vgl Theissen. Aspekte 213-223. 10 Euripides. Medea I076-1080 (bei Theissen. Aspekte 214 mit falscher Stellenangabe).
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kern, die den Ursprung des Bösen im ungenügenden Bewusstsein suchen). Die Einsicht in das Gute nützt ihnen jedoch nichts, weil die Trägheit und die Lust viel stärker sind. Euripides trennen noch Welten von der modernen Propagierung des Lustprinzips. Statt in der Lust das Allerwehsheilmittel zu sehen, sieht er - wohl realistischer - darin den Ursprung mancher Verfehlung des Menschen gegen sich, gegen die Menschen und erst recht gegen die Schöpfung. Indessen gab es in der Antike eine Gegenthese. Nach ihr war das Fehlverhalten nicht affektiv zu deuten, sondern als ein kognitives Defizit.11 Es ist nicht verwunderlich, dass wir diese Deutung in der Tradition der sokratisch-platonischen und auch der stoischen Philosophie antreffen, einer Philosophie, die bekanntlich dem menschlichen Intellekt viel zuzutrauen bereit war. Während Euripides' Vorstellung eine pessimistische ist, können wir diese optimistisch nennen. Optimistisch ist sie darin, dass sie der Einsicht in das rechte Tun die Macht zutraut, es auch herbeizuführen. Sokrates behandelt das Problem des Ethischen als ein Problem der Einsicht. Unverkennbar ist die Verwandtschaft weiter Teile heutiger ethischer Arbeit mit dem Optimismus des Sokrales. Man konzentriert sich weitgehend auf die Einsicht in das Gute. Unermessliche Kräfte auch der theologischen Ethik werden gebunden durch die theoretische Definition des Guten. Zweifellos ist auch dies eine ethische Frage. Aber ethisch viel wichtiger wäre die Frage, wie es vom Wissen zum Tun des Guten komme. Wo ist Paulus im Feld der antiken Deutungen des Konflikts von Einsicht und Handeln anzusiedeln? Schon auf den ersten Blick wird klar, dass er den anthropologischen Optimismus eines Sokrates oder Epiktel nicht teilen kann. Paulus ist weit davon entfernt, das Böse bloss auf ein Defizit an Wissen zurückzuführen. Denn er interpretiert den Widerspruch zwischen Wollen und Tun gerade umgekehrt, als Indiz für das vorhandene Wissen: »Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, stimme ich dem Gesetz zu, dass es gut sei« (V. 16). Der innere Konflikt, den jeder Mensch erfahren kann, ist also ein Indiz für die Einsicht, dass das Gesetz gut ist, für die Einsicht, da~;s der Anspruch Gottes, wie er im Gesetz als Forderung des Guten zur Sprache kommt, angemessen und vernünftig ist. Im Konflikt zwischen Wollen und Tun erfährt der Mensch gerade, dass ihm Einsicht ins Gute nicht fehlt.
11
Zum Beispiel Xenophon. Memorabilia Socratis 1119.4 (Theissen. Aspekte 216).
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Wieso aber, so würde Epiktel wohl fragen, geschieht dann das Böse trotzdem? Und Paulus würde antworten: Das Böse geschieht, weil eure Vorstellung von einem autonomen Selbst, von der Selbstbeherrschung, eine Illusion ist. Paulus würde Epiktel sagen: »Nun aber bin nicht mehr ich es, der es bewirkt, sondern die Sünde, die in mir wohnt« (V. 17). Die Sünde tritt an die Stelle des Ichs. Das bedeutet: das Ich ist restlos von der Sünde beherrscht. Der Tod des Ichs geschieht darin, dass die Sünde es dazu verleitet, ständig höher hinaus zu wollen, sei es in der Selbstverfehlung, sei es in der Selbstdarstellung. Das ist keine Erklärung des bösen Tuns, sondern bloss eine Deutung, eine Deutung überdies, die die totale Unbegreiflichkeil des Bösen niemals antastet. Im Unterschied zur affektiven Deutung des Konflikts verzichtet Paulus auch darauf, die Leidenschaften zur Erklärung des Bösen heranzuziehen. Das Böse hat seinen Ursprung in der unerklärlichen Tatsache, dass der Mensch sich so sehr von Gott distanziert, dass er - im Wahn der Selbstbeherrschung - unter die Herrschaft der Sünde fallt. Das ist auch in dieser Richtung eine Deutung, die auf jede Erklärung des Bösen verzichtet. Dass das Böse geschieht, ist Ausdruck einer elementaren Distanziertheil des Menschen, für die es zwar viele Gründe, aber keine Erklärung gibt. »Ich weiss nämlich, dass nicht in mir wohnt, das ist: in meinem Fleisch (d.h. in meiner menschlichen Konkretheit, so wie ich in der Welt und als Teil der Welt vorkomme), Gutes.« (V. 18a) Woher weiss ich das? Die Antwort folgt sogleich: »Denn das Wollen steht mir zur Verfügung, das Bewirken des Guten aber nicht.« (V. I Sb) Es ist zwar in meiner Hand, das Gute zu wollen, aber es ist nicht in meiner Hand, das Gute auch zu bewirken. Paulus formuliert damit die condition humaine. Ich kann wollen, eine gnädige Sprache zu sprechen, und es kommt immer wieder die bemächtigende, definitorische Sprache heraus. Ich kann wollen, die Dinge sein zu lassen, wie sie sind, und es kommt immer wieder zur Verformung und Vereinnahmung. Ich kann ein verlustfreies Leben wollen - man denke an den Wunsch nach einem perpetuum mobile - und muss erkennen, wie viel ich verbrauche. Zur condition humaine gehört es, dass das Gute im Wollen zuhause ist, nicht im Vollbringen. Zur condition humaine gehört offenbar auch die Verschleierung dieses Sachverhalts: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Gerade auch in christlicher Verschleierung erscheint die anthropologische Selbstüberschätzung: Der neue Mensch wird weithin im Vollbringen
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gesucht, der neue Mensch ist der, der im Glauben eine geheime Motivationskraft hat, die ihn vom Wollen zum Vollbringen bewegt. 2.2 Widerstreit der Gesetzmässigkeiten Der zweite Überlegungsgang beginnt ebenfalls mit einem Satz, der an allgemeine Erfahrung erinnert: »Denn nicht, was ich will, tue ich, Gutes, sondern was ich nicht will, Böses, dieses tue ich« (V. 19). Jetzt wird der existentielle Konflikt zwischen Einsicht und Verhalten dargestellt als Konflikt zwischen dem Wollen des Guten und dem Tun des Bösen. Wieviel Gutes ist schon gewollt worden, und trotzdem ist Böses herausgekommen? Wieviele Menschen sind schon dem künftigen Guten, der eschatologischen Zukunft geopfert worden? Paulus gesteht dem Menschen das Wollen des Guten zu. Dieses Zugeständnis ist gegenwärtig nicht mehr selbstverständlich. Viele Kommunikationsvorgänge werden vergiftet, weil einer dem andem den Willen zum Bösen zuschreibt und sich dabei noch besonders pfiffig vorkommt, dessen wahre Interessen aufgedeckt zu haben. Vielleicht wäre es eine sinnvolle Ausgangslage des Zusammenlebens, einander das Wollen des Guten zuzugestehen und zugleich einander einzugestehen, dass auf beiden Seiten eine Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem Vollbrachten besteht. Will ich das Wollen des Guten zugestehen, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als das geschehene Böse auf eine andere Weise zu würdigen. Bei Paulus sieht das so aus: »Wenn ich also tue, was ich nicht will, dann bewirke nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde«(V. 20). Das bedeutet: es wohnt in mir eine Macht, die den elementaren Konflikt zwischen dem guten Willen und dem bösen Wirken auslöst. Man kann nicht sagen, dies seien die Leidenschaften, die sogenannt niederen Triebe. Es wohnt in mir eine elementare Verkehrtheit, die schlechterdings nicht mehr erklärbar ist. Und diese elementare Verkehrtheil ist das handelnde Subjekt, es ist das verkehrte Subjekt selbst, der Mensch in seiner ganzen verkehrten Persönlichkeit. Paulus beschreibt diese elementare Verkehrtheil im folgenden Satz: ))Ich finde nun das (folgende) Gesetz vor, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse zur Hand ist« (V. 21 ). Paulus versteht hier unter dem Gesetz eine Art Gesetzmässigkeit, einen unausweichlichen Zwang, der vom gewollten Guten zum getanen Bösen führt. Wie diese Gesetzmässigkeit des Näheren aussieht, begründet er in den nächsten beiden Sät·
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zen: »Denn ich freue mich mit dem Gesetz Gottes, gernäss dem inneren Menschen« (V. 22). Sofern der innere Mensch massgebend ist, freut er sich am Gesetz Gottes. Der innere Mensch ist der Mensch, der gleichsam noch nicht zum Wirken gekommen ist. Dieser innere Mensch stimmt mit Freude dem Gesetz Gottes zu. Das Gesetz Gottes ist auch die Tora, es ist aber darüber hinaus der Anspruch, den das Gegebene an mich stellt. Es ist dem noch nicht tätigen Menschen kein Problem, den Anspruch des Gegebenen mit der Freude des Empfängers wahrzunehmen. Doch das ist nur die eine Seite der Sache. Paulus fährt weiter (V. 23): »Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, eines, das dem Gesetz meiner Vernunft (ständig) widerstreitet und das mich (ständig) gefangen nimmt durch das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern wohnt.« Wenn wir diesen Satz mit dem vorhergehenden in Zusammenhang bringen, so stellen wir fest, dass er zur Interpretation des Ausdrucks »gemäss dem inneren Menschen« beiträgt. Was dort der innere Mensch war, wird jetzt erklärt durch den Ausdruck »Gesetz meiner Vernunft«. Die Vernunft ist bei Paulus die Instanz des Vernehmens (I Kor 14 ). Die Vernunft gehört zum inneren Menschen, und sie ist es, die ihn wahrnehmen, die ihn der Dinge innewerden lässt. Diese Deutung wird durch die übrigen Aussagen von V. 23 noch verfeinert. Da ist noch die Rede von einer anderen Gesetzmässigkeit, die in den Gliedern wohnt. Die Glieder sind offenbar der Widerpart des inneren Menschen. Sie sind die Werkzeuge, deren der Mensch bei seinem Tun bedarf. Während also der innere Mensch dem Anspruch Gottes freudig zustimmt, sieht Paulus einen anderen Anspruch wirksam in den Gliedern. Es ist der Anspruch zu agieren, sich zu äussern, sich zu betätigen in der Welt. Und dieser Anspruch widerstreitet der Gesetzmässigkeit meiner Vernunft, dem Anspruch meines Vernehmens. Der Widerstreit liegt eben darin, dass der Mensch in seiner Vernunft den Anspruch des Gegebenen wahrnimmt und dass er in seiner Verständigkeit und seinen Künsten zugleich sich das Gegebene zu unterwerfen versucht. Das Böse, das er in seinen Äusserungen tut, ist die Verunehrung, Vereinnahmung, Unterwerfung der Welt und der Menschen. Das Gute, das er in seinem Inneren weiss, ist die Wahrnehmung der Menschen und der Welt, die es verdienen würden, geehrt, sein gelassen, geliebt zu werden. Das Gesetz der Glieder ist das Gesetz des Könnens.
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Paulus gelingt es, den Konflikt zwischen dem Wollen und dem Tun als einen elementaren Konflikt im ganzen Menschen zur Sprache zu bringen. Er beschreibt ihn nicht mehr als Konflikt zwischen allmächtiger Vernunft und niederen Leidenschaften, nicht mehr als Konflikt zwischen Wissen und Unkenntnis, auch nicht mehr als Konflikt zwischen den höheren und den niedereren Seiten im Menschen. All diese Modelle gehören zum zeitgenössischen Repertoire. Paulus beschreibt den Konflikt als Konflikt zwischen zwei Gesetzen: dem Gesetz des Yernehmens und dem Gesetz der Äusserung. Nomos ist kein natürliches, sondern ein kulturelles Phänomen. Mit dieser Beschreibung des elementaren Widerspruchs macht Paulus die Sünde zu einem kulturellen Phänomen. Man kann fortan nicht mehr sagen, dass die Sünde die Natur des Menschen sei, die in der Kultur beziehungsweise in der Zivilisation durch den Menschen überwunden werden kann, ein Gedanke, der die Kultur oder die Zivilisation als etwas von vomherein Gutes erscheinen lässt. Die Sünde erscheint bei Paulus als kulturelles Phänomen. Freilich liegt heute der Gedanke wohl wieder nahe, die Sache umzukehren und zu sagen: die Natur sei das Gute, die Kultur die Sünde. Auf den ersten Blick könnte Paulus einem solchen Urteil Vorschub leisten. Es gilt indessen zu beachten, dass Paulus von einem Konflikt spricht, der innerhalb der Kultur stattfindet. Die Situation des Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm zwei Gesetze im Streit liegen und ihn gefangen halten: das Gesetz des Vemehmens und das Gesetz des Agierens. Keine Rede also davon, dass die Rückkehr zur Natur die Abkehr von der Sünde wäre. Es gibt nichts anderes als den Widerstreit zweier Kulturen, der Kultur der Rezeptivität und der Kultur der Produktivität.
3 Die aussichtsreiche Klage Deshalb gibt es nichts anderes als die Klage: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib« (V. 24)? Die Klage ist ein Ausdruck für das lnnewerden der eigenen VerlorenheiL Die Klage gibt einerseits die Situation des Menschen wieder und gehört andererseits zur Kultur der Rezeptivität. Es folgt eine Frage, die ganz von der Klage geprägt ist: Wer wird mich erretten aus dieser vom Tod gekenn-
3 Die aussichtsreiche Klage
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zeichneten Person? Die Frage fragt hinaus aus dem inneren Menschen. Sie fragt hinaus nach dem Rettenden. Sie ist aussichtsreich, weil sie nach dem von aussen kommenden Rettenden fragt. Und nur das von aussenkommende Rettende ist in der Lage, den Widerstreit der Gesetze im Menschen zum guten Ende zu führen. Denn nur das von aussen kommende Rettende rettet die Kultur des Vemehmens aus dem Gesetz des Handelns, rettet die Vernünftigkeit des Menschen. Man wird fragen dürfen, ob eine solche Klage und eine solche Frage nicht schon vom Rettenden möglich gemacht ist. 12 Gäbe es das Rettende nicht, könnte Paulus wohl nicht so fragen. Welche Instrumente habe ich, um meinen Widerspruch mit mir selbst zu überwinden? Was für Kräfte in mir kann ich mobilisieren, um aus meiner existentiellen Unklarheit herauszukommen? Was kann ich tun, um das Böse aus der Welt zu schaffen? Das sind Fragen, die vom Rettenden nicht berührt sind. Es sind keine aussichtsreichen Fragen, weil in ihnen die Sünde regiert. Die aussichtsreiche Frage des Paulus dagegen ist eigentlich von Christus evoziert. Deshalb folgt auch der Dank auf ihrem Fusse: »Dank aber sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn« (V. 25a). Nur ein Gott kann ihn retten aus diesem Zwiespalt der Ansprüche, und nur ein Gott hat ihn gerettet. Und zur Rettung gehört es schon, dass dieser Gott ihm die Klage in den Mund gelegt hat. Es ist kurz zurückzukommen auf die hermeneutische Grundfrage dieses Abschnitts, wer nämlich das Ich von Röm 7 sei und welchen Zustand es meine, wenn es so spreche. Exegetisch gesehen ist es immer dann in der Lage, so zu sprechen, wenn es von Christus unberührt ist. Immer dann, wenn es vom Rettenden unberührt ist, ist es zurückgeworfen auf den Widerstreit der Gesetze in ihm und also verloren an das Tödliche. Wir könnten jetzt vielleicht sagen: das Ich, das hier spricht, ist eines, das zwar schon von Christus ergriffen ist, das ihn selbst aber noch nicht ergriffen hat. Dann lässt sich dieses Ich aber weder biographisch noch soziologisch festlegen: es ist weder das ungetaufte Ich noch steht es für die Körperschaft der Ungetauften, dali Ich steht hier
1 ~ Nach Käsemann. An die Römer 201 bleiben »allein die Klage und der Schrei nach Erlösung« übrig. Dass dies tatsächlich die "zusammengeschrumpfl(e)« ,.Qeschöpflichkeit« des Menschen ist. ist meines Erachtens zu bezweifeln.
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für eine Erfahrung, die alle Menschen machen können, sofern sie von Christus berührt sind und sich ihm dennoch nicht anvertrauen. 13 Überflüssig zu sagen, dass die vorgelegte Analyse der condition humaine kein theoretischer Beschluss ist. Paulus definiert hier nicht den Menschen, sondern er spricht ihn auf seine Erfahrung an. Die Erfahrung nämlich, dass er zwar das Gute will, dennoch aber das Böse tut. Und Paulus spricht in der Tat nicht theoretisch über alle Menschen, sondern er spricht zu solchen, die an diesem ihrem eigenen Widerspruch leiden. Und wer könnte von sich sagen, er (oder sie) sei von solchem Leiden frei?
1 ~Deshalb
kann dies auch die Erfahrung eines Chrislen sein. ein Versländnis. das heule von vielen beslriuen wird (auch von Wilckens. Römer 117).
Die Menschwerdung Gottes Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6
0 Vorbemerkungen 0.1 Zum Stellenwert von Joh 6 Joh 6 stellt eine geeignete Grundlage dar für Überlegungen zur Auslegungsproblematik des gesamten Johannesevangeliums. Das Kapitel ist repräsentativ für die johanneische Theologie. Ausgangspunkt ist eine traditionelle Jesusgeschichte (das Speisewunder), die dann - in mehreren Überlegungsgängen - im Sinne der johanneischen Theologie gedeutet wird. Solche Jesustradition aufnehmende Deutungsprozesse begegnen oft im Johannesevangelium 1• Reden von der Art der Brotrede sind ein wichtiges Charakteristikum des Johannesevangeliums (etwa gegenüber den synoptischen Evangelien)2 • Nicht nur die Denkstrukturen von Kap. 6, sondern auch eine ganze Reihe von Inhalten, namentlich auf der Ebene der Christologie, sind zentral im Johannesevangelium. Schon längst ist die Bedeutung der Menschensohnchristologie für das vierte Evangelium erkannt worden\ Sie spielt im sechsten Kapitel eine wichtige Rolle. Ferner nehmen die' E')'O)...-e4Ll-Bildworte hier ihren Anfang und gewinnen sofort ihr charakteristisches Gepräge. Schon diese beiden Beispiele rechtfertigen eine Konzentration auf dieses Kapitel. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis des vierten Evangeliums ist dessen religionsgeschichtlicher Aspekt. Dies gilt zunächst im Blick auf die Frage nach dem religionsgeschichtlichen Hintergrund. Sie hat in jüngster Zeit extreme Antworten gefunden. Die Spannweite
'Vgl Kap. 3.4.5.9.11: vgl Blank. Brotrede 195. Haenchen. Johannesevangelium 97-100. 1 Dazu Schulz. Untersuchungen: Schnackenburg. Johannesevangelium 1411-423.
2 Dazu
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Die Menschwerdung Gottes
reicht vom Alten Testament bis hin zur Gnosis 4 • Das sechste Kapitel erlaubt in dieser Sache eine Antwort, die Extrempositionen und historische Fehlkonstruktionen vermeidet. Religionsgeschichtlich ist jedoch nicht bloss die Frage nach den religiösen Entstehungsbedingungen der johanneischen Theologie interessant. Umstritten ist auch die Frage, wie das Johannesevangelium seinerseits religionsgeschichlich zu qualifizieren sei. Stichworte wie gnostische Grundschrift5 oder naiver Doketismus6 prägen weithin die Wahrnehmung dieses Evangeliums. Der Gedankengang des vorliegenden Kapitels wird einen differenzierten Zugang zur religionsgeschichtlichen Eigenart dieses Evangeliums ermöglichen. Schliesslich ist der religionsgeschichtliche Aspekt auch noch in der Hinsicht wichtig, dass - betrachtet man die religionsgeschichtlich arbeitende Literatur - noch keineswegs geklärt ist, welchen erkenntnistheoretischen Stellenwert diese Arbeit hat. Von der ständig an der vorstellungsmässigen Abgrenzung orientierten religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise bis hin zur Einordnung (und damit Verflüchtigung) bedeutsamer Vorstellungen in geradezu universale Zusammenhänge trifft man hier alles an. Die Thematik des Lebensbrotes wird es erlauben, dem theologischen Erkenntniswert religionsgeschichtlicher Arbeit einige Gedanken zu widmen. Ein letzter Grund für den repräsentativen Charakter dieses Kapitels ist, dass es einen längeren Werdegang hinter sich hat. Es stehen in ihm Wunderüberlieferung, Offenbarungsrede, Abendmahlsdeutung und biographische Notizen nebeneinander. Die unterschiedlichen Stilformen und theologischen Akzentsetzungen zeigen, dass dieser Text nicht in einem Atemzug entstanden ist. Er ist das Resultat eines längeren Rezeptions- und Traditionsprozesses. Auch das Johannesevangelium als ganzes muss verstanden werden als Produkt intensiver, über lange Zeit sich erstreckender theologischer Arbeit, möglicherweise in einer Schule, jedenfalls in einem theologischen Kollektiv 7•
'Für das erste vgl die Arbeit von Bühner. Der Gesandte: für das Lwcite Buhmann. Johannes. ~ Schottroff. Der Glaubende 22H-296: Langbrandtner. Weltferner Gott 6 Käsemann. Jesu letzter Wille 52. 7 So Becker. Johannes 140--43.
0 Vorbemerkungen
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0.2 Zur Abgrenzung und Gliederung des Kapitels Auch wenn Kap. 6 ursprünglich direkt an Kap. 4 angeschlossen haben sollte 8 , ist es nach vorne eindeutig abgrenzbar: 6, I bringt einen temporalen und lokalen Neueinsatz9 • Es beginnt damit ein grösserer Textkomplex, der um das Stichwort Brot angeordnet ist (6,1-59). Dieser Komplex wird zu einem gewissen Abschluss gebracht durch V. 59. Dennoch kann man nicht sagen, die beiden folgenden Episoden über den Unglauben der Jünger (V. 60-65) und das Bekenntnis des Petrus (V. 6fr71) seien ohne Beziehungen zu V. 1-59. Die soeben abgeschlossene Lehre Jesu wird in V. 60 ausdrücklich aufgenommen, dem Murren der Juden (V. 41) entspricht das Murren der Jünger (V. 61); das civaJbivuv (V. 62) greift auf mupaivE\V (V. 33) zurück. Schliesslich ist der Abschnitt über das Petrusbekenntnis (V. 6fr71) insofern mit dem Hauptteil von Kap.6 verknüpft, als die dort erfolgte Lehre Jesu den Abfall vieler Jünger verursacht. Ein eindeutiger Neueinsatz erfolgt dagegen in 7, I; dasselbe gilt erst recht von 5, I, falls die schon genannte Umstellung vorzunehmen ist 10 • Der grosse Abschnitt 6,1-59 lässt sich einigermassen deutlich in Unterabschnitte aufteilen 11 • Der erste Unterabschnitt wird gebildet durch die Speisungsgeschichte, welche mit dem Ortswechsel in V. 15 ihren eindeutigen Abschluss findet. Ein zweiter Unterabschnitt ist mit dem Seewandel Jesu gegeben (V. 16 mit einer Zeit- und Ortsangabe einsetzend, mit der wunderbaren Landung V. 21 etwas abrupt endend). Während die Seewandel-Geschichte nicht weiter aufgenommen wird wichtig an ihr ist höchstens das elf~) E4l\ in V. 20, womit sie mit den · Elfll--t:4L\-Worten der Brotrede in Beziehung tritt1 2 -, wird das Wunder der Brotvermehrung zum Anlass für verschiedene Überlegungsgänge genommen. Ein erster Überlegungsgang liegt in V. 22-29 vor, wo nach einer recht komplizierten 11 Überleitung das Missverständnis des Wunders als Sättigung genauer bedacht wird. Es folgt ein :weiter Üherle-
K So die meisten neueren Kommentare: ausführlich diskutien bei Schnackenburg. Johannesevangelium II 6-11. ~Mnli 1111ÜD ( vgl auch 7 .I) und ci~~" usw. 111 ln beiden Fällen wird der Neueinsatz dun.:h ein j&nli 1111ÜD angezeigt. 11 Obwohl in der Literatur eine Vielzahl von Gliederungsvorschlägen gemacht wird. vgl zB Blank. Brotrede 193f: Schenke. Struktur 21-41: ders. Szenarium 191-203: Becker. Johannes I 199--202. 1: Schnackenburg. Johanncsevangclium II 12f. 1 ' Vgl dazu Schenke. Szenarium 191.193f.l96f.
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gungsgang, welcher mit der Zeichenforderung (V. 30) einsetzt und über das Mannawunder zum Glauben an die persönliche Gegenwart des Vaters im Sohn vorslässt (V. 40). Ein dritter Überlegungsgang widmet sich der Spannung zwischen den Vorstellungen über das wahre Lebensbrot und der natürlichen Herkunft Jesu (V. 40-5lb). Es folgt in V. 5lc-58 der Abschnitt über das Abendmahl. V. 59 schliesst den Hauptteil formell ab. Entsprechend dieser Gliederung wird die theologische Auslegung des Kapitels (Teil I) folgende Abschnitte enthalten: 1.1 Die Mehrdeutigkeit des Zeichens ( 1-15) 1.2 Das Missverständnis der Sättigung (22-29) 1.3 Das Missverständnis der Zeichenforderung (30-40) 1.4 Das Missverständnis der natürlichen Herkunft (41-51 b) 1.5 Das harte Wort (60-65) 1.6 Das provozierte Bekenntnis (66--71) 1.7 Das Verständnis des Abendmahls (51c-58) 0.3 Zur historischen Dimension des Textes Ein Überblick über die formale Gestaltung des sechsten Kapitels ergibt, dass hier drei verschiedene Sprachebenen leicht unterscheidbar sind. Der Text enthält zunächst Wundergeschichten, dann eine dialogartige 0/fenbarungsrede, die zwei verschiedene Dialogpartner des Offenbarers kennt: das Volk beziehungsweise die Juden einerseits (V. 2259), die Jünger andererseits (V. ~71 ). Auf einer inhaltlich neuen Textebene schliesslich wird die Lebensbrotthematik auf das Abendmahl V. 51c-58) angewendet. Für die Annahme dieser dritten Textebene sprechen die folgenden Gründe: (I) Während in der Wundergeschichte die Speisung der Menschen mit materiellem Brot im Vordergrund steht und in der Offenbarungsrede das Hauptgewicht auf der Identifikation des Lebensbrotes mit dem Christus liegt, ftihrt V. 51 b-58 wieder auf das Austeilen des Broten zurück, mit dem signifikanten Unterschied, dass jetzt nicht materielles Brot, sondern die Person des Offenbarers ausgeteilt wird. Diese Gedankenführung spricht daftir, dass es sich um eine stetige Entfaltung des Brotthemas handelt. (2) Der durch den Dialogpartner ))Jünger« gekennzeichnete Teil der Offenbarungsrede greift zwar in mehrfacher Hinsicht auf V. 22-51c, nicht aber auf V. 51c-58 zurück 14 • Dies spricht dafür, dass der Jüngerteil ursprünglich direkt an
14
Becker. Johannes I 202: anders Buhmann. Johannes 214f.
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den Volksteil angeschlossen hat. (3) Während sowohl in der Wundergeschichte als auch in der Brotrede gewisse Anspielungen auf das Abendmahl auszumachen sind, sind diese im Abschnitt V. 51 c-58 unvergleichbar viel deutlicher: als Beispiel sei die aus der Brotthematik überhaupt nicht herleitbare Rede vom Essen und Trinken des Fleisches und Blutes genannt'~. (4) Die temporale Makrostruktur des vorliegenden Kapitels unterscheidet drei Zeitebenen: er gab (V. 1-15)- ich bin (V. 22-Slb, mit der interessanten Ausnahme V. 27, wo festgestellt wird, dass der Menschensohn das unverderbliche Brot geben wird) ich werde geben (V5lc-58). Diese Unterscheidung der Zeiten spricht dafür, dass ihr drei analog unterscheidbare Reflexionsebenen entsprechen: Eine erste sieht im vergangenen Austeilen des Brotes das Zeichen der Messianität Jesu, eine zweite sieht in der Beziehung zum gegenwärtigen Christus, dem wahren Lebensbrot, den Empfang des ewigen Lebens, eine dritte erkennt in der Eucharistie die Präsenz des rettenden Christus in der Zeit der Kirche. Diese Argumente lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass der Abschnitt über das Abendmahl auf einer gegenüber der ursprünglichen Brotrede späteren Stufe dazugekommen ist 16• Man kann diese Stufe kirchliche Redaktion nennen, um einen fortschreitenden christologischen Reflexionsprozess in der johanneischen Gemeinde anzuzeigen. Von kirchlicher Redaktion freilich sollte man nicht sprechen, wenn damit das Urteil einer kirchlichen Domestizierung der ursprünglich originellen johanneischen Theologumena verbunden ist 17 • Will man die Wundergeschichten am Anfang des Kapitels genauer einordnen, so legt sich meines Erachtens die Annahme einer vorjohanneischen Quelle- der Semeiaquelle 111 - nach wie vor am nächsten. Auf vorjohanneische Tradition deuten die folgenden Sachverhalte: (I) Während die Brotrede nur an der Speisungsgeschichte interessiert ist, stehen am Anfang dieses Kapitels zwei Wundergeschichten, die schon in der synoptischen Tradition zusammengehörten (Mk 6,30-44.45-52). Dass der Verfasser der Brotrede die beiden Wundergeschichten beisammen liess, könnte sich daraus ergeben haben, dass die zweite ihm das Stich-
1~
MitzB Becker. Johannes I 220f. So schon Buhmann. Johannes 161f; Richter. Studien 88-119; unentschieden dagegen Schnackenburg. Johannesevangelium II 85-89; anders Borgen. Bread 96f. 17 So etwa bei Langbrandtner. Weltferner Gott passim; Becker. Johannes lzB 221-223. IM Dazu Fonna. Gospel of Signs: ders. Source. 16
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wort t..,m E\f,Ll lieferte 19 • (2) Ein weitergehender Vergleich mit der synoptischen Überlieferung kann zeigen, dass die Übereinstimmung der Inhalte noch mehr umfasst als die beiden Wundergeschichten: Brotwunder- Seewandel - Rückkehr ans andere Ufer- Zeichenforderung Petrusbekenntnis mit Passionsthema. Diese Übereinstimmung ist auffällig, insbesondere wenn man die markinische Dublettenüberlieferung noch dazunimmt (Kap. 8, wo zwar eine etwas andere Version der Speisungsgeschichte steht und der Seewandel fehlt). Im Blick auf das Johannesevangelium zeigt diese Übereinstimmung, dass die johanneische Gemeinde als TrägeTin von Jesusüberlieferung angesehen werden muss, die sich auf einer relativ frühen Stufe von der synoptischen Tradition abgespalten hatte 20• Eine literarische Abhängigkeit von der synoptischen Tradition ist jedenfalls wesentlich weniger wahrscheinlich 21 • (3) Ein formgeschichtlicher und motivanalytischer Vergleich der Wundergeschichten mit den übrigen Wundergeschichten des vierten Evangeliums zeigt, dass sie untereinander eine weit grössere Konsistenz aufweisen als zu den übrigen Teilen des Johannesevangeliums. Daraus ergibt sich die Annahme, es handle sich um eine Quelle mit einer gewissen theologischen Statur22 • (4) Das Verfahren, eine Wundergeschichte in mehreren dialogischen Überlegungsgängen zu deuten, hat der Evangelist noch an anderen Stellen angewandt (Kap. 5.9.11 ). Diese Deutungen weisen sowohl formal als auch inhaltlich (sie kreisen um das Missverständnis des Christus) eine grosse Kohärenz auf. Sie interpretieren die erzählten wunderbaren Ereignisse anders als die zugrundeliegenden Wundergeschichten. Diese Argumente rechtfertigen meines Erachtens die Annahme, dass in der johanneischen Gemeinde eine Quelle existierte, die ihr Zentrum bei den Wundertaten Jesu hatte. Diese Quelle war Ausgangspunkt für intensive theologische Reflexionen, wofür Joh 6 ein gutes Beispiel gibt. Die Überlegungen zur historischen Dimension dieses Kapitels sollen zwar nicht darüber hinwegtäuschen, dass der heute vorliegende Text als ein sinnvolles Ganzes zu betrachten und auszulegen ist. Gegenstand einer Auslegung des Johannesevangeliums kann weder die Semeiaquelle noch eine allfällige gnostische Grundschrift noch die kirchliche Redak-
Vgl oben Anm 12. Schnackenburg. Johannesevangelium I 18f.30-32. 21 Hecker. Johannes I 36-38. 22 So Fonna. Source 151. 1q
2o
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tion sein. Vielmehr soll der Text als Ganzes begriffen werden, als ein verständlicher und sinnvoller Gedankengang. Viele literarkritische Operationen sind bloss dadurch bedingt, dass der Ausleger den Versuch unterlässt, spannungsreiche Gedanken zu begreifen als durchaus zusammenhängende, verschiedene Seiten derselben Sache. Auch wenn der Auslegungsgrundsatz klar den jetzigen Text ins Zentrum stellt, ist unser Kapitel dennoch ein wichtiger Hinweis darauf, dass diese Texte schon einen gewissen Werdegang hinter sich haben. Soweit dieser Werdegang noch erfassbar ist, ist er ausdrücklich in die Interpretation einzubeziehen. Der jetzt vorliegende Text ist wahrzunehmen als Ergebnis einer Geschichte von Tradition und Interpretation. Er ist zu verstehen in seinem Werdegang. In der folgenden Auslegungsskizze werden zwei Axiome angewendet und auf ihre Angemessenheil hin geprüft. (I) Der Werdegang dieses Textes zeugt von einem fortschreitenden Reflexionsprozess, dessen Ziel und Ende die inkarnatorische Theologie ist. Die theologische Arbeit in der johanneischen Gemeinde gilt grundsätzlich dem Versuch, Jesus Christus als menschgewordenen Gott zu verstehen. (2) Entgegen einem häufig beobachtbaren Trend, die treibende Kraft eines solchen Reflexionsprozesses entweder in der Abgrenzung von christlichen oder ausserchristlichen Theologien oder in zeitgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Einflüssen zu sehen, wird im folgenden davon ausgegangen, dass die treibende Kraft in der Entfaltungsbedürftigkeit des christlichen Glaubens selbst liegt. Der Glaube selbst gibt zu denken, nicht erst externe Bestreitungen der Messianität Jesu oder die Notwendigkeit der Abgrenzung von andern christlichen Anschauungen. Insofern wird das vorliegende Kapitel verstanden als Entfaltung dessen, was der Glaube an Christus zu denken gibt. Die am Werdegang eines Textes orientierte Auslegung beruht auf einer (notwendig hypothetisch bleibenden) Annahme über die Vorgeschichte des betreffenden Textes. Diese Vorgeschichte stellt sich in unserem Falle wie folgt dar: Ausgangspunkt ist eine Speisungsgeschichte, die schon auf einer vorsynoptischen Stufe verbunden war mit dem Seewandel, der Rückkehr ans andere Ufer, der Zeichenforderung und dem Petrusbekenntnis. Dieser Überlieferungsblock gelangte dann einerseits in die vormarkinische Gemeinde, wo eine Dublette ausgebildet wurde, und er gelangte andererseits in die vorjohanneische Gemeinde (Semeiaquelle). In dieser Gemeinde wurde - am Leitbegriff des Se-
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meion orientiert23 - die Jesusüberlieferung einem eingehenden Reflexionsprozess unterzogen. Dessen Resultat begegnet uns in der anschliessenden Brotrede (V. 22-51 b.60-71 ). In einem weiteren Reflexionsgang wurden die theologischen Aussagen der Brotrede in Verbindung gebracht mit der Praxis des Abendmahls. Das Abendmahlsverständnis erlaubte es, die Präsenz des Christus in der Zeit der Kirche auf neue Weise zu erschliessen.
1 Auslegungsskizze von Johannes 6 Entsprechend der schon vorgetragenen Gliederung werde ich den Gedankengang von Joh 6 nachzeichnen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Entwicklungen innerhalb der johanneischen Tradition. 1.1 Die Mehrdeutigkeit des Zeichens (V. 1-15) Aus den gesetzten Erzählsignalen geht recht deutlich hervor, wie die Semeiaquelle die Speisungsgeschichte interpretiert. Wichtigstes Merkmal ihrer Interpretation ist wohl, dass sie (I) die Handlungsführung allein Jesus überlässt 24 • Es gibt für die wunderbare Speisung kein anderes Motiv mehr als das, dass Jesus es tun will (im Unterschied zum Spätwerden und der fehlenden Nahrung in der synoptischen Tradition). Die Jünger, die bei Markus wichtige Handlungsträger sind, spielen hier keine tragende Rolle, sie haben ihre Funktion erst dort, wo es um das Sammeln und Aufbewahren der Reste geht. Mit dieser Konzentration auf den Handlungsträger Jesus zeigt die Semeiaquelle an, dass sich allein Jesus in diesem Geschehen ausspricht. Das Semeion will auf nichts anderes als die lebenspendende Handlungsmacht Jesu hinweisen. Dieser Akzent passt hier besonders, da es sich um ein Geschenkwunder 2 ~ handelt: Geschenkwunder beseitigen nicht bloss eine zuvor bestehende Notlage (davon ist hier auch keine Rede), sondern sie überhäufen die Menschen mit Wohltaten, die niemand erbeten hat. Geschenkwunder haben Überraschungscharakter. Als solche überholen sie selbst die menschlichen Wünsche. Derselbe Überraschungscharakter kommt auch Christus zu: Sein Kommen selbst lässt sich nur als Überraschung beDazu Fonna. Source 152-155. Mit Blank. Johannes Ia 341. 2~ Zum Phänomen vgl Theissen. Wundergeschichten 111-114.
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2~
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greifen. Deshalb ist er ausschliesslich Handlungsträger in dieser Geschichte, und deshalb ist sie ein Semeion, das seine Bedeutung entdeckt. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Semeiastufe ist (2) die Steigerung des Wunders. Sie kommt hier namentlich darin zum Ausdruck, dass die zweihundert Dinare, die in der synoptischen Version zur Speisung reichen würden, ausdrücklich als nicht ausreichend bezeichnet werden (6,7 vgl Mk 6,37). Ferner können die Leute haben, so viel sie wollen (6,11 Ende). Schlicsslich wird man auch in der schon genannten Konzentration auf den Handlungsträger Jesus ein Moment der Steigerung seiner Wundertätigkeit sehen dürfen. Zwar sind solche Steigerungsvorgänge schon aus der synoptischen Traditionsgeschichte bekannt26. Sie treten aber in der Semeiaquelle gehäuft auf: Sie stellt die Wunder Jesu in einer massiven Materialität dar, wie sie sonst nicht anzutreffen ist 27 • Was ist der theologische Stellenwert dieses Steigerungsvorgangs? Man wird sich hüten müssen, ihn auf die primitive Formel der Propaganda oder der Konkurrenz zu bringen 211 • Vielmehr dürfte die schon bei den Synoptikern auftretende Steigerung damit zusammenhängen, dass die Wundergeschichten ihrer eschatologischen Dimension weitgehend verlustig gingen. Hatte Jesus selbst in seinen (episodalen!) Wundertaten die Wende der Zeiten, die Ankunft des neuen Äon gesehen29, so tritt nachösterlich die Christologie an die Stelle dieser Eschatologie. Die österliche Erfahrung sagte, dass Jesus nicht bloss ein episodales Vorspiel zur bevorstehenden Zeitenwende sei, sondern dass in ihm die Fülle der Zeit gekommen sei. Die immense Steigerung der Wunder in den Semeiaerzählungen dürfte den Versuch darstellen, in den Taten Jesu die vollendete Gegenwart Gottes zu sehen und zum Ausdruck zu bringen. Die Steigerung der Wundergeschichten dient also dem christologischen Interesse, in der Person Jesu das eschatologische Kommen Gottes zu erblicken, und sie ersetzt damit ein episodales Wunderverständnis, das in diesen Taten Vorzeichen der Weltenwende sieht. Dazu kommt noch eine weitere, überraschende Eigenart der Semeiaquelle: Obwohl ihre Wundergeschichten von massiver Materialität
Theissen. Wundergeschichten 277-282. Dies ist ganz deutlich in 2.1-11 (immense Weinmenge) und 11.39 (der tote Lazarus riecht schon). 2K Dagegen zu Recht Theissen. Wundergeschichten 273f. 19 Vgl bes Lk 11.20 und Theissen. Wundergeschichten 274-277. 26
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sind, vermögen sie nur in den seltensten Fällen Glauben zu erzeugen-' 0 ; sie erwecken den Glauben der Jünger, der Voreingenommenen. Das legt Zeugnis ab von der prinzipiellen Mehrdeutigkeit solcher Zeichen. Ihre Steigerung dürfte ein Versuch sein, der Mehrdeutigkeit die Stirn zu bieten. Das Wunder wird so sehr gesteigert, damit die Sicht des Unglaubens möglichst ausgeschlossen werde. Als weiteres Merkmal der Semeiastufe soll schliesslich (3) genannt werden: Die Wundererzählungen sind Zeichen für die eschatologische Qualität des Wundertäters. In diesem Zusammenhang kann man wohl erwägen, ob 6,14 nicht doch den ursprünglichen Kommentar der Semeiaquelle zur Brotvermehrung darstelllt. Immerhin ist daran zu erinnern, dass nach dieser Quelle die Wundertaten eben Semeia für die Messianität Jesu sind (vgl auch 20,3003 1• Gerade die wunderbare Brotvermehrung konnte als messianische Praxis Jesu erkannt werden 32 , ein Sachverhalt, den gewiss auch die Semeiaquelle für ihre Interessen nutzbar zu machen wusste. Auf der Stufe der Brotrede wurden keine einschneidenden Eingriffe in die Wundererzählung vorgenommen. Hier wird sie ja zum Ausgangspunkt für eine eingehende Interpretation genommen. Immerhin sind zwei Ausssagen wohl erst durch den Verfasser der Brotrede angefügt worden: der Hinweis auf das Passa (V. 4), welcher erst im Kontext des gesamten Evangeliums sinnvoll ist, und die Kritik am Messianismus (V. 15), welche so in der Semeiaquelle nicht auftritt, dagegen aber für das Evangelium typisch istn. In V. 15 setzt das Evangelium einen kritischen Grenzstein gegenüber der Unterordnung des Christus unter die herkömmlichen Messiaserwartungen. War diese Gefahr schon bei der Prophetenaussage vorhanden, wird sie erst recht manifest beim Versuch, Jesus zum König zu machen. Das dpml;Etv steht hier für die mes-
Jo Vom Glauben der Menge ist nicht die Rede: 2.11 (Glauben der Jünger); 4.53 (der königliche Beamte und sein ganzes Haus); 5,1-30 (wo vom Glauben der Menge gar nichts gesagt wird, im Gegenteil, das Wunder fühn zur Verfolgung); 6.14 (das Bekenntnis geht fehl); 6.1521 (spricht überhaupt nicht vom Glauben); 9.1-34.35-41 (die Menge begegnet dem Wunder mit Unglauben und anderen Erklärungen); 11,45 ist eine gewisse Ausnahme. obwohl gerade dieses Wunder der Auferweckung zum Todesbeschluss flihn ( 11.53 ). Jl Mit Schnackenburg. Johannesevangelium I 350-354: Fonna. Source 153. 12 Man denke etwa an die messianischen Zeichentäter bei Josephus. deren Zeichen in der Wiederholung der Exoduswunder bestehen (vgl Meyer. An. ~ lt'd.. 826.29-827.45): auch die synoptischen Speisungsgeschichten waren nicht ohne messianische Untenöne (vorsichtig bei Pesch. Markusevangelium I 354-356). n Mit Becker. Johannes I 191.193f. der allerdings (mit wenig überzeugenden Argumenten) V. 4 der kirchlichen Redaktion zuweist.
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sianische Vereinnahmung Jesu 34 • Dieser Vereinnahmung entzieht sich Jesus, indem er sich auf den Berg zurückzieht. Dieser kritische Grenzstein warnt davor, die Prioritäten zu verkennen: Die Messiaserwartung muss sich an diesem Christus verwandeln lassen. Nicht sie herrscht über ihn, indem sie ihn zum König macht, sondern er wird sie neu bestimmen, indem er seinen, ihrer Vorstellungskraft entzogenen Weg geht. Dass auch bei Johannes dieser Weg gekennzeichnet ist als Weg ans Kreuz, sollte nicht mehr länger bestritten werden 35 • 3,14-21; 12,2736 und 13,1-17 sind zu deutliche Signale dafür. Auch der Hinweis auf die Nähe des Passafestes kann durchaus verstanden werden als Signal für die kommende Passion' 6 • Der konkrete Weg Jesu ist jedenfalls der sachliche Ausgangspunkt für die Messiaskritik des Evangeliums, so wahr er der Bewegung vom Messianismus zur Christologie die konkrete Richtung gibt. In diesem ersten Abschnitt sind also zwei Schritte getan worden. Den ersten tat die Semeiaquelle, als sie das Brotwunder ·als Zeichen der Messianität Jesu verstand. Wichtig ist dabei, dass das Brotwunder nicht formalisiert wird, als ob in ihm bloss noch die Faktizität der Messianität Jesu bestätigt würde. Die Messianität Jesu hat vielmehr die Gestalt, dass er überraschend speist, Brot darreicht in Hülle und Fülle. Als Messias teilt er das elementare Lebensmittel ungefragt aus. Einen zweiten Schritt tat der Verfasser der Brotrede (bzw. des Evangeliums), der die drohende Messianologie in die Christologie überftihrte. Es kommt darauf an, das apnateu' Jesu im Namen des Messianismus zu vermeiden. Oder anders gesagt: Es kommt darauf an, den erhofften Christus zur Welt kommen zu lassen. Dies ist der cantus firmus, der dem ganzen Kapitel unterlegt ist.
1.2 Das Missverständnis der Sättigung (V. 22-29) Mit einer komplizierten Überleitung (V. 22-25), an der nur wichtig ist, dass das Volk und Jesus wieder zusammenkommen, führt der Evangelist den Leser an ein weiteres Missverständnis des Brotwunders heran: Das Volk sucht Jesus nur, weil es gegessen hat und satt geworden ist, nicht weil es Zeichen gesehen hat (V. 26). Das heisst: Die Suche gilt nicht dem, was das Geschehen bedeutet, sondern dem, was das '~So
mil Rechl Buhmann. Johannes 15K. neuerdings Wengs1. Bedräng1e Gemeinde 106-117. Mi1 Blank. Johannes Ia 342.
'~Dazu 'b
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Geschehen darstellt. In der Brotvermehrung ein OTJ.LEiov sehen würde heissen, im Überfluss dieses Brotes den göttlichen Geber wahrnehmen. Statt dessen sieht das Volk bloss den materiellen Vorgang der Sättigung37. Der Evangelist kritisiert die Reduktion dieses Geschehens auf das Vordergründige, auf das Materielle. Dabei geht es ihm keineswegs darum, die Materialität dieses Lebensmittels zu verflüchtigen. Auch das Zeichen, das er im Brotwunder sieht, kommt nicht ohne Brot aus. Aber es bedeutet mehr, als es darstellt: Seine Bedeutung liegt darin, dass es den Geber zu erkennen gibt. Das ist keine Spiritualisierung des Brotes. (Der häufige Gebrauch des Wortes »Spiritualisierung« in der Exegese gibt zur Frage Anlass, ob es nicht eine Ontologie verrate, die zur einstigen Hochschätzung des Geistes bloss kontradependent ist.) Diesem Verständnis scheint der nächste Vers (V. 27) zu widersprechen, wo die vergängliche Speise der Speise gegenübersteht, »die ins ewige Leben bleibt«. Hier scheinen sich materielles und geistiges Brot gegenüberzustehen 38 • Freilich muss die Gegenüberstellung verstanden werden in Parallele zu ))Brot essen« und ))Zeichen sehen« von V. 26. Dem Missverständnis der Sättigung entspricht nach V. 27. dass der Mensch seine Arbeitskraft auf den Erwerb des vergänglichen Brotes richtet. Darin verbirgt sich das Selbstverständnis, dass wahres Leben 39 durch die Erarbeitung des vergänglichen Brotes erwirkt werden könne. So wie im wunderbar vermehrten Brot eben nichts als Brot gesehen wurde, wird jetzt das Leben auf seinen weltlichen Aspekt beschränkt: es kann durch Brot erwirkt werden. Wer dergestalt beschränktes Leben lebt, lebt flüchtig. Denn so flüchtig wie das verderbliche Brot ist auch das darauf beruhende Leben. Die Ahnung von den Gefahren solcher Flüchtigkeit lässt den Gedanken eines dauerhaften, nicht-flüchtigen Lebensmittels entstehen: des bleibenden Brotes. Woher kommt dieses Brot? Wer im Brotwunder ein Semeion sieht, hat das bleibende Brot gesehen. Ferner kann es nicht erwirkt werden, sondern der Menschensohn wird es geben. Im Nährwert dieses Brotes sind jetziges und ewiges Leben verbunden. Schliesslich hängt sein Nährwert offenbar damit zusammen, dass der Vater diesen Menschensohn bevollmächtigt hat
ZB Buhmann. Johannes 161. Das veranlasst Becker. Johannes I 204 dazu. den Vers zur kirchlichen Redaktion zu rechnen und in den Zusammenhang von V. 5lc-58 zu stellen: dagegen Schnackenburg. Johannesevangelium II 48f. ·19 Dazu Buhmann. An. rp. ftA... 864.17-866.2. 11 1"
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(oder: dass ihm der Vater das Gepräge gegeben hat). ein Moment. das schon im Menschensohntitel impliziert ist4 o. Daraus ergibt sich: Die bleibende Speise ist ein Brot. das Gemeinschaft mit Gott erschafft. Das auf den weltlichen Aspekt reduzierte Brot sättigt zwar. aber es sagt nichts vom Geber. der in ihm gegenwärtig wird. wenn es als Semeion verstanden wird. Diese Gabe. die der Mensch nicht produzieren. sich nicht selbst geben kann. ist schon jetzt zu haben. Sie erscheint auch im Brot der Speisungsgeschichte. so gut wie sie erscheint als Wort des Menschen Jesus. Versteht man das wahre Leben grundsätzlich als Bleiben in Gott. als Relation zu Gott, so entsteht dieses Leben eben dadurch. dass der Menschensohn das Gepräge Gottes trägt und sich den Menschen zuwende.t. Der springende Punkt am bleibenden Brot ist das Gottesverhältnis. das es erschafft. Das Gottesverhältnis ist Thema der letzten beiden Verse dieses Unterabschnitts (V. 280. Die Frage »Was sollen wir tun. um die Werke Gottes"' zu bewirken?« zielt auf die Herstellung des Gottesverhältnisses. Es ist eine alte. in besonderer Weise den jüdischen Glauben beherrschende Vorstellung. dass der Mensch sein Gottesverhältnis bearbeite durch das Tun der Werke. die Gott entsprechen4 2. Wo hat die Frage. wie das Gottesverhältnis tätig zu gewinnen sei. ihren Ursprung? Unser Zusammenhang benennt diesen Ursprung: Wer im Brot der Speisungsgeschichte nichts als Brot sieht. wird der Gemeinschaft mit Gott nicht ansichtig. die ihm darin gegeben wird. Wer des gegebenen Gottesverhältnisses nicht ansichtig wird. muss sich auf seine Produktivität verlassen. Wer Gott in seinen Gaben nicht zur Welt kommen lässt. muss ihn werktätig zur Welt bringen. Auf diesen Ursprung der Frage. wie das Gottesverhältnis tätig zu erwirken sei. geht die Antwort Jesu präzise ein: Dieses ist das Werk Gottes. dass ihr an den glaubt. den er gesandt hat (V. 29). Das Werk Gottes ist gar kein JtOteiv. sondern ein m.atEUEtv. Es ist nicht Produktivität. sondern Rezeptivität 43 • Das Werk Gottes ist eine Tat. die zwar von mir getan wird. aber zugleich nicht mein. son-
40 Wichtig am Menschensohntitel ist. dass der Menschensohn nichts anderes als Gou repräsentien. vgl bes Joh 1.51. wo die Verbindung zwischen Himmel und Erde im Zentrum steht. Dasselbe gilt auch für die am Menschensohntitel haftenden Vorstellungen vom Abstieg und Aufstieg. welche ebenfalls die Gouesgegenwan betonen. vgl Schnackenburg. Johannesevangelium 1411-423. 41 Dazu von Wahlde. Faith and Works 304--315. 4 2 Zum Phänomen vgl 4Esr 7.17-25. 41 Dies wird von von Wahlde. Faith and Works 314fvöllig verkannt.
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dem Gottes Werk ist. Der Glaube ist als des Menschen Tat Gottes Werk, genauso wie das Lachen als meine Tat das Werk des Witzes ist. Das Gott entsprechende Werk also ist das Glauben, genauer das Glauben an den, den er gesandt hat. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Glauben, dass der Offenbarer der Offenbarer ist44 • Vielmehr meint es, diesen Jesus Gott in Person sein und sich seine Gabe des Lebens als Gabe Gottes gefallen lassen. (In Klammem sei darauf hingewiesen, dass in diesem Schritt vom Epyäl;Eo'6al zum matEUElV eine grosse Verwandtschaft des Johannesevangeliums mit der paulinischen Theologie zum Vorschein kommt.) Das Missverständnis der Sättigung besteht also darin, dass die Gespeisten das Brot distanzieren von seinem himmlischen Geber. Sie bringen sich dabei um das Gottesverhältnis, das in diesem Semeion gegeben ist. Das soleherrnassen weltlich beschränkte Leben bleibt nicht, weil es die gegebene Gottesrelation verdrängt beziehungsweise verkennt. 1.3 Das Missverständnis der Zeichenforderung (V. 30-40) War in den bisherigen Abschnitten der Semeion-Charakter der Speisung in den Vordergrund gestellt worden, so wird jetzt die Forderung eines CJ111Elov ausdrücklich als Missverständnis abgewiesen. Auf die Einladung zum Glauben antworten die Dialogpartner mit der Zeichenforderung: Sie verlangen ein augenfalliges Zeichen (iva 'i&o~v), ein Zeichen, das sich als himmlisches ausweisen kann (vgl h: toü crupavou). Demnach kann die Problematik nicht schon darin liegen, dass das Wirken des Christus mehr bedeuten muss, als es darstellt. Die Problematik liegt also nicht im CJ111Elov, sondern in der Forderung selbst. Geforderte Zeichen werden nicht wahrgenommen, sie werden durchschaut. Die geforderten Zeichen geben nichts, sie verweisen oder verheissen bloss. Deshalb ist dies eine distanzierte, eine von Distanz bestimmte Forderung. Die Zeichenforderung distanziert das geforderte Geschehen von der Gotteswahmehmung. Sie interessiert sich nicht für das Geschehen
44 Dies kommt der Ablösung des Zeichens von seiner konkreten Gestalt gleich. eine Reduktion. die in der Johannesinterpretation Bultmanns nicht immer deutlich genug vermieden wurde: »Jesu Wone vermitteln gar keinen greifbaren Inhalt als eben den. dass sie Wone des Lebens. Wone Gottes. sind; dh nicht durch ihren Inhalt (! J. sondern als s~in~ Wone. als Wone dessen. der sie spricht. sind es Wone des Lebens. Wone Gones ... (Buhmann. Theologie 4150.
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selbst, sondern bloss dafür, was es bedeutet. Damit erweist sich die Zeichenforderung als das Gegenstück zu dem Missverständnis, das an der Sättigung orientiert war. Wurde dort angesichts der res significans (Brot) die res significata (Geber) ausgeblendet, so wird hier die res significans zugunsten der res significata verflüchtigt. Die Zeichenforderung ist aber weiter gekennzeichnet durch die Distanz, welche sie zu dem Himmel einnimmt, dessen Zeichen sie fordert. An die Stelle des Himmels, der überraschend gibt, tritt die weltliche Vorstellung vom Himmel, der sich im Rahmen der Wahrnehmungsbedingungen zu legitimieren hat. Gerade die Zeichenforderung also hält sich den Himmel vom Leib, nicht zuletzt dadurch, dass sie - wie die Erinnerung an das Manna der Wüste zeigt - die eschatologische Zukunft bestimmt sein lässt von Erwartungen der Vergangenheit. Schliesslich herrscht in der Zeichenforderung die Distanz insofern, als sie das Zeichen von seinem Geber unterscheidet. Es ist wie ein Ausweis von seinem Träger unterschieden, deshalb kann er im Zeichen niemals gegewärtig werden. In der Zeichenforderung zielt der Mensch auf den himmlischen Widerschein seiner selbst. Ein erster Einspruch gegen dieses Verfahren wird in V. 32 gemacht: Nicht Mose gab das Brot aus dem Himmel, sondern mein Vater gibt es (jetzt!). Andeutungsweise klingt schon die christologische Konzentration an, auf die es diesem Gedankengang entscheidend ankommen wird. Diese Andeutungen werden in der folgenden Begründung verstärkt: Das Brot vom Himmel erkennt man daran, dass es vom Himmel herabsteigt (nicht: herabfällt) und der Welt Leben gibt. Dass Gott das Himmelsbrot jetzt gibt, erkennt man daran, dass der Christus vom Himmel herabgestiegen ist, und daran, dass die Begegnung mit ihm Leben gewährt. Auf diesen Begründungszusammenhang ist sorgfältig zu achten, er gibt einen wichtigen Hinweis auf den Erfahrungsaspekt johanneischer Theologie. Am Ursprung des johanneischen Christusglaubens steht nicht die Behauptung, der Christus sei die eschatologische Person Gottes, am Ursprung steht vielmehr die Lebenserfahrung, die in der Begegnung mit ihm wieder und wieder gemacht wurde und die in der Begegnung mit seinem Wort immer neu gemacht wird. Erst die Erfahrung des durch ihn gewährten Lebens begründet das Urteil, in ihm und seiner Gabe sei Gott selbst als Geber anzutreffen. Was in den genannten Andeutungen erscheint, wird jedoch nicht verstanden. Stattdessen bittet die Menge, Jesus solle ihnen überall die-
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ses Brot geben (V. 34 ). Gerade diese Bitte wiederholt auf ihre Weise das Missverständnis der Zeichenforderung, weil sie noch einmal unterscheidet zwischen dem wahren Brot und dem Christus. Sie lässt das Brot noch einmal in die Distanz zum Geber treten. Daraus ergibt sich: Die Zeichenforderung ist eine (dem Menschwerdungsgedanken feindliche) Bemühung, Himmel und Erde gehörig auseinanderzuhalten. Bei diesem Brot geht es ja längst nicht mehr nur um das materielle Produkt. Es geht vielmehr auch um das Wort Gottes, dessen Symbol das Manna schon in Dtn 8,3; Weish 16 und in der jüdischen Auslegungstradition geworden ist. Die Zeichenforderung verhindert, dass der Logos Fleisch wird, indem sie ihn distanziert von seiner personalen Gestaltwerdung. Genau auf diese personale Erscheinung des Himmelsbrotes aber kommt es dem Johannesevangelium an: Ich bin das Brot des Lebens (V. 35). Wie immer die Traditionsgeschichte dieses Ausdrucks zu rekonstruieren sein mag4 ~, seine Aussage ist klar: Das Brot des Lebens, das Lebensmittel, das wahres Leben gibt, das Lebensmittel, von dem geträumt und auf das gehofft wurde, hat in dem Ich des Christus Gestalt angenommen. Der Geber hat die Distanz ganz aufgegeben zu seinen Gaben. Er ist ganz Gabe geworden. Das ist der christologische Umschwung, der sich nicht mehr bloss als Steigerung der Gaben begreifen lässt. Man kann den Gedanken des Gebens immerfort steigern, bis hin zum Traum eines Überflusses an Gaben in messianischer Zeit. Die johanneische Christologie macht demgegenüber einen qualitativen Sprung: Sie lässt Gott so nahe an seine Gaben herankommen. dass er sich selbst gibt. Eben in diesem qualitativen Sprung lässt sie Gott zur Welt kommen. Einen ähnlichen Sprung können wir feststellen, wenn wir V. 35 mit der sehr ähnlichen Aussage in Sir 24,21 f vergleichen·'~•. Der Genuss der Weisheit führt zu Hunger und Durst, weil die Gabe so köstlich ist, dass der Hunger nach mehr gerade erzeugt wird. Die Weisheit gibt nicht sich selbst, so dass immer wieder von ihr gegessen und getrunken werden muss. Ihre Gaben sind köstlich, aber weil sie selbst unterschieden bleibt von ihren Gaben, kann nur neues Verlangen entstehen. In ausdrücklichem Gegensatz zu dieser Anschauung heisst es von Christus, dass das Kommen zu ihm jeden Hunger und jeden Durst dauerhaft stillt. Wer hierher kommt, ist angekommen an dem Ort, wohin aller Hunger und ·~ Dazu Schnackenburg. Johannesevangelium II ""Brown. John 269.272-274.
5~ 70:
Becker Johannes I 207-210.
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aller Durst immer schon zielte: am Ort, wo der Geber ganz Gabe geworden ist. Es wäre sicher nicht im Sinne des Gedankenganges dieses Kapitels, wollte man das Brot des Lebens ganz distanzieren von dem Brot, das in der Wundergeschichte ausgeteilt wird. Zwar deutet der Ausdruck »Brot des Lebens« an, dass es sich hier um ein Brot handelt, das nicht bloss dem Lebensunterhalt dient, sondern das wahre Lebendigkeit gewährt. Das Missverständnis der Sättigung legte das wunderbar vermehrte Brot auf den Aspekt des Lebensunterhaltes fest. Demgegenüber ist auch in jenem Brot der Aspekt der Lebensgewährung zu sehen, gerade weil der Mensch nicht allein vom Brot lebt. Den Lebensunterhalt kann man sich verdienen, das Leben selbst kann man nur gewinnen. Das ist ein gewichtiges Nebenthema dieses Kapitels, was auch durch den Schritt vom tpyatEcnkll zum mc:rtEUElv (vgl V. 28f) angezeigt ist. In der Symbolik des Brotwortes sind Lebensunterhalt und Lebensgewinn zusammengeschlossen. ln dem Wort »Ich bin das Brot des Lebens« erschliesst das Brot das Ich des Christus. Was als Brot bekannt ist, bedeutet mehr, als was es in Wirklichkeit darstellt. Es sagt etwas über Christus. Es steht für da..;; Geheimnis, dass in der Welt immer wieder Leben gewährt wird. Eben dieses Geheimnis ist in Christus Mensch geworden. Er ist der Geber des Lebens, sagt das zum Sprechen gebrachte Brot. Andererseits erschliesst das Ich des Christus das Brot. Bemerkenswert ist ja, dass das johanneische Brotwort die menschliche Unersättlichkeit- gerade auch die Unersättlichkeit an Weisheit - nicht einfach interpretiert als einen Ausdruck für ein Defizit an Leben. Es sieht in der Unersättlichkeit vielmehr ein Indiz dafür, dass das Leben ganz verfehlt worden sei. Verfehlt eben darin, dass der Lebensunterhalt mit dem Leben selbst verwechselt worden ist. Anders gesagt: Verfehlt darin, dass das, was ich mir erwirken kann, verwechselt wird mit dem, was ich nur empfangen kann. Dem alltäglichen Brot wurde zugemutet, das wahre Leben zu bringen. Oder dem Himmelsbrot wird aufgetragen, Himmelsbrot zu bleiben. Das johanneische Brotwort führt das Himmelsbrot mit dem alltäglichen Brot zusammen, so wie es den Geber mit seiner Gabe ganz zusammenführt. Also erschliesst der Christus in dem alltäglichen Brot die Bedeutung, dass auch in ihm der göttliche Geber Leben gewährt. Die Zeichenforderung will nichts anderes als die personale Gegenwart des Lebensbrotes verhindern. Eben deshalb kommt den noch folgenden Versen (36-40) alles darauf an, die Einheit des Vaters mit dem
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Sohn herauszustellen. Hierbei handelt es sich keineswegs um metaphysische Spekulationen, sondern um den notwendigen Versuch, die Menschwerdung Gottes in Jesus zu denken. Das beginnt damit, dass Christus selbst als das Zeichen schlechthin verstanden wird (V. 36 ). Es geht weiter damit, dass der Sohn keinen von sich stösst, den ihm der Vater gegeben hat (V. 37). Es folgt die Feststellung, dass das Tun Jesu mit dem Willen des Vaters identisch ist (V. 38), und zwar mit dem Willen zur Auferweckung vom Tod zum Leben (V. 39). Und es endet damit, dass das ewige Leben, das ja nur eine Gottesgabe sein kann, im Sehen des Sohnes empfangen wird (V. 40). Man kann selbstverständlich alle diese Aussagen gleichsam von oben herab verstehen, ganz so, als ob die Erscheinung des Irdischen verblassen müsste im göttlichen Licht. Die eigentliche Pointe dieser Sätze liegt aber genau umgekehrt darin, dass der Irdische transparent wird für das göttliche Licht, das keine andere Gestalt als eben die seine zum Leuchten bringt: Wer diesen Sohn sieht, sieht den Vater.
1.4 Das Missverständnis der natürlichen Herkunft (V. 41-51 b) Die Dialogpartner geraten sogar ins Schimpfen. Wie einst die Wüstenwanderer über den Befreiungsakt Jahwes murrten, murren sie jetzt über die Anwesenheit Gottes. Erstmals in diesem Kapitel werden sie identifiziert als »die Juden«. Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass die messianische oder auch die gesetzliche Position der johanneischen Gemeinde faktisch vonseiten ihrer jüdischen Umwelt entgegentrat47. Der messianische Glaube, wonach der Mensch Jesus der Messias Gottes nicht sein kann, weil die Ankunft Gottes auf das Ende der Zeiten verschoben wird, ist nach wie vor der kritische Punkt, an dem sich die Geister von Christen und Juden scheiden müssen. Ginge es dabei bloss um ein religionspolitisches Problem, so könnte die Sache auf sich beruhen bleiben. In Wahrheit aber geht es um jenen qualitativen Sprung, welcher die Distanz zwischen Gabe und Geber vollends aufgibt, um den Schritt vom messianischen zum christologischen Gottesverständnis. Da stehen nicht bloss religionspolitische Vordergründigkeilen auf dem Spiel, sondern die elementare Frage nach der Situation des Menschen in der Welt.
•7
Wengst. Bedrängte Gemeinde 62-73.
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Man muss sich freilich vor der Illusion hüten, als könnte man den Messianismus an das Judentum delegieren. Die Juden stehen hier zwar auch ftir die faktischen Einwände der Umwelt, sie stehen aber nicht weniger für die Einwände gegen die Menschwerdung Gottes, welche ihren Ursprung im Herzen der christlichen Gemeinde haben. Gerade das Johannesevangelium legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, wie naheliegend der Einspruch gegen den christologischen Umschwung ist. Der Messianismus, der Gott nicht in diesem konkreten Menschen zur Welt kommen lässt, ist natürliche Theologie par excellence, das heisst eine Theologie, die sich weltlich begründet (vgl 1Kor 1, 18-25). »Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten ... « 48 • So hatte es schon der natürliche Theologe David Friedrich Strauss formuliert. Jesus, ein grosser Mann, das gerne; ein Künder von Gott, in der Tat; aber doch nicht Gott in Person! So lautet natürliche Theologie in moderner Selbstverständlichkeit. Der Schritt vom Messianismus zur Christologie ist alles andere als selbstverständlich. Und dennoch verspricht die Christologie eine natürliche Theologie. Das Murren der Wüstengeneration richtet sich vordergründig gesehen gegen Jahwe. Aber es richtet sich gegen seinen Befreiungsakt und damit gegen die Murrenden selbst. Im Johannesevangelium erscheint das Murren als ein Versuch, der Nähe Gottes zu widerstehen. Das Murren gilt eigentlich der Inkarnation. Wie kann einer Himmelsbrot sein wollen, wo wir doch seine natürliche Herkunft genau kennen? Die natürliche Herkunft wird - wie schon das Brot - auf ihre Natürlichkeit beschränkt (V. 42f). Nur deshalb steht sie im Widerspruch zum Himmelsbrot. Genauso wie das Brot mehr bedeutet als es darstellt, ist in dieser natürlichen Herkunft Jesu die Herabkunft des himmlischen Brotes (V. 41 Ende) wahrzunehmen. Dies ist die Wahrnehmung des Glaubens, der mit Jesus Gott selbst zu Welt kommen lässt. Dieser Glaube aber ist selbst das Leben, das der Menschensohn auszuteilen hat. Deshalb ist das Murren ein Murren gegen eigene Lebendigkeit, ein Verstoss gegen die wahre Lebendigkeit des Menschen. Ein solcher Glaube stellt keine menschliche Möglichkeit dar. Niemand kann sich selbst zum Lachen bringen. Deshalb sieht V. 44 das Geheimnis des Glaubens darin, dass er das Werk Gottes ist (vgl auch
'M Strauss, Leben Jesu II 734.
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V. 29). Damit wird freilich auch dem Unglauben sein göttliches Geheimnis gelassen (im Gegensatz etwa zur gegenwärtigen Praxis. welche fehlendes Bewusstsein der Bosheit oder gar der Dummheit der betreffenden Menschen zuschreibt und anlastet). Im Schriftzitat (V. 45) wird festgehalten. dass es eine Zeit geben wird, da alle von Gott selbst gelehrt sein werden. Diese Zeit ist nach Johannes gekommen, denn jetzt ist Gott in Person da. Was er zu lehren hat, lehrt er ohne jede Vermittlungsinstanz wie Gesetz, Mose oder Weisheit (vgl 1,18). Dies geschieht deshalb, weil Gott seine Distanz zur Welt vollends aufgegeben hat (vgl die Endzeithoffnung in Jer 31,31 fO. Jetzt gibt es Gottesgelehrte, deren Gelehrsamkeit Gott nicht zum Gegenstand, sondern zum Urspung hat. Gott selbst erzieht sie zur Erkenntnis seines Wortes in den Worten Jesu. Er erzieht sie zur Wahrnehmung des himmlischen Brotes in diesem natürlichen Menschen. Mit dem Gedanken der Inkarnation ist ein Gedanke verbunden, der nach Exklusivität aussieht (V. 46 ). Es geht ihm freilich nicht um den Ausschluss anderer aus dem Sehen Gottes, sondern vielmehr darum sicherzustellen, dass in diesem Menschen Gott zu sehen und zu hören ist. Was exklusiv tönt, ist bloss die logische Konsequenz aus dem Gedanken der Menschwerdung Gottes. Die Tatsache. dass Jesus der »Exeget« Gottes und damit die Vergegenwärtigung des niemals gesehenen Gottes ist, impliziert zwar einen Einspruch gegen die universale Definitionsmacht der Tora (vgl. I, 17). Der Einspruch gegen die universale Definitionsmacht bedeutet jedoch keineswegs die Behauptung. Gottes Wort spreche nicht aus der Tora (vgl. 1.45: 3,14; 5,450: würde die Tora mit den rechten Augen gelesen. könnte auch in ihr der Gedanke der Menschwerdung gefunden werden. Und diesem wiederum geht es um nichts anderes, als um die Verbindlichkeit. mit welcher hier das Leben - verstanden als Gemeinschaft mit Gott - gegeben wird: Aus der exklusiven Verbindung des Vaters mit dem Sohn ergibt sich die absolute Verbindlichkeit der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen. Die Gabe des Lebens (V. 47-51) hängt vom Glauben ab. Sie hängt davon ab, ob ich diesen Menschen Gott sein lasse und mir seine Selbsthingabe zugute kommen lasse, oder aber ob ich mir die Gottesbegegnung vom Leibe halte durch die natürliche Theologie des Messianismus oder des Idealismus.
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1.5 Das harte Wort (V. 60-65) Wie naheliegend es ist, in den eben aufgetretenen Juden den personifizierten Zweifel der johanneischen Christen zu sehen, zeigt der vorliegende Abschnitt, in welchem die Jünger ausdrücklich in das Murren einstimmen. Als hart bezeichnen sie dieses Wort, als ein Wort, das niemand hören kann (V. 60). Da wir davon ausgehen, dass die eucharistische Rede erst zu einer späteren Schicht gehört, bezieht sich dieses Murren auf V. 41-5lb zurück. Mit dem »harten Wort« dürfte dann am ehesten der Anspruch Jesu gemeint sein, vom Himmel herabgekommenes Lebensbrot zu sein (V. 50). Dieser Anspruch besteht darin, dass Gott in seiner ganzen Göttlichkeit persönlich anwesend sei in der offensichtlichen Menschlichkeit dieses Menschen. Dieses Wort schmerzt in den Ohren, weil es unerhört ist. Geschichten von herabsteigenden Göttern gibt es viele. Aber sie stören nicht, weil sie die Götter Götter und die Menschen Menschen sein lassen. Sie nehmen den Göttern auch beim Herabsteigen ihre Göttlichkeit nicht weg, was sich in einer übernatürlichen Herkunft niederschlägt. Ein hartes, störrisches, sperriges Wort dagegen ist der Logos von der Menschwerdung Gottes, weil es Gottes Gestalt an einen Menschen bindet, der nicht beliebig formbar ist durch den menschlichen Gestaltungswillen. Darüber ärgern sich die Jünger: dass die Herabkunft des himmlischen Brotes als natürliche Herkunft aus Nazareth gedacht werden muss. Jesus geht in eigenartiger Weise auf diesen Ärger ein. Das ärgert euch schon? Wie wird erst der Aufstieg des Menschensohns zum Anstoss werden ftir euch! Die Unerträglichkeil des Aufsleigens muss dieselbe sein wie die des Herabsteigens. Deshalb wird der Skandal konstituiert sein durch das »natürliche« Ausscheiden Jesu aus der Welt. Sein Aufstieg ist, wie jedermann weiss und sehen kann, ein Aufstieg ans Kreuz 49 • Im Weg an das Kreuz die Rückkehr des Sohnes zum Vater zu erkennen, ist ein skandalöser Gedanke. Hier blitzt die johanneische Kreuzestheologie auf, die jedoch jetzt nicht weiter zu entfalten ist. Wie hängt die Fortsetzung damit zusammen? Das Wort über das nutzlose Fleisch und den lebendigmachenden Geist klingt im ersten Moment wie ein primitiver dualistischer Satz über die Abwertung des
• 9 Mit Buhmann. Johannes 341. Das challai.ntv nimmt Bezug auf das m111111ai.vetv in 6.33.38.41 f.50f: es wird inhaltlich gefüllt mit ;.-~t ans Kreuz. vgl 3.14: 8.28: 12.32.34 (an sämtlichen Stellen. wo Erhöhen vorkommt. ist damit die »Erhöhung« ans Kreuz gemeint).
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Aeischesso. Allerdings muss zunächst der Versuch gemacht werden, den Satz in seinem jetzigen Zusammenhang zu verstehen. Dann ist das Wort Jesu, welches identifiziert wird mit dem lebendigmachenden Geist, die eben besprochene Deutung von Herabkunft und Hinaufsteigen des Menschensohns. Seit der Herabkunft Gottes unter natürlichen Umständen und seit der Himmelfahrt Gottes im widerwärtigen (Kreuzes)Tod ist das wahre Verbrechen gegen die Majestät Gottes die Bestreitung seiner Menschlichkeit. Darum ist das Wort von der Menschlichkeit Gottes der Geist, der Leben schafft, während die mannigfaltige Bestreitung dieser Menschlichkeit das Fleisch ist, das nirgendwo hinführt. So gesehen ist dieser Satz (V. 63) mit dem ganzen Kapitel eng verwoben und rekapituliert den entscheidenden Punkt aller Gedankengänge, wie die folgende Zusammenstellung der Hauptgesichtspunkte zeigt: Sarx ist die Vereinnahmung des Wundertäters zum politischen Messiaskönig, Pneuma ist der Rückzug Jesu zugunsten der Christologie (V. 14f). Sarx ist die Beschränkung des Brotwunders auf die Sättigung, Pneuma ist die Entdeckung des Semeion in diesem Geschehen (V. 26). Sarx ist die verderbliche Speise des auf das Weltliche beschränkten Brotes, Pneuma ist die bleibende Speise, in welcher der göttliche Geber präsent ist (V. 27). Sarx ist die werktätige Vergegenwärtigung Gottes, Pneuma ist die Wahrnehmung Gottes im Glauben (V. 28f). Sarx ist die Zeichenforderung, die den Himmel weltlich festlegt, Pneuma ist die unbedingte W ahmehmung dieses Zeichens Christus (V. 30.36). Sarx ist die Distanzierung der Gabe vom Geber, Pneuma ist die Identifizierung von t..,m und Himmelsbrot (V. 34f). Generell könnte man sagen: Das Fleisch ist gekennzeichnet durch die weltliche Selbstbeschränkung und Beschränktheit, der Geist ist gekennzeichnet dadurch, dass er den Gottesbezug des Geschehens aufdeckt. Das ist die Entdeckung am Aeisch, die durch diesen Geist gemacht werden kann: es bringt nichts hinsichtlich des Lebens. Das wahre Leben ist eine Frucht des Geistes. Immer wieder wird der Bereich des Weltlichen damit belastet, das wahre Leben erbringen zu müssen. Die Entdeckung des Geistes lautet aber: das Weltliche gehört zum Lebensunterhalt, das Geistliche dagegen zum Lebensgewinn. Immer wieder schliesst sich der Bereich des Weltlichen gegen Gott ab, manchmal im 50 Er ist »hermeneutisch« zu verstehen (mit Blank. Johannes Ia 381 f). nicht christologisch (gegen Schnackenburg. Johannesevangelium II 105f). Dualistisch kann er freilich schon wegen 1.14 nicht sein (mil Buhmann. Johannes 342).
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Namen der Majestät Gottes, manchmal auch im Gewand der weltlichen Selbstbescheidung. Die Entdeckung des Geistes aber lautet: das Wort wurde Fleisch (1,14). Daraus erkennt man: Die Dimension der Nutzlosigkeit des Fleisches wird nicht theoretisch entdeckt, sozusagen in der Reflexion auf die Untauglichkeit des Fleisches. Die Dimension der Nutzlosigkeit wird vielmehr so entdeckt, dass dem Menschen nicht etwas abgesprochen, sondern vielmehr zugesprochen wird. Der Geist spricht dem ganz und gar weltlichen Menschen das Leben Gottes zu, und eben deshalb ist es nutzlos geworden, dieses Leben als Produkt des Fleisches zu erjagen. Diese Asymmetrie ist ausserordentlich kennzeichnend ftir die Theologie des Johannesevangeliums. Die Nutzlosigkeit des Fleisches ist selbst nur eine Erkenntnis in der Situation des gegebenen Geistes. Das Fleisch nützt nichts, weil es nicht über sich selbst hinauskommen muss. Gott hat es ja der Gabe des Lebens gewürdigt, indem er selbst Fleisch geworden ist. Der Mensch wird nicht mehr im Himmel erwartet, da der Himmel ihn inmitten des Fleisches zu treffen sucht. Es ist evident, dass solche Entdeckungen auf den Widerspruch des Fleisches stossen; der Glauben ist - wie V. 64f noch einmal festhalten- alles andere als selbstverständlich. 1.6 Das provozierte Bekenntnis (V. 66-71)
Das harte Wort bedeutete für viele Nachfolger einen Skandal. Dementsprechend redet der vorliegende Abschnitt von einer grösseren Krise im Kreis der Nachfolger. Diese Krise hat historischen Hintergrund, sowohl was den Gang der Ereignisse um den irdischen Jesus betrifft~1 als auch hinsichtlich des Geschicks der johanneischen Gemeinde, die unter zunehmenden Druck vor allem von seiten ihrer jüdischen Umwelt kam 52 • Interessant ist der Ausdruck des Abfallens:
Mil Blank. Johannes Ia 383. Dazu Wengsl. Bedrängle Gemeinde 74-93.
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über dem Tod. Anthropologisch gesprochen zeigt sich darin die grundlegende Asymmetrie, dass der Mensch sich das Leben niemals geben, sondern immer nur nehmen kann. In dieser Situation des drohenden Rückschritts wird der enge Jüngerkreis, die Zwölr\ zu einem Bekenntnis provoziert. An sie richtet sich die Frage, ob sie auch gehen wollen. Wie in der synoptischen Tradition antwortet auch hier Petrus anstelle der Zwölf. Neben einem recht seltenen Bekenntnis zum Heiligen Gottes, den die Jünger erkannt und an den sie geglaubt haben, bringt diese Petrusantwort zum Ausdruck, dass das Weggehen auf jeden Fall ein Rückschritt sein müsste. Wohin sollten sie denn gehen, wenn sie hier die Worte des Lebens bekommen haben? Mehr als wahr kann das Leben nicht sein. Mehr als ein Wort, das zu diesem wahren Leben führt, kann es nicht geben. Interessant ist - nebenher gesagt - das Licht, das diese Geschichte auf das Phänomen des Bekenntnisses wirft. Das Bekenntnis hat als Bekenntnis des Glaubens seinen Ort weder in der Abgrenzung noch in der Selbstdarstellung, sondern dort, wo man sich darüber verständigt, was man verlieren könnte an diesem Glauben. Das Bekenntnis hat dort seinen Ort, wo man sich gemeinsam vor Rückschritten zu bewahren versucht. Der Rückschritt ist immer eine Möglichkeit des Menschen, wenn auch eine selbstzerstörerische, eine satanische Möglichkeit. Diese Möglichkeit wird angedeutet durch den Hinweis auf den kommenden Verrat des Judas. Bekenntnis und Verrat gehören viel näher zusammen als sich dies Bekenner und Verräter eingestehen wollen. Der »Teufel« Judas- sicher hat er die ehrenwertesten und vernünftigsten Gründe für sein Handeln gehabt - veranschaulicht gleichzeitig die Zerbrechlichkeit des Fleischgewordenen wie auch die Fragilität des Glaubens an ihn. 1.7 Das Verständnis des Abendmahls (V. 51c-58.59) Es ist ein hervorstechendes Merkm'al des Johannesevangeliums, dass es eine grosse Sensibilität für den Abschied des Menschensohnes hat. Dies hängt eng mit dem inkarnatorischen Ansatz zusammen. Das Pathos inkamatorischer Theologie liegt zunächst darin, dass die Begegnung mit dem Fleischgewordenen alles entscheidet (nicht etwa eine von seinem Leben unterscheidbare Lehre als Information über den im H Die »Zwölf« erscheinen nur in 6.66--71 und 20.24 (Thomas. einer der ZwöiO. was durch die Verwandtschaft mit dem Petrusbekenntnis von Mk 8.27-33 bedingt ist: vgl Haenchen. Johannesevangelium 339-341.
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Himmel verbliebenen Gott). Doch impliziert gerade der Gedanke der Menschwerdung Gottes nicht nur dies, sondern auch das andere, dass die Begegnung mit dem Fleischgewordenen an einen geschichtlichen Augenblick gebunden ist und bleibt. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit das Problem der Vergegenwärtigung seiner Person (nicht seiner Lehre). Einen imposanten Versuch, dieses Problem zu lösen, stellen die johanneischen Ab&ehiedsreden dar, namentlich die Vorstellung vom Parakleten. der für die Gegenwart des Abgeschiedenen sorgt. 54 Ein weiterer Versuch begegnet uns hier in der eucharistischen Interpretation der Brotrede. Hatte die Brotrede in der Identität von Himmelsbrot und Ich des Fleischgewordenen gegipfelt, so stellt sich mit Notwendigkeit die Frage, wie dieser denn in der Zeit der Kirche, also in der Zeit der johanneischen Gemeinde, zur dauerhaften Nahrung werden könne. Darauf gibt der eucharistische Abschnitt eine Antwort. Zunächst wird in V. 51 c einleitend festgehalten, dass der Menschensohn sein Fleisch geben wird für das Leben der Welt. Hinter dieser Anspielung auf den Kreuzestod 55 steht auch der Satz von der Fleischwerdung des Wortes (1,14 ). Das Fleisch meint die weltliche Erscheinung Jesu, seine Geschichte. Es bringt die Materialität seines Kommens unüberhörbar zum Ausdruck, deutlicher wohl noch als das in der Abendmahlsüberlieferung gebräuchliche om~s 6 • Der in V. 52 ausgesprochene Einwand ist nicht ganz eindeutig 57 • Er stellt die Unmöglichkeit dessen fest. dass Jesus seine Person im Mahle darreicht. Spricht dieser Einwand dem Brot des Abendmahls die Möglichkeit ab, Jesus zu vergegenwärtigen? Beschränkt er das Brot wiederum auf seine weltliche Materialität? Bestreitet er, dass dieses Brot überhaupt Leben bringen kann? Dafür könnte die Antwort sprechen, in welcher in schroffer Einseitigkeit der Empfang des Lebens gebunden wird an das Essen und Trinken des Fleisches und des Blutes Jesu (V. 53). Bei diesem Brot und
~· Sache des Parakleten ist es ja. »im Namen Jesu« alles zu lehren und an alles zu erinnern, was Jesus sagte ( 14.26). Zeugnis abzulegen über Jesus ( 15.26). ~~ Mit Blank. Johannes Ia 373f. ~~~Umstritten ist. wie es zur Auswechslung des aitJa durch die Glil( kam. vgl Schnackenburg. Johannesevangelium II 84. Jedenfalls dürfte die Aussage von der Fleischwerdung des Logos ( 1.14) damit zusammenhängen: das Abendmahl wird inkamatorisch verstanden (umgekehn: Borgen. Bread 186). ~ 7 Vgl Schnackenburg. Johannesevangelium II 90. Unklar ist. ob der Vorwurf rein gegen das Fleischessen und Bluttrinken geht. oder ob damit die Unsinnigkeit der eucharistischen Vergegenwänigung des Fleisches Jesu angesprochen ist.
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Wein geht es um das Fleisch und Blut Jesu. In diesen Elementen ist das Geschick Jesu gegenwärtig. Im Geschick Jesu aber ist Gott gegenwärtig. Also erschafft dieses Mahl die Gemeinschaft mit Gott, welche identisch ist mit dem wahren Leben. Mitspielen mag hier auch eine Abgrenzung gegen eine doketische Verflüchtigung des Abendmahls, welche den Empfang des Lebens weder an dieses materielle Essen noch an die Materialität des menschgewordenen Gottes binden mochte~ 11 • An der Materialität des Essvorgangs darf nicht gerüttelt werden, wie die Wortwahl ('tpCI)oymv) in V. 54 andeutet. Dieselbe Betonung der Materialität erscheint noch einmal in V. 55, wo es um die Wahrheit von Essen und Trinken geht. V. 54 bringt eine interessante Kombination von Gegenwarts- und Zukunftsaussage. Diese Kombination sollte nicht vorschnell Anlass zu literarkritischen Operationen sein. Gewiss, solange man die l;mil aicOvux; gleichsam als Substanz versteht, welche in den Menschen eingeht, besteht zwischen der Auferstehungsaussage und der präsentischen Gabe des ewigen Lebens ein unausgleichbarer Widerspruch. Kommt aber Paulus, wo literarkritische Operationen ausgeschlossen sind, nicht auch ganz in die Nähe dieses Widerspruchs, wenn er gleichzeitig von der jetzigen Ankunft des Kairos und von der künftigen Auferstehung spricht5 9 ? Versteht man das ewige Leben dagegen als Relationsbegriff, als Relation des Menschen zu Gott, dann wird der Widerspruch aufgelöst: Das ewige Leben, das jetzt zu haben ist, ist ein Gottesverhältnis unter den Bedingungen der Zeitlichkeit; und das Leben, zu dem der Menschensohn auferwecken wird, ist ein Gottesverhältnis unter den Bedingungen der Ewigkeit. Die Kontinuität verdankt sich - das wird in der Auferweckungsaussage deutlich festgehalten - nur dem Geber selbst, der unter den Bedingungen der Zeitlichkeit kein anderes Verhältnis zum Menschen hat als unter den Bedingungen der Ewigkeit. Wieso dann aber eine solche Kombination? Vielleicht könnte man sagen, dass die Zukunftsaussage die Gegenwart davor bewahrt, zum mythologischen Jetzt zu werden, in welchem das ewige Leben sozusagen aufgeht. Die Gegenwart wird ihrer Zeitlichkeit entkleidet, wenn sie zum Ende aller Wege Gottes mit dem Menschen gemacht wird. In diesem
~ 8 Angedeutet in der Auseinandersetzung des lgnatius mit seinen Gegnern. vgl Blank. Johannes Ia 376f. Eine antidoketische Spitze wird von Becker. Johannes I 222f bestritten (ohne eigentliche Argumente). ~ 9 Vgl Bomkamm. Paulus 203-207.
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Zusammenhang bedeutet die Zukunftsaussage eine Entmythologisierung des Jetzt, indem sie an die Zeitlichkeit des Jetzt angesichts des Künftigen erinnert. Umgekehrt schützt die Gegenwartsaussage die Auferweckungsthese davor, die Wahheit des Lebens auf das unverbindliche Dann zu verschieben. Solches Verschieben ist ja immer wieder eine schamlose Ausbeutung der menschlichen Fähigkeit zur Hoffnung gewesen. Es kann ein leeres Versprechen sein. Die Gegenwartsaussage sorgt dafür, dass das Wort des Lebens auf seine Wirksamkeit hier und jetzt zu behaften ist. Sie sorgt mit anderen Worten für die Entmythologisierung des Dann, indem sie dem leeren Versprechen entgegentritt, von welchem der Mythos des Dann stets lebt. Auch diese Verhältnisbestimmung von Jetzt und Dann setzt voraus, dass Leben in seiner Wahheit begriffen wird als Gottesverhältnis. Dieser Interpretation kommt V. 56 entgegen, wo das Essen und Trinken unmissverständlich in den Zusammenhang der Gemeinschaft mit dem Menschgewordenen gestellt wird 60 • Diese Gemeinschaft wird als Verhältnis des Ineinander-Bieibens ausgedrückt. Das J,.LtvEtv unterstreicht noch einmal, dass dieses Verhältnis sowohl unter zeitlichen als auch unter ewigen Bedingungen gilt. Seine Verbindlichkeit beruht darauf, dass im Christusverhältnis das Gottesverhältnis konstituiert wird, wie V. 57 präzisiert: Die Lebendigkeit des Vaters besteht in der Sendung des Sohnes, dessen Lebendigkeit im Gesandtsein besteht. Der Lebensvorgang wird dynamisch gedacht als Hingabe des Lebens zugunsten des Lebens der Welt. ln eben diesem Mahl, wo jene Hingabe gefeiert wird, setzt sich der Lebensvorgang dynamisch fort bis zu den Menschen. Das Leben selbst besteht darin, dass es ausgeteilt wird; als Privatbesitz kann es gar nicht gedacht werden, wie schon der Prolog festgehalten hat 61 • Dank dieser Dynamik des Lebens, welche in dem Abendmahl Gestalt annimmt, entsteht für den Essenden ewiges Leben (V. 58). Auch dieser eucharistische Abschnitt ist also zu begreifen als auf seine Weise konsequente Fortsetzung des in diesem Kapitel angefange-
110 V. 56 interpretien. bei gleichem Anfang. die c;,.'l al.alvuw; von V. 54 mit dem J.llveu• des E~ senden in Christus bzw des Christus im Essenden. ~ 1 Das Leben. das im Logos beschlossen ist. ist ausgeteiltes Leben. sofern es das Licht der Menschen ist ( 1.4f vgl 9). Ähnlich spricht auch I Joh von der zu Gott hin gerichteten c;,.'l a\alvuw;. welche nun offenbar (d.h. Ereignis) geworden ist in der Gemeinschaft der Glaubenden mit Gott ( IJoh 1.2f).
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nen Reflexionsvorgangs. Damit widerspreche ich der häufig geäusserten These, Brotrede und Eucharistieabschnitt seien eigentlich unvereinbar-62, was insbesondere aus dem Fehlen von m.cnEUelV in V. 51c-58 geschlossen wird. Statt das Wort gegen das Sakrament auszuspielen. wäre es wohl aussichtsreicher, Wort und Sakrament einander zuzuordnen. Gewiss ist das Wort angewiesen auf Glauben; aber darin unterscheidet es sich nicht vom Sakrament, dessen Selbstwirksamkeit nicht so gedacht werden kann, dass der Essende dabei übergangen wird. Andererseits erschliesst das Sakrament, welches ja nichts anderes ist als das mit Händen zu greifende Wort, seinerseits die sakramentale Dimension des Wortes: Der Glaube ist jenes Werk Gottes, das vom Wort gewirkt ist. Das Wort teilt genauso Leben aus wie das Sakrament. Auszuspielen ist also nicht das Wort gegen das Sakrament; vielmehr ist die kritische Frage: Geht es im Wort und im Sakrament noch um das Leben, das Christus verkörperte? 1.8 Der Gedankengang von Kapitel 6 Überblicken wir die vorgetragene Auslegungsskizze, so lässt sich ein stringenter, stetig fortschreitender Gedankengang gut erkennen. Er beginnt damit, dass im Brotwunder das Zeichen der Messianität Jesu gesehen wird, was wiederum den Messias erschliesst als Austeiler von elementaren Lebensmitteln (V. 1-14 ), und beispielsweise nicht als endzeitlicher Vernichter aller Bösen. Ein weiterer Schritt will die Messiaserwartung dahin führen, wo sie sich von diesem Messias her verwandeln lässt (V. 15). Hier wird der entscheidende Schritt vom Messianismus zur Christologie angezeigt. Es folgt das Zusammendenken des Sättigungsaspekts und der Gottesrelation in demselben Brot, das recht verstanden nicht nur sättigt, sondern auch das Gottesverhältnis des Menschen zur Erfahrung bringt, also wahres Leben schafft (V. 22-29). Im nächsten Schritt geht es um die Überwindung der Zeichenforderung, welche auf mannigfaltige Weise den Himmel von der Erde fernhält, indem sie die Gabe vom Geber distanziert. Mit der Identifikation von f.ym und Brot des Lebens erfolgt der qualitative Sprung der Christologie: In Christus gibt Gott nicht irgend etwas, sondern sich selbst (V. 30-40). Dieser Wahrnehmung stellt sich der Abgrund entgegen, der zwischen natürlicher Herkunft Jesu und Herabsteigen des Himmelsbrotes klafft.
~>2
Becker, Johannes 1219-221; Richter, Studien 101-112.
2 Zur Auslegung des Johannesevangeliums
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Dieser Abgrund wird überwunden, indem in der natürlichen Herkunft das Herabsteigen vom Himmel gesehen wird; damit ist das inkarnatarische Denken in Gang gesetzt (V. 41-51 b ). Diese Identität von Herkunft und Herabkunft wird gesteigert durch die Identität von widerwärtigem Tod Jesu und Hinaufsteigen in den Himmel. Jetzt wird die Inkarnation nicht mehr allgemein gedacht (Gott wurde ein Mensch), sondern konkret (Gott wurde dieser Mensch), was die menschlichen Phantasien und Wünsche selbst vom Himmel herabsteigen und diesem Weg Jesu ausgeliefert sein lässt (V. 60--65). Jedes Verlassen dieser lebenspendenden Gemeinschaft müsste einen Rückschritt darstellen, vor dem das Bekenntnis bewahren will (V. 66-71). Schliesslich spricht der eucharistische Abschnitt vom Eingehen des Menschgewordenen in das Mahl, das eine Stiftung seiner Hingabe ist. Auf diese Weise wird die inkarnatarische Theologie fortgesetzt in die sakramentale Erfahrung der Gemeinde (V. 51 c-58). Damit ist der Gedankengang abgeschlossen, ein Gedankengang - wie mir scheint - von grassartiger innerer Konsequenz und Schönheit.
2 Zur Auslegung des Johannesevangeliums In diesem letzten Abschnit soll der Versuch gemacht werden, die in der Auslegungsskizze von Joh 6 gemachten Beobachtungen ftir die Auslegung des gesamten Johannesevangeliums fruchtbar zu machen. Ich konzentriere mich dabei auf drei Hauptebenen: die Ebene der Theologie beziehungsweise Christologie, die der Religionsgeschichte und die der Hermeneutik. 2.1 Die Menschwerdung Gottes Analyse und Interpretation des sechsten Kapitels haben gezeigt, dass der entscheidende Denkansatz des Johannesevangeliums die Inkarnation ist. lnkarnatorische Christologie lässt sich in allen Traditionsschichten des Evangeliums beobachten, angefangen bei den Vorstufen wie etwa des Prologs oder der Sendungsformel (3,16) über die grossen Reflexionsgänge in den Reden bis hin zur sogenannten kirchlichen Redaktion. In allen Schichten geht es gleichermassen um die Menschwerdung Gottes, auch wenn verschiedene Reflexionsstufen durchaus unterscheidbar sind. Entgegen anderslautenden Thesen muss also nach wie
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vor Joh 1,14a (Das Wort ward Aeisch) als Schlüssel zum ganzen Johannesevangelium betrachtet werden63 • Theologiegeschichtlich gesehen ist noch einmal beim grossen Kommentar von Rudolf Bultmann anzuknüpfen, der bekanntlich den Inkarnationsgedanken zum Zentrum des Evangeliums machte64 • Allerdings ist in dieser Sache Bultmann gegen sich selbst kritisch in Anschlag zu bringen. Es erhebt sich die Frage, inwiefern Bultmann in der Durchführung seines Inkarnationsgedankens diesem gerecht geworden ist. Bultmann arbeitet auf vielerlei Weise immer das eine heraus, dass ein bestimmter historischer Mensch zur Rede von der Menschwerdung Gottes ermächtigte. Dennoch hält er zugleich fest, dass der Offenbarer bei Johannes eine strikte Unanschaulichkeit besitzet>s. Das entscheidende Paradox liegt in der Menschwerdung selbst, nicht etwa im Eingehen Gottes in dieses bestimmte Menschsein. Deshalb offenbart der Offenbarer Gottes nichts anderes, »als dass er der Offenbarer ist« 66 • Mit dieser Konzentration auf das Dass der Menschwerdung wird der von Bultmann selbst herausgestellte Gedanke, dass ein bestimmter historischer Mensch Ursprung dieser Rede von der Inkarnation sei, wieder unterlaufen. Die Menschwerdung wird allgemein gedacht: Gott ist ein Mensch geworden. In diesem allgemeinen Gedanken emanzipiert sich die Auslegung vom konkreten Menschsein Jesu und umgeht dadurch das harte Wort, das die menschliche Gestalt Gottes dem menschlichen Gestaltungswillen dadurch entzieht, dass es sie an das Menschsein Jesu bindet - an seine natürliche Herkunft, an seine zufällige Geschichte, an seinen widerwärtigen Tod. Gerade das sechste Kapitel zeigt auf mancherlei Weise, dass der Inkarnationsgedanke seine Vollendung erst durch das Wie des Menschseins Jesu findet. So wird beispielsweise ausgegangen vom Brotwunder, einer Geschichte, die für den Evangelisten das Wie der Existenz Jesu zur Sprache bringt. Auch wenn dieses Brotwunder gesteigert wird bis hin zur Ich-bin-Aussage, wird es dadurch dennoch nicht entbehrlich. Es gilt von allen Semeiaerzählungen, die in dieser Art 6 ~ Weder eine tradilions- noch eine religionsgeschichtliche Relativierung dieses Satzes. wie sie in neueren Arbeiten vorgenommen wird (zB Becker. Johannes I 75-80; Schollroff. Der Glaubende 271-283). ist dem Evangelium angemessen. M Für Buhmann. Johannes 41. ist mit 1.14a das »Thema« des Evangeliums fonnulien; dies bezeichnet zugleich den Schritt vom Mythos zum Logos (38-43 ). M Buhmann betrachtet es als »pietistisches Missverständnis«, wenn dem Menschgewordenen »Anschaulichkeit« zugeschrieben wird (Johannes 43). f>f> Buhmann. Johannes 418 (gesperrt).
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für die johanneische Theologie ausgewertet werden, dass sie nicht bloss formale Aufhänger für die nachfolgenden Ich-bin-Aussagen darstellen, sondern dass sie gerade für das tym des Christus aufschlussreich bleiben. Die Speisung ist nicht nur dazu da, das Faktum der göttlichen Gegenwart in Christus aufzuzeigen, sondern ebenfalls dazu, diese göttliche Gegenwart zu präzisieren als überraschende Austeilung des Lebens in der Gestalt des Brotes und des Wortes. Unterstrichen wird dieser Charakterzug deutlich dadurch, dass nicht bloss das Faktum der natürlichen Geburt, sondern vielmehr die Herkunft aus der Familie des Joseph und der Maria, und nicht bloss das Faktum des menschlichen Todes, sondern vielmehr die konkrete Gestalt der Erhöhung ans Kreuz67 herausgestellt werden. Das ganze Kapitel ist um nichts anderes bemüht als um die Konkretheil der Menschwerdung Gottes. Und es erscheint in diesem Zusammenhang als ein groteskes Missverständnis, wenn die Christologie des Johannesevangeliums als naiver Doketismus bezeichnet wird611 • Diese These isoliert einen - gewiss vorhandenen -Aspekt, denjenigen der Doxa, und widersetzt sich damit gerade dem Grundzug johanneischer Theologie, welche Himmel und Erde zusammenhalten will. Im sechsten Kapitel ist dies deutlich geworden, es wird nicht weniger deutlich etwa im Gebrauch des Wortes i>\jiO)"'lval, wo die Erhöhung ans Kreuz und die Erhöhung in den Himmel zur unauflöslichen Einheit verschmolzen sind, oder des Wortes mpa, in welchem die Stunde des Triumphs an die Stunde des Todes gebunden wird. Wir können im sechsten Kapitel beobachten, wie alle sprachlichen Mittel aufgewendet werden, damit Himmel und Erde zusammengedacht werden. Dies liesse sich auf der Ebene der Christologie zeigen (wo es um die Konkretheil des Menschseins geht), ebenso aber auch auf der Ebene des Brotes (wo es um die Präsenz des Gebers geht) und auf der Ebene des Sakramentes (wo es um die Materialität des Essens und Trinkens gleichennassen geht wie um die Gemeinschaft mit Gott, die es stiftet). Es ist der springende Punkt der johanneischen Theologie, Himmel und Erde zusammenzudenken. Von hier aus gesehen ist es fragwürdig, dem Johannesevangelium Dualismus zu unterstellen, gleichgültig ob dies nun kosmologischer oder Entscheidungsdualismus sei 69 • Es trifft zwar zu, dass das Johannesevangelium in Dualitäten denkt Vgl3.14-17: 12.32f.34. So Käsemann. Jesu leizier Wille 52. •w Gegen Schollroff. Der Glaubende 289-296. h7
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(etwa Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge). was jedoch keineswegs heisst, dass es dualistisch denkt. Der Dualismus wird in mancher Hinsicht durchbrochen, genauer: ihm kommt das Johannesevangelium zuvor. Der kosmologische Dualismus wird dadurch überwunden, dass von einer Bewegung ausgegangen wird: von der Bewegung des Himmels auf die Erde zu. Anstelle der Statik des Dualismus, bei welcher selbst das Kommen des Erlösers keinen andern Sinn hat, als die Geschiedenheil zwischen Himmel und Erde zu etablieren, kennzeichnet das Johannesevangelium die Dynamik der Menschwerdung Gottes, die Dynamik desZugehensauf die Welt. Diese Bewegung kommt beispielsweise in der Christologie zum Tragen, welche durch den Sendungsgedanken bestimmt ist. Sie kommt zum Tragen als Bewegung der Liebe, welche auf die Rettung statt auf die Krisis der Welt zielt. Sie kommt zum Tragen in der Bewegung der Gemeinde auf die Welt zu, in welcher sich die Sendung des Sohnes fortsetzt 70 • Dualistisch wäre die Feststellung, dass Licht und Finsternis getrennt sind, dynamisch ist dagegen der Satz, dass das Licht in der Finsternis scheint (1,5.9). Der Entscheidungsdualismus wird überwunden, indem für die Asymmetrie des gegebenen Lebens Partei ergriffen wird. Der Mensch steht nicht am Scheideweg zwischen dem eigentlichen und dem uneigentlichen Leben. Er steht vielmehr vor der Entscheidung, das gegebene Leben abzulehnen (was in unserem Kapitel anhand des provozierten Bekenntnisses und sonst im Evangelium etwa an der Thematik des Bleibens 71 abtesbar ist). Die Dynamik der Menschwerdung schlägt sich nicht bloss in Aussagen, sondern auch in der Sprachgestalt des Evangeliums nieder. In vielen dialogartigen Gedankengängen wird diese Bewegung vollzogen als Überwindung der Missverständnisse, deren Basis entweder weltliche oder himmlische Statik ist. Was Paulus als Zusammenprall von Torheit und Ärgernis einerseits und Gottesweisheit und Gotteskraft andererseits angesichts des Kreuzestodes darstellt (I Kor 1,18-25), ist bei Johannes die Auseinandersetzung mit materialistischen und spiritualistischen Missverständnissen, welchen der Menschgewordene begegnet. Gerade das sechste Kapitel zeigt, wie sehr das Johannesevangelium geprägt ist von einem Nachdenken über das Ereignis, welches der Glaube als schlechthin entscheidendes ausspricht. Diese Theologie ist nicht ein70 71
Vgl 17.18 und Lindemann. Gemeinde 133-161. Dazu Heise. Bleiben.
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fach getrieben von Gefahren innerer und äusserer Natur, nicht einfach bedingt von religionsgeschichtlich beschreibbaren Vorstellungsinhalten, sie ist vielmehr aus dem Ereignis Jesus Christus heraus entstanden, welches in der johanneischen Gemeinde zu denken gibt. In der stetigen Entfaltung des Gedankens der Menschwerdung, welche das Evangelium in immer neuen Anläufen vollzieht, zeigt sich die Dynamik der Menschwerdung erneut, und zwar auf erkenntnistheoretischem Gebiet. Deshalb ist der theologischen Innovationskraft der johanneischen Gemeinde viel mehr zuzutrauen als die religionsgeschichtliche Arbeit sich eingesteht, leite sie nun das Johannesevangelium aus der hellenistischen Gnosis oder aus dem Judentum ab. 2.2 Die religionsgeschichtliche Arbeit Die religionsgeschichtliche Arbeit am Johannesevangelium kann aufgegliedert werden in zwei Arbeitsgänge: in einen genetischen und einen hermeneutischen. Im Rahmen genetischer Fragehinsichten muss versucht werden, das Milieu religiöser Vorstellungen zu erkennen, in welchem dieses Evangelium entstanden ist. Auch das sechste Kapitel bestätigt, dass extreme Positionen - etwa die These, dass die Gnosis die Voraussetzung dieses Evangeliums sei 72 , oder dass es sich ganz aus dem alttestamentlichen und rabbinischen Judentum verstehen lasse 73 nicht haltbar sind. Die religionsgeschichtlich relevanten Vorstellungen des Kapitels wie Mannathematik, Lebensbrot, Aufhören von Hunger und Durst lassen sich sämtlich aus dem hellenistischen Judentum verstehen, genauerhin aus der Sophiatheologie dieses Judentums 74 • Dasselbe gilt auch für den Prolog und für die Sendungschristologie. Die Frage ist, in welchem Verhältnis das Johannesevangelium zu Weisheitstheologie einerseits und Gnosis andererseits stehe. Die Weisheit ist eine Figur, welche die Gegenwart Gones in der Welt auszudrücken vermag. Die Weisheit ist anzutreffen auf vielbegangenen Pfaden, auf Marktplätzen und an Stadttoren. Die Weisheit macht die Erfahrung, dass sie nicht angenommen wird von den Menschen. In der Weisheitsliteratur gibt es verschiedene Reaktionen auf diese Ablehnung. Einerseits nimmt die Weisheit in der Gestalt des Gesetzes in Israel Wohnung (Sir 24), andererseits zieht sie sich, nachdem sie ihre Wahrheit in n Vgl oben Anm 4.5. n Vgl oben Anm 4. 74
Dazu Borgen. Bread passim.
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einem kleinen Kreis von Apokalyptikern enthüllt hat, wieder in den Himmel zurück (äthHen 42). So sehr die Weisheitstheologie die Möglichkeit bietet, von der Gegenwart des Göttlichen in der Welt zu sprechen, so wenig bietet sie Anhalt ftir die Aussage, dass der göttliche Logos selbst Aeisch geworden ist. Diese Aussage bedeutet einen qualitativen Sprung im urchristlichen Denken, der aus den religionsgeschichtlichen Voraussetzungen nicht mehr ableitbar ist. Die Inkarnationsaussage muss als Neuschöpfung des Urchristentums angesehen werden. In ihr berührt sich das Johannesevangelium mit der Weisheitstheologie, und sie ist zugleich der Scheideweg der beiden. Andererseits ist unverkennbar, dass das Johannesevangelium eine gewisse Affinität zur gnostischen Weltsicht hat. Es ist gewiss kein Zufall, dass der älteste Kommentar zum vierten Evangelium vom Gnostiker Herakleon stammt. Dennoch hiesse es Ursache und Wirkung verwechseln, wollte man die johanneische Theologie als gnostisch oder antignostisch bezeichnen. Erst die Entschlossenheit, mit welcher dieses Evangelium Gott und Mensch in Jesus zusammendachte, gab Gelegenheit, diesen Gedanken einer gnostischen Zersetzung zu unterziehen. Die auf die Spitze getriebene Zusammenschau von Doxa Gottes und Sarx Jesu im 4. Evangelium gab erst Gelegenheit, sich undialektisch auf die Seite der Doxa zu schlagen und damit die Sarx Jesu zu verflüchtigen. Genau dies vollzieht aber die gnostische Interpretation des lnkarnationsgedankens7~. Hier wird die Menschwerdung rückgängig gemacht, weil der schroffe Gegensatz zwischen Himmel und Erde sich alles wieder unterwirft. Die doketische Christologie ist dashalb meines Erachtens als Zerfallsprodukt der inkarnatorischen zu betrachten, wie überhaupt die Gnosis, soweit sie christliches Gedankengut adaptiert, als eine Zerfallserscheinung des Christlichen zu gelten hat. Was die Gnosis in räumlichen Kategorien auseinanderhält, hält der Messianismus in zeitlichen Kategorien auseinander. Er ist, wie die Auseinandersetzung im sechsten Kapitel zeigt, der Widerstand gegen die Menschwerdung Gottes im Namen der Majestät Gottes. Eine bemerkenswerte Verwandtschaft!
H Zum Beispiel NHC II 3: I05.29-106.10: vgl Rudolph. Gnosis 171 f. Wenn Rudolph den Graben zwischen gnostischer und christlicher Christologie weniger tief ziehen will als in der »jüngeren theologischen Forschung«. so verkennt er dabei mindestens die johanneische Theologie. Das zeigt sich auch daran. dass Rudolph Joh 1.14 mit " "ins Aeisch' gekommen [sie![ .. wiedergibt (173).
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Mir scheint, die religionsgeschichtliche Arbeit habe sich mit wenigen Ausnahmen einseitig auf diese genetische Fragestellung konzentriert. In unzähligen Untersuchungen wird etwa nach der Herkunft der Vorstellung vom Lebensbrot gefragt, werden subtile Unterschiede herausgearbeitet. In den meisten Fällen endet hier die religionsgeschichtliche Arbeit. Ginge es aber nicht darum, diese Arbeit henneneutisch zu treiben? Zu fragen, was eine bestimmte religiöse Vorstellung zu verstehen gibt? Ginge es nicht darum, auch religiöse Vorstellungen als Lebensphänomene zu verstehen? Was bedeutet es etwa, wenn die Vorstellung vom Lebensbrot ihren Ursprung in der Mannageschichte haben sollte 76? Israel erfuhr in jenem über Nacht vom Himmel gefallenen Brot die Bewahrung seines Lebens, ein Zeichen dafür, dass es aus der Materialität des Gegebenen lebt. Bei der Materialität allerdings konnte es nicht stehenbleiben: es begann im Manna die Tora oder die Weisheit zu sehen 77 • Darin birgt sich die Erkenntnis, dass Leben nicht nur auf gute Gaben, sondern auch auf gute Worte angewiesen ist. Was bedeutet es weiter, wenn etwa bei Philo die Weisheit zur Speise für die Seele wird 7 K, losgelöst von der Materialität des Brotes? Wird hier nicht der ganzheitliche Gottesbezug verflüchtigt dadurch, dass nur in den immateriellen Gaben Gott wahrzunehmen ist? Diese Verschiebung in der Gotteswahrnehmung ist begleitet von einer entsprechenden Verschiebung in der Anthropologie, und das Ganze drückt sich aus in einer Schriftauslegung, welche - etwas pointiert gesagt - in der geschichtlichen Welt alttestamentlicher Erzählungen die platonische Ideenwelt entdeckt - eine wohl abgründige Seite der phiIonischen Allegorese. Was bedeutet weiter die eschatologische Erwartung, welche die Speisung mit himmlischem Brot auf das Ende der Welt verschiebt? Ist da nicht die faktische Lebendigkeit des Menschen übergangen worden, die doch durch das jetzige und diesseitige Brot auch gewährt wird - von wem denn sonst als vom Schöpfer? Schliesslich: Welche Verschiebung hat stattgefunden, wenn in Joseph und Aseneth der wahre oder falsche Nährwert der Speise abhängt von der rituellen Qualität des Essens beziehungsweise von der religiös-ethnischen Statur
So Borgen, Bread 14M-I 50; Richter. Studien 240f. Etwa bei Philo. Mut 259f; vgl Borgen. Bread 111-115; oder GnR 70.5. zitien bei Schnackenburg. Johannescvangclium IV 122. 7 ~ Philo. rer.div .her. 191; bei Schnackenburg. Johannesevangelium IV 124 7h 77
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des Essers, so dass der Jude das tägliche Brot sich zum Leben isst, der Heide dagegen zum Tod7 9 ? Allen diesen Fragen müsste im Rahmen einer hermeneutisch arbeitenden Religionsgeschichte nachgegangen werden. Die Vorstellung vom Lebensbrot bringt jedenfalls zum Ausdruck, dass Leben nicht zur Verfügung steht, nicht produziert werden kann, sondern durch Lebensmittel erschaffen wird - materielle und immaterielle. In diesem Zusammenhang steht das Ich-bin-Wort von Joh 6, in welchem der konkrete Mensch Jesus als personal anwesendes Lebensmittel erschlossen wird. Was heisst es, dass in ihm materielle Speise und Wort Gottes unlösbar verbunden sind? Er erschliesst die Welt in ihrer göttlichen Dimension, eine Sache, die die Christologie direkt mit der Schöpfungstheologie verknüpft. Er erschliesst Gott als nahen Geber aller Lebensmittel, eine Sache, die die Christologie mit der Eschatologie verknüpft. Er erschliesst das Leben als Leben aus dem Gegebenen, was diese Christologie soleriologisch macht. Dies alles sind nur tastende Versuche, an die hermeneutischen Dimensionen religionsgeschichtlicher Arbeit heranzukommen. In dieser Richtung müssten meines Erachtens die Anstrengungen erheblich verstärkt werden. Es ist müssig, über religiöse Vorstellungen zu reden, seien dies christliche oder nichtchristliche, solange sie nicht als Lebensphänomene verstanden werden können. 2.3 Zur hermeneutischen Problematik der Johannesauslegung Es ist wohl eine sinnvolle Annahme, dass die Hermeneutik einer Auslegung sich bemüht, sich dem ausgelegten Text anzupassen. Demzufolge ist es angemessen, das inkamatorische Denken des Johannesevangeliums als eine hermeneutische Anweisung zu dessen Auslegung zu betrachten. Das inkamatorische Denken des Johannesevangeliums stellt die Auslegung vor erhebliche Probleme. Mit ihm ist ja gegeben, dass dieser Text den Charakter eines Ereignisses gewinnt. Mit der Menschwerdung Gottes ist es gegeben, dass das Reden über den Menschgewordenen nicht mehr seine Lehre von seiner Person abstrahieren kann, dass das Reden über ihn auch keine Lehren aus ihm ziehen kann, sondern dass es nichts anderes im Sinne haben kann, als eine Begegnung mit dem
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Dazu Burchard. Untersuchungen 126-128.
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Menschgewordenen herbeizuführen. In welchem Ausmass dies dem Johannesevangelium selbst gelungen sei, ist eine Frage, über die man streiten kann. Unabhängig von ihrer Beantwortung gilt aber, dass ein Text über den Inkarnierten die Begegnung mit ihm herstellen muss. Damit ergibt sich für die Auslegung das Problem, wie diese Begegnung zu wiederholen sei. Es ist meines Erachtens als hermeneutischer Notstand zu betrachten, dass die exegetische Literatur weithin eine historische Deskription der Texte liefert, statt einer Wiederholung dessen, was sie vollziehen. Eine historische Deskription verhindert insofern die Begegnung, als sie den Text ganz bewusst und methodisch der Gegenwart entzieht, in welcher der Ausleger faktisch steht. Ganz abgesehen einmal davon, dass der Ausleger im Vollzug einer historischen Deskription einen Standpunkt zu gewinnen versucht, den er unmöglich gewinnen kann und auch nicht gewinnen soll - den Standpunkt der ursprünglichen Leser oder gar des Autors der Texte -, macht er die Texte zu Fossilien, und damit wird ihr Leben zur Versteinerung. Dieser Gefahr kann meines Erachtens nicht schon durch die wirkungsgeschichtliche Dimension gewehrt werden, denn auch die Wirkungsgeschichte kann betrieben werden als in die Gegenwart verlängerte historische Deskription, welche einer Begegnung mit dem Text im Wege steht. Es soll damit nicht die Notwendigkeit wirkungsgeschichtlicher Untersuchungen bestritten werden; sie haben ihren Platz, wo es um die Rechenschaft über vergangene Begegnungen mit dem Text geht. Dennoch muss die Auslegung über die Beschreibung von Begegnung hinauskommen zu einem gegenwärtigen Vollzug der Begegnung mit dem Text und damit dem Fleischgewordenen. Dieser Vollzug kann wohl nur geschehen, wenn statt historischer Deskription eine Interpretation geleistet wird, welche den vergangenen und fremden Text entschlossen mit den Augen des Auslegers und seiner Zeit ansieht. In diesem Erkenntnisvorgang werden am vergangenen Text Dimensionen entdeckt, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht gesehen werden konnten und die dennoch Dimensionen der Wahrheit jenes Textes sind. Als Beispiel sei die neuzeitliche Situation der weltlichen Verschlossenheit genannt, in welcher der Inkarnationsgedanke des Johannesevangeliums eine ganz neue Wahrheit gewinnt. Was die Welt seit der Entstehung jenes Textes gesehen hat, können wir nicht ungesehen machen, wir werden es so weit wie möglich einbeziehen müssen, wenn wir unseren Blick auf das Johannesevangelium richten. Das bedeutet nicht, unsere Fragen und
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Probleme einzutragen in die Texte und diese so festzulegen, wohl aber bedeutet es, dieselben heranzutragen an die Texte. Das Johannesevangelium lässt sich deskriptiv nicht adäquat erfassen. Man wird wohl sogar sagen müssen: Es lässt sich überhaupt nicht erfassen, es sei denn, es erfasse den Ausleger, es sei denn, es trete an den Ausleger heran, um ihn als Subjekt anzusprechen, um ihn, der sich in der historischen Deskription aus den Dingen herauszuhalten versucht, erneut in sie zu verwickeln. Deshalb wird auch die wissenschaftliche Auslegung nicht in erster Linie nach dem Johannesevangelium zu fragen haben, sondern nach dem Evangelium, wie es bei Johannes zur Sprache kommt. Was für eine Sprache spricht eine solche Auslegung? Die Antwort auf diese Frage muss wohl - mit vereinten Kräften - erst noch gefunden werden.
Der Mythos vom Logos (Johannes 1) Überlegungen zur Sachproblematik der Entmythologisierung ))Geschrieben steht: 'Im Anfang war das Wort!' Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muss es anders übersetzen. Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile. Dass deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn. der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!- cc 1
Die Begegnung des faustischen Menschen mit dem johanneischen Mythos vom Logos gestaltet sich als ein Übersetzungsversuch, der von einer seltsamen Dynamik beherrscht ist. Der faustische Mensch wird immer mehr abgetrieben vom Wort, das am Anfang war. Über den Sinn, der ihm zu wenig schöpferisch ist, treibt es ihn zur Kraft. Auch sie verwirft er, sie ist ihm zu sehr blosse Möglichkeit. So endet er bei der Tat, erst sie macht ihn getrost. Kann man sich eines Geistes trösten, der die ganze Welt auf die Tat gründet und insofern die Menschenwelt ganz auf die Tat zurückwirft? Ist, was hier als Übersetzung erscheint, in Wahrheit nicht eine Verabschiedung des Wortes? In einem Text von vierzehn Zeilen steht nicht weniger als zehn Mal »ich«. Kaum sind die ersten paar Worte gelesen - hier stock ich schon - , fällt das Ich dem Gesagten ins Wort. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen dem zur Tat drängenden Ich und dem Ich, das zuvorkommendes Wort
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Goethe. Faust I 180f (in diesem Text lautel das erste Won: »Geschirben« ).
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nicht ausreden lässt? Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen dem neuen Mythos der Tat, der da unversehens an die Stelle des alten Mythos vom Logos tritt, und der neuen Zeit, wo das Ich dem Gesagten ungeniert ins Wort fällt? Wie dem auch sei, für den Moment kehren wir vom faustischen Menschen zum biblischen Wort zurück. In den folgenden Überlegungen wird der Johannesprolog herangezogen als Paradigma für das Thema Mythos und Rationalität. Als Mythos vom Logos soll dieser Text betrachtet werden. 2 Dadurch entsteht ein neues Spannungsfeld: Mythos - Logos - Rationalität. Ich werde nicht bei allgemeinen Theorien3 einsetzen, sondern das Verhältnis von Mythos, Rationalität und Logos anhand des Johannesprologs, anhand eines gegebenen Einzelphänomens also, bedenken. 4 Man mag dies als ein Signal daftir verste-
2 Diese Betrachtungsweise ergibt sich ungezwungen. wenn man beachtet. dass hier eine mythische Geschichte erzählt wird, deren durchgehendes Subjekt der Logos ist. Man könnte freilich sagen. der Johannesprolog gehöre zum Kerygma und sei daher nicht als Mythos zu bestimmen. Zur Unterscheidung von Mythos und Kerygma vgl Müller. Mythos und Kerygma. bes 408-411. Müller macht insbesondere auf das Weiterwirken mythischer Motive im biblischen Kerygma aufmerksam (»Animatisation bei der menschgernässen Wirklichkeitsverminlung« und »Begründung durch ein geschichtliches ·~ in Analogie zur Begründungsfunktion der Urzeit im Mythos•. aaO 408). 1 Dies geschieht auf eindrückliche Weise in K. Hübners Arbeit, Die Wahrheit des Mythos. Hübner kommt zum Schluss. dass »wissenschaftliche und mythische Erfahrung ... die Rleiche Struktur• haben (aaO 287). Heide haben gleichermassen eine rationale Struktur. und dass die eine gegenüber der andem dominant ist. betrachtet Hübner als historische Kontingenz (ebd). Heide Weisen der Erfahrung enthalten »vorralionale« (so die terminologische Entscheidung Hübners im Gegenüber zum »Irrationalen«, aaO 288) Voraussetzungen, ohne dass dadurch ihre eigene Rationalität in Abrede gestellt werden könnte. Zu präzisieren ist freilich, dass Rationalität und Rationalismus nicht dasselbe sind. Unter dem Rationalismus »ist eine philosophische Richtung zu verstehen, die bestimmte Axiome oder Prinzipien (... ) als Ausdruck einer absolut und damit intersubjektiv für immer bindenden Vernunfteinsicht betrachtet. Wenn man so will. kann man die gesamten vorangegangenen Untersuchungen (sc die Hauptuntersuchungen der Arbeit) als eine einzige Widerlegung dieser weder historisch noch systematisch haltbaren Denkrichtung ansehen• (aaO 289). Rationalität ist demgegenüber anders definien (vgl die Definition Hübners. aaO 239-242). so dass sie durchaus auch dem Mythos zuerkannt werden kann. Mit einem an so grassräumigen Überlegungen orientienen Ansatz sind erhebliche Probleme verbunden. Die Frage. ob die Rationalität der Wissenschaft oder diejenige des Mythos den Vorrang hat. ist nicht bloss eine Sache historischer Kontingenz (auch historisch Gewordenes hat übrigens einen Sachaspekt. der die historische Entwicklung transzendien) und auch nicht bloss eine Frage der Axiomatik. Die Frage beispielsweise. ob die Wellen des Meeres mit Neptun oder mit den Hauptsätzen der Thermodynamik angegangen werden. ist weder historisch noch axiomatisch zu entscheiden. sondern im Blick auf das. was tatsächlich der Fall ist. •Wenn es sinnvoll ist. hier von einem Mythos zu sprechen. dann ist zu erwanen. dass die genaue Beobachtung dieses Mythos und seiner Pragmatik auch etwas erkennen lässt über das
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hen, dass Denken sich mit Vorteil als Nachdenken über das Gegebene vollzieht - auch dies schon ein Beitrag zum Thema Mythos und Rationalität. Mit dem Nachdenken über den Mythos ist in unserem Jahrhundert der Name Bultmanns verbunden. Sein Programm der Entmythologisierung, genauer: dasSachanliegen dieses hermeneutischen Unternehmens wird deshalb mit im Vordergrund stehen. Es ist unvermeidlich, eine wenn auch vorläufige - Definition des Mythos als Ausgangspunkt zu wählen, obwohl sich dieses Phänomen immer wieder der begrifflichen Erfassung entzieht. Mythisches Denken ist dadurch definiert, dass es die Dimension der vorliegenden Welt überschreitet und von Dingen zu erzählen weiss, die nicht beschrieben werden können in den Kategorien von »der Fall sein« oder »nicht der Fall sein«.s
1 Beobachtungen zum Johannesprolog In diesem Text wird ein Mythos erzählt, der den Logos zum Thema hat. Mythos und Logos sind also eng aufeinander bezogen. Diese Verbindung impliziert eine Kritik an der selbstverständlich gewordenen
allgemeine Phänomen des Mythischen. Hier wird der Zugang nicht über die Definition des Mythischen, die aus der Abstraktion von den Mythen entsteht, gesucht, sondern über die Wir· kungen, die sich an diesem konkreten Mythos beobachten lassen, über seine Wirklichkeit also. ~Sehr brauchbar ist nach wie vor Bultmanns Definition, auch wenn sie nicht einhellige Zustimmung gefunden hat: •Der Mythos redet von der Macht oder von den Mächten, die der Mensch als Grund und Gren1.e seiner Welt und seines eigenen Handeins und Erleidens zu er· fahren meint. Er redet von diesen Mächten freilich so, dass er sie vorstellungsmässig in den Kreis der bekannten Welt, ihrer Dinge und Kräfte. und in den Kreis des menschlichen Lebens. seiner Affekte, Motive und Möglichkeiten, einbezieht .... Er redet vom Unweitlichen weltlich. von den Göttern menschlich« (Bultmann, Mythologie 22). Bultmann ist sich wohl bewusst. dass diese Definition sich von der »modernen« abhebt (vgl ebd Anm 2). Schon die Definition ist -entsprechend dem Hauptanliegen Bultmanns - auf den hermeneutischen Umgang mit der Mythosproblematik abgezielt. Zur Kritik an diesem Mythosbegriff vgl zuletzt Müller, Mythos 40~ II, eine Kritik, die Bultmanns Anliegen und eigentliche Stossrichtung nicht ganz trifft. Mythisches Denken interpretien die vorliegende Welt jedenfalls so, dass es die Dimensionen von Raum und Zeit überschreitet. Im ganzen lässt sich feststellen, dass bisher kein einheitlicher Begriff des Mythos gefunden werden konnte. Zu vielfältig sind die Definitionen, je nachdem ob sie inhaltlich, funktional, linguistisch oder ästhetisch angesetzt sind. Wichtig ist jedenfalls das Moment des Erzählerischen, das seit Aristoteles, Poetik. 1450 a 3-5 zu den wesentlichen Merkmalen des Mythischen gezählt wird (bei Anstoteies steht das Won I'~ für die Erzäh· Jung überhaupt). Zum Problem vgl Horstmann. Mythos 300-318: Hübner, Wahrheit 4892.93-235: Blumenberg. Wirklichkeitsbegriff 11-66.
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Annahme, der Mythos schreite durch Aufklärung fort zum Logos, die Mythologie müsse durch das Licht der Vernunft in Rationalität verwandelt werden/1 Wer einem Mythos vom Logos nachzudenken hat, wird es schwer haben, dem Fortschritt vom Mythos zum Logos das Wort zu reden.7 1.1 Mythische Dimensionen im Johannesprolog Dass der Anfang des Johannesevangeliums ein Mythos sei, ist nicht allgemein anerkannt. Das neuzeitliche Urteil, Mythen seien minderwertig, wirkt sich aus im exegetischen Interesse, den Johannesprolog vom Mythos abzusetzen." Er hat indessen deutlich mythologische Züge. ~So eine der einflussreichsten Arbeiten des zwanzigsten Jahrhunderts. W. Nestle. Vom Mythos zum Logos. Sie vertritt die These, dass das Griechentum »auf der einmal eingeschla· genen Bahn vom Mythos zum Logos unaufhaltsam« weiterschreitet (aaO 539). ganz so. als ob die mythische Wahrnehmung der Welt durch ihre logische Beherrschung zunehmend und irreversibel ersetzt worden wäre. 7 Dieser Fonschrittsgedanke wird bei Hege I konsequem durchgeführt: »Die Mythe gehört zur Pädagogie des Menschengeschlechts. Ist der Begriff erwachsen, so bedarf er derselben nicht mehr« (zitiert nach Horstmann. Mythos 291 ). Sprachtheoretisch gesehen verbirgt sich in dieser These die Annahme, das mythische Reden sei eine blosse Einkleidung einer auch begrifflich aussagbaren Sache (ähnliches wird ja auch vom Metaphorischen angenommen); philosophisch verbirgt sich in ihr die Annahme von der Superiorität der Philosophie gegenüber der Religion. Wer diesen Fortschrittsgedanken nichtteilt- und es sprechen sowohl sprachtheoretische als auch philosophische Gründe dagegen - wird das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft kritischer betrachten. die überzeugt ist davon, »die Form der religionslosen Rationalität, die sie repräsentiert. sei. eben weil sie sich von den Göttern emanzipiert hat. die wahre. unanfechtbare, die aufgeklärte und autonome Vernunft« (Picht. Kunst und Mythos 486). Freilich ist es nicht angemessen. den erkenntnistheoretischen Atheismus der Wissenschaft als solchen zu kritisieren: er hat sich innerhalb der Grenzen bestimmter Fragestellungen ausgezeichnet bewährt. Von diesem Atheismus ist indessen der Totalitätsanspruch zu unterscheiden. der die Phänomene nicht nur weltlich interpretiert. sondern innerweltlich abschliesst (zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 130-133). Zur Abgründigkeil der aufklärerischen Theologie. die sich beeilte. »ihre mythische Vorgeschichte in wissenschaftliches Bewusstsein aufzuheben«, vgl Spam. Herausforderung 185: »Verstummen und Selbstauflösung der Theologie liegen am Ende des so eindeutig erschienenen Weges \'Om Mythos ::um Lof(os.« 8 Schon Buhmann. Johannes I urteilt zurückhaltend: »Seinem Inhalte nach wäre der Prolog auf den ersten Blick als Mythos zu charakterisieren: denn er redet von einem Gottwesen. seinem Tun und Geschick.« Bultmann begründet sein literarisches Urteil. dass hier kein Mythos im eigentlichen Sinne vorliege. mit dem Anredecharakter der »lcultisch-liturRisch~(n) Dichtun!(« (aaO 2). der bei einem erzählenden Mythos sonst fehle. Blank. Johannes 74f bestimmt die literarische Gattung des Prologs als »Christus-Hymnus... der in den Zusammenhang ähnlicher neutestamentlicher Hymnen zu stellen ist Diese literarische Bestimmung lässt indessen die Frage offen. ob mythisches Reden vorliegt Folgte man dem neutestamentlichen Sprachgebrauch. so käme die Bezeichnung eines neutestamentlichen Textes als 1'\Jeoci überhaupt nicht in Frage. Denn im Neuen Testament werden die Mythen ganz in den Bereich der Lüge verwiesen.
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Mythologisch ist zunächst das Zurückgehen auf die
während das Kerygma kraft seiner geschichtlichen Verankerung der cU.i16!1G verpflichtet ist (vgl Stählin. An I'~ 793.1~799.18). Unbestriuen bleibt. dao;s die neutestamentlichen Teltte stets von einem Ereignis in der Geschichte sprechen. Dennoch läs.o;t sich nicht verkennen. dass sie (etwa im Falle der Christus-Hymnen) weit über das hinausgehen. was geschichtlich der Fall war. Eltegetisch wird die fundamentaltheologische Frage. ob das Kerygma mit dem minderwenigen Mythos überhaupt vergleichbar sei. verhandelt als Frage nach der Abhängigkeit des Logoshymnus vom gnostischen Mythos (vgl Schnackenburg. Johannesevangelium I 268f). Diese Diskussionsebene vermengt die religionsgeschichtliche Frage nach der Genese des Hymnus mit der hermeneutischen Frage der poetischen Gestalt und ist deshalb nicht adaequat. Q Mit dieser Wendung wird deutlich an Genesis 1.1 angeknüpft. Im Unterschied zur Genesisstelle wird aber gleichsam vor den Schöpfungsanfang zurückgefragt. zu einem Anfang. der in keiner Richtung mehr weiter hinterfragbar ist. Zur Auslegung vgl Blank. Johannes 81 f. Zu vergleichen ist das Uneil von Gese. Johannesprolog 161: »mit dieser zeitlichen Aussage ist die inhaltliche des Vor~er-Schöpfung-Seins gegeben«. Der Johannesprolog spricht- im Unterschied zur Weisheitstheologie - gerade nicht von der Erschaffung des Logos. weil er dessen Gleichzeitigkeit mit Gou festhalten will. »Der Logos weilt von Anfang an bei Gou. beide sind gleich ursprünglich. und Gou ist nicht ohne sein Won zu denken« (Schnelle. Christologie 233). 10 Die Übersetzung trägt dem philologischen Sachverhalt Rechnung. dass das Sein des Logos mit llpilc; u,., ~~~ näher bestimmml wird. ~ mit Akkusativ antwonet auf die Frage »Wohin?«. vgl Bauer s.v. 111. Anders dagegen Schnelle. Christologie 233. der auf die Auswechselharkeil von llpilc; nwa. b und mpci n.,, in der Koine hinweist. 11 ln diesem Satz ist b ~ als Subjekt. 1k~ als Prädikatsnomen zu betrachten. vgl Haenchen. Johannesevangelium 118. Ob daraus eine Unterordnung unter Gou abgeleitet werden kann (so Becker. Johannes I 72). erscheint sehr fraglich. Wenn »GOII« als Prädikatsnornen zu betrachten ist. dann bedeutet der Satz einfach. dass der Logos die Qualität Gou hat. wobei diese Qualität eine Singularität ist (ähnlich dem Satz: Dieser Stein ist Materie. mündlicher Hinweis von B.Bonsack). Zum Verständnis braucht nicht unbedingt die phiionische Unterscheidung von b ik~ und ik~ herangezogen zu werden (anders Becker. ebd). Miller. Logos plädien wieder ftir eine definite. stau eine qualitative Bedeutung. Die Abwesenheit des Anikels bedeutet nach Miller lediglich. dass Johannes die völlige Gleichsetzung von ~ und ~ vermeiden wollte. Reim. Jesus sieht ein messianisches Verständnis von Ps 45 im Hintergrund. so dass in johanneischen Kreisen die Goilesbezeichnung für den Logos notwendig gewesen sei. 12 Gegen Becker. Johannes I 72. 1.1 Vgl Blank. Johannes 82: •Es gehl hier nicht um die 'erste Tal Gones' der Schöpfung. sondern um jenen qualitativ unendlich verschiedenen 'Anfang'. der nicht mehr in die Verfügbarkeil. Vorstellungsmöglichkeit und Begreifbarkeil menschlichen Denkens f;illt. weil er in den
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
ner den Logos in seiner Beziehung zu Gott. Das Sein des Logos ist dem Sein Gottes gleichursprünglich. Gott kann nicht ohne sein Reden gedacht werden. Das vorweltliche Sein des Logos war xpc)~ tov &ov, auf Gott hin ausgerichtet. Und es hat die gleiche Qualität wie das Sein Gottes selbst. Mythologisch beschrieben wird weiter, wie der Logos bei der Schöpfung mitwirkte: »Alles ist durch ihn geschaffen worden, und ausser ihm entstand nichts, nicht eins, das geschaffen wurde 15« (Joh 1,3). Das Wort ist nicht der Schöpfer; es ist nicht Sache des Wortes, alles zu wirken und zu schaffen. Aber es gibt allen Dingen der Schöpfung sein Gepräge. Durch das Wort ordnet der Schöpfer die Welt, so wie menschliches Dasein durch das Wort geordnet wird. In dieser mythologischen Sicht wird die ganze Welt zu einer die Menschen anredenden Veranstaltung Gottes. Nichts gibt es in der Welt, das vom göttlichen Logos unberührt wäre, keine Spur von widergöttlichen Gegenwelten eine bemerkenswerte Aussage an die Adresse aller Dualisten. 16 In mythologischer Sprache wird schliesslich vom Verhältnis des Wortes zur l;m'll, zur Lebendigkeit, und zu den Menschen geredet: »In ihm war Le-
Tiefen der Gottheil selber liegt« Die Unvordenklichkeil wird hier also im Modus des Entzugs gedacht: weil das Denken an diesen Ursprung nicht gelangen kann, ist er dem Denken entzogen. •~ Dazu zum Beispiel Müller, Mythos und Kerygma 407: Der Mythos ftihn »in eine Urzeit, von der her alles Gegenwärtige, so es rechtens ist, seine Legitimation und Norm empfangt«. Zu fragen wäre freilich, ob die Wahrnehmungsdimension - gegenüber der Legitimation und Nonnierung - nicht viel grösseres Gewicht verdient. Ursprungsmythen dürften deshalb auch geschichtlich gesehen zu den ältesten Mythen der Menschheit gehören, vgl Eliade, Geschichte 35-37. •~ Gegen Buhmann. Johannes 19 und Aland wird das & ,r,on" zum b von V. 3 gezogen. Es wäre eher ein pluralisches Relativpronomen zu erwanen, wenn sich das »Was geworden ist« auf das »in ihm war Lebendigkeit« beziehen würde. Gleiches Uneil - wenn auch mit anderer Begründung- bei Schnackenburg, Johannesevangelium I 215-217. 16 Dies distanzien das Johannesevangelium scharf von jeder gnostischen Weilsicht und Theologie: »Die Strategie des gnostischen Mythos bleibt immer dieselbe: um die mythische Einheit wiederherzustellen, um die Grenze zu überschreiten, die die Lehre von der Schöpfung zwischen Gou und Mensch setzt, muss gegen den Schöpfergoll der Gen~sis angegangen werden: ... Dies geschieht im dogmatischen Mythos der Gnosis. Der überweil/liehe Gott, zum Demiurgen degradien, liess Raum für den gegenweilliehen Gou, der im pneuma. im Selbst des Menschen, sein Korrelat gewinnt« (Taubes, Mythos 1550. Zur Struktur des gnostischen Denkens gehön ein Dualismus, der wesentlich ..antikosmisch« ist und eine »eindeutig negative Bewenung der sichtbaren Welt einschliesslich ihrer Urheber« implizien: dazu Rudolph. Gnosis 69-75. Von hier aus sind dualistische Interpretationsansätze des Johannesevangeliums im Sinne Ernst Käsemanns (Jesu letzter Wille), Luise Schottroffs (Der Glaubende und die feindliche Welt) oder Siegfried Schulz' (Johannes) als unangemessen zu qualifizieren.
I Beobachtungen zum Johannesprolog
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bendigkeit 17 , und die Lebendigkeit war das Licht der Menschen« (1 ,4 ). Im unvordenklichen Wort hatte die Lebendigkeit ihren Daseinsraum, in ihm war Leben gleichsam beschlossen. »Es war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der zur Welt kommt« ( l ,9). Diese Lebendigkeit ist das Licht ftir jeden Menschen, der das Licht der Welt erblickt. 18 Sie erhellt jedes Menschen Dasein. Die Lebendigkeit, mit der jeder Mensch begabt ist, wird also verstanden als ein Widerschein jenes Lichtes, das dem Logos seit unvordenklicher Zeit eignet. Spätestens jetzt ist daran zu erinnern, dass solches Reden vom Logos Tradition hat. Ganz ähnliche Aussagen finden sich von der ooq»ia, der Weisheit, in der Weisheitstheologie des hellenistischen Judentums. 19 Auch von der Weisheit wird gesagt, sie sei vor der Zeit schon gewesen, als Liebling Gottes, und sie habe sich erfreut an der Erschaffung der Welt.2° Auch die Weisheit ist die Schöpfungsmittlerin, die allem Ge-
17 Zu unterscheiden ist ~11 von Jk~ in dem Sinne. dass nicht bloss das physikalische Leben. sondern die Gabe qualifiziener Lebendigkeit gemeint ist, vgl Becker, Johannes I 73. die im Johannesevangelium als rJri1 auhtu~ die Gabe des Erlösers schlechthin ist (vgl zB Joh 3.15f: 5.24: 17.2). Auch von der Weisheit wird immer wieder gesagt. dass Leben erlangt. wer sich an sie hält: vgl zum Beispiel Prov 3,18.22: 4,13.22f: 8,35. IK Ausdrücklich wird die Wahrheit dieses jedem Menschen gegebenen Lichts festgehalten. eine anthropologische Entsprechung zur Ablehnung des kosmologischen Dualismus. Im Unterschied etwa zum Dualismus der Gnosis. die das Leben scharf vom materiellen Existieren trennt (dazu Rudolph, Gnosis 750. beginnt das Licht des Lebens genau in dem Moment zu leuchten. in welchem der Mensch in die (als Einheit von Materie und Geist verstandene) Welt eintritt. Die Aussage bedeutet nicht. dieses Licht sei ,.für jeden Menschen notwendig« (gegen Schnackenburg, Johannesevangelium 229), sondern dass es jedem Menschen beim Zur-WeltKommen gegeben sei. 19 1n jüngster Zeit beginnt sich die religionsgeschichtliche These allgemein durchzusetzen, wonach die jüdisch-hellenistische Weisheitstheologie (und also weder die Gnosis noch das Alte Testament) die geistige Welt ist. aus der auch die Gedanken des Johannesevangeliums bis zu einem gewissen Grade verständlich werden. Als Beispiele für viele Arbeiten seien genannt: Becker. Johannes I 71 f und Blank. Johannes 3fr56. Anders dagegen (immer noch) Gese. Johannesprolog 152-201. der nach wie vor mit den alttestamentlichen Belegen auskommen möchte. obwohl auch er sich auf die alttestamentliche Weisheit konzentrien. 20 So in Prov 8.22ff. wo von der Weisheit gesagt wird, sie sei als Anfang der Werke Gottes vor der Schöpfung geschaffen worden. Bei der Erschaffung der Welt war die Weisheit dabei (8.30. masoretischer Text). Die Frage ist don. wie •mwn« wiederzugeben ist. Mit Blick auf Thren 4,5 dürfte •gestützt. getragen. aufgezogen« die wahrscheinlichste Bedeutung des Panizips sein. so dass hier so etwas wie •Pflegling« angenommen werden kann: vgl Gese. Johannesprolog 177f (•ich war bei ihm auf dem Schoss (gehalten)•). der auf die Parallele Weish 9.4 (•Mitthronerin«) hinweist. ln Sir 24.3 wird das Vor~er-Welt-Sein der Weisheit in Parallele zu Gen 1.2 als dunkler Urnebel beschrieben.
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
schaffeneo das Gepräge gibt. 21 Auch die Weisheit gibt denen Leben. die sich an sie halten. 22 Zu erinnern ist ferner an den entscheidenden Schritt von der älteren zur jüngeren Weisheitstheologie. In gewisser Weise kann darin der Schritt vom Logos zum Mythos gesehen werden.B In der älteren Weisheitstheologie wurde die Weisheit sozusagen begrifflich wahrgenommen, als das, was aus den Dingen und den weltlichen Abläufen zu lernen ist. 24 Sentenzen stellen sich heraus, welche die Weisheit der Natur und der Geschichte auf den Begriff bringen. Die ältere Weisheitstheologie sprach von einer Weisheit, die in den Dingen und den Erfahrungen ist. 25 Auf sie stösst, wer die Welt wissenschaftlich, gleichsam rational, zu begreifen unternimmt. In der jüngeren Weisheitstheologie dagegen wird mythologisch von der Weisheit geredet. Sie tritt jetzt heraus aus den Dingen, wird eine Person, die auf Marktplätzen und Strassen anzutreffen ist. 26 Man erzählt 2 1 Ihr Dabeisein bei der Erschaffung der Welt wird in Prov 8.22-31 noch nichl wie Weish 7.21(22): 8,6 (wo sie 12%"lnti genannt wird) im Sinne der Mirschöpferin verstanden. Ihr Dabeisein bedeu1e1 vielmehr. dass sie der geschaffenen Welt. als Mitthronerin Gottes. das Gepräge gibt: sie isl die -den Kosmos durchwaltende Ordnung« (mit Gese. Johannesprolog 177). ln der LXX-Version wird die Weisheit als~ (»die zusammenfügende. die in Ordnung setzende«) beschrieben. was darauf hinweisen kann. dass die Weisheil die Gestall der Weil insofern prägl. als sie die Dinge zusammenpasst. ln Sir 24.3-6 erschein! die Weisheil dann ausdrücklich als Schöpfungslogos: mit Gese. Johannesprolog 179. n Prov 2.19: 3.10.16.18: 5.6: 6.23: 8.35: 9.11: 10,17: 15.24: 16.22. Diese Aussagen bringen die Weisheiteinerseils in die Nähe Gottes. von dem alles Leben komml (Ps 36.10). und andererseits in die Nähe des Gesetzes. das dem Täter ebenfalls Leben verheissl. Nichl zufällig ist in Sir 24.23 die Weisheit mit dem Gesetz identifizien. ln Sir 24.19-21 erschein! sie als Ernährerin. die die Menschen mit allen Gütern des Lebens ausstallel. n Kennzeichnend fUr diesen Schrill isl die Personifikation der Wcisheil. die vormals als »Logik« des Geschaffenen diesem implizit war. Es Irin nun eine Person. die einen Willen und ein Schicksal hat. den Dingen gegenüber. Dies isl charakteristisch flir mythisches Erzählen. vgl Müller. Mythos und Kerygma 406f. Zum Problem vgl Gese. Johannesprolog 175: »Diese (sc in Hi 28 beschriebene) präexistente und transzendente Weisheil steht dabei eigenanig als selbständiges Wesen. als 'Hypostase' Gott gegenüber (vgl Hi 28.27)- und gerade dadurch sich von der Schöpfung als dem Objekt des Erschaffens unterscheidend. ja es ergib! sich eine Mittlerstellung zwischen Gon und der Schöpfung: die Weisheil vermittelt Gon an die Weil.« 2 • »Die frühantike Weisheit. ein inrernalionales Phänomen ..... isl die Frühform der Wissenschaft. Der Mensch geht den GeselZmässigkeiten und Regeln natürlichen und menschlichen Lebens nach und srellt in induktiver. sammelnder Weise die Erfahrungen und Beobachlungen. vor allem in Form von Sprüchen. zusammen« (Gese. Johannesprolog 173). 2 ~ Zu beachlen ist dabei. dass in Israel kein Gegeneinander von »nalürlicher« Theologie und Offenbarungstheologie bestand. Dies wurde schon durch den Schöpfungsgedanken verhinden: wenn Gon der Schöpfer der Welt ist. so kann die Erkenntnis der Weilordnung nicht Gegnerin der Goneserkennlnis sein: vgl Gese. Johannesprolog 174f. 26 Vgl besonders Prov 1.20ff: 8.1 ff: Sir 24.6-17.
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von ihr als einer mythischen Person, die eine Wohnstatt sucht in der ganzen Menschenwelt, ohne dass es ihr vergönnt wäre, bei den Menschen Ruhe zu finden.n In uranfanglicher Zeit schritt sie die ganze Schöpfung ab, angefangen bei den Himmeln über die Gegenden der Erde bis hin zu den Tiefen des Meeres und der Unterwelt.2s Was ist das Thema der Weisheitstheologie? Es geht ihr um die Grundlegung der Welt im weisen Willen des Schöpfers. Die Sinnhaftigkeit der Schöpfung, die sinnvolle Einrichtung des Lebens herauszustellen und zu benennen, ist ihr Thema. 29 Alle Räume durchmisst die Weisheit, also ist kein Erfahrungsraum von ihrem guten Geist verlassen. 30 Sie vertritt die Menschen im Uranfang, indem sie sich am Geschaffenen freut, eine persongewordene Freude an der Welt, jene Freude, die die Weisheitstheologie erneut zum Zuge zu bringen trachtet.J 1 Es geht- so könnte man sagen- um die Weisheit, um die Rationalität der Lebens-
27 Während sie nach Sir 24 ihre Ruhestatt zwar nicht bei den Menschen, aber schliesslich im Gesetz findet. geht sie - nachdem sie von den Menschen zurückgewiesen wurde - nach äthHen 42 wieder in den Himmel zurück, nicht ohne vorher ihre Offenbarung der Henoch· gruppe übergeben zu haben. Es ist ein elementares Merkmal der Weisheit in Sir 24, dass sie auf die Menschen zugeht. sie anspricht, die Attraktivität ausspielt. die sie hat. Die Weisheit steht demnach nicht bloss fLir das Mittelwesen zwischen Gott und Welt, sie steht vielmehr für das Zugehen Gottes auf die Welt. ftir den Anspruch. den Gott an die Menschen stellt. In dieselbe Richtung könnte Sir 24.3 weisen. wo die Weisheit aus dem Munde Gottes hervorgeht (in Par· allele zu Isis-Aussagen in Ägypten). Zu Recht formulien Schmid. Wesen 151: •Sie ist präexi· stent. Offenbarungsmittlerin. 'eschatologische' Grösse: ja fast: die dem Menschen zugewandte Seite Gottes.« In äthHen 42 dagegen gab die Weisheit ihre Aktivitäten unter den Menschen auf. als sie sich in den Himmel zurückzog. An die Stelle der Weisheit in Person ist nun das Wissen von ihr getreten. 2K So Prov 8,22-31: Sir 24,3-6. 29 Nach Schmid. Wesen 152 greift diese neue theologische Bemühung ein altes weisheitli· ches Postulat auf. das Postulat von der Einheit der Wirklichkeit. ,.Jetzt wird das Weltganze in der systematischen Verbindung und Summierung aller Erscheinungen der Wirklichkeit sichtbar. Um dieser Sichtbarkeit willen ist die Weisheit personifizien worden ... ·10 Dies ist die Stossrichtung jener Sätze. nach denen die Weisheit alles durchschritten hat. Prov 8.24-29 nennt die venikale (die Wasser oben und unten. V. 24) und die horizontale (Berge. Hügel. Erde. Au.:n. V. 25f) Dimension: das bedeutet: alles. was es gibt, ist in Gegenwan der Weisheit geschaffen worden. Der Text schreitet dann fon zur Gegenwan der Weisheit bei der Erschaffung der Lebenswelt (V. 27-29), insbesondere bei der Abgrenzung dieser Lebenswelt vom drohenden Chaos. In ähnlicher Weise wird auch Sir 24.4-6 die umfassende Weltpräsenz der Weisheit geschilden. 11 In Prov 8.30f spielt die Weisheit zuerst vor Gott. dann auf dem Erdenrund. freut sie sich zuerst vor Gott. dann an den Menschenkindern. Sie personifizien die Freude Gottes an der Schöpfung. und als solche Person vertritt sie den Menschen. der sich an der Ordnung und Stabilität der Lebenswelt freuen kann.
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welt. 32 Was bedeutet es, dass die Weisheit aus den Dingen heraustreten muss, um sich persönlich an die Menschen zu wenden? Zwischen der älteren und der jüngeren Weisheitstheologie tut sich der Bruch der Zeiten auf. Die Erfahrungsweisheit war in die Krise gekommen, die Weisheit in den Dingen drohte aus dem Blick zu geraten.n Eben deshalb tritt sie heraus aus den Dingen, um persönlich unter den Menschen aufzutreten. Das Ziel dieses Umschlags vom Logos in den Mythos ist es, das Andenken an die sinnvolle Einrichtung des Lebens zu bewahren, auch in kritischer Zeit, auch inmitten der verwirrenden Diffusität der Erfahrungswelt. Das mythologische Erzählen über Frau Weisheit sorgt dafür, dass die Weisheit ob dem Gemenge des Lebendigen nicht aus dem Blick verloren wird. In der Welt sieht es weder ein Chaos noch ein satanisches Reich, sondern einen verwilderten Garten. An diese Tradition knüpft der johanneische Mythos vom Logos an. Auch sein Ziel ist die Wahrnehmung des Logos im Kosmos, der Lebendigkeit im Leben, des göttlichen Lichts im Licht der Welt.-' 4 Ziel ist also gerade nicht die Hinterwelt, wie dies dem Mythos nicht selten unterstellt wird. Seine Intention ist es, die Welt im Horizont des Logos zur Wahrnehmung zu bringen. Und weil der Logos nicht selbstverständlich in den Dingen ist, tritt er auch hier persönlich auf im Vordergrund der Welt. Der Mythos vom Logos sorgt daftir, dass der Christus in den ~2 Dazu Schmid. Wesen 151 f und Hermisson. Studien 140: »Es handelt sich dabei um die Erkenntnis einer in der Weil herrschenden Ordnung. die freilich nicht zu einer rationalen Durchsichtigkeit der Weil als 'Kosmos' fortschreitet. sondern in einer Fülle von Einzelphänomenen jeweils neu zu entdecken ist.« "Zum Bruch zwischen der älteren und der jüngeren Weisheit vgl Schmid. Wesen 173-196. Gese. Johannesprolog 175-177 sieht dagegen eine kontinuierlichere Entwicklung. da die Hypostasierung der Weisheit vornehmlich durch die Personalität Jahwes bedingt sei. »Die Transzendenzerfahrung einer allem Sein zugrundeliegenden Ordnung kann nur eine Erfahrung des sich so vermittelnden. offenbarenden Gottes sein« (aaO 176). 14 In dieser Hinsicht muss der Hymnus ganz von seiner weisheitlieh-theologischen Voraussetzung her verstanden werden. Es geht ihm gerade nicht um »Spekulation«. sowenig es der Weisheit um Spekulation geht. Insofern ist die Rede von •jüdisch-hellenistischer Weisheitsspekulation« als Hintergrund des Prologs etwas missverständlich: gegen zB Schnackenburg. Johannesevangelium 207. Deshalb sind die Vorstellungen. die im Prolog erscheinen. keine künstlichen Mythologeme. sondern »gründen unmittelbar in der Wahrnehmung der Wirklichkeit•: mit Gese, Johannesprolog 191. Ein anderes Problem indessen ist. ob die spätere Weisheitstheologie in der Tat eine Tendenz zur Ungeschichtlichkeit und Überzeitlichkeit aufweist: so Schmid. Wesen 151-153. Falls dieser Aspekt für die Weisheit kennzeichnend ist. muss festgestelll werden. dass er vom Johannesprolog nicht übernommen werden konnte. da es diesem um den aufs äusserste gesteigenen Bezug zum geschichtlichen Augenblick des Kommens Jesu ging.
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Weiten weltlicher Erfahrungsräume wahrnehmbar - auch kritisch wahrnehmbar - wird. 1.2 Die Bewegung des Logos Den Johannesprolog durchdringt ganz die Bewegung. des Logos. Es war schon die Rede davon, dass im Logos das Leben beschlossen ist. Dieses Leben ist Licht der Menschen; als dieses Licht bewegt sich der Logos auf die Menschen zu, um ihr Dasein zu erhellen.l 5 Als dieses Licht erleuchtet er jeden Menschen,l 6 der das Licht der Welt erblickt. Licht ist Bewegung, es scheint in der Finsternis (I ,5)_37 Später heisst es vom Logos, er sei in sein Eigentum gekommen (I, II ), er habe Menschen ermächtigt, als Kinder Gottes zu existieren (I, 12). Auch hier wieder dieselbe Bewegung. Der Mythos vom Logos ist von allem Anfang an durchwirkt von der Dynamik des Logos, von der Dynamik seiner Zuwendung zu den Menschen. 18 Zwar wird er immer wieder nicht in Empfang genommen, sei es durch die Finsternis, die das Licht ablehnt, sei es durch die Welt, die - sein Gepräge tragend- ihn nicht erkennt, sei es durch die Menschen, die - seine Eigenen geheissen - ihn wie einen Fremden abweisen. Jede Abwendung beantwortet der Logos mit erneutem Zugehen, wiederholter Zuwendung.39 Man könnte sagen:
H Die Erhellung ist die Relation. die das im Logos beschlossene Leben zu den Menschen gewinnt. so dass die Menschen als Erhellte. als von der Bewegung des Lichts Betroffene, zur Sprache kommen. vgl Buhmann. Johannes 22-26. 111 Die Universalität dieser Aussage ist zu unterstreichen. Dazu Blank. Johannes 92f. Es geht nicht primär darum, dass alle Menschen nach dem Lichte froRen und das wahre Licht verfehlen können. sondern vielmehr darum. dass die Lebendigkeit kein falsches, sondern das wahre Licht jedes Menschen ist: gegen Buhmann. Johannes 32. H Dieser Aspekt wird verstellt durch eine dualistische Wahrnehmung des Verses, ganz so, als ob es bloss darum ginge. das Gegenüber von Licht und Finsternis festzustellen. Die Finsternis entsteht vielmehr allein durch die Ablehnung des Lichtes. •So entsteht Finsternis als Negation des Lichtes• (Becker. Johannes I 74). Diese Asymmetrie widerstrebt jeder dualistischen Konzeption: ähnlich Schnackenburg. Johannesevangelium 223f. Zum Motiv der abgelehnten (oder nicht erkannten) Weisheit vgl Sir 24: Bar 3.15-23: äthHen 42. n Auch hier befindet sich der Prolog in grosser Nähe zur Weisheitstheologie, ist doch die Weisheit die personifiziene Zuwendung Gottes zu den Menschen. vgl Schmid. Wesen 151 und oben Anm 27. 19 Dieser Zug ist wohl dadurch bedingt. dass der Hymnus schon von der Inkarnation in Jesus Christus aus denkt. Sie ist der Zielpunkt. von dem aus gesehen alle Zuwendung des Logos das Hauptthema wird. ln dieser Hinsicht unterscheidet sich der Prolog sowohl von der apokalyptischen Weisheitstheologie des äthHen (42). wo die Weisheit ihre Ablehnung mit dem Rückzug in den Himmel beantwonet. als auch von der gesetzestheologischen Weisheitsvorstellung in Sir 24. Wenn die Weisheit ins Gesetz eingeht. so bleibt sie - trotz ihres Nahekom-
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
dieser Logos stellt Gott in seiner Zugewandtheil zu den Menschen dar. Seine Dynamik ist darin begründet, dass Gott seiner Zuwendung treu bleibt. Die Dynamik der Zuwendung erreicht ihren Gipfelpunkt in Job 1,14: »Der Logos wurde Fleisch.« Dies ist gleichsam die letzte Antwort des Logos auf die menschliche Geschichte der Abwendung. Zwar ist der kommende Gott ein Grundmotiv des mythischen Erzählens. 40 Aber auf dem Gipfelpunkt41 macht dieser Mythos eine Aussage, die bisher keine Parallelen in Mythen hat. Er spricht nicht bloss von Epiphanie, von der flüchtigen Verkleidung des Gottes in die Gestalt eines Menschen. 4 2 Nein, der schlechthin nicht-weltliche Logos wird zur schlechthin weltlichen Person. 43 Der Unkörperliche ist hier und jetzt verkörpert. Der
mens - insofern dem Menschen fremd. als dieser selbst - durch sein gesetzesgemässes Handeln - der Weisheit zu Wirklichkeit verhelfen muss. ln dieselbe Richtung weist Joh 1.17. wo das Gesetz und der Christus gegenübergestellt werden: das Gesetz ist durch Mose gegeben. während die Gnade durch Christus verkörpen (~nw) ist. 40 Bultmann. Johannes 38f weist auf die grosse Verbreitung des Motivs in Antike. Orient und Gnosis hin. Zu beachten ist freilich. dass stets von der Erscheinung. nicht aber von der Aeischwerdung des Gottes gesprochen wird. Das Motiv des kommenden Gottes ist demzufolge charakteristisch. auch für die »Neue Mythologie«, vgl Frank. Der kommende Gott passim. 41 Zu dieser Bewenung von 1.14 vgl Schnackenburg. Johannesevangelium 241 (»Der Logoshymnus erreicht nun seinen Höhepunkt.«). Gegen Becker. Johannes I 81 f. der einen vorchristlichen Hymnus ohne die Inkarnationsaussage annehmen möchte. Dies ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil sowohl in der gesetzestheologischen als auch in der apokalyptischen Lösung jeweils ein weiterer Schritt auf die allgemeine Gegenwan der Weisheit in der Welt folgt (Eingehen ins Gesetz. bzw Rückzug in den Himmel). Auch eine Zuweisung von V. 14 zur Redaktion des Evangelisten (zB Käsemann) oder der Kirchlichen Redaktion (Richter) entbehn der sachlichen Begründung. vgl Schnelle. Christologie 241. 42 Die Epiphanie ist von der Aeischwerdung strikte zu unterscheiden. sofern sie ein Nahekommen des Göttlichen bei gleichzeitiger Distanzienheit ist. Die t~n10 meint ein Geschehen. in welchem ein Gott hilfreich eingreift. oft in der Gestalt eines Menschen. Dazu Bultmann/ Lührmann. An. t-.ai.,. 8,14-10.22. Grundlegend für die Epiphanievorstellung ist die Unterscheidung der göttlichen Kraft von ihrem jeweiligen Träger. Epiphanie kann das sein. was beispielsweise ein Mensch Riht, nicht was er ist (im Unterschied zum tyEnw von Joh 1.14 ). Zum Problem vgl Picht. Kunst und Mythos 451, der darauf hinweist. dass sich die Götter Griechenlands »durch ihr Wirken oder durch Zeichen•. also in ihrer Epiphanie zeigen. Gerade wenn sich die Götter zeigen, verbergen sie sich oft in einer fremden Gestalt: »die sichtbare Gestalt ist dann die Form. in der sich die Götter unkmntlich machen«. Der Gegensatz zum Aeischwerdungsgedanken ist kaum mehr schärfer vorzustellen. Nach Joh 1,14 ist es genau die wahrnehmbare Gestalt. in welcher sich der Logos erkenntlich zeigt. 43 Zur Bedeutung von ~nw vgl Schnelle. Christologie 241 f. Die Relativierung dieser klaren Aussage im Sinne von blosser Berührung mit dem Irdischen. von Mindestmass an Ausstat-
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Ungreitbare ist ins Greifbare eingegangen, so sehr, dass ihn sogar die Hände seiner Henker greifen konnten. Gegenüber dem gewohnten mythischen Reden vom kommenden Gott waltet eine qualitative Differenz. Dieser Logos kommt ins weltliche Fleisch, ohne im geringsten anzudeuten, seine Distanz zum Fleisch bleibe trotz allem gewahrt. Der Logos verkörpert sich als Aeisch, reiner kann seine Zuwendung zur Welt nicht gedacht werden. Dass hier eine qualitative Differenz zum Gewohnten besteht, zeigt sich nicht zuletzt in der ungeheuren Arbeit, die die alte Kirche an der Denkbarkeil dieser Aussage zu leisten hatte man denke an die Ausbildung der christologischen Bekenntnisse. Dass diese Aussage über den göttlichen Logos an die Grenzen dessen geht, was man vom Göttlichen überhaupt denken kann, zeigt nicht zuletzt die mannigfache Zurücknahme des Fleischwerdungsgedankens in der gnostischen Christologie. 44 Was ist hier geschehen? Der Mythos vom Logos erzählt den Übergang des Mythischen ins Weltliche. Er erzählt die Geschichte der göttlichen Zuwendung und redet dabei vom Menschen Jesus. Die Berührung von Gott und Welt in diesem Aeischgewordenen ist punktuell, 4 ~ so wie eine Tangente einen Kreis berührt. Der eine Berührungspunkt gehört gleichermassenganz zu Gott und ganz zur Welt. Und mit der Ge-
tungsregie. oder von Kommunikationsmittel zwischen Himmel und Erde ist unangemessen (mit Schnelle. ebd). •• Etwa in der dreigestaltigen Protennoia NHC XIII (Schenke, Protennoia): •Zum dril(le(nmal offenbarte ich mich ihnen liln ihren Zelten. existierend als Logos« (NHC XIII 47.13-15, aaO 47). Hier wohnt nicht der Logos selbst unter den Menschen, sondern er offen· bansich in ihren Wohnungen. Er trug •ihrer aller Kleidung« (47, 17), »Verbarg• sich •selbst in ihnen« (47,18 vgl47.220. »Ich habe Jesus angezogen. Ich trug ihn weg von dem verfluchten Holz, und ich versetzte ihn in die Wohnungen seines Vaters« (NHC XIII 50,12-15, aaO 51). Hier erscheint der gekreuzigte Jesus als eine blosse Verkleidung des Logos. Als weiteres Bei· spiel sei NHC 11/3.57.29-58, I0 genannt (dazu Rudolph. Gnosis 173f: Rudolph gibt die Stellen falsch an). Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen christlicher und gnostischer Theo· logie ist gerade Rudolph nicht genügend gefeit: dass dies nichtzuletzt auf Kosten der johannei· sehen Theologie geht. zeigt seine Wiedergabe von Joh 1.14 (»'ins Aeisch' gekommen (sie!(«, Rudolph. Gnosis 175). H Zu diesem Problem vgl Müller. Mythos und Kerygma 432. Müller fühn die Notwendig· keit einer bloss punktuellen Berührung zurück auf die prinzipielle Unterscheidung von Gott und Weh. »Der transzendente Gott kann, solange in gegenständlichen Vorstellungen von ihm geredet wird, die Weh immer nur berühren, wie eine Tangente den Kreis berühn oder vielmehr nicht berühn: er ist in der denkbaren Gegenstandswelt allenfalls als punctum mathemalicum anwesend.• Im Unterschied zu Müller würde ich die punktuelle Berührung nicht auf ein all· gemeines hermeneutisches Defizit der Neuzeit, sondern eher auf die Eigenart des allgemeinen Menschwerdungsgedankens zurückführen.
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
schichte, die der Mythos hier erzählt, erzählt er seinen eigenen Übergang vom Mythischen ins Weltliche. Der Mythos wird seinerseits in die Kehre geführt. Denn der Mythos reicht nicht mehr aus; er sagt zuviel, als dass er auf die Fortsetzung des Evangeliums verzichten könnte, wo die weltliche Geschichte des Fleischgewordenen erzählt wird. Der Mythos wird nun zur Ouvertüre"6 einer weltlichen Geschichte. Und andererseits sagt er zu wenig, als dass er seine mythische Eigenständigkeil bewahren könnte. Nun ist er angewiesen auf die Erzählung von den greifbaren Taten und den hörbaren Worten des Jesus von Nazareth. 47 Der Mythos wird nun zum Horizont einer weltlichen Geschichte. Er wird zum Horizont von Dingen, die der Fall waren. Die Dynamik der Weltzuwendung Gottes, von der der Mythos erzählt, kommt auf den Gipfelpunkt in der Inkarnation. Und zugleich erfasst diese Dynamik auch den Mythos selbst und setzt das mythische Denken in Bewegung in Richtung Vordergrund der Welt. 48 Insofern bearbeitet dieser Mythos gerade die menschliche Weltflucht. Er begleitet seine Hörer stets von neuem herunter aus den mythischen Höhen des göttlichen Logos zu den weltlichen Tiefen des Fleischgewordenen. Die Arbeit dieses Mythos besteht darin, die in die Höhen schweifende religiöse Phantasie in den Vordergrund der Welt zu geleiten. Insofern markiert dieser Mythos vom Logos die Kehre seiner selbst. "'Buhmann. Johannes I in Anlehnung an Heitmüller. 47 Zur Kritik der verschiedenen Versuche. den Prolog vom Korpus des Evangeliums abzusetzen. vgl Schnelle. Christologie 231 f. Der Prolog muss als »Eröffnung des Evangeliums in sachlicher und zeitlicher Hinsicht« (aaO 232) angesehen werden. 41 Hier könnte mit Müller. Mythos und Kerygma 428 der entscheidende Übergang vom Mythischen in das Kerygmatische gesehen werden. »Bezeichnet das Kerygma vom jeweiligen Eingreifen Gottesam Schauplatz der Not seines Volkes die Mitte des Alten Testaments. so ist die endgültige Ankunft Gottes in der Welt des Menschen das Zentralmotiv der Christusbol· schaft: hier und don kommt Gott. um in der Geschichte zu handeln. sich also in der Welt von der Welt zu unterscheiden. während umgekehn das Mythische zwar das Sein der Welt von dessen ausserweltlichem Ursprung her rechtfenigt, aber gerade so nicht dessen integralen Zusammenhang verlässt.• Zu präzisieren wäre freilich. dass Gott sich nicht bloss in der Welt von der Welt unterscheidet. sondern dass seine Unterscheidung selbst den Charakter des ZurWelt-Kommens hat. Gott unterscheidet sich- nicht mehr wie im Mythos. wo die Entzogenheil des erscheinenden Gottes diesen vom Weltlichen unterscheidet- dadurch von der Welt. dass er selbst ein von allen Menschen unterschiedener. wahrer Mensch wird. Die Grundlage des inkamatorischen Redens ist demnach gerade nicht der Rückgang auf das Unsagbare. sondern die Würdigung der Unvordenklichkeil des R~R~ben~n Wones. Zu präzisieren wäre ferner. dass Gottes Hand~ln in der Geschichte. wie es das Kerygma des Alten Testaments verkündigt. qualitativ unterschieden ist von Gottes S~in in der Geschichte. wie es der Mythos vom Logos erzählt.
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1.3 Die Grundlage des mythischen Redens Auf dem Höhepunkt - der Inkarnation - wird zugleich klar, auf welcher Grundlage dieser Mythos redet. Im ursprünglichen Hymnus49 lautete die Gedankenfolge so: (I) Der Logos wurde Fleisch und nahm Wohnung unter uns (1,14a). (2) Wir sahen seine Würde, eine Würde, wie sie ein Einziggeborener von einem Vater hat,50 voll von Gnade und Wahrheit (1,14b). (3) Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade über Gnade (1,16). 51 V. 16 spricht aus, was zum mythischen Reden von der Inkarnation ermächtigt. Es ist die Erfahrung, Gnade über Gnade empfangen zu haben. Diese Erfahrung begründet, dass die Würde des einziggeborenen Sohnes in diesem Fleischgewordenen gesehen wurde. 52 Und dies setzt wiederum voraus, dass der göttliche Logos Fleisch wurde und seine Zelte unter den Menschen aufschlug. Am Ursprung des hier vorliegenden mythischen Redens steht nicht die Spekulation über die tiefsten Hintergründe der Welt, sondern eine Erfahrung53 im Vordergrund der Welt: die Lebenserfahrung, die in der 49 Im folgenden wird davon ausgegangen. dass mindestens die Täuferstellen 1.6-8.15 auf einer traditionsgeschichtlich jüngeren Stufe in den Prolog eingetragen worden sind. Sie haben die Aufgabe, den Akzent der weltlichen Konkretheil der Aeischwerdung stärker herauszustreichen. Dies erreichen sie durch den (auch sprachlich wahrnehmbaren) Kontrast, der sich einem prosaischen Sprung aus den hymnischen Dimensionen des himmlischen Logos in die Tagesereignisse am Jordan verdankt. Zur Scheidung von Redaktion und Tradition vgl zuletzt Schnelle, Christologie 243f. der auf den fast einhelligen Konsens in der exegetischen Literatur hinweist. 50 Die Anikellosigkeit dieser Wendung legt es nahe, zunächst einen metaphorischen Gebrauch von t&Ot'~ anzunehmen: der einzige Sohn ist alles, was der Vater hat, und zugleich legt der Vater alles in diesen Sohn hinein. Die Metapher verweist deshalb einerseits auf die enge Beziehung zwischen Gott und dem Logos (vgl 1.1) und andererseits auf die Fülle der Gottesgegenwan in Christus. Zum Problem vgl Wengst. Gemeinde 125f mit Anm 394. 51 Zu beachten ist, dass V. 16 (lm) die Aussagen von V. 14 begründet. Dies streicht auch Käsemann, Aufbau 179f heraus (im Anschluss an Harnack und Schlier). Ungenau ist freilich Käsemanns Annahme, schon V. 14b diene zur Begründung der Aeischwerdungsaussage. Der Gedankengang lautet vielmehr: (I) Aeischwerdung - (2) Sehen der göttlichen Fülle als ~ des Aeischgewordenen, die als~ und ci~IG näher bezeichnet wird- (3) Grund für dieses Sehen und insofern auch für jene Aeischwerdungsaussage: die Erfahrung der Gnade (V. 16). Es geht V. 14.16 dann allerdings um die •praesentia Christi« (aaO 179), nämlich um das Gewicht. das die mit dem Won Christi gemachte Erfahrung der Gnade hat. 52 1m Vordergrund steht dabei nicht die Exklusivität (gegen Buhmann. Johannes 470. die für den Christus beansprucht wird, sondern vielmehr die Reinheit. die die Erfahrung der Gnade hier erreicht hat. 51 Das mythische Reden ist seinerseits nicht aus der Spekulation geboren, sondern aus dem Versuch. Erfahrenes angemessen zu begreifen. Picht. Kunst und Mythos 441 ff zeigt dies am
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johanneischen Gemeinde mit dem Wort Jesu gemacht wurde. Diese Lebenserfahrung wird als xap~. Gnade, identifiziert. Zur Erfahrung kam also gnädig Gewährtes, Leben, das die Empfänger nicht erwirkt hatten. Für diese Lebensgewährung gab es keinen weltlichen Grund. Indem die Erfahrung mit dem Wort Jesu als Gnade erkannt wird, tritt in den Vordergrund, was im Hymnus das Erleuchtende am Leben genannt worden ist. Christus verkörpert eben auch die gnädige Zuwendung, die aus jedes Menschen Leben hervorleuchtet.s 4 Anlass zu mythischem Reden war die Erfahrung des gnädig Gewährten im Vordergrund der Welt. Deshalb auch der unvermittelte Sprung von hymnischen Höhen in die Tagesereignisse am Jordan.ss Dieses Gewährte vernünftig zu denken, war Anlass für den Rückgang auf das Unvordenkliche. Wie könnte seine weltliche Grundlosigkeit anders zur Sprache kommen als in ei-
Beispiel der Götter »Phobos• und »Eris«. Picht spricht in diesem Zusammenhang von einer »eigentümliche(n) Sachgerechtigkeit des mythischen Denkens« (aaO 445), die darin besteht. dass der mythische Ausdruck die Phänomene der Furcht und des Streites in ihrer intersubjektiven und nicht auf Affekte reduzierbaren Erscheinungsweise zu würdigen vermag. Die mythische Rede vom Gott Phobos vermag immerhin den Unterschied zu machen zwischen der Macht, die in einem Affekt (wie Furcht) erlitten wird, und diesem Affekt selbst (vgl aaO 446(). Mythisches Reden verdankt sich demnach der sensiblen Wahrnehmung eines Phänomens. was generell an den •Personifikationen• zu explizieren wäre. Die moderne Kritik gegenüber solchen Personifikationen, dass sie in Wirklichkeit bloss Affekte seien. beruht auf einem Selbstmissverständnis der Rationalität: »Die Götter sind nicht ein Produkt der Personifikation, sondern jeder Personifikation geht die Erscheinung eines Gottes voraus« (aaO 447 im Anschluss an K. Reinhardl). Eine ähnliche Annahme liegt auch der Äusserung von Hübner. Wahrheit 337f zugrunde, dass die Erscheinung des Göttlichen ihre Sinnlichkeit verliere. wenn da'i mythologische Reden aufgehoben wird. ~·Wir können hier beobachten. welchen Ertrag der mythologische Horizont der vordergründigen Erfahrung mit dem Won Jesu bringt. So gelingt es, die mit diesem Won gemachten Erfahrungen in den Zusammenhang des Lebens zu stellen. Dabei werden weitere Erfahrungsräume ftir den Christus erschlossen: die Gnade. die in diesem Won erscheint. wirft ihr Licht auf die Lebendigkeit. mit der jeder Mensch begabt ist: diese Lebendigkeit beginnt nun ihrerseits zu leuchten. Die mythische Wahrnehmung des Christus erschliesst neue Erfahrungen mit dem Leben selbst. Ganz in diesem Zusammenhang wären auch die t.,.-e\f'l- Wone zu sehen. In ihnen geht es ja nicht bloss darum, dass die Erfahrungsphänomene wie Brot, Licht. Weinstock oder Weg das erschliessen, was mit dem ~ (Christus) gemeint ist. Sondern umgekehn erschliesst das auch die Dimension der göttlichen Gabe in den als Metaphern verwendeten Phänomenen: dazu Weder, Menschwerdung Gottes oben S. 379. s~ Auch wenn die Verse 6--8 und 15 als Einschub einer späteren Stufe zu gelten haben. ist ihre Einfügung alles andere als inkonsequent. Der Sprung in die Tagesereignisse dokurnentien - ebenso wie der Sprung von der Poesie zur Prosa - die Kehre, in welche dieser Mythos vom Logos sich selbst geflihn hat.
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nem Mythos, der es in der unvordenklichen Zugewandtheil Gottes zu den Menschen gründet?5 6 Das mythische Reden hat - wie wir sahen - seine konkrete Erfahrungsgrundlage in einem Wort, das im Vordergrund der Welt gesprochen wurde. Dieses ist mitverantwortlich dafür, dass der Logos an die Stelle der Weisheit trat.~ 7 Die Erfahrung, dass Jesus in eminenter Weise als anredendes Wort- als ein Gnade austeilendes Wort- zur Erfahrung kam, war ein Grund dafür, dass jetzt der Mythos von der Sophia als Mythos vom Logos, vom Reden, vom Wort Gottes, erzählt wird. Dieser Mythos vom Logos gibt Einblick in die Grundlagen des mythischen Redens überhaupt. Mythisches Reden verdankt sich der Wahrnehmung, in unserem Fall einer Wahrnehmung, die sich konkret als Empfangen (ÄaiJP«ivetv) vollzieht. Die Wahrnehmungsdimension des Mythischen erscheint ferner im &cia6cn, im Schauen, von dem dieser Mythos auf seinem Gipfel erzählt. Dieses Schauen ist freilich nicht die kalte Beobachtung von Protokollführern oder Videokameras, mit denen
~b Mythisches Reden hat deshalb nicht zufällig eine erzählende Grundstruktur. Damit gibt es sich als ein Reden zu erkennen. das das Gegebene als etwas Gewordenes zur Sprache bringt. ohne dass es in der Lage wäre. das Nichtsein des Gewordenen begründet (notwendig. rational) auszuschliessen. Die Erzählung ist die jenen Dingen angemessene Sprachfonn. die letztlich grundlos gegeben sind (vgl Fellmann. Ende 115-138). Im Unterschied zur Geschichtserzählung. welche das Gegebene als Zufälliges begreift (dazu Lübbe. Geschichtsbegriff 54-68). erlaubt es das mythische Erzählen. zufällig Gegebenes als gnädig Gewährtes zur Sprache zu bringen. Das Verifikationsproblem. das sich durch diese mythische Interpretation des Gegebenen unweigerlich stellt. ist einzig auf der Ebene der Erfahrung anzugehen. Das mythische Reden deutet Erfahrung. also ist allein durch diese Erfahrung verifizierbar. inwiefern das zufällig Gegebene gnädig Gewährtes zu heissen verdient. Andernfalls käme es zu einem Terror des Mythischen. das Erfahrungen nicht mehr deutet. sondern postuliert. ~ 7 Gewiss hatte auch das Reden vom Logos schon Tradition. In diesem Zusammenhang wird gerne Philo genannt. welcher von einem Myoc; spricht und ihn ~ *~ nennt. vgl Mack. Logos 136ff (die Stelle ist Quaest in Gn II 62. vgl S.l68). Allerdings ist der Gebrauch des Logosbegriffs durch diesen motivgeschichtlichen Zusammenhang nicht hinreichend erklärt. »Die Herleitung des Titels aus ... phiionisch-theologischer Tradition vennag nicht zu überzeugen«. namentlich aufgrund dessen. dass die rationalen Züge Philos im Johannesevangelium fehlen. so Gese. Johannesprolog 179. Ebenfalls nicht hinreichend ist freilich die Erklärung von Gese selbst. der an das Schöpfungswort des Alten Testaments denkt und die Notwendigkeit zum Logosbegriff in der heilsgeschichtlichen Aussage der Christologie sieht (Gese. aaO 180f). Gewiss mag dies mitgespielt haben. doch ist dieses Argument immer noch zu formal. Wenn der Ausgangspunkt des Logoshymnus die Erfahrung mit Christus ist. dann dürfte die Tatsache. dass diese Erfahrung wesentlich den Charakter des Hörens hat. der zureichende Grund dafür sein. dass die Sophia durch den Logos ersetzt wurde.
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Augenzeugen sich zu dokumentieren pflegen.~ 8 Es ist ein Schauen, das in den Menschen Jesus mehr hineinsieht, als er weltlich gesehen ist: die Zeugen blicken auf den Menschen Jesus und sehen in ihm die &qx, die Würde des göttlichen Logos. Dieses Schauen sieht nicht weniger als das, was der Fall ist, sondern mehr. Daran erkennen wir eine charakteristische Leistung des mythischen Redens. Es nimmt die wirklichen Dinge in ihrem wahren Gewicht wahr. 59 Mythischem Reden eignet die Dimension des Würdigens, der Zuschreibung von Würde an das, was vor aller Augen ist. Der Mythos gibt dem Wahrgenommenen die Würde, die es als gnädig Gewährtes hat. 60 Deshalb könnte man sagen: Der Mythos vom Logos ist der Versuch, den Gnade austeilenden Logos vernünftig zu verstehen als das Phänomen, in welchem die unvordenkliche Zuwendung Gottes verkörpert ist. 61 Insofern gewährt er Einblick
~R Exegetisch stellt sich die Frage. ob die Sehenden von 1.14 als Augenzeugen zu betrachten seien. vgl Buhmann, Johannes 45f. Weder geht es um die Augenzeugenschaft im Sinne der protokollarischen Dokumentation noch um das »geistige Sehen• im Sinne der religiösen ldeenschau. Vielmehr geht es (mit Buhmann) um ein St-ht-n dt-s Glauhtns. Freilich gilt es festzuhalten, dass der Glaube zwar mehr sieht, als vor Augen liegt. dass er dieses Mehr aber dennoch nur in dem sieht. was vor aller Augen ist, eben im lnkarnienen. in Jesus von Nazareth. ~ 9 Dem mythischen Reden wird gewöhnlich die pragmatische Funktion zugeschrieben. das Gegebene zu lt-Ritimit-rm. »Die oder eine Leistung des Mythos. wo immer er nicht als toter Bildungszierat überliefen wird, liegt im normativen Bereich und hat zu tun mit der Frage der Rechtfenigung von Lebenszusammenhängen in sozialen Einrichtungen" (Frank. Der kommende Gott 1~12). Auch Müller bestimmt die Funktion des Mythos einseitig als Legitimation des Seienden, vgl Müller. Mythos-Anpassung-Wahrheit 9-13. Es soll nicht bezweifelt werden. dass Mythen auch eine legitimierende Funktion erhalten können. Immerhin wäre zu fragen, ob die Funktion. Gegebenes allererst in seinem Gewicht wahrzunehmen. nicht elementarer ist. Die Legitimitätsfrage entsteht doch erst dann, wenn Seiendes nicht mehr in seiner Zuträglichkeil wahrgenommen werden kann. Der Mythos vom Logos jedenfalls dient nicht der Legitimation des Christus, sondern vielmehr der Wahrnehmung der ac(a Jesu. 60 Dieser Grundzug wiederholt sich in 1.17. einem Satz. der vermutlich schon zur nachträglichen Interpretation des Logoshymnus gehön (so zB auch Buhmann. Johannes 53: Schnakkenburg. Johannesevangelium 252 und zuletzt Schnelle. Christologie 244). In diesem Satz, der übrigens keine Adversativpanikel enthält, geht es um die Gegenüberstellung des Gesetzes. das durch Mose Rt'Rt-ht-n ist, und der Gnade und Wahrheit. die durch Christus Rt-wordt-n ist. Dabei steht nicht der »Strikte Gegensatz• (so Schnelle) im Vordergrund, sondern vielmehr die Unterscheidung zwischen dem Gesetz. das eine Gabe des Mose ist. und der Gnade. welche durch Christus verkörpen ist. Die Unterscheidung heisst konkret: Mose gab das Gesetz. das den Tätern Leben bloss verspricht. Christus dagegen wurde die Gnade, die das Leben der Glaubenden ist. 61 Diese neu in den Blick gekommene Unvordenklichkeil entsteht nicht etwa dadurch. dass das Denken nicht mehr weiter zurückkommt. sondern vielmehr dadurch, dass dieser Logos insofern unhintergehbar ist. als er als gegebener dem Denken prinzipiell vorausgeht.
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in die Unvordenklichkeil dessen, was im Vordergrund der Welt gnädig gegeben ist.
2 Entmythologisierung? Was kann in diesem Zusammenhang Entmythologisierung bedeuten? Wir hatten beobachtet, dass dieser Mythos sich selbst in die Kehre zum Logos führt, ohne freilich in den Logos umzuschlagen. Verlangt also der Mythos seine eigene Entmythologisierung?62 Ist sie das hermeneutische Postulat, das dem Schritt des Logos in die Welt des Greifbaren entspricht? Wird Bultmanns Programm der Entmythologisierung von diesem Mythos gerade ins Recht gesetzt? Diesen Fragen gilt der zweite Hauptteil meiner Überlegungen. 2.1 Das Sachanliegen der Entmythologisierung Bultmann geht bekanntlich davon aus, dass die neutestamentliche Botschaft prinzipiell geprägt ist durch das mythologische Weltbild. 63 Im
~>2 Auf dem Hintergrund der Weltbildproblematik stellt dies schon Buhmann, Mythologie 22f fest. »Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der. ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus. wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch. sondern anthropologisch - besser: existential interpretiert werden« (S.22). Es ist allerdings die Frage. ob man dem vorliegenden Mythos mit dem Gegensatzpaar •objektivierend - existential« tatsächlich beikommt. Gewiss geht der Logoshymnus aus von den Erfahrungen des Empfangens, also von - wenn auch nicht existentialen so doch existentiellen Phänomenen. Insofern geht es ihm nicht um den Entwurf eines Weltbildes. Dennoch haben die Aussagen zum ewigen Sein des Logos. zu seinem Leuchten in der Lebendigkeit jedes Menschen. nicht bloss die Funktion. das Selbstverständnis menschlicher Existenz zum Ausdruck zu bringen. Sie wollen vielmehr auch »gegenständlich« genommen werden. ohne dass sie unter das Verdikt der Objektivierung fallen. An der Gegebenheit des menschlichen Lebens wird die Dimension der Erleuchtung entdeckt. eine Dimension, die nicht auf das weltliche Vorhandensein des Lebens verzichten kann. 63 Der mythische Charakter des neutestamentlichen Weltbildes ergibt sich aus der Dreistufigkeit (Himmel. Erde. Unterwelt) der Welt und der durch übernatürliche Mächte bewegten Geschichte. vgl Bultmann. Mythologie 15. Die neutestamentliche Verkündigung interpretiert das Heilsgeschehen dadurch. dass sie es als Eingriff himmlischer Macht und als Kampf gegen unterweltliche Mächte darstellt (aaO 150. »Dem mythischen Weltbild entspricht die DarstellunR des HeilsReschehens . ...... (aaO 15). Wesentlich ist dabei. dass das mythologische Weltbild es erlaubte, den göttlichen Eingriff in die Welt rational zu denken. Nach dem Verschwinden des mythologischen Weltbilds stellt sich deshalb die Frage. wie der göttliche Eingriff angesichts der eindimensional gewordenen Welt gedacht werden könne. jedenfalls solange man theologisch zu sprechen beansprucht.
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mythologischen Weltbild ist die Erfahrungswelt - das mittlere Stockwerk - durchsetzt von Einwirkungen aus dem Himmel und aus der Unterwelt. Daraus folgt für Buhmann, dass das mythische Reden zur weltanschaulichen Signatur des Neuen Testaments wird. Die weltanschauliche Situation hat sich in der Neuzeit insofern verändert, als das Weltbild eindimensional geworden ist. 64 Die Erfahrungswelt ist neuzeitlich nur als Zusammenspiel weltlicher Phänomene denkbar. 6 ~ Sie ist nicht mehr mythisch, sondern nur noch weltlich oder rational beschreibbar. Das entscheidende Problem für die neutestamentliche Botschaft besteht nicht in ihrem mythologischen Charakter als solchem, sondern darin, dass mythisches Reden nicht mehr als solches wahrgenommen und demzufolge mit dem rationalen Reden verwechselt wird. In der Neuzeit wird das Mythische verwechselt mit den Protokollen über das, was in der Welt der Fall ist. 66 Da in dieser Verwechslung die Leistung des Mythischen verloren geht, verlangt es die neuzeitliche Situation, dass der alte Mythos inter-
64 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den überaus treffenden Satz Karl Banhs im Referat über F. Overbeck: »Freilich: Um diese Welt zu begreifen •.... vermeiden (wir) auch den 'leisesten Duft von Theologie'." (Banh. Unerledigte Anfragen 6. vgl Overbeck. Christentum und Kultur 5: »Für Nachkommen der Aufklärung ist darin [sc in der Erklärung der Geschichte) fonan nicht mehr der leiseste Duft von Theologie zu dulden.«). Banh interpretien das genannte Werk Overbecks als Plädoyer gegen die Selbstverständlichkeit. Theologie zu treiben. und legt es an jedes Menschen Herz. vgl Banh. Unerledigte Anfragen 4. Zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 54-57. ~~~ Klar formulien dies Troeltsch im Blick auf die massgebenden Prinzipien historischer Erkenntnis. vgl Troeltsch. Methode 105-127. Das Prinzip der Kritik forden. dass die Tradition keine apriorische Autorität beanspruchen kann. sondern dass ihre Wahrheit anhand des neuzeitlichen Wissens kritisch etablien werden muss. Das Prinzip der Analogie forden. dass Ereignisse dann und nur dann historische Wahrscheinlichkeit beanspruchen können, wenn sie Analogien in der Gegenwan oder mindestens gut bezeugte Analogien in der Vergangenheit haben. Das Prinzip der Korrelation schliesslich forden. dass die Geschichte als ein lückenloser Zusammenhang weltlichen Geschehens begriffen werden muss. Die Säkularität ist demnach nicht ein Ergebnis des Erkennens. sondern vielmehr eine erkenntnistheoretische Voraussetzung. Dasselbe erkenntnistheoretische Postulat gilt auch für die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt. vgl von Weizsäcker. Ganen des Menschlichen 91-99: Bultmann. Mythologie 16-21. der die Weltlichkeil der Wahrnehmungsbedingungen eindrücklich beschreibt. 1111 Nachdem »unser aller Denken unwiderruflich durch die Wissenschaft geformt worden ist" (Buhmann. Mythologie 17). müsste vom Menschen ein sacrificium intellectus verlangt werden. wollte der Glaube an der Objektivität des mythischen Weltbilds festhalten. Im Rahmen des naturwissenschaftlich geformten Weltbilds und des als geschlossene Einheit verstandenen Menschen muss der Mythos. wenn er eigentlich genommen wird. als weltbildhafte Aussage missverstanden werden.
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pretiert wird. 67 Diese Interpretation heisst bei Bultmann die Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft und vollzieht sich konkret als existentiale Interpretation. 68 Die existentiale Interpretation holt die ins Objektive verflüchtigte Aussage des verwechselten Mythos zurück in ihre Bindung an menschliche Wahrnehmung, an die Betroffenheit des menschlichen Subjekts. Man könnte auch sagen: die existentiale Interpretation bringt den Logos des Mythos, der aus weltanschaulichen Gründen in die religiöse Hinterwelt verbannt ist, zurück in den Vordergrund menschlichen Daseins. 69 Insofern vollzieht die existentiale Interpretation genau jene Bewegung zum Menschen, die wir als grundlegende Dynamik unseres Mythos vom Logos erkannt haben. Diese Inter-
" 7 Dies gih solange. als der neutestamentlichen Botschafl eine Wahrheit zugestanden wird, die unabhängig vom Wehbild besteht. Buhmann. Mylhologie 16 stellt genau diese Frage. »ob die Verkündigung des Neuen Testaments eine Wahrheit hat. die vom mythischen Wehbild unabhängig ist«. Wäre dies der Fall, so wäre es »die Aufgabe der Theologie, die christliche Verkündigung zu emmythologisieren« (ebd). Fraglich ist allerdings. ob diese Frage auf der Ebene der existentialen Ontologie überhaupt zu beantworten isl. Denn die Wahrheit des Kerygmas kann sich nur dadurch einstellen, dass der Adressat sie im Kerygma erkennt "" Dazu Buhmann. Mythologie 26: »Auch diese Mythologien (sc der jüdischen Apokalyptik und des gnostischen Erlösermythos. von denen das Neue Testament charakteristischen Gebrauch machl) haben ihren Sinn nicht in ihren objektivierenden Vorstellungen. sondern müssen auf das in ihnen liegende Existenzversländnis hin. d.h. existential. interpretiert werden. wie das Hans Jonas für die Gnosis vorbildlich getan hat.« Buhmann macht auch im Abschniu •Der Vollzug der Entmythologisierung in Grundzügen• (aaO 27ff) vollkommen klar. inwiefern die »entmythologisierende Interpretation (! )« (aaO 26) konkret existentiale Interpretation ist. Dieser Zusammenhang wurde von der Mehrheit der Kritiker Buhmanns nicht wahrgenommen, lauten doch ihre Vorhaltungen zumeist auf kritische Reduktion. ein Verfahren, das Buhmann ausdrücklich ablehnt (vgl aaO 21 f.23-26). ~"Instruktiv ist Buhmanns Beispiel der Sünde. Die Philosophie erkenn! durchaus die »Verfallenheit« des menschlichen Lebens. sofern sie um die Eigentlichkeil des Daseins weiss (Buhmann, Mythologie 36). Im Unterschied zur Theologie jedoch ist sie der Meinung. »dass den Menschen das Wissen um seine EiRmtlichkeit ihrer schon mächtiR mache" (aaO 37). Entgegen dieser kognitiven Verharmlosung der Verfallenheil denkt das Neue Testament diese so radikal. dass es auch das Wissen nicht mehr soleriologisch interpretieren kann (ebd). Gerade im (auch philosophischen) Trachten nach Eigentlichkeil erscheint demnach die Eigenmächtigkeit des Menschen. welche das Neue Testament als Sünde zur Sprache bringt (aaO 37f). Im Horizont dieser Eigenmächtigkeit kann die neutestamentliche Rede von der Sünde dem Menschen nur als »mythologische Rede« erscheinen (aaO 38). Dies ändert sich erst in dem Augenblick. »da dem Menschen Goues Liebe begegnet als die ihn umfangende und tragende Macht. die ihn gerade auch in seiner Eigenmächtigkeit und Verfallenheil trägt• (ebd). Daraus folgt: die Sünde kann erst existential interpretiert werden. wenn das Kerygma den Menschen in der Weise existentiell betrifft. dass .er \'Oll sich selbst befreit wird" (aaO 39). Das anredende Kerygma von der Vergebung der Sünde als einem gönlichen Eingriff verwandelt die Sünde aus einem objektivierten Mythos in eine existentielle Wahrheit.
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pretation sorgt dafür, dass die Sache des Mythos auch in veränderter Situation auf die Wahrnehmung angewiesen bleibt, dass sie erkenntlich bleibt als eine Würdigung des Gesehenen, die über das Weltliche hinausgeht. Das Sachanliegen der Entmythologisierung ist es mithin, auch unter veränderten Bedingungen am Mythos zu entdecken, welchen Ertrag er für die Rationalität erbringt. Dass dieses Sachanliegen Bultmanns nicht immer verstanden worden ist, soll hier nicht beschönigt werden. 70 Dies mag zum Teil auf die Hammerschläge zurückzuführen sein, mit denen Bultmann sein Programm vorgetragen hatte. 71 Die Hauptursache jenes Missverständnisses liegt jedoch meines Erachtens darin, dass verkannt wurde, inwiefern Entmythologisierung mit existentialer Interpretation identisch ist. Das Sachanliegen der Entmythologisierung ist gerade nicht der Abschied vom Mythos im Namen der Säkularität, sondern der Versuch, auch in säkularer Zeit ein vernünftiges Verhältnis zum Mythischen zu gewinnen. Dieses Sachanliegen scheint mir unaufgebbar zu sein. 2.2 Entbehrlichkeit des Mythos? Dennoch muss die Frage gestellt werden, ob die Entmythologisierung als hermeneutischer Vorgang den Mythos als entbehrlich erweise. Sprachtheoretisch betrachtet heisst das: Ist die begriffliche Sprache existentialer Ontologie in der Lage, die poetische Sprache des Mythos ohne Verluste zu übersetzen? Wir haben gesehen, dass es die Leistung des Mythos vom Logos ist, das Gewicht des gesagten Wortes auszusprechen. Daran schliesst sich
70 Das Missverständnis wird erneut dokumentien durch Hübner. Wahrheit 335-342, der anhand von ftinf Überlegungsgängen Bultmann so interpretien, als ob es bei der Entmythologisierung gerade um eine Reduktion der neutestamentlichen Botschaft ginge. Hübner gelangt wiederholt zum folgenden Schluss: »Wo lebendig geglaubt und nicht nur philosophisch-wissenschaftlich argumentien wird, da wird auch mythisch erlebt, man drehe und wende es wie man will« (aaO 341. vgl 338). An diesem Punkt, wo Hübners Überlegungen zu End~ komm~n. beginnt Bultmanns Reflexion erst. 71 Man denke etwa an das wiederholte »Erledigt«, das Bultmann manchen liebgewordenen Vorstellungen prädizien. vgl Bultmann, Mythologie 17f, oder an den vielzitienen Satz aaO 18: •Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Minel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.« Dieser gewiss provokative Satz enthält immerhin die unbestreitbare Wahrheit, dass das moderne Weltbild nicht etwa durch theoretische Reflexion, sondern vielmehr durch das Alltagsverhalten gewonnen wird, was es gegenüber weitergehender Reflexion beinahe völlig immunisien.
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die hermeneutische Grundfrage an, ob die Würdigung des Wortes Jesu je ohne den mythischen Rückgang auf das Unvordenkliche auskommt. 72 Das ist die Frage, ob der im Vordergrund der Welt angesiedelte Logos nicht viel zu leicht gewichtet wird, wenn er nicht im Horizont des göttlichen Logos wahrgenommen wird. Diese Frage hängt mit der fundamentaltheologischen Frage zusammen, ob Theologie an ihrem Ursprung dem Begrifflichen oder dem Poetischen verpflichtet ist. 73 Das Begriffliche ist die Sprache, in welcher beschrieben wird, was der Fall ist. Das Poetische dagegen ist die Sprache, in welcher das Gewicht dessen gewürdigt wird, was der Fall ist. Das Mythische schliesslich ist die Sprache, in welcher das Gewicht des Weltlichen im Horizont des Gött-
72 ln Bultmanns Terminologie wäre dies die Frage. ob das Kerygma die Getragenheit des menschlichen Lebens verkündigt, oder ob es den Menschen auf das Gewicht des Tragenden aufmerksam machen will. Analog ist die Frage. ob die Geschichte. von der das Kerygma spricht. übersetzbar ist in die Geschichtlichkeit. die die existentiale Interpretation zum Thema macht. Immerhin deuten Bultmanns Ausflihrungen zum Geschichtsproblem darauf hin. dass der Mensch (bedingt durch das Modell der Geschichtlichkeil des Daseins) zu sehr in die Position der Entscheidung gegenüber der Geschichte gerät, und dass er insofern nicht mehr in den Blick bekommt, dass die Geschichte nicht nur die Rolle des Gesetzes zu spielen hat. Zum Problem vgl Weder, Kreuz 106-108 mit Verweisen auf Bultmanns Arbeit über Geschichte und Eschatologie. 73 Dazu ist der höchst aufschlussreiche Aufsatz G. Baders. »Theologia poetica« 188-237 zu vergleichen. Ausgehend von der grossen Bedeutung der theologia poetica in der Renaissance erforscht Bader deren Vorgeschichte in der Spätantike und in der Antike. Er macht aufmerksam auf Augustins dreiteilige Unterscheidung der Theologie in eine theologia poetica. eine theologia naturalis und eine theologia civilis. wobei alle drei als »Erzeugnisse des Heidentums« gelten. während Augustin seine eigenen Kompendien christlicher Lehre nie als Theologie bezeichnete (aaO 210f). Von Augustin in die Antike zurückgehend erbringt Bader den Nachweis. dass »Theologia poetica ... die früheste und ursprüngliche Schicht von Theologie« ist (aaO 233). Damit ist Theologie selbst neu definien: ursprünglich ist sie nicht »Bezug der Sprache auf Sprache«, sondern »Bezug der Sprache auf das, was nicht mehr Sprache ist«: dieser Übergang ist es, »der den Gesichtspunkt des Theologischen immer nur in eins mit dem des Poetischen hervonreibt« (aaO 235). Wenn Theologie an ihrem Ursprung Poesie ist. dann ist in ihr Gott •nicht an sich schon Sprache von An. sondern wird es allererst, indem die Poetizität der Sprache gelingt und somit theo-logia entsteht« (ebd). Die Tragweite dieser Erkenntnis ist darin zu sehen, dass die Theologie sich von ihrem Ursprung abkehn. wenn sie zu einem begrifflichen Unternehmen wird. Dabei ist zu vermuten, dass sie dies nicht ungestraft zu tun vermag; die Abkehr ist zugleich der Übergang von Theologie zum Theologisieren. Bleibt sie ihrem Ursprung treu. wird sie nicht zuletzt ein neues Verhältnis zum Metaphorischen. das eine Grundform theologischer Rede darstellt, gewinnen müssen (aaO 235). Sie steht dann nicht dem Won gegenüber, sondern unmittelbar der »Stumm sprechende(n) Wirklichkeit« (aaO 236), die zur Sprache zu bringen die ursprüngliche Tätigkeit des Theologen ist. Zur Nähe der poetischen Theologie zum Mythos vgl aaO 236f.
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liehen wahrgenommen wird. 74 Deshalb steht zu vermuten, dass die Theologie sich ursprünglich dem Poetischen verdankt, und dass eine Theologie, die das wahre Gewicht der Dinge wahrnehmen will, ohne das Mythische niemals auskommt. Der neuzeitlichen Verwechslung des Mythischen mit dem Begrifflichen könnte wohl dadurch gewehrt werden, dass die Theologie einen metaphorischen Umgang mit dem Mythischen pflegt. Am Ursprung der Christologie stand die mythologisch ausgesprochene Würde des eingeborenen Sohnes. Ihr versuchte sie dann mit allen Mitteln der Rationalität gerecht zu werden. So ist meines Erachtens die Logik der Christologie auf die Mythik der biblischen Erzählung bezogen. Auf die theologische Hermeneutik angewendet bedeutet dies, dass die Angewiesenheil des Denkens auf das Unvordenkliche in jedem Denkvorgang erneut mitvollzogen werden müsste. Konkret geschieht dies als ein Nachdenken über das schon gesagte Wort, in Abkehr von der denkerischen Illusion, es könnte auch noch der Stoff des Denkens durch dieses erschaffen werden. Auf solche Überlegungen kommt, wer das Sachanliegen der Entmythologisierung gerade ernst nehmen will. Die Geschichte der Exegese seit Bultmann zeigt indessen, dass dieses Sachanliegen nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit im Blick geblieben ist. In der neutestamentlichen Exegese zeigt sich meines Erachtens weithin eine Entwicklung, die ich »kalte Entmythologisierung« nennen würde. Eine kalte Entmythologisierung verabschiedet das Mythische unbewusst und unversehens, ohne sich der Sache des Mythos überhaupt zu stellen. Die kalte Entmythologisierung hat verschiedene Gesichter. die jetzt in knappen Strichen gezeichnet werden sollen. In der Exegese zeigt sich die kalte Entmythologisierung beispielsweise mit historischem Gesicht. Die sachintensive Interpretation dieses Mythos vom Logos kann verdrängt werden durch die historische Be-
74 Bader. Theologia poetica unterscheidet in folgender Weise zwischen mythischer und poetischer Theologie: »Denn im Poetischen erscheint dasjenige in freier spielender Sprachaktivität. was im Mythos schlechthin gesetzt und zwingend war« (237). Fraglich ist an dieser Unterscheidung. ob sich der Mythos auf seine autoritäre Wirkung. auf seinen »Horror« (aaO 236) fixieren lässt. Immerhin schimmert auch in dieser meines Erachtens unsachgemässen Unterscheidung noch durch. dass der Mythos dadurch charakterisiert ist. dass er die Phänomene in den Horizont des Göttlichen stellt (was als Zwingendes aufgefasst wird). Die Pointe ist dabei jedoch nicht das Zwingende. sondern vielmehr die Bemühung. die Erscheinung des Göttlichen im menschlichen Erfahrungsbereich zur Sprache zu bringen. Daneben teilt wohl der Mythos die Charakteristika des Poetischen.
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schreibung, in der Weise religionsgeschichtlicher Einordnung, historischer Lokalisierung oder literaTkritischer Schichtung. 75 Die Beschreibung dessen, was der Mythos sagte und wo er sich herbedingte, tritt an die Stelle der Auslegung dessen, was der Mythos sagt und was seine Herkunft zu verstehen gibt. Das mythische Reden erscheint als bloss historisch bedingt,76 und dessen Aussage wird zu einem historischen Fossil. Der Mythos, der über das hinausgeht, was der Fall ist, wird nun selbst zu einem Ding, das der Fall war, und somit ist das henneneutiH Dies ist meines Erachtens die vorherrschende Tendenz in der Kommenlarliteratur. als Beispiel seien genannt Becker. Johannes I 67-86 (hier wird die Konzentration auf die Sache des Hymnus fast völlig verdrängt durch die Bemühungen um religionsgeschichtliche und literarkritische Fragen) und Hofrichter. Johannesprolog (da wird der religionsgeschichtlichen Rekonstruktion des Prologs ein ganzes Buch gewidmet. ohne dass näher auf die Sachproblemalik des Mythischen eingegangen wird). Die Notwendigkeit derartiger Untersuchungen soll hier nicht bestrillen werden. Dennoch haben sie Anteil an einer allgemeinen Tendenz in der neutestamentlichen Exegese. die hermeneutisch nicht unbedenklich ist. In Analogie dazu ist die Analyse von Picht. Kunst und Mythos 498ff zu sehen. der den religionswissenschaftliehen Umgang mit dem Mythos fundamental kritisien. »In allen diesen (sc von Picht analysienen) Richtungen hat die Religionswissenschaft die paradoxe Gestall einer Wissenschaft. deren einziger Ehrgeiz es ist. ihren Gegenstand zum Verschwinden zu bringen« (aaO 503). 16 Diese Gefahr besteht auch beim Ansatz von Wengsl. Gemeinde. Wengst kritisien am Interpretationsansatz Bultmanns die »auf den ideellen Bereich abhebenden Formulierung(en)« (aaO 99). Bultmann haue den Gedanken des ll ~ Glil( ~-dahingehend verstanden. dass er »die Erschüllerung und Negierung des Selbstverständnisses der Weil« bedeutete (aaO 98). Diesem »ideellen Bereich« nun setzt Wengsl die »reale Ungesichenheil« der johanneischen Gemeinde entgegen (aaO 99). Die Ungesichenheil entsteht nach Wengsl durch die Gegner der johanneischen Gemeinde. Aus dieser historischen Konstellation leitel Wengst ab. dass es dem Evangelisten nicht um »Infragestellung« gehen könne. sondern »ganz im Gegenteil um Vergewisserung« (aaO 99f).Wengst gehl davon aus. dass zwar die theologischen Aussagen des vienen Evangelisten nicht »von seiner historischen Situation völlig determinien« werden. dass sie aber »Antwonen« auf ihre Situation waren (aaO 7). Dieser Zusammenhang erlaubt es dann. auch die höchsten christologischen Aussagen zu erklären aus der Funktion. die sie in der historischen Situation der Gemeinde hallen. Der Prolog wird dann auf den Begriff der Exklusiviläl der Gonesgegenwan gebracht; diese Exklusivitäl wiederum hat die Funktion. einer Gemeinde als Vergewisseruns zu dienen. die im Begriffe war. den Glauben an Jesus zu verlieren (vgl aaO 1020. »Mit dieser Leseanweisung (sc dem Prolog) treibt der Evangelist keine mythologische Spielerei oder metaphysische Spekulation. sondern mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksminel ein Stück notwendiger Dogmatik« (aaO 103). Abgesehen einmal von der abwesenden Verhältnisbestimmung von Mythologie. Metaphysik und Dogmatik - was macht diesen Prolog •notwendig«. wenn nicht die »reale« historische Situation der Gemeinde'? Er wird zum »Ausdrucksminelcc, das eine historisch bestimmbare Funktion hat und deshalb kein Sachproblem mehr stellt. Selbstverständlich müssen Texte zu ihrer historischen Ursprungssituation in Beziehung gesetzt werden. Aber darf dies so geschehen. dass bloss noch nach ihrer Funktion gefragt wird'? Oder darf dies so geschehen. dass dabei der Überschuss an Sinn. den sie in Zukunft gewinnen werden. dem ,.ideellen Bereich« zugewiesen und im Namen des »Realen« abgewenet wird'?
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sehe Problem des mythischen Redens auf dem Wege der kalten Entmythologisierung aus der Welt geschafft. Dieser Vorgang zeigt sich in der Exegese auch mit soziologischem Gesicht. Soziologisch gesehen ist die Frage nicht mehr, welche Sache der Mythos zur Sprache bringt, sondern das Interesse gilt den sozialen Bedingungen seines Entstehens. Die Frage nach dem, was der Mythos meint, wird verwandelt in die Frage nach der Meinung derer, die ihn schufen. Die Frage nach der Dynamik, von der der Mythos durchdrungen ist, wird verwandelt in die Frage nach der sozialen Dynamik derer, die ihn schufen. Das mythische Reden erscheint mithin als Ausdrucksform einer gesellschaftlichen Gruppe, 77 eine Ausdrucksform, die sich von den sozialen Bedingungen und der soziologischen Funktion her erklärt. 78 Unversehens ist das mythologische Ausschreiten über das Weltliche hinaus zur sprachlichen Ausschreitung einer Gruppe geworden. Die Exklusivität, mit der der Mythos den Fleischgewordenen bedachte, wird unversehens zu einem Indiz für die Exklusivität einer frühchristlichen Randgruppe. 79 Auch hier bedarf es keiner bewussten
17 So Kysar. Christology 348--364. der die Aussagen des Prologs erklän aus der Kontro· verse johanneischer Christen mit den Juden der önlichen Synagoge. 7" Als Beispiel ftlr eine gegenwänig stark wachsende Tendenz der soziologischen Interpretation neutestamentlicher Texte sei genannt: Meeks. Funktion 245-283. »Es ist erstaunlich. dass die Versuche, das johanneische Rätsel zu lösen. die Frage nach der so:ialm Funktion der Mythen fast völlig ausser Acht gelassen haben« (aaO 252). Diesem Defizit will Meeks in seinem Aufsatz begegnen. Zuerst bestimmt er die soziale Situation der johanneischen Gemeinde fundamental von ihren Abgrenzungsbedürfnissen her (ebd) und zeigt dann, dass »rinr Funktion des 'symbolischen Uni/versums', das in diesem bemerkenswenen literarischen Corpus übermittelt wird. darin bestand. allen diesen Aspekten der Geschichte dieser Gruppe Sinn zu geben« (aaO 2520. Auf diesem Hintergrund - man beflirchtet Schlimmes! - ist es nicht verwunderlich. dass die johanneischen Missverständnisse bloss im Rahmen ihrer die Aussenstehenden ausschliessenden Funktion zur Sprache kommen. Die Dialoge können nicht mehr aus sich selbst verstanden werden, beispielsweise als Arbeit am inkarnatarischen Verständnis Jesu. Und auch die Christologie wird interpretien als Stärkung der •soziale(n) Identität der Gemeinschaft«, wobei dann die christologischen Sachfragen ad acta gelegt sind. »Glaube I an Jesus meint im vienen Evangelium ein Verlassen 'der Welt'. weil es den Übergang in eine Gemeinschaft bedeutet. die totalitäre (sie!) und exklusive Ansprüche erhebt« (aa0 2800. Es ist klar. dass bei einem solchen Zugang zur Christologie weder die Inkarnation noch die Exklusivität der Gottesgegenwan in Christus ein sachliches Problem darstellt. Zu kritisieren ist nicht. dass nach den faktischen Funktionen der Texte gefragt wird (auch wenn man sich viel vorsichtigeres Fragen wünschte). sondern dass die Frage nach der sozialen Funktion der Texte zugleich die Sachanliegen derselben aus der Weh schafft. Zur soziologischen Reduktion religiöser Phänomene vgl Picht. Kunst und Mythos 501 f (Durkheim). 79 Dies ist grundsätzlich problematisch, einmal noch ganz abgesehen von der Sachfrage. ob die johanneische Gemeinde tatsächlich einer Binnenmentalität verfallen war. Dass es auch gute
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Entmythologisierung mehr, denn sie ist auf kaltem Wege bereits vollzogen. Ähnliches wäre zu sagen zum psychologischen Gesicht dieses Vorgangs. Hier werden die Aussagen über die Welt und Gott zu Aussagen einer Innenwelt, die religionspsychologisch beschrieben werden kann. Aus dem unvordenklichen Logos, der der ganzen Welt das Gepräge gibt und sie dadurch zur ansprechenden Veranstaltung Gottes erklärt, wird innere Empfindung, 80 sich von der Welt angesprochen zu fühlen, ein Gefühl, das je nach Modell mit der Archetypik des Unbewussten81 oder mit der Unerträglichkeil der Hilflosigkeit82 erklärt werden kann. Die kalte Entmythologisierung trägt schliesslich ein linguistisches Gesicht, das Gesicht einer Linguistik, die gerade den Mythos als bevorzugten Untersuchungsgegenstand gewählt hat. Mittels strukturalanalytischer Methoden 83 verlagert sich das Interesse vom Mythos selbst auf dessen Tiefengrammatik,84 deren akzidentieller Ausdruck der konkrete Argumente für ein ganz anderes Gemeindeverständnis gibt. zeigt Lindemann. Gemeinde 133161. xo Dazu zB Harsch. Tiefenpsychologisches 32~ I. Harsch kritisien an Bultmanns Programm das rationale Menschenbild. das alle überschiessenden Momente eliminiene (aaO 37). »Die tiefenpsychologische Interpretation konzentrien sich dagegen wesentlich auf die im Text enthaltenen unbewussten Inhalte. die oft verdrängt und nur verschlüsselt erkennbar aber damit nicht weniger wirksam sind• (ebd). Aus den mythischen Aussagen des Neuen Testaments werden Bilder des Traumes und anderer unbewusster Phantasien. " 1 So versteht etwa C.G.Jung den Mythos als Produkt des kollektiven Unbewussten (vgl Harsch, Tiefenpsychologisches 38(). In diesem Zusammenhang wird dann Christus zur höchsten Darstellung des Selbst und die Inkarnation zur Versöhnung von Geist und Leib. Dazu Harsch. aaO 40: •Die höchste Darstellung des Selbst fand Jung in Christus. der Gottheit und Menschheit. Geist und Leib. Oben und Unten in sich selbst versöhnte und im Corpus Christi mysticum den zeneilten Kosmos der Menschenwelt zu einer neuen Einheit auferbaut.« Man sieht. wie aus der Darstellung Gottes. die nach Joh 1.18 Sache des Logos war. die Selbstdarstellung des menschlichen Wesens wird. eine Aussage. die dem Menschen so venraut ist, dass sie keiner Entmythologisierung mehr bedarf. " 2 So im Rahmen der Religionstheorie Freuds. vgl Freud. Zukunft 323-380. 11 Diese sind namentlich durch den französischen Strukturalismus in den Mittelpunkt des Interesses gerückt; vgl Schiwy. Strukturalismus: ders. Strukturalismus und Theologie 523-541. Diese Problematik eignet überhaupt jeder linguistischen Betrachtung religiöser Texte: So betrachtet -etwa die moderne Linguistik die Sprache 'rein' als Sprache .... ohne auf die in dieser Sprache ausgesagten Inhalte zu reflektieren« (Picht. Kunst und Mythos 4). Picht sieht darin die »Indifferenz« der Moderne. »eines der hintergründigsten Phänomene der modernen Zivilisation« (aaO 5). u Vgl zB die Unterscheidung von Mythos und Mythen. wie sie Uvi-Strauss vornimmt: der Mythos ist der Inbegriff der syntaktischen. semantischen und pragmatischen Funktionen. die Mythen erfüllen (Uvi-Strauss. Struktur 2380. Nach Barthes. Mythen des Alltags 88-96 ist die Tiefengrammatik der Mythen konstituien durch anthropologische Grundstrukturen. deren un-
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Mythos ist. Hier wird das Gesagtsein des Mythos im Namen der zeitinvarianten Strukturen hintergangen. Unvordenklich ist gerade nicht der Logos, von dem dieser Mythos zu erzählen weiss, unvordenklich ist vielmehr die Struktur des Logischen, die auch diesen Mythos regiert. 85 Damit hat eine Emanzipation vom Vordergrund der Welt stattgefunden, die auch das Interpretationsproblem des mythischen Redens aus der Welt schafft. Es soll nicht bestritten werden, dass alle diese methodischen Zugänge interessante Ergebnisse versprechen. Im Blick auf das Mythosproblem freilich scheint mir, dass sie ihm gerade aus dem Wege gehen. Demgegenüber ist die Entmythologisierung, vollzogen als existentiale Interpretation, ein Umgang mit dem Text, der dessen Sache methodisch und hermeneutisch reflektiert wahrzunehmen versucht. Statt Produktionsbedingungen zu analysieren, konzentriert sie sich auf die Wahrnehmung dessen, was der Mythos zu verstehen gibt. Diese Konzentration allein wäre Grund genug, an der Entmythologisierung als hermeneutischer Aufgabe der Exegese bis auf weiteres festzuhalten. Und es wäre zu fragen, ob die hermeneutischen Defizite der existentialen Interpretation vermieden werden könnten durch einen metaphorischen Umgang mit dem Mythischen.Kt. 2.3 Die Arbeit des Mythos vom Logos im Rahmen johanneischer Theologie Wenden wir zum Schluss unseren Blick erneut auf das, was ich die Arbeit des Mythos nannte. Der johanneische Mythos vom Logos ist durchdrungen von der Dynamik der Zuwendung, die den göttlichen Lo-
bewusster Renex die konkreten Mythen sind. Offensichtlich ist. wie der Charakter der Unvordenklichkeit sich verschiebt auf die anthropologischen Grundstrukturen. die zum entscheidenden Erklärungsfaktor ftir mythisches Reden geworden sind. Zur Bemühung um die Erarbeitung einer Tiefengrammatik für biblische Texte vgl Chabroi/Marin. Erzählende Semiotik: Uon-Dufour. Exegese im Methodenkonflikt: und vor allem die Arbeiten von Güttgemanns. zB Einleitende Bemerkungen. M' Damit ist eine grundsätzlich neue Fragestellung entstanden. Die Frage ist nicht mehr. was Mythen sagen (sachintensive Interpretation). wie sie es sagen (formale Semantik). oder welche Funktion ihr Reden erfüllt (psychologischer oder soziologischer Funktionalismus). sondern die Frage ist. welche Struktur sie mit Inhalt. Form und Funktion vollziehen: dazu Uvi-Strauss. Struktur 226-254. MI> Die metaphorische Interpretation des mythischen Redens erlaubt es jedenfalls. die Weltlichkeil der Welt uneingeschränkt zu denken und dennoch das Hinausgehen über da.'>. was der Fall ist. in seinem Sachanspruch (und also nicht bloss historisch. funktional oder fundamentalanthropologisch) ernst zu nehmen: zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 41 S-425.
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gos auszeichnet. Diese Dynamik ist ein Fingerzeig auf die Arbeit. die der Mythos an den Menschen zu leisten verspricht. 87 Er verspricht. dem Menschen das Gewicht jenes Logos nahezubringen. der inmitten der Tagesereignisse Palästinas die Gnade austeilte. die den Menschen seit unvordenklichen Zeiten als Lebendigkeit gewährt wird. Die Arbeit dieses Mythos ist es. seine Adressaten einzuüben in das Angewiesensein auf diesen Logos. Er vollzieht die Zuwendung. die seit Urzeiten das Dasein begleitet. Deshalb kommt in diesem Mythos Menschsein nicht primär als Arbeiten sondern vielmehr als Bearbeitetwerden in Betracht. Und es wäre paradox. angesichts dieses Mythos vom Logos nach der menschlichen Arbeit am Mythos zu fragen statt nach der Arbeit des Mythos am Menschen 88 Damit würde gerade jener Dynamik der Zu-
87 Der Begriff der Arbeit wird hier verwendet für das, was man auch pragmatische Dirnen· sion der Texte nennt. In theologischer Begrifnichkeit würde man dies die soleriologische Di· mension nennen. Wichtig ist dabei. dass wir aufmerksam werden auf das. was der Text an seinen Lesern tut. statt bloss auf das. was die Leser mit dem Text und im Anschluss an den Text tun. Dieser Aspekt geht ausgerechnet bei solchen Ansätzen völlig verloren. die ihrem Selbstverständnis nach dem (einzig) Konkreten. nämlich dem Materiellen verpnichtet sind. So etwa bei Füssel. Materialistische Lektüre 20-36: oder bei Gollwitzer. Historischer Materialis· mus 13-59. Im Gegenzug zur »idealistischen« Vorstellungsweise der historisch-kritischen Exegese drängen die Texte den materialistischen Ausleger »Zur Paneinahme im heutigen ge· seilschaftliehen Leben« (Gollwitzer. aaO 15 ). Wo bleibt die Frage. wofür der Text selbst Panei nimmt? »Gott hat (besser: will haben) keinen anderen Mund als unseren Mund« (aaO 35). Wo bleibt da die christologische Einsicht. dass der Logos Gottes in Christus verkörpen ist? Die Vollmacht Jesu. »Gott anzusagen«. wird reduzien auf die Ansage des Willens Gottes: »Weil dieser Gotteswille sich auf das reale Leben der Menschen - ... - bezieht. also nicht nur auf das Glaubensverhältnis des Einzelnen zu Gott (Wäre dies etwa »irreal«?) ..... darum müssen diese faktischen ... Lebensbedingungen in dieses Verstehen des Gotteswillen hereingenommen wer· den. sowohl ihr gegenwäniger Zustand. in dem je und je das Won Gottes die Menschen an· trifft. wie deren Veränderung. zu der sie durch Gottes Won als Glaubende aufgerufen werden« (aaO 44). Wo bleibt da die kreative Kraft des Wones Gottes. das selbst neue Geschöpfe werden lässt. statt blos.o; zu Veränderungen aufzurufen? ""Gegen Blumenberg. Arbeit am Mythos. Blumenberg wählt nicht zufällig den Prometheusmythos aus. um die Geschichte der Arbeit am Mythos zu schreiben. Schon den Mythos selbst legt er zu sehr auf emanzipative Dimensionen fest. wenn er dessen Aufgabe als »Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit« (aaO 13) bestimmt. Diese Dimension wird von Blumenberg zum Leitfaden ftir die ganze Darstellung. Unter diesem Aspekt erweist sich die Geschichte der menschlichen Arbeit am Mythos schlicht als Geschichte der menschlichen Selbstbehauptung gegenüber dem Mythos. »Es gibt keine I andere Modalität der Erinnerung an den Mythos als die Arbeit an ihm: ... « (aaO 6M4f). Damit wird jeder Rezeption. die nicht Selbstbehauptung ist. das Existenzrecht abgesprochen. Wenn Blumenberg von Prometheus sagt. er sei an der »Menschwerdung des Menschen« beteiligt (aaO 6M2). so ist diese Bestimmung solange zu formal. als nicht gefragt wird. was für ein Mensch da wird. wenn Prometheus (und nicht Christus) ihn begleitet. Prometheus »steht schlechthin für menschliche St'lhJthc--
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wendungder Weg verbaut, die der Mythos vom Logos der menschlichen Existenz voraus hat. Die Dynamik des Arbeitens für die Menschen, die im Prolog ihren Anfang nimmt, setzt sich im ganzen Johannesevangelium fon. Zwei Beispiele seien herausgegriffen. Das Mensch gewordene Won steht unvermittelt vom Essen auf, um die Sklavenarbeit der Fusswaschung an seinen Jüngern zu tun (Joh 13,1-17). 89 Gott hat alles in seine Hände gegeben, deutet der Erzähler. Diese Hände vollbringen den Dienst Gottes an den Jüngem.90 Sie tun die Arbeit Gottes an der Reinheit, der Eindeutigkeit menschlichen Lebens. Nach getaner Arbeit wendet sich der Herr Petrus zu, der sich den Dienst von höchster Adresse nicht gefallen lassen mag. 91 Und zum Schluss hilft er dem Verstehen der Jünger auf die Sprünge. 92 Sie sollen das Gewicht des Geschehenen erkennen: »Wenn also ich, der Lehrer und Herr, euch die Füsse gewaschen habe, so seid auch ihr es schuldig, einander die Füsse zu waschen« (13, 14 ). 93 Das hauptung« (Sparn. Herausforderung 187). während ja andere Fonneo der Menschwerdung auch denkbar wären. " 9 Zur historischen Einordnung dieser Perikope vgl Becker. Johannes II 419f. der - ausgehend von den beiden Deutungen in 6--1 Oa und 12-15 - eine literarkritische Scheidung annimmt. Die Entscheidung darüber. welche Deutung älter sei. fallt in den meisten Arbeiten aufgrund einer allgemeinen These. ob soleriologisches oder ethisches Denken im Urchristentum historisch Priorität habe. 90 13.1-3 ist so etwas wie ein Prolog zu dieser Geschichte. der ihre entscheidenden Dimensionen angibt: Hinweis auf die Stunde des Kreuzestodes. welche zugleich die der Erhöhung ist. vgl 3.14f: Qualifizierung des Weges zum Kreuz als Liebe~~ 1Ü.IXi (dazu Kleinknecht. Johannes 13 3640: Hinweis darauf. dass der Vater alles in seine Hände gegeben hat. bzw dass die Verbindung zum Vater unzweifelhaft ist (va V. 3). Damit gibt dieser »Prolog .. der Fusswaschungsgeschichte dieselbe Dimension. die der Logoshymnus dem ganzen Evangelium gibt: es gilt. im Tun Jesu das Tun Gottes wahrzunehmen. Zur Interpretation von Joh 13.1-3 vgl Kohler. Kreuz 196-205. ~~ Petrus wird darauf hingewiesen. dass er Gott zuwenig zutraut. und zugleich. dass seine totalen Forderungen an dem Fragment der göttlichen Liebestat vorbeigehen. vgl Kohler. Kreuz 21~218. Die Reinheit beziehungsweise Eindeutigkeit des menschlichen Lebens (vgl V. IOa) entsteht nicht durch eigene Arbeit. sondern dadurch. dass Petrus sich den Dienst Gottes gefallen lässt. Gerade diese Erzählung bestätigt. dass die Kategorie der Arbeit im Einklang mit dem Text des Johannesevangeliums steht. ~!Der Neueinsatz in V. 12 ist unübersehbar: er markien indessen nicht eine literarkritisch auswenbare Bruchstelle. sondern vielmehr einen Neueinsatz in der Interpretation. Ging es vorher um die Erkenntnis der soleriologischen Dimension. so geht es jetzt um die (ethische) Verpflichtung. die sich aus der Arbeit Gottesam Menschen ergibt. Zum Zusammenhang beider Deutungen. die häufig literarkritisch auseinandergerissen werden. vgl Kleinknecht Johannes 13 368. ~ 1 Zu beachten ist. dass die Prädikation ~ nicht etwa aufgegeben wird. Daraus folgt. dass die Herrschaft in die Gestalt des Dienens gebracht wird. ohne dass sie als Herrschaft
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Gewicht des Geschehens erkennen heisst, an den Ort gelangen, wo die Zuwendung zueinander selbstverständlich geworden ist. Im weiteren Verlauf der Interpretation dieser Geschichte wird die Liebe als dieser Ort der Zuwendung bezeichnet: »Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebt« (13,34). 94 Der Menschgewordene arbeitet an der Einführung des Menschen in den Zusammenhang der Menschen, er gibt die Anweisung zum Leben in der Liebe. Nicht nur der Mythos vom Logos geleitet die religiöse Phantasie vom Himmel auf die Erde herunter. Die Arbeit auch Jesu ist es, das menschliche Dasein herunter zu geleiten von den mythologischen Höhen des Herrschens in die weltliche Tiefe des Liebens. Hier kündigt sich eine neue Ebene unserer Thematik an. Dringlicher als die Entmythologisierung des Mythos ist es, das ins Herrschen verstiegene Menschsein, auch die ins Herrschen verstiegene Rationalität, zu entmythologisieren. 9 ~ In die gleiche Richtung weist das zweite Beispiel. Jesus - Abschied nehmend - spricht in mythologischer Sprache96 von den vielen Wohnungen, die im Hause des Vaters bereitstehen, und dem Raum (t67t~). den er den Jüngern bereiten will ( 14, 2). Wer keine Wohnung hat, muss sich eine erwerben, wer keinen Raum hat, muss sich einen erkämpfen. 97
eliminien wird. Durch diese zuvorkommende Arbeit entsteht unter den Jüngern eine Schuldigkeit, die es ausserhalb der Relation zu diesem Herrn nicht gibt Jede Abschwächung des eschatologischen Ernstes dieses Dienens müsste zur Vertlüchtigung der Aussage führen, der Dienst des Herrn würde verwandeil in eine »huldvoll von oben gewähne Gunst eines Potentaten« (mit Wengst. Gemeinde III ). 9 • Der Zusammenhang von 13,34 und 13.14f ist evident. vglzulelll Kleinknecht. Johannes 13 366 oder schon Buhmann, Johannes 362. der in 13,15 die Vorwegnahme des Liebesgebotes und in 13.1-20 »überhaupt ein Vorspiel für die folgenden Reden« sieht Kohler. Kreuz 226 sieht die Neuheil des Gebots insbesondere darin. »dass es dem Nächsten gibl. was ihm ent· spricht«. Auffallend isttatsächlich die Differenzzum synoptischen Doppelgebot der Liebe, wo sich die Liebe nicht nur auf die Menschen. sondern auf Gou und die Menschen richlet Freilich könnte auch gefragt werden. ob die Neuheit nicht in der neuen Weise des Gebens besteht im Unterschied zum Gebot des Geselles, das die Liebe forden. entsteht die Schuldigkeil des Liebens aus der zuvorkommenden Arbeit des Herrn. 9 s Diese Entmythologisierung des Menschen erfolgt freilich nicht in der Gestall der Aufklärung über das wahre Menschsein, sondern vielmehr in der Gestall der Arbeit am wahren Menschsein. Zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 405-411. 'HI Dazu Buhmann. Johannes 463. v7 Wiederum in mythischer Gestalt erscheint dieser Kampf des Menschen um den himmlischen Lebensraum in der Apokalyptik. wo himmlische Wohnungen nur für die Gerechten bereitstehen (äthHen 39,4f: 41.2: slavHen 61.1-3: syrBar 51.100. Man geht fehl. wenn man den irdischen Kampf um Gerechtigkeit (der eine himmlische Wohnung verspricht) formal ineins-
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Der Kampf des Menschen um Raum offenbart sich als mythische Weise des Existierens. Hier mutet sich der Mensch zu, sich den Raum noch einmal zu erwirken, den Gott schon bereitet hat. Die Arbeit des Abschied nehmenden Jesus ist es demgegenüber, die Menschen zum Bleiben im schon bereiteten Raum der Liebe zu bewegen.9 s Er arbeitet an der Entmythologisierung des Menschseins. Diese Arbeit kann freilich nur gelingen, wenn in der Arbeit Jesu die Arbeit des göttlichen Logos gesehen wird. Zur Entmythologisierung des Menschen kommt es nur, wenn Christus im mythischen Horizont belassen wird. Der Blick auf das Johannesevangelium bestätigt also die Perspektive, die wir schon am Mythos vom Logos gewonnen haben. Dieser erzählt von der Menschwerdung der göttlichen Zuwendung. Ihre Folge ist die Menschwerdung des Menschen im geschaffenen Raum der Liebe. Diese Arbeit bliebe ungetan, würde sich der Mensch auf die emanzipative Arbeit am Mythos festlegen. 99
setzt mit dem Glauben an Christus. der einem eine ebensolche Wohnung verschafft. Im Horizont des Gesetzes arbeitet der Mensch. im Horizonl des Christus wird für den Menschen gearbeitet. In diesem Sachverhalt widerspiegelt sich erneut der Unterschied zwischen ~~ und xa~ (vgl Joh 1.17). Eine ähnliche Auffassung erscheint in der Vorstellung. dass den aufsteigenden Seelen je nach ihrer 'tlll~ Platz bereitgestellt wird: vgl Buhmann. Johannes 465 Anm 3. 9 x Hier läge ein Vergleich mit der Weinstockmetapher von Joh 15,1-17 nahe. Auchdon bezeichnet Christus den zuvorkommenden Lebensraum, welcher die Menschen zum Bleiben bewegt. Auch don wird dieser Raum interpretien als Raum der Liebe, in welchem die Glaubenden bleiben und welchen sie ausgestalten in der Bruderliebe. In diesem Bleiben ist die elementare Einsicht aufbewahn, dass menschliches Leben nicht das Produkt des Subjekts 1st, sondern seine Gestalt wesentlich durch den ihm gewähnen Raum gewinnt. Im Wohnen liegt auch das »Konstitutive, das der On des Daseins für dasselbe hat. sein Angewiesensein auf ihn: das Leben muss wohnen und ist seinem Wo zugehörig: ... es wird von seinem Wo bestimmt d.h. es selber ist ein ursprünglich raumhaftes Phänomen und lebt aus seinem Raume her« (Jonas. Gnosis 101 ). 99 Man könnte sich fragen. ob schon die existentiale Interpretation. wie sie Bultmann als Übersetzung in existentialontologische Kategorien vollzieht. in der Gefahr solcher Emanzipation stehe. Es wäre möglich. dass auch sie schon die Gestalt der Aufklärung hälle und also die Arbeit verspielte. die der Mythos (auch im Kerygma) leistet. Diese Gefahr mag wohl gegeben sein, immerhin hat Bultmann selbst sie scharf gesehen, wenn er gerade hier den Unterschied zwischen Philosophie und Theologie sieht: während in der Philosophie schon das Wissen um Eigentlichkeil ihrer mächtig macht. hält das Neue Testament die Lage des Menschen insofern für aussichtslos. als er ausschliesslich auf das Handeln Goues für ihn angewiesen ist (Buhmann. Mythologie 37-39).
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3 Zum Schluss Der Mythos vom Logos in Joh I setzt an bei der Unvordenklichkeil des mythischen Anfangs, den der Logos bei Gott hat. Er ftihrt sich selbst in die Kehre, indem er die Unvordenklichkeil nun dem im Vordergrund der Welt gesagten Wort Jesu zuschreibt. Unvordenklich ist dieses Wort nicht, weil es dem Denken entzogen wäre, unvordenklich ist es, weil es dem Denken schon vorgegeben und also aufgegeben ist. Insofern bereitet der Mythos vom Logos Raum ftir eine Rationalität, die statt Gegnerin Tochter jenes Logos Jesus ist. Als Gegnerin wirkt die Rationalität, wenn sie die Unvordenklichkeil des Gesagten denkerisch hintergeht. Als Tochter lebt sie, wenn sie auf das gegebene Wort angewiesen bleibt. Als Gegnerin kommt sie unter Produktionszwang, denn sie muss reproduzieren, was sie hintergangen hat. Als Tochter lebt sie in der Nachdenklichkeit, im Nachdenken dessen, was der Logos ihr als fundamentalen Stoff gewährt. Auch eine kritische Tochter kann kein Interesse haben, ihren Vater umzubringen. Deshalb wird die Rationalität alles Interesse daran haben, dass dieser Mythos den Logos in lebendiger Erinnerung hält. Die Krise der Rationalität sind nicht die technischen Produkte, die sie auch hervorbringt, ihre Krise ist vielmehr die Zerstörung des Stoffs, der ihr den Raum der Nachdenklichkeil auftut. Ihre Krise ist die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen im Wahn, sie reproduzieren zu können. Ihre Krise ist die Kultur der Kritik, die sie an die Stelle der Kultur der Rezeption setzt. Die Rationalität wird also, wenn sie sich selbst treu bleibt, das Wort nicht hoch genug schätzen können. Der Mythos vom Logos geht ihr den Weg in der Würdigung des Wortes voran. Er bewahrt das Andenken an das Reden Gottes und die Sensibilität ftir die Arbeit des Himmels am Leben der Irdischen. 100 Wird diese Arbeit nicht mehr geleistet, wird die Vernunft an ihre Produkte gebunden und die Menschen werden an ihre Arbeit gekettet. Diesen Zusammenhang auszudrücken, war dem faustischen Menschen nicht gegeben, wohl aber dem Dichter, dessen Sensus 100 »Wenn unser Bewusstsein sich der Welt des Mythos entzieht und dessen substantielle Gehalte verdrängt. wird auch das Licht der Offenbarung unsichtbar« (Picht. Kunst und Mythos 9). Man könnte in diesem Zusammenhang gar vermuten. dass die emanzipative Rationalität, deren Kultur die Kritik und nicht die Rezeption ist. selbst mythische Züge trägt. »Die Rationalität der Neuzeit ist in den Ritualen. in denen sie ihren ursprünglichen Frevel. die Losreissung vom Mythos. als perpetuiene Verleugnung des Mythos zwanghaft wiederholen muss. selbst mythisch« (aaO 13).
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ftir das Mythische in die Weltliteratur eingegangen ist. Er soll am Schluss das Wort haben: »Aber droben das Licht, es spricht noch heute zu Menschen, Schöner Deutungen voll und des grossen Donnerers Stimme Ruft es: denket ihr mein? und die trauemde Wooge des Meergons Hallt es wieder: gedenkt ihr nimmer meiner, wie vormals? Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen; Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.« 101
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Hölderlin, Der Archipelagus, in: Sämtliche Werke IUI 110, Zeilen 231-235.241-246.
Die Asymmetrie des Rettenden Überlegungen zu Joh 3,14-21 im Rahmen johanneischer Theologie Ich werde im Folgenden keine neue exegetische Methode vorführen. Meine Überlegungen bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen historischer Textwahmehmung, wie sie in der Theologie methodisch entwikkelt worden ist. Die Texte des Johannesevangeliums sind als geschichtliche Gegenstände zu betrachten. Und angesichts von geschichtlichen Gegenständen scheint mir die historische W ahmehmung nach wie vor die angemessenste Methode zu sein. Dennoch werde ich im Rahmen der gewöhnlichen Exegese zwei Betrachtungshinsichten besonders in den Vordergrund stellen, zwei Betrachtungshinsichten, die meines Erachtens nicht immer genügend beachtet werden. Diesen Betrachtungshinsichten gelten die beiden folgenden Vorbemerkungen.
0 Vorbemerkungen Die zwei Schwerpunkte, die ich setze, sind einerseits die traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise und andererseits die Konzentration auf die theologische Sachinterpretation des Textes. 0.1 Verstehen des Werdegangs eines Textes Es soll nicht bestritten werden, dass neuere Versuche zur literaTanalytischen Betrachtung eines Evangelientextes 1 wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Texte erbracht haben. Solche Betrachtungsweisen gehen stets davon aus, dass der jetzt vorliegende Text des Johannesevangeliums ein kohärentes Ganzes darstellt und als eine semantische Einheit interpretiert werden muss. Dies ist zweifellos sinnvoll, es sei denn, man rechne mit einer im Laufe der Zeit zunehmenden Zerstörung einst kohärenter Sinneinheiten durch die verschiedenen Stufen der Re-
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Als Beispiele seien genannt: Olsson, Structure: Culpepper. Anatomy.
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daktion. 2 Auch wenn die Betrachtung der Endgestalt des Textes sinnvoll ist, lässt sich nicht verkennen, dass ein Text wie das Johannesevangelium eine lange Traditionsgeschichte hinter sich hat. Texte mit Geschichte aber werden sinnvollerweise so interpretiert, dass ihrem geschichtlichen Werdegang nachgedacht wird. Dies bedeutet, dass ein traditionsgeschichtliches Verständnis von Joh 3,14-21 unabdingbar bleibt, selbst wenn die Traditionsgeschichte nur hypothetisch zu erheben ist. Das traditionsgeschichtliche Verständnis ist abzugrenzen gegen die literarkritischen Versuche der letzten zwanzig Jahre, die meines Erachtens im Wesentlichen als gescheitert zu gelten haben. 3 Im Unterschied zur literarkritischen Betrachtung, welche in jedem Text Elemente von verschiedenen, das ganze Evangelium durchziehenden literarischen Schichten namhaft machen will, verzichtet die traditionsgeschichtliche Betrachtung auf solche globalen Aussagen. Sie versucht statt dessen, die textinterne Schichtung so weit wie möglich zu begreifen, ohne die gewonnenen Schichten literarischen Werken der johanneischen Schule zuweisen zu wollen. Die traditionsgeschichtliche Schichtung ist der durch historische Kenntnis und Phantasie moderner Exegeten vorgenommene Versuch, einen Text nicht nur in der synchronischen Horizontalen, sondern auch in der diachronischen Vertikalen zu sehen. So erlaubt sie einen Blick in die Tiefendimensionen des Textes. Wird der Text im Blick auf seinen Werdegang interpretiert, so wird er als zeitliches Phänomen wahrgenommen, das eine Geschichte hat. Der Text bekommt gleichsam Gelegenheit, uns seine Geschichte zu erzählen. So kommt er allererst als historisches Individuum in den Blick. Denn für Individuen ist es charakteristisch, dass sie eine Geschichte haben. Wer seine Geschichte erzählen darf, kann damit rechnen, nicht 2 Anlass zu einer solchen Vermutung geben manche literarkritische Arbeiten. die mit einer fortschreitenden Erweiterung einer Grundschrift rechnen. Besonders deutlich in dieser Hinsicht sind G.Richters Arbeiten zum Johannesevangelium (Richter. Studien) und die DissertatiOn von W.Langbrandtner (Langbrandtner. Weltferner Gott) 1 Die Unzahl und Widersprüchlichkeil der literarkritischen Hypothesen (etwa Richter. Langbrandtner. Thyen. Becker) ist als solche kein Beweis. wohl aber ein Hinweis auf die methodische Unsinnigkeit des Verfahrens. das in aller Regel auf einer petitio principii beruht. Vgl dazu den kurzen Abriss der Forschungsgeschichte bei Wengst. Bedrängte Gemeinde 1128 und sein Urteil auf S.28: "zumindest vorläufig muss festgestellt werden. dass keiner dieser neueren literarkritischen Versuche - ... - zu überzeugenden Ergebnissen geführt hat.• Auch H.Thyen scheint sich immer vehementer von der literarkritischen Betrachtungsweise abzuwenden (Beleg im Manuskript des TRE-Artikels Johannesevangelium).
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mehr bloss in seiner Funktionalität wahrgenommen zu werden. Denn die Geschichte - etwa eines Menschen - gibt Auskunft über das Gewordensein, ohne das Gewordene auf sein Funktionieren festzulegen. Mehr noch: Eine Geschichte lässt ihren Gegenstand einen zufallig gewordenen sein, ohne ihn auf die Gesetze des Werdens zu reduzieren. So wahrgenommen erscheinen die Texte als das, was sie jenseits ihres Funktionierens4 als sie selbst sind, und als das, was sie in ihrer Zufalligkeit oder Unverfügbarkeit sind. Im folgenden gilt die Arbeitshypothese, dass der Werdegang des Textes den Charakter einer Entfaltung hat: die Geschichte des Textes legt Zeugnis ab von der fortschreitenden Reflexion, welche der christliche Glaube in der johanneischen Gemeinde ausgelöst hat. Mit dieser Arbeitshypothese soll vermieden werden, dass die Traditionsbildung nach dem Modell der Konfrontation~ begriffen wird. Die Vorstellung, jeder spätere Bearbeiter hätte seine eigene These den unsachgemässen Aussagen seines Vorgängers konfrontativ entgegengestellt, hat wohl mehr zu tun mit der Arbeitssituation der modernen Exegeten als mit der Traditionsentwicklung in der johanneischen Gemeinde. Wird der Text im Sinne einer Arbeitshypothese als Ergebnis einer stetigen Entfaltung des christlichen Glaubens betrachtet, entfallt nicht nur der Zwang, Gegensätze zwischen Schichten zu konstruieren, sondern es kann auch die Tatsache besser gewürdigt werden, dass die jeweiligen Bearbeiter die traditionellen Texte nicht nur neu interpretiert oder sogar korrigiert, sondern eben auch aufgenommen haben. Dies ist - wie gesagt - eine Arbeitshypothese, deren Angemessenheil am vorliegenden Text von Joh 3,14-21 geprüft werden soll. 0.2 Konzentration auf die Sache des Textes Die zweite Vorbemerkung gilt dem Ansatz der Interpretation, auf den ich besonders Wert legen möchte. In den exegetischen Wissenschaften wird der Frage, wie ein Text historisch einzuordnen sei, grosse Aufmerksamkeit geschenkt - sicher zu recht. Fragen nach der religi-
4 Selbstverständlich soll damit nicht bestritten werden. dass die Texte auch eine Funktion (in den konkreten Lebensvollzügen der johanneischen Gemeinde) haben. Doch die (grundsätzlich formgeschichtliche) funktionale Betrachtungsweise verfühn leicht dazu. die Texte auf ihre Funktion zu reduzieren oder gar ihre Entstehung aus ihrer Funktion zu erklären. ~Besonders handgreiflich wird dieses Verslehensmodell in den Arbeiten von Richter. Studien.
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onsgeschichtlichen Herkunft, nach dem Sitz im Leben der johanneischen Gemeinde, nach dem historischen Ursprung oder der literarkritischen Einordnung des Textes spielen die Hauptrolle. 6 Man könnte alle diese Fragen zusammenfassen unter dem Gesichtspunkt, dass sie nach den Bedingungen fragen, unter denen ein Text produziert wurde. Die Erhellung der Produktionsbedingungen ist zweifellos eine wichtige und unverzichtbare Aufgabe der Exegese. Sie ist jedoch nicht die einzige. Zur wissenschaftlichen Auslegung eines religiösen Textes gehört nicht nur die historische Einordnung, sondern auch die theologische Interpretation, nicht nur die Frage nach den Produktionsbedingungen, sondern auch die Konzentration auf die Sache. 7 Selbstverständlich ist die Sache immer eingebettet in eine historische Ursprungssituation, dennoch geht sie nicht in dieser Ursprungssituation auf. Was in einem Augenblick der Geschichte ans Tageslicht getreten ist, kann eine Bedeutung gewinnen, die sich nicht auf die Bedingungen dieses Augenblicks restringieren lässt. Die theologische Interpretation, auf die ich mich konzentrieren werde, fragt in eigener (dogmatischer) 8 Verantwortung nach der (theologischen) Wahrheit eines Textes. Und zwar nicht bloss so, dass sie nach theologischen Vorstellungen fragt, die im Text erscheinen, sondern vielmehr so, dass sie der Sache, die in den Vorstellungen des Textes erscheint, in theologischer und anthropologischer Hinsicht nachdenkt. Auf diese Weise kann die gesamttheologische Verantwortung der Exegese wahrgenommen werden. Diese sachintensive Exegese9 gewinnt Einblick in theologische und anthropologische Tiefendi-
~>Wengst. Bedrängte Gemeinde verwendet den (einleuchtend rekonstruienen) historischen On des Johannesevangeliums geradezu als .. Schlüssel zu seiner Interpretation« (so der Untenitel des Buches). 7 Schon Buhmann. Problem 222-227 war es gelungen. über die historische Frage nach den Entstehungsbedingungen hinauszukommen und zur verstehenden Frage nach der Sache des Textes vorzustossen. 8 Dazu Weder. Exegese und Dogmatik. ZThK 84(1987)137-161 (oben S. 109-136). 11 Zum Begriff der Sachintensität vgl Ebeling. Dogmatik und Exegese 273-277. Ebeling macht deutlich. dass die sachintensive Interpretation eines Textes nicht etwa als Alternative zur historischen Exegese. sondern vielmehr als deren notwendige Konsequenz zu begreifen ist. .. Ein überliefenes Won ist erst dann recht erfasst. wenn deutlich wird. woraus es entsprungen ist. was zu ihm ermächtigt hat. woraufhin es gesagt werden kann« (aaO 275). Dazu gehören selbstverständlich auch die historischen Ursprungsbedingungen. jedoch nicht nur diese. sondern auch der ,.Erfahrungsgrund«. die (Lebens-) Erfahrung. die zu einer bestimmten Aussage ermächtigt.
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mensionen des Textes. Gerade Joh 3,14-21 verspricht in dieser Hinsicht einen reichen Ertrag.
1 Analyse von Joh 3,14-21 Ich beginne mit Überlegungen zur Abgrenzung, zum sachlichen Aufbau und zur Traditionsgeschichte des Textes. 1.1 Zur Abgrenzung des Textes Das dritte Kapitel des Johannesevangeliums beginnt mit einem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus. Dieses Gespräch kommt zu einem gewissen Abschluss in V. 12, wo ein Schluss vom Kleineren (ui f:moyEt.a) auf das Grössere (ui btoqxivt.a) zeigen soll, dass bei der Lehre Jesu über das Himmlische erst recht mit dem Unglauben der jüdischen Lehrer zu rechnen sei. Es folgt ein parataktisch (mit Kai) angehängter Satz über den Menschensohn, der allein Zugang zum Himmlischen hat. Nicht sicher zu beantworten ist die Frage, ob der Akzent auf der Kenntnis des Himmlischen liegt oder ob es schon um den ärgerlichen Aufstieg des Menschensohns in der Kreuzigung geht. 10 Wäre das erste der Fall, müsste der Vers näher zum Nikodemusgespräch gezogen werden, träfe das zweite zu, würde er zusammen mit V. 14f eine Sinneinheit 11 bilden. Die durch den Text verursachte Unbestimmtheit in 1°Für das erste (vertreten von Blank. Johannes 250. Brown. John 145 und anderen) spricht das perfektische ci~Y. das an ein Hinaufsteigen in den Himmel denken lässt. von wo das himmlische Wissen heruntergeholt wird (zum Beispiel in der Apokalyptik). Zum Perfekt ci~Y siehe Brown. John 132 note 13. Nach Blank. Johannes 250 »dürfte sich (die Aussage) ... gegen alles wenden. was Apokalyptik und Gnosis über ekstatische Himmelsreisen sowie über den Aufstieg zur oberen Lichtwelt des Pieroma zu sagen wussten•. Für das zweite (venreten von Vouga. cadre 17.2 I. Becker. Schnackenburg. Bultmann und anderen) spricht. dass vom heruntergeholten Wissen nicht ausdrücklich die Rede ist. Zum Problem vgl Becker. Johannes I 140-143. Die verbindende Funktion betont Maneschg. Erzählung 394: •3.13 übt in bezugauf 3.11-12 und 3.14-15 eine verbindende Funktion aus. insofern er einerseits unterstreicht, dass Jesus der einzige Offenbarer ist. und andererseits. diese Einziganigkeit begründend. jene 'Bewegung' andeutet. die in der Erhöhung des Menschensohns zu ihrem Ziel gelangt• (diesen Hinweis verdanke ich - wie manches andere - meinem Assistenten VOM K.Haldimann). 11 Aus diesem Grunde betrachtet Becker. Johannes I 139 V. 13-15 als eine Einheit, die »den Aufstieg des Menschensohnes als Lebensvoraussetzung für die Glaubenden• behandelt. Blank. Johannes 248-255 betont dagegen - meines Erachtens zu recht - viel stärker die kreuzestheologischen Akzente des Textes: ,.Dementsprechend ist bei Johannes der 'Erhöhte' der
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der Zuordnung kann nicht aufgelöst werden; deshalb scheint es mir sinnvoll, V. 13 als Gelenkstelle zwischen 1-12 und 14-21 zu betrachten. Der Bezug zu V. l-12 ist gegeben mit dem Herniedersteigen des Menschensohns, der - als einziger - in der Lage ist, über die himmlischen Dinge Auskunft zu geben. 12 Der Bezug zu V. l4f ist damit gegeben, dass der Aufstieg des Menschensohns in den Himmel dort genauer bestimmt wird. Blickt man von V. l4ff auf das Vorhergehende zurück, so kann man die (wiederum parataktische) Anknüpfung erstens im Menschensohntitel (V. 13- V. 14) und zweitens im Aufsteigen (civafkxivE\V in V. 13- Ü'lfRD~«l in V. 14b) und im Glauben (V. 12- V. 15) sehen. Die Abgrenzung des Textes gegen hinten ist unproblematisch. 13 Es beginnt ein neuer Abschnitt, der das Verhältnis Jesu zum Täufer, das in Kapitel l schon bearbeitet worden ist, zum Thema hat. Von der Ebene theologischer Reflexion in V. 14-21 lenkt der Text hinüber auf die Ebene der Erzählung in V. 22ff. 14 Wir können also davon ausgehen, dass V. 14-21 eine nach vom und hinten abgrenzbare Texteinheit darstellen.
Gekreuzigte und Verherrlichte in seiner Identität. wobei durch diese Neuprägung der Erhöhungs-Christologie Jesu Kreuzweg bereits sein Siegeszug ist« (254). Die Zugehörigkeit von V. 13 zu V. 14f unterstreicht ebenfalls Nicholson. Death 96: »To carry the bcnlplii'ID metaphor over from verse 12 is misleading because it places the emphasis of the verse on des('('nf. whereas the order of the two verbs in the sentence. and the fact that E\ ~n'l denotes an exception. means that the emphasis naturally falls on ascerrt (zur Gesamtbegründung vgl Nicholson. aaO 91-97). 11 Auch in 1.51 bedeutet der Menschensohn. dass in ihm der Blick in den Himmel offensteht. Der Menschensohntitel steht hier also für die hier auf Erden geschaffene Verbindung zum Himmel. Blank. Johannes 252 weist darauf hin. dass »weder im Bericht von der Kupferschlange Num 21.4-9 noch in den frühchristlichen Deutungen• dieses Textes der Ausdruck erhöhen vorkommt. Zum Problem vgl Schnackenburg. Johannesevangelium I 411 ~23 (Exkurs V zum Menschensohn). Zum weisheitlieh-apokalyptischen Hintergrund vgl Maneschg. Erzählung 396f. 1 ' Über sie herrscht in der exegetischen Diskussion ein weitreichender Konsens. vgl zB Schnackenburg. Johannesevangelium I 375: Becker. Johannes I 129: Blank. Johannes 255272: vgl auch Vouga. cadre 16. 1 ~ Die Formelj~n~~uüa weist im Johannesevangelium häufig auf einen Neueinsatz hin: zB 5.1: 6.1: 7.1: 21.1. Das neue Thema. das Verhältnis von Täufer und Jesus. wird in 3.22ff erzählerisch abgehandelt: vgl Bultmann. Johannes 121-123.
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1.2 Die Aufteilung des Textes in Sinneinheiten Im Interesse der sachlichen Gliederung, die auch Hinweise auf die traditionsgeschichtliche Schichtung ergeben kann, soll der Text zunächst in seine kleinsten Sinnelemente aufgeteilt werden. Ein erstes Element findet sich in V. 14f Die notwendige 1s Erhöhung des Menschensohnes wird mit der Erhöhung der Schlange durch Mose verglichen: die bekannte Geschichte von Mose, der eine Schlange an einen Holzpfahl heftete (Num 21 ,8f), wird herangezogen, um die Erhöhung des Menschensohns zu erschliessen. Der Vergleichspunkt in diesem Satz (m&l~- oüa:o~) ist also, wie die beiden parallel gebauten Satzteile V. 14a und V. 14b zeigen, zunächst bloss die Weise der Erhöhung. Der Nebensatz in V. 15 gibt dann den Sinn dieser Erhöhung des Menschensohnes an: sie hat das Ziel, allen Glaubenden ewiges Leben zu verschaffen. Auch in diesem Punkt lässt sich ein Vergleich mit Mose ziehen, denn wer die Schlange anschaute, blieb - obwohl mit tödlichem Biss verwundet - am Leben. Dieser Vergleichspunkt ist freilich dem vorher genannten untergeordnetY• 1 ' An die Stelle der Handlung des Mose trill jetzt das mit einem ki. verbundene Passiv um Divinum: weltlich gesehen musste der Menschensohn erhöht werden. damit der Enrag des Lebens erbracht werden konnte. Blank. Johannes 253f interpretien dieses k"i von der Passionsgeschichte her. »Die Urkirche erkannte im Kreuzestod Jesu den heilsgeschichtlich notwendigen Durchgangspunkt ftir Jesus. um zur messianischen Herrlichkeit zu gelangen.« Die Anklänge an die synoptische Passionsgeschichte (die auch Blank notien) sind nicht zu leugnen. Don ist das k"i freilich eher als ein erster Versuch zu verstehen. die theologische Unsinnigkeit des Leidens Jesu zu bearbeiten. Das Muss lokalisien auch dieses Geschehen in verhaltener Weise innerhalb des gölllichen Willens zur Reuung. 1 ~ Dies erkennen wir auch daran. dass nur das Erhöhen der Schlange durch Mose. nicht aber das Am-Leben-Bleiben der Gebissenen ausgefühn wird. Dieses Moment verkennen Bultmann. Johannes 109 mit Anm I (nicht die Erhöhung als solche. sondern gerade das Wie der Erhöhung ist die entscheidende Pointe). Becker. Johanncs I 143f <der philologisch gesehen die Pointe veN:hiebt: .. Wie die erhöhte Schlange. so ist der erhöhte Christusremedium gegen den Tod ... J und auch Vouga. cadre 22 (»Comme Je serpent eleve. il appone il l'homme une nouvelle possibilite d'el!.istence 131141 ... Zu kritisieren wäre erst noch. dass nicht die Möglichkeit. sondern die Wirklichkeit des Lebens vermillelt wird.). Gegen diese Auslegung vgl Nicholson. Death 99: ...... the Founh Evangelist is not comparing the Son of Man with the snake. for if that were the case he would have made f1 ~~ the subject of a passive verb in 3: 14a.« Siehe auch Nicholson. aaO 101: .. we do know thatthe only pointthat he seems to want to takeout of the story is the action of Moses in Iifting up the snake ... In dieselbe Richtung geht auch Maneschg. Erzählun[! 400: .. )m Bild des in die Höhe Gezogenwerdens treffen sich Typus und Antitypus<.Jund in diesem Bild werden wir in erster Linie die im Vergleich angedeutete Ähnlichkeit suchen müssen. Das milli~ - ~ enthält somit auch einen Hinweis auf die An und Weise. wie sich das 'Erhöht werden' Jesu vollzieht.• Zu beachten ist vom Satzbau her. dass dem milli!;. das vom Erhöhen der Schlange spricht. das CJÜWCi entspricht. das vom Erhöhtwerden des Men-
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Das nächste Element ist V. 16. Die Partikel oyap zeigt, dass ein Begründungsverhältnis vorliegt. V. 16 benennt den Grund für die Aussage von V. 14f, genauer vielleicht für die Aussage, dass der Menschensohn erhöht werden musste, damit der Glaubende ewiges Leben habe. 17 Das durch die begründende Partikel konstituierte Verhältnis zwischen V. 16 und V. 14b.l5 lässt sich wie folgt darstellen: (a) deutlich ist zunächst, dass V. 16c den V. 15 aufnimmt; dies geht aus dem weitgehend parallelen Satzbau hervor. Die Unterschiede sind, dass einerseits mcrtEUE\V im ersten Fall mit tv, im zweiten dagegen mit Eie; konstruiert wird, und dass andererseits das Haben des ewigen Lebens in V. 16c durch ~11 ci1tOÄtyUX\ präzisiert wird. (b) V. 16ab dagegen legt V. 14b aus. Das Erhöhtwerden des Menschensohns in V. 14b wird durch V. 16b dadurch erklärt, dass Gott den eingeborenen Sohn gibt, während V. 16a mit der Liebe Gottes zur Welt das &i von V. 14b erklärt. Was vorher mit einem blossen »Müssen« beschrieben wurde, das zugleich die weltliche Unbegreiflichkeil und die Unvermeidbarkeil des Kreuzestodes zum Ausdruck bringt, wird jetzt mit Rückgriff auf die Liebe Gottes begründet. V. 16 führt also erstens das Kreuzesgeschehen auf Gottes Liebe zurück und betont das Rettende im Gegensatz zum Verderben. Diesen Aspekt nimmt eine weitere Einheit (V. 17) auf, die wiederum mit einer begründenden Partikel (oyap) angefügt ist. ln diesem Satz wird der Grund dafür angegeben, dass das Kreuzesgeschehen in V. 16 auf seinen rettenden Aspekt beschränkt wird. Der Grund dafür ist, dass Gott seinen Sohn nicht mit dem Ziel, die Welt zu richten, in die Welt gesandt hat, sondern mit dem Ziel, dass die Welt durch ihn 1K gerettet werde. Das Thema des Gerichts ist mit der traditionellen Menschensohnvorstellung gegeben, 19 die im Johannesevangelium aufgenommen
schensohns spricht. Der Vergleich ist demnach auf da.o; Wie der Erhöhung ausgerichtet. Deshalb isl der kreuzestheologische Aspekt in 3.14f sehr stark betont. ln dieselbe Richtung weist auch das k'i. das urchristlich in den Leidensankündigungen der Passionstradition veranken ist. 17 Vielleichi darf man das~ als Wiederaufnahme des ~-Satzes von 14b verstehen. ln dieselbe Richtung weist der parallele Bau beider Satzperioden 114b //16ab: 15//16c). Auch Blank. Johannes 256f beobachtet ähnliche Zusammenhänge. 1" Das ca\raril kann sowohl auf Gon als auch auf den Sohn bezogen werden. Die Parallelismen im Satzbau legen freilich die Annahme nahe. dass nicht Gon. sondern der gesandte Sohn die Weil reuet. 1v Der Gerichtsgedanke ist sowohl in der frühjüdischen Überlieferung (äthHen. 4Esr. eine Unzahl von Belegen bietet Colpe. An. b ulOci 1IDil ci,.xou B 111. 425.27~31.20) als auch in der synoptischen Tradition eng mil dem Menschensohn verbunden. vgl Lk 12.8par: Mk K.38parr: 13.26fparr: 14,62parr: Lk I 1.30par. 12.40par: 17 ,24.26.30par: MI 13.41: 19.28: 25.31: Lk
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und neu interpretiert wird. Diese traditionelle Menschensohnerwartung macht es notwendig, dass das Übergewicht der Rettung hier abgehoben wird gegen die alte Vorstellung vom Gericht über die Welt. Die nächste Sinneinheit (V. 18) erläutert die Denkmöglichkeit der genannten Asymmetrie. Denkbar ist die Einseitigkeit des Rettens insofern, als der Glaube an den Sohn davor bewahrt, ins Gericht zu kommen, während der Nichtglaubende das Gericht schon hinter sich hat. In diesem Satz wird das traditionell als zukünftig vorgestellte Gericht entschieden in die Gegenwart hereingezogen: in der Begegnung mit dem Sohn geschieht die Entscheidung über endgültiges Heil und Unheil. Dabei lässt sich auch hier ein Ungleichgewicht feststellen. Denn vom Glaubenden wird nicht etwa nur gesagt, er könne - kraft seines Glaubens - im Gericht bestehen; vielmehr kommt der Glaubende überhaupt nicht mehr ins Gericht. Der Glaubende hat das Gericht nicht mehr als seine Zukunft. Demgegenüber hat der Nicht-Glaubende das Gericht schon hinter sich, nicht im Sinne des Beurteiltwerdens, sondern im Sinne des Verorteiltwerdens. Etwas pointiert gesagt: der Nicht-Glaubende zieht sich seine Verurteilung in der Gestalt seines Unglaubens selbst zu. Diese eigenwillige Neufassung des Gerichtsgedankens ruft nach Erläuterungen, die denn auch in der letzten Sinneinheit (V. 19-21) gegeben werden. Der Gerichtsgedanke bezieht sich normalerweise nicht auf Dinge wie Glaube oder Unglaube, sondern auf die 2pya des Menschen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass - eingeleitet durch «Ü'ttl & tcmv 1t ICpi~- eine Erläuterung zum Verhältnis von Gericht und Werken abgegeben wird. Dabei wird zunächst etwas über die Art des Gerichts gesagt (wobei die Gegenwärtigkeil des Gerichts ebenso entschieden festgehalten wird wie vorher). Das Gericht geschah so, dass das Licht in die Welt kam und dass die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht. Als Grund für diesen Hang zur Finsternis wird angegeben, dass ihre Werke böse waren (V. 19b ). Dieser Zusammenhang wird in V. 20 allgemein begründet: wer das Verderbliche tut, hasst das Licht und meidet es, denn seine Werke könnten durch das Licht als das erwiesen werden, was sie sind: böse. Wer dagegen die Wahrheit tut, hat keinen Hang zur Finsternis, denn die Wahrheit lässt ihn das Licht su18,8; 2 1.36. Zum Problem vgl Conzelmann. Grundriss 105-111 bes 109-111. Derselbe Gerichtsgedanke erscheint auch in Joh 5.27. wird don aber einer intensiven Neuinterpretation ( 5.24-29) unterzogen.
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chen, damit der wahre Ursprung seiner Werke offenbar werde: Gott selbst. Diese letzte Sinneinheit vermittelt also zwischen der Aussage, dass der Glaube mich dem Gericht entzieht, während der Unglaube die Verurteilung schon hinter sich hat, und der traditionellen Vorstellung, dass im Gericht über die Werke des Menschen entschieden wird. Das Problem wird so gelöst, dass der Hass des Lichts (Christi) schon die Verurteilung der Werke offenbar macht, während das Suchen des Lichts zeigt, dass das Tun der Wahrheit insofern keine göttliche Beurteilung vor sich hat, als nur an den Tag kommt, dass es durch Gott selbst gewirkt ist. Betrachten wir die Abfolge dieser Sinneinheiten im ganzen, so erkennen wir einen Gedankengang, der mit immer grösserer Klarheit die Tragweite des Kommens Jesu in die Welt zum Ausdruck bringt. Gernäss unserer Arbeitshypothese~u soll der Gedankengang als Entfaltung dessen betrachtet werden, was der christliche Glaube zu denken aufgibt. Diese Entfaltung lässt sich besser verstehen, wenn wir sie in einen Zusammenhang mit traditionsgeschichtlichen Überlegungen stellen. 1.3 Traditionsgeschichtliche Hypothese Als Einsatzpunkt zu traditionsgeschichtlichen Überlegungen bietet sich V. 16 an. Dieser beruht - wie schon lange erkannt wurde ~~ auf einer Sendungsformel, die sowohl im vorpaulinischen als auch im vorjohanneischen Traditionsgut vorgelegen haben dürfte. Dass die Sendungsaussage, deren Grundelemente sich an allen vier in Anmerkung 24 unten genannten Stellen durchhalten, gerade der vorjohanneischen und vorpaulinischen Theologie gemeinsam ist, ist insofern nicht verwunderlich, als sowohl bei Paulus als auch bei Johannes Grundkategorien jüdisch-hellenistischer Weisheitstheologie massgeblich an der Ausbildung und Reflexion der Christologie beteiligt sind.~~ Die Vorstel-
~~~
Vgl oben 4.l'i-4.~7 (unter 0.1 ). Sendungsformel vgl Kramer. Christo~-Kyrios-Gouessohn. Paragraph 2.'if und S<:hweizer. uSendungsformel" !!3-9.'i. :~Schweizer. uSendungsformel" 90-9~. Gegen die ältere These Buhmann~. der das Johanncsevangelium bekannllich ganz von der Gnosis her erklärt (immer noch \'ertreten durch Schouroff. Der Glaubende) hat sich ein gewisser exegetischer Konsen~ dun:hgeselzl. welcher das Johannesevangelium auf dem Hintergrund der hellenistisch-jüdischen Weisheilstheologie interpretiert: vgl zum Beispiel Blank. Johannes .~6-.'i6. der richtigerA·eise auf die herkunftsmässige Inhomogenität religionsgeschichtlichen Materials im Johannesevangelium hinweist ~ 1 Zur
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lung von der Sendung des Sohnes (oder Logos) wird- anders als in der Weisheitstheologie, wo es um die Denkbarkeil göttlicher Präsenz in der Welt geht- im vorpaulinischen und vorjohanneischen Christentum aufgegriffen, um das Gewicht des Kyrios JesusB und die wahren Dimensionen seiner Wirkung in der Welt24 zum Ausdruck zu bringen. Die vorjohanneische Verwendung der Sendungsformel ist also charakterisiert durch zwei Grundaussagen: (a) Der Jesus, den die Gemeinde kennt, ist der von Gott gesandte Sohn (christologische Dimension). (b) Die Sendung dieses Sohnes kommt den Menschen zugute (soteriologische Dimension). Es gehört wohl einer weiteren - diesmal nur johanneischen - Reflexionsstufe an, dass die Sendung des Sohnes als Vollzug der Liebe Gottes verstanden wurde. 2s Damit wurde der Ursprung der Rettung, die Soteriologie der Sendung, verankert in der Theologie. Das Soleriologische am Kommen Jesu wird in typisch johanneischer Sprache festgehalten: er bringt den Glaubenden ewiges Leben. Auffällig ist ferner, dass nicht von der Sendung, sondern vom »Geben« die Rede ist. 26 Zwar B Der im Vordergrund der Welt erscheinende Mensch Jesus wird begriffen als Sohn oder Logos Gottes, das heisst als die der Welt gleichsam zugewandte Seite Goues. Insofern ist die Sendungsaussage ein lmplikat der Sohnes-/Logos-Aussage. Namentlich bei Philo von Alexandrien tritt ja der~ bzw u~ wesentlich als ein Mittler zwischen Gott und Welt auf (dazu Kleinknecht. An U,.. 86.44-88,14(mit vielen Literatur- und Stellenangaben I>. Der Mittler hat die Aufgabe. Gottes Gegenwan in der Welt zu vermitteln. Insofern ist der ~ die Personifikation der göulichen Zuwendung zur Welt Eine sehr ähnliche Funktion gewinnt die ~ in der späteren hellenistischen Weisheit (die bei Philo mit dem ~ identifizien ist, vgl Leg All I 65). 24 Das Element des ba-Satzes ist ebenfalls an allen vier Stellen konstant und nimmt den soleriologischen Sinn der Sendung in den Blick: die Rechtsforderung des Gesetzes wurde »durch uns«, die wir im Geist wandeln. erfüllt (Röm 8,3f); die unter dem Gesetz Lebenden werden freigekauft (Gal 4.4f. paulinisch erklän damit. dass »wir« die u\Ot)m\a erlangen); »wir« leben durch ihn ( IJoh 4,9); jeder Glaubende hat ewiges Leben (Joh 3,16). 2' Diese Deutung des Kommens Jesu erscheint nur noch an den beiden johanneischen Stellen (Joh 3.16; IJoh 4.9), nicht aber an den paulinischen Stellen, die die Sendungsformel zitieren. Auf den Zusammenhang von Joh 3.16 und IJoh 4, 7-10 weist auch Blank, Johannes 257f nachdrücklich hin. Wichtig ist, dass die Gegenständlichkeit des Gesagten nicht exegetisch verOüchligt wird, zum Beispiel so, dass es hier nur noch um die (mitteilende) Offenbarung oder die Dokumentation der gölllichen Liebe gehe. Die Sendung Jesu will nicht nur etwas sagen. sondern vielmehr etwas sein. Hier gehl es um Inkarnation, nicht mehr um die Epiphanie des Göttlichen (mit Schweizer. Ökumene 108). 26 In diesem Punkt unterscheidet sich unsere Stelle von allen anderen, die die Sendungsformel aufnehmen. Ob darin ein zufälliger Wechsel des Ausdrucks zu sehen ist, wie Schweizer. «Sendungsformel» 90 mit Anm 39 meint, oder ob die Wonwahl durch die kreuzestheologische Interpretation (V. 14f) bedingt ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedenfalls ist auch
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ist das Verbum 6\&DJ.ll zu unterscheiden von mx~\&oJll, das in der Passionstradition erscheint, aber es ist zu beachten, dass die johanneische Interpretation der Sendung in V. 14f ebenfalls kreuzestheologisch ist. Wenn die Annahme richtig ist, dass im Zuge der Interpretation durch V. 14f auch das Verbum »senden« durch »geben« ausgewechselt wurde, so liegt die Vermutung nahe, dass es nun auf die Passion und den Tod Jesu hinweist. Wahrscheinlich zur selben Interpretationsstufe gehört das Interpretament in V. 17, welches das der Formel entstammende Verbum »senden« noch einmal aufgreift, um die Priorität der Rettung gegenüber der Wirkung des Richtens herauszustellen: die Liebe Gottes zur Welt, die in V. 16 festgehalten wurde, wird jetzt ausgelegt als die Sendung des Sohnes zur Rettung, statt zum Gericht über die Welt. Beachtenswert ist die universale Weite, in welcher hier Rettung gedacht wird. So wie die Liebe Gottes nicht nur den Glaubenden, sondern der ganzen Welt gilt, so geht es jetzt um die Rettung der ganzen Welt. Damit ist meines Erachtens die Kohärenz von V. I 7 zur johanneischen Interpretation der Sendungsformel festgehalten. Es ist also sinnvoll, dies derselben Überlieferungsstufe zuzuordnen. Dasselbe gilt auch von V. 18, welcher sich als logische Konsequenz von V. 17 versteht. V. 18 antwortet auf die Frage, wie die Asymmetrie der Rettung gedacht werden könne angesichts des Gerichtsgedankens, dessen sachliches Recht es ebenfalls zu wahren gilt. Dabei wird die Relation des Glaubens, die schon in V. 14f thematisiert wurde, auf ihre Tiefendimension hin interpretiert. Ein neues Thema wird schliesslich in V. 19-21 angegangen: das Problem des Gerichts nach den Werken. Das Gericht nach den Werken gehört zu den gemeinchristlichen Vorstellungen, mit denen sich auch die johanneische Gemeinde auseinanderzusetzen hatte, namentlich wenn sie christologisch das Übergewicht der Rettung festhalten wollte. Traditionsgeschichtlich sind die drei Verse schwierig einzuordnen: sie werden sowohl der vorjohanneischen Tradition 27 als auch der kirchliim 5\61t&' die Konnotation zum mpnllö&li&'· das Johannes ja ausschliesslich für Judas reserviert. der synoptischen Passionsgeschichte und zur Hingabe Jesu in den Tod erhalten (mit Kohler. Kreuz 256). H So zum Beispiel Becker. Johannes I J30f.l46f. Buhmann. Johannes 113 nimmt an. der Evangelist formuliere V. 19 »mit unausgesprochener. aber unüberhörbarer Polemik gegen die traditionelle Eschatologie. was das Gericht sei: ...... während V. 20f im Grundbestand der •Quelle« zuzuweisen sei. Dies impliziert. dass der sachliche Gehalt (Gericht nach den Werken) traditionell ist. Wodurch ist aber das Urteil begründet. der Evangelist treibe Polemik gegen eine
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chen Redaktion2s zugewiesen. Wie immer man das Stück zuordnet, deutlich ist auf jeden Fall, dass ein neuer Gedanke aufgegriffen und von den in V. 14-18 gewonnenen Einsichten her ausgelegt wird. Es ist daher sinnvoll, hier von einer weiteren Stufe der Traditionsbildung zu sprechen, ohne dass die Notwendigkeit bestünde, diese dem Evangelisten oder aber der Kirchlichen Redaktion zuzusprechen. Vielmehr geht es um die Fortentwicklung christlicher Theologie im johanneischen Kreis, konkret um die theologisch konsequente Verarbeitung eschatologischer Vorstellungen, die vor, neben und nach dem johanneischen Kreis existierten. Ziehen wir das Fazit aus den traditionsgeschichtlichen Überlegungen, so lassen sich gut drei verschiedene Ebenen unterscheiden. (I) Die traditionsgeschichtlich wohl älteste Ebene ist mit der Sendungsformel (V. 16) gegeben, welche in der johanneischen Gemeinde aufgenommen wurde, um die wahren Dimensionen des Kommens Jesu zu begreifen. (2) Eine demgegenüber jüngere Ebene könnte man auf den Begriff der kreuzestheologischen Interpretation der Sendung Jesu bringen. Hier wird die Christologie der Sendungsformel weiterentwickelt in mehrere Richtungen: in Richtung der Lehre von Gott (dyti1t1'\). der Kreuzesgestalt der Erhöhung des Menschensohns (3,140, der asymmetrischen Soteriologie (nicht lepivelv sondern CJq)te\v) und der Tragweite des Glaubens (b 1t\O'teUov ... oi> xpiveml). (3) Eine noch einmal jüngere Ebene wendet die speziell johanneische Soteriologie von V. 14-18 auf die Frage an, inwiefern das Gericht als Gericht nach den Werken verstanden werden muss. Dabei soll offenbleiben, ob hier vorjohanneische Vorstellungen verarbeitet oder nachjohanneische gemeinchristliche Anschauungen einbezogen wurden. Damit sind die analytischen Arbeitsgänge abgeschlossen, die Interpretation kann nunmehr erfolgen.
2 Interpretation des Textes im Werdegang Die Interpretation soll gernäss den Vorbemerkungen so erfolgen, dass dem traditionsgeschichtlich analysierten Werdegang des Textes bestimmte Eschatologie? Liegt hier nicht vielmehr der positive Einbezug traditioneller Eschatologie in die Christologie und namentlich in die Präponderanz des Rettens vor? 28 So Richter, Studien 327-345.346-382.
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nachgedacht wird. Richtungsweisend soll dabei die Arbeitshypothese sein, den Text als Ergebnis einer kontinuierlichen Entfaltung johanneischer Theologie zu verstehen. 2.1 Die Sendungsformel Am Ursprung des vorliegenden Textes steht die Formel, welche mit Hilfe hellenistisch-jüdischer Weisheitstheologie den Versuch macht, das Kommen Jesu in Zusammenhang mit Gott zu denken. An diesem Verslehensmodell der Sendungsformel sind zwei Aspekte hervorzuheben. 2.1.1 Die Formel interpretiert das Kommen Jesu durch den mythologischen Gedanken, dass Gott seinen Sohn in die Welt sendet. Die Sendung des Sohnes Gottes wird konkret in Jesus Christus. Diese Verknüpfung impliziert die Menschwerdung des Sohnes Gottes 29 in einem allgemeinen Sinne: Gottes Sohn wird ein Mensch. Es ist noch nicht konstitutiv, dass es dieser bestimmte Mensch mit seiner bestimmten Geschichte ist. Man könnte sagen, die mythische Figur des Sohnes Gottes berühre sich in einem mathematischen Punkt mit dem Menschsein Jesu, so wie sich die Tangente in einem mathematischen Punkt mit dem Kreis berührt. Die Berührung wird zwar festgehalten, jedoch hat sie keine inhaltlichen Folgen für die sich berührenden Figuren. Auf unser Thema angewendet heisst dies, dass die religiöse Vorstellung vom Sohn Gottes nicht inhaltlich durch das konkrete Sein Jesu bestimmt wird. Der Sohn Gottes hat eine allgemeine Identität. Wichtig ist vorerst bloss die Berührung mit dem Menschsein, nicht aber die konkrete Gestalt, die diese Berührung hatte. Doch schon dies ist ein wichtiger Unterschied zur Vorstellung der Epiphanie: während die Ephiphanie gleichsam die be-
2~ Sowohl in der vorjohanneischen als auch in der vorpaulinischen Tradition findet sich der Menschwerdungsgedanke. Deutlich ist er im Johannesprolog ( 1.14a: t1 MrOCi clli~ i"yE11no). wo die Geschichte vom uranfänglichen Sein des Logos bei Gou bis hin zu seiner konkreten Erscheinung in Jesus von Nazareth erzählt wird. Ich gehe davon aus, dass 1.14a zum ursprünglichen vorjohanneischen Hymnus gehöne. Im paulinischen Schrifttum wird die Menschwerdung mit dem Ausdruck lE"OJi.E"OCi h: Y'JI'Cll!COI; (Gal 4.4. in der Sendungsforme I) zum Ausdruck gebracht; dieselbe Vorstellung wird auch durch den vorpaulinischen Philipperhymnus in Phil 2,7 (~ lloiJ).ov N:411i11) belegt Dazu Schweizer. Ökumene 108. der den Inkarnationsgedanken freilich erst auf die Konfrontation mit dem Kreuz Jesu zurückfühn. Die genannten Stellen zeigen freilich. dass der Inkarnationsgedanke sowohl in der vorpaulinischen als auch in der vorjohanneischen Gemeinde schon ausgebildet war. Sobald die Aussage. dass der göt!liche Logos nicht in Jesus Christus erscheint. sondern als der Christus gesandt wird. entstanden ist. liegt der Schritt von der Epiphanie zur Inkarnation nahe.
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rührungslose Erscheinung des Göttlichen meint, in welcher gerade der Abstand des Gottes zu seiner Erscheinung ausgedrückt wird, lässt die Inkarnation auf dieser Stufe den Sohn Gottes sich doch in diesem Punkt mit dem allgemein gedachten Menschsein berühren. 30 Die religiöse Phantasie (beziehungsweise der Christusglaube) hat sich erst allgemein auf die Realität des Menschen Jesus eingelassen. Doch auch in dieser allgemeinen Gestalt leistet der Menschwerdungsgedanke Wesentliches. Der Sohn Gottes, der auf die Figur der Sophia verweist, ist eine Vorstellung, die die göttliche Einwirkung auf die Welt beziehungsweise die Gegenwart Gottes in der Welt zu denken erlaubt. 31 Der Sohn Gottes steht gleichsam für die Weltzugewandtheil Gottes, für die wesentlich zu Gott gehörende Gegenwart in der Welt. Als solcher schützt er das Gottesbild davor, zum Trugbild eines weltfernen, abgewandten, sich selbst genügenden Gottes zu verkümmem. 32 Und zugleich erlaubt es die Rede vom Sohn Gottes, Jesus Christus als göttlichen Eingriff, als Verkörperung der Zuwendung Gottes zur Welt zu begreifen. So gesehen dient die mythische Figur des Gottessohnes dazu, dem Menschsein Jesu das Gewicht zuzumessen, das es in den Augen Gottes oder in Wahrheit hat. Mythologische RePeweisen haben im christlichen Glauben genau diesen Sinn: sie sind nicht den letzten Hintergründen der himmlischen Geheimnisse gewidmet, sondern dem Vordergrund des Weltgeschehens. Sie erlauben es, dem Weltlichen das Gewicht zu geben, das es in den Augen Gottes hat. Die johanneische Gemeinde präzisiert den Sohn Gottes durch das Adjektiv ~ovoyEv~. 33 Es bedeutet, dass es von diesem Wesen nur ein Exemplar gibt. Umgekehrt gesagt bedeutet es, dass Gott seine ganze Weltzugewandtheil in diesen Sohn hineingelegt hat, so dass Christus die Fülle der göttlichen
·10 Die t . .•E~.a meint das Ereignis hilfreichen Eingreifens einer göttlichen Macht. die stets in einem Geschehen oder in einem Menschen zur Wirkung kommt (vgl Bultmann/Lührmann, An t . .i.N !Cd. 8.14-10.22). Grundlegend flir die Vorstellung ist. dass die göttliche Kraft stets zu unterscheiden ist von ihrem Träger. Epiphanie steht für das. was zum Beispiel ein Mensch Riht. nicht für das. was er ist. Demgegenüber meint die Inkarnation die Verkörperung des Sohnes Gottes. 'I Gegenwan Gottes wird hier als Wirkung. nicht bloss als Mitteilung gedacht. Der Sohn Gottes offenban nicht bloss. da.'ls Gott bestimmte Eigenschaften hat. sondern stellt diese dar. n Dazu Hengel. Der Sohn Gottes 24ff. ·11 Das Won ist im johanneischen Schrifttum ausschliesslich flir das Verhältnis des Sohnes zum Vater reservien ( 1.14.18; 3.16.18; IJoh 4,9); dazu Kohler. Kreuz 258f: Wengst. Bedrängte Gemeinde 125f mit Anm 394.
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Gegenwart darstellt. 34 Nicht die Exklusivität ist hier zu betonen, sondern die Fülle: Christus, gesehen als eingeborener Sohn Gones, ist Gottesgegenwart, die keiner Ergänzung mehr fähig ist und insofern ihrer nicht bedarf.Js Schliesslich ist der Menschwerdungsgedanke der Sendungsformel verbunden mit demjenigen der Präexistenz, der seinerseits wieder durch die Weisheitstheologie vorbereitet ist.36 Der Sohn Gottes ist, wie die Weisheit und der Logos 37 , im Uranfang bei Gott; Gott ist prinzipiell nicht denkbar ohne den Sohn, der seine Weltzugewandtheil darstellt. Diese Vorstellung ist sowohl theologisch als auch christologisch bedeutsam. Theologisch insofern, als kein Gott vorstellbar ist, der nicht auf die Welt zugehen würde. Christologisch insofern, als der Christus die Gottesgegenwart persönlich darstellt, die uranfänglich in Gott festgelegt war. Weltlich gesehen bedeutet das Kommen des Christus eine Überraschung, aber es ist eine Überraschung, in der sich Gott nicht selbst überrascht hat. Der Präexistenzgedanke verbindet also die Zeitlichkeit des Menschseins Christi mit der Ewigkeit der Weltzuwendung Gottes. Verbunden mit diesem Präexistenzgedanken ist möglicherweise derjenige von Erniedrigung und Erhöhung.J 8 Wäre die Verbindung schon vorjohanneisch gegeben, würde die Kombination der Sendungsformel mit dem Menschensohnwort, wie sie hier auf der zweiten Überlieferungsstufe vorgenommen wird (Joh 3,14f), noch einleuchtender.
Vgl Buhmann. Johannes 47 Anm 2; es nimmt auch den »Sinn eines Wenprädikats« an. HIn 1.14 (einer zwischen metaphorischer und eigentlicher Bedeutung schwankenden Stelle) dient das ~II'YEV11ci IUpli 1111~ (»ein Einziggeborener vonseilen eines Vaters«; Anikellosigkeit!) dazu. die llöfp. das Gewicht des Aeischgewordenen zum Ausdruck zu bringen. Es hat dieselbe Funktion wie die Aussage von der Sendung des Sohnes. von der oben die Rede war. 16 Es steht eine »Christologie im Hintergrund. die Jesus in den Kategorien der Sendung der präexistenten Weisheit. bzw des Logos. zu erfassen sucht« (Schweizer. «Sendungsformel» 92 mit Literaturangabe in Anm 46). n Im Prolog wird diese Präexistenz ausdrücklich festgestellt (b ciPXf1 fp 6 ~. 1.1 a). Mit ihr verbindet sich schon vorjohanneisch (wie in der Weisheitstheologie) der Gedanke der alles umfassenden Schöpfungsminlerschaft (mn~~&aVmü r,E'N10. mi. ~ aVmU r,E- oUIIt b ö l*"fovEY, 1.3). Dieselbe Kombination beider Motive findet sich auch in der vorpaulinischen Christologie (Phi I 2J~ II; I Kor 8.6d). JM Er erscheint in der vorpaulinischen Theologie deutlich ausgefühn im Philipperhymnus (2.Cr8 Erniedrigung; 2,9-11 Erhöhung). Im johanneischen Schrifttum wird er mit dem Menschensohntitel verbunden: der Menschensohn steigt vom Himmel hernieder und wird wieder in den Himmel erhöht werden (3,13f: 6,62: vgl Schnackenburg. Johannesevangelium I 412). Freilich wird im Johannesprolog das Kommen des Logos nicht als Erniedrigung gedacht. 34
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2.1.2 Als zweiten wichtigen Aspekt der Sendungsformel nenne ich den soteriologischen, der im 'iva-Satz zum Ausdruck gebracht wird. Während in der vorpaulinischen Gemeinde die Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes (Röm 8,4) und der Freikauf von der Herrschaft des Gesetzes (Gal 4,5) im Vordergrund stehen, drückt die johanneische Gemeinde die Rettung anhand des Lebensbegriffs aus. 39 In der soteriologischen Explikation der Sendung geht es konkret um die Wirkung, die diese Gottesgegenwart unter den Menschen hat. Schon in der Weisheitstheologiehat das Kommen der Weisheit die Wirkung, dass Leben gewinnt, wer sich an sie hält. 40 Und auch im Prolog ist die Lebendigkeit sozusagen der Inhalt des Logos, das, was im Logos aufbewahrt und beschlossen ist, um an die Menschen ausgeteilt zu werden (Joh 1,4). 41 In Joh 3,16 werden dazu zwei Dinge präzisiert. Erstens bedarf es des Glaubens (und nur4 2 des Glaubens) an den Sohn, damit das Leben erlangt werden kann. An den Sohn glauben heisst, sich anschliessen an seine Kraft, den Sohn überhaupt wirken lassen, in der Gegenwart des Christus die vollendete Gegenwart Gottes sehen. Zweitens ist das Leben, das hier gewonnen wird, aimvtoc;, ewig. Damit kann nicht eine unzerstörbare Substanz gemeint sein, die nun in den Glaubenden überginge. Vielmehr ist es die Relation des Glaubens zu Gott, welche Lebendigkeit in sich trägt. Auch dieser Gedanke ist von der Weisheitstheologie vorbereitet. So wie der Anschluss an die Weisheit, das Essen und Trinken von dem, was sie zur Verfügung stellt, Leben bringt, so bringt die Verbindung zum Christus Leben, weil er die Gegenwart Gottes austeilt. Ewig ist dieses Leben insofern, als diese Relation zu Gott durch nichts mehr zu vernichten ist; wenn Gott in seiner ganzen Fülle gegenwärtig ist, dann kommt er selbst so sehr für den Glauben des Menschen auf, dass keine menschliche Sterblichkeit43 diese Beziehung zerstören kann. 19
Das gilt sowohl fllr I Joh 4.9 (ba
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&' aüwü) als auch filr Joh 3.16
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a\.tbuw).
Vgl zum Beispiel Prov 3.18.22: 4.13.22f: 8,35. Das &i.<&1 Gottes muss als Gabe des Lebens gedacht werden. Damit emanzipien sich der Gonesbegriff von der Vorstellung. in Gott habe Geben und Nehmen, Lebensgewährung und Lebensvernichtung gleichermassen seinen Ursprung. Gott wird nun ganz und ausschliesslich als Kreativität gedacht. Die »Sendung des Sohnes macht den Vater als einen prin:ipie/1 Gebenden bekannt« (Kohler. Kreuz 259). 42 Dies ergibt sich aus dem mc;. Jeder Glaubende gewinnt das Leben. woraus folgt. dass der Lebensgewinn ausschliesslich vom Glauben abhängt. 41 Und auch kein göttliches Gericht; vgl Kohler. Kreuz 260. 40 41
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Die Asymmetrie des Rettenden
2.2 Kreuzestheologische Interpretation der Sendung In der traditionsgeschichtlichen Hypothese haben wir gezeigt, dass sich die Interpretation der Sendungsforrnel, wie sie auf der nächsten Überlieferungsstufe vorgenommen wurde, auf den Begriff der Kreuzestheologie bringen lässt. Diese konsequente Reflexion des tradierten Christusglaubens enthält eine Vielzahl von Gesichtspunkten, von denen ich lediglich vier nennen will.
2.2 .1 Gott als Liebe Zunächst ist festzuhalten, dass die Sendung des Sohnes als Ereignis44 der Liebe Gottes zu verstehen ist (V. 16a). Damit ist die Sendung von jedem Verdacht befreit, blosse Ortsveränderung des Gottessohnes zu sein. Die Sendung wird vielmehr als eine Wohltat Gottes begriffen, die die Gestalt der Liebe hat. Sache der Liebe ist es, sich dem andern zuzuwenden.45 Ihre Sache ist es, zu geben (E&onv). Ihre Sache ist es schliesslich, das Leben zur Geltung zu bringen (V. 16c ). In dieser Neuinterpretation wird Christus nicht mehr einfach als die Erscheinung Gottes in der Weh begriffen, eine Erscheinung, die mit der ganzen Ambivalenz von Zorn und Barmherzigkeit, von Gericht und Gnade, von Vernichtung und Schöpfung belastet ist. Jetzt wird vielmehr die Gegenwart Gottes in der Welt eindeutig definiert: sie hat die Gestalt der Liebe. Man müsste noch mehr sagen: nicht nur die Gegenwart, nicht nur das Dasein Gottes in der Weh, sondern sogar das GegenwärtigWerden Gottes, sein Kommen zur Welt, wird als Geschehen der Liebe begriffen. Damit hat das Gottesbild, das Gott ganz von seinem Kommen in Christus her begreift, eine Eindeutigkeit gewonnen, die ihresgleichen sucht. 46 Die Eindeutigkeit ist bedingt dadurch, dass Gott ausschliesslich von diesem seinem Kommen her begriffen wird.
44 Becker. Johannes I 145 spricht hier etwa." missverständlich von »dokumentieren«, was die Konnotation hat, es werde etwas. was anderswo wirklich ist. hier hieb- und stichfest belegt. Demgegenüber ist festzuhalten, dass der Sohn die Liebe Gottes nicht dokumentiert. sondern verkörpert. Dies hebt ebenfalls Brown. John 133 note 16 hervor: »The aorist implies a supreme act of Iove« ( Hervorhebung von Brown). ·~ Vgl da.'i ciDci1E\l.D in V. 17. welches ja die göttliche Zuwendung zur Welt zum Ausdruck bringt. 46 Von hier aus gesehen ist es nicht verwunderlich, dass der theologische Fundamentalsatz. dass Gott ausschliesslich die Qualität der Liebe habe. im johanneischen Schrifttum (und nur hier in dieser Klarheit) zum ersten Mal fällt ( IJoh 4,8 in unmittelbarem Kontext zur Sendungsfonnel). Das logische Verhältnis von Gott und Liebe ist so zu begreifen wie im Satz »Dieser
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Der Begriff der Liebe interpretiert die Sendung des Sohnes ferner im Hinblick auf ihre Begründung. Was aus Liebe geschieht, gehorcht keiner weltlichen Notwendigkeit. Deshalb lässt sich für das Tun der Liebe kein Grund mehr anführen als eben die Liebe selbst. Wenn das Kommen Jesu als Ereignis der Liebe Gottes begriffen wird, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass dieses Kommen keine weltliche Begründung hat. 47 Es unterliegt keiner menschlichen Notwendigkeit (weder der Erlösungsbedürftigkeit noch der substanziellen Göttlichkeit der Menschen), vielmehr unterläuft die Liebe, die hier Ereignis wird, jede weltliche Notwendigkeit, weil sie viel mehr als das Notwendige gibt. 48 Damit wird das Kommen des Sohnes als eine Gabe der Liebe verstanden, die die göttliche xap~ dadurch offenbart, dass sie sie austeilt. 49 Gnädig sind genau jene Dinge gegeben, die nicht nur unverdient sind, sondern vielmehr jenseits der Logik des Verdienens begründet sind, eben in der Logik der Liebe Gottes. Schliesslich ist zu beachten, dass der Gegenstand der göttlichen Liebe der x~~ als ganzer ist. Die »Welt« bezeichnet hier wohl die Gesamtheit der Menschen. 50 Diese universale Ausweitung des Gegen-
Stein ist Materie« das Verhältnis von Stein und Materie. Liebe ist eine »Substanz«, von der es nur eine gibt (wie Materie). Deshalb ist das Substanzielle an Gott eben Liebe, so wie das Substanzielle am Stein Materie ist (Hinweis von B.K.A.Bonsack, Altphilologe an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich). 47 Ganz anders wird das Kommen des Erlösers etwa in der gnostischen Literatur begründet. Der Erlöser kommt, weil er die in die Materie gebannten Lichtwesen. die ihm substanziell gleich sind. zu sich zurückholen will. vgl Protennoia. Abzusetzen ist dieser Gedanke auch von der Annahme. der Erlöser knüpfe mit seinem Kommen an die Erlösungsbedürftigkeit (Schnackenburg. Johannesevangelium I 424) der Weh an. Die Liebe Gottes ist die prinzipielle Anfängerio (Kohler. Kreuz 258) und als eine solche knüpft sie an nichts an. 4 " Zum Problem der Notwendigkeit Gottes vgl Jüngel. Geheimnis 16--44. 49 Nicht zufallig ist im Johannesprolog die Erfahrung der Gnade (V. 16) der sachliche Grund (lm) dafür. dass Jesus Christus als fleischgewordener Logos begriffen wird. Dieser syntaktische Zusammenhang ergibt sich auf der Ebene des vorjohanneischen Hymnus, wo V. 16 direkt auf V. 14 folgte. Er kann jedoch auch im heutigen Kontext wahrgenommen werden. da dann die Erfahrung der Gnade Grundlage ftir das christologische Bekenntnis des Täufers in V. 15 ist. ~~~»Die 'Weh' ist nicht einfach die Wohnstätte der Menschen. sondern die sündige. Gott abgekehrte Menschheit. aber auch noch nicht der Inbegriff der dem Gottgesandten sich versagenden und ihn hassvoll-feindselig verfolgenden Menschen« (Schnackenburg. Johannesevangelium I 424). Ein ähnlicher Gebrauch von~ liegt auch im Johannesprolog vor. obwohl man aufgrunddes Zusammenhangs von V. lOb (b ~ & · aVwü tyt!IUO) mit V. 3a (llliV1111 & • aVwü ~rno) überlegen könnte. ob nicht schon die Schöpfungsmittlerschaft des Logos, die sich auf das ganze geschaffene Universum bezieht. als Ausdruck der Liebe zu verstehen wäre.
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stands ergibt sich, wenn die Liebe konsequent zu Ende gedacht wird: Liebe hat ihr eigenstes Wesen darin, dass sie unbedingt und unbegrenzt ist. 51 Von der Liebe Gottes zu reden vertrtige sich nicht damit, diese Liebe einzuschränken, etwa auf die Gott wohlgefälligen Menschen oder den johanneischen Gemeindeverband. 52 Nimmt man diese universale Fassung der Gottesliebe ernst, so wird man nicht mehr von einer dualistischen Theologie des Johannesevangeliums sprechen dürfen. Der Gedanke der Liebe Gottes zur Welt durchbricht gerade den Dualismus zwischen Feinden und Freunden Gottes (Qumran) oder zwischen wahren Gnostikern und verworfenen Sarkikern. Zwar gehören dualistische Begriffe wie Licht und Finsternis oder Wahrheit und Lüge zum Stoff des johanneischen Denkens, theologisch aber bestätigt es solche Wesensdualismen gerade nicht, sondern überwindet sie. Jede dualistische Interpretation johanneischer Theologie muss zumindest 3, 16 Gewalt antun (einmal ganz zu schweigen vom Prolog). 2.2.2 Erhöhung als Erhöhung ans Kreuz
Das Kommen des Sohnes Gottes von V. 16 wird nun in V. 14f mit dem Motivpaar Herabkunft und Erhöhung des Menschensohns verbunden. Die Interpretation konzentriert sich darauf, die Weise der Erhöhung des Menschensohns konkret auszulegen. Durch einen Vergleich mit der Erhöhung der Schlange durch Mose wird klargemacht, dass auch der Menschensohn in dieser Weise erhöht werden musste- erhöht ans Kreuz. Die Erhöhung des Menschensohns hatte bisher freilich etwas anderes gemeint: die Erhöhung in den Himmel, den Aufstieg aus
5 1 Diese Unbegrenztheil bringt Jesus in der sechsten Antithese der Bergpredigt zum Zug, wenn er den Gedanken der Nächstenliebe entgrenzt zu dem der Feindesliebe. Dazu Weder. Rede 139-144. Wengst. Bedrängte Gemeinde 125-128 setzt sich explizit mit dem gegenüber der johanneischen Theologie immer wieder geäussenen Verdacht auseinander. Liebe werde hier auf den »lnnenbereich beschränkt«. Diese Frage setzt - etwas missverständlich - beim ethischen Problem an; sie wird jedoch durch den Verweis auf die theologischen Dimensionen der Liebe beantwonet: »Weil also der viene Evangelist die Welt nicht aus der Liebe Gottes ausschliesst. sondern sie im Gegenteil in diese Liebe eingeschlossen sieht. kann auch das Gebot, einander zu lieben, nicht eine prinzipielle Beschränkung meinen ... « (aaO 129). 5 2 Eine dualistische Konzeption der johanneischen Liebe (unter Menschen). die auf den Verdacht des Gruppenegoismus hinau.'iläuft. scheiten nicht zuletzt an der christologischen Universalität der Liebe (zu vergleichen wäre auch der Prolog). Zum Dualismus vgl Becker. Johannes I 147-151 (Becker relativien die These vom soleriologischen Entscheidungsdualismus: Bultmann. SchottrofO.
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der irdischen Welt in die Welt Gottes. 53 Diese Vorstellung von Erhöhung wird durch 3,14f mit dem Weg Jesu ans Kreuz konfrontiert. Dabei kommt es zu einer paradoxen Einheit, wie sie für viele Motive im Johannesevangelium charakteristisch ist: im Blick auf Jesus ist die Erhöhung in den Himmel unauflöslich an seinen Weg ans Kreuz gebunden. Erhöhung in den Himmel und Erhöhung ans Kreuz durchdringen sich und interpretieren sich gegenseitig. Der Weg ans Kreuz ist erst dann in seiner wahren Dimension begriffen, wenn er nicht mehr das (gerechte) Schicksal eines Gotteslästerers ist, sondern vielmehr der Weg des vom Himmel gekommenen Menschensohns, der persongewordenen Gegenwart Gottes, in die himmlische Heimat. Und der Aufstieg des Menschensohns ist erst dann konkret verstanden, wenn er nicht mehr die Rückkehr eines von seiner irdischen Erscheinung unberührten, unantastbaren Himmelswesens ist, sondern vielmehr der Weg des konkreten Menschen Jesus in den Kreuzestod. Diese kreuzestheologische 54 Deutung der Sendung des Sohnes hat erhebliche Konsequenzen. Denn jetzt wird das Menschsein des Gottessohnes nicht mehr allgemein verstanden, sondern es wird verstanden vom konkreten Lebensweg des Jesus von Nazareth her. Die Menschwerdung des Sohnes wird jetzt nicht mehr als allgemeine Berührung in einem mathematischen Punkt gedacht. Jetzt ist die Geschichte, die konkrete Gestalt des Menschseins entscheidend ftir die Identität des Gottes~J Diese Konzeption von Erhöhung wird bei Käsemann. Jesu letzter Wille als johanneisch ausgegeben. Darauf beruht die These vom »naiven Doketismus« des Johannesevangeliums. Gegen diese These siehe zB Maneschg. Erzählung 423: »Bei Joh ereignet sich diese Erhöhung des Menschensohns bereits in dem Augenblick, da die Gegner Jesus am Kreuz erhöhen.« Nicholson argumentiert dahingehend. dass sowohl die übliche Semantik von V.O. als auch der Zusammenhang mit 3,13 dafür sprechen, dass »the primary reference has to be to the Iifting up of Jesus to heaven« (Death 103. insgesamt 98-103). Immerhin gesteht auch er zu. dass der Gesamtkontext des Joh zumindest eine sekundäre Referenz zur Kreuzigung verlangt (aaO 103). Untauglich ist Nicholsons Hinweis auf die allgemeine Semantik, da ja genau dies die Leistung johanneischer Theologie ist, Wörtern mit bekannter Bedeutung einen neuen Inhalt zukommen zu lassen. Nicholson muss für seine Interpretation den Vergleich von 3,14 aber in Angleichung an 3,13 vorwiegend als eine polemische Gegenüberstellung verstehen: »Moses did not aseend- he lifted something eise up - but the Son of Man did aseend - he was hirnself lifted up« (aaO 102, vgl IOif). Wäre diese Polemik intendiert, müsste man mindestens Adversativpartikeln erwarten. ~·Man wird hier (gegen Becker, Johannes I 144) von einer Kreuzestheologie im strengen Sinne des Wortes sprechen müssen. Kreuzestheologie ist charakterisiert dadurch, dass im Kreuz Jesu die weltliche Gegenwart Gones begriffen wird: zum Problem vgl Weder, Kreuz 225-251. Durch Kohler, Kreuz passim ist der Nachweis erbracht, dass im Johannesevangelium durchaus von einer Kreuzestheologie zu reden ist.
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sohns. 55 Daraus folgt, dass der geschichtliche Lebensweg Jesu inhaltlich bestimmt, was als präexistenter Gottessohn geglaubt wird. Die Berührung ist nicht mehr punktuell, Himmel und Erde kommen vielmehr in einer Wegstrecke zusammen, die eine bestimmte, unverwechselbare Gestalt hat. An die Stelle der mythischen Identität des Sohnes Gottes ist die geschichtliche Identität des als Sohn Gottes wahrgenommenen Jesus Christus getreten. Erst jetzt ist der Menschwerdungsgedanke dort angekommen, wohin er eigentlich zielte. Man könnte denselben Sachverhalt auch »religionspsychologisch« formulieren. Vorher behielt die religiöse Phantasie, welche sich - mit guten Gründen - den Sohn Gottes als dessen Weltzugewandtheil denkt, die Unabhängigkeit vom weltlichen Geschehen. Im Glauben befand sich der Mensch sozusagen im Himmel. Durch den Menschwerdungsgedanken wurden die religiösen Vorstellungen und Wünsche der Menschen vom Himmel auf die Erde herunter geleitet. Auf dem Erdboden angekommen sind sie freilich erst, wenn der Glaube an den ewigen Sohn Gottes sich bewährt hat an der Realität des Kreuzes Jesu. Joh 3,14f ist ein Versuch, diese Bewährung auszuhalten. Anhand der paradoxen Mehrdeutigkeit des Verbums U\llf.O~Val, in welcher die Niedrigkeit des Kreuzes mit der Hoheit des Menschensohns zusammenprallt, kann das grundlegende Interpretationsproblem des Johannesevangeliums erkannt werden. Wer nicht beachtet, dass Hoheit und Niedrigkeit eine paradoxe Einheit bilden, wird das Johannesevangelium entweder gnostischs 6 oder aber ebionitischs 7 interpretieren. Im
~~Einen analogen Vorgang können wir in der Aufnahme der vorpaulinischen Tradition durch Paulus ausmachen: die allgemeine menschliche Identität des herabgekommenen Erlösers von Phil 2.6-!! wird durch den von Paulus stammenden Hinweis auf den Kreuzestod Jesu überwunden durch die konkrete. geschichtliche Identität des Menschen Jesus. Dazu Weder. Kreuz 211-215. ~~So Käsemann. Jesu letzter Wille. bes S.l4-52. und in seinem Gefolge viele Ausleger (Schouroff. Langbrandtner). Zur längst fälligen Kritik an dieser These. die die Johannesauslegung viel zu lange einzuschüchtern vermochte. vgl Wengst. Bedrängte Gemeinde IOOf und passim; Kohler. Kreuz 45-63; Schnelle. Christologie. Kohlerzeigt namentlich. aufgrund welcher (zum Teil unbemerkter) Akzentverschiebungen in eschatologischer Hinsicht die Käsemannsehe These (als Gegenthese zum Ansatz Bultmanns) entstand. »Der alles verschlingende Primat sogenannt urchristlicher Eschatologie hat ihm (sc Käsemann) das Verständnis nicht nur der joh Eschatologie. sondern gerade der joh Christologie verbaut. Wo die urchristliche Apokalyptik als die alles verschlingende Muuer gedacht wird. da hat die Christologie nichts zu sagen« (Kohler. Kreuz 51). Käsemanns Doketismusthese beruht letztlich auf der Verkennung der johanneischen Christologie. welche die endgültige Gegenwan Gones mit der zeitlichen
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einen Fall verschlingt die Hoheit des Menschensohnes die Niedrigkeit des Gekreuzigten, im andem Falle entleert die Niedrigkeit des Gekreuzigten die Hoheit des Menschensohns. Es ist die hervorragende Leistung der johanneischen Christologie, die Erhöhung des Menschensohns untrennbar an die Erhöhung des Menschen Jesus ans Kreuz gebunden zu haben. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der paradoxen Mehrdeutigkeit des Wortes »erhöhen«, die das ganze Evangelium durchzieht. 2.2.3 Menschensohn: vom Gericht zur Rettung
Mit der kreuzestheologischen Wende in der Vorstellung von der Erhöhung des Menschensohns (V. 140 verbindet sich in V. 17 die Wende in der Vorstellung von der Funktion des (Menschen-)Sohnes: von Gott aus gesehen kam der Sohn nicht in die Welt, um diese zu richten, sondern um sie~s zu retten. Hier zeichnet der Evangelist nicht nur »eine Abwehrhaltung gegen das ungläubige Judentum« 59 • Vielmehr setzt er sich mit den innerchristlichen Menschensohn-Vorstellungen auseinander. Gerade auch die christliche Rezeption des Menschensohntitels konnte sich nicht von Anfang an von der traditionellen Richterfunktion des Menschensohns emanzipieren. Angesichts des Koromens Jesu, das als Ereignis der Liebe Gottes verstanden wurde (V. 16), musste die Richterfunktion des Menschensohns verabschiedet werden. Denn mit der Liebe, welche ausschliesslich die Kreativität Gottes zum Zuge
Gegenwan Jesu so zusammendenkt. dass dabei keine (apokalyptische) Perfektion der Herrlichkeit Jesu mehr möglich ist. ~ 7 Es ist bemerkenswen. dass gerade ebionitische Jesulogie die Kritik am angeblich naiven Doketismus des Johannesevangeliums regiert. ~K Die rettende Sendung bezieht sich ausdrücklich nicht bloss auf die Glaubenden. sondern auf den Kosmos als ganzen. Dazu Blank. Johannes 259 (mit anderswo selten anzutreffender Klarheit): »Diese Aussagen verbieten es auch von vornherein, eine Interpretation des Johannesevangelium(sl und der johanneischen Tradition zu verfolgen. nach der das Johannesevangelium ein konventikelhafH:goistisches Heilsverständnis venräte.« Diese Asymmetrie in der Funktion des Menschensohns deutet sich schon in der in 3,14f vorgenommenen Interpretation von Num 21.8f an: gegenüber verschiedenen Auslegungszweigen findet sich in Joh 3.14f keine Rezeption des Strafgedankens (siehe Maneschg. Erzählung 460). ~~So Schnackenburg. Johannesevangelium I 426. der darüber hinaus erwägt. ob der Evangelist damit den jüdischen Vorwurf. Jesus sei »den ungläubigen Venretem seines Volkes mit Schärfe und Gerichtsdrohungen« entgegengetreten. bekämpfe.
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bringt, war der Gedanke des vernichtenden Gerichts unvereinbar geworden.60 Überwunden wurde die eigentümliche Schwebe zwischen Vernichtung und Rettung, in welcher Gott solange bleibt, als er im Horizont des Gerichtsgedankens wahrgenommen wird. Der Gedanke des Gerichts lässt den Ausgang in der Schwebe: im Gericht kann sowohl Rettung als Vernichtung auf den Menschen warten. Diese Ambivalenz wird hier überwunden, indem auf die entscheidende christologische Asymmetrie hingewiesen wird. Auf die Asymmetrie der Rettung, die nicht etwa der Verurteilung, sondern vielmehr dem Gericht als Beurteilungsgeschehen gegenübergestellt wird. Die Gegenüberstellung von Rettung und Gericht (nicht Verurteilung) zeigt an, dass hier der Horizont des Gerichts überhaupt verlassen ist. Erst im Horizont der schöpferischen Liebe kann die Asymmetrie des Rettenden vernünftig gedacht werden. Auch diesen Vorgang kann man als Arbeit des Textes an den religiösen Vorstellungen der Menschen begreifen. Bearbeitet wird hier die Gerichtsvorstellung, welche sich in der Figur des Menschensohns kristallisiert hatte. In dieser Richterfigur denkt sich der Mensch das Gottesverhältnis als ein Beurteilungsverhältnis, dessen Ausgang von der Qualität des Beurteilten (oder etwas abgemildert: von der da und dort eine Ausnahme machenden Barmherzigkeit Gottes) abhängt. Bearbeitet wird hier das menschliche Gottesbild, das sich das Gegenüber von Gott und Mensch im Horizont des Beurteilens oder Semessens denkt. Herausgearbeitet wird ein Gottesbild, das Gott ganz im Rahmen seiner Kreativität denkt und das deshalb den zur Welt gekommenen Gottessohn ganz als rettenden denkt. Damit hat das Gottesbild eine Reinheit erlangt, die
w Die Klarheit dieser Aussage steht in einer gewissen Spannung zu 5.24-30, wo wiederum von der Richterfunktion des Menschensohns gesprochen wird. Doch auch don könnte es sich um eine kritische Interpretation gemeinchristlicher Menschensohnvorstellungen handeln. Immerhin wird die traditionelle Auferweckungshoffnung präsentisch interpretien, immerhin wird auch hier vom Hörenden gesagt. er sei dem Gericht entzogen und schon vom Tod zum Leben hinübergeschriuen. Immerhin wird schliesslich dac; Gericht des Menschensohns auf die beschränkt. die Böses getan haben (V. 29), während die. die Gutes getan haben, gar nicht mehr ins Gericht sondern ins Leben auferweckt werden. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass 5,28f den johanneischen Gedanken von der Prävalenz der (gegenwänigen) Rettung nicht durchzuhalten vermögen. wa.c; beispielsweise Becker. Johannes I 238.243 dazu veranlasst. die Verse einer kirchlichen Redaktion zuzuschreiben, die »einer traditionellen Strömung wieder Geltung verschafft« (243). Ebensogut könnte man freilich annehmen. hier sei eine traditionelle Vorstellung aufgenommen. die in den voronR~h~nd~n Versen (24-27) johanneisch interpretien werde.
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auch innerhalb des Neuen Testaments nicht immer erreicht werden konnte. 2.2.4 Glaube und Gericht
Ein weiteres Element der fortschreitenden Reflexion des christlichen Glaubens findet sich in V. 18. Es ist hervorgerufen durch die in V. 17 gewonnene Einsicht in die Asymmetrie der Rettung. Auch wenn das Motiv des Gerichts aus der Vorstellung vom Kommen des Sohnes Gottes ausgeschieden ist, ist die Frage nach dem Recht der Gerichtsvorstellung damit nicht erledigt. Diese Frage wird durch einen Rückgriff auf das Motiv des Glaubens (V. 15.16) beantwortet, indem nun das Verhältnis von Glaube und Gericht genauer bedacht wird. Wenn es auch nicht Sache des Menschensohns ist zu richten, so bleibt die Frage, welchen Stellenwert das Gericht in der Begegnung mit dem Menschensohn habe. Die Begegnung mit dem Menschensohn erschafft allererst die Alternative von Glaube und Unglaube. 61 Glaube an den eingeborenen Sohn Gottes heisst konkret, in diesem Menschen die Fülle der Gottesgegenwart zu sehen, ihn ganz und ausschliesslich als göttlichen Eingriff zu begreifen. Wer in dieser Weise an den Menschensohn glaubt, kommt nicht ins Gericht, wer dagegen nicht glaubt, ist schon gerichtet. Daraus folgt, dass der Glaube, weil er das angemessene Verhältnis zum Sohn darstellt, überhaupt kein Verhältnis zum Gericht hat. Das Verhältnis zum Sohn, das der Glaube hat, treibt die Verhältnisse zu allen anderen Dingen aus. In der Aussage, dass der Glaubende nicht nur im Gericht bestehen kann, sondern überhaupt nicht ins Gericht kommt, wird der qualitative Sprung vom richtenden zum rettenden Gott festgehalten, der in V. 17 gelungen ist. Sofern der Glaube der Anschluss an die rettende Macht Gottes ist, versetzt er den Menschen jenseits6 2 des ambivalenten Gottes, der zugleich vernichten und bestehen lassen kann. Von hier aus erscheint es als folgerichtig, dass der Unglaube das Gericht schon hinter
61 Streng genommen entsteht die Möglichkeit des Unglaubens erst dadurch. dass die Sendung des Sohnes die Menschen zum Glauben bewegt. Auch hier waltet eine Asymmetrie, die durch dualistisches Denken (das nicht selten in exegetischen Aussagen latent vorhanden ist) verwischt wird. 62 Mit diesem Jenseits spricht das Johannesevangelium sachlich gesehen genau das aus. was Paulus mit dem Ausdruck ~ ~~~ bezeichnet: die Rechtfenigung des Glaubenden geschieht weder mit dem Gesetz noch gegen das Gesetz. sie geschieht vielmehr völlig abseits. jenseits des Gesetzes kraft der Kreativität Gottes. Zum Problem vgl Weder. Gesetz oben S. 337f.
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sich hat. Denn wer kein Verhältnis zur rettenden Macht Gottes hat, kann nur noch auf die urteilende Macht des Richters hoffen. Dabei ist mit dem Gericht nicht mehr der Bemessungsvorgang gemeint, in welchem das Bestehenkönnen eine Möglichkeit bleibt. Das Gericht, das der Unglaube hinter sich hat, ist vielmehr ganz als Verurteilung gedacht. 63 Man wird sich davor zu hüten haben, in das Gegenüber von Glaube und Unglaube, das durch das Kommen des Sohnes entsteht, eine dualistische Theologie einzutragen. Es ist keine Rede davon, dass der Sohn gesandt ist, um die Menschheit in Glaubende und Nichtglaubende zu scheiden. Vielmehr muss - in Erinnerung an den universalen Kosmosbezug der Rettung von V. 17 - festgehalten werden, dass der Sohn gekommen ist, um der ganzen Welt den Glauben zu entlocken. Jede dualistische Konzeption der Aufteilung der Welt in Glaubende und Nichtglaubende würde den Gesandten Gottes wieder auf die Richterfunktion festlegen, von der er sich soeben befreien konnte. In dieser Verhältnisbestimmung von Glaube an den Sohn und Gericht ist impliziert, dass das Gericht vollkommen gegenwärtig gedacht wird: das jetzige Kommen des Sohnes ist der Augenblick, in welchem sich das Gericht über den Unglauben vollzieht. Diese Abkehr von der Vorstellung eines künftigen Gerichts ergibt sich, wenn der Fleischwerdungsgedanke zu Ende gedacht wird. Denn sofern im Kommen Jesu die eschatologische Gegenwart Gottes Ereignis wird, kann es nichts mehr geben, was diese Gegenwart noch steigern oder überholen könnte. Es kann kein künftiges Gericht mehr geben, da sich in der Begegnung mit dem Sohn alles entscheidet. Die Überwindung der futurischen Gerichtsvorstellung ist die logische Konsequenz aus der inkarnatorischen Theologie. Die Asymmetrie des Rettenden wird also auch hinsichtlich der Gerichtsvorstellung festgehalten. Der Gerichtsgedanke hat darin sein sachliches Recht, dass menschliches Verhalten Folgen hat. Göttliches Gericht ist überall dort angezeigt, wo der Mensch sein Gottesverhältnis durch eigene Arbeit gestaltet.tH Der Gedanke des Glaubens dagegen hat darin sein Recht, dass der Mensch sich ausschliesslich dem rettenden
bl Auch das Gericht wird also nicht mehr symmetrisch wahrgenommen. ganz so als eröffnete es beide Möglichkeiten. die der Rettung und die des Verderbens. ,... Eindrücklich durchgestaltet ist dieses theologische Konzept im 4Esr. wo Uriel (der die theologische Wahrheit vertritt) alle Einwände Esras (der den Appell an die Barmherzigkeit vertritt) aufs Schärfste zurück weist.
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Tun des Sohnes anheimstellt. Von Glauben ist überall dort zu reden, wo der Mensch sich der Arbeit Gottes anvertraut. 65 Deshalb ist dort, wo vom Glauben zu reden ist, nicht mehr vom kommenden Gericht zu reden, und kann dort, wo vom Unglauben zu reden ist, nur noch vom schon ergangenen Gericht die Rede sein. Denn im Unglauben wendet sich der Mensch von der rettenden Arbeit Gottes ab und wirft sich selbst auf seine eigene Arbeit zurück, eine Arbeit, die angesichts des rettenden Gottes nur verurteilt werden kann. Deshalb kann Gericht nur noch als die Verurteilung gedacht werden, die sich der Mensch durch seine Abkehr vom Rettenden selbst zuzieht. 66 Mit dem Glauben entdeckte das Johannesevangelium eine Relation, die den Menschen jenseits des Bemessenwerdens stellt. Diese Relation wird in 5,24f als ch:o\lElv, als Hören auf die Stimme des Christus präzisiert. Hören ist jene Relation, in welcher der Mensch darauf verzichtet, produktiv zu sein- wenngleich sie durchaus höchste menschliche Aktivität verlangt - und sich statt dessen rezeptiv verhält. Das ist die angemessene Einstellung auf die externe Kreativität, beziehungsweise die sachgemässe Reaktion auf den anwesenden Gott. Eben diese Relation versetzt den Menschen jenseits des Bemessenwerdens, weil sie gar nicht mehr durch Produkte zustandekommt, die gewogen werden müssen. Der Glaube ist jene Relation zu Gott, in welcher sich der Mensch auf das Rettende einstellt, ohne Wägbares einzusetzen. 2.3 Gericht und Werke Auf einer letzten Reflexionsebene wird das Problem des Gerichts erneut aufgegriffen; diesmal nicht hinsichtlich der Christologie oder der Soteriologie, sondern hinsichtlich der Ethik, des Gerichts nach den Werken. Die Beurteilung der menschlichen Werke ist traditionell mit dem Gerichtsgedanken verbunden, sowohl im Judentum als auch im Christentum. Da die in Joh 3 entfaltete Gerichtsvorstellung in erhebli-
6 ~ Diese Arbeit Gottes wird erzählerisch dargestellt in der Geschichte von der Fusswaschung (Joh 13.1 ff). Hier wird festgehalten. dass Gott alles in die Hände des Christus gelegt habe. dass also die Hände des Christus die Arbeit Gottes am Menschen tun. Nur diese Arbeit ist es. die den Menschen zur Reinheil bringen kann (vgl 13.1 0). 66 Hier liegt ein Vergleich mit der paulinischen Theologie nahe. In Röm 1.18ff wird die Erfahrung der 6prTJ ~w ganz ähnlich als Kehrseite des Evangeliums beschrieben. Wenn das Evangelium ausschliesslich als Kraft Gottes zur Rettung wahrgenommen wird. dann kann 6prTJ ~w nur noch das sein. was der dieses Evangelium ablehnende Mensch sich selbst zuzieht. Den Zorn Gottes erfähn er nun darin. dass er an seine eigene Ablehnung ausgeliefen wird.
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eher Spannung zum herkömmlichen Rechnen mit einem Gericht nach den Werken steht, ist es notwendig, dieses Rechnen ebenfalls neu zu interpretieren. Dabei kann offenbleiben, ob hier eine traditionelle, vorjohanneische oder eine gemeinkirchlich-nachjohanneische Vorstellungswelt aufgenommen wird. 67 Nachdem das Gericht auf diese Weise an den Unglauben gebunden und christologisch in die Gegenwart hereingezogen wurde, entfällt die Möglichkeit, an ein künftiges Gericht des Menschensohnes zu denken, der alle Menschen nach ihren Werken beurteilen wird. Massgebend für die Interpretation sind drei schon im Vorangegangenen gewonnene Einsichten: es muss erstens festgehalten werden, dass dieses Urteil schon jetzt erfolgt, zweitens, dass es faktisch den Charakter des Verurteilens hat, und drittens, dass der Nichtglaubende sich diese Verurteilung selbst zuzieht. Das erste wird festgehalten, indem das Gericht in den Zusammenhang des gekommenen Lichtes gestellt wird, in den Zusammenhang also des gekommenen Christus. Allerdings wird die Aussage, wonach der Sohn nicht gekommen ist zu richten, in keiner Weise zurückgenommen. Denn das Gericht besteht auch hier nicht im Kommen des Sohnes, sondern darin, dass die Menschen beim Kommen des Lichtes die Finsternis mehr liebten. Das Gericht ist demnach identisch mit der Abwendung der Menschen vom gekommenen Licht. Dass das Gericht faktisch den Charakter des Verurteilens hat, wird im nächsten Vers (20) festgehalten. Anknüpfend an allgemeine Erfahrung wird der Zusammenhang zwischen der Abwendung und der Verderblichkeit der Werke hergestellt: die Abwendung ist hervorgerufen durch das Beharren68 auf verderblichen Werken. Wer auf solchen Werken beharrt, findet den Weg zum Licht nicht, weil er meint, dadurch das Offenbarwerden 69 ihrer Verderblichkeit vermeiden zu können. Doch diese Verhaltensweise beruht auf einer Täuschung. Denn gerade die Abkehr vom Licht bringt ans Tageslicht, dass auf bösen Werken beharrt, wer das Licht des Christus flieht. Wer das Licht flieht, Vgl oben Anm 27f. Zu beachten ist das durativische Panizip ~"· welches darauf hindeutet. dass es nicht einfach um die Last vergangener Untaten. sondern um das dauernde Beharren auf diesen geht. Vgl Brown. John 149: »The one who turns away is not an occasional sinner but the one who 'practices' wickedness.« 69 Das Verbum ~meint hier nicht einfach die Beuneilung der bösen Werke. sondern vielmehr die Aufdeckung ihrer Bosheit. also die Veruneilung; vgl Schnackenburg. Johannesevangelium I 431 Anm I. 67 68
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zieht sich -und das ist das dritte Deutungselement - auf diese Weise die Verurteilung selbst zu. Regiert wird diese Flucht durch den Unglauben. Denn der Unglaube misst den Werken jene rettende Kraft zu, die der Glaube im gekommenen Licht wahrnimmt. Es ist das Gewicht der verderblichen Werke -ein Gewicht, das sie nur im Horizont des Unglaubens erhalten -, das die Menschen lichtscheu werden lässt und sie so abschneidet von der Lebensbeziehung mit Christus. Erst im letzten Gedankengang kommt der Täter der Wahrheit zur Sprache. Sein Tun der Wahrheit70 lässt ihn zum Licht kommen, da er sich vor der Offenbarung seiner Werke nicht fürchten muss. Nicht dass seine Werke die Rettung wären! Die Rettung bleibt der Menschensohn, dessen Macht sich der Glaubende anheimstellt. Dennoch können sich die Werke dessen, der die Wahrheit tut, getrost sehen lassen, denn sie werden im Licht des Christus offenbar als Werke, die ihren Ursprung gar nicht im Menschen, sondern vielmehr in Gott 71 haben. Diese Werke können, weil sie nicht Produkte des Menschen, sondern Gottes sind, keine Grundlage für das Gericht bieten, sie können bloss als solche offenbar werden, die die Wahrheit in die Tat umsetzen. Auch hier wird also der Gedanke, dass der Glaube den Menschen jenseits des Semessens versetzt, durchaus festgehalten. Denn im Licht des Christus wird offenbar, dass das Gute, das getan wurde, gar keine Grundlage für die Beurteilung des Menschen abgibt, sondern als eine Wirkung Gottes zu begreifen ist. Auf diese Weise nimmt der Glaube auch hier Abschied davon, Werke für sich sprechen zu lassen. Hier haben wir eine Anschauung vor uns, die - zusammen mit vielen anderen - eine grössere Nähe zwischen johanneischer und paulinischer Theologie vermuten lässt, als dies gemeinhin angenommen wird.
70 Vgl Collange. verite 415-423, der davon ausgeht. dass m\&iv tip cU.fyGEmv bei Johannes nur den Glauben selbst meinen kann. Dennoch bedeutet dieser Ausdruck, dass der Aspekt des Tuns. des Ethischen am Glauben besonders betont ist. Vgl Brown. John 148: »There is a consistency in the two sides of the dualism: evildoers are disbelievers. while good works and faith go together.« 71 Es scheint mir durchaus möglich. das b hier instrumental zu verstehen. Die in vielen Kommentaren beibehaltene Wiedergabe mit »in Gon« verwischt die klare Alternative von instrumentalem und lokalem Sinn von b.
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3 Zum Schluss Unsere dem Werdegang des vorliegenden Textes entlanggehende Interpretation hat gezeigt, dass johanneische Theologie verstanden werden kann als ein Vorgang des Nachdenkens, in welchem entfaltet wird, was der christliche Glaube zu denken gibt. 72 Auffallend ist dabei, dass nicht die Konfrontation mit dem Früheren gesucht wird (im Unterschied zur verbreiteten Unart heutiger Exegese), sondern dass das Frühere so ins Neue gewendet wird, dass sein Recht gerade nicht bestritten sondern für die Deutung fruchtbar gemacht wird. Ausgangspunkt war die Sendungsformel, die das Kommen Jesu als vollendete Gegenwart der prinzipiellen Weltzugewandtheil Gottes begreift. Dieses mythologische Konzept ermöglichte es, dem Christus das Gewicht zu geben, das er in Wahrheit hat. Und es ermöglichte weiter, die Leben schaffende Wirkung der Gegenwart Gottes zu denken. War hier die Menschwerdung des Präexistenten noch sozusagen allgemein gedacht, so wurde auf der nächsten Reflexionsstufe der Lebens- beziehungsweise der Todesweg Jesu von Nazareth für den Gottessohn bestimmend. Und weil Jesus die Liebe verkörpert hatte, wurde die Sendung als ganze als Akt der Liebe Gottes neu verstanden. Dies zog eine Überlegung zur Asymmetrie des Rettenden nach sich. Wenn das Kommen des Sohnes das Ereignis der Liebe ist, so kann es nur der Kreativität der Rettung, nicht aber der Ambivalenz von Rettung und Vernichtung verpflichtet sein. Diese Einsicht wiederum verlangte nach einer Überlegung zum Thema Gericht. Der Glaube wurde erkannt als eine Relation, die den Menschen jenseits des Demessens versetzt, während der Unglaube jenes Un-Verhältnis ist, in welchem sich der Mensch die Verurteilung selbst zuzieht.n Auf einer dritten Stufe schliesslich wurde diese Gerichtsvorstellung angewendet auf die Anschauung. wonach Gericht sich auf die Werke des Menschen bezieht. Das Gericht nach den Werken ereignet sich so, dass der Unglaube, der auf verderblichem Wirken beharrt, das gekommene Licht flieht und so sich die Verurtein Blank. Johannes 256 häll zur theologischen Tragweite dieses Textes fest ,.Es ist deutlich. dass hier der johanneische Kreis sein Verständnis des Heilsgeschehens in seiner Tiefe und ganzen Tragweite zur Sprache bringt.« 73 Die Abwendung ist die selbstzerstörerische Aktivität des Menschen. während die Zuwendung sich der kreativen Liebe Gones "erdankt. Auch dies ist eine Asymmetrie des menschlichen Lebens. In dieser Asymmetrie widerspiegell sich der einfache Sachverhall. dass der Mensch sich das Leben immer nur nehmen. niemals aber geben kann.
3 Zum Schluss
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lung selbst zuzieht, während der Glaube das Licht sucht, um zu erkennen, dass das wahre Tun gar nicht durch den Menschen, sondern vielmehr durch Gott getan ist. Freilich könnte man diese Überlegung zum Gericht nach den Werken auch so verstehen, dass die Bosheit der Werke, die den Menschen vom Licht fernhält, nur die Ohnmacht des Sohnes offenbart, den Menschen trotz seiner Bosheit retten zu können. Es wäre ja denkbar, dass die Kreativität, die der Sohn hier verkörpert, so gross wäre, dass sie auch die Destruktivität des Unglaubens, wenn auch nicht jetzt, so doch am letzten Tage, zu überwinden vermöchte. Es wäre denkbar, dass - nicht das Gericht, sondern - die Rettung dennoch eine Zukunftsdimension besässe. Doch dies ist wohl das tiefste Geheimnis nicht nur johanneischer sondern überhaupt christlicher Theologie, in das einzudringen ein Seminarpapier nicht wagen sollte.
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