HANS-GEORG GADAMER
Wahrheit und Methode Ergänzungen Register
Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke Band 2
Hans-Georg Gadamer
Hermeneutik 11 Wahrheit und Methode Ergänzungen Register
J. c. B. Mohr (Paul Sieb eck) Tübingen 1993
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufoahme Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen : Mohr. NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung] Bd. 2. Hermeneutik: Wahrheit und Methode. - 2. Ergänzungen, Register. - 2. Aufl. (durchges.) -1993 ISBN 3-16-146043-X kart. ISBN 3-16-146044-8 Gewebe
1. Auflage 1986 2. Auflage 1993 (durchgesehen)
© 1986/1993 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen
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Inhalt
I. Zur Einfiihrung 1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik Versuch einer Selbstkritik
3
II. Vorstufen 2. Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie (1943)
27
3. Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953)
37
4. Was ist Wahrheit? (1957)
44
5. Vom Zirkel des Verstehens (1959)
57
6. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960)
66
7. Begriffsgeschichte als Philosophie (1970)
77
8. Klassische und philosophische Hermeneutik (1968)
92
III. Ergänzungen 9. Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung (1961) 10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz (1965)
121
133
VI
Inhalt
11. Mensch und Sprache (1966)
146
12. Über die Planung der Zukunft (1965)
155
13. Semantik und Hermeneutik (1968)
174
14. Sprache und Verstehen (1970)
184
15. Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970)
199
16. Die Unfahigkeit zum Gespräch (1972)
207
IV Weiterentwicklungen 17. Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966)
219
18. Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967)
232
19. Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik (1971)
251
20. Rhetorik und Hermeneutik (1976)
276
21. Logik oder Rhetorik? Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik (1976)
292
22. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe (1978)
301
23. Probleme der praktischen Vernunft (1980)
319
24. Text und Interpretation (1983)
330
25. Destruktion und Dekonstruktion (1985)
361
Inhalt
VII
V. Anhänge 26. Exkurse I-VI (1960)
375
27. Hermeneutik und Historismus (1965)
387
28. Hermeneutik (1969)
425
29. Vorwort zur 2. Auflage (1965)
437
30. Nachwort zur 3. Auflage (1972)
449
31. Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer (1973)
479
Bibliographische N achweise
509
Register Sachen
513
Namen
524
Stellen
532
I. Zur Einführung
1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik Versuch einer Selbstkritik 1985
Nach einem Vierteljahrhundert scheint es an der Zeit, einen theoretischen Entwurf, der von verschiedenen Seiten aus angesetzte Untersuchungen zur Einheit eines philosophischen Ganzen zusammenfaßte, auf seine einheitliche Konsistenz hin zu prüfen und insbesondere daraufhin, ob Risse und Sprünge in der Schlüssigkeit des Ganzen wahrzunehmen sind. Lassen sie auf ernstliche Konstruktionsmängel schließen oder betreffen sie mehr die Form der Präsentation, die notwendigerweise hier und da veraltet sein muß? Veraltet ist ganz gewiß, daß innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften der Akzent derart auf den philologisch-historischen Wissenschaften liegt. Im Zeitalter der Sozialwissenschaften, des Strukturalismus und der Linguistik scheint diese Anknüpfung an das romantische Erbe der historischen Schule nicht mehr zu genügen. Es ist in der Tat die Begrenztheit der eigenen Ausgangserfahrungen, die sich hier auswirkt. Die Absicht des Ganzen zielte jedoch von vornherein auf die Universalität der hermeneutischen Erfahrung, die von jedem Ausgangspunkt aus erreichbar sein muß, wenn sie eine universale Erfahrung sein soll. 1 Noch weniger kann ohne Zweifel das Gegenbild fortgelten, das diese Untersuchung sich von den Naturwissenschaften macht. Es ist mir klar, daß hier ein ganzes weites Feld hermeneutischer Probleme ausgespart geblieben ist, das meine eigene Reichweite im wissenschaftlichen Forschungsprozeß überschreitet. Nur in den historisch-philologischen Wisssenschaften bin ich so weit gekommen, daß ich an der Forschungsarbeit derselben hier und da mit einiger Kompetenz teilnehmen kann. Wo ich Originalarbeiten nicht studieren kann, ftihle ich mich nicht legitimiert, dem Forscher bewußtmachen zu wollen, was er da tut und was da mit ihm geschieht. Das Wesen hermeneutischer Besinnung besteht eben darin, daß sie aus der hermeneutischen Praxis aufsteigen muß. Daß in den Naturwissenschaften eine hermeneutische Problematik eingeschlossen ist, wurde mir bereits 1934 an Moritz Schlicks siegreicher Kritik 1 Näheres darüber in diesem Bande vor allem in dem Aufsatz ,)Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik«, unten S. 219ff.
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Zur Einführung
des Dogmas von den Protokollsätzen klar.'Aber als sich die Ideen dieses Buches in den dreißiger Jahren entwickelten, in welchen die Zeitumstände steigende Isolierung mit sich brachten, war der Physikalismus und die unity 01 science das Gegenbild, das sich fcirmlich aufdrängte. Der linguistic turn der angelsächsischen Forschung war damals noch nicht über den Horizont getreten. Das Spätwerk Wittgensteins konnte ich erst nach Durchmessung meiner eigenen Denkwege studieren, und daß in Poppers Kritik arn Positivismus verwandte Motive mit meiner eigenen Orientierung steckten, habe ich auch erst später realisiert. 3 So bin ich mir über die Zeitverhaftung der Ausgangspunkte meiner Gedankenbildung nur allzu klar. Es ist die Aufgabe Jüngerer, den veränderten Bedingungen hermeneutischer Praxis Rechnung zu tragen, und von mancher Seite ist das geschehen. Selber noch lernen zu wollen, schien mir für einen in den achtziger Jahren Stehenden vermessen. Daher habe ich den Text von) Wahrheit und Methode~ wie alle späteren Beiträge unverändert gelassen und mich daraufbeschränkt, nur gelegentlich kleinere Verbesserungen anzubringen. Anders ist es dagegen mit der Frage der inneren Konsistenz des in seinen Grenzen Getanen. Hier möchte dieser zweite Band meiner Gesammelten Werke ergänzend eintreten. Sein Inhalt gliedert sich in drei Abteilungen: Vorstuftn des Buches, die in ihrer eigenen Vorgreiflichkeit manchmal nützlich sein können, Ergänzun,~en, die sich im Laufe der Jahre einstellten. (Diese beiden Teile sind in meinen >Kleinen Schriften< im wesentlichen schon publiziert gewesen.) Der wichtigste Teil dieses 2. Bandes enthält Weiterfohrun~en; ich war zu diesen teils schon unterwegs, teils wurde ich durch die kritische Diskussion meiner Ideen dazu eingeladen. Die Theorie der Literatur war es insbesondere, die mir von Anfang an als eine Weiterfuhrung meiner Gedanken vorschwebte und die in naher Fühlung mit hermeneutischer Praxis in den Bänden 8 und 9 dieser Ausgabe ausfUhrlich zu Worte kommt. Die grundsätzlichen Fragen hermeneutischer Art haben jedoch sowohl durch die Diskussion mit Habermas wie durch die wiederholte Begegnung mit Derrida gewisse neue Beleuchtungen gefunden, deren Diskussion hier im Zusammenhang dieses Bandes an ihrem Platze ist. Schließlich werden im Anhang die Exkurse und die den späteren Auflagen von ,Wahrheit und Methode< beigefUgten Ergänzungen, Vorworte und N achworte mitgeteilt. Den Abschluß des vorliegenden Bandes macht meine 1973 geschriebene Selbstdarstellung. Ein gemeinsames Register von Band 1 und 2 unterstreicht die Zusammengehörigkeit der beiden Bände. Ich hoffe, durch 2 M. Schlick. >über das Fundament der Erkenntnis<. Erkenntnis 4 (1934). Auch in ders., Gesammelte Aufsätze 1926-36, Wien 1938, bes. S. 290-295 und 300-309. 3 Vgl. von heute her gesehen die instruktive Einleitung von]. C. Weinsheimer, Gadamer's Hermencutics - A Reading ofTruth and Method, Yale 1985.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik
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die Anlage dieses zweiten Bandes die Mängel meines Buches zu verbessern und der Weiterarbeitjüngerer Kräfte zu dienen. Bei einem solchen Unternehmen ist es geboten, die Resonanz zu beachten, die der eigene Entwurfbei der Kritik gefunden hat. Daß die Wirkungs_ geschichte zur Sache selbst gehört, ist eine hermeneutische Wahrheit, die man auch in diesem Falle nicht vernachlässigen darf. In diesem Sinne ist auf mein Vorwort zur 2. Auflage und mein Nachwort zur 3. und 4. Auflage zu verweisen, die im Anhang dieses Bandes neu abgedruckt sind. Heute scheint mir, wenn ich zurückblicke, daß die angestrebte Konsistenz theoretischer Art in einem Punkte nicht ganz erreicht war. Es wird nicht klar genug, wie die beiden Grundentwürfe zusammenstimmen, die den Spielbegriff dem subjektivistischen Denkansatz der Moderne entgegensetzen. Da ist einmal die Orientierung an dem Spiel der Kunst, und dann die Grundlegung der Sprache im Gespräch, die von dem Spiel der Sprache handelt. Damit ist die weitere, entscheidende Frage gestellt, wie weit es mir gelungen ist, die hermeneutische Dimension als einjenseits des Selbstbewußtseins sichtbar zu machen, und das heißt, im Verstehen die Andersheit des Anderen nicht aufzuheben, sondern zu bewahren. So hatte ich in meine auf das Universale der Sprachlichkeit ausgeweitete ontologische Perspektive den Spielbegriff wieder zurückzuholen. Es galt, das Spiel der Sprache mit dem Spiel der Kunst, in dem ich den hermeneutischen Paradefall erblickt hatte, enger zusammenzuschließen. Nun liegt es gewiß nahe, die universale Sprachlichkeit unserer Welterfahrung unter dem Modell des Spieles zu denken. Schon im Vorwort zur 2. Auflage meines Buches, sowie in den abschließenden Seiten meines Beitrages >Die phänomenologische Bewegung<4 wies ich auf die Konvergenz meiner in den dreißiger Jahren konzipierten Ideen zum Sp.ielbegriffmit dem späten Wittgenstein hin. Es ist doch nur eine fafon de parier, wenn man das Sprechenlernen einen Lernvorgang nennt. In Wahrheit ist es ein Spiel, ein Spiel der Nachahmung und des Austauschs. Lautbildung und Vergnügen an der Lautbildung sind im Nachahmungsdrang des aufnehmenden Kindes mit dem Aufleuchten von Sinn gepaart. Niemand kann die Frage nach dem ersten Verstehen von Sinn auf eine vernünftige Weise beantworten. Immer sind schon vorsprachliehe Sinnerfahrungen vorausgegangen, und der Austausch von Blicken und Gebärden erst recht, so daß alle Übergänge fließend sind. Ebenso ungreifbar ist auch die Perfektion des Endes. Niemand kann konstruieren, was das eigentlich ist, was die heutige Linguistik >Sprachkompetenz( nennt. Was das heißt, läßt sich offenbar nicht als der Bestand des sprachlich Richtigen objektiv abbilden. Vielmehr will der Ausdruck ,Kompetenz< sagen, daß das sprachliche Vermögen, das sich in dem Sprechenden ausbildet, nicht als die 4
Kleine Schriften III, S. 150-189, dort S. 185[[; Ges. Werke Bd. 3.
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Zur Einftihrung
Anwendung von Regeln und damit nicht als bloße regelgerechte Handhabung der Sprache beschrieben werden kann. Man muß es als die Frucht eines in Grenzen freien Vorgangs sprachlicher Ausübung ansehen, daß einer am Ende wie aus eigener Kompetenz )weiß<, was richtig ist. Es ist ein Kernstück meines eigenen Versuches, die Universalität der Sprachlichkeit hermeneutisch zur Geltung zu bringen, daß ich Sprechenlernen und den Erwerb von Weltorientierung als das unauflösbare Gewebe der Bildungsgeschichte des Menschen ansehe. Es mag das ein niemals endender Prozeß sein - er begründet gleichwohl so etwas wie Kompetenz. 5 Man vergleiche das Lernen von Fremdsprachen. Da können wir im allgemeinen nur von einer Annäherung an die sogenannte Sprachkompetenz sprechen, es sei denn, daß jemand dauerhaft und ganz und gar in eine fremdsprachliche Umwelt eingezogen ist. Im allgemeinen ist es so, daß Kompetenz nur in der eigenen Muttersprache erreichbar ist, bzw. der Sprache, die man dort spricht, wo man aufgewachsen ist und wo man lebt. Darin drückt sich aus, daß man mit denAugen der Muttersprache in die Welt zu blicken gelernt hat und daß umgekehrt die erste Entfaltung des eigenen Sprachvermögens sich im Blick auf die Welt, die einen umgibt, zu artikulieren beginnt. Die Frage ist nun, wie das Sprachspiel, das eines jeden Weltspiel ist, mit dem Spiel der Kunst zusammenhängt. Wie verhalten sich beide zueinander? Es ist klar, daß sich in beiden Fällen die Sprachlichkeit in die hermeneutische Dimension eingliedert. Daß das Verstehen von Gesprochenem von der Dialogsituation aus, und das heißt letzten Endes, von der Dialektik von Frage und Antwort her gedacht werden muß, in der man sich verständigt und durch die man die gemeinsame Welt artikuliert, glaube ich überzeugend gemacht zu haben. 6 Ich bin über die Logik von Frage und Antwort, wie sie Collingwood bereits entworfen hat, insofern hinausgegangen, als sich Weltorientierung nicht nur darin niederschlägt, daß sich zwischen den Sprechenden Frage und Antwort entwickeln, sondern ebenso geschieht das von den Dingen her, von denen die Rede ist. Die Sache )gibt Fragen auf<. Frage und Antwort spielen daher auch zwischen dem Text und seinem Interpreten. Schriftlichkeit als solche ändert an der Problemsituation gar nichts. Es geht um die Sache, von der die Rede ist, um ihr So-oder-anders-Sein. Mitteilungen, wie im Brief, sind die Fortsetzung eines Gespräches mit anderen Mitteln. So ist auch jedes Buch, das auf die Antwort des Lesers wartet, die Eröffnung eines solchen Gespräches. Etwas kommt darin zur Sprache. Wie ist es aber beim Kunstwerk, und insbesondere beim sprachlichen Kunstwerk? Wieso läßt sich da von einer Dialogstruktur des Verstehens und 5 Inzwischen habe ich auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Herrenalb über die >Sprachlichkeit und ihre Grenzen( einen Diskussionsbeitrag geleistet, der in Evolution und Sprache, Herrenalber Texte 66 (1985), S. 89-99 zu finden ist. 6 Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 375ff.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik
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der Verständigung reden? Da ist kein Autor als antwortender Partner und keine Sache, die so oder anders sein kann, steht zur Diskussion. Das Tcxtwerk steht in sich selbst. Hier scheint die Dialektik von Frage und Antwort, sofern sie überhaupt statt hat, nur in der einen Richtung vorzuliegen, das heißt, von demjenigen aus, der ein Kunstwerk zu verstehen sucht, der es befragt und sich fragt, und der auf die Antwort des Werkes zu hören sucht. Als dieser eine, der er ist, mag er, wie jeder Denkende, Fragender und Antwortender zugleich sein, so wie es im wirklichen Gespräch zwischen zweien auch geschieht. Aber dieser Dialog des verstehenden Lesers mit sich selbst scheint doch nicht ein Dialog mit dem Text, der fixiert und insofern fertig gegeben ist. Oder doch? Gibt es überhaupt einen fertig gegebenen Text? Die Dialektik von Frage und Antwort kommt hier nicht zum Stehen. Vielmehr zeichnet es das Kunst\verk geradezu aus, daß man es niemals ganz versteht. Das will sagen, daß man, wenn man an es fragend herantritt, nie eine in der Weise endgültige Ant"vort erhält, daß man nun lweiße Man entnimmt ihm nicht eine zutreffende Information - und damit genug. Man kann ein Kunstwerk nicht auf die Informationen, die in ihm stecken, so abernten, daß es gleichsam leergepflückt ist, "vie es bei Mitteilungen ist, die wir zur Kenntnis nahmen. Das Aufnehmen eines dichterischen Werkes, ob das nun durch das wirkliche Ohr vor sich geht oder nur durch jenes innere Ohr, das im Lesen lauscht, stellt sich als eine zirkuläre Bewegung dar, in der Antworten wieder in Fragen zurückschlagen und neue Antworten provozieren. Das motiviert das Verweilen bei dem Werk der Kunst - ,;velcher Art immer es sei. Verweilen ist offenkundig die eigentliche Auszeichnung in der Erfahrung von Kunst. Ein Kunstwerk wird nie ausgeschöpft. Es ist nie leer. Wir definieren umgekehrt jede Unkunst, die Imitation oder Effekthascherei oder dergleichen ist, geradezu dadurch, daß wir sie Illeer« finden. Kein Werk der Kunst spricht uns immer in der gleichen Weise an. Die Folge ist, daß wir auch immer wieder anders antworten müssen. Andere Empfänglichkeiten, andere Aufmerksamkeiten, andere Offenheiten lassen die eine, eigene, einheitliche und selbige Gestalt, die Einheit der künstlerischen Aussage, in einer Antwortmannigfaltigkeit herauskommen, die sich nie erschöpft. Es ist ein Irrtum, meine'ich, diese unabschließbare Mannigfaltigkeit gegen die unverrückbare Identität des Werkes auszuspielen. Das scheint mir gegen die Rezeptionsästhetik von] auss wie gegen den Dekonstruktivismus von Derrida (die sich darin beide nahe kommen) zu sagen zu sein: das Festhalten an der Sinnidentität eines Textes ist weder ein Rückfall in den überwundenen Platonismus einer klassizistischen Ästhetik noch ist es Befangenheit in der Metaphysik. Man wird gleichwohl fragen, ob mein eigener Versuch, die Differenz des Verstehens mit der Einheit des Textes oder des Werkes zusammenzuschlie-
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Zur Einfuhrung
ßen, und ob im besonderen mein Festhalten am Werkbegriffim Bereiche der Kunst nicht doch einen Identitätsbegriff im Sinne der Metaphysik voraussetzt: Wenn die Reflexion des hermeneutischen Bewußtseins auch anerkennt, daß Verstehen Immer-anders-Verstehen ist, wird man damit dem Widerstand und der Unausdeutbarkeit, die das Werk der Kunst auszeichnet, wirklich gerecht? Und kann das Beispiel der Kunst wirklich den Rahmen bilden, in dem sich eine allgemeine Hermeneutik zu entfalten vermag? Ich antworte: Es war rur mich geradezu der Ausgangspunkt meiner hermeneutischen Theorie, daß das Kunstwerk eine Herausforderung für unser Verstehen ist, weil es sich allen Ausdeutungen immer wieder entzieht und der Umsetzung in die Identität des Begriffes einen niemals überwindbafen Widerstand entgegensetzt. Das kann man, v.lie ich meine, schon aus Kants ,Kritik der Urteilskraft< lernen. Gerade dadurch iibt das Beispiel der Kunst die Leitfunktion aus, die der erste Teil von) Wahrheit und Methode, ftir das Ganze meines Entwurfs einer philosophischen Hermeneutik besitzt. Vollends wird das deutlich, wenn man }die Kunst, in der unendlichen Vielheit und Vielfalt ihrer ,Aussagen, als 'wahr' gelten lassen soll. Von je her habe ich mich als Anwalt jener >schlechten< Unendlichkeit bekannt, die mich in einer spannungsvollen Nähe zu Hegel hält. Jedenfalls versucht das Kapitel in ,Wahrheit und Methode<, das die Grenzen der Rcflexionsphilosophie behandelt und in die Analyse des Erfahrungsbegriffs übergeht, dies deutlich zu machen. Hier gehe ich so weit, gegen Hegel selbst den von Hegel polemisch gebrauchten Begriff der ,Reflexionsphilosophie< auszuspielen und in seiner dialektischen Methode einen unguten Kompromiß mit dem Wissenschaftsgedanken der Moderne zu sehen. Wenn sie die äußere Reflexion der fortgehenden Erfahrung derart in die Selbstreflexion des Gedankens aufnimmt, bleibt sie lediglich eine Versöhnung in Gedanken. Auf der anderen Seite kann man sich der inneren Geschlossenheit des Bewußtseinsidealismus und dem Sog der Reflexionsbewegung, die alles in die Immanenz einsaugt, kaum entziehen. Hatte Heidegger nicht insofern recht, wenn er selbst noch die transzendentale Analytik des Daseins und den Ansatz bei der Hermeneutik der Faktizität hinter sich ließ' Wie habe ich hier meinen Weg gesucht? Der Sache nach bin ich von Dilthey und der Frage nach der Begriindung der Geisteswissenschaften ausgegangen und habe mich kritisch dagegen abgesetzt. Die Universalität des hermeneutischen Problems, um die es mir von Anfang an ging, habe ich allerdings auf diesem Weg nur miihsam erreicht. An einigen Punkten meiner Argumentation empfindet man besonders, daß mein Ausgangspunkt von den >historischen< Geistes\vissenschaften einseitig ist. Insbesondere hat die Einftihrung der hermeneutischen Bedeutung des Zeitenabstandes, so überzeugend sie in sich ist, die grundsätzliche Be-
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deutung der Andersheit des andern und damit die fundamentale Rolle, die der Sprache als Gespräch zukommt, schlecht vorbereitet. Es wäre der Sache angemessener gewesen, zunächst in einer allgemeineren Form von der hermeneutischen Funktion des Abstandes zu sprechen. Es muß sich nicht immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überresonanzen und verzerrende Applikationen zu überwinden. Der Abstand erweist sich sehr wohl auch in Gleichzeitigkeit als ein hermeneutisches Moment, z. B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst den gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Personen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben. Jede solche Begegnung läßt etwas als eigene Vormeinung bewußt werden, das einem so selbstverständlich schien, daß man die naive Angleichung an Eigenes und damit das Mißverstehen, das so zustande kommt, überhaupt nicht bemerken konnte. Hier hat die Einsicht in die primäre Bedeutung des Gespräches auch für die ethnologische Forschung und die Fragwürdigkeit ihrer Technik der Fragebogen Bedeutung erlangt.' Doch bleibt es richtig, daß, wo der Zeitenabstand hineinspielt, dieser eine besondere kritische Hilfe gewährt, weil Veränderungen oft erst dann auffallen und Unterschiede erst dann der Beobachtung zugänglich werden. Man denke an die Schwierigkeit, zeitgenössische Kunst einzuschätzen, an die ich in meiner Darlegung im besonderen dachte. Solche Erwägungen weiten ohne Frage die Bedeutung der A bstandserfahrung aus. Jedoch bleiben sie immer noch im Argumentationszusammenhang einer Theorie der Geisteswissenschaften. Der wahre Antrieb meiner hermeneutischen Philosophie war dagegen ein anderer. Ich war in die Krise des subjektiven Idealismus hineingeboren, die in meiner Jugend mit der Wiederaufnahme der Kierkegaardschen Hegelkritik zum Ausbruch kam. Sie wies dem Sinn von Verstehen eine ganz andere Richtung. Da ist es der Andere, der meine Ichzentriertheit bricht, indem er mir etwas zu verstehen gibt. Dieses Motiv leitete mich von Anbeginn. Es trat vollends in der Arbeit von 1943 heraus, die ich in diesem Bande erneut vorlege. 8 Als Heidegger damals diese kleine Arbeit kennenlernte, nickte er beifallig, fragte aber sofort dagegen: »Und was ist es mit der Geworfenheit?« Daß in dem Sammelbegriff der Geworfenheit die Gegeninstanz gegen das Ideal eines vollen Selbstbesitzes und Selbstbewußtseins gelegen ist, war offenbar der Sinn von Heideggers Gegenfrage. Ich hatte jedoch das besondere Phänomen des Anderen im Auge und suchte folgerichtig die Begründung der Sprach7 Darüber lernt man aus dem neuen Buch von L. C. Watson und M.-B. Watson-Franke, Interpreting Life Histories, 1985 (Rucgers University Press). 8 Vgl. IDas Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie~, unten S.27ff
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Zur Einftihrung
lichkeit unserer Weltorielltienmg im Gespräch. Damit öffnete sich mir ein Fragenkreis, der mich schon von meinen Anfangen her, von Kierkegaard, Gogarten, Theodor Haecker, Friedrich Ebner, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Viktor von Weizsäcker her, angezogen hatte. Das tritt ins Licht, \.velln ich mein eigenes Verhältnis zu Heidegger und meine Anknüpfung an sein Denken heute erneut zu bedenken suche. Die Kritik hat dieses Verhältnis in sehr verschiedener Weise angesehen. Im allgemeinen hat man sich durch die Tatsache bestimmen lassen, daß ich den Begriff }wirkungsgeschichtliches Bewußtscin( gebrauche. Daß ich überhaupt den Begriff des Be\vußtseins wiederverwende, dessen ontologische Voreingenommenheit Heidegger in )Sein und Zeit< so klar aufgezeigt hatte, bedeutet von mir aus nur eine Anpassung an einen mir natürlich scheinenden Sprachgebrauch. Das erweckte freilich den Anschein, der Fragestellung des frühen Heidegger ganz verhaftet geblieben zu sein, die vom Dasein ausgeht, dem es um sein Sein geht und das durch Seinsverständnis ausgezeichnet ist. Der spätere Heidegger trachtete die transzendentalphilosophische Selbstauffassung von )Sein und Zeit( ausdrücklich zu überwinden. Mein eigenes Motiv, den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins einzuftihren, lag aber gerade darin, zum späten Heidegger den Weg zu bahnen. Als Heideggers Denken über die Begriffssprache der Metaphysik hinausdrängte, hat er sich in eine Sprachnot verstrickt, die ihn zur Anlehnung an die Sprache Hölderlins und zu einer halbpoetischen Diktion führte. In meiner Sammlung einiger kleinerer Arbeiten zum späteren Heidegger9 habe ich versucht, deutlich zu machen, daß das Sprachgebaren des späten Heidegger keinen Abfall in Poesie bedeutet, sondern in der Linie seines Denkens gelegen war, das mich in meine eigenen Fragen eingeführt hat. Meine Lehrzeit bei Heidegger war mit Heideggers Rückkehr von Marburg nach Freiburg und mit dem Beginn meiner eigenen Marburger Lehrtätigkeit abgeschlossen. Da kamen die drei Frankfurter Vorträge, die heute als der Kunstwerkaufsatz bekannt sind. Ich hörte sie 1936. Dort war es der Begriff der ,Erde<, mit dem Heidegger das Vokabular der modernen Philosophie, das er seit langem aus dem Sprachgeist der deutschen Sprache erneuert und in seinen Vorlesungen mit Leben erfüllt hatte, nochmals auf eine dramatische Weise überschritt. Das kam meinen eigenen Fragen und meiner eigenen Erfahrung der Nachbarschaft von Kunst und Philosophie so sehr entgegen, daß es in mir einen sofortigen Widerhall \veckte. Meine philosophische Hermeneutik versucht geradezu, die Fragerichtung des späten Heidegger einzuhalten und in neuer Weise zugänglich zu machen. Ich nahm in Kauf, daß ich zu diesem Zweck an dem Bewußtseinsbegriff festhielt, gegen dessen letztbegründenclc Funktion Heiclcggers ontologische 9
>Hcideggers Wege. Studien zum Spätwerk\, Tübingen 1983; Ges. Werke Bd. 3.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik
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Kritik sich gekehrt hatte. Doch versuchte ich, diesen Begriffin sich selbst zu begrenzen. Heidegger hat darin zweifellos einen Rückfall in die von ihm überschrittene Denkdimension gesehen - auch wenn er wohl nicht übersah, daß meine Intention in die Richtung seines eigenen Denkens zielte. Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, ob der Weg, den ich gegangen bin, beanspruchen kann, Heideggers Denkwagnisse einigermaßen einzuholen. Aber eines wird wohl heute gesagt werden dürfen, daß es ein Stück Weges ist, von dem aus einige der Denkversuche des späten Heidegger ausweis bar werden und dem etwas sagen, der mit Heideggers eigener GedankenfUhrung mitzugehen nicht vermag. Freilich muß man mein Kapitel über das wirkungs geschichtliehe Bewußtsein in )Wahrheit und Methode< richtig lesen. Man darf darin nicht eine Modifikation des Selbstbewußtseins sehen, etwa ein Bewußtsein der Wirkungsgeschichte oder gar eine hermeneutische Methode, die sich darauf gründet. Man muß darin vielmehr die Begrenzung des Bewußtseins durch die Wirkungsgeschichte erkennen, in der wir alle stehen. Sie ist etwas, was wir nie ganz durchdringen können. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist, wie ich damals sagte, ))mehr Sein als Bewußtsein«.lO Es leuchtet mir daher nicht ein, mit einigen der Besten unter denjüngeren kritischen Teilhabern an der Hermeneutik, mit Heiner Anz, Manfred Frank oder Thomas Seebohm,11 die Weiterverwendung traditioneller Begriffe der Philosophie als eine Inkonsistenz meines Denkentwurfes anzusehen. Dies Argument ist ähnlich von Derrida gegen Heidegger gekehrt worden." Heidegger sei die Überwindung der Metaphysik mißlungen, die Nietzsehe in Wahrheit vollzogen habe. Die neuere französische Nietzsche-Rezeption mündet in der Folge solcher Argumentation konsequenterweise in der Zersetzung der Seins- und Sinnfrage überhaupt. Nun muß ich selbst gegen Heidegger geltend machen, daß es gar keine Sprache der Metaphysik gibt. Das habe ich bereits in der Festschrift fUr Löwith ausgefUhrt. "Es gibt nur Begriffe der Metaphysik, deren Inhalt sich aus der Verwendung der Worte bestimmt, so wie das mit allen Worten ist. Die Begriffe, in denen sich Denken bewegt, sind sowenig wie die Worte unseres alltäglichen Sprachgebrauchs durch eine starre Regel von fester Vorgegebenheit beherrscht. Die Sprache der Philosophie, auch wenn sie Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 367, 460 und unten S. 247. Heinrich Anz, Die Bedeutung poetischer Rede. Studien zur hermeneutischen Begründung und Kritik von Poetologie, München 1979. Manfred Frank, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neueren französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt 1980 und ,Was ist Neostrukturalismus?(, Frankfurt 1984. Thomas Seebohm, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972. 12 1Marges de la Philosophie(, Paris 1972, S. 77. 13 IAnmerkungen zu dem Thema Hegel und Heideggen, FS rur K. Löwith, Stuttgart 1967, S. 123-131. Auch in IHeideggers Wege(, S. 61-69; vgl. Ges. Werke Bd. 3. 10
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Zur EinfUhrung
noch so schwere Traditionslasten trägt, wie eben die der ins Lateinische Umgesetzten aristotelischen Metaphysik, versucht vielmehr immer wieder eine Verflüssigung aller sprachlichen Angebote. Sie kann sogar im Lateinischen alte Bedeutungsrichtungen in neue umbilden, wie ich das etwa seit langem an dem Genie des Nicolaus Cusanus bewundere. Solche Umbildung muß nicht notwendig durch eine Methode im Stile Hegelscher Dialektik oder Heideggerscher Sprachgewalt und -gewaltsamkeit geschehen. Die Begriffe, die ich in meinem Zusammenhang verwende, sind durch ihren Gebrauch neu definiert. Es sind auch gar nicht so sehr die Begriffe der klassischen aristotelischen Metaphysik. wie sie Heideggers Ontotheologie Uns neu aufgeschlossen hat. Weit mehr gehören sie der platonischen Tradition an. Ausdrücke wie .Alimesis, A1ethexis, Partizipation, Anamnesis, Emaflation, von denen ich manchmal in leichter Abwandlung Gebrauch mache, z. B. im Falle von Repräsentation l 4, sind platonische Begriffsprägungen. Sie spielen bei Aristoteles meist nur in kritischer Wendung eine Rolle und gehören nicht zur Begrifflichkeit der Metaphysik. soweit deren durch Aristoteles begründete Schulgestalt in Frage kommt. Ich verweise erneut auf meine Akademieabhandlung über die Idee des Guten". wo ich umgekehrt plausibel zu machen suche, daß Aristoteles selber weit mehr ein Platoniker war, als man annimmt, und daß der aristotelische Entwurf der Ontotheologie nur einer der Ausblicke ist, die Aristotelcs von seiner Physik aus unternommen hat und die in den Büchern der Metaphysik gesammelt vorliegen. Damit berühre ich den Punkt einer echten Abweichung von Heideggers Denken, dem ein großer Teil meiner Arbeit und insbesondere meiner Platostudien gilt. 16 (ich hatte die Genugtuung. daß gerade diese Arbeiten dem Heidegger der letzten Jahre seines Lebens etwas bedeutet haben. Sie sind in Band 6 und teilweise Band 7 dieser Ausgabe zu finden.) Mir will scheinen. daß man Plato nicht als den Vorbereiter der Ontotheologie lesen darf. Selbst die Metaphysik des Aristoteles besitzt noch andere Dimensionen als die seinerzeit von Heidegger aufgeschlossenen. Daftir glaube ich mich aufHeidegger selber in gewissen Grenzen berufen zu können. Ich denke vor allem an Heideggers frühe Vorliebe für ,die berühmte Analogie(. So pflegte er in der Marburger Zeit zu reden. Diese aristotelische Lehre von der analogia entis war ihm von früh an als Eideshelfer gegen das Ideal der Letztbegründung willkommen, wie es Husserl etwa im Stile Fichtes leitete. In vorsichtiger Distanzierung von Husserls transzendentaler Selbstdeutung findet sich bei Hcidegger häufig der Ausdruck ,Gleichursprünglichkeit( - wohl ein Nach" Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 74f.. 146f.. 210f. 15 )Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles( (Sitzungs bericht der Heid. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Klasse, Abh. 2) Heidelberg 1978, S. 16. [Ges. Werke Bd.
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Vgl. dazu Ges. Werke Bd. 5 und 6 und den kommenden Bd. 7.
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klang der >Analogie< und eine au fond phänomenologisch-hermeneutische Wendung. Es war also nicht allein die aristotelische Kritik an der Idee des Guten, die von dem Begriff der Phronesis aus Heidegger auf seine eigenen Wege gefUhrt hat. Es war auch das Zentrum der aristotelischen Metaphysik selber, VOn dem er seine Anstöße empfing, und erst recht von der Physik, wie Heideggers perspektivenreicher Aufsatz über Physis zeigt. 17 Es wird von da einleuchten, warum ich der Dialogstruktur der Sprache eine so zentrale Rolle zugewiesen habe. Das hatte ich von dem großen Dialogiker Plato zu lernen, oder vielmehr von dem sokratischen Dialog, den Plato gedichtet hat, daß die Monologstruktur des wissenschaftlichen Bewußtseins dem philosophischen Gedanken nie voll erlaubt, seine Intention zu erreichen. Meine Interpretation des Exkurses des 7. Briefes scheint mir über alle kritische Anzweiflung der Authentizität dieses Stückes erhaben. Man versteht von da aus erst ganz, warum sich die Sprache der Philosophie seither beständig im Gespräch mit ihrer eigenen Geschichte fortbildet - ehedem kommentierend, korrigierend und variierend, mit dem Aufgang des historischen Bewußtseins in einer neuen, spannungs vollen Duplizität von historischer Rekonstruktion und spekulativer Umsetzung. Die Sprache der Metaphysik ist und bleibt der Dialog, auch wenn dieser Dialog über die Distanz vonJahrhunderten und Jahrtausenden gefUhrt wird. Die Texte der Philosophie sind aus diesem Grund nicht eigentlich Texte oder Werke, sondern Beiträge zu einem durch die Zeiten gehenden Gespräch. Es ist hier vielleicht der Ort, zu einigen WeiterfUhrungen und selbständigen Gegendarstellungen des hermeneutischen Problems, wie sie z. B. HansRobert Jauss und Manfred Frank einerseits und Jacques Derrida auf der anderen Seite vorgelegt haben, einige Anmerkungen zu machen. Daß die Rezeptionsästhetik, die Jauss entwickelt hat, eine ganze Dimension der Literaturforschung in neuem Lichte zeigt, bleibt dabei unbestritten. Ob sie sich aber richtig gegen das profiliert, was ich in meiner philosophischen Hermeneutik im Auge habe? Die Illustration der Geschichtlichkeit des Verstehens, die ich am Beispiel des Begriffs des Klassischen vorfUhrte, scheint mir mißverstanden zu sein, wenn man hier dem Klassizismus und dem Vulgärbegriff von Platonismus das Wort geredet findet. Das Gegenteil ist der Fall. Das Beispiel des Klassischen in ,Wahrheit und Methode< soll illustrieren, wie sehr in die Zeitlosigkeit dessen, was man klassisch nennt (und was allerdings eine normative Komponente enthält, aber keine Stilbezeichnung ist), geschichtliche Bewegtheit eingegangen ist, so daß Verstehen sich ständig wandelt und erneuert. Das Beispiel des Klassischen hat also nicht nur mit dem klassischen Stilideal nichts zu tun, sondern auch nichts mit dem Vulgärbegriff von Platonismus, den ich ohnehin fur eine Umformung der 17 >Vom Wesen und Begriff der PhysiS<. Aristote1es, Physik B 1. Gesamtausgabe I, 9, S. 239ff.
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Zur Einfrihrung
eigentlichen Intentionen Platos halte. ll! Hier hat Oskar Becker im Verhältnis zu]auss richtiger gesehen, wenn er mir in seiner Kritik seinerzeit geradezu Ertrinken in der Geschichte vorwarf und den Pythagorcismus von Zah1 und Ton und Traum gegen mich ausspielte." Ich mhlte mich dabei in Wahrheit nicht getroffen. Aber darum geht es hier nicht. Die Rezeptionsästhetik von Jauss würde sich nach meiner Überzeugung selber verstümmeln, wenn sie das Werk, das jeder Rezeptionsgestalt zugrundeliegt, in lauter Facetten auflösen wollte. Auch leuchtet mir nicht ein, daß die )ästhetische Erfahrung<, die Jauss geltend zu machen sucht, der Erfahrung der Kunst genugtut. Das war geradezu die Pointe meines Unbegriffs )ästhetische Nichtunterscheidung~, daß sich die ästhetische Erfahrung nicht so isolieren läßt, daß Kunst bloßer Gegenstand des Genusses wird. Ähnlich scheint es mir mit Jauss' ,Ablehnung< der Horizontverschmelzung. Daß Horizontabhebung im hermeneutischen Forschungsprozeß ein integrales Moment darstellt, habe ich in meiner Analyse selbet betont. Die hermeneutische Reflexion lehrt jedoch, daß die Erftillung dieser Aufgabe aus Wesens gründen nie voll gelingt und daß sich darin nicht die Schwäche unserer Erfahrungen zeigt. Rezeptionsforschung kann sich VOn den hermeneutischen Implikationen nicht lösen wollen, die in aller Interpretation liegen. Auch Manfred Frank hat durch seine Arbeiten, die auf intimer Kenntnis des deutschen Idealismus und der Romantik beruhen, die philosophische Hermeneutik wesentlich gefördert. Aber auch hier leuchtet mir nicht alles ein. In mehreren Veröffentlichungcn20 hat er meine kritische Auseinandersetzung mit der psychologischen Interpretation bei Schleiermacher seinerseits kritisiert. Dabei hat er sich auf Einsichten des Strukturalismus und Neostrukturalismus gestützt und der grammatischen Interpretation bei Schleiermacher im Ausgang von der modernen Zeichentheorie eine sehr gründliche Aufmerksamkeit geschenkt. Er sucht sie gegen die psychologische Interpretation aufzuwerten. Es geht jedoch nicht an, meine ich, die psychologische Interpretation, die das eigentlich Neue war, was Schleiermacher beitrug, derart herunterzuspielen. Eben so wenig kann man den Begriff der Divination dadurch reduzieren wollen, daß sie nur mit dem )Stil< zu tun habe. Als ob Stil nicht die Konkretion der Rede selbst wäre. Oben-
lB In meiner oben S. 12 erwähnten Arbeit über die Idee des Guten habe ich überzeugend zu machen versucht, daß diese Umformung bereits mit Aristoteles einsetzt: Aristoteles deutet die platonische Meta-Mathematik in Meta-Phvsik um. 19 Philosophische Rundschau 10 (1962), S. 225-23'7. 20 Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt 1977, so\vie die Einleitung zu Schleiermacher, Hermeneutik und Kriük, 1977, (5. 7-66).
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drein wird der Begriff der Divination von Schleiermacher bis zum Schluß festgehalten, wie die maßgebliche Akademierede von 1829 beweist." Von einem rein sprachlichen Sinn der grammatischen Interpretation zu redcn, als ob es sie ohne die psychologische Interpretation gäbe, geht nicht an. Das hermeneutische Problerll zeigt sich gerade in der Durchdringung der grammatischen durch die individualisierende psychologische Interpretation, in die die komplexen Bcdingtheiten des Interpreten hineinspielen. Ich erkenne gern an, daß ich daftir die Schleiermachersehe Dialektik und Ästhetik, die Frank mit Recht heranzieht, stärker hätte beachten soUen. Ich wäre dann dem Reichtum des individualisierenden Verstehens bei Schleiermacher besser gerecht geworden. Doch habe ich unmittc1bar nach Erscheinen von )Wahrheit und Methode~ etwas davon nachgeholt. 22 Mir ging es eben nicht darUlll, Schleiermacher in allen seinen Dimensionen zu würdigen, sondern ihn als den Urheber einer Wirkungsgeschichte zu charakterisieren, die bereits mit Stein thaI einsetzt und in der Zuspitzung \vissenschaftstheoretischer Art, die Dilthey vorgenommen hat, unstreitig beherrschend wurde. Das hat nach meiner Meinung das hermeneutische Problem verengt, und diese Wirkungsgeschichte ist keine Fiktion. 23 Inzwischen haben Manfrcd Franks neuere Arbeiten den deutschen Leser die Grundzüge des Neostrukturalismus vermittelt. 24 Das hat mir manches geklärt. Insbesondere ist mir an der Darstellung Franks klargeworden, wie stark die Verwerfung der Metaphysik der pr,settee bei Dcrrida an Heideggers Husserl-Kritik und an seiner Kritik der griechischen Ontologie unter dem Stichwort der )Vorhandenhcit< orientiert ist. Doch wird man da weder 21 Dort spielt der Begriff der Divination durchaus die von mir beschriebene Rolle. Gewiß handelt es sich bei dem divinatorischen Verfahren, um ein analogisehes Verfahren. Die Frage ist aber, wem dieses Verfahren der Analogie dienen soll. »Alle Mitteilung ist das Wiedererkennen des Geftihls~( zitiert Frank selber in seiner verdienstlichen Neuausgabe der Schleiermacherschen Hermeneutik, S. 52. Nicht als grammatische Interpretation, die im Gegenteil durchaus vollkommenes Verstehen ermöglicht (Lücke 205), sondern als psychologische Interpretation ist Interpretation unvollendbar. Nicht in der grammatischen, sondern in der psychologischen Interpretation steckt also die Individualisierung und damit das hermeneutische Problem. Daraufkommt es an, und daraufkam es mir au. Frank besteht dagegen mit Recht gegen Kimmerle darauf, daß die psychologische Interpretation von Anfang an bei Schleiermacher auftritt und sich dank ihm innerhalb der Hermeneutik durchgesetzt hat. 22 Vgl. meinen Aufsatz Das Problem der Sprache in Schleiermachers Hermeneutik, in Kleine Schriften III, S. 129ff.; vgl. Ces. Werke Bd. 4. 2J Soeben hat W. Anz in der Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 1985, S. 1-21 in einem bedeutenden Aufsatz >Schleiermacher und Kierkegaard< die flir eille philosophische Hermeneutik produktiven Momente in Schleiermachers >Dialektik< herausgearbeitet. 24 Vgl. M. Frank, )Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neucsten französischen Hermeneutik und Ideologiekritik.~ (Frankfurt 1980), sowie> Was ist NeostrukturaIismus?~ (Frankfurt 1983).
Zur Einftihrung
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Husserl noch Heidegger ganz gerecht. Husserl ist bei der ideal-einen-Bedeutung, von der die erste logische Untersuchung spricht, nicht stehengeblieben, sondern hat die dort supponierte Identität durch seine Zeitanalyse ausweisbar zu machen unternommen. Die Phänomenologie des Zeitbewußtseins stellt die temporale Grundlegung objektiver Geltung überhaupt dar. Das ist Husserls unzweifelhafte Intention und hat seine Überzeugungskraft. Identität wird meines Erachtens nicht dadurch erschüttert, daß man Husserls Idee der transzendentalen Letztbegründung und damit auch die Anerkennung des transzendentalen Ego und seine temporale Selbstkonstitution als letzte Begründungsinstanz der }Logischen Untersuchungen< verwirft. Die Identität des Ich wie die Identität des Sinnes, der sich zwischen Dialogpartnern aufbaut, bleibt davon unberührt. Es ist zwar selbstverständlich richtig, daß kein Verstehen des einen durch den anderenje eine vollständige Deckung des Verstandenen erreichen kann. Hier muß die hermeneutische Analyse offenbar ein falsches Vorbild von Verstehen und Verständigung ausräumen. Dazu kommt es in der Verständigung nie, daß die Differenz in der Identität untergeht. Wenn man sagt, man verständigt sich über etwas, so heißt das durchaus nicht, daß der eine mit dem anderen überzeugungsidentisch wird. ~Man kommt überein{, wie unsere Sprache das schön ausdrückt. Es ist eine höhere Form von Syntheke) um das Genie der griechischen Sprache aufzubieten. Es bedeutet in meinen Augen eine Verkehrung der Blickrichtung, wenn man die Elemente der Rede, des discours) isoliert und zum Zielpunkt der Kritik macht. So gibt es dieselben in der Tat nicht, und man versteht, warum man, den Blick auLZeichen< gerichtet, von differance oder diffirence sprechen muß. Kein Zeichen ist im absoluten Sinne von Bedeutung mit sich identisch. Gegen den Platonismus, den Derrida in den }Logischen Untersuchungen< Husserls und in dem Intentionalitätsbegriff von )Ideen I< zu fmden meint, hat seine Kritik Recht. Aber das ist von Husserl selbst längst geklärt. Vom Begriff der passiven Synthesis und von der Lehre von den anonymen Intentionalitäten aus scheint mir in Wahrheit eine deutliche Linie zu der hermeneutischen Erfahrung herüberzureichen, die wohl überall, wo sie den Methodenzwang der transzendentalen Denkweise abgeworfen hat, mit meinem Diktum übereinstimmen dürfte: >} M;fu versteht anders, wenn man überhaupt versteht«.2s Die Stellung, die der Begriff der Literatur im Fragenkreis der Hermeneutik einnimmt, ist nach Vollendung von' Wahrheit und Methode< jahrzehntelang ein Vorzugsthema meiner Studien gewesen. Man vergleiche in diesem Band >Text und Interpretation< und )Destruktion und Dekonstruktion< sowie die Arbeiten in Band 8 und 9. In >Wahrheit und Methode{ schien mir, wie ich eingangs sagte, 25
Ges. Werke Bd. 1, S. 302.
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die nötige Unterscheidung zwischen dem Spiel der Sprache und dem Spiel der Kunst noch nicht mit der rechten Präzision getroffen, und in der Tat ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Kunst nirgendwo so greifbar, wie im Falle der Literatur, die sich geradezu durch die Kunst der Spracheund des Schreibens! - definiert, Seit alters erscheint die Poetik neben der Rhetorik, und mit der Ausbreitung der Lesekultur - schon im Zeitalter des Hellenismus und vollends im Zeitalter der Reformation - wird das Geschriebene, die litterae zu dem gemeinsamen Begriff, in dem Texte zusammengefaßt sind. Das bedeutet, daß das Lesen ins Zentrum der Hermeneutik und Interpretation rückt. Beide dienen dem Lesen, das zugleich Verstehen ist. Wo es sich um literarische Hermeneutik handelt, geht es also in erster Linie um das Wesen des Lesens. Man mag noch so sehr von dem Primat des lebendigen Wortes überzeugt sein, von der Ursprünglichkeit der Sprache, die im Gespräch lebendig ist, Gleichwohl weist das Lesen auf einen noch weiteren Umfang. Dadurch rechtfertigt sich der weite Begriff von Literatur, auf den ich auch in) Wahrheit und Methode< am Schluß des ersten Teiles, auf Späteres vorausgreifend, hingewiesen habe. Hier scheint es nötig, auf den Unterschied zwischen Lesen und Reproduzieren einzugehen. Ich kann zwar nicht so weit gehen, wie Emilio Betti in seiner Auslegungslehre, der Verstehen und Reproduzieren ganz voneinander absondert. Ich muß daraufbestehen, daß Lesen, und nicht Reproduzieren, die eigentliche Erfahrungsweise des Kunstwerkes selbst ist, die es als solches definiert. Dort geht es um )Lesen< im >eminenten< Sinne des Wortes vor, so wie der dichterische Text ein Text im >eminenten< Sinne des Wortes ist. In Wahrheit ist Lesen die Vollzugs form aller Begegnung mit Kunst. Es liegt nicht nur bei Texten vor, sondern ebenso auch bei Bildern und bei Bauten. 26 Reproduktion ist etwas anders, da handelt es sich um eine neue Realisierung im sinnlichen Stoff der Klänge und Töne - damit um so etwas wie eine Art neuer Schäpfung. Gewiß will eine Reproduktion das eigentliche Werk zur Erscheinung bringen, so das Drama auf der Bühne oder die Musik im Erklingen, und diese lebendige Reproduktion fuhrt mit Recht, meine ich, den Namen der Interpretation. Daher muß die Gemeinsamkeit der Interpretation, hier im Falle der Reproduktion wie im Falle der Lesekultur, festgehalten werden. Auch Reproduzieren ist Verstehen, wenn auch mehr als das. Es handelt sichja nicht um eine vällig freie Schäpfung, sondern um rUchts als, wie das Wort so schön andeutet )AufTtihrung<, durch die das Verständnis eines fest fixierten Werkes zu einer neuen Realität heraufgeftihrt wird. Beim I
26 Vgl. meinen Beitrag )Das Lesen von Bildern und Bauten< in der Festschrift fLir M. Imdahl, hrsg. von G. Boehm, Würzburg 1986.
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Zur Einfuhrung
Lesen ist es etwas anderes, da vollendet sich die Sinn wirklichkeit des schriftlich Fixierten im Sinnvollzug selbst, und nichts sonst geschieht. So heißt Vollendung des Verstehens hier nicht - wie bei der Reproduktion" - Realisierung in neuer sinnlicher Erscheinung. Daß Lesen ein eigener, in sich vollendeter Sinnvollzug ist und damit von der Aufftihrung im Theater oder Musiksaal wesenhaft verschieden, zeigt sich selbst am Vorlesen. Erst recht gilt es vom stillen Lesen, auch wenn dieses sich lautlich artikuliert, \vie das in der klassischen Antike selbstverständlich war. Es ist eben voller Sinnvollzug, obwohl es nur in einer schematisierenden Weise mit Anschauung etftiBt ist. Es bleibt ftir verschiedene inllginative Ausftillung olTen. Das habe ich seinerzeit durch Anschluß an die Arbeit von Roman Ingardcn illustriert. So gilt auch fur den Vorleser: der gute Vorleser darf keinen Augenblick vergessen, daß er nicht der \virkliche Sprecher ist, sondern einem Lesevorgang dient. Obwohl sein Vorlesen Reproduktion und Darstellung für einen anderen ist, also eine neue Realisierung in der sinnlichen Welt einschließt, bleibt es doch in der Intimität des Lesevorgangs beschlossen. An diesen Unterscheidungen muß die Frage Klärung finden, die ich in anderem Zusammenhang immer wieder durchdacht habe, welche Rolle [ur das hermeneutische Geschehen die Intention des Autors spielt. Im alltäglichen Redegebrauch, wo es sich nicht um den Durchgang durch die Erstarrung der 5chriftlichkeit handelt, ist es klar. Man muß den anderen verstehen; man muß den anderen verstehen, wie er es gemeint hat. Er hat sich sozusagen nicht von sich selbst getrennt und hat sich nicht in schriftlich oder wie immer fixierter Rede einem Unbekannten übergeben und ausgeliefert, der das, was er zu verstehen hat, vielleicht durch Mißverstehen, gewollt oder ungewollt, entstellt. Mehr noch: er hat sich überhaupt nicht von dem anderen getrennt, zu dem er spricht und der ihm zuhört. Wieweit dieser andere versteht, was ich sagen will, zeigt sich daran, wie er darauf eingeht. Das Verstandene wird damit aus der Unbestimmtheit seiner Sinnrichtung in eine neue Bestimmheit gehoben, die erlaubt, sich verstanden oder mißverstanden zu finden. Das ist das eigentliche Geschehen im Gespräch: das Gemeinte artikuliert sich, indem es ein Gemeinsames wird. Die einzelne Äußerung ist also stets in ein kommunikatives Geschehen 27 Es ist eine besondere Frage, wie es im Falle der Musik mit dem Verhältnis von Lesen und Reproduzieren steht. Man wird wohl darüber einig sein, daß Musik im Lesen der Noten nicht \virklich erfahren wird, und das macht ihren Unterschied von Literatur aus. Gewiß gilt es auch ruf das Drama, daß es ursprünglich nicht furs Lesen bestimmt war. Selbst das Epos war in einem äußerlichen Sinne ehedem auf den Vorsänger angewiesen. Trotzdem bleiben hier wesenhafte Unterschiede. Musik muß Inan machen, und der Zuhörer muß sozusagen mitmachen. In dieser Frage habe ich von Georgiades viel gelernt, auf dessen neuestes, aus dem Nachlaß soeben herausgekommenes Werk ,Nennen und Erklingen( ich hier verweise. (Göttingen 1985)
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eingebettet und darf gar nicht als einzelne verstanden \verden, Die Rede von der mens auctoris spielt daher, wie das Wort >Autor< ebenso, nur dort eine hermeneutische Rolle, wo es sich nicht um lebendiges Gespräch, sondern um fixierte Äußerungen hande1t. Da nun ist es die Frage: versteht man nur, indem man auf den Urheber zurückgeht? Versteht man genug, wenn man auf das zurückgeht, was der Urheber im Sinne hatte? Und wie ist es, wo das gar nicht möglich ist, weil man nichts von ihm weiß? Hier scheint mir die traditionelle Hermeneutik die Folgen des Psychologismus noch immer nicht ganz überwunden zu haben, Bei allem Lesen und Verstehen von Schrift handelt es sich um einen Vorgang, durch den sich das im Text Fixierte zu neuer Aussage erhebt und neu konkretisieren muß. Nun liegt es im Wesen des wirklichen Sprechens, daß das Meinen das Gesagte stets übertrifft. Deshalb scheint es mir ein undurchschautes ontologisches Mißverständnis, die Meinung des Sprechers als Maßstab des Verstehens zu hypostasieren. Als ob man dieselbe in eine Art reproduktiven Verhaltens erst einmal herstellen könnte und dann erst als Maßstab an die Worte anzulegen hätte, Lesen ist ja doch, wie wir sahen, kein Reproduzieren, das den Vergleich mit dem Original erlaubt. Es ist wie bei der durch die phänomenologische Forschung überwundenen erkenntnistheoretischen Lehre, daß wir ein Bild der gemeinten Wirklichkeit im Bewußtsein haben, die sogenannte Vorstellung. Alles Lesen geht über die erstarrte Wortspur hinaus auf den Sinn des Gesagten selbst, geht also weder auf einen ursprünglichen Produktionsvorgang zurück, den man als einen seelischen Vollzug oder als Ausdrucksgeschehen verstehen sollte, noch weiß es von dem Gemeinten überhaupt anders als von der Wortspur aus. Das schließt ein: wenn einer versteht, was ein anderer sagt, ist das nicht nur ein Gemeintes, sondern ein Geteiltes, ein Gemeinsames. Wer einen Text im Lesen zum Sprechen bringt, und sei es auch ohne jede eigene lautliche Artikulation beim Lesen, baut dessen Sinn in der Sinnrichtung, die der Text hat, in das Universum von Sinn ein, auf das hin er selbst geöffnet ist. Darin liegt am Ende die Rechtfertigung rur die romantische Einsicht, der ich gefolgt bin, daß alles Verstehen schon Auslegen ist. Schleiermacher28 hat es einmal ausdrücklich gesagt: »Das Auslegen unterscheidet sich von dem Verstehen durchaus nur wie das laute Reden von dem inneren Reden «.29 Das gleiche gilt vom Lesen. Lesen nennen wir verstehendes Lesen. Das Lesen selbst ist damit schon Auslegen des Gemeinten, So ist Lesen die gemeinsame Grundstruktur allen Vollzuges von Sinn. Auch wenn Lesen kein Reproduzieren ist, wird dochjeder Text, den man liest, erst im Verstehen verwirklicht. Auch für den zu lesenden Text gilt daher, daß er einen Seins zuwachs erfahrt, der dem Werk erst seine volle 28
29
Sämtl. Werke Bd, 3, S. 384. VgL Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1,5.188.
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Zur EinfUhrung
Gegenwärtigkeit gibt. Auch wenn es sich nicht um Reproduktion auf der Bühne oder dem Podium handelt, scheint mir dies der Fall. Die verschiedenen Formen von Text, mit denen es die Hermeneutik zu tun hat, habe ich ausftihrlich in der Arbeit ,Text und Interpretation< analysiert. Doch macht der besondere Fall der Historik eine besondere Erörterung nötig. Selbst wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß auch historische Forschung im letzten Sinne Interpretation, also Vollzug von Sinn ist, muß man sich die Frage stellen, ob das Verhältnis des Historikers zu seinem zu erforschenden Text, der Geschichte selber, nicht doch ein anderes ist als das Verhältnis des Philologen zu seinem Text. Der Widerstand, den der Historiker gegen meine Aufweisungen in ,Wahrheit und Methode< (S. 330 ff) empfindet, gibt mir zu verstehen, daß ich der Gefahr nicht entgangen bin, hier die Sonderart des historischen Verstehens der des Philologen zu sehr anzugleichen. Es ist, wie ichjetzt sehe, nicht nur eine Frage des Maßstabes, wie ich das in >Wahrheit und Methode( erwäge. Historie ist nicht nur Philologie im Großen (Wahrheit und Methode S. 345). Es ist vielmehr ein anderer Sinn von Text und damit auch von Verstehen des Textes in bei den Fällen im Spiele. Das Ganze der Überlieferung, die den historischen Gegenstand darstellen mag, ist nicht in demselben Sinne Text, in dem das einzelne Textgebilde dem Philologen ein solcher ist. Ist ftir den Historiker das Ganze je so gegeben wie der Text, den der Philologe vor sich hat? Für den Philologen ist der Text, und insbesondere auch der dichterische Text, wie ein festes Maß gegeben, das aller Neudeutung vorausliegt. Der Historiker dagegen hat seinen Grundtext, die Geschichte selbst, erst zu rekonstruieren. Gewiß kann man da nicht absolute Trennlinien ziehen. Der Historiker muß natürlich auch die literarischen oder sonstigen Texte, die er vorfindet, zunächst einmal verstehen, wie es der Philologe tut. Ebenso muß der Philologe seine Texte oft erst rekonstruieren und rezensieren, damit man sie überhaupt versteht, und er wird in sein Verstehen derselben geschichtliches Wissen genau so einschießen lassen wie alle möglichen anderen Erkenntnisse seiner Wissenschaft. Gleichwohl ist der Hinblick des Verstehens, der Blick auf Sinn, in beiden Fällen nicht der gleiche. Der Sinn eines Textes betrifft das, was er sagen will. Der Sinn eines Geschehens dagegen ist das, was man aufgrund von Texten und anderen Zeugnissen, vielleicht in Umwertung ihrer eigenen Aussageabsicht, herauslesen kann. Ich möchte hier zur Klärung einen Sinn von Philologie einfUhren, der die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes sein könnte: Philologie ist Freude am Sinn, der sich aussagt. Ob derselbe sich in sprachlicher oder in anderer Form aussagt, gilt dafür gleich viel. So ist natürlich auch die Kunst ein solcher Sinnträger und ebenso die Wissenschaft und die Philosophie. Aber selbst dieser weiteste Sinn von Philologie, die Sinn versteht, ist von der
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Historie, so sehr auch diese Sinn zu verstehen sucht, verschieden. Als Wissenschaften gebrauchen sie beide die Methoden ihrer Wissenschaft. Aber sofern es sich um Text handelt, wenn auch verschiedener Statur, sind diese Texte nicht nur auf dem Wege der methodischen Forschung zu verstehen. Jeder Text findet schon immer seinen Leser, bevor die Wissenschaft ihm zu Hilfe kommt. Der Unterschied von Freude an Sinn, der sich aussagt, und Forschung nach Sinn, der verhüllt ist, artikuliert bereits den Sinnraum, in dem sich beide Weisen des Verstehens bewegen. Auf der einen Seite steht die Sinnanmutung des Lesers - und der Begriff des Lesers läßt sich unschwer auf alle Arten von Kunst ausdehnen. Auf der anderen Seite steht das unbestimmte Wissen des Lesers von seiner eigenen Heimat und Herkunft, steht die Geschichtstiefe der eigenen Gegenwart. Die Interpretation gegebener Texte, deren Sinn sich aussagt, bleibt daher immer schon auf vorgängiges Verstehen zurückbezogen und vollendet sich in dessen Bereicherung. Ebenso ist der Sinntext der Geschichte immer schon, teils durch die eigene Lebensgeschichte, teils durch das jedem schon durch geschichtliches Wissen Gebildeten Bekannte vorbestimmt. Man wird in ein solches Geschichtsbild, das den Inhalt des eigenen Herkommens umfaßt, eingeformt, noch bevor die Geschichtsforschung ihr methodisches Werk beginnt. Wie es unser aller Geschichtlichkeit entspricht, löst sich das Lebensband nie ganz, das Tradition und Herkommen mit der kritischen historischen Forschung verbindet. Selbst wer als vermeintlicher Zuschauer der Weltgeschichte seine eigene Individualität auszulöschen sucht, wie Ranke, bleibt Kind seiner Zeit und Sohn seiner Heimat. Weder der Philologe noch der Historiker kann diese Bedingungen seines eigenen Verstchens, die ihm derart vorausliegen und damit auch Bedingungen sind, die seiner methodischen Selbstkontrolle vorausliegen, kennen. Das gilt CUr beide, und doch ist es im Falle des Philologen nicht das gleiche, wie im Falle des Historikers. Für den Philologen stellt sich die Gleichzeitigkeit von Sinn, der sich im Texte aussagt, durch seine Interpretation her (wenn sie gelingt). Auf der anderen Seite haben wir beim Historiker Aufbau und Abbau von Sinnzusammenhängen und das kommt einer beständigen Berichtigung gleich, einer Zerstörung von Legenden, einer Aufdeckung von Fälschungen, einem beständigen Aufbrechen von Sinnkonstruktionen - um des dahinterliegenden gesuchten Sinnes willen, der vielleicht nie bis zur Gleichzeitigkeit von Sinnevidenz auffindbar ist. Eine etwas andere Richtung, die zur Fortentwicklung meiner Studien geftihrt hat, bezieht die Probleme der Sozialwissenschaften und der praktischen Philosophie ein. DaCUr hat das kritische Interesse, das in den sechziger JahrenJürgen Habermas an meinen Arbeiten bekundet hat, kritische Bedeutung gewonnen. Seine Kritik und meine Gegenkritik haben mir die Dimension erst recht bewußt gemacht, in die ich der Sache nach eingetreten war, als ich den Bereich von Text und Interpretation in die Richtung auf die Sprach-
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Zur Einftihrung
lichkeit allen Verstehens überschritt. Das gab mir Anlaß, mich immer wieder in den Anteil der Rhetorik zu vertiefen, den diese an der Geschichte der Hermeneutik zeigt, den sie aber weit mehr noch für die Existenzform von Gesellschaft überhaupt besitzt. Davon legen auch in diesem Bande einige Studien Zeugnis ab. Schließlich nötigte mich die gleiche Problemrichtung dazu, die wissenschaftstheoretische Eigenart einer philosophischen Hermeneutik schärfer herauszuarbeiten, in der Verstehen und Interpretieren und das Verfahren der hermeneutischen Wissenschaften seinerseits seine Legitimation finden soll. Ich nahm damit ein Problem auf, mit dem ich von meinen allerersten Anfängen an intensiv beschäftigt war: Was ist praktische Philosophie? Wie kann sich Theorie und Reflexion auf den Bereich der Praxis richten, wo doch Praxis keinen Abstand duldet, sondern Engagement fordert? Diese Frage hat mich von früh an durch Kierkegaards Existenzpathos angerührt. Darüber hinaus habe ich mich am Vorbild der aristotelischen praktischen Philosophie orientiert. Ich suchte dem abwegigen Modell von Theorie und ihrer Anwendung zu entgehen, das vom modernen Wissenschaftsbegriff aus auch den Begriff der Praxis einseitig bestimmt hat. Hier hat Kant die Selbstkritik der Moderne eingeleitet. In Kants >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< glaubte ich und glaube ich eine zwar partiale, nämlich auf das Imperativische verkürzte, aber in ihren Gtenzen unerschütterliche Wahrheit zu finden: die Impulse der Aufklärung dürfen sich nicht in einem Sozialutilitarismus verfangen, wenn sie der Kritik Rousseaus standhalten sollen, die ftir Kant nach seinem eigenen Geständnis bestimmend war. Dahinter liegt das alte metaphysische Problem der Konkretion des Allgemeinen. Das hatte ich schon in meinen frühen Studien zu Plato und Aristoteles im Auge. Die erste Dokumentation meiner Gedankenbildung wurde soeben erstmals veröffentlicht, in Band 5 dieser Ausgabe, unter dem Titel ,Praktisches Wissen< (geschrieben im Jahre 1930). Dort habe ich das Wesen der Phronesis in engem Anschluß an das 6. Buch der Nikomachischen Ethik herausgearbeitet, indem ich Anstöße Heideggers aufnahm. In >Wahrheit und Methode< rückt dieses Problem ins Zentrum. Nun ist die aristotelische Tradition der praktischen Philosophie inzwischen von vielen Seiten wiederaufgenommen worden. Es scheint mir unbestreitbar, daß sie eine echte Aktualität besitzt. In meinen Augen hat das nichts mit den politischen Vorzeichen zu tun, die vielfach heute mit solchem Neo-Aristotelismus verbunden sind. Was praktische Philosophie ist, bleibt rur den Wissenschaftsbegriff des neuzeitlichen Denkens insgesamt eine wirkliche Herausforderung, die man nicht ignorieren sollte. Aus Aristoteles ist zu lernen, daß der griechische Begriff von Wissenschaft, Episteme) Vernunfterkenntnis meint. Das heißt, daß cr in der Mathematik sein Vorbild hat und nicht eigentlich die Empirie umfaßt. Der modernen Wissenschaft entspricht daher
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weniger der griechische Begriff von Wissenschaft, Episteme, als der Begriff der TecJme. Jedenfalls ist das praktische und politische Wissen von grundsätzlich anderer Struktur, als alle diese Formen von lehrbarem Wissen und seiner Anwendung. Das praktische Wissen ist in Wahrheit das, das allem auf Wissenschaft gegründeten Können von sich aus seinen Platz anweist. Das war bereits der Sinn der sokratischen Frage nach dem Guten, den Plato und Aristoteles fest gehalten haben. Wer glaubt. daß Wissenschaft dank ihrer unbestreitbaren Kompetenz praktische Vernunft und politische Vernünftigkeit ersetzen kann, verkennt die ftihrenden Kräfte der menschlichen Lebensgestaltung, die umgekehrt allein imstande sind, Wissenschaft, wie alles menschliche Können, mit Sinn und Verstand zu nutzen und die Nutzung derselben zu verant\vorten. Nun ist gewiß praktische Philosophie nicht selber solche Vernünftigkeit. Sie ist Philosophie, das heißt, sie ist eine Reflexion, und zwar über das, was menschliche Lebensgestaltung zu sein hat. Im selben Sinne ist die philosophische Hermeneutik nicht selbst die Kunst des Verstehens, sondern die Theorie derselben. Aber die eine wie die andere Form von Be\vußtmachung steigt aus der Praxis auf und bleibt ohne sie ein bloßer Leerlauf. Das ist der besondere Sinn von Wissen und Wissenschaft, den es von der Problematik der Hermeneutik aus neu zu legitimieren galt. Das war das Ziel, dem ich auch nach Vollendung von) Wahrheit und Methode< meine Arbeit gewidmet habe.
Korrekturzusatz: Inzwischen v,rird die Diskussion zwischen Hermeneutik und Dekonstruktivismus lebhaft fortgeftihrt. Vgl. J. Habermas' vorzügliche Derrida-Kritik in >Der philosophische Diskurs der Modeme<, Frankfurt 1985, S. 191 ff. sowie - die Diskussion von ,Text und Interpretation, - in englischer Sprache durch Dallmayr (vorbereitet in Iowa) sowie meine Anmerkungen zu F. Dallmayr, Polis and Praxis (Cambridge 1984), die >Destruktion und Dekonstruktioll< (vgl. unten S. 361 ff.) ergänzen (ebenda).
11. Vorstufen
2. Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie 1943
Wenn man die Eigenart der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte kennzeichnen will, so begegnet einem als ihr wichtigster Grundzug ihre historische Einstellung. Angelsächsische Beobachter haben sie gelegentlich geradezu eine erdrückend historische Einstellung genannt und sich verwundert, warum die deutsche Philosophie sich so überwiegend mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt. In der Tat ist dieses Interesse der Philosophie an ihrer eigenen Geschichte keine Selbstverständlichkeit und enthält eine eigene Fragwürdigkeit. Kommt es in der Philosophie, wie in aller Erkenntnis, auf die Wahrheit an, was bedarf es dann der Wahrnehmung der Wege und Umwege, die zu ihr führen? Überdies klingt uns Heutigen die Kritik den Ohren, die Friedrich Nietzsehe in der berühmten zweiten }Unzeitgemäßcn Betrachtung< an der Historie geübt hat. Ist der historische Sinn wirklich jene großartige Erweiterung unserer Welt, die das 19. Jahrhundert in ihm sah, ist cr nicht vielmehr ein Zeichen daftir, daß der moderne Mensch überhaupt nicht mehr eine eigene Welt hat, seit cr mit hundert Augen zugleich auf die Welt zu blicken gelernt hat' Löst sich nicht der Sinn von Wahrheit auf, wo die wechselnden Perspektiven, in denen sie erscheint, ins Bewußtsein treten? In der Tat, es gilt zu begreifen, wie uns der geschichtliche Charakter des menschlichen Daseins und seiner Erkenntnis zum Problem geworden ist. Man nennt dieses Problem in Deutschland das Problem der Geschichtlichkeit. Es ist nicht die alte Frage nach dem Wesen und Sinn der Geschichte, die damit gefragt wird. Daß die menschlichen Dinge sich unaufhaltsam wandeln, daß Völker und Kulturen aufsteigen und sinken. war vonjeher Gegenstand des philosophischen Nachdenkcns. Die Griechen, die ersten Gestalter des abendländischen Weltbegreifens, dachten diesen Aufstieg und Verfall nicht als das Wesen des menschlichen Seins, sondern von etwas anderem her, das sich in allem Wechsel bewahrt, weil es die rechte Ordnung ist. Das Vorbild, nach dem so das menschliche Sein gedacht wird, ist die Natur, die kosmische Ordnung, die sich selbst erhält und in ewiger Wiederkehr erneuert. Auch menschliche Ordnung möchte so bleibend sein, und ihr Wandel
in
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gilt als ihr Verfall. Geschichte ist Verfallsgeschichte. ' Erst mit dem Christentum wird das Unwiederholbare des menschlichen Seins als sein eigener Wesenszug erkannt. Das Ganze der menschlichen Dinge, }dieser Kosmos(, ist ja das Unwesen gegenüber dem alleinigen Wesen des jenseitigen Gottes, und die Erlösungstat gibt der menschlichen Geschichte einen neuen Sinn. Sie ist die ständige Entscheidung rur oder wider Gott. Der Mensch steht in der durch die einmalige Erlösungstat bestimmten Geschichte des Heils. Jeder seiner Augenblicke gewinnt ein absolutes Gewicht, das Ganze der menschlichen Geschicke aber bleibt geborgen in der Vorsehung Gottes und der Erwartung des Endes der Dinge. So ist das menschliche Dasein endlich und doch auf das Unendliche bezogen. Geschichte hat einen eigenen, positiven Sinn. Von dieser Voraussetzung aus ist die Metaphysik der Geschichte im christlichen Abendland durch ein Jahrtausend gedacht worden. In säkularisierter Gestalt ist noch der Fortschrittsglaube des Zeitalters der Aufklärung ein Glied in diesem Zusammenhang. Ja, selbst der letzte großartige Versuch einer Geschichtsphilosophie, Hegels Aufweis der Vernunft in der Geschichte, bleibt in diesem Sinne Metaphysik. Erst mit dem Zusammenbruch dieses metaphysischen Hintergrundes wird das Problem der Geschichte rur das menschliche Daseinsbewußtsein bestimmend. Es wird zum Problem der Gcschichtlichkeit. Im Jahre 1841 wurde der alte Schelling auf den Berliner Lehrstuhl für Philosophie gerufen, um der politisch und wissenschaftlich gefahrlichen Nachwirkung Hegels entgegenzutreten. Seine Kritik an Hege! stellt, gegen sein eigenes Wissen und Wollen, das Ende der führenden Stellung der Philosophie in der abendländischen Kultur überhaupt dar. Nicht seine eigene Philosophie, sondern das methodische Übergewicht der Naturwissenschaften setzte sich durch. Auch das Problem der Geschichte wurde nach diesem methodischen Vorbild gestaltet. Als die Philosophie sich von der Tiefe des epigonalen Hegelianismus und akademischen Materialismus der Jahrhundertmitte erhob, stand sie im Zeichen Kants und seiner erkenntnistheoretischen Frage nach der Begründung der Wissenschaft. Kant hatte in der IKritik der reinen Vernunft< die Frage beantwortet, wie reine Naturwissenschaft möglich sei. Jetzt fragte man darüber hinaus, wie Geschichtswissenschaft möglich sei. Man suchte der IKritik der reinen Vernunft< eine )Kritik der historischen Vernunft< zur Seite zu stellen (um ein Wort Wilhelm Diltheys zu gebrauchen). Das Problem der Geschichte stellte sich als das Problem der Geschichtswissenschaft. Wie gewinnt diese ihr erkenntnistheoretisches Recht? So fragen hieß aber, die
1 rVgl. meine Rezension zu G. Rohr IPlatons Stellung zur Geschichte<, Ges. Werke Bd. 5, S. 327-331.]
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Geschichtswissenschaft am Vorbild der Naturwissenschaften messen. Das klassische Buch der neukantianischen Geschichtslogik hat den bezeichnenden Titel: ,Die Grenzen der Naturwissenschaftlichen Begriffsbildung<. Heinrich Rickert sucht darin zu zeigen, wodurch der Gegenstand der Geschichte sich charakterisiert, warum in ihr nicht allgemeine Gesetzlichkeiten gesucht werden, wie in der Naturwissenschaft, sondern das Einzelne, das Individuelle erkannt wird. Was macht ein bloßes Faktum zu einer historischen Tatsache? Die Antwort lautet: seine Bedeutung, d. h. sein Bezug auf das System menschlicher Kulturwerte. Bei solcher Fragestellung bleibt in aller Abgrenzung das Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntis leitend. Das Problem der Geschichte ist ganz und gar nur das erkenntnistheoretische Problem, wie Geschichtswissenschaft möglich ist. In Wahrheit aber bewegt die Frage der Geschichte die Menschheit nicht als ein Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern des eigenen Lebensbewußtseins. Auch ist es nicht allein dies, daß wir Menschen eine Geschichte haben, d. h. in Aufstieg, Blüte und Verfall unser Schicksal leben. Das Entscheidende ist vielmehr, daß wir gerade in dieser·Schicksalsbewegung den Sinn unseres Seins suchen. Die Macht der Zeit, die uns dahinreißt, weckt in uns das Bewußtsein einer eigenen Macht über die Zeit, durch die wir unser Schicksal gestalten. In der Endlichkeit selber erfragen wir einen Sinn. Das ist das Problem der Geschichtlichkeit, wie es die Philosophie bewegt. Die Dimensionen dieses Problems sind in Deutschland, dem klassischen Land der Romantik, ausgemessen worden, weil dort das romantische Erbe inmitten des Aufschwungs der modernen Wissenschaft, den das 19. Jahrhundert brachte, festgehalten wurde. Es war Wilhelm Dilthey, im wilhelminischen Deutschland viele Jahrzehnte Professor der Philosophie in Berlin, der anerkannte und berühmte Geschichtsschreiber des deutschen Geistes, der in der Zeit der Herrschaft der Erkenntnistheorie dieses Problem der Geschichtlichkeit in heller Wachheit empfunden und durchdacht hat. Seine Zeitgenossen, ja auch viele seiner Schüler und Freunde, sahen in ihm nur den genialen Historiker, den würdigen Erben der großen Tradition deutscher Geschichtsschreibung, der auf dem Gebiete der Philosophie geschichte und Geistesgeschichte eine neue und glanzvolle Leistung hinzubrachte. Seine Schriften waren vielf:iltig verstreut, oft nur in Aufatzen und Akademieabhandlungen veröffentlicht. Aber nach dem ersten Weltkrieg erschienen seine gesammelten Werke in vielen Bänden, die um wichtige Nachlaßarbeiten vermehrt waren. Seitdem ist Dilthey als Philosoph, als der Denker des Problems der Geschichtlichkeit, sichtbar geworden. Ortega y Gasset ist sogar so weit gegangen, ihn den größten Denker zu nennen, den die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgebracht habe. Man muß freilich lernen, Dilthey gegen seine eigene methodische Selbst-
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auffassung zu lesen. Denn Diltheys Arbeiten teilten scheinbar mit der erkenntnistheoretischen Fragestellung des Neukantianismus den Ausgangspunkt. Auch er suchte den Geisteswissenschaften zu einer selbständigen, philosophischen Grundlegung zu verhelfen, indem er die ihnen eigenen Prinzipien aufwies. Er sah in einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie die Grundlage aller Geisteswissenschaften. In einer klassischen Abhandlung vomjahre 1892 mit dem Titel ,Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie< überwindet er die naturwissenschaftliche Methodik auf dem Gebiete der Psychologie und gibt damit den Geisteswissenschaften ihr methodisches Selbstbewußtsein. So scheint auch er von der erkenntistheoretischen Fragestellung beherrscht, die nach der Möglichkeit der Wissenschaft fragt und nicht nach dem, was Geschichte ist, In Wahrheit aber beschränkt er sich nicht darauf, über unser Wissen von der Geschichte zu reflektieren, wie es in der Geschichtswissenschaft vorliegt, sondern er denkt über unser menschliches Sein nach, das durch sein Wissen um seine Geschichte bestimmt ist. Den Grundcharakter des menschlichen Daseins bezeichnet er als das )Leben<. Dies ist ihm die )kernhafte< Urtatsache, auf die auch alle geschichtliche Erkenntis letztlich zurückgeht, Auf die gedankenbildende Arbeit des Lebens, nicht auf ein erkenntnistheoretisches Subjekt gehe alles Objektive im menschlichen Leben zurück, Kunst, Staat, Gesellschaft, Religion, alle unbedingten Werte, Güter und Normen, die in diesen Sphären Bestand haben, entstammen zuletzt der gedankenbildenden Arbeit des Lebens, Wenn sie unbedingte Geltung beanspruchen, erklärt sich das nur durch )Einschränkung des Horizonts der Zeit<, das will sagen, durch einen Mangel an historischem Horizont. Der historisch Aufgeklärte zum Beispiel weiß, daß Totschlag nicht unbedingt das größere Verbrechen ist gegenüber dem DiebstahL Er weiß, daß das alte germanische Recht den Diebstahl strenger ahndete als den Totschlag, weil er feige und unmännlich ist, Nur wer das nicht weiß, kann hier an die Unbedingtheit einer Rangordnung der Dinge glauben, Historische Aufklärung fUhrt so zur Einsicht in die Bedingtheit des Unbedingten, fUhrt zur Einsicht in die historische Relativität, Dilthey wird darüber aber nicht zum Vertreter eines historischen Relativismus, denn nicht die Relativität, sondern die ,kernhafte< Tatsache des Lebens, die aller Relativität zugrunde liegt, beschäftigt sein Denken, Wie vollzieht sich diese gedankenbildende Arbeit des Lebens? Dilthey gründet seine Philosophie auf die innere Erfahrung des Verstehens, das uns Realität aufschließt, die sich dem Begriff versagt, Alle geschichtliche Erkenntnis ist solches Verstehen. Verstehen aber ist nicht das Verfahren der historischen Wissenschaft allein, sondern ist eine Grundbestimmung des menschlichen Seins. Es beruht darauf, daß wir Erlebnisse haben, deren wir inne sind. In der )Erinnerung< gestalten sich diese Erlebnisse aus zum Verstehen von Bedeutung. Dilthey hat hier an romantische Gedanken angeknüpft,
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wenn er erkennt, daß solches Verstehen von Bedeutung ganz anders strukturiert ist als das Verfahren der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Hier wird nicht von einem zum anderen und wieder zum nächsten fortgegangen, um daraus das Allgemeine zu abstrahieren, sondern das einzelne Erlebnis ist immer schon eine Ganzheit von Bedeutung, ein Zusammenhang. Und wiederum ist das einzelne Erlebnis zwar ein Teil des Ganzen des Lebensverlaufs. Dennoch aber ist seine Bedeutung auf dieses Ganze in einer eigenartigen Weise bezogen. Offenbar ist es nicht so, daß jeweils das Le(zte, was jemand erlebt, die Bedeutung des Lebenszusammenhanges erst vollendet und bestimmt. Der Sinn eines Lebensschicksals ist vielmehr eine eigene Ganzheit, die nicht vom Ende, sondern von einer sinnbildenden Mitte aus gestaltet ist. Nicht um das letzte, sondern um das entscheidende Erlebnis bildet sich die Bedeutung des Zusammenhanges. Ein Augenblick kann ftir ein ganzes Leben entscheidend werden. In Anlehnung an romantische Theorien verdeutlicht Dilthey dieses Verhältnis gern am Verstehen von Musik. Eine Melodie ist zwar eine Abfolge von einzelnen Tönen, und dennoch baut sich die Gestalt der Melodie nicht in der Weise auf, daß sie mit dem Erklingen des letzten Tones erst da wäre. Vielmehr gibt es auch hier bedeutungsvolle Motive, von deren Mitte her sich der Aufbau des Ganzen vollzieht und zur Einheit zusammenschließt. Auch das Verstehen der Geschichte ist solches Verstehen aus einer Mitte. Es mag sein, daß sich der volle Sinn der Geschichte erst in der Universalgeschichte erfüllt. So hat Ernst Troeltsch Diltheys Anliegen einmal formuliert lvon der Relativität zur Totalität(. Aber entscheidend ist auch hier: Totalität ist nicht das vollendete Ganze der bis zur Gegenwart abgelaufenen Geschichte, sondern baut sich von einer Mitte, von einer zentrierenden Bedeutung her auf. Dieser Bedeutungszusammenhang, der sich so bildet, ist in Wahrheit aber zugleich ein Wirkungszusammenhang, das heißt, er ist nicht im Verstehen erst gestaltet, sondern zugleich als Zusammenhang von Kräften wirksam. Geschichte ist immer beides zugleich. Bedeutung und Kraft. Dilthey zeigt etwa, daß eine Epoche einen einheitlichen Bedeutungszusammenhang darstellt. Er nennt diesen Zusammenhang die >Struktun der Zeit. Nun ist es gewiß sinnvoll zu sagen, man müsse alle Erscheinungen dieser Zeit aus ihrer Struktur verstehen. Es kann das Verständnis nicht befriedigen, hier bloße Einflüsse oder Einwirkungen fremder Zeiten oder Umstände zu erkennen. Nur der erfahrt einen Einfluß, der für ihn schon bereit und empfanglieh ist. Diese seine Empfanglichkeit eben ist die Struktur. Umgekehrt aber ist es offenbar eine falsche Einseitigkeit, wenn man die Frage nach solchen historischen Wirkungs linien gänzlich abschneiden will. Am Ende hängt das Erfahren von Einflüssen auch davon ab, daß das nahe und wirksam ist, was diesen Einfluß ausübt, Geschichte ist nicht nur Bedeutungszusammenhang, son-
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dern ein Realzusammenhang von Kräften. Machen wir es uns wiederum arn Beispiel des menschlichen Lebensschicksals klar. Gewiß vollzieht sich ein menschliches Lebensschicksal nach dem Gesetz, nach dem es angetreten ist. Gewiß aber gestalten die Umstände dieses Schicksal mit; Daimon und Kairos, Vor bestimmung und Gelegenheit treten zusammen. Geschichte ist immer Sinn und Wirklichkeit zugleich, Bedeutung und Kraft. Dilthey arbeitet nicht zufallig mit dem Vergleich des ästhetischen Verstehens. Denn eine Voraussetzung trägt seine gesamte Lehre vom geschichtlichen Sein und seinem Gewirktsein aus Kraft und Bedeutung: daß der Abstand des Verstehens gegeben und die Souveränität der geschichtlichen Vernunft möglich ist. So wie das ästhetische Verstehen sich in verstehendem Abstand vollzieht, ist auch das Verstehen der Geschichte auf solchen Abstand gegründet. Eben das begreift nun Dilthey als die Bewegung des Lebens selber, daß die Besinnung aus ihm selbst aufsteigt. Negativ bedeutet das: das Lehen muß frei werden vom Erkennen durch Begriffe, um seine eigenen Objektivationen zu bilden. Gibt es aber solche Freiheit des Verstehens? Seine entscheidende Begründung hat dieser Glaube an das Freiwerden durch historische Aufklärung in einem Strukturmoment des historischen Sclbstbewußtseins: daß das Selbstbewußtsein in einem unendlichen und unumkehrbaren Prozeß begriffen ist. Schon Kant und der Idealismus waren davon ausgegangen: jedes erreichte Wissen von sich selbst vermag wieder Gegenstand eines neuen Wissens zu werden. Wenn ich weiß, so kann ich stets auch wissen, daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unendlich. Für das historische Selbstbewußtsein bedeutet diese Struktur, daß der Geist, der sein Selbstbewußtsein sucht, eben damit sein eigenes Sein ständig verwandelt. Indem er sich begreift, ist er immer schon ein anderer geworden als der, der er war. Machen wir es an einem Beispiel klar: wird sichjemand des Zornes bewußt, der ihn erfüllt, so ist dieses erreichte Selbst bewußtsein immer schon eine Verwandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des eigenen Zornes. Hegel hat in seiner ~Phänomenologie des Geistes( diese Bewegung des Selbstbewußtseins zu sich selbst beschrieben. Während aber Hege! im philosophischen Selbstbewußtsein das absolute Ende dieser Bewegung sah, verwirft Dilthey diesen metaphysischen Anspruch als dogmatisch. Damit öffnet sich ihm die Schrankenlosigkeit der historischen Vernunft. Historisches Verstehen bedeutet ständige Zunahme an Selbstbewußtsein, ständige Erweiterung des Lebenshorizontes. Da gibt es kein Halt und kein Zurück. Diltheys Universalität als Historiker des Geistes berUht eben auf dieser unendlichen Erweiterung des Lebens im Verstehen. Dilthey ist der Denker der historischen Aufklärung. Das geschichtliche Bewußtsein ist das Ende der Metaphysik. Hier liegt der Punkt, an dem die philosophische Forschung heute auf neue Wege gewiesen ist.
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Gibt es diese Freiheit des Verstehens, offenbart sich in ihr der unendliche Zusammenhang des Geschehens als das Wesen der Geschichte? Fragen wir nicht gerade dann nach dem Wesen der Geschichte, wenn wir nach den Grenzen des geschichtlichen Selbst bewußtseins fragen? Auf dem Wege dieser Frage ist Nietzsche vorausgegangen. In der zweiten >Unzeitgemäßen Betrachtung< fragt er nach dem Nutzen und Nachteil der Historie rur das Leben: Er entwirft dort ein erschreckendes Bild von der historischen Krankheit, die seine Zeit befallen habe. Er zeigt, wie alle lebenfordemden Instinkte durch sie zutiefst verderbt sind, wie alle verbindlichen Maßstäbe und Werte dadurch verlorengehen, daß man lernt, mit beliebigen fremden Maßstäben und an immer wieder anderen Werttafe1n zu messen. Nietzsches Kritik ist aber zugleich positiv. Denn er proklamiert den Maßstab des Lebens, der bemißt, wievicl Geschichte eine Kultur ohne Schaden ertragen kann. Historisches Sclbstbewußtsein könne sehr verschiedener Art sein, bewahrend oder Vorbild gestaltend oder Niedergang fUhlcnd. Im rechten Gleichgewicht dieser verschiedenen Arten, Historie zu treiben, müsse sich die plastische Kraft erhalten, durch die eine Kultur allein lebensfahig ist. Sie bedarf eines mit Mythen umstellten Horizontes, sie bedarf also gerade einer Grenzsetzung gegenüber der historischen Aufklärung. Aber gibt es ein Zurück? Oder ist vielleicht gar kein Zurück nötig? Ist der Glaube an die Unendlichkeit des Verstehens der historischen Vernunft vielleicht ein Wahn, eine falsche Selbstinterpretation unseres geschichtlichen Seins und Bewußtseins? Das ist die entscheidende Frage. Es gibt viele Probleme, an denen uns der Glaube an die Schrankenlosigkeit der historischen Vernunft fragwürdig werden kann. Ich erinnere an die Frage nach den Naturkonstanten des geschichtlichen Geistes, seinen biologischen Voraussetzungen. Ich erinnere an die Frage nach dem Anfang der Geschichte. Ist wirklich Geschichte erst dort, wo die Menschheit ein Bewußtsein von sich selbst zu überliefern beginnt? Sind nicht geschichtemachende Entscheidungen dem schon weit vorausgegangen? Gibt es etwa eine Tat von größerer Bedeutung, als die Erfindung des Pfluges es war, die aller geschichtlichen Zeit voraus liegt? Und was ist der Mythos, in dem sich geschichtliche Völker noch vor der Schwelle ihres geschichtlichen Schicksals spiegeln? Aber selbst Diltheys Problem vom geschichtlichen Verstehen erscheint uns heute in einem neuen Licht, seitdem die philosophische Forschung einige entscheidende Schritte über ihn hinaus getan hat. Martin Heidegger hat in .Sein und Zeit< die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in grundsätzliche Fragezusammenhänge gerückt. Er hat das Problem der Geschichte von den ontologischen Voraussetzungen freigemacht, unter denen noch Dilthey die Frage sah. Sein bedeutet, wie er gezeigt hat, nicht notwendig und immer Gegenständlichkeit, vielmehr kommt es gerade darauf an, ),die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem
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herauszuarbciten«(. Das Sein des menschlichen Daseins ist ein geschichtliches. Das bedeutet aber, daß es nicht vorhanden ist wie das Dasein der Gegenstände der Naturwissenschaft, nur hinfälliger und wandelbarer als sie. Vielmehr bedeutet Geschichtlichkeit, d. h. Zeitlichkeit, in ursprünglicherem Sinne Sein als das Vorhandene ist, das die Naturwissenschaft zu erkennen strebt. Historische Vernunft gibt es nur, weil das menschliche Dasein zeitliches und geschichtliches ist. Weltgeschichte gibt es nur, weil dieses zeitliche Dasein des Menschen )Welt hat~. Chronologie gibt es nur, weil das geschichtliche Dasein des Menschen selber Zeit ist. Von dieser Einsicht aus gewinnt Diltheys Lehre einen neuen Aspekt. Zunächst kann gefragt werden, wie es mit dieser Freiheit des Verstehens eigentlich steht. Ist sie nich. ein bloßer Schein' Dilthey glaubt an ein Freiwerden des Verstehens vom Erkennen durch Begriffe, aber meinte er damit nicht bloß die Begriffe einer unglaubhaft gewordenen Metaphysik? Bleibt nicht all unser Verstehen geleitet durch Begriffe? Historisches Verstehen rühmt sich seiner Vorurteilslosigkeit. Aber ist solche Vorurteilslosigkeit nicht immer nur eine bedingte? Hat dieser Anspruch nicht immer nur den polemischen Sinn, von diesem oderjenem Vorurteil frei zu sein? Ja, verdeckt nicht der Anspruch auf Vorurteilslosigkeit (wie es uns auch die menschliche Lebenserfahrung lehrt) in Wahrheit immer die zähe Hartnäckigkeit von Vorurteilen, die uns undurchschaut bestimmen? Wir kennen es aus der Arbeitsweise der Historiker zur Genüge. Sie beanspruchen, kritisch zu sein, d. h. die Quellen und Zeugnisse über eine historische Frage mit derüberlcgenen Gerechtigkeit eines Richters zu verhören, um hinter die Sache zu kommen. Aber liegt nicht solcher vermeintlichen Kritik immer schon die stille Wirksamkeit leitender Vorurteile zugrunde? Am Ende aller Quellen- und Zeugenkritik steht immer ein letzter Maßstab der Glaubwürdigkeit, der von nichts anderem abhängt als davon, was man für möglich hält und zu glauben bereit ist. Ja, am Ende ist noch mehr zu sagen. Wie das wirkliche Leben, so spricht uns auch die Geschichte nur dann an, wenn sie in unser vorgängiges Urteil über Dinge und Menschen und Zeiten hineinspricht. Alles Verstehen von Bedeutsamem setzt voraus, daß wir einen Zusammenhang solcher Vorurteile mitbringen. Heidegger hat diesen Tatbestand als denhermeneutischen Zirkel bezeichnet: wir verstehen nur das, was wir schon wissen, hören nur das heraus, was wir hineinlesen. Am Maßstab der Naturerkenntnis gemessen scheint dies unerträglich. In Wahrheit wird nur dadurch historisches Verstehen möglich. Nicht daraufkomme es an, einen solchen Zirkel zu vermeiden, sondern in der rechten Weise in ihn hineinzukommen. Daraus folgt ein zweites: Bedeutung erschließt sich nicht, wie Dilthey meint, im Abstand des Verstehens, sondern dadurch, daß wir selber in dem Wirkungszusammenhang der Geschichte stehen. Geschichtliches Verstehen ist selber immer Erfahrung von Wirkung und Weiterwirken. Seine Befan-
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genheit bedeutet geradezu seine geschichtliche Wirkungskraft. Das geschichtlich Bedeutende ist daher im handelnden Vollzug selber ursprüngli_ cher als im Verstehen zugänglich. Geschichtliches Dasein hat stets eine Situation, eine Perspektive und einen Horizont. Es ist wie in der Malerei: Perspektive, d. h. die Ordnung der Dinge nach mäher< und ,ferner<, schließt einen Augenpunkt ein, den man einnehmen muß. So aber tritt man in ein Seins verhältnis zu den Dingen und gehört ihrer Ordnung an, indem man sie sich zuordnet. Dann erst wird die Einmaligkeit eines Geschehens, die Erfülltheit des Augenblicks darstellbar. Vor-perspektivische Malerei dagegen zeigt alle Dinge in ausgebreiteter Ewigkeit und im Durchblick auf eine jenseitige Bedeutung. Geschichtliche Wahrheit ist entsprechend nicht das Durchscheinen einer Idee, sondern das Verbindliche einer unwiederholbaren Entscheidung. Nun aber kommt ein drittes hinzu, eine Einsicht, die sich mir selbst immer mehr aufgedrängt hat: Die grenzenlose Freiheit des Verstehens ist nicht nur eine Illusion, die durch philosophische Besinnung aufgedeckt wird; wir erfahren diese Grenze der Freiheit des Verstehens vielmehr selber, indem wir zu verstehen suchen. Dadurch daß sich die Freiheit des Verstehens begrenzen muß, gelangt das Verstehen erst eigentlich zum Wirklichen, dort nämlich, wo es auf sich Verzicht tut, d. h. vor dem Unverständlichen. Ich meine damit nicht irgendeine fromme Bescheidung vor dem U nerforschliehen, sondern ein Element unserer sittlichen Lebenserfahrung, das wir alle kennen: das Verstehen im Verhältnis von Ich und Du. Da lehrt die Erfahrung: nichts steht einer echten Verständigung von Ich und Du mehr im Wege, als wenn jemand den Anspruch erhebt, den anderen in seinem Sein und seiner Meinung zu verstehen. }Verstehend( aller Gegenrede des anderen voraus zu sein, dient in Wahrheit zu nichts anderem, als sich den Anspruch des anderen vom Leibe zu halten. Es ist eine Weise, sich nichts sagen Zu lassen. Wo aber einer imstande ist, sich etwas sagen zu lassen, wo er den Anspruch des anderen gelten läßt, ohne ihn im vorhinein zu verstehen und damit zu begrenzen, gewinnt er an echter Selbsterkenntnis. Dann gerade geht ihm etwas auf. Nicht im souveränen Verstehen also liegt eine echte Erweiterung unseres in die Enge des Erlebens gebannten Ichs, wie Dilthey meint, sondern im Begegnen des Unverständlichen. Vielleicht erkennen wir nie so viel von unserem eignen geschichtlichen Sein, als wenn uns der Hauch ganz fremder Geschichtswelten anweht. Der Grundcharakter des Geschichtlichseienden ist offenbar, bedeutend zu sein, aber dies in dem aktiven Sinne des Wortes; und das Sein zur Geschichte ist, sich etwas bedeuten zu lassen. Zwischen Ich und Du erwächst daraus allein echte Bindung, zwischen uns und der Geschichte bildet sich so allein das Verbindliche des geschichtlichen Schicksals. Von dieser Einsicht her rückt ein Problem in die Mitte der geschichtlichen
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Hermeneutik, das bisher eine fragwürdige Grenzstellung hatte: das Problem des Mythos. Es ist ja das dunkelste aller Probleme der geschichtlichen Methodik. Wie deutet man Mythen, wenn man wissenschaftlich deuten will? Was ist das selbstverständliche und fruchtbare Vorurteil, das man dabei wahrhaben muß? Der Sinn der Mythen, der Sinn der Märchen ist der tiefste. Woran mißt sich ihre Deutung? Wird es hier nicht wahrhaft ftihlbar, daß es keine Methode zum Deuten von Mythen und Märchen gibt? Und heißt das nicht am Ende und in Wahrheit dies, daß wir es gar nicht sind, die die Mythen zu deuten vermögen, weil vielmehr die Mythen uns deuten? In der Tat, sie sind, wo immer sie sprechen, das eigentlich Überlegene, das was alles weiß, das in aller Dunkelheit schlicht und belehrend zu uns spricht. Mythen und Märchen scheinen wie vom Anfang aller Dinge her mit Wissen erfullt, und dennoch sind sie von einer eigenen geschichtlichen Tiefe. Der in ihr Geheimnis eingeweihte Geist ist nicht der unserer historischen Vernunft. Deshalb stehen wir als historische Menschen so hilflos vor dem, was die Kinder ihr eigen nennen. Dennoch untersteht auch unsere aufgeklärte Vernunft noch der Kraft des Mythos. Die geistige Geschichte der Menschheit ist nicht ein Vorgang der Entgötterung der Welt, ist nicht eine Auflösung des Mythos durch den Logos, durch die Vernunft. Dieses Schema beruht auf dem Vorurteil der historischen Aufklärung, auf der naiven Voraussetzung nämlich, daß die Vernunft des Vernünftigen der zureichende Grund daftir ist, daß es siegt und herrscht. In Wahrheit ermöglicht sich die Vernunft nicht selber. Sie ist selbst nur eine geschichtliche Möglichkeit - und Chance. Sie versteht sich selbst nicht und ebensowenig die mythische Wirklichkeit, von der sie vielmehr umfaßt und getragen bleibt. Die Allmacht historischer Aufklärung ist bloßer Schein. Gerade in dem, was dieser Aufklärung widersteht, was eine eigene Dauer steter Gegenwart beweist, liegt das eigentliche Wesen der Geschichte. Mythen sind nicht Masken geschichtlicher Wirklichkeit, die die Vernunft den Dingen abziehen könnte, um sich als historische Vernunft zu vollenden. Sie offenbaren vielmehr die eigentliche Kraft der Geschichte. Der Horizont unseres eigenen Geschichtsbewußtseins ist nicht die mythenleere, unendliche Wüste des aufgeklärten Bewußtseins. Diese Aufgeklärtheit ist vielmehr geschichtlich bedingt und begrenzt, eine Phase im Vollzug unseres Schicksals. Sie mißversteht sich selbst, wenn sie sich als die schicksallose Freiheit des historischen Bewußtseins denkt. Das aber heißt: Geschichte ist, was wir je waren und sind. Sie ist das Verbindliche unseres Schicksals.
3. Wahrheit in den Geisteswissenschaften 1953
Die Geisteswissenschaften haben es nicht leicht, fur die Art ihrer Arbeit bei der größeren Öffentlichkeit das rechte Verständnis zu finden. Was in ihnen Wahrheit ist, was bei ihnen herauskommt, ist schwer sichtbar zu machen. Immerhin wäre es leichter auf solchen Gebieten der Geisteswissenschaften, deren Gegenstände von sinnfalliger Art sind. Wenn ein Nationalökonom heute von der Bedeutung seiner Arbeit rur die öffentliche Wohlfahrt zu sprechen hätte, so wäre ihm ein allgemeines Verständnis gewiß. Ebenso wäre es, wenn ein Kunstwissenschaftler etwas Schönes vor uns hinstellte, selbst wenn es nur die Ausgrabung von etwas sehr Altem wäre. Denn auch das sehr Alte erweckt eine merkwürdige Art von allgemeinem Interesse. Dem Philosophen steht es dagegen an, statt sichtbarer oder allgemein überzeugender Resultate das Bedenkliche und Nachdenkliche zur Sprache zu bringen. das sich in der Arbeit der Geisteswissenschaften dem Denkenden darbietet.
Der moderne Wissenschaftsbegriffist von der Entwicklung der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts geprägt worden. Ihr verdanken wir eine steigende Beherrschung der Natur, und so erwartet man auch von der Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft, daß sie eine ähnliche Beherrschung der menschlich-geschichtlichen Welt leistet. Ja, man erwartet von den Geisteswissenschaften noch mehr, seit die steigende Beherrschung der Natur, die wir der Wissenschaft verdanken, das Unbehagen an der Kultur eher mehrt als mindert. Die naturwissenschaftlichen Methoden erfassen nicht alles Wissenswerte, nicht einmal das am meisten Wissenswerte, nämlich die letzten Zwecke, denen alle Beherrschung der Mittel der Natur und des Menschen zu dienen haben. Es sind Erkenntnisse von anderer Art und anderem Rang, die man von den Geisteswissenschaften und der Philosophie, die in ihnen liegt, erwartet. Und so liegt es nahe, statt von dem Gemeinsamen, das der Gebrauch wissenschaftlicher Methoden rur alle Wissenschaft darstellt, einmal von dem Einzigartigen zu sprechen, das uns die Geisteswissenschaften so bedeutsam und so bedenklich macht.
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1. Was ist denn eigentlich das Wissenschaftliche an den Geisteswissenschaften? Kann man überhaupt den Begriff der Forschung ohne weiteres auf sie anwenden? Denn was darin gedacht ist, das Aufspüren von Neuern, noch nie Erkanntem, die Bahnung eines sicheren, von aBen nachkontrollierbaren Weges zu diesen neuen Wahrheiten, a11 das scheint hier erst in zweiter Linie zu kommen. Die Fruchtbarkeit einer geisteswissenschaftlichen Erkenntnis scheint der Intuition des Künstfcrs näher verwandt als dem methodischen Geist der Forschung. Sicherlich wird man aller genialen Leistung, aufjedem Gebiet der Forschung, das gleiche nachsagen dürfen. Aber in der methodischen Arbeit der Naturforschung wächst doch immer wieder neue Einsicht zu, und insofern steckt in der Handhabung der Methoden die Wissenschaft selbst. Handhabung von Methoden gehört nun gewiß auch zur Arbeit der Geisteswissenschaften. Sie zeichnet sich vor der popularwissenschaftlichen Belletristik ebenfalls durch eine gewisse Nachprüfbarkeit aus, - aber all das betrifft mehr die Materialien als die aus ihnen gezogenen Folgerungen. Es ist hier nicht so, daß die Wissenschaft durch ihre Methodik Wahrheit zu sichern vermöchte. Hier kann sogar einmal im unwissenschaftlichen Werk des Dilettanten mehr Wahrheit sein als in noch so methodischer Stoffauswertung. In der Tat ließe sich zeigen, daß die Entwicklung der Geisteswissenschaften in den letzten hundert Jahren sich zwar das Vorbild der Naturwissenschaften ständig vor Augen hielt, daß aber ihre stärksten und wesentlichsten Impulse nicht aus dem großartigen Pathos dieser Erfahrungswissenschaften stammten, sondern aus dem Geist der Romantik und des deutschen Idealismus. Es ist in ihnen ein Wissen um die Grenzen der Aufklärung und der Methode in der Wissenschaft lebendig. 2. Aber wird das, wodurch sie uns so bedeutsam sind, wird das Wahrheitsbedürfnis des menschlichen Herzens durch sie wirklich befriedigt' Indem sie die weiten Räume der Geschichte forschend und verstehend durchdringen, erweitern sie zwar den geistigen Horizont der Menschheit um das Ganze ihrer Vergangenheit, aber das Wahrheitsstreben der Gegenwart wird so nicht nur nicht befriedigt, es wird sich selber gleichsam bedenklich. Der historische Sinn, den die Geisteswissenschaften in sich ausbilden, bringt ejne Gewöhnung an wechselnde Maßstäbe mit sich, die im Gebrauch der eigenen Maße zur Unsicherheit fuhrt. Schon Nietzsche hat in seiner zweiten >Unzeitgemäßen Betrachtung( nicht nur vom Nutzen, sondern auch vom Nachteil der Historie für das Leben gewußt. Der Historismus, der überall geschichtliche Bedingtheit sieht, hat den pragmatischen Sinn der geschichtlichen Studien zerstört. Scine verfeinerte Kunst des Verstehens schwächt die Kraft zu unbedingter Wertung, in der die sittliche Realität des Lebens besteht. Seine erkenntnistheoretische Zuspitzung ist dcr Relativismus, seine Konsequenz der Nihilismus.
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Die Einsicht in die Bedingtheit aller Erkenntnis durch die geschichtlichen und gesellschaftlichen Mächte, die die Gegenwart bewegen, ist aber nicht nur eine theoretische Schwächung unseres Erkenntisglaubens, sondern bedeutet auch eine tatsächliche Wehrlosigkeit unserer Erkenntnis gegenüber den Willensmächten des Zeitalters. Die Geistes\vissenschaften werden Von diesen Tendenzen in ihren Dienst gestellt, werden abgeschätzt auf den Machtwert hin, den ihre Erkenntnisse gesellschaftlich, politisch, religiös oder wie immer bedeuten. So verstärken sie den Druck, den die Macht auf den Geist ausübt. Sie sind gegen jede Art von Terror unvergleichlich viel anfalliger als die Naturwissenschaften, weil es bei ihnen keine Maßstäbe gibt, die mit so beneidenswerter Sicherheit wie dort das Echte und Rechte vom zweckhaft Verborgenen und Vorgeblichen unterscheiden. So gerät die letzte sittliche Gemeinsamkeit, die sie mit dem Ethos aller Forschung verbindet, in Gefahr. Wer diese Bedenken, die der Wahrheit in den Geisteswissenschaften anhaften, in ihrer ganzen Bedenklichkeit ermißt, wird sich vor allem in einem Kreise von Naturforschern und durch die N atunvissenschaft in ihrer Vorstellungs welt bestimmten Laien gerne auf einen unverdächtigen Zeugen berufen: Der große Physiker Hermann Helmholtz hat vor etwa hundert Jahren eimnal über den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gesprochen. Die Gerechtigkeit und die weitblickende Überlegenheit, mit der er der besonderen Art der Geisteswissenschaften dabei Rechnung trug, verdienen noch heute Beachtung. Zwar hat auch er die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften an den Methoden der Naturwissenschaften gemessen und von ihnen her beschrieben, und es ist daher verständlich, daß der ahnungsvolJc Kurzschluß, mit dem sie zu ihren Ergebnissen kommen, sein logisches Bedürfnis nicht befriedigen konnte. Aber er sah, daß dies die Weise ist, in der die Geisteswissenschaften tatsächlich zur Wahrheit gelangen, und daß es also noch andersartiger menschlicher Bedingungen bedarf, damit solche Kurzschlüsse schließen. Was alles an Gedächtnis, Phantasie, Takt, musischer Sensibilität und Welterfahrung dazugehört, das ist freilich anderer Art als die Apparatur, deren der Naturforscher bedarf, aber es ist nicht minder eine Art Instrumentarium, nur daß es nicht beschafft werden kann, sondern dadurch zuwächst, daß einer sich in die große Überlieferung der menschlichen Geschichte hineinstellt. Hier gilt daher nicht nur die alte Parole der Aufklärung: Habe den Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen - hier gilt gerade auch das Gegenteil: Autorität. Man muß nur richtig denken, was damit gemeint ist. Autorität ist nicht die Überlegenheit einer Macht, die blinden Gehorsam fordert und das Denken verbietet. Das wahre Wesen der Autorität beruht vielmehr darauf, daß es nicht unvernünftig, ja, daß es ein Gebot der Vernunft selbst sein kann, im anderen überlegene, das eigene Urteil übersteigende Einsicht vorauszu-
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setzen. Der Autorität gehorchen heißt einsehen, daß der andere - und so auch die andere aus Überlieferung und Vergangenheit tönende Stimme etwas besser sehen kann als man selbst. Jeder der den Weg in die Geisteswissenschaften als junger Anfan!';er gesucht hat, kennt das aus Erfahrung. Ich selbst erinnere mich, wie ich mit einem erfahrenen Gelehrten als Anfanger in einer wissenschaftlichen Frage disputierte, in der ich gut Bescheid zu wissen meinte. Da wurde ich plötzlich von ihm über eine Sache belehrt, die ich nicht wußte und fragte ihn ganz erbittert: woher wissen Sie das? Seine Antwort war: wenn Sie so alt sein werden wie ich, werden Sie es auch wissen. Das war eine richtige Antwort. Aber wer würde wohl als Lehrer der Naturwissenschaft oder als Lernender das fUr eine Antwort halten? Wir wissen zumeist nicht zu sagen, warum diese oder jene philologische oder historische Vermutung eines AnHingers )unmöglich{ ist. Es ist eine Frage des Taktes, der durch unermüdlichen Umgang mit den Dingen erworben, aber nicht gelehrt und nicht andemonstriert werden kann. Dennoch ist es in solcher pädagogischer Situation fast ausnahmslos gewiß, daß der erfahrene Lehrer Recht und der Anfanger Unrecht hat. Freilich hängt mit diesen besonderen Wahrheits bedingungen zusammen, daß wir auch der Forschung gegenüber keine absolut sicheren Maßstäbe haben, durch die sich echte Leistung und leere Prätention scheiden lassen, ja, daß wir oft an uns selber zweifeln, ob, was wir sagen, die Wahrheit, die wir meinen, wirklich noch enthält. II
Auf Überlieferung hören und in Überlieferung stehen, das ist offenbar der Weg der Wahrheit, den es in den Geisteswissenschaften zu finden gilt. Auch alle Kritik an der Überlieferung, zu der wir als Historiker gelangen, dient am Ende dem Ziele, sich an die echte Überlieferung, in der wir stehen, anzuschließen. Bedingtheit ist also nicht eine Beeinträchtigung geschichtlicher Erkenntnis, sondern ein Moment der Wahrheit selbst. Sie muß selbst mit gedacht sein, wenn man ihr nicht beliebig anheimfallen will. Es muß geradezu hier als )wissenschaftlich< gelten, das Phantom einer vom Standort des Erkennenden abgelösten Wahrheit zu zerstören. Das gerade ist das Zeichen unserer Endlichkeit, deren eingedenk zu bleiben allein vor Wahn zu bewahren vermag. So war der naive Glaube an die Objektivität der historischen Methode ein solcher Wahn. Aber was an seine Stelle tritt, ist nicht ein matter Relativismus. Es ist ja nicht beliebig und nicht willkürlich, was wir selber sind, und was wir aus der Vergangenheit zu hören vermögen. Was wir geschichtlich erkennen, das sind wir im letzten Grunde selbst. Geisteswissenschaftliche Erkenntnis hat immer etwas von Selbsterkenntnis an sich. Nirgends ist Täuschung so leicht und so naheliegend wie in der
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Selbsterkenntnis, nirgends aber bedeutet es auch, wo sie gelingt, so viel fUr das Sein des Menschen. So gilt es in den Geisteswissenschaften, nicht nur uns selbst, wie wir uns schon kennen, aus der geschichtlichen Überlieferung herauszuhören, sondern gerade auch etwas anderes: Es gilt, einen Anstoß von ihr zu erfahren, der uns über uns selbst hinausfUhrt. Deshalb verdient hier nicht das Unanstößige einer unsere Erwartung einfach befriedigenden Forschung unsere eigentliche Förderung, sondern es gilt zu erkennen gegen uns selbst -, wo neue Anstöße gegeben werden. Das Nachdenken über diese beiden Bedenken enthält aber auch unmittelbare praktische Konsequenzen für unsere Arbeit. Wer die Geisteswissenschaften fOrdern will, wird nur in seltenen Fällen Sachbeihilfen leisten können. Hier kann nur Menschen geholfen werden, mir all der Unsicherheit, die das dort einschließt, wo der Maßstab ihrer Leistung so wenig kontrollierbar ist. Und daß nicht die unanstößige Forschung unsere eigentliche Förderung verdient, stellt uns vor die kaum lösbare Aufgabe, der keine noch so freiheitliche Form der Verwaltung genügen kann, das Neue und Fruchtbare zu erkennen, das wir selbst nicht sehen, weil wir unsere eigenen Wege vor Augen haben, III
Es folgt aber aus unseren Überlegungen, warum die Lage der Geisteswissenschaften im Massenzeitalter so besonders prekär ist. In einer durchorganisierten Gesellschaft spielt sich jede Interessengruppe nach dem Maße ihrer ökonomischen und sozialen Macht aus. Sie wertet auch die wissenschaftliche Forschung danach, wieweit deren Ergebnisse ihrer eigenen Macht nützen oder schaden. Insofern hat jede Forschung Hir ihre Freiheit zu furchten, und gerade der Naturforscher weiß, daß seine Erkenntnisse es schwer haben können, sich durchzusetzen, wenn sie herrschenden Interessen abträglich sind. Der Interessendruck der Wirtschaft und der Gesellschaft lastet auf der Wissenschaft. In den Geisteswissenschaften aber greift dieser Druck sozusagen von innen an. Sie sind selber in der Gefahr, das flir wahr zu halten, was den Interessen dieser Mächte entspricht. Weil ihrer Arbeit ein Moment der Ungewißheit anhaftet, ist ihnen die Zustimmung anderer von besonderem Gewicht. Das werden, wie überall, die Fachleute, wenn sie }Autoritäten( sind, sein. Aber weil ihre Arbeit der besonderen Anteilnahme aller sicher ist, ist die Zusalumenstimmung mit dem Urteil der Öffentlichkeit, ist die Resonanz, die die eigene Forschung dort fmdet, oft schon in der unbewußten Intention des Forschers mitgemeint. So ist zum Beispiel das vaterländische Interesse in der politischen Geschichtsschreibung besonders gegenwärtig. Wie weit sich das gleiche geschichtliche Ereignis auch unter ernsten
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Forschern verschiedener Nationalität differenziert, ist allbekannt. Das geschieht nicht aus der Berechnung der Wirkun~ sondern aus innerer Zugehörigkeit, die den Standpunkt vorgibt. Wie leicht abcr kehrt sich derartiges um, so daß einer sich auf den Standpunkt zu stellen sucht, der der öffentlichen Wirkung günstig ist. Nun muß man aber erkennen, daß das nicht eine beiläufige Entartung ist, wie sie immer einmal angesichts der menschlichen Schwäche vorkOIDInt, sondern daß es geradezu die Signatur unserer Zeit ist, aus dieser allgemeinen Schwäche ein System der Macht- und Herrschaftsübung entwickelt zu haben. Wer dic technischen Mittel des Nachrichtendienstes in der Hand hat, der entscheidet nicht nur, was publik werden darf - mit der Steuerung der Publizität hat cr zugleich die Möglichkeit einer Manipulation der öffentlichen Meinung zu seinen Z\vecken. Gerade weil wir viel abhängiger sind in unserer Urteilsbildung als es unserer durch die Aufklärung begründeten Selbsteinschätzung entspricht, ist dieses Machtmittel von so dämonischer Stärke. Denn wer sich seine Abhängigkeit nicht eingesteht und sich frei glaubt, wo er es nicht ist, der wacht über seinen eigenen Fesseln. Selbst der Terror beruht darauf, daß die Terrorisierten sich selbst terrorisieren. Es ist die verhängnisvollste Erfahrung, die die Menschheit in diesemjahrhundert gemacht hat, daß die Vernunft selbst bestechlich ist. Die Geistes\vissenschaften, die das im besonderen an sich erfahren, besitzen aber dadurch auch die besondere Möglichkeit, sich der Verftihrungen der Macht und der Bestechung ihrer Vernunft zu envehren. Denn ihre Selbsterkenntnis verlegt ihnen den Weg, von noch mehr Wissenschaft das zu erwarten, was sie bisher noch nicht zu leisten vermögen. Das Ideal einer vollendeten Aufklärung hat sich selbst widerlegt, und gerade damit gewinnen die Geisteswissenschaften ihren besonderen Auftrag: in der wissenschaftlichen Arbeit der eigenen Endlichkeit und geschichtlichen Bedingtheit beständig eingedenk zu bleiben und der Selbstapotheose der Aufklärung zu widerstehen. Sie können sich nicht von der Verantwortung entlasten, die daraus entsteht, daß Wirkung von ihnen ausgeht. Entgegen aller Manipulation der Meinung durch die gesteuerte Publizität der modernen Welt üben sie über Familie und Schule einen unmittelbaren Einfluß auf die heranwachsende Menschheit aus. Wo in ihnen Wahrheit ist, zeichnen sie die unverlöschliehe S pur der Freiheit. Es sei abschließend an eine Einsicht erinnert, die schon Platon vermittelt hat: Er nennt die Wissenschaften, die in logoi, in Reden bestehen, Nahrung der Seele, so wie die Speisen und Getränke Nahrung des Leibes sind. ))Man sollte daher bei ihrem Kauf nicht minder mißtrauisch sein, daß man nicht schlechte Ware aufgeschwatzt bekommt. Ja, es ist doch sogar eine weit größere Gefahr beim Kauf von Wissen als beim Kauf von Speisen. Denn die Speisen und Getränke, die einer vom Kaufmann gekauft hat, kann er in
Wahrheit in den Geistcs\visscnschaftcn
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besonderen Gef;;ißen nach Hause schaffen, und bevor er sie sich trinkend und essend einverleibt, kann er sie zuhaus abstellen und sich beraten, unter Herbeiziehung des Kundigen, was man essen oder trinken solle und was nicht und wie viel und wann. Daher ist in dem Kauf die Gefahr nicht groß. Wissen aber kann man nicht in einem besonderen Gefaß \vegschaffen, sondern es ist unvermeidlich, daß man das Wissen, wenn man den Preis erlegt hat, unmittelbar in die Seele selbst aufnimmt und so belehrt davongeht - sei es zum Schaden, sei es zum Guten. «2 Der platonische Sokrates \varnt mit diesen Worten einen jungen Mann, sich ohne Bedenken dem Unterricht eines der bewunderten Weisheitslehrer seiner Zeit anzuvertrauen. Er sieht die zweideutige Stellung, die dem in logoi, in Reden bestehenden Wissen anhaftet, zwischen Sophistik und wahrer Philosophie, Aber er erkennt auch die besondere Bedeutung, die dem rechten Entscheid hier zukommt. Diese Erkenntnis sei auf die Frage nach der Wahrheit in den Geisteswissenschaften angewendet. Sie sind im Ganzen der Wissenschaften dadurch ein Besonderes, daß auch ihre angeblichen oder wirklichen Erkenntnisse unmittelbar al1e menschlichen Dinge bestimmen, sofern sie von selbst in menschliche Bildung und Erziehung übergehen, Es gibt kein Mittel, das Wahre und das Falsche in ihnen zu unterscheiden, als wiederum das, dessen sie sich selbst bedienen: logoi, Reden, Und doch kann in diesem Mittel das höchste an Wahrheit, das Menschen erreichbar ist, seinen Ort nehmen. Was ihre Bedenklichkeit ausmacht, ist in Wahrheit ihre eigentliche Auszeichnung: sie sind lOROi, Reden, mur< Reden.
, [Prot. 314 abi
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Unmittelbar aus dem Sinn der geschichtlichen Situation verstanden, schließt die Pilatusfrage ,Was ist Wahrheit'. Ooh. 18.38) das Problem der Neutralität in sich. So wie das Wort in der staatsrechtlichen Situation des damaligen Palästina von dem Prokurator Pontius Pilatus gesprochen wird, will es sagen, daß das, was von einem Mann wie Jesus als Wahrheit behauptet wird, den Staat überhaupt nichts angehe. Die liberale und tolerante Stellung, die damit die Staatsgewalt der Situation gegenüber einnimmt, hat etwas sehr Merkwürdiges. Wir würden uns vergeblich nach Ähnlichem in der antiken oder auch der modernen Staaten welt bis hin zu den Tagen des Liberalismus umsehen. Es ist die besondere staatsrechtliche Situation einer zwischen einem jüdischen )König< und einem römischen Prokurator schwebenden Staatsgewalt, die eine solche Haltung der Toleranz überhaupt möglich machte. Vielleicht ist der politische Aspekt der Toleranz immer ein ähnlicher; dann besteht clie politische Aufgabe, die das Ideal der Toleranz stellt, eben darin, ähnliche Glcichgewichtslagen der Staats macht herbeizuführen. Es wär eine Illusion, wenn man glaubte, dieses Problem gebe es im modernen Staat nicht mehr, weil dieser Staat die Freiheit der Wissenschaft prinzipiell anerkenne. Denn die Berufung auf sic bleibt stets eine gefahrliehe Abstraktion. Sie entbindet den Forscher nicht von seiner politischen Verantwortung, sobald er aus der Stille der Studierstube und dem vor dcm Eintritt Unbefugter geschützten Laboratorium heraustritt und seine Erkenntnisse der Öffentlichkeit mitteilt. So unbedingt und eindeutig die Idee der Wahrheit das Leben des Forschers beherrscht, so beschränkt und vieldeutig ist doch die Unverhohlenheit, mit der er spricht. Er muß wissen und verantworten, was sein Wort bewirkt. Die dämonische Kehrseite dieses Zusammenhanges aber ist, daß er im Blick auf diese Wirkung in Versuchung gerät, zu sagcn, ja als Wahrheit sich selbst einzureden, was ihm in Wirklichkeit die öffentliche Meinung oder die Machtinteressen des Staates diktieren. Es gibt hier einen inneren Zusammenhang zwischen der Schranke der Meinungsäußerung und der Unfreiheit im Denken selbst. Wir wollen uns nicht verbergen, daß die Frage ~Was ist Wahrheit?< in dem Sinne, in dem Pilatus sie stellte, noch heute unser Leben bestimmt.
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Es gibt aber noch einen anderen Ton, in dem wir dieses Pilatuswort zu hören gewöhnt sind, den Ton, in dem etwa Nietzsche dieses Wort gehört hat, wenn er sagt, daß es überhaupt das einzige Wort des Neuen Testaments sei, das Wert habe. Danach spricht aus dem Wort des Pilatus eine skeptische Abwendung von dem >Eiferer<. Nicht zufallig hat es Nietzsche zitiert. Denn auch seine eigene Kritik, die er am Christentum seiner Zeit übt, ist die Kritik eines Psychologen an dem Eiferer. Nietzsche hat diese Skepsis zu einer Skepsis gegen die Wissenschaft zugespitzt. In der Tat hat die Wissenschaft dies mit dem Eiferer gemein, daß sie, weil sie stets Beweise verlangt und Beweise gibt, ebenso intolerant ist \vieer. Niemand ist so unduldsam wie der, der beweisen will, daß das, was cr sagt, das Wahre sein müsse, Nach Nietzsche ist die Wissenschaft intolerant, \~leil sie überhaupt ein Symptom der Schwäche sei, ein Spätprodukt des Lebens, ein Alcxandrinertum, Erbe jener Dekadenz, die Sokrates, der Erfinder der Dialektik, in eine Welt brachte, in der es noch keine )Unanständigkeit des Beweisens( gab, sondern in der eine vornehme Selbstgewißheit beweislos anweist und sagt. Diese psychologische Skepsis gegen die Behauptung von Wahrheit trifft freilich nicht die Wissenschaft selbst. Darin wird niemand Nietzsche folgen. Aber es gibt in der Tat auch einen Zweifel an der Wissenschaft als solcher, der als eine dritte Schicht rur uns hinter dem Worte )Was ist Wahrheit?~ sich auftut. Ist die Wissenschaft wirklich, wie sie von sich beansprucht, die letzte Instanz und der alleinige Träger der Wahrheit? Wir verdanken der Wissenschaft Befreiung von vielen Vorurteilen und Desillusionierung gegenüber vielen I11usionen. Immer wieder ist der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft der, ungeprüfte Vorurteile fraglich zu machen und auf diese Weise besser zu erkennen, was ist, als das bisher erkannt wurde. Zugleich aber ist fUr uns, je weiter sich das Verfahren der Wissenschaft über alles, was ist, ausbreitet, desto zweifelhafter geworden, ob von den Voraussetzungen der Wissenschaft aus die Frage nach der Wahrheit in ihrer vollen Weite überhaupt zugelassen wird, Wir fragen uns besorgt: wie weit liegt es gerade am Verfahren der Wissenschaft, daß es so viele Fragen gibt, auf die wir Antwort wissen müssen und die sie uns doch verbietet? Sie verbietet sie aber, indem sie sie diskreditiert, d. h. rur sinnlos erklärt. Denn Sinn hat rur sie nur, was ihrer eigenen Methode der Wahrheitsermittlung und der Wahrheitsprüfung genügt. Dieses Unbehagen gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft regt sich vor allem in Religion, Philosophie und Weltanschauung. Sie sind die Instanzen, auf die sich die Skeptiker gegen die Wissenschaft berufen, um die Grenze der wissenschaftlichen Spezialisierung und die Grenze der methodischen Forschung angesichts der entscheidenden Lebensfragen zu markieren. Wenn wir so die Pilatusfrage in ihren drei Schichten einleitend durchwan-
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dert haben, so wird einleuchten, daß die letzte Schicht, in der die innere Beziehung von Wahrheit und Wissenschaft zum Problem wird, die ftir uns wichtigste darstellt. So gilt es zunächst, das Faktum zu würdigen, daß die Wahrheit mit der Wissenschaft überhaupt eine so bevorzugte Bindung eingegangen ist. Daß es die Wissenschaft ist, die die abendländische Zivilsation in ihrer Eigenart und bald auch in ihrer beherrschenden Einigkeit ausmacht, sieht jeder. Aber \\'enn man diesen Zusammenhang begreifen will, muß man auf die Ursprünge dieser abendländischen Wissenschaft, das heißt auf ihre griechische Herkunft zurückgehen. Griechische Wissenschaft,das ist etwas Neucs gegenüber allem, was vordem die Menschen wuRten und als Wissen pflegten. Als die Griechen diese Wissenschaft ausbildL\l'll, haben sie das Abendland vom Orient geschieden und auf seinen eigenen Weg gebracht. Es war ein einzigartiger Drang nach Kenntnis, Erkenntnis, Erforschung des Unbekannten, Seltsamen, Wunderbaren, und eine ebenso einzigartige Skepsis gegen das, was man sich erzählt und als wahr ausgibt, was sie dazu bestimmt hat, die Wissenschaft zu erschaffen. Als lehrreiches Beispiel mag eine Homerszene gelten: Tclemach wird gefragt, wer er sei, und antwortet darauf: )meine Mutter heißt Penelope, wer aber mein Vater ist, das kann man ja nie genau wissen. Die Leute sagen, es sei Odysseus<. Solche Skepsis, die bis ins Äußerste geht, offenbart die besondere Begabung des griechischen Menschen, die Unmittelbarkeit seines Erkenntnisdurstes und seines Verlangens nach Wahrheit zur Wissenschaft fortzubilden. Es vermittelte daher eine schlagende Erkenntnis, als Heidegger in unserer Generation auf den Sinn des griechischen Wortes für Wahrheit zurückgriff. Das war keine erstmalige Erkenntnis Heideggers, daß Aletheia eigentlich Unverborgenheit heißt. Aber Heidegger hat uns gelehrt, was es rur das Denken des Seins bedeutete, daß es die Verborgenheit und die Verhohlenheit der Dinge ist, der die Wahrheit wie ein Raub abgewonnen werden muß. Verborgenheit und Verhohlcnheit - beides gehört zusammen. Die Dinge halten sich von sich selbst aus in der Verborgenheit; »die Natur liebt es, sich zu verbergen«, soll Heraklit gesagt haben. Ebenso aber gehärt zum menschlichen Tun und Reden die Verhohlenheit. Denn die menschliche Rede gibt nicht alles Wahre weiter, sie kennt auch Schein, Trug und Vorgebliches. Es besteht also ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen wahrem Sein und wahrer Rede. Die Unverborgenheit des Seienden kommt in der Unverhohlenheit der Aussage zur Sprache. Die Weise der Rede, die diesen Zusammenhang am reinsten vollzieht, ist die Lehre. Wir haben uns dabei klarzumachen, daß es ftir uns gewiß nicht die einzige und primäre Erfahrung der Rede ist, daß sie lehrt, wohl aber ist es diejenige Erfahrung von Rede, die von den griechischen Philosophen zuerst gedacht worden ist, und die die Wissenschaft mit allen ihren Möglichkeiten
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heraufgerufen hat. Rede, logos, wird oft auch mit Vernunft übersetzt, zu Recht, sofern es für die Griechen schnell einsichtig war, daß das, was in der Rede primär gewahrt und geborgen ist, die Dinge selbst in ihrer Verständlichkeit sind. Es ist die Vernunft der Dinge selber, die sich in einer spezifischen Weise des Redens darstellen und mitteilen läßt. Diese Weise des Redens nennt man Aussage oder Urteil. Der griechische Ausdruck dafür ist apophansis. Die spätere Logik hat dafur den Begriff des Urteils gebildet. Das Urteil ist dadurch bestimmt, im Unterschied zu allen anderen Weisen des Redens nur wahr sein zu wollen, sich ausschließlich daran zu messen, daß es ein Seiendes offenbar macht, wie es ist. Es gibt Befehl, es gibt Bitte, Fluch, es gibt das ganz rätselhafte Phänomen der Frage, über das noch etwas zu sagen sein wird, kurz, es gibt unzählige Formen von Rede, in denen allen auch so etwas wie Wahrsein liegt. Aber sie alle haben nicht ausschließlich ihre Bestimmung darin, Seiendes zu zeigen, \\-'ie es ist. Was ist das für eine Erfahrung, welche Wahrheit ganz auf das Zeigen in der Rede stellt' Wahrheit ist Unverborgenheit. Vorliegcnlassen des Unverborgenen, Offenbarmachen ist der Sinn der Rede. Man legt vor und auf diese Weise liegt vor, dem anderen eben so mitgeteilt, wie es einem selber vorliegt. So sagt Aristoteles: ein Urteil ist wahr, wenn es zusammen vorliegen läßt, was in der Sache auch zusammen vorliegt; ein Urteil ist falsch, wenn es in der Rede zusammen vorliegen läßt, was in der Sache nicht zusammen vorliegt. Wahrheit der Rede bestimmt sich also als Angemessenheit der Rede an die Sache, das heißt als Angemessenheit des Vorliegenlassens durch die Rede an die vorliegende Sache. Daher stammt die aus der Logik wohl vertraute Definition der Wahrheit, sie sei adaequatio intellectus ad rem. Dabei ist als fraglos selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Rede, das heißt der intellectus der sich in der Rede ausspricht, die Möglichkeit hat, sich so anzumessen, daß nur das, was vorliegt, in dem, was einer sagt, zur Sprache kommt, daß sie also wirklich die Dinge so zeigt, wie sie sind. Wir nennen das in der Philosophie im Blick darauf, daß es auch andere Möglichkeiten von Wahrheit der Rede gibt, die Satzwahrheit. Der Ort der Wahrheit ist das Urteil. Das mag eine einseitige Behauptung sein, für die AristoteIes kein eindeutiger Zeuge ist. Aber sie hat sich aus der griechischen Lehre vom Logos entwickelt und liegt deren Entfaltung zum neuzeitlichen Begriff der Wissenschaft zugrunde. Die durch die Griechen geschaffene Wissenschaft stellt sich zunächst ganz anders dar, als es unserem Begriff von Wissenschaft entspricht. Nicht Naturwissenschaft, geschweige denn Geschichte, sondern Mathematik ist die eigentliche Wissenschaft. Denn ihr Gegenstand ist ein rein rationales Sein, und insofern ist sie ein Vorbild aller Wissenschaft, weil sie in einem geschlossenen deduktiven Zusammenhange darstellbar ist. Für die moderne Wissenschaft dagegen ist kennzeichnend, daß fur sie die MatheJ
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matik nicht durch das Sein ihrer Gegenstände vorbildlich ist, sondern als vollkommenste Erkenntnisweise. Die neuzeitliche Gestalt der Wissenschaft vollzieht einen entscheidenden Bruch mit den Wissensgestalten des griechischen und christlichen Abendlandes. Es ist der Gedanke der Methode, der jetzt beherrschend wird. Methode im neuzeitlichen Sinne ist aber bei aller Vielf;iltigkeit, die sie in den verschiedenen Wissenschaften haben kann, eine einheitliche. Das Erkenntnisideal, das durch den Begriff der Methode bestimmt ist, besteht darin, daß wir einen Weg des Erkennens so bewußt ausschreiten, daß es immer möglich ist, ihn nachzuschreiten. Methodos heißt ~Weg des Nachgehens<. Immer wieder Nachgehen-können, wie man gegangen ist, das ist methodisch und zeichnet das Verfahren der Wissenschaft aus. Eben damit aber wird mit Notwendigkeit eine Einschränkung dessen vorgenommen, was überhaupt mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten kann. Wenn Nachprüfbarkeit - in welcher Form auch immer Wahrheit (veritas) erst ausmacht, dat1n ist der Maßstab, mit dem Erkenntnis gemessen wird, nicht mehr ihre Wahrheit, sondern ihre Gewißheit. Daher gilt seit der klassischen Formulierung der Gewißheitsregel des Descartes als das eigentliche Ethos der modernen Wissenschaft, daß sie nur das als den Bedingungen der Wahrheit genügend zuläßt, was dem Ideal der Gewißheit genügt. Dieses Wesen moderner Wissenschaft ist fur unser ganzes Leben bestimmend. Denn das Ideal der Verifikation, die Begrenzung des Wissens auf das Nachprütbare, findet seine Erfullung im Nachmachen. So ist es die moderne Wissenschaft, aus deren Schrittgesetz die ganze Welt der Planung und der Technik erwächst. Das Problem unserer Zivilisation und der Nöte, die ihre Technisierung uns bereitet, ist nicht etwa darin gelegen, daß es an der rechten Zwischeninstanz zwischen der Erkenntnis und der praktischen Anwendung fehle. Gerade die Erkenntnisweise der Wissenschaft selber ist so, daß sie eine solche Instanz unmöglich macht. Sie ist selber Technik. Nun ist das eigentlich Nachdenkliche an dem Wandel, den der Begriff der Wissenschaft mit dem Beginn der Neuzeit erfahren hat, daß sich in diesem Wandel gleichwohl der grundlegende Ansatz des griechischen Seinsdenkens erhält. Die moderne Physik setzt die antike Metaphysik voraus. Daß Heidegger diese von weither kommende Prägung des abendländischen Denkens erkannt hat, macht seine eigentliche Bedeutung ftir das geschichtliche Selbstbewußtsein der Gegenwart aus. Denn diese Erkenntnis verlegt allen romantischen Restaurationsversuchen älterer Ideale, sei es der mittelalterlichen, sei es der hellenistisch-humanistischen den Weg, indem sie die Unausweichlichkeit der Geschichte der abendländischen Zivilisation feststellt. Auch das durch Hege! geschaffene Schema einer Philosophie der Geschichte und einer Geschichte der Philosophie kann nun nicht mehr genügen, weil nach Hegel die griechische Philosophie nur eine spekulative Vorübung
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dessen ist, was im Selbstbewußtsein des Geistes seine neuzeitliche Vollendung fand. Der spekulative Idealismus und seine Forderung einer spekulativen Wissenschaft ist am Ende selbst eine ohnmächtige Restauration geblieben. Die Wissenschaft ist - wie man sie auch schelte - das A und das 0 unserer Zivilisation. Es ist nun nicht so, als ob die Philosophie crst heute damit anfinge, darin ein Problem zu sehen. Vielmehr liegt hier eine so offene Crux unseres ganzen Zivilisationsbewußtseins, daß die moderne Wissenschaft von der Kritik an der ,Schule, wie von ihrem Schatten verfolgt wird. Philosophisch stellt sich die Frage so: kann man und in we1chem Sinn und aufwe1che Weise hinter das in den Wissenschaften thematisierte Wissen zurückgreifen? Daß die praktische Lebenserfahrung eines jeden von uns diesen Rückgriff ständig vollzieht, bedarf keiner Betonung. Man kann immer darauf hoffen, daß ein anderer das einsieht, was man Hir wahr hält, auch wenn man es nicht beweisen kann. Ja, man wird sogar nicht immer den Weg des Bcweisens als den rechten Weg ansehen dürfen, wie man einen anderen zur Einsichtbringt. Die Grenze der Objektivierbarkeit, an die die Aussage ihrer logischen Form nach gebunden ist, wird von uns allen je und je überschritten. Wir leben ständig in Mitteilungsformen rur so1ches, was nicht objektivierbar ist, die uns die Sprache, auch die der Dichter. bereitstellt. Gleichwohl ist es der Anspruch der Wissenschaft. die Zufalligkeit der subjektiven Erfahrung durch objektive Erkenntnis, die Sprache vieldeutiger Symbolik durch die Eindeutigkeit des Begriffs zu überwinden. Die Frage aber ist: gibt es innerhalb der Wissenschaft als solcher eine Grenze der Objektivierbarkeit, die in dem Wesen des Urteils und der Aussagewahrheit selbst liegt' Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs sc1bstverständlich. Es gibt eine sehr große, in ihrer Bedeutung gewiß nicht gering zu achtende Bewegung in der heutigen Philosophie, rur welche diese Antwort feststeht. Sie glaubt, daß das ganze Geheimnis und die alleinige Aufgabe aller Philosophie darin bestehe, die Aussage so exakt zu gestalten, daß sie wirklich in der Lage ist, das Gemeinte eindeutig auszusagen. Die Philosophie habe ein Zeichensystem auszubilden, das nicht von der metaphorischen Vieldeutigkeit der natürlichen Sprachen abhänge, auch nicht von der Vielsprachigkeit der modernen Kulturvölker überhaupt und den daraus fließenden ständigen Mißverständlichkeiten und Mißverständnissen, sondern das die Eindeutigkeit und Präzision der Mathematik erreiche. Die mathematische Logik gilt hier als der Lösungsweg rur alle Probleme, welche die Wissenschaft bisher der Philosophie überließ. Diese Strömung, welche vom Heimatland des Nominalismus aus auf die ganze Welt übergreift, stellt eine Wiederbelebung der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts dar. Als Philosophie leidet sie freilich an einer immanenten logischen Schwierigkeit. Das beginnt sie allmählich
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selbst einzusehen. Es läßt sich erweisen, daß die EinfUhrung von konventionellen Zeichensystcmen sich niemals durch das in diesen Konventionen beschlossene System selber vollziehen kann, daß also jede Einführung einer künstlichen Sprache schon eine andere Sprache voraussetzt, in der man spricht, Es ist das logische Problem der Metasprache, das hier seinen Ort hat. Aber dahinter steht noch etwas anderes. Die Sprache, die wir sprechen und in der wir leben, hat eine ausgezeichnete Stellung. Sie ist zugleich die inhaltliche Vor gegebenheit [ur alle nachkommende logische Analyse, Und sie ist das nicht als eine bloße Summe von Aussagen. Denn die Aussage, welche Wahrheit sagen will, muß noch ganz anderen Bedingungen genügen als denen der logischen Analyse. Ihr Anspruch aufUnverborgenheit besteht nicht nur im Vorliegenlassen des Vorliegenden. Es genügt nicht, daß das, was vorliegt, in der Aussage auch vorgelegt wird. Denn das Problem ist gerade, ob alles so vorliegt, daß es in der Rede vorgelegt werden kann, und ob sich nicht dadurch, daß man vorlegt, was man vorlegen kann, die Anerkennung dessen verlegt, v.ras gleichwohl ist und erfahren wird. Ich glaube, daß die Geisteswissenschaften von diesem Problem ein sehr beredtes Zeugnis ablegen. Auch dort gibt es manches, was dem Methodenbegriff der modernen Wissens~haft untergeordnet werden kann. Jeder von uns muß die Verifizierbarkeit aller Erkenntnisse in den Grenzen des Möglichen als ein Ideal gelten lassen. Aber wir müssen uns eingestehen, daß dieses Ideal sehr selten erreicht \vird und daß diejenigen Forscher, die dieses Ideal am präzisesten zu erreichen streben, uns meistens nicht die wahrhaft vvichtigen Dinge zu sagen haben. So kommt es, daß es in den Geisteswissenschaften etwas gibt, was in den Naturwissenschaften in gleicher Weise nicht denkbar ist, daß nämlich der Forscher mitunter aus dem Buche eines Dilettanten mehr lernen kann als aus den Büchern anderer Forscher. Das beschränkt sich natürlich auf Ausnahmefalle. Aber daß es dergleichen gibt, zeigt an, daß sich hier ein Verhältnis von Wahrheits erkenntnis und Sag barkeit auftut, das nicht an der Verifizierbarkeit von Aussagen zu messen ist. Wir kennen das aus den Geisteswissenschaften so sehr, daß wir gegen einen bestimmten Typus wissenschaftlicher Arbeiten begründetes Mißtrauen hegen, die die Methode, mit der sie gearbeitet sind, vorn und hinten und vor allem unten, das heißt in den Anmerkungen, allzu deutlich zeigen. Ist da wirklich etwas Neues gefragt? Ist da wirklich etwas erkannt? Oder wird da nur die Methode, mit der man erkennt, so gut nachgemacht und in ihren äußeren Formen getroffen, daß sich auf diese Weise der Eindruck einer wissenschaftlichen Arbeit ergibt? Wir müssen uns eingestehen, daß umgekehrt die größten und fruchtbarsten Leistungen in den Geisteswissenschaften dem Ideal der Verifizierbarkeit weit vorauseilen. Das aber wird philosophisch bedeutsam. Denn die Meinung ist ja nicht die, daß sich derunorigineHe Forscher aus einer Art von Täuschungsabsicht wie ein Gelehrter gibt,
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und umgekehrt der fruchtbare Forscher in revolutionärem Protest alles beiseiteschieben müsse, was bisher in der Wissenschaft gegolten hat. Vielmehr zeigt sich hier ein sachliches Verhältnis an, wonach das, was Wissenschaft möglich macht, zugleich auch die Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hindern kann. Es geht hier um ein prinzipielles Verhältnis von Wahrheit und Unwahrheit. Dieses Verhältnis zeigt sich daran, daß das bloße Vorliegenlassen von solchem, das vorliegt, zwar wahr ist, das heißt offenlegt, wie es ist, aber immer zugleich vorzeichnet, was weiterhin überhaupt als sinnvoll gefragt und in fortschreitender Erkenntnis offengelegt werden kann. Es ist nicht möglich, immer nur in der Erkenntnis fortzuschreiten, ohne damit auch mögliche Wahrheit aus der Hand zu geben. Dabei handelt es sich keineswegs um ein quantitatives Verhältnis, so als ob immer nur ein endlicher Umfang unseres Wissens von uns festgehalten werden kann. Es ist vielmehr nicht nur so, daß wir immer zugleich Wahrheit verdecken und vergessen, indern wir Wahrheit erkennen, sondern es ist so, daß wir notwendig in den Schranken unserer hermeneutischen Situation befangen sind, wenn wir nach Wahrheit fragen. Das bedeutet aber, daß wir manches, was wahr ist, gar nicht zu erkennen vermögen, weil uns, ohne daß wir es wissen, Vorurteile beschränken. Auch in der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit gibt es so etwas wie )Modee Wir wissen, \velche ungeheure Macht und Z\vangsgewalt die Mode darstellt. Nun klingt das Wort >Mode< in der Wissenschaft furchtbar schlecht. Selbstverständlich ist es unser Anspruch, dem, was nur die Mode fordert, überlegen zu sein. Aber die Frage ist gerade, ob es nicht im Wesen der Sache liegt, daß es auch in der Wissenschaft Mode gibt. Ob die Weise, in der wir Wahrheit erkennen, notwendig mit sich bringt, daß jeder Schritt vorwärts von den Voraussetzungen \\'citer entfernt, von denen wir ausgegangen sind, sie in das Dunkel det Selbstverständlichkeit zurücksinken läßt und eben damit es unendlich schwer macht, über diese Voraussetzungen hinauszukommen, neue Voraussetzungen zu erproben und damit wirklich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Es gibt so etwas wie eine Bürokratisicrung nicht nur des Lebens, sondern auch der Wissenschaften. Wir fragen: liegt das im Wesen der Wissenschaft oder ist das nur eine Art Kulturkrankheit der Wissenschaft, wie wir auf anderen Gebieten ähnliche Krankheitserscheinungen kennen, wenn wir z. B. die Riesenkästen unserer Verwaltungsgebäude und Versicherungsanstalten bewundern? Vielleicht liegt es wirklich im Wesen der Wahrheit selbst, so wie sie die Griechen zuerst gedacht haben, und damit auch im Wesen unserer Erkenntnismöglichkeiten, wie sie die griechische Wissenschaft zuerst geschaffen hat. Die moderne Wissenschaft hat ja nur, wie wir oben sahen, die Voraussetzungen der griechischen Wissenschaft radikalisiert, die in den Begriffen des IOROS, der Aussage, des Urteils leitend
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sind. Die phänomenologische Forschung, die in unserer Generation in Deutschland durch Husserl und Heidegger bestimmt worden ist, hat versucht, darüber Rechenschaft zu geben. indem sie fragte, was die über das Logische hinausgehenden Wahrheits bedingungen der Aussage sind. Ich glaube, man kann prinzipiell sagen: es kann keine Aussage geben, die schlechthin wahr ist. Diese These ist wohlbekannt als der Ausgangspunkt der HegeIschen Selbstkonstruktion der Vernunft durch die Dialektik. »Die Form des Satzes ist nicht geschickt, spekulative Wahrheiten auszusagen. «( Denn die Wahrheit ist das Ganze. Indessen ist diese Kritik der Aussage und des Satzes, die Hegel übt, selber noch auf ein Ideal der totalen Ausgesagtheit bezogen, nämlich auf die Totalität des dialektischen Prozesses, die im absoluten Wissen gewußt ist. Ein Ideal, das den griechischen Ansatz nochmals zu radikaler Ausftihrung bringt. Nicht bei HegeI, sondern erst im Blick auf die Wissenschaften der geschichtlichen Erfahrung, die sich gegen Hegel durchsetzen, läßt sich die Grenze, die der Logik der Aussage aus ihr selbst gesetzt ist, wirklich bestimmen. So haben denn auch die Arbeiten Diltheys, die der Erfahrung der geschichtlichen Welt gewidmet sind, in dem neuen Einsatz Heideggcrs eine wichtige Rolle gespielt. Es gibt keine Aussage, die man allein auf den Inhalt hin, den sie vorlegt, auffassen kann, wenn man sie in ihrer Wahrheit erfassen wilL Jede Aussage ist motiviert. Jede Aussage hat Voraussetzungen, die sie nicht aussagt. Nur wer diese Voraussetzungen mitdenkt, kann die Wahrheit einer Aussage wirklich ermessen. Nun behaupte ich: die letzte logische Form solcher Motivation jeder Aussage ist die Frage. Nicht das Urteil, sondern die Frage hat in der Logik den Primat, wie auch der platonische Dialog und der dialektische Ursprung der griechischen Logik geschichtlich bezeugen. Der Primat der Frage gegenüber der Aussage bedeutet aber, daß die Aussage wesenhaft Antwort ist. Es gibt keine Aussage, die nicht eine Art Antwort darstellt. Daher gibt es kein Verstehen irgendeiner Aussage, das nicht aus dem Verständnis der Frage, auf die sie antwortet, ihren alleinigen Maßstab gewinnt. Wenn man das ausspricht, klingt es wie eine Selbstverständlichkeit und ist jedem aus seiner Lebenserfahrung bekannt. Wenn jemand eine Behauptung aufstellt, die man nicht versteht, dann sucht man sich klarzumaehen, wie er dazu kommt. Welche Frage hat er sich gestellt, auf die seine Aussage eine Antwort ist? Und wenn es eine Aussage ist, die wahr sein soll, so muß man es selber mit der Frage versuchen, auf die sie eine Antwort sein will. Es ist sicherlich nicht immer leicht, die Frage zu finden, auf die eine Aussage wirklich Antwort ist. Es ist vor allem deshalb nicht leicht, weil auch eine Frage wiederum kein einfaches Erstes ist, in das wir uns nach Belieben versetzen können. Dennjede Frage ist selber Antwort. Das ist die Dialektik, in die wir uns hier verstricken. Jede Frage ist motiviert. Auch ihr Sinn ist
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niemals vollständig in ihr anzutreffen. 3 Wenn ich oben auf die Probleme des Alexandrinismus hinwies, die unsere wissenschaftliche Kultur bedrohen, sofern die Ursprünglichkeit des Fragens in ihr erschwert wird, so liegt hier die Wurzel dessen. Das Entscheidende, das, was in der Wissenschaft erst den Forscher ausmacht, ist: Fragen zu sehen. Fragen sehen heißt aber, Aufbrechen-können, was wie eine verschlossene und undurchlässige Schicht geebneter Vormeinungen unser ganzes Denken und Erkennen beherrscht. So Aufbrechenkönnen, daß auf diese Weise neue Fragen gesehen und neue Antworten möglich werden, macht den Forscher aus. Jede Aussage hat ihren Sinnhorizont darin, daß sie einer Fragesituation entstammt. Wenn ich in diesem Zusammenhang den Begriff >Situation< gebrauche, so deutet das darauf, daß die wissenschaftliche Frage und die wissenschaftliche Aussage nur der Spezialfall eines viel allgemeineren Verhältnisses sind, das im Begriff der Situation anvisiert wird. Der Zusammenhang von Situation und Wahrheit ist schon im amerikanischen Pragmatismus geflochten worden. Dort versteht man als das eigentliche Kennzeichen der Wahrheit das Fertigwerden mit einer Situation. Die Fruchtbarkeit einer Erkenntnis bewährt sich darin, daß sie eine problematische Situation behebt. - Ich glaube nicht, daß die pragmatistische Wendung, die die Sache hier nimmt, ausreicht. Das zeigt sich schon daran, daß der Pragmatismus alle sogenannten philosophischen, metaphysischen Fragen einfach beiseiteschiebt, weil es nur darauf ankomme, jeweils mit der Situation fertigzuwerden. Es ge1te, um vorwärts zu kommen, den ganzen dogmatischen Ballast der Tradition abzuwerfen. - Das halte ich rur einen Kurzschluß. Der Primat der Frage, von dem ich sprach, ist kein pragmatischer. Und ebensowenig ist die Antwort, die wahr ist, an den Maßstab der Handlungsfolgen gebunden. Aber wohl hat der Pragmatismus darin recht, daß man über dcn formellen Bezug noch hinausgehen muß, in dem die Frage zum Sinn der Aussage steht. Wir treffen das mitmenschliche Phänomen der Frage in seiner vollen Konkretion, wenn wir uns von der theoretischen Relation von Frage und Antwort, die die Wissenschaft ausmacht, abwenden und auf die namentlichen Situationen besinnen, in denen Menschen genannt und gefragt werden und sich selber fragen. Da wird deutlich, daß das Wesen der Aussage in sich eine Erweiterung erfährt. Nicht nur, daß die Aussage stets Antwort ist und auf eine Frage verweist, sondern Frage wie Antwort selber haben in ihrem gemeinsamen Aussagecharakter eine hermeneutische Funktion. Sie sind beide Anrede. Das soll nieht bloß heißen, daß sich stets auch etwas aus der sozialen Mitwelt in den Gehalt unserer Aussagen hineinspielt. Das ist zwar richtig. Aber nicht darum geht es, sondern darum, daß Wahrheit in der Aussage überhaupt nur da ist, sofern , [Vgl. Ge,. We,ke Bd. 1, S. 304ff., 368ff, 374ff.].
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ste Anrede ist. Ocr Situationshorizom, der die Wahrheit einer Aussage ausmacht, enthält den mit, dem mit der Aussage etwas gesagt wird. Die moderne Existenzphilosphie hat diese Folgerung mit vollem Bewußtsein gezogen. Ich erinnere an die Philosophie der Kommunikation bei Jaspers, die darin ihre Pointe hat, daß das Zwingende der Wissenschaft dort ein Ende findet, wo die eigentlichen Fragen des menschlichen Daseins, Endlichkeit, Geschichtlichkeit, Schuld, Tod - kurz, die sogenannten .Grcnzsituationen( - erreicht sind. Hier ist Kommunikation nicht mehr Übermittlung von Erkenntnis durch zwingende Beweise, sondern eine Art Commercium von Existenz mit Existenz. Wer redet, ist selbst angeredet und ant\.VOItet als ein Ich dem Du, weil er [Ur sein Du selbst ein Du ist. Es scheint mir freilich nicht genug, im Gegensatz zu dem Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit, die anonym, allgemein und zwingend ist, einen Gegenbegriff der Existenzwahrheit zu prägen. Vielmehr steckt hinter dieser Bindung der Wahrheit an mögliche Existenz, die Jaspers einschärft, ein allgemeineres philosphisches Problem, Hier hat Heideggers Frage nach dem Wesen der Wahrheit den Problem bereich der Subjektivität erst wirklich überschritten. Sein Denken hat vom ~Zeug( über das) Werk( zufn >Ding( seinen Weg durchmessen, einen Weg, der die Frage der Wissenschaft, auch die der geschichtlichen Wissenschaften, weit hinter sich läßt. Es ist Zeit, darüber nicht zu vergessen, daß die Geschichtlichkeit des Seins auch dort herrscht. wo Dasein sich weiß und wo es als Wissenschaft sich historisch verhält. Die Hermeneutik der geschichtlichen Wissenschaften, die einst in der Romantik und der historischen Schule, von Schleiermacher bis Dilthey, entwickelt worden war, \vird zu einer ganz neucn Aufgabe, wenn man sie, darin Heidegger folgend, aus der Problematik der Subjektivität herausbewegt. Der einzige, der hier vorgearbeitet hat, ist Hans Lipps, dessen hermeneutische Logik 4 zwar keine wirkliche Hermeneutik bietet, aber die Verbindlichkeit der Sprache gegen ihre logische Nivellierung siegreich hervorkehrt. Daß, wie oben gesagt, jede Aussage ihren Situationshorizont und ihre Anredefunktion hat, ist daher nur die Grundlage für die weitergehende Folgerung, daß die Geschichtlichkeit aller Aussagen auf die grundsätzliche Endlichkeit unseres Seins zurückgeht. Daß eine Aussage mehr ist als nur das Vergegenwärtigen eines vorliegenden Sachverhalts, heißt vor al1em, daß sie dem Ganzen einer geschichtlichen Existenz zugehört und mit allem, was in ihr gegenwärtig sein kann, gleichzeitig ist. Wenn wir Sätze, die uns überliefert sind, verstehen wollen, so stellen wir historische Überlegungen an, aus denen hervorgehen soll, wo und wie diese Sätze gesagt sind, was ihr eigentli4 [Vgl. H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, Werke Bd. 2, F
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eher Motivationshintergrund und damit ihr eigentlicher Sinn ist. Wir müssen also, wenn wir einen Satz als solchen uns vergegenwärtigen wollen, selnen historischen Horizont mitvergegenwärtigen. Aber offenbar genügt das nicht, um zu beschreiben, was wir wirklich tun. Denn unser Verhalten zur Überlieferung begnügt sich nicht damit, daß ,"vir sie verstehen wollen, indem wir durch historische Rekonstruktion ihren Sinn ermitteln. Das mag der Philologe tun. Aber selbst der Philologe könnte sich eingestehen, daß das, was er in Wahrheit tut, mehr ist als dies. Wäre das Altertum nicht klassisch gewesen, das heißt vorbildlich rur alles Sagen, Denken und Dichten, dann gäbe es keine klassische Philologie. Das gilt aber auch rur alle andere Philologie, daß in ihr die Faszination des anderen, Fremden oder Fernen wirksam ist, das sich uns auf'ichließt. Die eigentliche Philologie ist nicht Historie allein, und z\var deshalb, weil auch die Historie selber in Wahrheit eine ratio philosophandi ist, ein Weg, Wahrheit zu erkennen. Wer geschichtliche Studien treibt, ist immer mit davon bestimmt, daß er selber Geschichte erfährt. Geschichte wird deshalb immer wieder neu geschrieben, weil das Gegenwärtige uns bestimmt. Es handelt sich in ihr nicht nur um Rekonstruktion, um Gleichzeitigm.achung von Vergangenem. Das eigentliche Rätsel und Problem des Verstehens ist, daß das so gleichzeitig Gemachte immer schon mit uns gleichzeitig "var, als etwas, das wahr sein will. Was bloße Rekonstruktion vergangenen Sinnes schien, verschmilzt mit dem, was uns unmittelbar als wahr anspricht. Ich halte es für eine der \vichtigsten Berichtigungen, die wir an der Selbstauffassung des historischen Bewußtseins vornehmen müssen, daß sich damit die Gleichzeitigkeit als ein höchst dialektisches Problem erweist. Geschichtliche Erkenntnis ist nie bloße Vergegenwärtigung. Aber auch Verstehen ist nicht bloße Nachkonstruktion eines Sinngebildes, bewußte Auslegung einer unbewußten Produktion. Einander verstehen heißt vielmehr, sich in etwas verstehen. Vergangenheit verstehen heißt entsprechend: sie in dem, was sie uns als gültig sagen will, hören. Der Primat der Frage vor der Aussage bedeutet fur die Hermeneutik, daß man jede Frage, die man versteht, selber fragt. Verschmelzung des Gegenwartshorizontes mit dem Vergangenheitshorizont ist das Geschäft der geschichtlichen Geisteswissenschaften. Sie betreiben aber damit nur, was wir immer schon tun, indem wir sind. Wenn ich den Begriff der Gleichzeitigkeit gebrauchte, so tat ich es, um eine Anwendungsweise dieses Begriffes zu ermöglichen, die durch Kierkegaard nahegelegt ist. Er war es, der die Wahrheit der christlichen Verkündigung durch >Gleichzeitigkeit< kennzeichnete. Für ihn stellte sich die eigentliche Aufgabe des Christseins so, daß der Abstand der Vergangenheit in Gleichzeitigkeit aufgehoben wird. Was bei Kierkegaard aus theologischen Gründen in der Form des Paradoxes formuliert wurde, ist aber der Sache nach etwas, was rur all unser Verhältnis zur Überlieferung und zur Vergan-
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genheit gültig ist. Ich glaube. daß die Sprache die ständige Synthesis zwischen Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont leistet. Wir verstehen einander, indem wir miteinander reden, indem wir oft aneinander vorbeireden und doch am Ende im Gebrauch der Worte die mit den Worten gesagten Dinge miteinander vor uns bringen. Es ist so, daß die Sprache ihre eigene Geschichtlichkeit hat. Jeder von uns hat seine eigene Sprache. Es gibt überhaupt nicht das Problem einer fur alle gemeinsamen Sprache, sondern es gibt nur das Wunder dessen, daß wir, obwohl wir alle eine verschiedene Sprache haben, uns dennoch über die Grenzen der Individuen, der Völker und der Zeiten hinweg verstehen können. Dieses Wunder ist offenbar nicht ablösbar davon, daß sich auch die Dinge, über die wir sprechen, als ein Gemeinsames vor uns darstellen, indem wir von ihnen sprechen. Wie eine Sache ist, stellt sich gleichsam crst heraus, wenn wir darüber reden. Was wir mit Wahrheit meinen, Offenbarkeit, Unverborgenheit der Dinge, hat also seine eigene Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Was wir in allem Bemühen um Wahrheit mit Erstaunen gewahren, ist, daß wir nicht die Wahrheit sagen können ohne 4nrede, ohne Antwort und damit ohne die Gemeinsamkeit des gewonnenen Einverständnisses. Das Erstaunlichste am Wesen der Sprache und des Gespräches aber ist, daß auch ich selber nicht an das, was ich meine, gebunden bin, wenn ich mit anderen über etwas spreche, daß keiner von uns die ganze Wahrheit in seinem Meinen umfaßt, daß aber gleichwohl die ganze Wahrheit uns beide in unserem einzelnen Meinen umfassen kann. Eine unserer geschichtlichen Existenz angemessene Hermeneutik würde die Aufgabe haben, diese Sinnbezüge von Sprache und Gespräch zu entfalten, die über uns hinwegspielen.
5. Vom Zirkel der Verstehens 1959
Die hermeneutische Regel. daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse, stammt aus der antiken Rhetorik und ist durch die neuzeitliche Hermeneutik von der Redekunst auf die Kunst des Verstehens übertragen worden. Es ist ein zirkelhaftes Verhältnis, das hier wie dort vorliegt. Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist, kommt dadurch zu explizitem Verständnis, daß die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen. Wir kennen das aus der Erlernung von fremden Sprachen. Wir 1ernen da, daß wir einen Satz erst }konstruiereu< müssen, bevor wir die einzelnen Teile des Satzes in ihrer sprachlichen Bedeutung zu verstehen suchen. Dieser Vorgang des Konstruierens ist aber selber schon dirigiert von einer Sinnerwartung, die aus dem Zusammenhang des Vorangegangenen stammt. Freilich muß sich diese Erwartung berichtigen lassen, wenn der Text es fordert. Das bedeutet dann, daß die Erwartung umgestimmt wird und daß sich der Text unter einer anderen Sinnerwartung zur Einheit einer Meinung zusammenschließt. So läuft die Bewegung des Verstehens stcts vom Ganzen zum Teil und zurück zum Ganzen. Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern. Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium rur die Richtigkeit des Verstehens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verstehens. Nun hat Schleiermacher diesen hermeneutischen Zirkel von Teil und Ganzem sowohl nach seiner objektiven wie nach seiner subjektiven Seite hin differenziert. Wie das einzelne Wort in den Zusammenhang des Satzes, so gehört der einzelne Text in den Zusammenhang des Werkes eines Schriftstellers und dieses in das Ganze der betreffenden literarischen Gattung bzw. der Literatur. Auf der anderen Seite gehört aber der gleiche Text als Manifestation eines schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens seines Autors. Jeweils erst in solchem Ganzen objektiver und subjektiver Art kann sich Verstehen vollenden. - Im Anschluß an diese Theorie spricht dann Dilthey von )Struktur< und von der )Zentrierung in einem Mittelpunkt<, aus dcr sich das Verständnis des Ganzen ergibt. Er überträgt damit auf die
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geschichtliche Welt, was vonjeher ein Grundsatz aller Interpretation ist: daß man einen Text aus sich selbst verstehen muß. Es fragt sich aber, ob die Zirkelbewegung des Verstehens so angemessen verstanden ist. Was Schleiermacher als subjektive Interpretation entwickelt hat, darf wohl ganz beiseite gesetzt werden. Wenn wir einen Text zu verstehen suchen, versetzen wir uns nicht in die seelische Verfassung des Autors, sondern wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir uns in seine Meinung. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen suchen. Wir werden sogar, wenn wir verstehen wollen, seine Argumente noch zu verstärken trachten. So geschieht es schon im Gespräch, wieviel mehr noch beim Verstehen von Schriftlichem, daß ",vir uns in einer Dimension von Sinnhaftem bewegen, das in sich verständlich ist und als solches keinen Rückgang auf die Subjektivität des anderen motiviert. Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, dies Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine geheimnisvolle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn ist. Aber auch die objektive Seite dieses Zirkels, wie sie Schleiermacher beschreibt, trifft nicht den Kern der Sache. Das Ziel aller Verständigung und aUes Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen. Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man z. B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Botschaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung, wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der ))vollkommene Verstand(( eines Textes nur auf dem Wege historischer Interpretation erreicht werden soll. - Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die Romantik und Schleiermacher , indem sie ein geschichtliches Bnvußtsein von universalem Umfang begründen, die verbindliche Gestalt der Tradition, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundlage rur alle hermeneutische Bemühung gelten lassen. Noch einer der unmittelbaren Vorläufer Schleiermachers, der Philologe Friedrich Ast, hatte ein ganz entschieden inhaltliches Verständnis der Aufgabe der Hermeneutik, wenn cr forderte, sie solle das Einverständnis Z\vischen Antike und Christentum, zwischen einer neugesehenen wahren Antike und der christlichen Tradition herstellen. Das ist gegenüber der Aufklärung insofern schon etwas Neues, als es sich jetzt nicht mehr um die Vermittlung zwischen der Autorität der Überlieferung einerseits und der natürlichen Vernunft andererseits handelt, sondern um die Vermittlung zweier Traditionsclcmente, die, beide durch die Aufklärung bewußt geworden, die Aufgabe ihrer Versöhnung stellen.
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Mir scheint, daß eme solche Lehre von der Einheit von Antike und Christentum ein Wahrheitsmoment am hermeneutischen Phänomen festhält, das Schleiermacher und seine Nachfolger zu Unrecht preisgegeben haben. Ast hat sich hier durch seine spekulative Energie davor bewahrt, in der Geschichte bloße Vergangenheit und nicht vielmehr die Wahrheit der Gegenwart zu suchen. Die von Schleiermacher herkommende Hermeneutik kommt einem vor diesem Hintergrunde als eine Verflachung ins Methodische vor. Das gilt noch mehr, wenn man sie im Lichte der durch Heidegger entwikkelten Fragestellung sieht. Von Heideggers Existenzialanalyse aus gewinnt nämlich die Zirkelstruktur des Verstehens ihre inhaltliche Bedeutung zurück. Heidegger schreibt: ff Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfalle und Volks begriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern. fiS Was Heidegger hier sagt, ist zunächst nicht eine Forderung an die Praxis des Verstehens, sondern beschreibt die Vollzugsform des verstehenden Auslegens selbst. Heideggers hermeneutische Reflexion hat ihre Spitze nicht so sehr darin, nachzuweisen, daß hier ein Zirkel vorliegt, als vielmehr darin, daß dieser Zirkel einen ontologisch positiven Sinn hat. Die Beschreibung als solche wird jedem Ausleger einleuchten, der weiß, was er tut. 6 Alle rechte Auslegung muß sich gegen die Willkür von Einfallen und die Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen und den Blick >auf die Sachen selber< richten (die beim Philologen sinnvolle Texte sind, die ihrerseits wieder Von Sachen handeln). Sich dergestalt von der Sache bestimmen lassen, ist für den Interpreten offenkundig nicht ein einmaliger }braver< Entschluß, sondern wirklich fdie erste, ständige und letzte Aufgabe<. Denn es gilt, den Blick auf die Sache durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten, die den Ausleger unterwegs ständig von ihm selbst her anfallt. Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der Sein und Zeit, S. 154. Vgl. etwa E. Staigers übereinstimmende Schilderung in »Die Kunst der Interpretation«, S. 11 ff. 5
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freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht. Diese Beschreibung ist natürlich eine grobe Abbreviatur: daß jede Revision des Vorentwurfs in der Möglichkeit steht, einen neuen Entwurf von Sinn vorauszuwerfen; daß sich rivalisierende Entwürfe zur Ausarbeitung nebeneinander herbringen können, bis sich die Einheit des Sinnes eindeutiger festlegt; daß die Auslegung mit Vorbegriffen einsetzt, die durch angemessenere Begriffe ersetzt werden: eben dieses ständige Neu-Entwerfen, das die Sinnbe"\vegung des Verstehens und Auslegens ausmacht, ist der Vorgang, den Heidegger beschreibt. Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. So ist die ständige Aufgabe des Verstehens, die rechten, sachangemessenen Entwürfe auszuarbeiten, das heißt Vorwegnahmen, die sich }ln den Sachen( erst bestätigen sollen, zu wagen. Es gibt hier keine andere ,Objektivität< als die der Ausarbeitung der sich bewährenden Vormeinung. Es hat seinen guten Sinn, daß der Ausleger nicht geradezu, aus der in ihm bereiten Vormeinung lebend, auf den }Text< zugeht, vielmehr die in ihm lebende Vormeinung ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist: auf Herkunft und Geltung prüft. Man' muß sich diese grundsätzliche Forderung als die Radikalisierung eines Verfahrens denken, das wir in Wahrheit immer anwenden. Weit entfernt davon, daß, wer jemanden anhört oder an eine Lektüre geht, gar keine Vormeinung über den Inhalt mitbringen darf und alle seine eigenen Meinungen vergessen soll, wird vielmehr Offenheit ftir die Meinung des anderen oder des Textes schon immer einschließen, daß man sie zu dem Ganzen der eigenen Meinungen in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr. Anders gesprochen, Meinungen sind zwar eine bewegliche Vielfalt von Möglichkeiten, aber innerhalb dieser Vielfalt des Meinbaren, d. h. dessen, was ein Leser sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich, und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird es am Ende auch der eigenen vieWiltigen Sinn erwartung nicht einordnen können. So gibt es auch hier einen Maßstab. Die hermeneutische Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer schon mitbestimmt. Damit gewinnt das hermeneutische Unternehmen festen Boden unter den Füßen. Wer verstehen will, wird sich der Zufalligkeit der eigenen Vormeinung von vornherein nicht überlassen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören - his etwa diese unüherhörhar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt. Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein fur die Andersheit des Textes von vornherein empfanglich sein. Solche Empfanglichkeit setzt aber weder sachliche }Neutralität( noch gar Selbstauslöschung
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voraus, sondern schließt die abhebbare Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit inne zu sein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und derart in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen. Heidegger hat eine völlig richtige phänomenologische Beschreibung gegeben, wenn er in dem vermeintlichen )Lcsen< dessen, was )dasteht<, die Vorstruktur des Verstehens aufdeckt. Er hat auch ein Beispiel dafUr gegeben, daß daraus eine Aufgabe folgt. Er hat in ,Sein und Zeit< die allgemeine Aussage, die er zum hermeneutischen Problem macht, an der Seins frage konkretisiert (5. u. Z. 312ff.). Um die hermeneutische Situation der Seinsfrage nach Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff zu explizieren, hat er seine an die Metaphysik gerichtete Frage an wesentlichen Wendepunkten der Geschichte der Metaphysik kritisch erprobt. Er hat damit getan, was das historischhermeneutische Bewußtsein injedem Falle verlangt. Ein mit methodischem Bewußtsein geftihrtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen. Das ist es, was Heidegger meint, wenn er fordert, in der Ausarbeitung von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu )sichern(. In Heideggers Analyse gewinnt damit der hermeneutische Zirkel eine ganz neue Bedeutung. Die Zirkelstrukrur des Verstehens hielt sich in der bisherigen Theorie stets im Rahmen einer formalen Relation von Einzelnem und Ganzem, bzw. von dessen subjektivem Reflex: der ahnenden Vorwegnahme des Ganzen und seiner nachfolgenden Explikation im einzelnen. Nach dieser Theorie lief also die Zirkelbewegung an dem Text hin und her und war in dem vollendeten Verständnis desselben aufgehoben. Die Theorie des Verstehens gipfelte in einem divinatorischen Akt, der sich ganz in den Verfasser versetzt und von da aus alles Fremde und Befremdende des Textes zur Auflösung bringt. Heidegger dagegen erkennt, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die Aufgabe der Konkretisierung des historischen Bewußtseins. Mit ihr ist verlangt, der eigenen Vormeinungen und Vorurteile inne zu sein und den Vollzug des Verstehens jeweils so mit historischer Bewußtheit zu durchdringen, daß die Erfassung des historisch Anderen und die dabei geübte Anwendung historischer Methoden nicht das bloß herausrechnet, was man hineingesteckr hat. Der inhaltliche Sinn des Zirkels von Ganzem und Teil, der allem Verstehen zugrunde liegt, muß aber, wie mir scheint, durch eine weitere Bestimmung ergänzt werden, die ich den) Vorgriff der Vollkommenheit{ nennen
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mächte. Damit ist eine Voraussetzung formuliert, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt. So machen wir diese Voraussetzung der Vollkommenheit, wenn wir einen Text lesen. Erst wenn diese Voraussetzung sich als uneinlösbar erweist, d. h. der Text nicht verständlich wird, stellen wir sie in Frage, zweifeln etwa an der Überlieferung und suchen sie zu heilen. Die Regeln, die wir bei solchen textkritischen Überlegungen befolgen, können hier beiseite bleiben, denn worauf es ankommt, ist auch hier, daß die Legitimation zu ihrer Anwendung nicht von dem inhaltlichen Verständnis des Textes ablös bar ist. Der Vorgriff der Vollkommenheit, der all unser Verstehen leitet, erweist sich so selber als ein jeweils inhaltlich bestimmter. Es wird nicht nur eine immanente Sinn einheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt, sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen. So wie der Empfinger eines Briefes die Nachrichten versteht, die er enthält, und zunächst die Dinge mit den Augen des Briefschreibers sieht, d. h. ftlr wahr hält, was dieser schreibt - und nicht etwa die Meinung des Briefschreibers als solche zu verstehen sucht, so verstehen wir auch überlieferte Texte auf Grund von Sinnerwartungen, die aus unserem eigenen Sachverhältnis geschöpft sind. Und wie wir Nachrichten eines Korrespondenten glauben, weil er dabei war oder es sonst besser weiß, so sind wir auch einem überlieferten Text gegenüber grundsätzlich der Möglichkeit offen, daß er es besser weiß, als die eigene Vormeinung gelten lassen will. Erst das Scheitern des Versuchs, das Gesagte als wahr gelten zu lassen, fUhrt zu dem Bestreben, den Text als die Meinung eines anderen -psychologisch oder historisch - zu )verstehen(7. Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies, daß ein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist. Verstehen heißt primär: sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen. Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Sachverständnis, das Zutun-haben mit der gleichen Sache. Von ihm bestimmt sich, was als einheitlicher Sinn vollziehbar wird und damit die Anwendung des Vorgriffs der Vollkommenheit. So erftlllt sich der Sinn der Zugehörigkeit, d. h. das Moment der Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten, durch die Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile. Die Hermeneutik muß davon ausgehen, daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der 7 Ich habe in einem Kongreßvortrag in Venedig 1958 über das ästhetische Urteil zu zeigen gesucht, daß auch dieses - wie das historische - sekundären Charakter besitzt und den »Vorgriff der Vollkommenheit« bestätigt Getzt in D. Henrich, H. R. Jauss (Hrsg.), Theorien der Kunst, Frankfurt 1982, S. 59-69.]
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Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht. Auf der anderen Scite wciß das hermeneutische Bewußtsein, daß es mit dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit verbunden sein kann wie sie fur das ungebrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet, nur daß diese nicht mit Schleichermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d. h. im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung ftir uns hat, ist also das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik. Aus dieser Zwischenstellung, in der sie ihren Stand nimmt, folgt, daß ihr Zentrum bildet, was in der bisherigen Hermeneutik ganz am Rande blieb: der Zeitenabstand und seine Bedeutung fur das Verstehen. Die Zeit ist nicht primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt und femhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das gegenwärtige Verstehen wurzelt. Der Zeitenabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muß. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus, daß man sich in den Geist der Zeit versetzt, daß man in deren Begriffen und Vorstellungen denkt und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringt. In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist ausgeftillt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zu wenig, von einer echten Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst rur das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen und die ihnen eine Überresonanz zu verleihen vermögen, die mit ihrem wahren Gehalt und ihrer wahren Bedeutung nicht konform ist. Erst das Absterben all solcher aktuellen Bezüge läßt ihre eigene Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis dessen, was in ihnen gesagt ist, das verbindlich Allgemeinheit beanspruchen kann. Die Herausfilterung des wahren Sinnes, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, ist übrigens selber ein unendlicher Prozcß. Der Zeitenabstand. der diese Filterung leistet, ist in einer ständigen Bewe-
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gung und Ausweitung begriffen, und das ist die produktive Seite, die er [ur das Verstehen besitzt, Er läßt die Vorurteile absterben, die partikularer Natur sind, und diejenigen hervorkommen, die ein wahrhaftes Verstehen ermöglichen. Oft vermag der Zeitenabstand' die eigentlich kritische Aufgabe der Hermeneutik zu lösen, die wahren Vorurteile von den falschen zu scheiden. Das hermeneutisch geschulte Bewußtsein wird daher ein historisches Bewußtsein enthalten. Es wird die das Verstehen leitenden Vorurteile bewußt machen müssen, damit die Überlieferung, als Andersmeinung, sich ihrerseits abhebt und ZUr Geltung bringt. Ein Vorurteil als solches zur Abhebung zu bringen, verlangt offenbar, es in seiner Geltung zu suspendieren; denn solange uns ein Vorurteil bestimmt, wissen und bedenken wir es nicht als Urteil. Ein Vorurteil so gleichsam vor mich zu bringen, kann nicht gelingen, solange dies Voruteil beständig und unbemerkt im Spiele ist, sondern nur dann, wenn es sozusagen gereizt wird. Was so zu reizen vermag, ist die Begegnung mit der Überlieferung. Denn was zum Verstehen verlockt, muß sich selber schon zuvor in seinem Anderssein zur Geltung gebracht haben. Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist, daß etwas uns anspricht. Das ist die oberste aller hermeneutischen Bedingungen. Wir sehenjetzt, was damit gefordert ist: eine grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile. Alle Suspension von Urteilen aber, mithin und erst recht die von Vorurteilen, hat, logisch gesehen, die Struktur der Frage. Das Wesen der Frage ist das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten. Wird ein Vorurteil fraglich - angesichts dessen, was uns ein anderer oder ein Text sagt-, so heißt dies mithin nicht, daß es einfach beiseitegesetzt wird und der andere oder das Andere sich an seiner Stelle unmittelbar zur Geltung bringt. Das ist vielmehr die Naivität des historischen Objektivismus, ein solches Absehen von sich selbst anzunehmen. In Wahrheit wird das eigene Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, daß es selber auf dem Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, spielt es sich mit dem anderen so weit ein, daß auch dieses sich ausspielen kann. Die Naivität des sogenannten Historismus besteht darin, daß er sich einer solchen Reflexion entzieht und im Vertrauen auf die Methodik seines Verfahrens seine eigene Geschichtlichkeit vergiBt. Hier muß von einem schlecht verstandenen historischen Denken an ein besser zu verstehendes appelliert werden. Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit mitdenken. Nur dann wird es nicht dem Phantom eines historischen Objektes nachjagen, das Gegenstand fortschreitender Forschung ist, sondern wird in dem Objekt das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Andere erkennen lernen. Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, 8
[Zu dieser Änderung des ursprünglichen Textes vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 304].
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sondern die Einheit dieses Einen und Anderen, ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht. Eine sachangemessene Hermeneutik hätte diese eigentliche Wirklichkeit der Geschichte im Verstehen selbst aufzuweisen. Ich nenne das damit Geforderte >Wirkungs geschichte<. Verstehen ist ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang, und es ließe sich nachweisen, daß es die allem Verstehen zukommende Sprachlichkeit ist, in der das hermeneutische Geschehen seine Bahn zieht.
6. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 1960
Wenn im folgenden zwei Redensarten zum Gegenstand einer Analyse gemacht werden, die allem Anschein nach dasselbe meinen, so ist dabei die Absicht leitend, eine sachliche Konvergenz, die allcr Verschiedenheit der Ausgangspunkte und der methodischen Idcale zum Trotz das heutige Philosophieren beherrscht, sichtbar zu machen. Indem in dem scheinbar Selbigen die Spannung eines Problems aufgewiesen wird, tritt zugleich in dem in seiner Differenz Erkannten die Wirksamkeit des gleichen Impulses heraus. Der Sprachgebrauch läßt davon zunächst wenig ahnen. Denn er scheint eine völlige Austauschbarkeit beider Wendungen zu bezeugen. Wir sagen etwa: »Es liegt in der Natur der Sache«, wir sagen aber auch ))Die Dinge sprechen rur sich selber« oder »sie fuhren eine unmißverständliche Sprache«. In beiden Fällen haben wir es mit einer Art Beteuerungsformcl zu tun, die nicht eigentlich die Gründe angibt, warum wir etwas rur wahr halten, sondern im Gegenteil das Bedürfnis nach weiterer Begründung abweisen will. Auch die beiden in diesen Wendungen auftretenden Begriffe )Sache( und )Ding( scheinen dasselbe zu besagen. Sie sind beide Ausdrückte rur etwas unbestimmt Gemeintes. Dem entspricht, daß wenn von der )Natur< der Sache oder der )Sprache( der Dinge geredet wird, auch diesen Wendungen et\vas gemeinsam ist, nämlich daß sie auf eine polemische Weise die gewalttätige Willkür im Umgang mit den Dingen negieren und insbesondere das bloße Meinen, die Beliebigkeit von Vermutungen oder Behauptungen über die Sache, die Willkür von Ableugnungen oder die Versteifung auf Privat meinungen. Doch wenn wir näher zusehen und in die geheimen Unterschiede des Sprachgebrauches eindringen, so wird sich der Schein völliger Austauschbarkeit zerstreuen. Der Begriff der Sache ist vor allem durch den Gegenbegriff der Person geprägt. Der Sinn dieses Gegensatzes von Sache und Person liegt ursprünglich in dem klaren Vorrang der Person vor der Sache. Die Person erscheint als etwas, das in seinem eigenen Sein zu ehren ist, die Sache dagegen als das zu Nutzende, als etwas, was ganz zu unserer Verfügung ist. Wenn nun die Wendung )die Natur der Sache< begegnet, so liegt die Pointe offenbar darin, daß auch das zu unserer Nutzung Stehende und unserer
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Verftigung Anheimgegebene in Wahrheit ein Sein in sich selbst hat, kraft dessen es gegen das unsachgemäße Verftigenwollen aus seiner Natur heraus Widerstand zu leisten vermag bzw. positiv: daß es ein bestimmtes sachgerechtes Verhalten vorschreibt. Damit aber kehrt sich der Vorzug der Person vor der Sache geradezu in sein Gegenteil um. Im Gegensatz zu der beweglichen Biegsamkeit, mit der Personen sich aneinander anpassen, ist die Natur der Sache die unabänderliche Gegebenheit, der man Rechnung tragen muß. So vermag der Begriff der Sache eine eigenen Emphase zu erhalten, indem die Sache selbstvergessene Hingabe verlangt und dabei sogar jede Rücksicht auf Personen zurückzustellen zwingt. Es ist die Parole der Sachlichkeit, die hier entspringt und die wir auch als die Gesinnung der Philosophie kennen, wie sie aus dem berühmten Worte Bacons spricht, das Kant als Motto zu seiner >Kritik der reinen Vernunft( gewählt hat: De nobis ipsis silemus, de re autem quae agitur . Einer der größten Anwälte solcher Sachlichkeit unter den Klassikern des philosophischen Gedankens ist Hegel, der geradezu von dem Tun der Sache redet und die wahrhaft philosophische Spekulation dadurch kennzeichnet, daß in ihr die Sache selber sich betätige und nicht die freie Beliebigkeit unserer Einfalle, d. h. unseres reflektierenden Verfahrens mit der Sache am Werke sei. Auch die bekannte phänomenologische Parole ,Zu den Sachen selbst<, die am Anfang unseres Jahrhunderts eine neue philosophische Forschungsgesinnung zum Ausdruck brachte, meint etwas Ähnliches. Es sind die unsachgemäßen, vorurteilsvollen und willkürlichen Konstruktionen und Theorien, deren unkontrollierte Voraussetzung die phänomenologische Analyse aufdecken wollte und die sie in der Tat durch die unvoreingenommene Analyse der Phänomene in ihrer Illegitimität erwies. Der Begriff der Sache gibt aber nicht nur den römisch-rechtlichen Begriff der res wieder, sondern in das deutsche Wort >Sache< und seine Bedeutung ist vor allem eingeströmt, was im lateinischen Sprachgebrauch causa heißt. Im deutschen Sprachgebrauch meint >Sache< zunächst die causa, d. h. die Streitsache, die verhandelt wird. Sie ist ursprünglich die Sache, die in die Mitte niedergelegt wird zwischen die streitenden Parteien, weil über sie noch zu entscheiden ist und noch nicht entschieden ist. Die Sache soll gegen die Eigenmächtigkeit des Zugriffs der einen oder der anderen Partei sichergestellt werden. In diesem Zusammenhang bedeutet Sachlichkeit geradezu den Gegensatz zur Parteilichkeit, d. h. zu dem Mißbrauch des Rechtes ftir partikulare Zwecke. Der juristische Begriff ,Die Natur der Sache< meint freilich nicht eine zwischen den Parteien umstrittene Sache, sondern die Grenzen, die dem Belieben bei der gesetzlichen Festsetzung durch den Gesetzgeber oder bei der juristischen Auslegung derselben gesetzt sind. Die Berufung auf die Natur der Sache verweist auf eine dem menschlichen Belieben entzogene Ordnung und will den lebendigen Geist der Gerechtigkeit auch gegen den
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Buchstaben des Gesetzes zum Siege bringen. Auch hier ist also die Natur der Sache etwas, was sich geltend macht, etwas das man zu respektieren hat. Verfolgen wir auf der anderen Seite, was sich in der Wendung von der >Sprache der Dinge< ausdrückt, so werden wir anscheinend in eine ganz ähnliche Richtung gewiesen. Auch die Sprache der Dinge ist etwas, auf das man nicht genug hört und auf das man besser hören sollte. Auch diese Wendung hat eine Art polemischen Akzentes. Sie bringt zum Ausdruck, daß wir die Dinge im allgemeinen gar nicht in ihrem eigenen Sein zu hören bereit sind, daß sie vielmehr dem Kalkül des Menschen und seiner Beherrschung der Natur durch die Rationalität der Wissenschaft unterworfen werden. In einer immer technischer werdenden Welt wird die Rede von einer Würde der Dinge immer unverständlicher. Sie sind die schwindenden, denen nur noch der Dichter eine letzte Treue bewahrt. Daß man aber von einer Sprache der Dinge überhaupt noch reden kann, erinnert daran, was die Dinge in Wahrheit sind, nämlich nicht ein Material, das gebraucht und verbraucht wird, nicht ein Werkzeug, das benutzt und beiseite gelegt wird, sondern etwas, was in sich Bestand hat und >zu nichts gedrängt< ist (Heidegger). Sein eigenes Insichsein ist es, was von der Eigenmächtigkeit menschlichen Verfugenwollens her mißachtet wird und wie eine Sprache ist, die es zu hören gilt. 9 Die Wendung von der Sprache der Dinge ist also nicht eine mythologischpoetische Wahrheit, wie sie der Zauberer Merlin oder der in den Geist der Märchen Eingeweihte allein zu verifizieren vermöchte, sondern was durch diese Wendung geweckt wird, ist die in uns allen schlummernde Erinnerung an das eigene Sein der Dinge, die noch immer zu sein vermögen, was sie sind. Von den bei den Redensarten her wird also in gewissem Sinne wirklich das gleiche - und ein Wahres - gesagt. Redensarten sind eben nicht nur das Unlebcndige einer uneigentlich gewordenen Sprachübung. Sie sind zugleich die Hinterlassenschaft eines gemeinsamen Geistes und vermögen, wenn man sie nur richtig versteht und in ihre geheime Bedeutungsful1e eindringt, Gemeinsames neu sichtbar zu machen. So lehrt uns der Blick auf die hier analysierten Redensarten, daß sie im gewissen Sinne dasselbe sagen, nämlich etwas, woran gegenüber der Eigenmächtigkeit des Beliebens erinnert werden muß. Aber das ist noch nicht alles. So sehr die beiden Begriffe ,Die Natur der Sache( und ,Die Sprache der Dinge< mitunter in fast austauschbarer Weise verwendet werden und durch ihren gemeinsamen Gegensatz geprägt sind, verbirgt sich dennoch in dieser Gemeinsamkeit eine Differenz, die nicht von ungefahr ist. Es erscheint vielmehr als eine philo9 In meinen Erläuterungen zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, die als Redamheft 1960 erschienen sind, habe ich diesen Punkt als den systematischen Ausgangspunkt fLir Heideggers späte Arbeiten unterstrichen. Uetzt in )Heideggers Wege1, Tübingen 1983, S. 81-93; in Ges. WerkeBd. 3]
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sophische Aufgabe, die Spannung sichtbar zu machen, die in den geheimen Untertönen der beiden Redensarten zu spüren ist, und ich möchte zeigen, daß der Austrag dieser Spannung es ist, der in der Philosophie unserer Tage geschieht und der die Problemlage absteckt, die uns allen gemeinsam ist. In dem Begriff ,Die Natur der Sache< sammelt sich fUr das philosophische Bewußtsein ein von vielen Seiten her empfundener Widerstand gegen den philosophischen Idealismus und insbesondere gegen die neukantianische Form, in welcher derselbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneuert wurde. Diese Fortbildung Kants, die sich auf ihn berief, um ihn zum Sprecher des Fortschrittsglaubens und des Wissenschaftsstolzes der eigenen Zeit zu machen, konnte mit dem Ding-an-sich im Grunde nichts mehr anfangen. Bei aller ausdrücklichen Abkehr von dem metaphysischen Idealismus der Nachfolger Kants kam eine Rückkehr zu dem kantischen Dualismus von Ding-an-sich und Erscheinung nicht mehr in Betracht. Nur durch eine Umdeutung des kantischen Gedankens ließ sich der Wortlaut Kants den eigenen, selbstverständlich gewordenen Überzeugungen anpassen, denen zufolge der Idealismus die totale Bestimmung des Gegenstandes durch die Erkenntnis bedeutet. So wurde das Ding-an-sich als das bloße Richtungsziel einer unendlichen Aufgabe des Fortbestimmens verstanden, und selbst Husserl, der im Unterschied zum Neukantianismus weniger vom Faktum der Wissenschaft ausging als vielmehr von der alltäglichen Erfahrung, suchte der Lehre vom Ding-an-sich eine phänomenologische Ausweisung zu geben, indem er davon ausging, daß die verschiedenen Abschattungen des Wahrnehmungs dinges das Kontinuum der einen Erfahrung bilden. Nichts anderes könne mit der Lehre vom Ding-an-sich gemeint sein als eben diese kontinuierliche ÜberfUhrbarkeit eines Aspektes des Dinges in den anderen, durch die der einheitliche Zusammenhang unserer Erfahrung ermöglicht wird. Auch Husserl verstand also die Idee des Dings-an-sich von der Idee des Fortschritts unserer Erkenntnis aus, die in der wissenschaftlichen Forschung ihre letzte Ausweisung hat. Auf dem Gebiete der Moralphilosophie gibt es freilich nichts Vergleichbares. Denn seit Rousseau und Kant war es nicht mehr möglich, eine moralische Perfektibilität des Menschengeschlechtes anzunehmen. Doch fand auch hier die phänomenologische Kritik am Neukantianismus ihren Ansatzpunkt, und zwar an dem Formalismus der kantischen Moralphilosophie. Kants Ausgangspunkt beim Phänomen der Pflicht und seine Aufweisung der Unbedingtheit des kategorischen Imperativs schienen jede inhaltliche ErfUllung dessen, was das Sitten gesetz gebietet, aus der Moralphilosophie zu verweisen. Max Schclers Kritik am Formalismus der kantischen Ethik, so schwach sie im Negativen der Kritik war, erwies durch den Entwurf einer materialen Wertethik ihre eigene Fruchtbarkeit. Auch stellte Schelers phänomenologische Kritik am neukantianischen Erzeugungsbegriff einen wichti-
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gen Anstoß dar, der insbesondere Nicolai Hartmann zur Abwendung vom Neukantianismus und zur Konzeption seiner ~Metaphysik der Erkenntnis< flihrtc. 1O Daß die Erkenntnis keinerlei Veränderung des Erkannten bewirktgeschweige denn seine Erzeugung meint -, daß alles, was ist, vielmehr gleichgültig dagegen ist, ob es erkannt wird oder nicht, schien ihm gegen jede Form des transzendentalen Idealismus, auch gegen die Husserlsche Konstitutionsforschung, zu sprechen. Positiv glaubte Nicolai Hartmann in der Anerkennung des Ansichseins des Seienden und seiner Unabhängigkeit von aller menschlichen Subjektivität den Weg zu einer neuen Ontologie zu bahnen. So geriet er in die Nähe des neucn }Realismus<, der gleichzeitig auch in England - und dort in voller Breite - zum Siege kam. Solche Abkehr von der transzendentalphilosophischen Reflexion ist aber, wie ich glaube, ein massives Mißverständnis ihres Sinnes, die Folgc jenes Niedergangs der philosophischen Erkenntnis, der mit Hegels Tod einsetzte. Es hat seine Gründe, wenn sich solche Abkehr immer wieder, auch im Philosophieren unserer Tagc, wiederholt. Wenn man etwa die überlegene Seinswirklichkeit der göttlich gcstifteten Ordnung, an der unser eigenmächtiges Wollen zuschanden wird (Gerhard Krüger) oder gegen den Menschen und seine Geschichte die Gleichgültigkeit der natürlichen Welt (Karl Löwith) ausspielte, so läßt sich solche polemische Abkehr als eine Berufung auf die Natur der Sache verstehen. Indessen scheint mir eine solche Berufung auf die Natur der Sache an der gemeinsamen Voraussetzung, die unbefragt alle diese Versuche zur Wiederherstellung des Ansichseins der Dinge beherrscht, ihre Begrenzung Zu finden. Es ist die Voraussetzung, daß die menschliche Subjektivität Willc ist, die auch dort in fraglos er Geltung ist, wo man der Willensbestimmtheit des menschlichen Seins das Ansichsein als ihre Grenze entgegenstellt, Der Sache nach bedeutet das nämlich, daß diese Kritiker des modemen Subjektivismus von dem, was sie kritisieren, gar nicht wahrhaft frei sind, sondern den Gegensatz nur nach der anderen Seite hin artikulieren. Sie stellen der Einseitigkeit des Neukantianismus, der den Fortschritt der wissenschaftlichen Kultur zum Leitfaden nimmt, die Einseitigkeit einer Metaphysik des Ansichseins entgegen, die in Wahrheit mit ihrem Gegner die Vorherrschaft der Willens bestimmtheit teilt, Man muß sich angesichts dieser Sachlage fragen, ob die Parole von der Natur der Sache nicht ein fragwürdiger Kampfruf ist, und ob nicht allen diesen Versuchen gegenüber die klassische Metaphysik eine wahre Überlegenheit beweist und eine fortbestehende Aufgabe stellt, Die Überlegenheit der klassischen Metaphysik scheint mir darin zu bestehen, daß sie über den 10 Das früheste Dokument hierfUr ist die Scheler-Rezension, die N. Hartmann bereits im Frühjahr 1914 in der Zeitschrift )Die Geisteswissenschaften< veröffentlicht hat. (Kleine Schriften III, 365ff.) Vgl. meine eigene Arbeit )Metaphysik der Erkenntnis< im Logos, 1924 [in Ges. Werke Bd. 4]
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Dualismus von Subjektivität und Wille auf der einen Seite, Objekt und Ansichsein auf der anderen Seite von vornherein hinaus ist, indem sie die vorgängige Entsprechung des einen und des anderen denkt. Freilich ist es eine theologische Entsprechung, auf der der Wahrheitsbegriff der klassischen Metaphysik, die Angemessenheit der Erkenntnis an die Sache, beruht. Denn es ist ihrer beider Kreatürlichkeit, worin Seele und Sache geeint sind. Wie die Seele geschaffen ist, mit dem Seienden zusammenzukommen, so ist die Sache geschaffen, wahr, und das heißt erkennbar zu sein. Es ist der unendliche Geist des Schöpfers, in dem sich so auflöst, was ftir den endlichen Geist ein unauflösbares Rätsel scheint. Das Wesen und die Wirklichkeit der Schöpfung selbst besteht darin, solche Zusammenstimmung von Seele und Sache zu sein. Nun kann sich die Philosophie einer solchen theologischen Begründung gewiß nicht mehr bedienen und wird auch die säkularisierten Gestalten derselben, ,,,ie sie der spekulative Idealismus mit seiner dialektischen Vermittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit darstellt, nicht wiederholen wollen. Aber der Wahrheit dieser Entsprechung wird sie auch ihrerseits sich nicht verschließen dürfen. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der Metaphysik fort, freilich als eine Aufgabe, die nicht selber wieder als Metaphysik, d. h. im Rückgang auf einen unendlichen Intellekt, gelöst werden kann. So stellt sich die Frage: gibt es endliche Möglichkeiten, dieser Entsprechung gerecht zu werden? Gibt es eine Begründung dieser Entsprechung, die sich nicht zu der Unendlichkeit eines göttlichen Geistes versteigt und doch der unendlichen Entsprechung von Seele und Sein gerecht zu werden vermag? Ich meine, es gibt sie. Es gibt einen Weg, auf den das Philosophieren immer deutlicher gewiesen wird, der diese Entsprechung bezeugt. Es ist der Weg der Sprache. Es scheint mir kcin Zufall, daß das Phänomen der Sprache in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum der philosophischen Fragestellung gerückt ist. Vielleicht kann man sogar sagen, daß sich unter diesem Zeichen selbst die größte Kluft philosophischer Art, die heute zwischen den Völkern besteht, zu überbrücken beginnt, nämlich der Gegensatz zwischen dem Extrem des angelsächsischen Nominalismus auf der einen Seite und der metaphysischen Tradition des Kontinents auf der anderen Seite. Jedenfalls nähert sich die Sprachanalyse, die sich aus der Durchreflexion der Problematik logischer Kunstsprachen in England und Amerika entwickelt hat, in auffallender Weise der Forschungsgesinnung der phänomenologischen Schule E. Husserls. Wie in ihrer Fortentwicklung durch M. Heidegger die Anerkennung der Endlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins die Aufgabe der Metaphysik in ihrem Wesen verwandelt hat, so ist mit der Anerkennung der selbständigen Bedeutung der gesprochenen Sprache der antimetaphysische Affekt des logischen Positivismus der Auflösung verfallen (Witt-
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genstein). Von der Information bis zum Mythos und der Sagc, die zugleich einc >Zcige' ist (Martin Heidegger), macht die Sprache das gemeinsame Thema aller aus. Man muß sich nun, wie ich meine, die Frage stellen, ob Sprache, wenn man sie wahrhaft denken will, nicht am Ende )Sprache der Dinge' heißen muß und ob cs nicht dic Sprache der Dinge ist, in der sich die ursprüngliche Entsprechung von Seele und Sein so ausweist, daß auch endliches Bewußtsein von ihr wissen kann. Daß die Sprache die Mitte ist, durch die sich das Bewußtsein mit dem Seienden zusammenschließt, ist an sich keine neue Behauptung. Schon Hegel hat dic Sprache die Mitte des Bewußtseins genannt", durch die sich der subjektive Geist mit dem Sein der Objekte vermittelt, und in unserer Zeit hat Ernst Cassirer den schmalen Ausgangspunkt des Neukantianismus, das Faktum der Wissenschaft, zu einer Philosophie der symbolischen Formen ausgeweitet, die nicht nur Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in eins umfaßte, sondern dem gesamten menschlichen Kulturverhalten eine transzendentale Begründung geben sollte. Cassirer ging davon aus, daß Sprache, Kunst und Religion Formen der Repräsentation, d. h. der Darstellung von etwas Geistigem in etwas Sinnlichem sind. In der transzendentalen Reflexion auf diese Formen aller geistigen Gestaltung müsse sich der transzendentale Idealismus zu einer neuen und wahren Universalität erheben lassen. Die symbolischen Formen nämlich seien Gestaltwcrdungen des Geistes in der flüchtigen Zcitlichkeit sinnlicher Erscheinung und stellten insofern die verbindende Mitte dar, als sie ebensosehr objektive Erscheinung wie Spur des Geistes seien. - Man muß sich frcilich fragen, ob eine solche Analytik der geistigen Grundkräfte, wic sie Cassirer vorschwebte, der Einzigartigkeit des Phänomens der Sprache wirklich Rechnung trägt. Denn Sprache steht nicht neben Kunst und Recht und Religion, sondern stellt das tragende Medium rur allc diese Erscheinungen dar. Dem Begriff der Sprache wird dadurch innerhalb der symbolischen, d. h. Geist aussprechenden Formen nicht bloß eine besondere Auszeichnung verliehen. Vielmehr ist die Sprache, solange sie als symbolische Form gedacht ist, überhaupt noch nicht in ihren wahren Dimensionen erkannt. Schon an die idealistische Sprachphilosophie, die von Herder und Humboldt ausgeht, läßt sich vielmehr die kritische Frage richten, die die Philosophie der symbolischen Formen mittrifft, ob sie nicht die Sprache von dem in ihr Gesprochenen und durch sie Vermittelten isoliert, indem sie auf ihre >Form, gerichtet ist. Liegt nicht die eigcntliche Wirklichkeit der Sprachc, durch die sie die Entsprechung, die wir suchen, darstellt, gerade darin, daß sie keine formale Kraft und Fähigkeit ist, sondern ein vor gängiges Umfaßtsein alles Seienden durch sein mögliches Zursprachekommen? Ist 11
[Phänomenologie des Geistes (Hoffmeister), S. 459J
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nicht die Sprache weniger die Sprache des Menschen als die Sprache der Dinge? Unter dem Gesichtspunkt dieser Frage gewinnt die innere Zusammengehörigkeit von Wort und Ding, wie sie am Anfang des Denkens über Sprache zum Problem erhoben wurde, an Interesse. Gewiß ist die Frage nach der Richtigkeit der Namen, die die Griechen stellen, nur mehr ein letzter Nachklang jener Wortmagie, die das Wort als die Sache selbst, bzw. als ihr stellvertretendes Sein versteht. Und gewiß setzt das Philosophieren der Griechen mit der Auflösung solchen Namenszaubers ein und tut seine ersten Schritte als Sprachkritik. Gleichwohl bewahrt es in sich selbst so viel von der naiven Selbstvergessenheit ursprünglicher Welterfahrung, daß ihm das im Logos erscheinende Wesen der Dinge als das Sichdarstellen des Seienden selber gilt. Wenn Plato im )Phaidon< die Flucht in die Logoi als eine }Z\veitbeste Fahrt, bezeichnet, weil hier das Seiende nur im Spiegelbild des Logos statt in seiner leibhaften Wirklichkeit betrachtet werde, so liegt über einer solchen Äußerung unverhohlene Ironie. Am Ende wird das wahre Sein der Dinge gerade in ihrer sprachlichen Erscheinung, nämlich in der Idealität ihres Gemeintseins, zugänglich, das sich dem gedankenlosen Blicke der Erfahrung verschließt, freilich so, daß das Gemeintsein selber, mithin die Spraehlichkeit des Erscheinens der Dinge, nicht als solches erfahren wird. Indem nämlich die Metaphysik das wahre Sein der Dinge als die Wesenheiten versteht, die dem )Geiste< zugänglich sind, wird die Sprachlichkeit dieser Seins erfahrung verdeckt. So denkt auch der christliche Erbe der griechischen Metaphysik, das scholastische Mittelalter, das Wort ganz von der species her, als ihre Perfektion, ohne das Rätsel ihrer Inkarnation zu erfassen. Die Sprachlichkeit der Welterfahrung, an der sich das metaphysische Denken ursprünglich orientierte, wird am Ende zu etwas Sekundärem und Kontingentem, das den denkenden Blick auf die Dinge durch sprachliche Konventionen schematisiert und von ursprünglicher Seins erfahrung abschließt. In Wahrheit ist es freilich doch die Sprachlichkeit der Wclterfahrung, die sich hinter dem Schein der Vorgängigkeit der Dinge vor ihrer sprachlichen Erscheinung verbirgt. Insbesondere ist es der Schein der universalen Objektivierungsmöglichkeit von allem und jedem, der durch die Universalität der Sprache gestützt wird und durch den sie sich selber gänzlich verdunkelt. Indem die Sprache - wenigstens in der indogermanischen Sprachenfamilie - über die Möglichkeit verfügt, die allgemeine Nennungsfunktion aufjedcn beliebigen Satzteil auszudehnen und alles zum Subjekt möglicher weiterer Aussagen zu machen, errichtet sie den universalen Schein der Verdinglichung, der sie selber zum bloßen Mittel der Verständigung herabsetzt. Auch die moderne Sprachanalytik, so sehr sie die verbalistischen Verfuhrungen der Sprache durch Ausarbeitung künstlicher Zeichen systeme aufzudecken sucht, stel1t
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die Grundvoraussetzung einer solchen Objektivierbarkeit nicht in Frage. Sie lehrt vielmehr nur durch ihre eigene Selbstbegrenzung, daß es aus dem
Bannkreis der Sprache keine wirkliche Befreiung durch EinfUhrung künstlicher Zeichensysteme gibt, sofern alle solche Systeme die natürliche Sprache schon voraussetzen. Wie die klassische Sprachphilosophie die Frage nach dem Ursprung der Sprache als eine unhaltbare Fragestellung aufdeckte, fUhrt auch die Durchreflexion der Idee einer Kunstsprache zur Selbstaufhebung dieser Idee und damit zur Legitimierung der natürlichen Sprachen. Was aber damit impliziert ist, bleibt in der Regel ganz ungedacht. Gewiß weiß man, daß Sprachen ihre Wirklichkeit überall dort haben, wo sie gesprochen werden, d. h. wo sich Menschen miteinander zu verständigen v.rissen. Aber was ist das für ein Sein, das der Sprache zukommt? Das eines Verständigungsmittels? Schon Aristoteles hat, wie mir scheint, auf den
wahren Seins charakter der Sprache hingedeutet, indem er den Begriff der Syntheke von seinem naiven Sinn von >Konvention< ablöste. 12 Indem er alle Stiftung und Entstehung aus dem Begriff Syntheke ausschloß, wies er in die Riehtungjener Entsprechung von Seele und Welt, die am Phänomen der Sprache als solcher aufleuchtet, auch unabhängig von der gewaltigen Extrapolation eines unendlichen Geistes, durch welche die Metaphysik dieser Entsprechung eine theologische Begründung gab. Das Verständigtsein über die Dinge, das sich in der Sprache vollzieht, besagt als solches weder einen Vorrang der Dinge noch einen Vorrang des menschlichen Geistes, der sich des sprachlichen Verständigungsmittels bedient. Vielmehr ist die Entsprechung, die in der sprachlichen Welterfahrung ihre Konkretion findet, als solche das schlechthin Vorgängige. Das läßt sich besonders schön an einem Phänomen verdeutlichen, das selbst ein strukturelles Moment alles Sprachlichen ausmacht, nämlich am Rhythmus. Wie schon Richard Hönigswald in seiner denkpsychologischen Analyse betont hat n , liegt das Wesen des Rhythmus in einern eigentümlichen Zwischenbereich von Sein und Seele. Die Folge, die durch den Rhythmus rhythmisiert wird, stellt nicht notwendig den Eigenrhythmus der Phänomene dar. Vielmehr kann auch in einer gleichmäßigen Folge die Rhythmisierung erst hineingehört werden, so daß sie als eine rhythmisch gegliederte erscheint - oder besser: es kann nicht nur, sondern es muß eine solche Rhythmisierung am Ende immer erfolgen, wo eine gleichmäßige Folge vom Gemüt aufgefaßt werden soll. Was heißt hier: es muß' Gegen die Natur der Dinge? Doch offenbar nicht. Was heißt dann aber noch >Eigenrhythmus der Phänomene(? Sind sie nicht gerade, was sie sind, crst, indem sie so rhythmisch oder rhythmisiert vernommen ,"verden? Ursprünglicher alsjene 12
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[Peri hermem:ias 4, 16 b 31 tY.] Höoigswald, Vom Problem des Rhythmus. Leipzig 1926J
rR.
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akustische Folge auf der einen Seite und jene rhythmisierende Auffassung auf der anderen Seite ist also die Entsprechung, die zwischen beiden waltet. Davon wissen insbesondere die Dichter, die sich über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, der in ihnen waltet, Rechenschaft zu geben versuchen, wie etwa Hölderlin. Es ist eine rhythmische Erfahrung, die sie beschreiben, wenn sie von der poecischen Urerfahrung sowohl die Vorgegebenheit der Sprache als auch die Vorgegebenheit der Welt, d. h. der Ordnung der Dinge, fernhalten und die dichterische Konzeption als das Sicheinschwingen von Welt und Seele im dichterischen Sprachewerden beschreiben. Das Gebilde des Gedichts, zu dem Sprache wird, verbürgt als ein Endliches das einander Zugesprochensein von Seele und Welt. Es ist hier, daß das Sein der Sprache seine zentrale Stellung erweist. Der Ausgang von der Subjektivität, wie er dem neueren Denken natürlich geworden ist, fUhrt dabei ganz in die Irre. Sprache ist nicht als ein vorgängiger Weltentwurf der Subjektivität zu denken, weder als der eines einzelnen Bewußtseins noch als der eines Volksgeistes. Das sind alles Mythologien, genau wie der Begriff des Genies, der in der ästhetischen Theorie deswegen eine so beherrschende Rolle spielt, weil er das Zustandekommen des Gebildes als eine unbewußte Produktion verstehen und damit aus der Analogie zu dem bewußten Produzieren deuten lehrt. Das Kunstwerk ist aber so wenig von der planmäßigen AusfUhrung eines Entwurfs - sei es auch eines nachtwandlerisch unbewußten - her zu verstehen, wie der Gang der Weltgeschichte rur unser endliches Bewußtsein als die AusfUhrung eines Planes gedacht werden darf. Glück und Gelingen verfuhren vielmehr hier wie dort zu oracula ex eventu! die das Ereignis, von dem sie ausgesagt werden, das Wort oder die Tat, in Wahrheit verdecken. Es scheint mir eine Folge des modernen Subjektivismus, daß die Selbstinterpretation in a1len solchen Bereichen einen sachlich ungerechtfertigten Vorrang erhalten hat. In Wahrheit wird man einem Dichter fUr die Erklärung seiner Verse kein Privileg zugestehen dürfen, so wenig wie einem Staatsmann fur die historische Erklärung der Ereignisse, an denen er selber handelnd beteiligt war. Der echte Begriff von Selbstverständnis", der in allen solchen Fällen allein anwendbar ist, ist nicht von dem Modell des vollendeten Selbst bewußtseins aus zu denken, sondern von der religiösen Erfahrung aus. Sie schließt immer schon ein, daß die Irrwege des menschlichen Selbstverständnisses nur durch göttliche Gnade zu ihrem wahren Ende finden, d. h. zu der Einsicht, auf allen Wegen zum eigenen Heile geftihrt worden zu sein. Alles menschliche Selbstverständnis ist in sich durch sein Ungenügen bestimmt. Das gilt gerade auch von Werk und Tat. Kunst und Geschichte entziehen sich daher ihrem eigenen Sein nach der Deutung von der Subjekti14
[Vgl. unten meine Arbeit IZur Problematik des Selbstverständnisses(, S. 121 ff.}
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vität des Bewußtseins her. Sie gehören jenem hermeneutischen Universum an, das durch die Vollzugs weise und Wirkliclikeit der Sprache, die alles einzelne Bewußtsein übersteigt, charakterisiert ist l5 . In der Sprache, in der Sprachlichkeit unserer Welterfahrung, liegt die Vermittlung von Endlichem und Unendlichem, die uns als endlichen Wesen angemessen ist. Was in ihr ausgelegt ist, ist eine stets endliche Erfahrung, die gleichwohl nirgends an jene Schranke stößt, an der ein unendlich Gemeintes nur noch geahnt und nicht mehr gesagt werden kann. Ihr eigener Fortgang ist niemals begrenzt und ist doch keine fortschreitende Annäherung an einen gemeinten Sinn, sondern ist injedcm seiner Schritte beständige Repräsentation dieses Sinnes. Es ist das Gelungensein des Werkes, nicht das von ihm nur Gemeinte, das seinen Sinn ausmacht. Es ist das treffende Wort, und nicht das in die Subjektivität des Meinens verborgene, das den Sinn zur Aussage bringt. Es ist die Überlieferung, die unseren geschichtlichen Horizont öffnet und eingrenzt - und nicht ein opakes Geschehen der lan sichi geschehenden Geschichte. So gewinnt die Abweisung des Meinens, die wir als den gemeinsamen Zug in der Rede von der Natur der Sache und der Spraclie der Dinge vernehmen, einen positiven Sinn und konkrete ErfUllung. Damit aber tritt die Spannung, die zwischen diesen bei den Redensarten besteht, erst in ihr wahres Licht. Was als dasselbe erschien, ist nicht dasselbe. Es ist etwas anderes, ob von der Subjektivität des Meinens und der Eigenmächtigkeit des Wo lIens aus eine Grenze erfahren wird oder ob von der vorgängigen Eingespieltheit des Seienden in spracherschlossene Welt her gedacht wird. Nicht an der Natur der ,Sache, die sich dem Andersmeinen entgegenstellt und Achtung erzwingt, sondern an der Sprache der Dinge, die so gehört werden will, wie die Dinge sich zur Sprache bringen, scheint mir die unserer Endlichkeit angemessene Erfahrung jener Entsprechung möglich, welche einst die Metaphysik als die ursprüngliche Angemessenheit alles Geschaffenen aneinander und insbesondere als die Anmessung der geschaffenen Seele an die geschaffenen Dinge lehrte.
15 Vgl. außer )Wahrhcit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1) den unten S. 219ff. abgedruckten Aufsatz: >Die Universalität des hermeneutischen Problems( rund inzwischen die späteren Arbeiten zur Sache. die unten S. 232 folgenl.
7. Begriffsgeschichte als Philosophie 1970
Das Thema >Begriffs geschichte als Philosophie( erweckt den Anschein. als ob hier eine sekundäre Fragestellung und eine Hilfsdisziplin des philosophischen Denkcns zur Unangemessenheit eines universalen Anspruchs aufgehöht würde. Denn das Thema enthält die Behauptung, Begriffsgeschichte sei Philosophie oder vielleicht sogar, Philosophie solle Begriffsgeschichte sein. Beides sind ohne Zweifel Thesen, deren Rechtfertigung und Begründung nicht auf der Hand liegt und denen wir uns deswegen prüfend zuzuwenden haben. In jedem Falle liegt in der Formulierung des Themas eine implizite Aussage über das, was Philosophie ist, nämlich daß ihre Begriffiichkeit ihr Wesen ausmacht - im Unterschiede zu der Funktion der Begriffe in den Aussagen der >positiven( Wissenschaften. Während diese die Gültigkeit ihrer Begriffe jeweils an dem Erkenntnisgewinn messen, der durch Erfahrung kontrollierbar ist, hat offenbar die Philosophie in diesem Sinne keinen Gegenstand. Damit fangt die Fragwürdigkeit der Philosophie an. Kann man überhaupt ihren Gegenstand auge ben, ohne daß man schon in die Frage nach der Angemessenheit der Begriffe, die man dabei gebraucht, verwickelt ist? Was heißt )angemessen~ dort, wo man nicht einmal weiß, woran man messen soll? Die philosophische Tradition des Abendlandes allein kann auf diese Frage eine geschichtliche Antwort enthalten. Nur sie können wir befragen. Denn die rätselhaften Aussageformen von Tiefsinn und Weisheit, die in anderen Kulturen, insbesondere des Fernen Ostens, entwickelt worden sind, stehen mit dem, was abendländische Philosophie heißt, in einem letzten Endes nicht überprüfbaren Verhältnis, insbesondere deshalb, weil die Wissenschaft, in deren Namen wir fragen, selber eine abendländische Entdeckung ist. Wenn es nun so ist, daß die Philosophie keinen eigenen Gegenstand hat, an dem sie sich mißt und dem sie sich mit ihren Mitteln des Begriffs und der Sprache anmißt, heißt das dann nicht, daß der Gegenstand der Philosophie der Begriff selbst ist? Der Begriff, das ist das wahre Sein, so wie wir ja das Wort >Begriff( zu gebrauchen pflegen. Man sagt etwa: das ist der Begriff eines Freundes, wenn man jemanden in seiner Fähigkeit zur Freundschaft
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besonders rühmen will. Heißt also dies der Gegenstand der Philosophie, daß es der Begriffist, sozusagen die Selbstentfaltung des Denkens; so, wie es zu dem, was ist, sich aufklärend und erkennend verhä1t? Es ist wahr, das ist die Antwort der Tradition von Aristoteles bis Hege!. Aristoteles hat im Buch Gamma der Metaphysik die Auszeichnung der Philosophie, insbesondere der Metaphysik, der ersten Philosophie - ,Philosophie< hieß ja überhaupt >Erkenntnis< - so bestimmt, daß er gesagt hat: alle anderen Wissenschaften haben einen positiven Bereich, einen Bereich, den sie zum speziellen Gegenstand haben. Die Philosophie als die Wissenschaft, die wir hier suchen, hat keinen so umgrenzten Gegenstand. Sie meint das Sein als solches, und es verknüpft sich mit dieser Frage nach dem Sein als solchem der l3lick auf sieh voneinander unterscheidende Weisen zu sein: das unveränderlich Evvige und Göttliche, das sieh ständig Bewegende, die Natur, das sich bindende Ethos, der Mensch. So etwa steht die Tradition der Metaphysik mit ihren Hauptthemen vor uns, bis hin zu der kantischen Gestalt der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten, in der das Wissen von Gott in eine spezifische Verbindung zu der Moralphilosophie getreten ist. Was kann aber dieser Gegenstandsbereich der Metaphysik im Zeitalter der Wissenschaft noch bedeuten? Nicht nur, daß Kaot selber es gewesen ist, der durch seine Kritik der reinen Vernunft, d. h. durch die Kritik am Vermögen des Menschen, aus bloßen Begriffen Erkenntnis zu gewinnen, die bisherige Traditionsgestalt der Metaphysik, die sich in rationale Kosmologie, Psychologie, Theologie gliederte, zerstört hat. Wir sehen vor allem in unseren Tagen, wie sich der Anspruch der Wissenschaft, die einzig legitime Erkenntnisweise des Menschen zu sein - ein Anspruch, der freilich weniger von der Wissenschaft selbst als von der Öffentlichkeit, die ihre Erfolge bewundert, gestützt wird -, dazu gefUhrt hat, daß sich innerhalb dessen, was man landläufig Philosophie nennt, die Wissenschaftstheorie und Logik sowie die Analyse der Sprache in den Vordergrund gerückt haben. Die Begleiterscheinung dieser zunehmenden Tendenz ist, daß alles andere, was man Philosophie nennt, als Weltanschauungen oder als Ideologien aus der Philosophie verwiesen und damit letzten Endes einer von außen geführten Kritik unterworfen wird, die nicht mehr erlaubt, daß sie als Erkenntnis gelten. So ist die Frage: Was bleibt der Philosophie, was sich wirklich neben dem Anspruch der Wissenschaft behaupten kann? Der Laie wird antworten: Die wissenschaftliche Philosophie v·:ird gegenüber den luftigen und weithin leuchtenden Gebilden von Weltanschauung und Ideologie fur sich in Anspruch nehmen, eindeutige Begriffe zu gebrauchen. Es ist das alte Verlangen des Laien, von dem Philosophen zu erwarten, daß er alle seine Begriffe wohl definiert. Ob solches Definitionsverlangen legitim ist, ob dem Anspruch und der Aufgabe der Philosophie aueh nur angemessen ist, was im Bereiche der Wissenschaften seine unbestrittene
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Legitimation hat, wird noch zu fragen sein. Denn in der Voraussetzung, daß es auf die Eindeutigkeit der Begriffe ankommt, liegt die andere Voraussetzung, daß die Begriffe unsere Werkzeuge sind, die wir uns anfertigen, Um an die Gegenstände heranzugehen und sie unserer Erkenntnis zu unterwerfen. Wir sehen ja, daß die bestdefinierten Begriffe, die wir überhaupt kennen, und die exakteste Begriffsbildung dort zu Hause sind, \VO eine ganze Gegenstandswelt durch das Denken selbst erzeugt wird: in der Mathematik. Dort gibt es nicht einmal den Beitrag der Erfahrung, weil die Vernunft mit sich selbst beschäftigt ist, wenn sie die großartigen Rätsel der Zahlen oder der geometrischen Figuren oder was immer aufzuklären unternimmt. Ist nun die Sprache und das Denken der Philosophie so, daß es wie aus einem bereitliegenden Werkzeugkasten die Begriffe der Philosophie zur Hand nimmt und weglegt und auf diese Weise Erkenntnis zutage fördert, und zurückweist, was dem Erkenntnisziele nicht dient? Man wird sagen dürfen: In einem gewissen Sinne ist es so, sofern Begriffsanalyse immer auch Sprachkritik einschließt, und sich durch die genaue logische Analyse der Begriffe Scheinfragen und Scheinvorurteile enthüllen. Aber das Ideal einer eindeutigen Begriffssprache, das insbesondere am Anfang unseres Jahrhunderts von der philosophischen Logik mit solchem Enthusiasmus verfolgt worden ist, hat sich aus der immanenten Entfaltung dieser Anstrengung heraus selber begrenzt. Die Idee einer reinen Kunstsprache des philosophischen Gedankens ist auf dem Wege der logischen Selbstanalyse in ihrer Undurchftihrbarkeit klargelegt worden, sofern es immer der Sprache, die wir sprechen, bedarf, wenn wir Kunstsprachen einführen \"lOllen. Die Sprache, die wir sprechen, ist nun aber so beschaffen, daß von ihr zugegebenermaßen eine ständige Beirrung unserer Erkenntnis auszugehen vermag. Schon Bacon hat die idola fori, die Vorurteile des Sprachgebrauches, als Behinderung einer vorurteilslosen Forschung und Erkenntnis denunziert. Aber ist das alles? Wenn Sprache mitunter Vorurteile fixiert, bedeutet das, daß in ihr stets nur Unwahrheit erscheint? Sprache ist nicht nur dies. Sie ist die allumfassende Vorausgelegtheit der Welt und daher durch nichts zu ersetzen, Vor allem philosophisch einsetzenden kritischen Denken ist schon immer die Welt für uns eine in Sprache ausgelegte. Im Lernen einer Sprache, im Hineinwachsen in unsere Muttersprache artikuliert sich uns die Welt. Das ist weniger Beirrung als erste Erschließung. Es freilich schließt ein, daß der Prozeß der Begriffsbildung, der inmitten dieser sprachlichen Ausgelegtheit anhebt, niemals ein erster Anfang ist. Er gleicht nicht dem Schmieden eines neuen Werkzeuges aus irgendeinem geeigneten Stoff. Denn er ist immer ein Weiterdenken in der Sprache, die wir sprechen, und in der in ihr angelegten Auslegung der Welt. Da ist nirgends ein Anfang mit Null. Gewiß ist auch die Sprache, durch die sich die Ausgelegtheit der Welt darstellt, ohne Zweifel ein Produkt und das Ergebnis von Erfahrung. >Erfahrung. hat hier aber selber
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nicht jenen dogmatischen Sinn des unmittelbar Gegebenen, dessen ontologisch-metaphysische Vorurteilshaftigkeit die philosophische Bewegung unseres Jahrhunderts genügend aufgedeckt hat, und zwar in beiden Lagern, sowohl innerhalb der phänomenologisch-hermeneutischen wie innerhalb der nominalistischen Tradition. Erfahrung ist nicht primär sensation. Es ist nicht der Ausgangspunkt bei den Sinnen und ihren Daten, der als solcher Erfahrung heißen kann. Wir haben einsehen gelernt, wie sich auch die Gegebenheiten unserer Sinne jeweils in Auslegungszusammenhängen artikulieren, wie die Wahrnehmung, die etwas als das Wahre nimmt, aller Unmittelbarkeit der Sinnesdaten voraus die Sinneszeugnisse schon immer ausgelegt hat. Wir dürfen daher sagen: Begriffsbildung ist - hermeneutisch gesehen - durch schon gesprochene Sprache ständig mitbedingt. Wenn das aber so ist, dann ist es der einzige philosophisch redliche Weg, sich das Verhältnis von Wort und Begriff als ein unser Denken bestimmendes Verhältnis bewußt zu machen. Ich nenne es das Verhältnis von Wort und Begriff-nicht: von Wörtern und Begriffen. Ich ziele damit auf die implizite Einheit, die sowohl dem Wort wie auch dem Begriffzukommt: Für dieses Verhältnis gibt es keine Wörter, ja, es gibt vielleicht auch nicht so selbstverständlich, wie das die heutige sprachtheoretische Forschung annimmt, Sprachen. Jede Sprache, die gesprochen wird, ist immer nur da als das Wort, das jemandem gesagt wird, als die Einheit von Rede, die zwischen Menschen Kommunikation stiftet, Solidarität aufbaut. Die Einheit des Wortes liegt aller Vielfalt der Wörter oder der Sprachen voraus. Sie enthält eine implizite Unendlichkeit dessen, was es überhaupt in Worte zu fassen lohnt. Der theologische Begriff des Verbum bleibt in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich, sofern )das Wort< das Ganze der Heilsbotschaft ist, und doch in der Aktualität des pro me. Aber so ist es auch mit dem Begriff. Ein System von Begriffen, eine Vielheit von Ideen, die man jede rur sich defmieren und abgrenzen und bestimmen müßte - das trifft nicht die radikale Frage an die Begriffiichkeit der Philosophie und an die Philosophie als Begriffiichkeit. Denn in der Philosophie geht es um die Einheit )deS< Begriffs. Wie Plato, wenn von seiner Ideenlehre geredet wird und er diese >viclbeschwätztc{ Lehre von den Ideen philosophisch zu durchdringen unternimmt, von dem Einen spricht und von der Frage, wie dies Einejeweils ein Vieles ist. Wie Hegel, wenn erin seiner )Logik< die Gedanken Gottes nachdenken will, die vor Beginn der Schöpfung als die Totalität der Möglichkeiten des Seins in seinem Geiste sind, mit )dem Begriff< als der vollendeten Selbstentfaltung dieser Möglichkeiten endet. Die Einheit des Gegenstandes der Philosophie ist gerade dadurch gegeben, daß, so wie die Einheit des Wortes die des Sagwürdigen, so die Einheit des philosophischen Gedankens die des Denkwürdigen ist. Nicht die einzelnen Definitionen von Begriffen besitzen je eine selbständige philo-
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sophische Legitimation - es ist immer ein einheitlicher Ansatz des Denkens, in dem sich die Funktion des einzelnen Begriffs überhaupt erst zu ihrer legitimen Bedeutung bestimmt. Das gilt es festzuhalten, wenn wir jetzt die Frage stellen: was die Aufgabe einer Begriffsgeschichte ist, die nicht eine Ergänzungsarbeit philosophiegeschichtlicher Forschung leisten, sondern in den Vollzug der Philosophie hineingehören, als ,Philosophie< sich vollziehen soll. Das läßt sich an einer Gegenposition und deren Grenzen zeigen, an der sogenannten Problemgeschichte. Im Lichte unserer Überlegungen läßt sich zeigen, warum diese traditionelle, im Neukantianismus, also in den letzten 50-100 Jahren herrschend gewesene Betrachtungsweise der Geschichte der Philosophie in Wahrheit unzureichend ist. Dabei sind die großen Leistungen der Problemgeschichte unbestritten. - Sie macht eine an sich sehr vernünftige Voraussetzung. Wenn sich schon nicht die Lehrsysteme der Philosophen zu einem fortschreitenden Gange der Erkenntnis nach dem Muster der Logik oder der Mathematik ordnen, wenn sich das Hin und Her der Standpunkte der Philosophie - trotz Kant - nicht in den ruhigen Fortgang einer Wissenschaft umwandeln läßt, so sind doch die Probleme, auf die diese Lehren Antworten suchen, immer dieselben gewesen und lassen sich stets wiedererkennen. Das war der Weg, auf dem die Problemgeschichte die Gefahren einer historistischen Relativierung alles philosophischen Denkens zu bannen gewußt hat. Sie hat zwar nicht strikte behaupten wollen und behaupten können, daß es immer ein geradliniger Fortschritt in der Analyse und Behandlung solcher identischer Probleme ist, was sich in der Geschichte der Philosophie abspielt. Nicolai Hartmann, dem wir hier alle viel verdanken, hat es vorsichtiger formuliert: der eigentliche Sinn der Problemgeschichte sei die Schärfung (und beständige Verfeinerung) des Problembewußtseins. Darin liege der Fortschritt der Philosophie. Von den Überlegungen aus, die ich anstellte, zeigt sich nun aber an dieser Methode der Problemgeschichte ein dogmatisches Moment. Sie enthält Voraussetzungen, die so nicht überzeugen können. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Das Freiheitsproblem scheint gewiß eines der Probleme zu sein, die die Bedingung, ein identisches Problem zu sein, am besten erflillen. Die Bedingung, ein philosophisches Problem zu sein, besteht nämlich in Wahrheit darin, unlösbar zu sein. Das heißt, es muß von so weitreichender und grundlegender Art sein, daß es sich immer wieder neu stellt, weil keine mögliche ,Lösung< desselben damit ganz fertig zu werden vermag. So hat schon Aristoteles das Wesen des dialektischen Problems dadurch beschrieben, daß es die großen und nicht entscheidbaren Fragen seien, die man dem Gegner im Streitgespräch in den Weg stellen solle. Aber die Frage ist: Gibt es ,das< Freiheitsproblem? Ist die Frage nach der Freiheit wirklich eine in anen
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Zeiten gleiche? Geht jener tiefsinnige Mythos der platonischen Staatsschrift, ,"vonach die Seele in einem vorgeburtlichen Zustand sich ihr Lebenslos selber wählt, und wenn sie sich über die Folgen ihrer Wahl beklagt, die Antwort bekommt: >aitia he1omenou, Du bist schuld an Deiner Wahl<", auf dasselbe wie der Freiheitsbegriff, der etwa die stoische Moralphilosophie beherrscht hat, die mit bestimmter Entschlossenheit sagte: der einzige Weg, unabhängig und damit frei zu sein, sei, sein Herz an nichts zu hängen, das nicht bei einem selber steht? Ist das dasselbe Problem wie der platonische Mythos? Ist es dasselbe Problem, wenn die christliche Theologie zwischen der Freiheit des Menschen und der göttlichen Vorsehung ihre großen theologischen Rätsel spinnt und zu lösen versucht? Und ist es dasselbe Problem, wenn wir im Zeitalter der Naturwissenschaften die Frage stellen: wie soll angesichts der lückenlosen Determination des Naturgeschehens, angesichts der Tatsache, daß alle Naturwissenschaft von der Voraussetzung ausgehen muß, daß in der Natur keine Wunder geschehen, die Möglichkeit der Freiheit begriffen werden? Ist das Problem von Determinismus und Indeterminismus des Willens, das von da aus formuliert wird, noch dasselbe Problem? Man braucht nur ein paar Schritte ,"veit ein solches angeblich identisches Problem durchzuanalysieren, und man sicht, was für eine Dogmatisierung in der angeblichen Problemselbigkeit steckt. Ein solches Problem ist wie eine nie wirklich gefragte Frage. Jede wirklich gefragte Frage ist motiviert. Man weiß, warum man et\~laS fragt, und man muß wissen, warum man etwas gefragt wird, ,"venn man die Frage wirklich verstehen - und gegebenenfalls beantworten - soll. So scheint mir an dem Beispiel des Freiheitsproblems überzeugend, daß die jeweilige Fragestellung nicht durch die Voraussetzung verständlich wird, daß es sich um das identische Problem der Freiheit handelt. Es kommt vielmehr darauf an, die wirklichen Fragen, wie sie sich stellen - und nicht solche abstrakt formalisierten Fragemöglichkeiten -, als das, was es zu verstehen gilt, anzusehen. Jede Frage ist motiviert. Jede Frage bekommt ihren Sinn von der Art ihrer Motivation. Wir kennen es alle an der sogenannten pädagogischen Frage, wie es ist, wenn man etwas gefragt wird, ohne daß der andere wiklich deshalb fragt, weil er wissen will. Da weiß man ganz genau, daß der Prüfende das weiß, wonach er da fragt. Was ist das schon fur eine Frage, die ich frage, wenn ich es schon \veiß! Die pädagogische Frage, die so gestellt wird, muß man aus hermeneutischen Gründen unpädagogisch nennen. Sie kann sich nur daraus rechtfertigen, daß der Fortgang des Prüfungs gesprächs die Unnatur solcher Fragen üben~lin det, indem es schließlich vor )offene< Fragen fUhrt. Nur an ihnen kann herauskommen, was einer kann. - Daß eine Frage eigentlich nur beantwortbar ist, wenn ich weiß, warum sie gefragt wird, bedeutet aber, daß auch in 16
[Staat X, 617 e4J
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den großen Fragen, mit denen die Philosophie nicht fertig wird, der Sinn der Frage sich erst durch die Motivation der Frage bestimmt. Es ist also eine dogmatische Schematisierung, wenn man von dem Freiheitsproblem spricht, und man verdeckt dadurch gerade den sinngebenden Fragegesichtspunkt, der die Dringlichkeit der Frage, ihr Gestelltwerden, in Wahrheit ausmacht. Gerade wenn wir einsehen, daß die Philosophie aufs Ganze hin fragt, müssen wir die Weise, wie sich ihr ihre Fragen stellen, und das heißt: in welcher Begriffiichkeit sie sich bewegt, befragen. Denn sie ist es, die die Stellung der Fragen schon prägt. Darauf also kommt es an, wie sich eine Frage stellt, und es gilt, das festzuhalten, damit man die Fragestellung ausarbeiten lernt. Wenn ich frage: Was bedeutet Freiheit in einer Weltauffassung, die von der kausalen Naturwissenschaft beherrscht wird, dann ist die Stellung der Frage und damit alles, was darin etwa unter dem Begriff Kausalität impliziert ist, schon in den Sinn der Frage eingegangen. So ist zu fragen: Was ist Kausalität, und macht sie das ganze Ausmaß des in der Frage der Freiheit Fragwürdigen aus? Mängel in dieser Hinsicht waren schuld daran, daß in den zwanziger und dreißig er Jahren das seltsame Gerede von der Widerlegung der Kausalität durch die moderne Physik aufkam. Diese Feststellungen lassen sich positiv wenden: Wenn in den Fragestellungen und damit in der Begriffiichkeit, die die Stellung einer Frage ermöglicht, die eigentliche Prägung des Fragesinnes liegt, dann ist das Verhältnis des Begriffs zur Sprache nicht nur das der Sprachkritik, sondern ebenso auch ein Problem der Sprachfindung. Und dies scheint mir nun wirklich das große atemberaubende Drama der Philosophie, daß sie die ständige Bemühung um Sprachfindung, um es pathetischer zu sagen: ein beständiges Erleiden von Sprachnot ist. Das ist nicht erst eine Neuerung von Heidegger. Die Rolle, die die Sprachfindung in der Philosophie spielt, ist offenbar eine ausgezeichnete. Das zeigt sich schon in der Rolle, die die Terminologie hier spielt: An sich zeigt sich der Begriff in sprachlicher Gestalt als Terminus an, d. h. als ein wohlumrissenes, in seiner Bedeutung eindeutig abgegrenztes Wort. Aber jedermann weiß, daß ein terminologisches Sprechen, das etwa von der Art der Exaktheit des Rechnens mit mathematischen Symbolen wäre, nicht möglich ist. Sprechen erlaubt zwar den Gebrauch von Termini, aber das heißt, daß diese ständig in den Verständigungsvorgang des Sprechens hineinragen und mitten in diesem Verständigungsvorgang ihre Sprachfunktion ausüben. Im Unterschied zu der Möglichkeit, feste Termini zu schaffen, welche genau festgelegte Funktionen der Erkenntnis ausüben, wie das in den Wissenschaften und vorbildlich in der Mathematik geschieht, hat der philosophische Sprachgebrauch, wie wir sahen, keine andere Ausweisbarkeit als die, die wieder in der Sprache geschieht. Es ist offenbar eine Ausweisbarkeit besonderer Art, die hier verlangt ist, und das ist die erste
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Aufgabe, die sich ftir den Zusammenhang von Wort und Begriff, von gesprochener Sprache und sich im Begriffswort artikulierenden Gedanken stellt, daß es die Verdecktheit der begrifflichen Herkunft der philosophischen Begriffsworte aufzuklären gilt, wenn wir die Legitimität unserer Fragestellungen zur Ausweisung bringen wollen. Ein klassisches Beispiel, das wir in unseremjahrhundert erlebt haben, ist die Aufdeckung des in dem Begriff .Subjekt< gelegenen verdeckten begriffs geschichtlichen Hintergrunds und seiner ontologischen Implikationen, ,Subjekt. ist griechisch hypokeimenon, das Zugrundeliegende, und dieses Wort wird von Aristoteles eingeftihrt, um gegenüber dem Wechsel verschiedener Erscheinungsformen des Seienden dasjenige. was sich nicht ändert, sondern diesen wechselnden Qualitäten zugrunde liegt, zu bezeichnen. Aber hört man dieses hypokeime. non, subicctum, das allem anderen zugrunde liegt, noch, \venn man das Wort Subjekt gebraucht? Wenn man, wie wiI alle, in der cartesianischen Tradition steht und im Begriff des Subjektes die Selbstreflexion, das Sichselbstwissen, denkt? Wer hört das noch, daß >Subjekt< ursprünglich ,das Zugrundeliegende( ist? Aber ich frage auch, wer hört es nicht doch darin? Wer unterstellt nicht, daß das, was dergestalt durch Selbstreflexion bestimmt ist, so da ist wie ein Seiendes, das sich in dem Wechsel seiner Qualitäten als das Zugrundeliegende und Tragende erhält? Es ist eben die Unaufgedecktheit dieser begriffs geschichtlichen Ahnenschaft, die dazu geftihrt hat, daß man das Subjekt als etwas denkt, das, durch sein Selbstbewußtsein charakterisiert, mit sich selbst allein ist, und daß man sich vor die qualvolle Frage gestellt sieht, wie es aus seiner }splcndid isolation( herauskommt. So entstand die Frage nach der Realität der Außenwelt. Es war die Kritik unseres Jahrhunderts, daß man die Frage: Wie kommt unser Denken, unser Bewußtsein zur Außenwelt?, von vornherein als falsch gestellt erkannte, weil Bewußtsein überhaupt nichts anderes ist als Bewußtsein von etwas. Der Vorrang des Selbstbewußtseins gegenüber dem Weltbewußtsein ist ein ontologisches Vorurteil, das letzten Endes auf der unkontrollierten Fortwirkung des Begriffs subiectum im Sinne des hypokeimenon bzw. des ihm entsprechenden lateinischen Begriffes der Substanz beruht. Selbstbewußtsein bestimmt die selbstbewußte Substanz gegenüber allem anderen Seienden. Wie kommt aber extensiv ausgedehnte Natur und selbstbewußte Substanz zusammen? Wie können diese beiden so grundverschiedenen Substanzen aufeinander wirken - das war das bekannte Problem der beginnenden neuzeitlichen Philosophie, das noch dem angeblichen Methodendualismus von Naturund Geisteswissenschaften zugrunde liegt. Das Beispiel will zunächst nur als Beispiel gelten und die allgemeine Frage motivieren: Ist Aufklärung durch Begriffsgeschichte immer sinnvoll und immer nötig? Ich möchte auf diese Frage eine einschränkende Antwort geben: Sofern
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Begriffe noch im Leben der Sprache mitleben, ist die begriffsgeschichtliche Aufklärung sinnvoll - und doch heißt das zugleich, daß das Ideal einer totalen Bewußtheit unsinnig ist. Denn Sprache ist selbstvergessen, und nUr eine )widernatürJiche< kritische Anstrengung, die den fluß des Sprechens bricht und etwas aus diesem Fluß plötzlich stillstellt, kann Bewußtheit und die thematische Aufklärung eines Wortes und seiner begrifflichen Bedeutung leisten. Ich habe einmal an meiner kleinen Tochter folgende Beobachtung gemacht: als sie schreiben lernte, fragte sie eines Tages bei den Schularbeiten: »Wie schreibt man Erdbeeren?« Es wurde ihr gesagt, und sie meinte nachdenklich: Komisch, wenn ich das so höre, verstehe ich das Wort überhaupt nicht mehr. Erst wenn ich es wieder vergessen habe, bin ich in dem Worte drin. « Drinsein im Worte, das ist in der Tat die Weise, wie wir reden. Und wenn ich in diesem Moment den Fluß meines Mitteilungsbedürfnisses wirklich blockieren könnte und die Worte, die ich eben ausspreche, zur Reflexion brächte und in der Reflexion festhielte, wäre der Fortgang des Sprechens total gehemmt. So sehr gehört Selbstvergessenheit zum Wesen von Sprache. Eben aus diesem Grunde kann begriffliche Aufklärungund Begriffsgeschichte ist begriffliche Aufklärung - immer nur partial sein. Sie kann nur dort nützlich und wichtig sein, wo durch sie entweder Verdekkung, die durch entfremdete, erstarrte Sprache geschieht, aufgedeckt wird, oder wo Sprachnot geteilt werden soll, damit man in die volle Gespanntheit des Nachdenkens gelangt. Denn Sprachnot muß dem Nachdenkenden voll ins Bewußtsein gelangen. Nur der denkt philosophisch, der angesichts der verftigbaren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein Ungenügen empfindet, und nur dann denkt man mit, wenn man die Not dessen wirklich teilt, der begriffliche Aussagen wagt, die sich allein durch sich selbst bewähren sollen. Man wird die Entstehung der philosophischen Begriffssprache bei den Griechen ins Auge fassen müssen, aber auch etwa die Sprache der deutschen Mystik und ihr Eindringen in die Begriffsspraehe danebenstellen - bis hin zu Hegels und Heideggers begriffs bildender Kühnheit. Es sind das Beispiele besonderer sprachlicher Not und damit eines besonderen Anspruchs an das Denken und Mitdenken. Da steht am großen Anfang des abendländischen Denkens die Lehre vom Sein, die Parmenides in seinem Lehrgedicht vorgetragen hat. Sie stellt den Späteren die nicht zu Ende kommende Frage, die schon Plato nicht recht ermessen zu können gesteht, was bei Parmenides mit diesem Sein gemeint sei. Die moderne Forschung bleibt kontrovers. Hermann Cohen etwa meinte, es handele sich da um das Gesetz der Identität als die oberste Denkforderung überhaupt. Die historische Forschung sperrt sich gegen solche systematisierenden Anachronismen. So hält man mit Recht entgegen, das Sein, das hier gemeint sei, sei die Welt, das Ganze des Seienden, nach dem die f)
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Ionier unter dem Titel ta panta gefragt hätten 17 . Indessen ist die Frage, ob das Sein des Parmenides der Vorklang eines obersten philosophischen Begriffes sei oder ein Kollektivname für alles Seiende, nicht in dem Sinne einer Alternative zu entscheiden. Man muß vielmehr die Sprachnot mitleiden, die hier in einem gewaltigen denkerischen Aufschwung den Ausdruck to on, das Seiende, diesen abstrakten Singular, erfunden hat - vorher redete man von den onta, von den vielen Seienden -. Man wird das neue Wagnis solchen Redcns ermessen müssen, wenn man dem Denken folgen will, das hier geschieht. Andererseits zeigt sich, daß mit diesem Neutrum Singularis der gemeinte Begriff doch noch nicht zu vollem Bewußtsein gelangt ist. Denn was alles wird nicht von diesem Seienden gesagt! Zum Beispiel, daß es wohlgerundet sei wie ein gut gestopfter Ball. Wir haben ein Beispiel der oben geschilderten Sprachnot vor uns, sofern das Denken hier versucht, etwas zu denken, woftir es keine Sprache gibt, und deshalb seine eigene denkende Intention nicht sicher festzuhalten vermag. Ahnlieh könnte man zeigen, wie etwa Plato zu der Einsicht gelangte, daß zujeder Bestimmung des Denkens, zujedem Satz, zu jedem Urteil, zujeder Aussage, sowohl Identität als auch Verschiedenheit zu denken nötig sei. Wenn man etwas als das, was es ist, denken will, muß man es notwendig als von allem anderen verschieden denken. Identität und Verschiedenheit sind immer und unlöslich zusammen. In der späteren Philosophie nennen wir solche Begriffe Reflexionsbegriffe, weil sie ein dialektisches Verhältnis des Sichineinander-Tausehens auszeichnet. Wenn nun Plato diese großartige Entdeckung vorfUhrt, stellt er die genannten ReflcxionsbegrifTe in merkwürdiger Gesellschaft vor, indem er den beiden Begriffen, die überall dabei sind, wo gedacht wird, auch noch Ruhe und Bewegung zur Seite stellt. Man fragt sich, was das miteinander zu tun haben soll. Das eine sind Begriffe, welche Wclthaftes beschreiben: da gibt es Ruhe, da gibt es Bewegung - das andere sind Begriffe, welche allein im Denken vorkommen, als Identität und Verschiedenheit. Beide mögen in dem Sinne dialektisch sein, daß auch Ruhe nicht ohne Bewegung gedacht werden kann. Aber sie sind doch ganz verschiedener Art. Für Plato scheint dies Verschiedenartige in eine Reihe zu gehören. In seinem) Timaios< kann er geradezu erzählen, daß der Wcltenbau dem menschlichen Geist Identität und Verschiedenheit buchstäblich vor Augen hält, so daß der Mensch, indem er die Regelmäßigkeit der Gestirnbahnen und ihre Abweichungen, die mit der Ekliptik zusammenhängenden Phänomene, ins Auge faßt, gleichsam im Mitmachen dieser Bewegungen das Denken lernt. 17 [Vgl. H. Boeder, Grund und Gegenwart als Frageziel der frühgriechischen Philosophie, Den Haag 1962, S. 23 f1
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Ein einfaches anderes Beispiel ist der aristotelische Begriff der hyle, der Materie. 18 Wenn "vir Materie sagen, sind wir freilich schon durch eine Welt von dem Verständnis dessen entfernt, was Aristoteles mit seinem Begriff eigentlich sagen will. Denn hyle, ursprünglich das Bauholz, das man verwendet, um etwas daraus zu machen, meint Aristotcles als ein ontologisches Prinzip. Es drückt den technischen Geist der Griechen aus, daß sie ein so1ches Wort in zentraler Weise in die Philosophie einbringen. Was Form ist, erscheint als das Resultat einer technischen Anstrengung und Leistung, die ein Ungeformtes umgestaltet. Aber es hieße Aristoteles unterschätzen, wenn man meinte, ein solcher massiver Begriff eines rur sich seienden Materials, das dann der geistige Handwerker in die Hand nimmt und ihm die )Form( aufdrückt, wäre der aristotelische Gedanke der hyle. Vielmehr hat Aristoteles mit diesem massiven Begriff aus der Handwerkswelt ein ontologisches Verhältnis beschreiben wollen, ein Strukturmoment des Seins, das in allem Denken und Erkennen von Seiendem, nicht nur an dem, was uns als Natur umgibt, sondern etwa auch im Bereich der Mathematik ("oae hyle) seine Funktion hat. Er hat zeigen wollen, daß wir, wenn wir etwas als etwas erkennen und bestimmen, es immer als ein noch Unbestimmtes meinen, das wir erst durch eine zusätzliche Determination von allem anderen abgrenzen. Deshalb sagte er, die hyle habe die Funktion der Gattung. Dem entspricht die klassische Definitionslehre des Aristoteles, derzufolge die Definition die nächste Gattung und die spezifische Differenz enthalte. hyle hat also im aristotelischen Denken eine ontologische Funktion übernommen. Wenn es die philosophische Begrifflichkeit auszeichnet, daß das Denken immer in Not ist, einen wirklich angemessenen Ausdruck rur das zu finden, was es eigentlich sagen will, dann ist mit aller Philosophie die Gefahr verknüpft, daß das Denken hinter sich selbst zurücksinkt und an die Unangemessenheit seiner begrifflichen Sprachmittel verfallt. Das ist an den oben gegebenen Beispielen leicht sichtbar zu machen. Schon Zeno, der nächste Anhänger des Parmenides, stellt die Frage: Wo ist eigentlich das Sein? Was ist der Platz, an dem es ist? Wenn es in etwas ist, dann muß doch dieses, worin es ist, selber wieder in etwas sein. Offenbar hat Zeno, der so scharfsinnig fragt, den philosophischen Sinn der Lehre vom Sein nicht mehr festhalten können und )Sein< ganz nur als )Alles( verstanden. Aber es ist nicht einmal richtig, erst dem Nachfolger den Verfall der Denkleistung aufzubürden. Die Sprachnot des philosophischen Gedankens ist die Not des Denkenden selber. Wo die Sprache versagt, vermag er die Sinnrichtung seines Denkens nicht sicher festzuhalten. Nicht erst Zeno, sondern Parmenides selber spricht ja, wie oben erwähnt, von dem Sein so, daß er es mit einer wohl gerundeten Kugel 18 [Vgl. dazu meine Arbeit ,Gibt es die Materie? Eine Studie zur Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaft. (Ges. Werke Bd. 6, S. 201-2171
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vergleicht. - So mag auch bei Aristoteles - und nicht erst für die >Schulc( die ontologische Funktion, die der Begriff der Materie hat, so wenig adäquat gedacht und begrifflich expliziert sein, daß die aristotelische Schule die originale Denkintention nicht mehr einzuhalten vermochte. Auch ftir den modernen Interpreten wird daher nur begriffsgeschichtliche Bewußtheit, die sich gleichsam in den actus des seine Sprache suchenden Denkcns versetzt, dessen wahrer Intention zu folgen vermögen. Endlich möge ein Beispiel aus der neueren Philosophie zeigen, wie durch Tradition verfestigte Begriffe ins Leben der Sprache eingehen und zu ncucn begrifflichen Leistungen fahig werden. Der Begriff der ,Substanz< scheint ganz und gar dem scholastischen Aristotelismus verschrieben und von dort her bestimmt. So gebrauchen auch wir das Wort im aristotelischen Sinne, wenn wir etwa von chemischen Substanzen sprechen, deren Eigenschaften oder Reaktionen man erforscht. Hier ist die Substanz das Vorliegende, an dem man die Untersuchungen vornimmt. Nun ist das aber nicht alles. Wir gebrauchen das Wort auch in einem anderen, betont werthaften Sinne und leiten die Wertprädikate >substanzlos< und )substantiell< davon ab, etwa wenn wir einen Plan nicht substantiell genug finden, dann meinen wir, daß er allzu sehr im Vagen und Ungewissen verfliegt. Wenn wir von einem Menschen sagen, er habe Substanz, so heißt das, daß mehr dahinter ist, als sich in der Funktion darstellt, in der er uns begegnet. Man wird hier von einer Übertragung des scholastisch-aristotelischen Substanz begriffs in eine ganz neue Dimension reden dürfen. In diesem neuen Verwendungsbereich des Ausdrucks gewinnen nun aber die alten (und flir die moderne Wissenschaft ganz unbrauchbar gewordenen) Begriffsmomente von Substanz und Funktion, bleibendem Wesen und wechselnden Bestimmungen desselben, ein neues Leben und werden zu schwer ersetzbaren Wörtern - und das heißt ja, daß sie wieder leben. Die begriffsgeschichtliche Reflexion erkennt an dieser Geschichte des Wortes >Substanz< im Negativen den mit der Galileisehen Mechanik einsetzenden Verzicht auf die Erkenntnis der Substanzenund im Positiven Hegels produktive Umbildung des Substanzbegriffs, die in seiner Lehre vom objektiven Geist gelegen ist. Im allgemeinen werden künstliche Begriffe nicht zu Worten der Sprache. Die Sprache pflegt sich gegen Kunstprägungen oder aus fremden Sprachen entlehnte Worte zu wehren und sie nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch aufzunehmen. Aber dies Wort hat sie im neuen Sinne aufgenommen, und Hegel bietet dafür die philosophische Legitimation, sofern er uns gelehrt hat, das, was wir sind, nicht allein durch das Selbstbewußtsein des einzelnen denkenden Ich bestimmt zu denken, sondern durch die in Gesellschaft und Staat ausgebreitete Wirklichkeit des Geistes. Die erörterten Beispiele zeigen, wie eng die Beziehungen zwischen Sprachgebrauch und Begriffsbildung sind. Begriffsgeschichte hat einer Bc-
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wegung des Gcdankens zu folgen, die immer über gewohnten Sprachgebrauch hinausdrängt und die Bedeutungsrichtung von Wörtern aus ihrem ursprünglichen Verwendungs bereich löst, erweiternd oder begrenzend, vergleichend und unterscheidend, wie das Aristoteles in dem Begriffskatalog von Metaphysik Delta systematisch vorfUhrt. Auch kann die Bildung von Begriffen wieder auf das Sprachlcben zurückwirken, wie die von Hege! gerechtfertigte breite Verwendung von Substanz fUr Geistiges. In der Rege! aber wird es umgckehrt sein und sich die Breite des lebendigen Sprachgebrauchs gcgcn die terminologische Festlegung dcr Philosophen wehren. Jedenfalls ist es ein höchst schillerndes Verhältnis, das zwischen Begriffsprägung und Sprachgebrauch bestcht. In seinem tatsächlichen Sprachgebrauch hält sich nicht einmal der an seine terminologischen Vorschläge, der sie selber gemacht hat. So folgt etwa Aristoteles, ,"vas ich ehedem einmal zu unterstreichen Anlaß hatteI'!, in seinem eigenen Sprachgebrauch nicht der von ihm in der Nikomachischen Ethik getroffenen Unterscheidung von phronesis und sophia, und selbst die berühnlte kantische Unterscheidung von transzendent und transzendental hat im Sprachleben selbst kein Heimatrecht erworben. Es war die Hybris eines Beckmesser, wenn jemand, in meiner Jugend, im Zeitalter des Neukantianismus, eine Wendung wie )die traszendentale Musik Becthovens< mit der spöttischen Bemerkung kritisierte: .,Der Schreiber kennt noch nicht einmal den Unterschied zwischen transzendent und transzendental. « Gewiß muß, wer die kantische Philosophie verstehen will, mit dieser Unterscheidung vertraut sein. Aber der Sprachgebrauch ist souverän und läßt sich nicht solche künstlichen Vorschriften machen. Diese Souveränität des Sprachgebrauchs schließt nicht aus, daß man etwa zwischen gutem und schlechtem Deutsch unterscheiden kann, ja auch, daß man von mißbräuchlichem Sprachgebrauch reden kann. Aber die Souveränität des Sprachgebrauchs zeigt sich in solchen Fällen gerade darin, daß in unseren Augen die tadelnde Kritik, \vie sie etwa in der Schule oft an regelwidrigem Sprachgebrauch im deutschen Aufsatz geübt wird, etwas Mißliches behält und daß Spracherziehung, mehr noch als andere Erziehung, nicht durch besserwissende Korrektur, sondern nur durch das Vorbild gelingt. 20 Es darf daher nicht als ein Mangel philosophischer llegriffsbildung angcsehen werden, daß das philosophische Begriffswort den Zusammenhang mit dem Leben der Sprache wahrt und den lebendigen Sprachgebrauch auch in der Verwendung ausgeprägter Termini dennoch mit anklingen läßt. An diesem fortwirkenden Sprachleben, das die llegriffsbildung trägt, el1tl~ In: Der aristotelische Protrcptikos ... Hermes 63,1927, S. 138-164. [Jetzt in Ges. Wecke Bd. 5, S. 164--1861 20 [Vgl. dazu meine Dankesrede )Gutes Deutsch< von 1979 anläßlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises vor der Deutschen Akademie ftir Sprache und Dichtung Ub. 1980, S. 76-82) wiederabgedruckt in )Lob der Theorie<, Frankfurt 1983. S. 164-173.]
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springt die Aufgabe der Begriffsgeschichte. Es geht nicht darum allein, einzelne Begriffe geschichtlich aufzuklären, sondern die gedankliche Spannung zu erneuern, die sich an den Bruchstellen des philosophischen Sprachgebrauchs zeigt, an denen sich die Anstrengung des Begriffs )verworfew hat. Solche) Verwerfungen" in denen das Verhältnis von Wort und Begriff gleichsam aufklafft und alltägliche Worte zu neuen begrifflichen Aussagen künstlich geprägt werden, sind die eigentliche Legitimation der Begriffsgeschichte als Philosophie. Denn was da zutage tritt, ist die unbewußte Philosophie, die in den Wortbildungen und Begriffsbildungen der Umgangssprache wie der Sprache der Wissenschaft liegt. Sie- über alle bewußte Begriffsprägung hinaus - ins Spiel zu bringen, ist der Weg einer Ausweisung philosophischer Begriffe, fUr den der Begriff der )Angemessenheit< einen neuen, philosophischen Sinn gewinnt - nicht eine Anmessung an ein Vorgegebenes der Erfahrung, wie in den Erfahrungswissenschaften, sondern an das Erfahrungsganze, das unsere sprachliche Weltorientierung darstellt. Was begriffsgeschichtliche Ausweisung zu leisten vermag, ist, den Ausdruck des Philosophierens aus scholastischer Erstarrung zu lösen und für die Virtualität der lebendigen Rede zurückzugewinnen. Das aber heißt, den Weg vom Begriffswort zum Wort der Sprache zurückgehen und den Weg vom Wort der Sprache zum Begriffswort hingehen. Philosophie ist darin wie Musik. Was man in einem Siemenslaboratorium hören kann, wenn die Obertöne durch technische Apparaturen weggefiltert sind, ist keine Musik. Musik ist erst jenes Gebilde, in dem Obertöne mit allem, was sie an neuen Klangwirkungen und Aussagefähigkeit der Töne zu erzeugen vermögen, mitspielen. So ist es auch im philosophischen Denken. Die Obertöne der Wörter, die wir gebrauchen, lassen uns die Unendlichkeit der Denkaufgabe, die Philosophie für uns ist, präsent halten, und das allein erlaubt, sie - in aller Begrenzungzu erftillen. Philosophisches Denken und Mitdenken wird daher die Starrheit der sozusagen chemisch-reinen Begriffe brechen müssen. Das unverlierbare Vorbild dieser Kunst, starr gewordcne Begriffe zu brechen, ist der platonische Dialog und die Gesprächsflihrung des platonischen Sokrates. Hier werden die im Selbstverständlichen hin- und hergereichten Norm-Begriffe, hinter denen sich eine sich zu nichts mehr verpflichtende Wirklichkeit auf den eigenen Vorteil der Macht hin bewegt, gebrochen, und indem ein ncues Aktualisieren unseres Selbstverständnisses, ein neues Gewahrwerden des in den normativen Begriffen unserer moralisch-politischen Selbstauslegung eigentlich Gemeinten aufbricht, sind wir gefUhrt, den Weg des philosophischen Gedankens zu gehen. So kommt cs auch für uns nicht auf die begriffs geschichtliche Forschung als solche an, sondern darauf: die aus der begriffsgeschichtlichen Forschung erlernbare Disziplin im Gebrauch unserer Begriffe so zu pflegen, daß sie eine echte Verbindlichkeit in unser Denken zu bringen vermag. Daraus folgt aber, daß
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das Ideal der philosophischen Sprache nicht die denkbar größte Ablösung einer terminologisch eindeutig gemachten Nomenklatur vom Leben der Sprache ist, sondern die Rückbindung des begrifflichen Denkens an die Sprache und das Ganze der Wahrheit, das in ihr präsent ist. Im wirklichen Sprechen oder im Gespräch, sonst nirgends, hat Philosophie ihren wahren, ihren nur ihr eigenen Prüfstein.
8. Klassische und philosophische Hermeneutik 1968
Der Titel ,Hermeneutik( deckt, wie das oft mit solchen aus dem Griechischen stammenden Worten, die in unsere Wissenschafts sprache Eingang gefunden haben, geschehen ist, sehr verschiedene Niveaus der Reflexion. Hermeneutik meint in erster Linie eine kunstvolle Praxis. Das deutet die Wortbildung an, zu der) Technc, zu ergänzen ist. Die Kunst, um die es sich dabei handelt, ist die der Verkündung, des Dolmetschens, Erklärens und Auslegens und schließt natürlich die ihr zugrunde liegende Kunst des Verstehens ein, die überall dort erfordert ist, wo der Sinn von etwas nicht offen und unzweideutig zutage liegt. So liegt schon im ältesten Gebrauch des Wortes 21 eine gewisse Zweideutigkeit. HeImes hieß der Götterbote, der die Botschaften der Götter den Menschen überbrachte - in der homerischen Schilderung oft so, daß er wörtlich ausrichtet, was ihm aufgetragen ist. Oft aber, und insbesondere im profanen Gebrauch, besteht das Geschäft des henneneus gerade darin, daß er ein in fremder oder unverständlicher Weise Geäußertes in die verständliche Sprache aller übersetzt. Das Geschäft des Übersetzens hat daher imIner eine gewisse }Freiheitc Es setzt das volle Verständnis der fremden Sprache, aber mehr noch, auch das Verständnis der eigentlichen Sinn-Meinung des Geäußerten voraus. Wer als Dolmetscher verständlich sein will, muß das Gemeinte neu zur Sprache bringen. Immer ist die Leistung der >Hermeneutik( eine solche Übertragung von einer Welt in eine andere, der Welt der Götter in die der Menschen, der Welt der einen, fremden Sprache in die Welt der anderen, eigenen Sprache. (Menschliche Übersetzer können immer nur in die eigene Sprache übersetzen.) Da aber die eigene Aufgabe des Übersetzens eben darin besteht, etwas }auszurichten1, schwankt der Sinn von hermeneuein zwischen Übersetzung und praktischer Anweisung, zwischen bloßem Mitteilen und Gehorsam-Fordern. Zwar pflegt hermeneia in ganz neutralem Sinne )Aussage von Gedanken< zu bedeuten, aber es ist bezeichnend, daß Plato" nicht jeglichen Ausdruck von 21 [Daß die Etymologie des Wortes wirklich etwas müdem Gott}Hermes< zu tun hat, wie der Wortgebrauch und die antike Etymologie nahclegen. ist in der neueren Forschung (Benveniste) bezweifelt worden. J 22 Plato, Politikos 260 d.
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Gedanken, sondern allein das Wissen des Königs, des Herolds usw., das den Charakter der Anweisung hat, unter dem Ausdruck versteht. Nicht anders dürfte die Nachbarschaft der Hermeneutik zur Mantik B zu verstehen sein: die Kunst, den Gotteswillen zu übermitteln, steht neben der Kunst, ihn oder die Zukunft aus Zeichen zu erraten. - Immerhin ist fUr die andere, rein kognitive Bedeutungskomponente bezeichnend, daß Aristotelcs in der Schrift Peri hermeneias nur noch den logischen Sinn der Aussage meint, wenn er den logos apophantikos behandelt. Entsprechend entwickelt sich dann im späteren Griechentum der rein kognitive Sinn von hermeneia und hermeneus und kann >gelehrte Erklärung, bzw. ,Erklärer, und ,Übersetzen bedeuten. Freilich haftet der ,Hermeneutik, als Kunst immer noch die alte Herkunft aus der Sakralsphäre24 ein wenig an: es ist die eine Kunst, deren Spruch man sich als maßgeblich zu unterwerfen hat, bzw. die man bev,mndernd anerkennt, weil sie Verschlossenes - fremde Rede oder gar die unausgesprochene Überzeugung eines andern - zu verstehen und darzulegen vermag. Es ist also eine ars, auf deutsch: eine Kunstlehre, wie die Redekunst oder die Sehreibkunst oder die Rechenkunst - mehr eine praktische Fertigkeit als eine >Wissenschaft<. Das gilt selbst noch in so späten Nachklängen des alten Wortsinnes, wie sie die neuere theologische und juristische Hermeneutik darstellen: sie sind eine Art von >Kunst( oder sind mindestens solcher lKunst< als Mittel dienstbar und schließen immer eine normative Kompetenz ein: nicht nur, daß die Ausleger ihre Kunst verstehen, sondern daß sie Normatives - das göttliche oder menschliche Gesetz - zum Ausdruck bringen. Wenn wir heute von ,Hermeneutik( reden, stehen wir dagegen in der Wissenschafts tradition der Neuzeit. Der ihr entsprechende Wortgebrauch von )Hermeneutik< setzt genau damals ein, das heißt, mit der Entstehung des modernen Methoden- und Wissenschaftsbegriffs. Jetzt ist immer eine Art methodischer Bewußtheit impliziert. Man besitzt nicht nur die Kunst der Auslegung, sondern weiß dieselbe theoretisch zu rechtfertigen. Die erste Bezeugung des Buchtitels ,Hermeneutik< stammt aus dem Jahre 1654: bei Dannhauer2S • Wir unterscheiden seither eine theologisch-philologische und eine juristische Hermeneutik. Theologisch bedeutet >Hermeneutik( die Kunst der rechten Auslegung der Heiligen Schrift, die, an sich uralt, schon in patristischer Zeit zu methodischer Bewußtheit gefuhrt wurde, vor allem durch Augustin in ,De doctrina christiana<. Die Aufgabe einer christlichen Dogmatik \var durch die Spannung zwischen der besonderen Geschichte desjüdischen Volkes, wie sie Epinomis 975 c. Photios, Bibl. 7; Plato, Ion 534 e; Legg. 907 d. 25 J. Dannhauer: Hcrmeneutica sacra sive mechodus exponendarum sacrarum litterarum (1654). 23
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das Alte Testament heilsgesehichtlich auslegt, und der universalistischen Verkündigung Jesu im Neuen Testament bestimmt. Hier mußte methodische Reflexion helfen und Lösungen schaffen. Augustin lehrt in ,Oe doctrina christiana< mit Hilfe neuplatonischer Vorstellungen den Aufstieg des Geistes über den wörtlichen und den moralischen zum geistlichen Sinn. Damit löst er das dogmatische Problem, indem er unter einem einheitlichen Gesichtspunkt das antike hermeneutische Erbe zusammenfaßt.
Der Kern der antiken Hermeneutik ist das Problem der allegorischen Interpretation. Diese ist an sich schon älter. Hyponoia, der Hintersinn, war das ursprüngliche Wort rur allegorischen Sinn. Solche Auslegung wurde schon im Zeitalter der Sophistik gepflegt, wie seinerzeit schon A. Tate behauptet hatte und wie durch neuere Papyrostexte bestätigt wird. Der geschichtliche Zusammenhang, der zugrunde liegt, ist deutlich: Von dem Augenblick an, da die Wertewelt des homerischen Epos, das rur eine Adelsgesellschaft gedacht war, ihre Verbindlichkeit einbüßte, wird eine neue Deutungskunst rur die Überlieferung erforderlich. Das geschah mit der Demokratisierung der Städte, deren Patriziat die Adelsethik übernommen hatte. Der Ausdruck derselben war die Bildungsidee der Sophistik: Odysseus lief Achilles den Rang ab und nahm auch auf der Bühne nicht selten sophistische Züge an. Die Allegorese wurde dann besonders in der hellenistischen Homer-Interpretation der Stoa zu einer universellen Methode ausgebildet. Die patristische Hermeneutik, die Origenes und Augustin zusammenfaßten, knüpfte daran an. Sie wurde im Mittelalter durch Cassian systematisiert und zur Methode des vierfachen Schriftsinns entwickelt. Einen neuen Impuls erhielt die Hermeneutik durch den reformatorischen Rückgang zum Buchstaben der Heiligen Schrift, als die Reformatoren sich polemisch gegen die Tradition der Kirchenlehre und deren Behandlung des Textes mit den Methoden des mehrfachen Schriftsinnes richteten". Insbesondere wurde nun die allegorische Methode verworfen, bzw. das allegorische Verstehen auf die Fälle beschränkt, wo der Gleichnissinn - etwa in den Reden Jesu - es eigens rechtfertigte. Ineins damit erwachte ein neues Methodenbewußtsein, das objektiv, objektgebunden, von aller subjektiven Willkür frei sein wollte. Doch bleibt das zentrale Motiv ein normatives: Es geht in der theologischen wie auch in der humanistischen Hermeneutik der Neuzeit um rechte Auslegung von solchen Texten, die das eigentlich Maßgebliche enthalten, das es zurückzugewinnen gilt. Insofern gehört zu der Motivierung der hermeneutischen Anstrengung nicht so sehr, wie später bei 26 Vgl. K. Halls Untersuchungen zu Luthers Hermeneutik: Luthers Bedeutung ftir den Fortschritt der Auslegungskunst (1920), und ihre Fortsetzung durch G. Ebeling: Ev. Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik (1942); Die Anfange von Luthers Hermeneutik, Z. Theol. Kirche 48 (1951); Hermeneutische Theologie? In: Wort und Glaube Bd. 11, Tübingen 1969, S. 99-120.
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Schleiermacher, daß eine Überlieferung schwer verständlich ist und zu Mißverständnissen Anlaß gibt, als vielmehr, daß sie zu neuem Verständnis gebracht wird, indem eine bestehende Tradition durch Aufdeckung ihrer verschütteten Ursprünge aufgebrochen oder verwandelt wird. Ihr verdeckter oder entstellter Ur-Sinn soll wieder aufgesucht und erneuert werden. Hermeneutik sucht überall im Rückgang zu den originalen Quellen ein neues Verständnis fUr etwas zu gewinnen, das durch Verzerrung, Entstellung oder Mißbrauch verdorben war - die Bibel durch die Lehrtradition der Kirche, die Klassiker durch das barbarische Latein der Scholastik, das römische Recht durch regionale Rechtsübung usw. Dem sollte die neue Anstrengung gelten, nicht bloß richtiger zu verstehen, sondern Vorbildliches neu geltend zu machen, im selben Sinne, wie wenn es sich um die Verkündung einer Götterbotschaft, die Auslegung eines Orakelspruches oder eines zwingend vorschreibenden Gesetzes handelt. Neben dieser sachgerichteten Motivation der Hermeneutik wurde aber im Beginn der Neuzeit auch eine formale wirksam, sofern das Methodenbewußtsein der neuen Wissenschaft, die sich insbesondere der Sprache der Mathematik bediente, auf eine allgemeine Auslegungslehre von Zeichensprachen hindrängte. Um ihrer Allgemeinheit willen wurde sie als ein Teil der Logik abgehandelt". Für das 18. Jahrhundert hat gewiß die Aufnahme eines hermeneutischen Kapitels in die Logik Chr. Wolffs" die entscheidende Rolle gespielt. Hier war ein logisch-philosophisches Interesse wirksam, das der Grundlegung der Hermeneutik in einer allgemeinen Semantik zustrebte. Der Grundriß einer solchen liegt uns zuerst bei Maier vor, der in Chladenius 29 einen geistvollen Vorläufer hat. - Im allgemeinen blieb dagegen im 17. Jahrhundert die in Theologie und Philologie aufkommende Disziplin der Hermeneutik fragmentarisch und diente mehr didaktischen als philosophischen Zwecken. In pragmatischer Abzweckung hat sie zwar einige methodische Grundregeln entwickelt, die sie größtenteils der antiken Grammatik und Rhetorik entnahm (Quintilian"'), blieb aber im ganzen nur eine Sammlung von Stellenerklärungen, die das Verständnis der Schrift (oder, im humanistischen Bereich, der Klassiker) aufschließen sollten. )Clavis(, -Schlüssel<, ist der häufige Titel, z. B. bei Flacius". Das begriffliche Vokabular der altprotestantischen Hermeneutik ent27 Vgl. die Darstellung von L. Geldsetzer in der Einleitung zum Neudruck von Georg Friedrich Maier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1965) bes. X ff. 28 ehr. Wolff: Philosophia rationalis sive logica (21732) 3. Teil, 3. Abschn. Kap. 6,7. 29 J. A. Chladenius: EinL zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742 - Neudruck 1970). 30 Quintilian, Institutio oratoria. 31 M. Flacius: Clavis scripturae sacrae (1567); vgl. auch De ratione cognoscendi sacras litteras (Teil der Clavis), Neudruck 1968 dt.-lat.
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stammt durchweg der antiken Rhetorik. Melanchthons Umwendung der rhetorischen Grundbegriffe auf das rechte Studium der Bücher (bonis auctoribus legendis), die ja auch in der spätantiken Rhetorik und ihrer Schriftlichkeit ihr Vorbild hatte (Dionys von Halikarnass), war dafUr epochemachend. So geht die Forderung, alles Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, auf das Verhältnis von caput und membra zurück, das sich die antike Rhetorik zum Vorbild nahm. Bei Flacius fUhrt dieses hermeneutische Prinzip freilich zu höchst spannungs voller Anwendung, da die dogmatische Einheit des Kanon, die er gegen die Einzelauslegung der neutestamentlichen Schriften ausspielte, den lutherischen Grundsatz des Schriftprinzips stark einschränkt. Die paar allgemeinen hermeneutischen Regeln, die in Anlehnung an die antike Rhetorik in diesen >Hcrmcneutiken< vorausgeschickt werden, rechtfertigen gewiß nicht ein philosophisches Interesse an diesen Schriften. Gleichwohl spiegelt sich in der Frühgeschichte der protestantischen Hermeneutik bereits die tiefere philosophische Problematik, die erst in unserem Jahrhundert voll aufbrechen sollte. Der lutherische Grundsatz >saaa scriptura sui ipsius interpresl enthält zwar eine klare Absage an die dogmatische Tradition der römischen Kirche, aber da dieser Satz keineswegs einer naiven Inspirationstheorie das Wort reden wollte und da insbesondere die Wittenberger Theologie, der Bibelübersetzung des großen Gelehrten Luther folgend, ein reiches philologisches und exegetisches Rüstzeug zum Einsatz brachte, um die eigene Arbeit zu rechtfertigen, mußte die Problematikjeder Interpretation auch die Berufung auf das sui ipsius interpres mitergreifen. Das Paradox dieses Grundsatzes war allzu offenkundig, und es konnte nicht ausbleiben, daß die Verteidiger der katholischen Lehrüberlieferung, das tridentinische Konzil und das gegenreformatorische Schrifttum, die theoretische Schwäche desselben aufdeckten. Es war nicht zu leugnen: Die protestantische Bibelexegese arbeitete auch nicht ohne dogmatische Leitlinien, die teils in den >Glaubensartikeln< systematisch zusammengefaßt, teils in der Auswahl der lori praecipui suggeriert wurden. Richard Simons Kritik an Flacius 32 ist fur uns heute ein bezeichnendes Dokument fur die hermeneutische Problematik des >Vorverständnisses(, und es wird sich zeigen, daß darin ontologische Implikationen stecken, die erst die Philosophie unseres Jahrhunderts sichtbar machte. Im Zusammenhang der Ablehnung der Lehre von der Verbalinspiration sucht schließlich auch die theologische Hermeneutik der frühen Aufklärung allgemeine Regeln des Verstehens zu gewinnen. Insbesondere die historische Bibelkritik findet damals ihre erste Legitimation. Spinozas theologisch-politischer Traktat \var das Hauptereignis. Seine Kritik, beispielsweise am Wunder begriff, war durch den Anspruch der 32 R. Simon: Histoire critiquedu texte du nouveau testament (1689); Dc l'inspirationdes livres sacres (1687).
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Vernunft legitimiert, nur Vernünftiges, d. h. Mögliches anzuerkennen. Sie war nicht nur Kritik. Sie enthielt zugleich eine positive Wendung, sofern das in der Schrift, woran die Vernunft Anstoß nimmt, eine natürliche Erklärung erheischt. Das fuhrt zu der Wendung ins Historische, d. h. zur Wendung von den angeblichen (und unverständlichen) Wundergeschichten zu dem (verständlichen) Wunderglauben. B Ihrer negativ-aufklärerischen Wirkung tritt die pietistische Hermeneutik entgegen, die seit A. H. francke die erbauliche Anwendung mit der Auslegung der Texte aufs engste verknüpfte. Hier strömt die Tradition der antiken Rhetorik und ihrer Lehre von der Rolle der Affekte ein, insbesondere rur die Lehre von der Predigt (sermo), die im protestantischen Kult eine neue, große Rolle bekommen hatte. Die einflußreiche Hermeneutik von].]. Rambach" stelIre ausdrücklich neben die 5ubtilitas intelligendi und explicandi die subtilitas appliCatldi, was gewiß dem Sinn der Predigt entsprach. Der wohl aus der humanistischen Wettbewerbsgesinnung stammende Ausdruck subtilitas (Feinheit) deutet auf elegante Weise an, daß die .Methodik. der Auslegungwie alle Anwendung von Regeln überhaupt- Urteilskraft verlangt, die nicht selber wieder durch Regeln gesichert werden kann". Das sollte fur die Anwendung der Theorie auf die hermeneutische Praxis eine dauernde Einschränkung bedeuten. Obendrein sucht die Hermeneutik als theologische Hilfsdisziplin auch im späteren 18. Jahrhundert noch beständig den Ausgleich mit dem dogmatischen Interesse (z. B. bei Ernesti, Semlcr). Erst Schleiermacher löst (angeregt durch F. Schlegel) die Hermeneutik als eine universale Lehre des Verstehens und Auslegens von allen dogmatischen und okkasionellen Momenten ab, die bei ihm nur anhangsweise in einer speziellen biblischen Wendung zu ihrem Rechr kommen. Er verteidigre mit seiner hermeneutischen Theorie die Wissenschaftlichkeit der Theologie, und das insbesondere gegen die Inspirationstheologie, die die methodische Verifizierbarkeit des Verstehens der Heiligen Schrift mit Mitteln der Textexegese, der historischen Theologie, der Philologie usw. grundsätzlich in Frage stellte. Aber im Hintergrunde der Schleiermachersehen Konzeption einer allgemeinen Hermeneutik stand nicht nur ein solches theologischwissenschaftspolitisches Interesse, sondern ein philosophisches Motiv. Einer der tiefsten Antriebe des romantischen Zeitalters war der Glaube an das Gespräch als eine eigene, undogmatische und durch keine Dogmatik ersetzbare Wahrheitsquelle. Hatten Kant und Fichte in der Spontaneität des .Ich denke< das oberste Prinzip aller Philosophie ausgezeichnet, so setzte sich in der durch glühende Freundschaftspflege ausgezeichneten romantischen Ge3J [Vgl. meine kritische Erörterung von Strauss' Spinoza-Interpretation in )Hermeneutik und Historismus<, hier S. 414ff.] 34 J. J. Rambach: fnstitutioncs hermencuticac sacrae (1723). " Vgl. KaHt. KdU ('1799) VlI.
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neration der Schlegel und Schleiermacher dieses Prinzip in eine Art Metaphysik der Individualität um. Die Unaussagbarkeit des Individuellen lag ja auch der Wendung zur geschichtlichen Welt zugrunde, die mit dem Traditionsbruch des Revolutionszeitalters ins Bewußtsein trat. Fähigkeit zur Freundschaft, Fähigkeit zum Gespräch, zum Brief, zur Kommunikation überhaupt - all diese Züge des romantischen Lebensgeftihls kamen dem Interesse arn Verstehen und Mißverstehen entgegen, und so bildete diese menschliche Urerfahrung in Schleiermachers Hermeneutik den methodischen Ausgangspunkt. Von ihm aus stellte sich Verstehen von Texten, von fremden, fernen, umdunkelten und zu Schrift erstarrten Geistesspuren, d. h. die lebendige Auslegung von Literatur und insbesondere der Heiligen Schrift, als spezielle Anwendungen dar. Freilich, Schleiermachers Hermeneutik ist durchaus nicht ganz frci von der etwas schulstaubigen Luft der älteren hermeneutischen Literatur - wie ja auch sein eigentlich philosophisches Werk etwas im Schatten der anderen großen idealistischen Denker steht. Er hat weder die zwingende Kraft Fichtescher Deduktion, noch Schellings spekulative Eleganz, noch auch die körnige Eigensinnigkeit von Hegels Begriffskunst - er war ein Redner, auch wo er philosophierte. Seine Bücher sind mehr die Merkzettel eines Redners. Insbesondere seine Beiträge zur Hermeneutik sind stark beschnitten, und was hermeneutisch am meisten interessiert, seine Bemerkungen über Denken und Sprechen, stehen überhaupt nicht in der )Hermeneutik<, sondern in seiner Dialektik-Vorlesung. Auf eine brauchbare kritische Ausgabe der Dialektik warten wir aber noch immer Uffisonst36 , Der normative Grundsinn der Texte, der der hermeneutischen Bemühung ursprünglich ihren Sinn gab, tritt bei Schleiermacher in den Hintergrund. Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprünglichen gedanklichen Produktion aufgrund der Kongenialität der Geister. So lehrte Schleiermacher auf dem Hintergrund seiner metaphysischen Konzeption von der Individualisierung des All-Lebens. Die Rolle der Sprache tritt damit hervor, und das in einer Form, die die gelehrtenhafte Einschränkung auf das Schriftliche grundsätzlich überwand. - Schleiermachers Begründung des Verstehens auf das Gespräch und die zwischenmenschliche Verständigung bedeutete insgesamt eine Tieferlegung der Fundamente der Hermeneutik, aber so, daß sie die Errichtung eines auf hermeneutischer Basis errichteten Wissenschaftssystems gestattete. Die Hermeneutik wurde zur Grundlage fur alle historischen Geisteswissenschaften, nicht nur fur die Theologie. Die dogmatische Voraussetzung des >maßgeblichen< Textes, unter der das hermeneutische Geschäft, sowohl das des Theologen wie das des humanistischen Philologen (von dem des 36
[G. Vattimo, Schleiermacher filosofo deli' interpretazione. Milano 1968]
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Juristen gar nicht zu reden), seine ursprüngliche Funktion der Vermittlung hatte, ist nun verschwunden. Damit hat der Historismus freie Bahn. Insbesondere die psychologische Interpretation wurde in der Nachfolge Schleiermachers, gestützt durch die romantische Lehre vom unbewußten Schaffen des Genies, die immer entschiedenere theoretische Basis der Geisteswissenschaften insgesamt. Das zeigt sich höchst lehrreich bereits bei Steinthal 37 und fUhrt bei Dilthey zu einer systematischen Neubegründung der Idee der Geisteswissenschaften auf eine) beschreibende und zergliedernde Psychologie<. Schleiermacher liegt freilich noch nicht die eigentliche philosophische Begründung der historischen Wissenschaften am Herzen. Er gehört vielmehr selber in den Denkzusammenhang des von Kant und Fichte begründeten transzendentalen Idealismus. Insbesondere Fichtes >Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre< kam an epochaler Bedeutung fast der >Kritik der reinen Vernunft< gleich. Wie schon der Titel andeutet, handelt es sich hier um die Ableitung allen Wissens aus einem einheitlichen >obersten Grundsatz< oder Prinzip, der Spontaneität der Vernunft (.Tathandlung< sagte Fichte anstelle von >Tatsache<), und diese Wendung vom kantischcn )kritisehen< zum >absoluten< Idealismus liegt allen Späteren zugrunde, Schiller und Schleiermacher, Schelling, Friedrich Schlegel und Wilhe1m von Humboldt - bis hin zu Boeckh, Ranke, Droysen und Dilthey. Daß die .historische Schule< trotz ihrer Ablehnung der aprioristischen Konstruktion der Weltgeschichte im Stile Fichtes und Hegels gleichwohl die theoretischen Grundlagen der idealistischen Philosophie teilt, ist insbesondere von Erich Rothakker 38 nachgewiesen worden. Sehr einflußreich wurden die Vorlesungen des berühmten Philologen August Boeckh über .Enzyklopädie der philologischen Wissenschaften<. Boeckh bestimmte dort die Aufgabe der Philologie geradezu als das )Erkennen des Erkannten<. Damit war eine gute Formel fur den Sekundärcharakter der Philologie gefunden. Der normative Sinn der klassischen Literatur, der im Humanismus neu entdeckt worden war und primär imitatio motivierte, war zu historischer Indifferenz verblaßt. Von der Grundaufgabe solchen) Verstehens< her differenzierte Boeckh die verschiedenen Interpretationsweisen in die grammatische, die literarisch-gattunghafte, historisch-reale und die psychologisch-individualc. Dilthey knüpfte hier mit seiner verstehenden Psychologie an. Freilich hatte sich insbesondere durch den Einfluß der >induktiven Logik< von J. St. Mill die >erkenntnistheoretische< Orientierung inzwischen verändert, und wenn Dilthey auch gegen die aufHerbarts und Fechners Basis sich ausbreitende experimentelle Psychologie die Idee einer >verstehenden< Psychologie verteidigte, teilte er doch den generellen Standpunkt der .Erfah37 3Il
H. SteinthaI: Einl. in die Psychol. und Sprachwiss. (1881). [Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920]
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rung(, freilich in der auf den ,Satz des Bewußtseins< und den Erlebnisbegriff gegründeten Form. Auch bedeutete ftir ihn der geschichtsphilosophische, ja geschichtstheologische Hintergrund, auf dem sich die geistvolle Historik des Historikers J. G. Droysen erhob, sowie die strenge Kritik, die sein Freund, der spekulative Lutheraner Yorck von Wartenburg, an dem naiven Historismus des Zeitalters übte, eine beständige Mahnung. Beides hat dazu beigetragen, daß sich in der späteren Entwicklung Diltheys etwas Neues Bahn brach. Der Erlebnisbegriff, der bei ihm die psychologische Grundlage der Hermeneutik gebildet hatte, wurde durch die Unterscheidung von Ausdruck und Bedeutung ergänzt, teils unter dem Eindruck der Psychologismuskritik Husserls (in den >Prolegomena( zu seinen >Logischen Untersuchungen<) und durch seine platonisicrende Bedeutungstheorie, teils im Wiederanschluß an Hegels Theorie des objektiven Geistes, die sich Dilthey vor allem durch seine Studien zur Jugendgeschichte Hegels aufgeschlossen hatte". - Das trug im 20. Jahrhundert seine Früchte. Diltheys Arbeiten wurden fortgesetzt von G. Misch, B. Groethuyscn, E. Spranger, Th. Litt, J. Wach, H. Freyer, E. Rothacker, O. Bollnow u. a. Die Summe der idealistischen Tradition der Hermeneutik von Schleiermacher bis zu Dilthey und über ihn hinaus wurde von dem Rechtshistoriker E. Bctti 40 gezogen. Dilthey selbst ist freilich mit der Aufgabe nicht wirklich zu Rande gekommen, die ihn quälte, das )historische Bewußtsein< mit dem Wahrheits anspruch der Wissenschaft theoretisch zu vermitteln. E. Troeltschs Formel ~Von der Relativität zur Totalität<, die die theoretische Lösung des Relativismusproblems im Sinne Diltheys darstellen sollte, blieb, wie Troeltsehs eigenes Werk, im Historismus stecken, den es zu überwinden galt. Bezeichnend, daß Troeltsch auch in seinem dreibändigen Historismuswerk inlmer wieder in (glanzvolle) historische Exkurse abschweift. Dilthey umgekehrt suchte hinter alle Relativität auf ein Konstantes zurückzugehen und entwarf eine höchst einflußreiche Typenlehre der Weltanschauungen, der der Mehrseitigkeit des Lebens entsprechen sollte. Das war nur in sehr bedingtem Sinne eine Überwindung des Historismus. Denn die bestimmende Grundlage dieser wie jeder solchen Typenlehre war der Begriff der ,Weltanschauung<, d. h. aber einer nicht weiter hintergehbaren )Bewußtseinsstcllung<, die man nur beschreiben und mit anderen Weltanschauungen vergleichen konnte, aber als eine )Ausdruckserscheinung des Lebens( geltcn lassen mußtc. Daß ein ,Erkennenwollen durch Begriffe<, also der Wahrheitsanspruch der Philosophie, zugunstcn des )historischen Be\vußtseins< aufzugeben sei, war die selber unreflektierte dogmatische Voraussetzung Diltheys und ist durch W. Dilthey: Ges. Schriften Bd. 4,8. Inzwischen auch Bd. 18,19. E. Betti: Zur Grundlegung einer allg. Auslegungslchre (1954); Allg. Auslegungslehre als Methodik der Geisteswiss. (1967). 39
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eine Welt geschieden von Fichtes viel mißbrauchtem Wort )Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist~~41, ein Wort, das ein eindeutiges Bekenntnis zum Idealismus darstellt. Das sollte sich an Diltheys Nachfolgern zeigen: Die pädagogisch-anthropologischen, psychologischen, soziologischen, kunsttheoretischen, historischen Typenlehren, die sich damals ausbreiteten, demonstrierten ad oculos, daß ihre Fruchtbarkeit jeweils von der geheimen Dogmatik abhing, die ihnen zugrunde lag. An allen diesen Typologien von Max Weber, Spranger, Litt, Pinder, Kretschmer, Jaensch, Lersch usw. zeigte sich, daß sie einen begrenzten Wahrheits wert hatten, aber denselben einbüßten, sowie sie die Totalität aller Erscheinungen erfassen, d. h. vollständig sein wollten. Solcher )Ausbaw einer Typologie ins Allumfassende bedeutet aus Wesensgründen ihre Selbstauflösung, d. h. den Verlust ihres dogmatischen Wahrheitskerns. Selbst Jaspers' >Psychologie der Weltanschauungen, war von dieser Problematik aller Typologie in der Nachfolge von Max Weber und Dilthey durchaus noch nicht so frei, wie es seine lPhilosophie< später verlangte (und erreichte). Das Denkmittel der Typologie ist in Wahrheit nur von einem extrem nominalistischen Standpunkt aus legitimierbar. Sogar Max Webers nominalistische Radikalität der Selbstaskese kannte ihre Grenzen und ergänzte sich durch das völlig irrationale, dezisionistische Zugeständnis, daß einjeder )seinen Gott~ wählen müsse, dem er folgen wolle. 42 Die theologische Hermeneutik der mit Schleiermachers al1gemeiner Grundlegung beginnenden Epoche ist auf ähnliche Weise in ihren dogmatischen Aporien steckengebliebcn. Schon der Herausgeber der Schleiermachersehen Hermeneutik-Vorlesungen, Lücke, hatte das theologische Moment in ihnen stärker akzentuiert. Die theologische Dogmatik des 19. Jahrhunderts kehrte im ganzen zu der altprotestantischen Problematik der Hermeneutik zurück, die mit der regula fidei gegeben war. Ihr stand die an aller Dogmatik Kritik übende historische Forderung der liberalen Theologie entgegen und fUhrte zu zunehmender Indifferenz gegenüber der theologischen Sonderaufgabe. Daher gab es im Zeitalter der liberalen Theologie im Grunde keine spezifisch theologische hermeneutische Problematik. Insofern war es ein epochales Ereignis, als im Durchgang durch den radikalen Historismus und unter dem Anstoß der dialektischen Theologie (Barth, Thurneysen) die hermeneutische BesinnungR. Bultmanns, dieinder Parole der Entmythologisierung münden sollte, eine echte Vermittlung zwischen historischer und dogmatischer Exegese begründete. Das Dilemma zwischen historisch-individualisierender Analyse und Weitertragung des Kerygma bleibt freilich theoretisch unlösbar, Bultmanns Begriff des >Mythos< 41 J. G. Fichte: Werke, hg. I. H. Fichte (1845/48) 1, 434. 42
Vgl. D. Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers (1952).
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erwies sich rasch als eine höchst voraussetzungsvolle Konstruktion auf dem Boden der modernen Aufklärung. Er verneinte den Wahrheitsanspruch, der in der Sprache des Mythos inkorporiert sei - eine hermeneutisch höchst einseitige Position. Die Debatte über die Entmythologisierung, wie sie G. Bornkamm mit großer Sachkunde dargestellt hat", bleibt jedoch von hohem allgemeinem hermeneutischem Interesse, sofern in ihr die alte Spannung von Dogmatik und Hermeneutik in zeitgenössischer Modifikation wieder aufgelegt ist. Bultmann hatte seine theologische Selbstbesinnung vom Idealismus weg und in die Nähe des Denkens von Heidegger gerulirt. Darin wirkte sich der Anspruch aus, den Kar! Barth und die dialektische Theologie erhoben, indem sie die ebenso menschliche wie theologische Problematik des }Redens über Gott< bewußt machten. Bu1tmann suchte eine )positive<, d. h. methodisch zu rechtfertigende, nichts Von den Errungenschaften der historischen Theologie preisgebende Lösung. Heideggers Existenzialphilosophie von )Sein und Zeit( schien ihm in dieser Lage eine neutrale, anthropologische Position anzubieten, von der aus das Selbstverständnis des Glaubens eine ontologische Begründung erfuhr"'. Die Zukünftigkeit des Daseins im Modus der Eigentlichkeit und auf der Gegenseite das Verfallen an die Welt ließen sich theologisch durch die Begriffe von Glauben und Sünde ausdeuten. Das war zwar nicht im Sinne der Hcideggerschen Exposition der Seinsfrage, sondern eine anthropologische Umdeutung. Aber die universelle Relevanz der Gottesfrage flir die menschliche Existenz, die Bultmann auf die )Eigentlichkeit< des Seinkönnens begründete, braclite einen wirklichen hermeneutisclien Gewinn. Er lag vor allem in dem Begriff des Vorverständnisses - von dem reichen exegetischen Ertrag solcher hermeneutischen Bewußtheit ganz zu schweigen. Heideggers philosophischer Neuansatz zeitigte aber nicht nur in der Theologie positive Wirkungen, sondern vermochte vor allem die relativistische und typologische Erstarrung zu brechen, die in der Schule Diltheys herrschte. G. Misch kommt das Vl·rdienst zu, durch Konfrontation von Husser! und Heidegger mit Dilthey die philosophischen Impulse Diltheys neu freigesetzt zu haben 45 • Auch wenn seine Konstruktion des lebensphilosophischen Ansatzes Diltheys einen letzten Gegensatz zu Heidegger fixiertrur Heideggers Ausarbeitung seiner Philosophie war Diltlieys Rückgang hinter das )transzendentale Bewußtsein( auf den Standpunkt des )Lebens( eine wichtige Stütze. Die von G. Misch u. a. veranstaltete Ausgabe der 4J G. Bornkamm: Die Theologie Rudolf Bultmanns in der neueren Diskussion, in: Theol. Rdsch. NF 29 (1963) H.1/2, S. 33-141. 44 Über die Fragwürdigkeit einer solchen >neutralen< Inanspruchnahme der Existenzialphilosophie: K. Löwith, Grundzüge der Entwicklung der Phänomenal. zur Philos. und ihr Verhältnis zur protestantischen Theologie, Theol. Rdsch. (1930) 26ff. und 333ff. 45 G. Misch: Phänomenologie und Lebensphilosophie (1929).
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vielen verstreuten Abhandlungen Diltheys in den Bänden V-VIII, SOWle Mischs kundige Einleitungen machten Diltheys philosophische Arbeit, die von seinen historischen Leistungen überschattet gewesen v..'ar, in den zwanziger Jahren erstmals sichtbar. Indem die Ideen Diltheys (und Kierkegaards) in die Grundlegung der Existenzialphilosophie eingingen, erfuhr das hermeneutische Problem seine philosophische Radikalisierung. Damals bildete Heidegger den Begriff einer lHermencutik der Faktizität1 und formulierte damit gegen die phänomenologische Wesens ontologie Husserls die paradoxe Aufgabe, das >Unvordenkliche' (Schelling) der >Existenz, dennoch auszulegen, ja Existenz selber als }Verstehen< und lAuslegung<, nämlich als SichEntwerfen auf die Möglichkeiten seiner selbst, zu interpretieren. Hier war ein Punkt erreicht, an dem sich der instrumentalistische Methodensinn des hermeneutischen Phänomens ins Ontologische kehren mußte. >Verstehen< meint nicht mehr ein Verhalten des mensch1ichen Denkens unter anderen, das sich methodisch disziplinieren und zu einem wissenschaftlichen Verfahren ausbilden läßt, sondern macht die Grundbewegtheit des menschlichen Daseins aus. Die Charakterisierung und Akzentuierung, die Heidegger dem Verstehen verliehen hat, indem er es als die Grundbewegung der Existenz verstand, mündet so in den Begriff von Interpretation, der in seiner theoretischen Bedeutung vor allem von Nietzsche entwickelt worden ist. Diese Entwicklung beruht auf dem Zweifel gegenüber den Aussagen des Selbstbewußtseins, wie Nietzsche ausdrücklich sagt, es müsse besser gezweifelt werden als Descartes. 46 Das Resultat dieses Zweifels ist in Nietzsche eine Veränderung des Sinnes von Wahrheit überhaupt, so daß der Prozeß der Interpretation eine Form des Willens zur Macht wird und damit ontologische Bedeutung gewinnt. Nun scheint mir, daß ein ähnlicher ontologischer Sinn im20. Jahrhundert dem Begriff der Geschichtlichkeit zugeteilt worden ist, sowohl bcimjungen Heidegger wie bei Jaspers. Die Geschichtlichkeit ist nicht länger eine Grenzbestimmung der Vernunft und ihres Anspruchs, die Wahrheit zu erfassen, sondern stellt vielmehr eine positive Bedingung rur die Erkenntnis der Wahrheit dar. Dadurch verliert die Argumentation des historischen Relativismus jedes wirkliche Fundament. Ein Kriterium rur absolute Wahrheit verlangen enthüllt sich als ein abstrakt-metaphysisches Idol und verliert jede methodologische Bedeutung. Die Geschichtlichkeit hört auf, das Gespenst des historischen Relativismus heraufzurufen, vor dem noch Husserls Programm-Aufsatz von )Philosophie als strenge Wissenschaft( so leidenschaftlich gewarnt hatte. In diese neue Orientierung fUgt sich vor allem und höchst wirksam der erneuerte Einfluß des Denkens von Kierkegaard ein, der nach dem Vorgang " KGW VIII3, 40 [25]; Vgl. auch 40 [10], [20].
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VOll Unamuno und anderen eine neue Kritik am Idealismus inspirierte und den Gesichtspunkt des Du, des anderen Ich, entwickelte. So bei Theodor Haecker, Friedrich Gogarten, Eduard Griesebach, Ferdinand Ebner, Martin Buber, KarlJaspers, Viktor von Weizsäcker und auch in dem Buch von Kar! Löwith ,Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen< (München 1928). Auch die geistvolle Dialektik, durch die E. Betti das Erbe der romantischen Hermeneutik im Zusammenspiel von Subjektivem und Objektivem zu rechtfertigen suchte, mußte unzureichend erscheinen, nachdem ~Sein und Zeit< die ontologische Vorgreiflichkeit des Subjekt begriffs gezeigt und vollends, als der spätere Heidegger im Denken der )Kehrc( den Rahmen der transzendentalphilosophischen Reflexion gesprengt hatte. Das >Ereignis< der Wahrheit, die den Spielraum von Entbergung und Ver bergung bildet, gab allem Entbergcn - auch dem der verstehenden Wissenschaften - eine neue ontologische Valenz. Damit wurde eine Reihe neuer Fragen an die traditionelle Hermeneutik möglich. Die psychologische Grundlage der idealistischen Hermeneutik erwies sich als problematisch: Erschöpft sich der Sinn eines Textes wirklich in dem >gemeinten< Sinn (mens auctoris)? Ist Verstehen nichts als die Reproduktion einer ursprünglichen Produktion? Daß das ftir die juristische Hermeneutik, die eine offenkundige rechtsschöpferische Funktion ausübt, nicht gelten kann, ist klar. Aber das pflegte man auf die Seite ihrer normativen Aufgabenstellung zu schieben und als eine praktische Anwendung anzusehen, die nichts mit ,Wissenschaft< zu tun habe. Der Begriff der Objektivität der Wissenschaft verlange das Festhalten an dem Kanon, der durch die mens aucton's gebildet wird. Aber kann er wirklich genügen? Wie ist es z. B. bei der Auslegung von Kunstwerken (die beim Regisseur, beim Dirigenten und beim Übersetzer selber noch die Gestalt einer praktischen Produktion hat)? Kann man denn leugnen, daß der reproduzierende Künstler die originale Schöpfung }interpretiert< - und nicht einfach eine Neuschöpfung daraus macht? Wir unterscheiden sehr genau zwischen angemessenen und mnerlaubtenl oder )stilwidrigen< reproduktiven Interpretationen von musikalischen oder dramatischen Werken. Mit welchem Rechte will man diesen reproduktiven Sinn von Interpretation von dem der Wissenschaft abscheiden? Geschieht eine solche Reproduktion nachtwandlerisch und ohne Wissen? Der Sinngehalt der Reproduktion ist nicht auf das zu beschränken, was einer bewußten Sinnverleihung durch den Verfasser entstammt. Die Selbstinterpretation der Künstler ist bekanntlich von fragwürdiger Geltung. Der Sinn ihrer Schöpfung stellt gleichwohl der praktischen Interpretation eine eindeutige Approximationsaufgabe. Die Reproduktion ist durchaus nicht beliebiger Willkür überlassen, so wenig wie die von der Wissenschaft unternomnlene Auslegung. Und wie ist es mit dem Sinn und der Deutung geschichtlicher Ereignisse?
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Das Bewußtsein der Zeitgenossen ist dadurch gezeichnet, daß sie, die die Geschichte >erlcben1, nicht wissen, wie ihnen geschieht. Dagegen hielt Oilthey an der systematischen Konsequenz seines Begriffes des Erlebnisses bis zum Schluß fest, wie das Modell der Biographie und Autobiographie flir Diltheys Theorie des geschichtlichen Wirkungs zusammenhangs lehrt". Auch die geistvolle Kritik des positivistischen Methodenbewußtseins durch R. G. Collingwood", die sich im übrigen des dialektischen Instrumentariums des Croceschen Hegclianismus bedient, bleibt mit ihrer Lehre vom reenactment in subjektivistischer Problcmverengung befangen, wenn sie als Modellfall flir geschichtliches Verstehen den Nachvollzug ausgeruhrtcr Pläne zugrunde legt. Da war Hegel konsequenter. Sein Anspruch, die Vernunft in der Geschichte zu erkennen, hatte seine Begründung in einem BegritT des )Geistes<, zu dessen Wesen es gehört, daß er )in die Zeit fillt< und aus seiner Geschichte allein seine inhaltliche Bestimmtheit gewinnt. Wohl gab es auch fur Hegel die >weltgeschichtlichen Individuen" die er als >Geschäftsträger des Weltgeistes< auszeichnete und deren persönliche Entschlüsse und Leidenschaften mit dem übereinstimmten, "\vas )an der Zeit war<. Aber diese Ausnahmefalle definierten flir ihn nicht den Sinn des geschichtlichen Vers tchens, sondern wurden ihrerseits von dem Begreifen des geschichtlich Notwendigen her, das der Philosoph vollbringt, als Ausnahmen definiert. Der Ausweg, dem Historiker Kongenialität mit seinem Gegenstande zuzumuten, den schon Schlciermacher beschritten hatte, fuhrt offenkundig nicht wirklich weiter. Darin wäre die Weltgeschichte in ein ästhetisches Schauspiel verwandelt. Das hieße den Historiker einerseits überfordern und dann auch wieder seine Aufgabe unterschätzen, die den eigenen Horzont mit dem der Vergangenheit zu konfrontieren hat. Und wie steht es mit dem kerygmatischen Sinn der Heiligen Schrift? Hier fuhrt sich der Begriff der Kongenialität vollends ad absurdum, indem er das Schreckbild der Inspirationstheorie heraufbeschwört. Aber auch die historische Exegese der Bibel stößt hier an Grenzen, insbesondere am Leitbegriff des >Selbstverständnisses< der Schriftsteller der Heiligen Schrift. Ist der Heilssinn der Schrift nicht notwendig etwas anderes als das, was sich durch die bloße Summierung der theologischen Anschauungen der Schriftsteller des Neuen Testamentes ergibt? So verdient die pietistische Hermeneutik (A. H. Franckc, Rambach) in dem Punkte noch immer Beachtung, daß sie in ihrer Auslegungslehre zu dem Verstehen und Explizieren die Applikation hinzuftigte und damit den Gegenwartsbezug der )Schrift< auszeichnete. Hier liegt das Zentralmotiv einer Hermeneutik verborgen, die die Geschichtlichkeit des Menschen wirklich ernst nimmt. Dem trägt ge"\viß auch die idealisti47
Vgl. Dilthey. a.a.O. Bd. 8.
48
R. G. Colling\'iOod: Denken Eine Autobiographie (1955).
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sehe Hermeneutik Rechnung, insbesondere E. Bctti durch den ,Kanon der Sinnentsprechung<. Doch scheint erst die entschlossene Anerkennung des Begriffs des Vorverständnisses und des Prinzips der Wirkungsgeschichte, bzw. die Entfaltung des wirkungsgeschichtlichen Bc\vußtseins, eine zureichende methodische Basis zu bieten. Der Kanonbegriff der neutestamentlichen Theologie findet darin als ein Spezialfall seine Legitimation. Auch die theologische Bedeutung des Alten Testaments läßt sich schwerlich rechtfettigen, wenn man an der mens auctoris als Kanon festhält, wie vor allem die große positive Leistung G. v. Rads beweist, die die Enge dieser Perspektive hinter sich läßt. Es entspricht dieser Sachlage. daß die neueste Diskussion der Hermeneutik auch auf die katholische Theologie übergegriffen hat (Stachel. Biser, Coreth)". In der Theorie der Literatur wird Ähnliches, z. T. unter dem Titel ,Rczeptionsästhetik( Oauss, Iser, Gerigk) vertreten. Doch ist gerade auf diesem Gebiet auch der Widerstand der auf Methodologie fixierten Philologie laut geworden (D. Hirsch, Th. Secbohm)''', die für die Objektivität der Forschung fürchtet. Im Lichte dieser Frage gewinnt die ehrwürdige Tradition der juristischen Hermeneutik ein neues Leben. Innerhalb der modernen Rechtsdogmatik konnte sie nur eine kümmerliche Rolle spielen, gleichsam als der nie ganz vermeidbare Schandfleck an einer sich selbst vollendenden Dogmatik. Immerhin ließ sich nicht verkennen: Sie ist eine normative Disziplin und versieht die dogmatische Funktion der Rechtsergänzung. Als solche erfüllt sie eine unentbehrliche Aufgabe. weil sie den unaufhebbaren Hiat zwischen der Allgemeinheit des gesetzten Rechts und der Konkretion des Einzelfalls zu überbrücken hat. Insofern hat schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik bei Erörterung des Problems des Naturrechts und des Begriffs der epieikeia den hermeneutischen Raum innethalb der Rechtslehre abgesteckt. Auch die Rückbesinnung auf ihre Geschieht<:'! zeigt, daß das Problem det verstehenden Auslegung auf unlösliche Weise mit dem der Anwendung verknüpft ist. Solche Doppelaufgabe war der Rechtswissenschaft insbesondere seit der Rezeption des römischen Rechts gestellt. Damals galt es nicht nur, die römischen Juristen zu verstehen, sondern zugleich die Dogmatik des römischen Rechtes auf die neuzeitliche Kulturwclt anzuv·.rendcn52 . Da49 G. Stachel: Die neue Hermeneutik (1967): E. Biser: Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik (1970); E. eorerh: Grundfragen der Hermeneutik (1969). 50 H. R. Jauss: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwiss. (1970) und Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt 1977; W. her, Die Appellstruktur der Texte (1970) und Der implizite Leser, München 1972; E. D. Hirsch: Validity in Interpretation (1967); Th. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft (1972). 51 Vgl. C. Fr. Walch: Vorwort zur >Hcrmeneutica1urisj von C. H. Eckard (1779). ~2 Vgl. u. a. P. Koschaker: Europa und das römische Recht (31958).
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raus erwuchs der Rechtswissenschaft eine nicht minder enge Bindung der hermeneutischen an die dogmatische Aufgabe, als sie der Theologie auferlegt ist. Eine Auslegungslehre des römischen Rechts konnte sich aufhistorische Verfremdung mindestens so lange nicht einlassen, als das römische Recht seine gesetzliche Rechtsgeltung behielt. Die Auslegung des römischen Rechts von Thibaut 1806·;; sieht es daher als eine Selbstverständlichkeit an, daß die Auslegungslehre sich nicht allein auf die Absicht des Gesetzgebers stützen kann, sondern den }Grund des Gesetzes< zum eigentlichen hermeneutischen Kanon erheben muß. Mit der Schaffung moderner Gesetzeskodifikationen mußte dann die klassische Hauptaufgabe, die Auslegung des römischen Rechts, ihr dogmatisches Interesse im praktischen Sinne verlieren und zugleich zum Glied einer rechtsgeschichtlichen Fragestellung werden. So konnte sie sich als Rechtsgeschichte dem Methodengedanken der historischen Wissenschaften vorbehaltlos einordnen. Umgekehrt wurde die juristische Hermeneutik als eine subsidiäre Disziplin der Rechtsdogmatik neuen Stils an den Rand der Jurisprudenz gewiesen. Aber das grundsätzliche Problem der }Konkretisierung im Recht<" bleibt bestehen, und das Verhältnis von Rechtsgeschichte und normativer Wissenschaft ist weit komplizierter, als daß die Rechtsgeschichte die Hermeneutik ersetzen könnte. Die geschichtliche Aufklärung über die historischen Umstände und die tatsächlichen Erwägungen des Gesetzgebers vor oder bei Erlaß eines Gesetzestextes mögen hermeneutisch noch so aufschlußreich sein - die ratio legis geht darin nicht auf und bleibt eine unentbehrliche hermeneutische Instanz ftir alle Jurisdiktion. So bleibt das hermeneutische Problem in aller Rechtswissenschaft ebenso beheimatet, wie das fur die Theologie und ihre beständige Aufgabe der ,Applikation< gilt. Man muß sich daher fragen, ob nicht Theologie und Rechtslehre einen wesentlichen Beitrag für eine allgcmcinc Hermeneutik bereithalten. Diese Frage zu entfalten, kann freilich die immanente Methodenproblematik der Theologie, der Rechtswissenschaft und der historisch-philologischen Wissenschaften nicht ausreichen. Es kommt gerade darauf an, die Grenzen der Selbstauffassung des historischen Erkennens aufzuweisen und der dogmatischen Interpretation eine begrenzte Legitimität zurückzugeben55 • Dem steht freilich der Begriff der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft entgegen". 53 A. F. J. Thibaut: Theorie der log. Auslegung des römischen Rechts (1799, 21806, Neudmck 1967). S4 K. Engisch: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswiss. unserer Zeit. Abh. Heide1b. Akad. Wiss. (1953). 35 Vgl. E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswiss. und das Problem des Historismus (Mainz 1954). 56 Vgl. E. Spranger: Über die Voraussetzungslosigkeit der Wiss., Abh. Berl. Akad.
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Aus diesen Gründen gmg die Untersuchung, die ich in ,Wahrheit und Methode< unternommen habe, von einem Erfahrungsbereich aus, der in gewissem Sinne dogmatisch genannt werden muß, sofern sein Gcltungsanspruch absolute Anerkennung verlangt und sich nicht in suspcnso halten läßt: das ist die Erfahrung der Kunst. Hier heißt Verstehen in aller Regel Anerkennen und Geltenlassen: )!Begreifen, was uns ergreift« (E. Staiger). Die Objektivität der Kunstwissenschaft oder Literaturwissenschaft, die als wissenschaftliche Bemühung ihren vollen Ernst behält, bleibt in jedem Falle der Erfahrung der Kunst oder Dichtung selber erst nachgeordnet. Nun ist in der authentischen Erfahrung der Kunst app!icatio von intellectio und explicatio gar nicht zu trennen. Das kann für die Wissenschaft von der Kunst nicht ohne Folgen sein. Die hier liegende Problematik ist zuerst von H. Sedlmayr in seiner Unterscheidung einer ersten und einer zweiten Kunstwissenschaft erörtert worden 57 • Die vielfaltigen Methoden kunst- und literaturwissenschaftlicher Forschung, die entwickelt worden sind, haben am Ende ihre Fruchtbarkeit immer wieder daran zu bewähren, wie weit sie der Erfahrung des Kunstwerkes zu gesteigerter Klarheit und Angemessenheit verhelfen: Sie bedürfen von sich aus der hermeneutischen Integration. So mußte die Applikationsstruktur, die in derjuristischen Hermeneutik ihr angestammtes Heimatrecht hat, Modellwert gewinnen. Gewiß kann die Wiederannäherung des rechtshistorischen und rechtsdogmatischen Verstehens, die sich von da aus aufdrängt, deren Unterschiede nicht aufheben, wie insbesondere von Betti und Wicacker betont worden ist. Aber der Sinn von >Applikation(, der ein konstitutives Element allen Verstehens darstellt, ist nicht der einer nachträglichen und äußerlichen )Anwendung( von etwas, das ursprünglich fUr sich ist. Anwendung von Mitteln zu vorbestimmten Zwecken oder Anwendung von Regeln in unserem Verhalten meint im allgemeinen auch nicht, daß wir eine in sich selbständige Gegebenheit, etwa eine >rein theoretisch( bekannte Sache, einem praktischen Zweck unterordnen. Vielmehr sind im allgemeinen Mittel vom Zwecke her und Regeln vom Verhalten her bestimmt oder gar abstrahiert. Schon Hegel hat in seiner >Phänomenologie des Geistes< die Dialektik von Gesetz und Fall analysiert, in die sich die konkrete Bestimmtheit auseinanderwirft. 58 So bedeutet die Applikationsstruktur des Verstehens, die sich der philosophischen Analyse enthüllt, durchaus keine Einschränkung der >voraussetzungslosen< Bereitschaft, zu verstehen, was ein Text selber sagt, und gestattet durchaus nicht, daß man den Text seiner >eigenen< Sinnmeinung entfremWiss. (1929), der die Herkunft dieses Schlagwortes aus der Kulturkampf-Stimmung der Zeit nach 1870 nachgewiesen hat, freilich ohne gegen seine uneingeschränkte Geltung auch nur den leisesten Verdacht zu schöpfen. 57 H. Sedlmayr: Kunst und Wahrheit (1959). 5R [Phänomenologie des Geistes (Hoffmeister) S. 189ff.]
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det und vorgefaßten Absichten dienstbar macht. Die Reflexion deckt nur die Bedingungen auf, unter denen Verstehenjeweils steht und die immer schon - als unser) Vorverständnis ( - in Anwendung sind, wenn wir uns um die Aussage eines Textes bemühen. Das hat keineswegs den Sinn, daß man die >Geisteswissenschaften( als die Jungenauen( Wissenschaften in all ihrer bedauerlichen Mangelhaftigkeit weitervegetieren lassen muß, solange sie sich nicht zur seienee erheben und der unity ofseience eingegliedert werden können. Vielmehr wird eine philosophische Hermeneutik zu dem Ergebnis kommen, daß Verstehen nur so möglich ist, daß der Verstehende seine eigenen Voraussetzungen ins Spiel bringt. Der produktive Beitrag des Interpreten gehört auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens selber. Das legitimiert nicht das Private und Arbiträre subjektiver Voreingcnommenheiten, da die Sache, um die es jeweils geht, - der Text, den man verstehen möchte - der alleinige Maßstab ist, den man gelten läßt. Wohl aber ist der unaufhebbare, notwendige Abstand der Zeiten, der Kulturen, der Klassen, der Rassen - oder selbst der Personen - ein übersubjektives Moment, das jedem Verstehen Spannung und Leben leiht. Man kann diesen Sachverhalt auch so beschreiben, daß Interpret und Text je ihren eigenen )Horizont< besitzen und daß jegliches Verstehen eine Verschmelzung dieser Horizonte darstellt. So hat sich sowohl in der neutestamentlichen Wissenschaft (vor allem bei E. Fuchs und G. Ebeling) als auch beispiel weise in dem literary criticisf1l aber auch in der philosophischen Fortentwicklung des Heideggersehen Einsatzes, die Problematik der Hermeneutik grundsätzlich von der subjektiv-psychologischen Basis weg und in die Richtung des objektiven, wirkungsgeschichtlich vermittelten Sinns hin verschoben. Die grundlegende Gegebenheit fUr die Vermittlung solcher Abstände ist die Sprache, in der der Interpret (oder Übersetzer!) das Verstandene neu zur Sprache bringt. Theologen wie Poetologen reden geradezu von dem Sprachereignis. In gewissem Sinne nähert sich die Hermeneutik damit auf ihrem eigenen Wege der von der neopositivistischen Metaphysikkritik ausgehenden analytischen Philosophie. Seit diese nicht mehr daran festhält, durch Analyse der Redeweisen und Eindeutigmachen aller Aussagen mit Hilfe künstlicher Symbolsprachen die, Verhexung durch die Sprache< ein für allemal aufzulösen, kann auch sie über das Funktionieren der Sprache im Sprachspiel am Ende nicht zurück, wie gerade Wittgensteins ,Philosophische Untersuchungen< gezeigt haben. K. o. Apel hat mit Recht betont, daß die Kontinuität der Überlieferung durch den Begriff des ,Sprachspiels< freilich nur diskontinuierlich beschreib bar wird 59 • Sofern die J
5Y
KO. Apel: Wittgenstein und das Problem des Verstehens. Z. Thcol. Kirche 63 (1966)
Uetzt in: Transformation der Philosophie. Frankfurt 1973, Bd. I, S. 335-377].
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Hermeneutik die positivistische Naivität, die im Begriff des Gegebenen liegt, durch die Reflexion auf die Verstehensbedingungen überwindet (Vorverständnis, Vorgängigkeit der Frage, Motivationsgeschichte jeder Aussage), stellt sie zugleich eine Kritik der positivistischen Methodengesinnung dar. Wieweit sie dabei dem Schema transzendentaler Theorie (K. O. Apel) oder eher dem der historischen Dialektik (J. Habermas) folgt, ist umstritten60 .
Hermeneutik hat jedenfalls eine eigenständige Thematik. Ihrer formalen Allgemeinheit zum Trotz läßt sie sich nicht legitim in die Logik eingliedern. In gewissem Sirme teilt sie mit der Logik die Universalität, in gewissem Sinne übertrifft sie dieselbe sogar an Universalität. Zwar kann jeder Aussagezusamrnenhang auf seine logische Struktur hin betrachtet werden: Die Regeln der Grammatik, Syntax und schließlich die Gesetze der Konsequenzlogik lassen sich stets auf Rede- und Gedankenzusammenhänge anwenden. Aber selten genügt ein wirklich gelebter Redezusammenhang den strikten Forderungen der Aussagclogik. Rede und Gespräch sind nicht im Sinne des logischen Urteils ,Aussagen<, deren Eindeutigkeit und Bedeutung für jedermann nachprüfbar und vollziehbar ist, sondern haben ihre okkasionelle Seite. Sie begegnen in einem kommunikativen Prozeß, zu dem der Monolog wissenschaftlicher Rede oder Beweisftihrung nur einen Spezialfall bildet. Die Vollzugsweise der Sprache ist der Dialog, und sei es auch der Dialog der Seele mit sich selbst, als den Plato das Denken bezeichnet hat. Insofern ist die Hermeneutik als die Theorie des Verstehens und der Verständigung von höchster Allgemeinheit. Sie versteht jede Aussage nicht bloß in ihrer logischen Valenz, sondern als Antwort auf eine Frage, d. h. aber: wer versteht, muß die Frage verstehen, und da das Verstehen ihren Sinn dergestalt aus ihrer Motivationsgeschichte gewinnen muß, hat es notwendig über den logisch faßbaren Aussagegehalt hinauszugehen. Das liegt im Grund schon in Hegels Dialektik des Geistes und ist von B. Croce, Collingwood und anderen erneuert worden. The logic oJ question and answer ist ein höchst lesenswertes Kapitel in Collingwoods ,Autobiographyc Aber auch eine rein phänomenologische Analyse kann sich dem nicht entziehen, daß es weder isolierte Wahrnehmungen noch isolierte Urteile gibt. Das ist durch H. Lipps )Hermeneutische Logik< auf der Grundlage von Husserls Lehre von den anonymen Intentionalitäten phänomenologisch begründet und unter dem Eindruck von Heideggers existenzialem Weltbegriff ausgefUhrt worden. In England hat Austin die Wendung des späten Wittgenstein in ähnlicher Richtung weitergefuhrt. In der Konsequenz dieses Rückgangs von der Sprache der Wissenschaft 60 Vgl. die Beiträge in )Hermeneutik und Dialektik( und mein Nachwort zu >Wahrheit und Methode< (31972), in diesem Band S. 449 ff.
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auf die Sprache des täglichen Lebens, von den Erfahrungswissenschaften auf die Erfahrung der >Lebenswelt< (Husserl), lag, daß die Hermeneutik, statt sich der )Logik< unterzuordnen, auf die ältere Tradition der Rhetorik zurückorientieren mußte, mit der sie ehedem, wie oben gezeigt6 \ eng verknüpft war. Sie nimmt damit einen Faden wieder auf, der im 18. Jahrhundert abgebrochen war. Damals hatte vor allem G. B. Vico die alte rhetorische Tradition, die er als Professor der Rhetorik in Neapel vertrat, gegenüber dem Monopolanspruch der )modernen< Wissenschaft verteidigt, die er critica nannte. Insbesondere wurde die Bedeutung der Rhetorik ftir die Erziehung und die Ausbildung des sensus communis von ihm hervorgehoben, und in der Tat teilt die Hermeneutik mit der Rhetorik die RoUe, die das eikos, das persuasive Argument spielt. Die Tradition der Rhetorik, die in Deutschlandtrotz Herder - im 18. Jahrhundert besonders gründlich abbrach, ist jedoch auf unerkannte Weise im Bereich der Ästhetik wie der Hermeneutik wirksam geblieben, wie Kl. Dockhorn vor allem gezeigt har". Gegenüber den Monopolansprüchen der modernen mathematischen Logik und ihrer Fortentwicklung melden sich daher auch in unserer Zeit von der Rhetorik und der forensischen Rationalität aus die Widerstände, so durch eh. Perelman und seine Schule63 • Doch schließt sich daran noch eine weit umfassendere Dimension des hermeneutischen Problems, die mit der Zentralstellung zusammenhängt, die die Sprache im hermeneutischen Bereich einnimmt. Sprache ist nicht nur ein Medium unter anderen - innerhalb der Welt der )symbolischen Formen< (Cassirer) -, sondern steht in besonderer Beziehung zur potentiellen Gemeinsamkeit der Vernunft. Es ist Vernunft, was sich in Sprache kommunikativ aktualisiert, wie schon R. Hönigswald betont hat: Die Sprache ist nicht nur )Faktum<, sondern )Prinzip<. Daraufberuht die Universalität der hermeneutischen Dimension. Solche Universalität begegnet bereits in der Bedeutungslehre von Augustinus und Thomas, sofern sie die Bedeutung der Zeichen (der Worte) durch die Bedeutung der Sachen überboten sahen und damit das Hinausgehen über den sensus litteralis rechtfertigten. Die Hermeneutik wird dem heute gewiß nicht einfach folgen können, d. h. sie wird keine neue Allegorese inthronisieren. Dafür wäre eine Sprache der Schöpfung vorausgesetzt, durch die Gott zu uns spricht. Wohl aber ist der Erwägung nicht auszuweichen, daß nicht nur in Rede und Schrift, sondern in alle menschliche Schöpfungen }Sinn< eingegangen ist, den herauszulesen eine hermeneutische Aufgabe ist. Dem hat Hege! mit seiner Lehre vom >objektiVgl. oben S. 95f. Kl. Dockhorn: Rezension von H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, GGA. 218 (1966). 63 Vgl. auch: Philosophy, Rhetoric and Argumentation, hg. M. Natanson und H. W. Johnstone jr. (1965). 61
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Yen Geist{ Ausdruck gegeben, und dieser Teil seiner Geistesphilosophie ist auch unabhängig von seinem dialektischen Systemganzen lebendig geblieben (v gl. etwa Nicolai Hartmanns Lehre vom objektiven Geist und den Idealismus Croces und Gentiles). Nicht nur die Sprache der Kunst stellt legitime Verständnis ansprüche, sondern jegliche Form menschlicher Kulturschöpfung überhaupt. Ja, die Frage weitet sich aus. Was gehört nicht alles zu unserer sprachlich verfaßten Weltorientierung? Alle Welterkenntnis des Menschen ist sprachlich vcrnlittelt. Eine erste Weltorientierung vollendet sich in1 Sprechenlernen. Aber nicht nur das. Die Sprachlichkeit unseres Inder-Weit-Seins artikuliert am Ende den ganzen Bereich der Erfahrung. Die Logik der Induktion, die Aristoteles beschreibt und die F. Bacon zur Grundlegung der neuen Erfahrungswissenschaften ausgebaut hatM , mag als logische Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung unbefriedigend sein und der Korrektur bedürfen'" - die Sachnähe zur sprachlichen Weltartikulation tritt an ihr glänzend heraus. Schon Themistius hat in seinem Aristoteleskommentar das einschlägige Kapitel des Aristoteles (An. Post B 19) durch das Sprechenlernen illustriert und in dieses Gebiet hat die moderne Linguistik (Chomsky) und Psychologie (Piaget) neue Schritte getan. Doch gilt es in noch viel weiterem Sinne: Alle Erfahrung vollzieht sich in beständiger kommunikativer Fortbildung unserer Welterkenntnis. Sie ist selber stets Erkenntnis von Erkanntem in einem viel tieferen und allgemeineren Sinne, als die VOn A. Boeckh rur das Geschäft des Philologen geprägte Formel es meinte. Denn die Überlieferung, in der wir leben, ist nicht eine sogenannte kulturelle Überlieferung, die aus Texten und Denkmälern allein bestünde und einen sprachlich verfaßten oder geschichtlich dokumentierten Sinn vermittelte, während die realen Determinanten unseres Lebens, Produktionsbedingungen usw., >draußen< blieben: Vielmehr wird uns die konlmunikativ erfahrene Welt selbst als eine offene Totalität beständig übergeben, traditur. Das ist nichts als Erfahrung. Sie ist überall da, wo Welt erfahren, Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, und am Ende liegt die vornehmste Aufgabe der Hermeneutik als philosophischer Theorie darin, zu zeigen, daß erst die Integration aller Erkenntnis der Wissenschaft in das persönliche Wissen des Einzelnen >Erfahrung< heißen kann, wie Polanyi gezeigt hat. 66 So betrifft die hermeneutische Dimension im besonderen die Arbeit des philosophischen Begriffs, die durch die Jahrtausende geht. Als Überlieferung denkender Erfahrung muß sie als ein einziges großes Gespräch verstanden werden, an demjede Gegenvnrt teilnimmt und das sie nicht aufüberle-
64 60 1>6
Aristoteles, Anal. post. II, 19. K. R. Popper: Logik der Forschung e1966). M. Polanyi, Personal Knowledge. Chicago 1958.
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gene Weise meistern und kritisch beherrschen kann. Das war die Schv,räche der Problcmgeschichte gewesen, die Geschichte der Philosophie nur als Bestätigung der eigenen Problemeinsicht lesen zu können und nicht als einen kritischen Partner, der unsere eigenen Einsichten in ihrer Begrenztheit enthüllt, Dazu gilt es freilich, sich der hermeneutischen Reflexion zu stellen, Sie lehrt uns, daß die Sprache der Philosophie immer etwas Unangemessenes hat und in ihrer Intention mehr verfolgt, als in ihrer Aussage gefunden und beim Wort genommen werden darf. Die Begriffsworte, die in ihr geprägt und in ihr überliefert werden, sind nicht feste Marken und Signale, durch die etwas Eindeutiges bezeichnet wird, \vie in den Symbolsystemen der Mathematiker und Logiker und in ihren Anwendungen. Sie entspringen der kommunikativen Bewegung menschlicher Weltauslegung, die in der Sprache geschieht, werden von ihr fortbewegt und gewandelt und reichern sich an, rücken in neue Zusammenhänge, welche die alten verdecken, sinken ab Zur halben Gedankenlosigkeit und werden in neuem fragendem Denken wieder lebendig, So liegt aller philosophischen Arbeit des Begriffs eine hermeneutische Dimension zugrunde, die man heutzutage mit dem etwas ungenauen Wort >Begriffsgeschichte( bezeichnet. Sie ist nicht eine sekundäre Bemühung und meint nicht, daß man statt von den Sachen zu reden, von den Verständigungsmittdn spräche, die wir dabei gebrauchen, sondern sie bildet das kritische Element im Gebrauch unserer Begriffe selbst. Der Furor des Laien, der nach eindeutigen Definitionen verlangt, aber ebenso der Eindeutigkeitswahn einer einseitigen, semantischen Erkenntnistheorie verkennen, was Sprache ist und daß auch die Sprache des Begriffs nicht erfunden, nicht willkürlich verändert, gebraucht und weggelegt werden kann, sondern dem Element entstammt, in dem wir uns denkend bewegen. Nur die erstarrten Krusten dieses lebendigen Stroms von Denken und Sprechen begegnen in der Kunstform der Terminologie. Auch sie ist noch eingeftihrt und getragen von dem kommunikativen Geschehen, das wir sprechend vollziehen und in dem sich Verständnis und Einverständnis aufbaurt'7. Das scheint mir der Konvergenzpunkt zwischen der Entwicklung der analytischen Philosophie in England und der Hermeneutik Aber die Entsprechung bleibt begrenzt, Wie im 19, Jahrhundert Dilthey den englischen Empirismus des Mangels an geschichtlicher Bildung zieh, besteht der kritische Anspruch der geschichtlich reflektierten Hermeneutik darin, nicht so sehr Weisen des Sprechcns in ihrer logischen Struktur beherrsch bar zu machen, wie das etwa das Ideal der >analytischen< Philosophie ist, als die sprachlich vermittelten Inhalte mit
67
Vgl. >Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. (Arbeitsgemeinschaft
fti.t Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 170 (1971) (= Ges. Werke Bd. 4).
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ihrem ganzen Niederschlag an geschichtlicher Erfahrung zur Aneignung zu bringen. Eine neue Virulenz erhielt das hermeneutische Problem im Felde der Logik der Sozialwissenschaften. Gewiß muß man anerkennen, daß aller Welterfahrung die hermeneutische Dimension zugrunde liegt und daher auch in der Arbeit der Naturwissenschaften eine Rolle spielt, wie insbesondere durch Thomas Kuhn 68 aufgev,riesen worden ist. Doch gilt das noch viel mehr in den Sozialwissenschaften. Denn sofern Gesellschaft immer ein sprachlich verständigtes Dasein hat69 , ist das eigene Gegenstandsfeld der Sozialwissenschaften selber (und nicht nur ihre Theoricnbildung) durch die hermeneutische Dimension beherrscht. Die hermeneutische Kritik an dem naiven Objektivismus in den Geisteswissenschaften hat in gewissem Sinne ihr Gegenstück in der marxistisch inspirierten Ideologiekritik (Habermas vgl. auch die dagegen gerichtete vehemente Polemik von Hans Albert)". Ebenso ist das Heilen durch Gespräch ein eminentes hermeneutisches Phänomen, ftir das vor allem]. Lacan und P. Ricoeur 71 die theoretischen Grundlagen neu diskutiert haben. Die Reichweite der Analogie zwischen Krankheiten des Geistes und Krankheiten der Gesellschaft scheint mir freilich zweifelhaft". Die Lage des Sozialwissenschaftlers gegenüber der Gesellschaft ist nicht vergleichbar mit der des Psychoanalytikers gegenüber seinem Patienten. Eine Ideologiekritik, die sich selbst aus aller ideologischen Präokkupation herauszuhalten meint, ist nicht minder dogmatisch als eine )positivistische( Soziahvissenschaft, die sich als Sozialtechnik versteht. Angesichts solcher Vermittlungsversuche scheint mir die Opposition der Theorie der Dekonstruktion gegen die Hermeneutik, die Derrida 73 vertritt, verständlich. Die hermeneutische Erfahrung verteidigt jedoch gegen eine solche Theorie der )Sinn<-Dekonstruktion ihr eigenes Recht. In ecYiture )Sinn< zu suchen hat - trotz Nietzsehe - nichts mit Metaphysik zu tun. Wenn man der Hermeneutik folgt, zielt vielmehr jede Anstregung des Begreifens im Prinzip auf den möglichen Konsensus, das mögliche EinverTh. Kuhn: The Structure ofScientific Revolutions, Chicago 1962. Charles Taylor: Interpretation and the Sciences of Man. Rev. of Met. 25 (1971), S. 3-51, jetzt in C. Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt 1975, S. 154-219. 70 J. Habermas: Zur Logik der Sozial'vviss. Beiheft der Phil. Rdsch. (1967); Hermeneutik und Ideologiekritik (1971); Hans Albert: Konstruktion und Kritik (1972). [Auch Habermas' spätere Arbeiten diskutieren die Hermeneutik. Vgl. ,Theorie des kommunikativen Handelns( 2 Bde. Frankfurt 1981, I, S. 143 und 192 ff.]. 71 P. Ricoeur: De l'interpretation. Essai sur Freud (1965, dt. 1969); Le conflit des interpretations (1969); Hermeneutique ee critique des ideologies (in: Demythisation et ideologie, ed. Castelli) (1973); La metaphore vive. Paris 1975; J. Lacan: Ecrits (1966). 72 Vgl. J. Habermas (Hrsg.): Hermeneutik und Ideologiekritik (1971). 73 L'ecriture et la diffhence, Paris 1967. 68 69
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ständnis, ja sie muß selbst schon auf einem verbindenden Einverständnis beruhen, wenn je herauskommen soll, daß man sich versteht. Das ist durchaus keine dogmatische Annahme, sondern eine einfach phänomenologische Beschreibung. Wo nichts verbindet, kann auch kein Gespräch gelingen. So muß die Ideologiekritik als letzte Instanz selber den rationalen Diskurs einfUhren, der es möglich machen soll, sich auf zwangsfreie Weise zu verständigen. Das gleiche bestätigt sich im Vorgehen der Psychoanalyse. Der Erfolg der Dialogtherapie der Psychoanalyse gründet sich nicht nur auf die freiwillige Reflexionsarbeit des Patienten. Daß es ihm schließlich gelingen soll, mit Hilfe des Arztes durch Sprechtherapie seine Blockaden aufzulösen, ist nicht alles. Das schließliehe Endziel ist vielmehr das, seine natürliche Fähigkeit wiederzugewinnen, mit anderen zu kommunizieren, und das heißt, zu jenem Grundeinverständnis zurückzukehren, das es überhaupt erst sinnvoll macht, daß einer mit dem anderen redet. Hier tut sich ein Unterschied auf, den man nicht ignorieren kann. Die Ideologiekritik beansprucht, emanzipatorische Reflexion zu sein, und entsprechend beansprucht der therapeutische Dialog, die Maskierungen des Unbewußten bewußt zu machen und dadurch aufzulösen. Alle beide setzen dabei ihr Wissen voraus und halten sich fur wissenschaftlich fundiert. Im Unterschiede dazu enthält die hermeneutische Reflexion keinerlei inhaltlichen, vorgängigen Anspruch solcher Art. Sie behauptet nicht, zu wissen, daß die faktischen gesellschaftlichen Bedingungen nur verzerrte Kommunikation möglich machen. Das schlösse in ihren Augen bereits ein, man wisse, was bei der unverzerrten richtigen Kommunikation herauskommen müsse. Auch meint sie nicht wie ein Therapeut zu operieren, der den Reflexionsprozeß des Patienten zu dem guten Ende fUhrt, indem er ihn zu einer höheren Einsicht in seine Lebensgeschichte und sein wahres Wesen fuhrt. In bei den Fällen, in der Ideologiekritik wie in der Psychoanalyse, meint die Interpretation von einem vorgängigen Wissen geleitet zu sein, von dem aus sich die vorgefaßten Fixierungen und Vorurteile auflösen lassen. In diesem Sinne verstehen sich beide als )Aufklärung(. Im Gegensatz dazu betrachtet die hermeneutische Erfahrungjeden Anspruch vorgängigen Wissens mit Skepsis. Der Begriff des Vorverständnisses, der von Bultmann eingefUhrt worden ist, meint kein solches Wissen: unsere Vorurteile sollen im Vorgang des Verstehens aufs Spiel gesetzt werden ... Begriffe wie der der >Aufklärung<, der )Emanzipation(, des lzwangsfreien Dialogs( enthüllen sich in der Konkretion der hermeneutischen Erfahrung als arme Abstraktionen. Die hermeneu tische Erfahrung realisiert nämlich, wie tief Vorurteile eingewurzelt sein können und wie wenig ein bloßes Sich-Bewußtwerden derselben imstande ist, ihre Gewalt aufzulösen. Das wußte einer der Väter der modernen Aufklärung, Descartes, sehr wohl, als er weniger durch Argumentation als Meditation, durch immer wiederholtes Nachdenken seinen neuen Metho-
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Vorstufen
den begriff zu legitimieren suchte. Man schelte das nicht als bloße rhetorische Aufmachung. Ohne eine solche gibt es keine Kommunikation, auch nicht in philosophischen und wissenschaftlichen Beiträgen, die sich alle mit rhetorischen Mitteln zur Geltung bringen müssen. Die ganze Geschichte des Denkens bestätigt die antike Nachbarschaft zwischen Rhetorik und Hermeneutik. Doch enthält Hermeneutik stets ein Element, das über die bloße Rhetorik hinausgeht: Sie schließt stets eine Begegnung mit den Meinungen des anderen ein, die ihrerseits zu Worte kommen. Das gilt auch rur zu verstehende Texte, wie rur alle anderen kulturellen Schöpfungen dieser Art. Sie müssen ihre eigene Überzeugungskraft entfalten, um verstanden zu werden. Die Hermeneutik ist deshalb Philosophie, weil sie sich nicht darauf beschränken läßt, eine Kunstlchre zu sein, die die Meinungen eines anderen mU[1 versteht. Die hermeneutische Reflexion schließt vielmehr ein, daß in allem Verstehen von etwas Anderem oder eines Anderen Selbstkritik vor sich geht. Wer versteht, nimmt keine überlegene Position in Anspruch, sondern gesteht zu, daß die eigene vermeintliche Wahrheit auf die Probe gestellt wird. Das ist in allem Verstehen mit eingeschlossen, und deshalb trägt jedes Verstehen dazu bei, das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein fortzubilden. Das Grundmodell aller Verständigung ist der Dialog, das Gespräch. Ein Gespräch ist bekanntlich nicht möglich, wenn einer der Partner sich unbedingt in einer überlegenen Position glaubt, im Vergleich mit dem anderen, etwa so, daß er ein vorgängiges Wissen über die Vorurteile zu besitzen behauptet, in denen der andere befangen ist. Er schließt sich damit in seine eigenen Vorurteile ein. Dialogische Verständigung ist im Prinzip unmöglich, wenn einer der Partner des Dialoges sich nicht v.;irklich rur das Gespräch freiläßt. So ein Fall liegt z. B. vor, wenn einer im gesellschaftlichen Umgang den Psychologen oder Psychoanalytiker spielt und die Aussagen eines anderen nicht in ihrem Sinne erns t nimmt, sondern auf psychoanalytische Weise zu durchschauen beansprucht. Die Partnerschaft, auf der gesellschaftliches Leben beruht, ist in solchem Falle zerstört. Die Problematik ist vor allem von seiten Paul Ricoeurs einer systematischen Diskussion unterzogen worden, wo er von dem >Konflikt der Interpretationen< spricht. Dort stellt Ricoeur Marx, Nietzsche und Freud auf die eine Seite, die phänomenologische Intentionalität des Verstehens von >Symbolen< auf die andere Seite und sucht nach einer dialektischen Vermittlung. Auf der einen Seite steht die genetische Herleitung, als Archäologie, auf der anderen Seite die Orientierung auf einen gemeinten Sinn hin, als Teleologie. In seinen eigenen Augen ist das nur eine vorbereitende Unterscheidung, die einer allgemeinen Hermeneutik vorarbeitet. Diese müsse dann die konstitutive Funktion des Verstehens von Symbolen und des Sich-Verstehens mit Hilfe von Symbolen aufklären. - Eine solche allgemeine hermeneutische Theorie scheint mir
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inkonsistent. Die Weisen des Verstehens von Symbolen, die hier nebeneinander gestellt \\rerden, hatten jeweils einen anderen, und nicht den gleichen Sinn von Symbol im Auge, und konstituieren damit nicht nUr jeweils einen verschiedenen >Sinn< derselben. Die eine Weise des Verstehens schließt vielmehr die andere aus, weil sie etwas anderes meint. Die eine versteht, was das Symbol sagen will, die andere, was es verbergen und maskieren will. Das ist ein total verschiedener Sinn von }Verstehen<. Die Universalität der Hermeneutik hängt letztlich davon ab, wie weit der theoretische, transzendentale Charakter der Hermeneutik auf ihre Geltung innerhalb der Wissenschaft beschränkt bleibt oder ob sie auch die Prinzipien des >Set1SUS cof11fnunis< ausweist und damit die Weise, wie aller Wissenschaftsgebrauch in das praktische Bewußtsein integriert wird. Die Hermeneutik rückt - so universal verstanden - in die Nachbarschaft zur >praktischen Philosophie<, deren Wiederbelebung inmitten der deutschen transzendentalphilosophischen Tradition durch die Arbeiten J. Ritters und seiner Schule betrieben wird. Die philosophische Hermeneutik ist sich dieser Konsequenz bewußf4 • Eine Theorie der Praxis des Verstehens ist offensichtlich Theorie und nicht Praxis, aber eine Theorie der Praxis ist deshalb nicht eine> Technik< oder eine angebliche Ver'h';ssenschaftlichung der gesellschaftlichen Praxis: Sie ist eine philosophische Besinnung auf die Grenzen, die aller wissenschaftlich-technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft gesetzt sind. Das sind Wahrheiten, die gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff zu verteidigen eine der wichtigsten Aufgaben einer philosophischen Hermeneutik ist1 s.
74 Vgl. J. Ritter: Metaphysik und Politik (1969) und M. Riedel: Zur Rehabiliticrung der praktischen Philosophie (1972). 75 Gadamer: Theorie. Technik, Praxis. In: Neue Anthropologie Bd. 1. Einftihrung (1972) [Ges. Werke Bd. 41.
III. Ergänzungen
9. Zur Problematik des Selbstverständnisses Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der >Entmythologisierung<
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Wer das ungeheure Aufsehen miterlebt hat. das das Erscheinen von Rudolf Bultmanns programmatischem Aufsatz über die Entmythologisierung des Ncucn Testaments seinerzeit hervorgerufen hat und die bis heute gehende Fortwirkung desselben bedenkt, kann sich nicht darüber täuschen, daß es theologische und speziell dogmatische Probleme sind, die hier ins Spiel kommen. Für den Kenner der theologischen Arbeit Bultmanns war dieser Aufsatz alles andere als sensationell. Er formulierte nur, was in der exegetischen Arbeit des Theologen seit langem geschah. Eben das aber ist der Punkt, an dem eine philosophische Besinnung zur theologischen Diskussion
beizutragen vermag. Ohne Frage hat das Problem der Entmythologisierung auch einen allgemeinen hermeneutischen Aspekt. Die theologischen Probleme betreffen nicht das hermeneutische Phänomen der Entmythologisierung als solches, sondern das dogmatische Resultat derselben: nämlich, ob die Grenzen dessen, was einer Entmythologisierung verfallt, vom dogmatischen Standpunkte der protestantischen Theologie aus bei Bultmann richtig gezogen sind oder nicht. - Die folgenden Erörterungen wollen den hermeneutischen Aspekt des Problems unter einem Gesichtspunkt beleuchten, der mir bisher noch nicht genug zur Geltung gekommen scheint: Sie stellen die Frage, ob das Verständnis des Neuen Testaments vom Leitbegriff des Selbstverständnisses des Glaubens her zureichend verstanden werden kann, oder ob ein ganz anderes Moment, das das Selbstverständnis des einzelnen, ja sein Selbstsein überspielt, dabei wirksam ist. In dieser Absicht soll hier das Verhältnis von Verstehen und Spielen herangezogen werden. Dazu bedarf es einiger vorbereitender Überlegungen, die dem hermeneutischen Aspekt seinen Ort anweisen. Die erste Feststellung, die man dabei machen muß, ist, daß Verstehen als hermeneutische Aufgabe stets schon eine Dimension der Reflexion einschließt. Verstehen ist keine bloße Reproduktion einer Erkenntnis, d. h. nicht ein bloßer wiederholter Vollzug derselben, sondern ist sich der Wiederholtheit ihres Vollzuges selber bewußt. Es ist, wie schon August Boeckh
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Ergänzungen
formuliert hat, ein Erkennen des Erkannten. Diese paradoxe Formulierung faßt die Einsichten der romantischen Hermeneutik zusammen, der die reflexive Struktur des hernleneutischen Phänomens klar geworden Volar. Der Vollzug des Verstehens erfordert, das im Vollzug einer Erkenntnis Unbcwußte zum Bewußtsein zu bringen. Die romantische Hermeneutik gründet sich damit auf einen Fundamentalbegriff der kantischen Ästhetik, den Begriff des Genies, der das musterhafte Werk .bewußtlosl - wie die Natur selber-, d. h. ohne bewußte Anwendung von Regeln und nicht durch bloße Nachahmung von Vorbildern schafft. Damit ist die besondere Lage schon charakterisiert, in der sich das hermeneutische Problem stellt. Offenbar stellt es sich nicht, solange es sich um bloße Aufnahme und originäre Weiterbildung einer bestimmten geistigen Tradition handelt, wie es z. B. bei der humanistischen Wiederentdeckung des klassischen Altertums der Fall war, die viel eher Nachahmung und unmittelbare Nachfolge, ja unmittelbaren Wettbewerb mit den antiken Autoren zum Ziele hatte, als ein bloßes )Verstehen( derselben. Das hermeneutische Problem stellt sich offenbar nur dort, wo keine solche machtvolle Tradition das eigene Verhalten zu ihr in sich einsaugt, sondern wo das Bewußtsein aufbricht, daß einer der Überlieferung, die auf ihn kommt, wie etwas Fremdem gegenübertritt, sei es, daß er ihr überhaupt nicht zugehört, sei es, daß die Tradition, die ihn mit ihr verbindet, ihn nicht mehr fraglos einnimmt. Der letztere Fall ist der hier in Frage stehende Aspekt des hermeneutischen Problems. Das Verstehen der christlichen Überlieferung so gut wie das des klassischen Altertums schließt fur uns historisches Bewußtsein ein. Was uns mit der großen griechisch-christlichen Tradition verbindet, mag noch so lebendig sein, das Bewußtsein der Andersheit, des nicht mehr fraglosen Zugehörens zu dieser Tradition, bestimmt uns alle. Das wird besonders deutlich in den Anfangen der historischen Kritik an der Überlieferung, insbesondere in den Anfangen der Bibelkritik, wie sie von Spinoza und seinem theologisch-politischen Traktat eröffnet worden ist. Dort zeigt sich ganz klar, daß der Weg des historischen Verstehens eine Art unvermeidlichen Umwegs ist, den der Verstehende dann einschlagen muß, wenn ihm die unmittelbare Einsicht in das in der Überlieferung Gesagte nicht mehr möglich ist. Die genetische Fragestellung, deren Ziel darin besteht, eine überlieferte Meinung aus der geschichtlichen Situation zu erklären, wird erst dann aufkommen, wenn die unmittelbare Einsicht in die Wahrheit des Gesagten unerreichbar ist, weil die Vernunft sich widersetzt. Gewiß hat es solchen Umweg historischer Erklärung nicht erst im Zeichen der modernen Aufklärung gegeben. Angesichts des Alten Testaments etwa stand die christliche Theologie sehr bald vor der Aufgabe, die mit der christlichen Dogmatik und Morallehre unvereinbaren Inhalte des Alten
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Testaments exegetisch zu eliminieren, und dazu diente außer der allegorischen und typologischen Deutung, wie z. B. Augustinus in )Dc Doctrina christiana< gezeigt hat, auch historische Reflexion. Aber in solchem Falle blieb die dogmatische Tradition der christlichen Kirche die unerschütterliche Basis. Geschichtliche Überlegungen waren seltene und sekundäre Hilfen zum Verständnis der Heiligen Schrift. - Das wird mit dem Aufkommen der neuen Naturwissenschaft und ihrer Kritik wesentlich anders. Was sich an der Heiligen Schrift im Einklang mit der modernen Wissenschaft aus reiner Vernunft einsehen läßt, ist ein enger Bereich, und damit wächst gewaltig der Bereich dessen an, was man nur im Rückgang auf geschichtliche Bedingungen verstehen kann. Für Spinoza gibt es zwar noch eine unmittelbare Evidenz der moralischen Wahrheiten, die die Vernunft in der Bibel erkennt. Ihre Evidenz ist im gewissen Sinne die gleiche wie etwa die Evidenz des Euklid, der so unmittelbar der Vernunft einleuchtende Wahrheiten enthält, daß die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung dieser Einsichten sich zunächst gar nicht stellt. Indessen sind die moralischen Wahrheiten, die in der biblischen Überlieferung auf diese Weise evident sind, rur Spinoza nur ein kleiner Teil des Ganzen der biblischen Überlieferung. Die Heilige Schrift im ganzen bleibt der Vernunft fremd. Wenn man sie verstehen will, dann muß man sich auf historische Reflexion einlassen, wie z. B. im Falle der Wunderkritik. Nun ist es die in der ausgehenden Romantik durchdringende Überzeugung der totalen Fremdheit gegenüber der Überlieferung - als Kehrseite einer totalen Andershcit der Gegenwart -, die zur methodischen Grundvoraussetzung des hermeneutischen Verfahrens erhoben wird. Gerade dadurch wird die Hermeneutik zu einer universalen methodischen Haltung, daß sie die Fremdheit des zu verstehenden Inhaltes voraussetzt und damit deren Überwindung durch die Aneignung des Verstehens zur Aufgabe macht. So ist es charakteristisch, daß Schleiermacher es durchaus keine absurde Vorstellung findet, selbst die Prinzipien eines Euklid historisch, d. h. im Rückgang auf die fruchtbaren Lebensaugenblicke im Leben des Euklid zu verstehen, in denen diese Einsichten zustande kamen. An die Stelle der unmittelbaren Sacheinsicht tritt als die eigentlich methodisch-wissenschaftliche Haltung das psychologisch-historische Verstehen. Damit erst wird die Bibelwissenschaft, die Tlieologie in ihrem exegetischen Aspekt, auf den Rang einer echten historisch-kritischen Wissenschaft gehoben. Die Hermeneutik wird das allgemeine Organ der historischen Methode. Bekanntlich hat die Durchftihrung dieser historisch-kritischen Gesinnung im Gebiete der biblischen Exegese zu schweren Spannungen zwischen Dogmatik und Exegese geführt, die bis in die heutige Zeit hinein die theologische Arbeit am Neuen Testament durchziehen. Die historische Schule, insbesondere in der entschiedenen Form, die ihr schärfster Methodologc, Droysen, der Aufgabe des Historikers vindiziert
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Ergänzungen
hat, hat jedoch totale objektivistische Verfremdung des Gegenstandes der Geschichte durchaus nicht akzeptiert. Droysen hat viclmehrjene >cunuchenhafte Objektivität< mit beißendem Spott verfolgt und umgekehrt die Zugehörigkeit zu den großen sittlichen Mächten, die die Geschichte regieren, als die Vorbedingung alles historischen Verstehens ausgezeichnet. Seine berühmte Formel, Aufgabe des Historikers sei es, forschend zu verstehen, hat sogar selber einen theologischen Aspekt. Die Pläne der Vorsehung sind dem Menschen verhüllt, aber in dem rastlos forschenden Eindringen in die Zusammenhänge der Weltgeschichte wird dem historischen Geiste eine Ahnung des uns verhüllten Sinnes des Ganzen zuteil. Verstehen ist hier mehr als eine universale Methode. die okkasionell unterstützt wird durch die Affinität oder Kongenialität des Historikers mit seinen historischen Gegenständen. Es ist keine Frage der eigenen zufälligen Sympathie allein, sondern in der Wahl der Gegenstände wie in der der Gesichtspunkte, unter denen sich der Gegenstand als ein historisches Problem stellt, ist etwas von der eigenen Geschichtlichkeit des Verstehens wirksam. Freilich ist es fur das methodische Selbstbewußtsein der historischen Forschung schwierig, diese Seite der Sache festzuhalten. Denn auch die historischen Geisteswissenschaften sind von der Wissenschaftsidee der Moderne geprägt. Die romantische Kritik am Rationalismus der Aufklärung hat zwar die Herrschaft des Naturrechts gebrochen, aber die Wege der historischen Forschung verstehen sich selber als Schritte zu einer totalen geschichtlichen Aufklärung des Menschen über sich selbst, in deren Konsequenz noch die letzten dogmatischen Reste der griechisch-christlichen Tradition zur Auflösung kommen mußten. Der historische Objektivismus, der diesem Ideal entspricht, zieht seine Kraft aus einer Idee von Wissenschaft, deren eigentlicher Hintergrund der philosophische Subjektivismus der Neuzeit ist. Sich seiner zu erwehren, war zwar das Bemühen Droysens. Aber die grundsätzliche Kritik am philosophischen Subjektivismus, die mit Heideggers )Sein und Zeit{ einsetzte, vermochte erst die geschichtstheologische Position Droysens philosophisch zu begründen und Dilthey gegenüber, der dem modernen Wissenschafts begriff viel stärker erlegen \var, als einen echten Gegenspieler aus bodenbeständigem Luthertum den Grafen Yorck von Wartenburg zu erweisen. Indem Heidegger die Geschichtlichkeit des Daseins nicht mehr als eine Beschränkung seiner Erkenntnismöglichkeiten und eine Bedrohung des Ideals wissenschaftlicher Objektivität ansah, sondern dieselbe in die ontologische Problematik im positiven Sinne einholte, verwandelte sich der Begriff des Verstehens, den die historische Schule zu methodischen Ehren gebracht hatte, in einen universalen philosophischen Begriff. Nach }Sein und Zcit{ ist das Verstehen die Vollzugs weise der Geschichtlichkeit des Dascins selbst. Seine Zukünftigkeit, der grundsätzliche Charakter des Entwurfs, wie er der Zeitlichkeit des Daseins zukommt,
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begrenzt sich durch die andere Bestimmung der Geworfenheit, durch die nicht nur die Schranken eines souveränen Selbstbesitzes bezeichnet sind. sondern auch die positiven Möglichkeiten geöffnet und bestimmt werden, die unser sind. Der Begriff des Selbstverständnisses, in gewisser Weise ein Erbstück des transzendentalen Idealismus und als solcher in unserer Zeit schon durch Husserl verbreitet, gewinnt bei Heidegger erst seine wahre Geschichtlichkeit und wird damit auch rur das theologische Anliegen tragfahig, das Selbstverständnis des Glaubens zu formulieren. Denn nicht ein souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewußtseins, sondern die Erfahrung seiner selbst, die einem geschieht und die im besonderen, theologisch gesehen, im Anruf der Verkündigung geschieht, kann dem Selbstverständnis des Glaubens den falschen Anspruch einer gnostischen Selbstgewißheit nehmen. Gerhard Krüger hat schon früh in einem Aufsatz über Kar! Barths ,Römerbrief< den Ansatz der dialektischen Theologie in dieser Richtung Zu radikalisieren versuchtl, und die Marburgcr Jahre Heideggers gewannen viel von ihrer unvergeßlichen Spannung durch den theologischen Gewinn, den Rudolf Bultmann aus Hcideggers Kritik am objektivistischen Subjektivismus der Neuzeit zog. Indessen ist Heidegger bei dem transzendentalen Schema, das auch den Begriff des Selbstverständnisses in ,Sein und Zeit< noch bestimmte, nicht stehengeblieben. Schon in .Sein und Zeit< war die eigentliche Frage nicht, auf welchc Weise >Sein< verstanden werden kann, sondern in welcher Weise Verstehen >Sein< ist. Seinsverständnis stellt die existentiale Auszeichnung des menschlichen Daseins dar. Schon hier also ist Scin nicht als das Resultat der objektivierenden Leistung des Bewußtseins verstanden, wie das noch in Husserls Phänomenologie der Fall war. Vielmehr dringt die Frage nach dem Sein in eine ganz andere Dimension ein, wenn sie das Sein des sich verstehenden Daseins selbst anvisiert. Das transzendentale Schema muß da am Ende scheitern. Das unendliche Gegenüber des transzendentalen Ego wird in die ontologische Fragestellung hineingenommen. In diesem Sinn beginnt schon >Sein und Zeit( jene Seins vergessenheit aufzuheben, die Heidegger später als das Wesen der Metaphysik bezeichnet hat. Was er >die Kehre( nennt, ist nur die Anerkennung der Unmöglichkeit, die transzendentale Seinsvergessenheit in transzendentaler Reflexion zu überwinden. Insofern stecken all die späteren Begriffe von >Seinsgeschehen< , vom >Da< als der )Lichtung< des Seins usw. bereits als Konsequenz im ersten Ansatz von >Sein und Zeit<. Die Rolle, die das Geheimnis der Sprache im späteren Denken Heideggers spielt, lehrt zur Genüge, daß die Vertiefung in die Geschichtlichkeit des Selbstverständnisses nicht nur den Begriff des Bewußtseins, sondern auch 1 [VgL meine Arbeit >Zwischen den Zeiten!, Universitas 27 (1972), S. 1221-1227, wiederabgedruckt in >Philosophische Lehrjahre!, Tübingen 1977, S. 222-230.]
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Ergänzungen
den Begriff der Selbstheit aus seiner zentralen Position vertrieben hat. Denn was ist be\\'ußtloser und selbstloser als jener geheimnisvolle Bezirk der Sprache, in dem wir stehen und der, was ist, zu Worte kommen läßt, so daß Sein )sich zeitigt Was aber so von dem Geheimnis der Sprache gilt, das gilt auch von dem Begriff des Verstehens. Auch dies ist nicht als eine einfache Tätigkeit des verstehenden Bewußtseins zu fassen, sondern als eine Weise des Seinsgeschehens selber. Ganz formell gesprochen weist der Primat, den Sprache und Verstehen in Heideggers Denken besitzen, auf die Vorgängigkeit des >Verhältnisses< gegenüber seinen Beziehungsgliedern, dem Ich, das versteht, und dem, was verstanden wird. Gleichwohl scheint es mir möglich, und ich habe diesen Versuch in >Wahrheit und Methode' durchgeftihrt, Heideggers Aussagen über >das Sein, und die aus der Erfahrung der >Kehre' entwickelte Fragerichtung im hermeneutischen Bewußtsein selber zur Ausweisung zu bringen. Das Verhältnis von Verstehen und Verstandenem hat vor dem Verstehen und dem Verstandenen den Primat, genau wie das Verhältnis von Sprechendem und Gesprochenem auf einen Bewegungsvollzug weist, der weder im einen noch im anderen Gliede der Relation seine feste Basis hat. Verstehen ist nicht mit jener selbstverständlichen Sicherheit Selbstverständnis, mit der es der Idealismus behauptete, aber auch nicht mit jener revolutionären Kritik am Idealismus erschöpft, die den Begriff des Selbstverständnisses als etwas denkt, das dem Selbst geschieht, und durch das es zum eigentlichen Selbst wird, Ich glaube vielmehr, daß im Verstehen ein Moment der Selbst-losigkeit ist, das auch ftir eine theologische Hermeneutik Beachtung verdient und das am Leitfaden der Struktur des Spieles untersucht werden sollte. Hier nun sieht man sich unmittelbar auf die Antike zurückverwiesen und auf das eigentümliche Verhältnis von Mythos und Logos, das am Anfang des griechischen Denkens steht. Das geläufige Aufklärungsschema, demzufolge der Vorgang der Entzauberung der Welt mit Notwendigkeit vom Mythos zum Logos fuhrt, scheint mir ein modernes Vorurteil. Legt man dieses Schema zugrunde, wird es z. B. unbegreiflich, wie die attische Philosophie sich den Tendenzen der griechischen Aufklärung entgegenstellen und zwischen religiöser Tradition und philosophischem Gedanken eine säkulare Versöhnung begründen konnte. Wir verdanken Gerhard Krüger die meisterhafte AufheBung der religiösen Voraussetzungen des griechischen und insbesondere des platonischen Philosophierens, 2 Die Geschichte von Mythos und Logos im ursprünglichen Griechenland hat eine ganz anders komplizierte Struktur, als das Scliema der Aufklärung nahelegt. Man kann 2 [G. Krüger, )Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens.< Frankfurt 1939, 51983 und meine Arbeit )Philosophie und Religion< (bisher ungcdruckt) in Ges. Werke Bd. 7]
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angesichts dieser Tatsache sogar das große Mißtrauen begreifen, das die altertums wissenschaftliche Forschung dem religiösen Quellenwert des Mythos gegenüber nährt, und den Vorzug, den sie den stabilen Formen der kultischen Tradition zugesteht. Denn die Wandlungsfahigkeit des Mythos, seine Offenheit fur immer neue Interpretationen durch die Dichter, zwingt schließlich zu der Einsicht, daß es eine falsch gestellte Frage ist, in welchem Sinne ein solcher antiker Mythos )geglaubt< worden ist, und ob er etwa dort schon nicht mehr geglaubt wird, wo er ins dichterische Spiel eingeht. In Wahrheit ist der Mythos dem denkenden Bewußtsein so innerlich verwandt, daß selbst die philosophische Explikation des Mythos in der Sprache des Begriffes nichts wesenhaft Neues hinzu bringt zu jenem beständigen Hin und Her zwischen Endeckung und Verhüllung, zwischen ehrfurchtsvoller Scheu und geistiger Freiheit, der die gesamte Geschichte des griechischen Mythos begleitet. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, wenn man jenen Begriff von Mythos richtig verstehen \-vill, der in Bultmanns Programm der Entmythologisierung impliziert ist. Was Bultmann dort das mythische Weltbild nennt und mit dem Weltbild der Wissenschaft kontrastiert, das als Weltbild uns allen wahr erscheinen kann, hat schwerlich den Ton von Endgültigkeit, den man ihm in dem Streit um dieses Programm verliehen hat. Im Grunde ist das Verhältnis eines christlichen Theologen zur biblischen Tradition nicht so grundverschieden von dem des Griechen zu seinen Mythen. Die zufallige und in gewissem Sinne gelegentliche Formulierung des Begriffs der Entmythologisierung, die Bultmann vornahm, in Wahrheit die Summe seiner gesamten exegetischen Theologie, hatte alles andere als einen aufklärerischen Sinn. Der Schüler der liberalen historischen BibehJ.,issenschaft suchte vielmehr in der biblischen Überlieferung das, was sich gegen alle historische Aufklärung behauptet, das, was der eigentliche Träger der Verkündigung, des Kerygmas, ist und den eigentlichen Anruf des Glaubens darstellt. Es ist dieses positive dogmatische Interesse, das den Bultmannschen Begriff prägt, und nicht das Interesse einer fortschreitenden Aufklärung. Sein Begriff des Mythos ist also ein ganz deskriptiver Begriff. Ihm haftet etwas Geschichtlich-Zufalliges an, und jedenfalls handelt es sich, so fundamental das theologische Problem sein mag, das in dem Begriff einer Entmythologisierung des Neuen Testaments liegt, dabei um eine Frage der praktischen Exegese, die das hermeneutische Prinzip aller Exegese in keinem Falle berührt. Sein hermeneutischer Sinn ist vielmehr gerade darin beschlossen, daß man keinen bestimmten Begriff von Mythos dogmatisch fixieren darf, von dem aus man ein ftif allemal festzulegen hat, was und was nicht innerhalb der Heiligen Schrift rur den modernen Menschen durch die wissenschaftliche Aufklärung als bloßer Mythos entlarvt worden ist. Nicht von der modernen Wissenschaft aus, sondern positiv, von der Aufnahme des Keryg-
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Ergänzungen
mas her, vom inneren Anspruch des Glaubens aus, muß sich bestimmen,
was bloßer Mythos ist. Ein anderes Beispiel solcher .Entmythologisierung, ist eben die große Freiheit, die der griechische Dichter angesichts der m ythisehen lradition seines Volkes besaß und betätigte. Auch sie ist nicht ,Aufklärung<, Es ist ein religiöser Grund, auf dem der Dichter seine geistige Kraft und sein kritisches Recht ausübt. Man denke nur an Pindar oder an Aischv-
los. So ergibt sich die Notwendigkeit, über die Beziehung, die zwisch~n Glauben und Verstehen statthat, einmal im Blick auf die Freiheit des Spieles nachzudenken. Den tödlichen Ernst des Glaubens und die Beliebigkeit des Spiels zusammenzubringen. mag zunächst überraschend scheinen. In der Tat würde sich
der Sinn dieser Gegenüberstellung völlig aufheben, wenn man in der üblichen Weise unter Spiel und Spielen ein subjektives Verhalten verstünde und nicht Vielmehr ein dynamisches Ganzes sui generis, das seinerseits auch die Subjektivität dessen, der spielt, in sich einbezieht. Nun scheint mir gerade
ein solcher Begriff des Spiels, wie ich in meinem Buche gezeigt zu haben hoffe', der eigentlich legitime und ursprüngliche zu sein. und deshalb ist der Beziehung zv.Tischen Glauben und Verstehen unter dem Gesichtspunkt des Spieles wirkliche Aufmerksamkeit zu schenken. Das Hin und Her einer Bewegung, die innerhalb eines gegebenen Spielraums abläuft, ist so wenig von dem menschlichen Spiel und von dem
spielenden Verhalten der Subjektivität abgeleitet, daß ganz im Gegenteil auch fUr die menschliche Subjektivität die eigentliche Erfahrung des Spieles darin besteht, daß hier etwas zur Herrschaft kommt, was ganz seiner eigenen
Gesetzlichkeit gehorcht. Der Bewegung in einer bestimmten Richtung entspricht eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung. Es bestimmt das
Bewußtsein des Spielenden, daß das Hin und Her der Spielbewegung von einer Sonderbaren Freiheit und Leichtigkeit ist. Es geht wie von selber - ein Zustand schwerelosen Gleichgewichts IIWÜ sich das reine Zuwenig unbe-
greiflich verwandelt -, umspringt in jenes leere Zuvie1«(Rilke). Noch die Steigerung seiner Leistung, welche dem einzelnen aus der Wettkampfsituation Zllströmt, hat etwas wie Ergriffensein von der Leichtigkeit des Spieles,
in dem er seine Rolle hat. Was immer ins Spiel gebracht wird oder im Spiele ist, hängt nicht mehr von sich selbst ab, sondern wird eben von dem
Verhältnis beherrscht, das wir Spiel nennen. Für den einzelnen, der als spielende Subjektivität sich auf das Spiel einläßt. mag sich das zunächst wie eine Anpassung ausnehmen. Man fUgt sich in das Spiel ein oder unterwirft sich ihm, d. h. man verzichtet auf die Autonomie der eigenen Willensmacht. Zwei Männer z. B., die miteinander eine Baumsäge fUhren, lassen das freie Spiel der Säge dadurch möglich werden, daß sie, 'Nie es scheint, sich wech, [Go,. We
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se1seitig aneinander anpassen, so daß der Bewegungsimpuls des einen genau dann einsetzt, wenn der des anderen bis zu Ende ausgespielt war. Es sieht also so aus, als wäre das eine Art Verständigung zwischen beiden, ein willentliches Verhalten des einen so gut wie des anderen. Aber das ist noch nicht das Spiel. Was das Spiel ausmacht, ist nicht so sehr das subjektive Verhalten der beiden, die einander gegenüberstehen, als vielmehr die Formation der Bewegung selbst, die wie in einer unbewußten Teleologie das Verhalten der einzelnen sich unterordnet. Es ist das Verdienst des Neurologen Viktor von Weizsäcker, die Phänomene dieser Art experimenten erforscht und in seinem Werk )Der Gestaltkreis~ theoretisch analysiert zu haben. Ihm verdanke ich etwa auch den Hinweis, daß das spannungsvolle Verhalten, durch das ein Ichneumon und eine Schlange einander Auge in Auge in Schach halten, sich nicht als das jeweilige Reagieren des einen Partners auf den Angriffsversuch des anderen beschreiben läßt, sondern ein wechselseitiges Verhalten von absoluter Gleichzeitigkeit darstellt. Das eigentlich Bestimmende ist auch hier weder der eine noch der andere, sondern es ist die einheitliche Gestalt der Bewegung im ganzen, die das Bewegungsverhalten der einzelnen in sich einformt. In theoretischer Verallgemeinerung bedeutet dies, daß das Selbst der einzelnen, ihr Verhalten wie ihr Verständnis ihrer selbst, gleichsam in einer höheren Determination aufgeht, die das eigentlich Bestimmende ist. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich die Beziehung von Glauben und Verstehen sehen möchte. Das Selbstverständnis des Glaubens ist ja ganz gewiß dadurch bestimmt, daß der Glaube, theologisch gesehen, nicht eine Möglichkeit des Menschen ist, sondern eine Gnadentat Gottes, die dem Glaubenden geschieht. Aber es ist schwer, diese theologische Einsicht und religiöse Erfahrung im inneren Selbstverständnis des Menschen wirklich festzuhalten, sofern es durch die moderne Wissenschaft und ihre Methodik beherrscht wird. Der auf diese gegründete Begriff des Wissens duldet keine Einschränkung seines Anspruchs auf Universalität. Aufgrund dieses Anspruches stellt sich alles Selbstverständnis als eine Art Selbstbesitz dar, der nichts so sehr ausschließt, als daß ihm etwas widerfahren kann, das ihn von sich selbst trennt. Hier kann der Begriff des Spieles wichtig werden. Denn das Aufgehen im Spiel, diese ekstatische Selbstvergessenheit, wird nicht so sehr als cin Verlust des Selbstbesitzes erfahren, sondern positiv als die freie Leichtigkeit einer Erhebung über sich selbst. Das läßt sich unter dem subjektiven Aspekt des Selbstverständnisses überhaupt nicht einheitlich fassen. Wie es der holländische Historiker Huizinga einmal formulierte, befindet sich das Bewußtsein dessen, der spielt, in einem ununterscheidbaren Gleichgewicht von Glauben und Unglauben. »Der Wilde selbst kennt keinen begrifflichen Unterschied zwischen Sein und Spielen. « Aber es ist nicht nur der Wilde, der diese begrifflichen Unterschiede nicht
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Ergänzungen
kennt. Der Anspruch des Selbstverständnisses, wo immer er erhoben wirdund wo wird er nicht erhoben, wenn Menschen Menschen sind? -, bleibt in wohl bestimmte Grenzen eingeschlossen. Das hermeneutische BC\vußtscin wetteifert nicht mit jener Durchsichtigkeit seiner selbst, die nach Hcgcl das absolute Wissen ist und die höchste Weise des Seins ausmacht. Von Selbstverständnis ist nicht nur im Bereich des Glaubens die Rede. Alles Verstehen ist am Ende Sichverstehen, aber nicht in der Weise eines vorgängigen oder schließlich erreichten Selbstbesitzes. Denn es verwirklicht sich dieses Sichverstehen immer nur im Verstehen einer Sache und hat nicht den Charakter einer freien Selbstverwirklichung. Das Selbst, das \vir sind, besitzt sich nicht selbst. Eher könnte man sagen, daß es sich geschieht. Und das sagt nun wirklich der Theologe, daß der Glaube ein solches Ereignis ist, in dem ein neuer Mensch gegründet wird. Und er sagt weiter, daß es das Wort ist, das geglaubt und verstanden werden soll und durch das wir die abgründige Unwissenheit über uns selbst, in der wir leben, überwinden. Der Begriff des Selbstverständnisses hat eine ursprünglich theologische Prägung, wie sich bei]. G. Hamann deutlich zeigt 4 • Er ist bezogen auf die Tatsache, daß wir uns selbst nicht verstehen, es sei denn vor Gott. Gott aber ist das Wort. Von früh an hat in der theologischen Besinnung das menschliche Wort zur Veranschaulichung dessen gedient, ,vas das Wort Gottes und das Mysterium der Trinität ist. Insbesondere Augustinus hat in zahlreichen Variationen das übermenschliche Geheimnis der Trinität von dem Wort und Gespräch her beschrieben, wie es zwischen Menschen geschieht. Nun hat Wort und Gespräch unzweifelhaft ein Moment des Spieles an sich. Die Weise, wie man ein Wort wagt oder >im Busen bewahrt<, wie man von dem anderen ein Wort hervorreizt und von ihm Antwort erhält, wie man selbst Antwort gibt, wie jedes Wort in dem bestimmten Zusammenhang, in dem es gesagt und verstanden wird, >Spiel hat<, all das weist auf eine gemeinsame Struktur von Verstehen und Spielen. Es sind sprachliche Spiele, in denen das Kind die Welt kennenlernt. Ja, alles, was wir lernen, vollzieht sich in sprachlichen Spielen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß wir, wenn wir sprechen, nur spielen und es nicht ernsthaft meinen. Vielmehr ist es so, daß die Worte, die wir finden, unser eigenes Meinen gleichsam einfangen und in Bezüge einftigen, die über die Augenblicklichkeit unseres Meinens hinausweisen. Wann versteht das Kind, das der Sprache der Erwachsenen lauscht und sie nachspricht, die Worte, die es gebraucht? Wann verwandelt sich das Spielen in Ernst, wann hat der Ernst so begonnen, daß er aufgehört hat, Spiel zu sein' Alle Festlegung der Bedeu4 Vgl. die in der Reihe der >Heidelberger Forschungen< erschienene Heidelberger Dissertation von Renate Knall: )J.G. Hamann und Fr. H.Jacobi( Heidelb. Forschg. 7, 1963. [Zum Ausdruck )Selbstverständnis< vgl. )Heideggers Wege<, S. 35ff. und Anm. 1O,jetzt in Ges. Werke, Bd. 3.]
Zur Problematik des Selbstverständnisses
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tungen von Worten wächst gleichsam spielend aus dem Situationswert der Worte hervor. Genau wie die Schrift eine Festlegung des Lautbestandes der Sprache darstellt und eben damit auf die Lautgestalt der Sprache selber artikulierend zurückwirkt, ist auch das ein Hin und Her, worin das lebendige Sprechen und das Leben der Sprache sein Spiel hat. Niemand legt die Bedeutung eines Wortes fest, und Sprechenkönnen heißt ganz gewiß nicht allein, die festen Bedeutungen der Worte richtig erlernt haben und gebrauchen. Das Leben der Sprache besteht vielmehr in dem beständigen Weiterspielen des Spieles, das wir begannen, als wir sprechen lernten. Neuer Wortgebrauch spielt sich ein und ebenso ungeachtet und ungewollt geschieht das Absterben alter Worte. Es ist dieses fortspielende Spiel, in dem sich das Miteinandersein der Menschen abspielt. Die Verständigung, die im Miteinandersprechen geschieht, ist selber wieder ein Spiel. Wenn zwei miteinander sprechen, so sprechen sie dieselbe Sprache. Daß sie diese Sprache weiterspie1en, indem sie sie sprechen, wissen sie selbst in keiner Weise. Sie sprechen aber auch jeder ihre eigene Sprache. Die Verständigung geschieht dadurch, daß Rede gegen Rede steht, aber nicht stehen bleibt. Im Miteinandersprechen treten wir vielmehr ständig in die Vorstellungswelt des anderen über, lassen uns gleichsam auf ihn ein und er sich auf uns. So spielen wir uns aufeinander ein, bis das Spiel des Gebens und Nehmens, das eigentliche Ges präeh, beginnt. Niemand kann leugnen, daß in solchem wirklichen Gespräch etwas von dem Zufall, der Gunst der Überraschung, am Ende auch der Leichtigkeit, ja der Erhebung ist, die zum Wesen des Spieles gehören. Und wahrlich wird die Erhebung des Gespräches nicht als Verlust des Se1bstbesitzes erfahren, sondern, auch ohne daß wir unserer selbst dabei gewahr werden, als eine Bereicherung unserer selbst. Nun scheint mir Ähnliches ftir den Umgang mit Texten zu gelten und damit auch ftir das Verständnis der Verkündigung, die in der Heiligen Schrift aufbewahrt ist. Das Leben der Überlieferung und erst recht das der Verkündigung besteht in solchem Spiel des Verstehens. Solange ein Text stumm ist, hat sein Verständnis noch gar nicht begonnen. Aber ein Text kann zu reden beginnen. (Wir sprechen hier nicht davon, welche Voraussetzungen daftir gegeben sein müssen.) Dann aber sagt er nicht nur sein Wort, immer dasselbe, in lebloser Starrheit, sondern gibt immer neue Antworten dem, der ihn fragt, und stellt immer neue Fragen dem, der ihm antwortet. Verstehen von Texten ist ein Sich verständigen in einer Art Gespräch. Das bestätigt sich darin, daß sich im konkreten Umgang mit einem Texte das Verständnis erst dann ganz ergibt, wenn das in ihm Gesagte sich in der eigenen Sprache des Interpreten zur Aussage zu bringen vermag. Die Auslegung gehört zur wesenhaften Einheit des Verstehens. Das, was einem gesagt wird, muß man so in sich aufnehmen, daß es in den eigenen Worten der eigenen Sprache spricht und Antwort findet. VoIlends gilt das rur den Text
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der Verkündigung, der nicht wirklich verstanden werden kann, \veun er nicht einem selber gesagt erscheint. Hier ist es die Predigt, in der Verständnis und Auslegung des Textes erst ihre volle Wirklichkeit erhalten. Die Predigt und nicht der erklärende Kommentar oder die exegetische Arbeit des Theologen steht im unmittelbaren Dienste der Verkündigung, indem sie das Verständnis dessen, was die Heilige Schrift sagt, nicht nur der Gemeinde vermittelt, sondern zugleich selbst bezeugt. Die eigene Vollendung des Verstehens liegt eben nicht in der Predigt als solcher, sondern in der Weise, wie sie als Anruf vernommen wird, der an jeden ergeht. Wenn das ein Selbstverständnis ist, das sich da ergibt, so ist es gewiß ein sehr paradoxes, um nicht zu sagen negatives Verständnis seiner selbst, in dem man sich zur Umkehr gerufen hört. Einen Maßstab für die theologische Auslegung des Ncuen Testamentes bildet solches Selbstverständnis gewiß nicht. Überdies sind die Texte des Neuen Testamentes selber schon Auslegungen der Heiligen Botschaft und wollen selber nicht in sich, sondern als Vermittler der Botschaft verstanden werden. Ob ihnen das nicht eine Freiheit des Sagens verliehen hat, die sie gleichsam selbst-lose Zeugen sein läßt' So viel wir der neueren theologischen Forschung an Einsicht in das verdanken, was die Schriftsteller des Neucn Testamentes selber theologisch meinten - die Verkündigung des Evangeliums spricht durch alle diese Vermittlungen hindurch, vergleichbar der Weise, wie eine Sage weitergesagt wird oder wie eine mythische Überlieferung durch die große Dichtung ständig gewandelt und erneuert wird. Die eigentliche Wirklichkeit des hermeneutischen Vollzuges scheint mir das Selbstverständnis des Interpretierenden so gut wie das des Interpretierten zu übergreifen, }Entmythologisierung( geschieht daher nicht nur im Tun des Theologen. Sie geschieht in der Bibel selbst. Aber weder hier noch dort ist )Entmythologisierung( ein sicherer Garant richtigen Verstehens. Das eigentliche Ereignis des Verstehens geht weit über das hinaus, was durch methodische Bemühung und kritische Selbstkontrolle zum Verständnis der Worte des anderen aufgebracht werden kann. Ja, es geht weit über das hinaus, dessen wir selbst dabei innewerden. Es gilt von jedem Gespräch, daß durch es etwas anders geworden ist. Vollends das Wort Gottes, das zur Umkehr ruft und uns ein besseres Verständnis unserer selbst verheißt, kann nicht verstanden werden wie das Gegenüber eines Wortes, das man stehen lassen muß. Wir sind es überhaupt nicht selber, die da verstehen. Es ist immer schon eine Vergangenheit, die uns sagen läßt: Ich habe verstanden.
10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 1965
Einen Beitrag zu einem Gespräch zu leisten, dessen erstes Wort man so wenig kennt wie man das letzte Wort darüber hören wird, bedeutet ein Risiko, das wir trotzdem immer wieder in Kauf nehmen müssen. So auch hier, wo von dem Problem der Geschichte unter dem Aspekt zu sprechen ist, den die Philosophie in den letzten Jahrzehnten zu entfalten gelernt hat. Schon die Formulierung des Themas zeigt an, daß es sich hier um eine gerade mit unserem Jahrhundert und seiner Philosophie verknüpfte Fragestellung handelt. Wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Tiefenresonanz und welcher Plötzlichkeit sich die Kritik an der historisch-liberalen Wissenschaft. insbesondere an der historischen Theologie des 19. Jahrhunderts. in den beginnenden zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts vernehmen ließ, dann versteht man, daß das Thema >Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz< eine Frage an die Legitimität der geschichtlichen Fragestellung selber darstellt und damit eine Frage an ein ganzes Jahrhundert. Wenn wir uns kurz vor Augen fUhren, was vordem die philosophische Reflexion auf die Geschichte zu ihrem wesentlichen Inhalte hatte und was ihre wesentlichen Probleme waren, so möchte ich einmal an die Geschichtsphilosophie der südwestdeutschen Schule. d. h. den Heidelberger Neukantianismus erinnern (wenn man die Erkenntnistheorie der geschichtlichen Wissenschaften eine Geschichtsphilosophie nennen darf) und auf der anderen Seite an die Geschichtsphilosophie Wilhelm Diltheys (wenn man die Auflösung der Metaphysik in Geschichte eine Geschichtsphilosophie nennen darf). Die erkenntnistheoretische Besinnung, welche der Heidelberger Neukantianismus über Kant hinausgehend auf dic Geschichts"\vissenschaft ausdehnte, stand unter der Fragestellung: Was unterscheidet den Gegenstand der historischen Forschung von der Gegebenhcitsweise dessen, was der Forschungsgegenstand der Naturwissenschaft ist? Was macht eine Tatsache zur historischen Tatsache? Um auf diese geschichtsmethodologische Fragestellung eine Antwort zu geben, wurde die Lehre von dem Wertbezug des Gegebenen entwickelt: zu
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einer historischen Tatsache wird etwas, was geschehen ist, durch den Bezug, den es zu einem Wertsystem hat. Einer solchen Legitimierung der geschichtlichen Erkenntnis lag der Begriff der Kultureinheit und ihrer systematischen Selbstauffassung in einer Philosophie der Werte zugrunde. Hier kann man die kritische Frage stellen, inwieweit die wirkliche Geschichte in ihrer Gcschichtlichkeit so überhaupt gesichtet ""vird und nicht vielleicht nur das an der Geschichte, was sich in einen Bereich unwandelbarer Geltung erheben läßt. Wenn wir auf der anderen Seite den entschiedenen Gegner dieser erkenntnistheoretischen Geschichtsphilosophie des Neukantianismus, Wilhelm Dilthey, an den Konsequenzen seines eigenen Ansatzes bei einer geisteswissenschaftlichen Psychologie prüfen, so sehen wir, daß er zwar wirklich nach der Wesensstruktur des Geschichtsverlaufs fragt und die in die Zeit gestreute Kontinuität des Geschichtszusammenhangs mit angemessenen Begriffen zu formulieren versucht. Aber der Ausgangspunkt fur dieses Unternehmen bleibt bei Dilthey immer noch die Psychologie, die innere Selbstvergewisserung des Menschen, die in seinen eigenen Erlebnissen liegt. Sie sollte auch die Kontinuität des geschichdichen Geschehens legitimieren. Nun hat solche Sc1bstvergewisserung der Kontinuität eines Geschehens ihre vorzüglichste Ausprägung und ihre sogar literarisch fest gewordene AusfUhrung in der Autobiographie. Dort begegnet wirklich der Versuch, aus der Fülle der Erlebnisse, ihrer Abfolge und den Konstellationen, unter denen das eigene Leben gestanden hat, im Rückblick so etwas wie einen Sinnzusammenhang, die Einheit eines lebensgeschichtlichen Ganzen zu gewinnen. Aber es ist doch unleugbar, daß Autobiographie das, was wir Geschichte nennen, nur in partikularem Aspekt spiegelt. Was in der Autobiographie verstanden \vird, steht ja immer im intimen Licht der Selbstdeutung des Betrachters. Es ist erlebte Vergangenheit und selbsterlcbte Geschichte, die sich im Rückblick zur verständlichen Einheit zusammenschließt. Auch wenn man das ganze schwierige Problem der Selbsterkenntnis beiseiteläßt, bleibt dabei ganz unklar, wie sich von dieser psychologischen Erlebniskontinuität aus jene in ganz anderem, großem Maßstab gehaltene der geschichtlichen Zusammenhänge eigentlich ergeben soll. Die Kritik, die an dem geschichtsphilosophischen Denken des 19. Jahrhunderts und insbesondere an den beiden gekennzeichneten Positionen UilseresJahrhunderts geübt wurde, ist mit dem Stichwort: ,der Augenblick der Existenv mindestens angezeigt. Das eigentliche Urfaktum, um das es hier geht, ist offenbar nicht die Frage: wie ist ein Zusammenhang der Geschichte rur unser erinnerndes und vergegenwärtigendes Bewußtsein legitim erkennbar und aussagbar? Das eigentliche Problem, das sich hier stellt und als das der Geschichte erkannt wird, findet in dem Begriff der Geschicht{ichkeit seinen Ausdruck.
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Dieses Wort, das ja in einem schlichten Sinn längst üblich "var, ist insbesondere durch den Grafen Yorck von Wartenburg, den philosophischen Freund Wilhelm Diltheys, zum Begriff geprägt worden und durch Dilthey in Umlauf gekommen, um schließlich in der Pliilosophie unseres Jarhunderts durch Heidegger und Jas pers seine besondere Zuspitzung zu erfahren. Das Neue ist, daß dieser Begriff der Geschichtlichkcit eine ontologische Aussage enthält. Schon Yorck sprach von dem )generischen Unterschied von Ontischem und Historischemc Der Begriff der Geschichtlichkeit will nicht etwas über einen Geschehenszusammenhang aussagen, daß es wirklich so war, sondern über die Seins weise des Menschen, der in der Geschichte steht und in seinem Sein selber von Grund auf nur durch den Begriff der Geschichtlichkeit verstanden werden kann. Auch der Begriff des Augenblicks gehört in diesen Zusammenhang. Er meint nicht einen überhaupt geschichtlich bedeutenden, entscheidenden Zeitpunkt, sondern den Augenblick, in dem die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins erfahren wird. In der Theologie hat der Begriff der Gcschichtlichkeit vor allem dank Rudolf Bultmann Eingang gefunden. In seiner ungeheuer gelehrten und konsequent durchgefuhrten exegetischen Arbeit stellten die Einsicht in die Geschichtlichkcit des menschlichen Daseins und der Augenblick der Entscheidung geradezu die Leitbegriffe dar. So wurde etwa amJohannesevangelium die Frage der erwarteten Endzeit, wie sie in der mythischen Verklärung der Abschiedsreden leuchtet, exegetisch auf den eschatologischen Augenblick reduziert, der jeden Augenblick sein kann und der als der Augenblick der Glaubensentscheidung Annahme oder Ablehnung der christlichen Botschaft meint. Es ist also ein wirklich aktuelles Thema, das mit diesem Begriff Zur Diskussion steht und das seinen veränderten Akzent darin hat, daß uns, im Rückschlag zu jener radikalen Zuspitzung der Geschichtlichkeit auf den )Augenblick<, die Kontinuität der Geschichte erneut zum Problem geworden ist. Die Kontinuität der Geschichte weist zurück auf das Rätsel der verfließenden Zeit. Daß die Zeit kein Stehen kennt, ist ja das alte Problem der aristotelischen und der augustinischen Zeitanalyse. Insbesondere die letztere fuhrt uns die ontologische Verlegenheit vor, die das griechische, das antike Denken überfällt, wenn es aussagen soll, was die Zeit ist. Was ist das, was in keinem Augenblick wahrhaft als das, was da ist, mit sich selber identifiziert werden kann? Denn selbst das Jetzt ist in dem Augenblick, in dem ich es als Jetzt identifiziere, schon nicht mehr jetzt. Das Abrollen der Jetzte in eine unendliche Vergangenheit, das Heranrollen aus einer unendlichen Zukunft, läßt die Frage nach dem, was jetzt ist und was dieser fluß der vergehenden, der kommenden und vergehenden Zeit eigentlich ist, ratlos. Die ontologische Problematik der Zeit besteht also darin, daß ihr eigenes
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Sein mit den Mitteln der Seinsphilosophie, die das Altertum entwickelt hatte, nicht sag bar und nicht bcgreifbar war. Mir scheint, daß es noch immer das gleiche Problem ist, das sich in dem Begriff der Kontinuität der Geschichte spiegelt_ Damit soll nicht gesagt sein, daß die Rede von der Kontinuität der Geschichte unmittelbar aus jener beständigen Erfahrung der immer wieder abrollenden Jetzte ihre Problematik empfangt. Vielleicht liegt der Erfahrung von Kontinuität noch etwas ganz anderes zugrunde als die Erfahrung des unaufhörlichen Verfließens der Zeit_ Die im Fragen nach dem Sein der Geschichte gefragte Kontinuität der Geschichte gipfelt letzten Endes darin, daß es aller Vergänglichkeit zum Trotz überhaupt kein Vergehen gibt, das nicht immer zugleich ein Werden ist_ Darin scheint die Wahrheit des historischen Bewußtseins zu ihrer Perfektion gekommen, daß es im Vergehen immer auch Werden, im Werden immer auch Vergehen gewahrt und immer wieder aus dem endlosen Vorüberfluten von Veränderungen die Kontinuität eines geschichtlichen Zusammenhangs aufbaut. Die Folge einer solchen Grundanschauung ist nun, daß alles, was in diesem fluß der Geschichte als Vergehen oder was als Werden erfahren wird, von den Setzungen abhängt, durch die man dieses sozusagen abfließende Band von Ereignissen artikuliert und differenziert. Es ist ein extremer Nominalismus der Grundhaltung, der alle Grenzsetzungen innerhalb des Geschehens, alle bedeutungsmäßigen Auszeichnungen des Geschehens, als Untergang oder als Aufgang, als Werden oder als Vergehen, in Wahrheit relativiert. Einteilungen der Geschichte sind Einteilungen unseres Bedeutungsentscheidungen fallenden Bewußtseins_ Weil sie letzten Endes willkürlich sind, haben sie keine echte geschichtliche Wirklichkeit_ Von dieser in den Voraussetzungen der griechischen Ontologie gründenden Anschauung von der Geschichte gilt es kritisch zurückzutreten und ein Grundphänomen vor Augen zu stellen, das den falschen nominalistischen Ansatz dieser Betrachtungsweise offenlegt. Es gibt so etwas wie Diskontinuität im Geschehen. Wir kennen Diskontinuität im Geschehen in der Weise der Epochenerfahrung. 5 Daß es so etwas wirklich gibt, d_ h_ daß das nicht nur unserem nachträglich ordnenden, klassifizierenden und auf Beherrschung gerichteten Erkenntnisinteresse entspringt, sondern eine echte Wirklichkeit der Geschichte selber meint, läßt sich mit phänomenologischen Mitteln erweisen. Es gibt so etwas wie ursprüngliche Erfalirung eines Epocheneinschnittes_ Die Epochen der Geschichte, die der Historiker unterscheidet, wurzeln in echten Epochenerfahrungen und müssen sich am Ende in solchen ausweisen. Zwar ist Epoche ursprünglich nichts \\'eiter als ein astronomischer Begriff und meint eine 5 {Vgl. dazu meinespätereArbeitl Über leereunderfiillteZeit(, KI. Sehr. III, S. 221- 236, jetzt in Gcs. WerkeBd. 4, S.137-153.]
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Sternkonstellation, von der aus man rechnete. Im geschichtlichen Sinne heißt Epoche entsprechend ein Einschnitt, von dem aus man eine neUe Epoche rechnet. Aber heißt das, daß das immer nur Konvention und Willkür ist? Die geschichtliche Konstellation, die einen Epocheneinschnitt bezeichnet, ist doch nicht ein äußeres Maß, an dem man Zeit abliest, sondern bestimmt den Zeitinhalt selbst, d. h. das, \\'as wir Geschichte nennen. Mirist immer besonders anschaulich gewesen - vielleicht auch wegen seiner altertümlichen Ausdrucksweise -, was Kant einmal von der französischen Revolution gesagt hat: ))Ein solches Ereignis vergißt sich nicht.« Daß ein Ereignis sich nicht vergißt - natürlich will dieser Ausdruck nur sagen: daß keiner es vergessen kann -, liegt offenbar an der Bedeutung dieses Ereignisses. Es ist so gewesen, daß es keiner vergessen kann, und deswegen kann die Sprache das Ereignis \vie ein handelndes Wesen betrachten und sagen: das Ereignis vergißt sich nicht. Hier weist die Sprache auf etwas hin. Da ist etwas, das sich hält und behält im Bewußtsein der Menschen, in dem soviel vergessen wird. Darin liegt die Erfahrung eines Unterschieds und einer Diskontinuität, eines Anhaltens inmitten der Unaufhörlichkeit der Veränderungen. Wenn einer heute sagt: wir sind in die Epoche der Atomenergie, atomicagc, eingetreten, so ist die Meinung - und schließlich haben wir Grund, sie alle ernst zu nehmen -, daß damit etwas derartig Neues geschehen ist, daß es nicht so schnell durch wieder etwas N eues entwertet \verden wird und daß wir im Angesicht dieses Neuen umgekehrt das Alte auf eine qua1itativ geschiedene und eindeutige Weise alt nennen müssen. So hat sich rur uns der Krieg als etwas qualitativ und fundamental anderes bestimmt, als er vor diesem epochemachenden Ereignis der Entdeckung der Atomkraft "var. Es ist etwas geschehen, auf Grund dessen das Alte alt ist. Zeit selbst ist gleichsam alt geworden, wenn etwas Derartiges geschieht, und zwar nicht nur in dem Sinn, daß die Vergangenheit nun wie ein Abgesunkenes und nicht mehr Aktuelles und Gegenwärtiges da wäre, sozusagen ein gleichmäßig überschaubarer Zeitraum des Alten, sondern gerade auch die eigene Zukunft steht unter der epochemachenden Bedeutung eines epochemachenden Ereignisses. Daß es das wirkliche Geschehen selbst ist, das sich so darstellt, dafUr, meine ich, gibt es eine reiche phänOlllcnal aufweisbare Erfahrung. Selbstverständlich können wir niemals mit Sicherheit wissen, ob wir einem Ereignis mit Recht eine wirklich epochemachende Bedeutung zusprechen. Es genügt, daß aller Unsicherheit zum Trotz, die in jeder Zukunftsaussage liegt, mit diesem Ereignis selber und seinem unmittelbaren Sichauswirken die Überzeugung gegeben ist: es war epochemachend. Analoge Erfahrungen machen wir auch außerhalb der großen Schieksalserfahrungen der Geschichte, und ich möchte drei Formen solcher Epochenerfahrungen entfalten. Das eine ist die Alterserfahrung. Es ist eine Erfahrung, die, wie ich meine,
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als Diskontinuität unmittelbar einem jeden begegnet. Zwar haben wir alle unser Geburtsdatum und leben nach derselben Zeitrechnung, nach der wir genau auf Tag und Stunde angeben können, wie alt wir sind, und doch ist das Reifen, ct",.ra das Erwachsenwerden eines Kindes, kein Vorgang, den man mit dem Mittel des Messens der verfließenden Zeit irgendwie verfolgen könnte. Denn plötzlich ist das Kind kein Kind mehr, plötzlich ist all das unwiederholbar vorbei und nicht mehr da, was ehedem das Ganze dieses vertrauten Wesens ausmachte. Oder ein anderes Beispiel, das uns Älteren nahe liegt: daß man, \venn man jemanden wiedersieht, das Gefühl hat: ach, der ist aber alt geworden. Diese Erfahrung meint auch nicht, daß er im Kontinuum der verfließenden Zeit nun einen bestimmten Punkt erreicht hat, sondern fur sich selbst und für die, die mit ihm in Berührung waren, ist er anders geworden. Das Frühere, die Jugend, die Spannkraft früherer Jahre ist vorbei, mag auch vie11cicht etwas sehr Schönes, vielleicht etwas sehr Reiches daraus geworden sein, was im Drang der drangvolleren Jahre so nicht in Erscheinung getreten war. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das uns durch die älteren Zeitrechnungen besonders vertraut ist. Der Übergang von einer Generation zur anderen, etwa der Tod eines Herrschers und der Herrschaftsantritt seines Nachfolgers, sei es in gebundenen Dynastien oder auch in revolutionären Formen, bedeutet einen Epocheneinschnitt. Daß von einem solchen Ereignis aus datiert wird, geschieht nicht deshalb, weil es besonders bequem und ftir alle sichtbar ist wie ein Sternenstand, sondern weil es für das Leben der Menschen eines Volkes in der Tat et\vas derart gemeinsam Bedeutendes ist, daß alles von nun an anders ist, und das, was vorher war, nicht mehr ist. Die Epochenerfahrung erfahrt also eine innere Diskontinuität des Geschehens selber, die nicht erst nachträglich durch historiographische Klassifizierung registriert wird und legitimationsbedürftig wäre. Ja mehr noch, ich würde sagen, gerade so erfahrt man die Wirklichkeit der Geschichte. Denn was da erfahren \vird,ist nicht mehr nur ein in völlige Vergegenwärtigung zu hebendes und anzueignendes Gewesenes, sondern etwas, was dadurch, daß es geschehen ist, da ist und nie ungeschehen gemacht \verden kann. Das dritte Beispiel, das ich im Auge habe, ist die >absolute Epoche< der Zeitenwende, jene Epochenerfahrung, die durch Christi Geburt in das antike Gcschichtsbewußtscin getreten ist. Wenn ich von dieser Erfahrung etwas sage, so deswegen, weil sie nicht nur aus Gründen religiöser Wahrheit, sondern aus begriffs geschichtlichen Gründen eine absolute Epochenerfahrung heißen muß. Denn mit dieser Erfahrung des neuen Bundes und mit der christlichen Heilsbotschaft ist die Geschichte als Geschichte in einem neuen Sinn entdeckt \vorden. Daß Geschichte eine menschliche Schicksalserfahrung ist, als das Auf und Ab von Glück und Unglück, als das Sich-Fügen und Sich-Sperren der Umstände für ein glückliches und gedeihliches Tun oder
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für ein schmerzvolles Scheitern - das alles ist selbstverständlich eine ursprüngliche Erfahrung des Menschen. Nur darum kann es gehen, welche Bedcutungsaspckte für die Deutung dieser Erfahrungen möglich sind und welchen ncuen Deutungsaspekt die absolute Epochenerfahrung des Christentums da gebracht haben könnte. Es liegt nahe, dies Neue mit der griechischen Geschichtserfahrung zu vergleichen. Wenn wir uns die Erfahrung der Geschichte in der Art, wie sie die Griechen gedeutet haben, vor Augen stellen und dabei das hervorheben, was uns die Abhebung des christlichen Geschichtsdenkens ermöglicht, dann ist bei den Griechen Geschichte letzten Endes als Abweichung von der Ordnung gedacht. Das was eigentlich ist, ist die perihodos, die ,Periode<, der sich gleichbleibende Umschwung des Himmels. Das was eigentlich ist, sind die bleibenden Wahrheiten menschlichen Zusammenlebens, die Sittenordnungen, die Staatsordnungen, die Völkerordnungen und dergleichen mehr. Kein Denkender kann das Sein des menschlichen Daseins anders sehen als im Blick auf die Konstanten des menschlichen Seins. Ob es die Tafel der Tugendbegriffe der antiken Ethik ist oder ob es die Ideale eines geordneten Staates, einer geordneten Polis sind, einer Ordnung, wie sie am Ende der Philosoph in ihrer höchsten Perfektion vor Augen stellen und dem menschlichen Handeln zum Vorbild aufrichten soll - Geschichte ist Abweichung von solchen bleibenden Ordnungen. Sie ist das unaufhebbare Element menschlicher Unordnung in einem geordneten Ganzen. 6 Demgegenüber ist von dem neuen Geschichtsbewußtsein zu sagen wobei ich dahingestellt sein lasse, wie weit es ein jüdisches Geschichtsbewußtsein gab, das dem vorausgeht und das in gewisser Weise durch die christliche Geschichtserfahrung nur modifiziert und ins Universelle gewendet wird -, daß zwar auch nach christlicher Überzeugung eine Ordnung in der Geschichte nicht erkennbar ist, aber es gibt sie, als eine providentielle Ordnung, als einen Heilsplan. In dem ständigen Hin und Her und Auf und Ab des Geschehens mag der Sinn des Ganzen für unsere endliche und begrenzte Erkenntnismöglichkeit noch so unkenntlich sein, weil wir die Absichten und das Ziel des Ganzen nicht sehen. Gleichwohl ist mit dem Heilsglauben der christlichen Verkündigung unaufhebbar gesetzt, daß das ungeordnet Scheinende in einem höheren Aspekt eine Ordnung besitzt und daß insofern die Geschichte eine vielleicht nur zu ahnende, jedenfalls aber eine in der Providenz Gottes unbestreitbar wirkliche Heilsordnung ist. Es ist sehr eindrucksvoll gezeigt worden, etwa durch Kar! Löwiths Buch >Weltgeschichte und Heilsgeschehen<, wie dieser christliche Aspekt der Geschichte eine Form der Geschichtsphilosophie heraufgeführt hat, die den 6
[Vgl. meine Rezension zu G. Rohr in Ges. WerkeBd. 5, S. 327-331]
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Heilsplan zu wissen beansprucht, und daß in letzter Zuspitzung daraus der Anspruch erwuchs, das Geschehen der Geschichte so zu wissen, seine Ordnung so zu erkennen, wie das die Naturwissenschaft dem Geschehen der Natur gegenüber tut, und da von solchem Wissen aus das Planen und das Machen möglich wird, ist es die Gestalt der pohtischen und historischen Utopie, die als das letzte verweltlichte Ende der christlichen Geschichtsphilosophie erscheint. Diese Form der utopischen Geschiehtserwartung, die am Ende als das verweltlichte Resultat der christlichen Geschichtsphilosophie hervorgetreten ist, steht nicht nur mit der christlichen Grunderfahrung von der Uncinsehbarkeit des göttlichen Ratschlusses in einem hoffnungslosen Konflikt, sie hat - wie ich meine - ihren immanenten Widerspruch an der Endlichkeit des menschlichen Daseins überhaupt, dessen planende Vorausschau dem Anspruch, aus der begriffenen Geschichte die notwendig sich ergebende Zukunft abzuleiten, nicht gewachsen ist. Findet solche Geschichtsphilosophie überhaupt den Zugang zur Wirklichkeit der Geschichte? Hier scheint mir die Epochenerfahrung als solche das Gegenteil zu bezeugen, nämlich daß die Wirklichkeit der Geschichte nicht in der wissenden Vergegenwärtigung des Geschehenen und der wissenden Beherrschung des Geschehens, sondern in der Erfahrung des Geschickes fUr uns gegeben ist. Die Erfahrung, die wir machen, daß etwas anders geworden ist, daß alles Alte alt und etwas Neues da ist, ist die Erfahrung eines Überganges, der nicht etwa Kontinuität garantiert, sondern im Gegenteil Diskontinuität aufweist und die Begegnung mit der Wirklichkeit der Geschichte darstellt, Immer wieder habe ich mich in einen kleinen Text des Dichters Hölderlin vertieft, der mit den Worten beginnt: )Das untergehende Vaterlande Es ist eine theoretische Studie zu dem Schauspiel über den Tod des Empedokles, in dem Hölderlin in all den wechselnden Fassungen und Motivierungen am Ende doch stets den Untergang des Helden als ein Opfer, das er der Zeit bringt, und damit als die Gründungstat einer Zukunft versteht. In diesem Traktat, der so verzwickt geschrieben ist, wie man nur in Schwaben schreiben darf, wird entwickelt, daß in der Tat ein jeder Augenblick ein Augenblick des Übergangs, und das heißt ein Übergehen und sich Absetzen von zwei Wirklichkeiten gegeneinander ist, einer untergehenden, sich auflösenden Wirklichkeit und einer kommenden und werdenden Wirklichkeit. Hölderlin bezeichnet diese von mir an der Differenz des Neuen und Alten ausgevviesene Epochenerfahrung ausdrücklich durch den Gegensatz der >idealischen< Auflösung und des )realen< Werdens des Neuen. Dabei leitet ihn die Anschauung von dem Ganzen als der Einheit des Lebendigen. Das macht ja das Leben aus, daß sich die Einheit des Organismus im beständigen Wechsel der Stoffe erhält und daß injeder Auflösung zugleich auch wieder
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Ncues entsteht. Im Wechsellauf der menschlichen Geschichte nimmt das die Form an, daß mit der Erfahrung des Ncuen das sich Auflösende überhaupt erst in seiner eigenen Einheit erfahren wird. Was Hölderlin uns allen hier zu sagen hat, ist dies, daß das Alte, d. h. eine Weise des Sich-Verhaltens zum Alten, zur eigenen Wirklichkeit des werdenden Neuen gehört. Daß das rur Hölderlin vor allem in der großen Form der Tragödie geschieht, in jener tragischen Affirmation, die zu dem Untergang ja sagt und eben durch die tragische Versöhnung Leben neu werden läßt, darf als nicht unmittelbar in den Gedanken gehörend, den ich hier zu entwickeln suche, an den Rand rücken. Auch woBen wir ganz absehen von dem tragischen Wort und damit von der Form, in der dichterisch ein solches idealisches Werden des Alten sich gegenüber dem realen Neuen absetzt. Es genügt, daß wir auf unsere eigene geschichtliche Erfahrung als solche sehen. Auch in ihr ist enthalten, daß Wissen und Sich-Bewußt-Machen nicht ein Vergegenwärtigen von etwas Abgeschlossenem als solchem ist, sondern als Vergegenwärtigen nur vom N euen her und auf das Heute hin seine Möglichkeit und seinen Vollzug gewinnt. Das aber heißt: alle solche Vergegenwärtigung und alles solche Wissen ist selbst ein Geschehen, ist selber Geschichte. Nicht erst durch das Hinzukommen eines sich wiegenden Dichtergeistes über einer vergehenden und sich auflösenden geschichtlichen Welt baut sich die Idealität geschichtlicher Bedeutung auf, sondern diese Welt ist so, daß sie selber sich nicht vergiBt, daß sie ihre eigene Idealität eben damit hat und gewinnt, daß sich neue Gestalten des Lebens heraufarbeiten aus der schöpferischen Unendlichkeit des Möglichen. Die tragische Affirmation, das Idealisch-Sehen der Vergangenheit, ist zugleich Erkennen einer seienden und bleibenden Wahrheit. Damit rühre ich an einen Aspekt des Ganzen, der mir aus meinen eigenen Arbeiten besonders wesentlich geworden ist. Was erhebt den tragischen Helden zu einer solchen Schicksalsfigur, daß in seinem Untergang das Leben sich erneuert? Was ist die Katharsis, diese neue Furchtlosigkeit, mit der der Zuschauer die tragische Katastrophe aufnimmt? Was ist es eigentlich, das in dieser Erfahrung Wahrheit ausmacht? Was wir dabei Wahrheit nennen, ist, daß es erinnerte Wirklichkeit ist. Nicht alles, was geschieht, halten wir ja erinnernd als wahr, als bedeutsam fest. Nicht nur der tragische Dichter, auch die unermüdliche Idealisierungskraft unseres eigenen Gemüts vollzieht ständig Erhebung ins Idealische, Erhebung des Gewesenen und Vergehenden in ein Bleibendes und Wahres. Als die tiefste Erfahrung dessen, was ich hier beschreibe, ist mir immer erschienen, wenn wir von dem Tode eines uns bekannten Menschen erfahren: wie sich da plötzlich die Seins weise dieses Menschen verändert, wie er bleibend geworden ist, reiner, nicht notwendig besser in einem moralischen oder liebevollen Sinne, aber in seinen bleibenden Umriß geschlossen und
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sichtbar geworden - offenbar allein dadurch, daß wir nichts mehr von ihm erwarten können, nichts mehr von ihnl zu erfahren haben und nichts Liebes mehr ihm tun dürfen. Die Erfahrung, die ich an diesem extremen Beispiel beschreibe, scheint mir eine Art Erkenntnis Zu sein. Was da herauskommt, ist Wahrheit. Es ist nicht die übliche oder sogenannte Beschönigung, von der hier die Rede ist, sondern es ist dieses Sich-Erheben über das beständig Variierende und alle festen Grenzsetzungen, alle festen Konturen Verfließende des geschichtlichen Zeitenstromes. Daß hier plötzlich etwas steht und stehen bleibt, das scheint einer Wahrheit zu Worte zu verhelfen. Von dieser Seite her ist nun nicht nur die eigentliche Erfahrung der Diskontinuität, sondern ebenso die der Kontinuität der Geschichte zu machen. Was ich eben beschrieb, läßt sich in dem Kierkegaardschen Begriff des ,Augenblickes< wiederfinden, in jenem erflillten Blick des Auges, der nieht mehr eine bloße Marke im gleichmäßigen Verfließen der Veränderung meint, sondern der zur Wahl nötigt und einmalig ist dadurch, daß er jetzt ist und nie \J.riederkommt. Von diesem Punkte her wird die Kontinuität der Geschichte nicht mehr als jenes vergegenwärtigte Kontinuum des ablaufenden Zeitgeschehens gedacht, sondern es wird die Frage an die Erfahrung der Diskontinuität gestellt, wie sie Kontinuität und in welchem Sinne sie Kontinuität enthält. Ich habe in meinen eigenen Versuchen etwa so formuliert: Wenn uns etwas in der Überlieferung begegnet, so daß wir es verstehen, ist das selber immer Geschehen. Auch dann geschieht einem etwas, wenn man aus der Überlieferung ein Wort sozusagen annimmt, ein Wort sich sagen läßt. Das ist gewiß nicht ein Verstehen der Geschichte als eines Verlaufs, sondern ein Verstehen dessen, was uns in der Geschichte als uns ansprechend und angehend begegnet. !eh habe daflir den vielleicht etwas zu vieldeutigen Ausdruck gewählt, daß all unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein bestimmt ist. Was ich damit sagen will, ist zunächst, daß wir uns nicht aus dem Geschehen selber herausheben und sozusagen ihm gegenübertreten mit der Folge, daß etwa die Vergangenheit uns so zum Objekt würde. Wenn ,"vir so denken, kommen wir viel zu spät, um die eigentliche Erfahrung der Geschichte überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Wir sind immer schon mitten in der Geschichte darin. Wir sind selber nicht nur ein Glied dieser fortrollenden Ke[te, um mit Herder zu sprechen, sondern wir sind injedem Augenblick in der Möglichkeit, uns mit diesem aus der Vergangenheit zu uns Kommenden und Überlieferten zu verstehen. Ich nenne das )wirkungsgeschichtliches Bewußtsein<, weil ich damit einerseits sagen will, daß unser Bewußtsein wirkungsgeschichtlich bestimmt ist, d. h. durch ein wirkliches Geschehen bestimmt ist, das unser Bewußtsein nicht frei sein läßt im Sinne eines
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Gegenübertretens gegenüber der Vergangenheit. Und ich meine andererseits auch, daß es gilt, ein Bewußtsein dieses Bewirktseins immer wieder in uns zu erzeugen - so \~lie ja alle Vergangenheit, die uns zur Erfahrung kommt, uns nötigt, mit ihr fertig zu werden, in gewisser Weise ihre Wahrheit auf uns zu übernehmen. Ich habe mich dafur vor allem auf die Sprachlichkeit alles Verstehens berufen. Ich meine damit ganz schlichte Dinge und gar nichts Geheimnisvolles. Es geht einfach darum, daß unser historisches Bewußtsein, das mit dem Wissen um das Anderssein, die Fremdheit fremder historischer Welten, getränkt ist, das seine eigenen Begriffe und die Begriffe jener fremden Zeiten und Welten mühsam, mit einer ungeheuren Anstrengung des denkenden historischen Erkennens, auseinanderzuhalten strebt, doch am Ende beide Begrifflichkeiten immer miteinander vermittelt. Ein Beispiel: Die fremdeste Rechtsform noch, die uns aus ältesten Kulturen überliefert ist, wird als eine Rechtsform erfaßt, die im Gesamtraum des rechtlich Möglichen Verständnis findet. Es ist nicht nur eine llekundung unseres historischen Bewußtseins, wenn man explizieren kann, wie man etwa merkwürdige babylonische Urkunden (oder worum es sich handeln mag) als Rechtsurkunden versteht und so, daß man sich darüber verständigen kann. Nicht nur dieser historische Abstand wird durch die Spraehlichkcit überbrückt, sondern vor aller spezifisch historischen Bewußtheit ist solche Vermittlung am Werk. Das macht gerade die zentrale Stellung des Phänomens der Sprachlichkeit aus, daß es nicht nur das Verfahren der historischen Interpretation beherrscht, sondern ebenso die Form ist, in der von jeher Vergangenheit, Vergangenes, tradiert wurde. Wir sind gewohnt, es mit einem gewissen historischen Hochmut anzusehen, wie die Schriftsteller des Altertums oder des Mittelalters in ganz naiver typologischer oder moralistischer Weise in den Zeugnissen der Vergangenheit unmittelbare Bestätigungen dessen, was sie selber ftir wahr halten, in Anspruch nahmen. Es fehlt da, wie wir sagen, an historischem Sinn. Aber die Weise, 'Wie sich ein solches unmittelbar moralisierendes oder sonstwie artikuherendes Verstehen oder Aneignen vergangener Überlieferung vollzieht, ist ebenso ein Sprachgeschehen, wie jeglicher historische Deutungsvorgang in der modernen Wissenschaft. Nur, daß wir es da am deutlichsten sehen, sofern Worte, die unverändert übernommen werden, einen plötzlich ganz veränderten Sinn haben. Jeder naiv aneignende Umgang mit dem Überlieferten vollzieht eine Applikation an den Augenblick, die wir in höchstem Maße unwissenschaftlich und damit falsch fmden mögen und die doch mitunter zu jenen produktiven Mißverständnissen gehört, aus denen der Überlieferungszusammenhang der Kulturen lebt. Etwas von solchem Zusammenschluß mit uns selbst bleibt noch in aller historischen Erkenntnis lebendig. Daß ich Sprache als die Weise der Vermittlung ansehe, in der Kontinuität
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der Geschichte über aBc Abstände und Diskontinuitäten zustandekommt, scheint mir durch die angedeuteten Phänomene wohlbegründet. Darin liegt aber als die eigentliche Wahrheit: Sprache ist immer nur im Gespräch. Sprache vollzieht sich selbst und hat ihre eigentliche Erflillung nur in dem Hin und Her des Sprechcns, in dem ein Wort das andere gibt und in dem sich die Sprache, die wir miteinander fUhren, die Sprache, die wir zueinander finden, auslebt. Jedcr Begriff von Sprache, der sie ablöst von der unmittelbaren Situation derer, die sich im Reden und Ant\vorten verstehen, verkürzt sie um eine wesentliche Dimension. Die Unmittelbarkeit des Sprachvollzugs enthält eine Ant\vort auf die Frage, wie sich die Kontinuität der Geschichte all den Scheidungen und Entscheidungen zum Trotz, die flir jeden von uns in jedem Augenblick fallen, dennoch bewegt und ermöglicht. Denn auch das ist Gespräch: die Weise, wie vergangene Texte, die Weise, wie vergangene Kunde, die Weise, wie Formungen des bildnerischen Könnens der Menschheit uns erreichen. Darin ist nichts von un beteiligtem Gegenüber, das ftir den Forscher die Fülle seiner Objekte ist. Solche Erfahrung steht vielmehr in einem Kommunikationsgeschehen, das die Grundstruktur des Gespräches hat. Dazu gehört, daß nicht einer immer dasselbe sagt und der andere auch immer das seine, sondern daß einer auf den anderen hört und, weil er auf ihn gehört hat, anders antwortet, als wenn der andere nicht gefragt oder gesprochen hätte. Genau diese Struktur, daß einer anders Antwort gibt, weil er anders gefragt wird, und daß er fragt, weil er auf eine Antwort eine Frage hat, scheint mir auch ftir die Kommunikation mit der geschichtlichen Überlieferung zu gelten. Nicht nur das Kunstwerk - jede menschliche Kunde, die wir vernehmen, redet zu uns. Aus dem Gedankengang, den ich entwickelt habe, ergibt sich, daß die Antithese von Kontinuität der Geschichte und Augenblick der Existenz, wie sie im Thema zunächst anklingt, eine falsche Zuspitzung ist. Ich zeigte, daß gerade in der Auszeichnung des Augenblicks, Diskontinuität im Fortgang des Geschehens zu sein, die Möglichkeit bcgründet liegt, geschichtliche Kontinuität zu wahren und zu erfahren. Kontinuität ist nicht die beruhigte Gewißheit, die dem Extrem des perfekten Historismus einwohnt, daß überall, wo etwas untergeht, das Geschehen ebenso als ein Neuanfang artikuliert werden kann, weil Werden und Vergehen die eigentliche Wirklichkeit jedes Augenblicks sind und als Übergang die Kontinuitat des Geschehens verbürgen. Das ist durchaus nicht eine fraglose Gewißheit, sondern im Gegenteil eine jedem menschlichen Erfahrungsbewußtsein gestellte Aufgabe. Sie erfliHt sich in Überlieferung und Tradition. Aber darin ist nichts von der beruhigenden Sicherheit, die all das hat, was sich von selbst vollzieht. Überlieferung und Tradition haben nicht die Unschuld des organischen Lebens. Sie können auch mit revolutionärer Leidenschaft bekämpft werden, wo sie als unlebendig und starr empfunden werden. Ihren wahren Sinn
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz
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bnvähren Tradition und Überlieferung nicht im beharrlichen Festhalten am Hergebrachten, sondern darin, daß sie einen erfahrenen und beständigen Partner in dem Gespräch darstellen, das wir sind. lndenl sie uns antworten und soweit sie damit neue Fragen aufgeben, bC\veisen sie ihre eigene Wirklichkeit und ihre fortwirkende Lebendigkeit. Was ein vergegenwärtigendes Bewußtsein als das Althergebrachte und Bewährte weiß und dem Neuerungswillen entgegensetzt, ist gar nicht lebendige Tradition. Ihre eigentliche Wahrheit liegt tiefer, in einem Bereich, der gerade dort wirksam wird, wo wir unserer Zukunft entgegengehen und das Neue erproben. Ich rechne es zu den gößten Einsichten, die mir durch andere geworden sind, daß Heidegger einmal, vor Jahrzehnten, uns klarmachte, die Vergangenheit sei nicht primär im Erinnern da, sondern im Vergessen. In der Tat, das ist die Weise, in der die Vergangenheit dem menschlichen Dasein selber angehört. Nur weil sie dies Dasein der Vergessenheit hat, kann überhaupt etwas behalten und erinnert werden. Alles Vergehende sinkt ab in ein Vergessen, und dieses Vergessen ist es, das das in die Vergessenheit Verhallende und in Vergessenheit Geratene festzuhalten und zu bewahren ermöglicht. Hier liegt die Aufgabe, die Kontinuität der Geschichte zu leisten. Für den Menschen in der Geschichte ist die Erinnerung, die bewahrt, wo alles ständig entsinkt, kein vergegenständlichendes Verhalten eines wissenden Gegenüber, sondern der Lebensvollzug der Überlieferung selber. Ihm geht es nicht darum, den Vergangcnheitshorizont ins Beliebige endlos auszuweiten, sondern die Fragen zu stellen und die Antworten zu finden, die uns von dem her, was wir ge\vorden sind, als Möglichkeiten unserer Zukunft gnvährt sind.
11. Mensch und Sprache 1966 Es gibt eine klassische Definition des Wesens des Menschen, die Aristotcles aufgestellt hat, wonach er das Lebnvescn ist, das Logos hat. In der Tradition des Abendlandes wurde diese Definition in der Form kanonisch, daß der Mensch das animal rationale, das vernünftige Lebewesen, d. h. durch die Fähigkeit des Dcnkens von den übrigen Tieren unterschieden sei. Man hat also das griechische Wort Logos im Sinne von Vernunft bzw. Denken wiedergegeben. In Wahrheit heißt das Wort auch und vorwiegend: Sprache. Aristoteles entwickelt cinmaF den Unterschied von Mensch und Tier folgendermaßen: Die Tiere haben die Möglichkeit, sich miteinander zu verständigen, indem sie einander anzeigen, was ihre Lust erregt, so daß sie es suchen, und ""vas ihnen weh [Ut, so daß sie es fliehen. Nur so weit sei die Natur bei ihnen gegangen. Allein denl Menschen sei darüber hinaus der Logos gegeben, einander offenbar zu machen, was nützlich und was schädlich ist, und damit auch, \1"l as recht und unrecht ist. Ein tiefsinniger Satz. Was nützlich ist und \vas schädlich ist, ist solches, das nicht in sich selbst wünschenswert ist, sondern UIll et\\'as anderen willen, das noch gar nicht gegeben ist, sondern zu dessen Beschaffung es einem dient. I-lier ist also eine Überlegenheit über das je Gegenwärtige, ein Sinn rur das Zukünftige, als Auszeichnung des Menschen markiert. Und im selben Atem fügt Aristoteles hinzu, daß damit auch der Sinn [ur Recht und Unrecht gegeben sei - all das aber, weil der Mensch als einziger den Logos hat. Er kann denken, und er kann sprechen. Er kann sprechen, d. h. er kann Nicht-Gegenwärtiges durch sein Sprechen offenbar machen, so daß es auch ein anderer vor sich sieht. Alles was er meint, kann er so mitteilen, ja mehr noch: dadurch, daß er so sich mitteilen kann, gibt es überhaupt nur unter den Menschen ein Meinen des Gemeinsamen, d. h. gemeinsame Begriffe und vor allem diejenigen gemeinsamen Begriffe, durch die das Zusammenleben der Menschen ohne Mord und Totschlag, in der Form des gesellschaftlichen Lebens, in der Form einer politischen Verfassung, in der Form eines arbeitsteilig gegliederten Wirtschaftslebens möglich ist. Das alles liegt in der schlichten Aussage: der Mensch ist das Lebewesen, das Sprache hat. , [Politik A 2, 1253a 911.]
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Man möchte meinen, daß diese so sinnfallige und überzeugende Feststellung dem Phänomen der Sprache im Denken über das Wesen des Menschen von jeher einen bevorzugten Ort gesichert hat. Was ist überzeugender, als daß die Sprache der Tiere, wenn man ihre Weise, sich zu verständigen, so benennen will, etwas ganz anderes ist als die menschliche Sprache, in der eine gegenständliche Welt vorgestellt und mitgeteilt wird' Und zwar durch Zeichen, die nicht wie die Ausdruckszeichen der Tiere festliegen, sondern variabel bleiben, und das nicht nur in dem Sinne, daß es verschiedene Sprachen gibt, sondern auch, daß in der selben Sprache die gleichen Ausdrücke Verschiedenes und verschiedene Ausdrücke das Gleiche bezeichnen können. In Wahrheit hat man jedoch im philosophischen Denken des Abendlandes das Wesen der Sprache keines\vegs in den Mittelpunkt gestellt. Zwar war es immer ein auffallender Wink, daß nach der Schöpfungsgeschichte des Alten Testamentes Gott dem ersten Menschen die Herrschaft über die Welt übertrug, indem er ihn alles Seiende nach seinem Gutdünken benennen heß. Auch die Geschichte von dem babylonischen Turm bezeugt ja die fundamentale Bedeutung der Sprache für das Leben des Menschen. Gleichwohl hat gerade die religiöse Überlieferung des christlichen Abendlandes das Denken über die Sprache in gewisser Weise gelähmt, so daß erst im Zeitalter der Aufklärung die Frage nach dem Ursprung der Sprache neu gestellt wurde. Es bedeutete einen gewaltigen Schritt vorwärts, daß die Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht mehr durch den Schöpfungsbericht beantwortet, sondern in der Natur des Menschen gesucht wurde. Denn nun war ein weiterer Schritt nicht zu umgehen, nämlich der, daß die Natürlichkeit der Sprache es ausschließt, die Frage nach einem sprachlosen Vorzustand des Menschen und damit die nach dem Ursprung der Sprache überhaupt zu stellen. Herder und Wilhe1m von Humboldt haben die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache als die ursprüngliche Sprachlichkeit des Menschen erkannt und die grundlegende Bedeutung dieses Phänomens für die menschliche Wcltansicht herausgearbeitet. Die Verschiedenartigkeit des menschlichen Sprachbaus war das Forschungsfeld des aus dem öffentlichen Leben- zurückgezogenen ehemaligen Kultusministers Wilhclm von Humboldt, des Weisen von Tegel, der durch sein Alterswerk der Begründer der modemen Sprachwissenschaft wurde. Indessen bedeutete die Begründung der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft durch Wilhelm von Humboldt noch keineswegs eine echte Wiederherstellung der aristotelischen Einsicht. Wie hier die Sprachen der Völker zum Gegenstand der Forschung gemacht wurden, wurde gewiß ein Weg des Erkennens beschritten, der auf neue und aussichtsreiche Weise die Verschiedenheit der Völker und der Zeiten und das ihnen zugrunde liegende gemeinsame Wesen des Menschen aufklären konnte. Aber es war die bloße
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Ausstattung des Menschen mit einem Vermögen und die Aufhellung der Strukturgesctzlichkeiten dieses Vermögens - wir nennen sie Grammatik, Syntax, Vokabular der Sprache -, was hier den Horizont der Frage nach Mensch und Sprache begrenzte. Man mochte im Spiegel der Sprache die Weltansichten der Völker, ja sogar bis ins Einzelne hinein den Aufbau ihrer Kultur er kennen lernen - ich denke etwa an den Einblick in den Kulturzustand der indogermanischen Völkerfamilie. den wir den großartigen Untersuchungen Viktor Hchns über Kulturpflanzen und Haustiere verdanken. Die Sprachwissenschaft ist, wie eine andere Prähistorie, die Prähistorie des menschlichen Geistes. Gleichwohl hat auf diesem Wege das Phänomen der Sprache nur die Bedeutung eines ausgezeichneten Ausdrucksfeldes, an dem sich das Wesen des Menschen und seine Entfaltung in der Geschichte studieren läßt. Bis in die zentralen Positionen des philosophischen Denkens "var auf diesem Wege jedoch nicht einzudringen. Denn noch stand immer im Hintergrunde des gesamten neuzeitlichen Denkens die cartesianische Auszeichnung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins. Dieses unerschütterliche Fundament aller Gewißheit, das gewisseste aller Fakten, als das ich mich selber weiß, wurde im Denken der Neuzeit der Maßstab für alles, was überhaupt dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis zu genügen vermochte. Die wissenschaftliche Erforschung der Sprache beruhte am Ende auf dem gleichen Fundament. Es war die Spontaneität des Subjektes. die in der sprachbildenden Energie eine ihrer Bestätigungsformen besitzt. So fruchtbar auch von diesem Grundsatz aus die in den Sprachen gelegene Weltansicht gedeutet werden konnte - das Rätsel, das die Sprache dem menschlichen Denken aufgibt, kam so überhaupt nicht in den Blick. Denn zum Wesen der Sprache gehört eine geradezu abgründige Unbewußtheit derselben. Insofern ist die Prägung des Begriffes die Sprache nicht zufallig ein spätes Resultat. Das Wort Logos bedeutet nicht nur Denken und Sprache, sondern auch Begriff und Gesetz. Die Prägung des Begriffs Sprache setzt Sprachbewußtheit voraus. Das aber ist erst das Resultat einer Reflexionsbewegung, in der sich der Denkende aus dem unbewußten Vollzug des Sprechens herausreflektiert und in eine Distanz zu sich selber getreten ist. Das eigentliche Rätsel der Sprache ist aber dies, daß wir das in Wahrheit nie ganz können. Alles Denken über Sprache ist vielmehr von der Sprache schon immer wieder eingeholt worden. Nur in einer Sprache können wir denken. und eben dieses Einwohnen unseres Denkens in einer Sprache ist das tiefe Rätsel, das die Sprache dem Denken stellt. Die Sprache ist nicht eines der Mittel, durch die sich das Bewußtsein mit der Welt vermittelt. Sie stellt nicht neben dem Zeichen und dem Werkzeugdie beide gewiß auch zur Wesens auszeichnung des Menschen gehören - ein drittes Instrument dar. Die Sprache ist überhaupt kein Instrument, kein Werkzeug. Denn zum Wesen des Werkzeuges gehört, daß wir seinen Ge-
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brauch beherrschen, und das heißt, es zur Hand nehmen und aus der Hand legen, wenn es seinen Dienst getan hat. Das ist nicht dasselbe, wie wenn wir die bereitliegenden Worte einer Sprache in den Mund nehmen und nüt ihrem Gebrauchtsein zurücksinken lassen in den allgemeinen Wortvorrat, über den wir verfügen. Eine solche Analogie ist deshalb falsch, weil wir uns niemals als Bewußtsein der Welt gegenüber fmden und in einem gleichsam sprachlosen Zustand nach dem Werkzeug der Verständigung greifen. Wir sind vielmehr in allem Wissen von uns selbst und allem Wissen von der Welt immer schon von der Sprache umgriffen, die unsere eigene ist. Wir \vachsen auf, wir lernen die Welt kennen, wir lernen die Menschen kennen und am Ende uns selbst, indem wir sprechen lernen. Sprechen lernen heißt nicht: zur Bezeichnung der uns vertrauten und bekannten Welt in den Gebrauch eines schon vorhandenen Werkzeuges eingefUhrt werden, sondern es heißt, die Vertrautheit und Erkenntnis der Welt selbst, und wie sie uns begegnet, erwerben. Ein rätselhafter, tief verhüllter Vorgang! Was für ein Wahn ist es, zu meinen, daß ein Kind ein Wort, ein erstes Wort spricht. Was rur ein Wahsinn war es, die Ursprache der Menschheit dadurch entdecken zu wollen, daß man Kinder von allen menschlichen Lauten hermetisch abgeschlossen aufwachsen ließ und dann aus ihrem ersten Lallen artikulierter Art einer vorhandenen mcnschliclien Sprache das Privileg zuerkennen wollte, die Ursprache der Schöpfung zu sein. Das Wahnhafte solcher Ideen beruht darauf, daß sie das wahrhafte Umschlossensein unserer selbst durch die sprachliche Welt, in der wir leben, aufirgendeine künstliche Weise suspendieren wollen. In Wahrheit sind wir immer schon in der Sprache ebenso zu Hause wie in der Welt. Wieder finde ich bei Aristoteles die weiseste Beschreibung des Vorgangs, wie man sprechen lernt. H Die aristotelische Beschreibung meint allerdings gar nicht das Sprechenlernen, sondern das Denken, d. h. den Erwerb allgemeiner Begriffe. Wie kommt in der Flucht der Erscheinungen, in dem beständigen Vorbeifluten wechselnder Eindrücke, überhaupt so etwas wie ein Bleiben zustande? Sicher ist es zunächst die Fähigkeit des Behaltens, also das Gedächtnis, die uns etwas als dasselbe wiedererkennen läßt, und das ist eine erste große Abstraktionsleistung. Es wird aus der Flucht wechselnder Erscheinungen hier und da ein Gemeinsames heraus gesehen, und so kommt langsam aus sich häufenden Wiedererkennungen, die wir Erfahrungen nennen, die Einheit der Erfahrung zustande. In ihr aber entspringt das ausdrückliche VerfUgen über das so Erfahrene in der Weise des Wissens des Allgemeinen. Aristoteles fragt nun: Wie kann eigentlich dieses Wissen des Allgemeinen zustande kommen? Doch sicher nicht so, daß eins nach dem anderen vorbeizieht und plötzlich an einem bestimmten Einzel" [An. Post. B 19, 99b35ff.]
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nen, das da wieder erscheint und als dasselbe wiedererkannt wird, das Wissen des Allgemeinen erworben wird. Es ist doch nicht dieses eine Einzelne als solches, das sich gegenüber anen anderen Einzelnen durch die geheimnisvolle Kraft auszeichnet, das Allgemeine zur Darstellung zu bringen. Es ist vielmehr wie alle anderen Einzelnen auch. Und doch ist es ja wahr, daß irgend wann das Wissen des Allgemeinen zustandegekommen ist. Wo hat es angefangen? Aristoteles gibt dafUr ein ideales Bild: Wie kommt ein auf der Flucht befindliches Heer zum Stehen? Wo fangt es an, daß das Heer wieder steht? Doch sicher nicht dadurch, daß der erste stehen bleibt oder der zweite oder der dritte. Man kann doch gewiß nicht sagen, daß das Heer steht, wenn eine bestimmte Anzahl der fliehenden Soldaten aufgehört hat zu fliehen, und gewiß auch nicht, wenn der letzte zu fliehen aufgehört hat. Denn mit ihm fangt das Heer nicht an zu stehen, sondern es hat längst angefangen, zum Stehen zu kommen. Wie das da anfangt, wie es sich fortpflanzt und wie am Ende irgendwann das Heer wieder steht, das heißt: wieder der Einheit des Kommandos gehorcht, das wird von niemandem wissend verfUgt, planend beherrscht, feststellend erkannt. Und doch ist es unzweifelhaft geschehen. Genauso ist es mit dem Wissen des Allgemeinen, und genauso ist es, weil es nämlich dasselbe ist, mit dem Eintreten in die Sprache. Wir sind in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreingenommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der Welt a"fwachsen heißt. Insofern ist die Sprache die eigentliche Spur unserer Endlichkeit. Sie ist immer schon über uns hinweg. Das Bev./ußtsein des einzelnen ist nicht der Maßstab, an dem ihr Sein gemessen werden kann. Ja, es gibt überhaupt kein einzelnes Bewußtsein, in dem die Sprache, die es spricht, wirklich da ist. Wie also ist die Sprache da' Doch gewiß nicht ohne das einzelne Bewußtsein. Aber doch auch nicht in einer bloßen Zusammenfassung vieler, die jeder fur sich ein Einzc1bewußtsein sind. Hat doch keiner, der ein einzelner ist, wenn er spricht, ein eigentliches Bewußtsein seines Sprechens. Ausnahmesituationen sind es, in denen einem die Sprache, in der man spricht, bewußt wird. Zum Beispiel, wenn einem in der Absicht, et\vas zu sagen, ein Wort auf die Zunge kommt, bei dem man stutzt, das einem fremd oder komisch vorkommt, so daß man sich fragt: ))Kann man so eigentlich sagen?« Da wird die Sprache, die wir sprechen, einen Augenblick bewußt, weil sie das Ihre nicht tut, Was also ist das Ihre' Ich denke, man kann hier dreierlei unterscheiden. Das erste ist die wesenhafte Selbstvergessenheit, die dem Sprechen zukommt. Ihre eigene Struktur, Grammatik, Syntax usw., also a11 das, was die Sprachwissenschaft thematisiert, ist dem lebendigen Sprechen durchaus nicht bewußt. Daher gehört es zu den eigentümlichen Perversionen des Natürlichen, daß die moderne Schule genötigt ist, Grammatik und Syntax, statt an einer toten Sprache wie dem Latein, an der eigenen Muttersprache
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beizubringen. Eine \vahrhaft riesige Abstraktionslcistung, die von jedem verlangt \vird, der die Grammatik der Sprache, die er als seine Muttersprache beherrscht, zu ausdrücklichem Bewußtsein bringen soll. Der wirkliche Vollzug der Sprache bringt sie selbst ganz hinter dem zum Verschwinden, was jeweils in ihr gesagt wird. Es gibt eine ganz hübsche Erfahrung bei Erlemung fremder Sprachen, an der wir das alle erlebt haben. Es sind die in den Lehrbüchern oder Sprachkursen gebrauchten Beispielsätze. Ihre Aufgabe ist, eine bestimmte sprachliche Erscheinung abstraktiv bewußt zu machen. Ehedem, als man sich noch zu der Abstraktionsaufgabe bekannte, die das Lernen der Grammatik und Syntax einer Sprache darstellt, waren es Sätze von erhabener Sinnlosigkeit, die von Caesar oder Onkel Kad irgend etwas aussagten. Die neuere Tendenz, auf dem Wege über solche Beispielsätze recht viel interessante Auslandskunde mit einströmen zu lassen, hat die unerwünschte Nebenwirkung, daß sich die Beispielsfunktion des Satzes in eben dem Grade verdunkelt, in dem der Inhalt des Gesagten Interesse auf sich zieht. Je mehr die Sprache lebendiger Vollzug ist, desto weniger ist man sich ihrer bewußt. So folgt aus der Selbstvergessenheit der Sprache, daß ihr eigentliches Sein in dem in ihr Gesagten besteht, das die gemeinsame Welt ausmacht, in der wir leben und zu der auch die ganze große Kette der Überlieferung gehört, die aus der Literatur der fremden Sprachen, toter wie lebender, uns erreicht. Das eigentliche Sein der Sprache ist das, worin wir aufgehen, wenn wir sie hören, das Gesagte. Ein zweiter Wesenszug des Seins der Sprache scheint mir ihre Ichlosigkeit. Wer eine Sprache spricht, die kein anderer versteht, spricht nicht. Sprechen heißt, zu jemandem sprechen. Das Wort will das treffende Wort sein, das aber heißt nicht nur, daß es die gemeinte Sache mir selbst vorstellt, sondern daß es sie dem anderen, zu dem ich spreche, vor Augen stellt. Insofern gehärt Sprechen nicht in die Sphäre des Ich, sondern in die Sphäre des Wir. So hat Ferdinand Ebner ehedem seiner bedeutenden Schrift: Das Wort und die Reist(\?ftl Realitäten mit Recht den Untertitel gegeben: Pneumatologische FraRmente. Denn die geistige Realität der Sprache ist die des Pneuma, des Geistes, der Ich und Du eint. Die Wirklichkeit des Sprechens besteht, wie man seit langem beachtet hat, im Gespräch. Injedem Gespräch aber waltet ein Geist, ein böser oder ein guter, ein Geist der Verstockung und des Stockens oder ein Geist der Mitteilung und des strömenden Austausches zwischen Ich und Du. Die Vollzugsformjedes Gespräches läßt sich, wie ich anderwärts 9 gezeigt habe, vom Begriff des Spieles her beschreiben. Freilich ist dazu erforderlich, sich von einer Denkgewohnheit freizumachen, die das Wesen des Spiels vom Bewußtsein des Spielenden her sieht. Diese vor allem durch Schiller populär 9
Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1, III. Teil, S. 491 ff.
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gewordene Bestimmung des Menschen, der spielt, faßt die wahre Struktur des Spiels nur von seiner subjektiven Erscheinung her. Spiel ist in Wahrheit aber ein Bewegungsvorgang, der die Spielenden oder das Spielende umgreift. So ist es keineswegs nur eine Metapher, \venn wir von dem Spiel der Wellen oder den spielenden Miicken oder dem freien Spiel der Glieder sprechen. Vielmehr beruht selbst die Faszination des Spieles für das spielende Bewußtsein eben in einer so1chen Entrückung seiner selbst in einen Bewegungszusammenhang, der seine eigene Dynamik entfaltet. Ein Spiel ist inl Gange, wenn der einzelne Spieler in vollem Spielernst dabei ist, d. h. sich nicht mehr zurückbehält als ein nur Spielender, dem es nicht ernst ist. Solche Leute, die das nicht können, nennen wir Menschen, die nicht spielen können. Nun meine ich: die Grundverfassung des Spiels, mit seinem Geist - dem der Leichtigkeit, der Freiheit, des Glücks des Gelingens - erfüllt zu sein und den Spielenden zu erfüllen, ist strukturverwandt mit der Verfassung des Gesprächs, in dem Sprache wirklich ist. Wie man rniteinander ins Gespräch kommt und nun von dem Gespräch gleichsam weitergetragen wird, darin ist nicht mehr der sich zurückbehaltende oder sich öffnende Wille des Einzelnen bestimmend, sondern das Gesetz der Sache, um die es im Gespräch geht, welches Rede und Gegenrede hervorloekt und am Ende aufeinander einspielt. So ist man dort, wo ein Gespräch gelungen ist, nachher von ihm, wie wir sagen, erfüllt. Das Spiel von Rede und Gegenrede spielt sich weiter fort im inneren Gespräch der Seele mit sich selber, \vie Plato so schön das Denken genannt hat. Damit hängt ein Drittes zusammen, das ich die Universalität der Sprache nennen möchte. Sie ist kein abgeschlossener Bereich des Sag baren, neben dem andere Bereiche des Unsagbaren stünden, sondern sie ist allumfassend. Es gibt nichts, das grundsätzlich dem Gesagtwerden entzogen wäre, sofern nur das Meinen etwas meint. Es ist die Universalität der Vernunft, mit der das Sagenkönnen unermüdlich Schritt hält. So hat auch jedes Gespräch eine innere Unendlichkeit und kein Ende. Man bricht es ab, sei es, daß genug gesagt zu sein scheint, sei es, daß nichts mehr zu sagen ist. Aber jeder solche Abbruch hat einen inneren Bezug auf die Wiederaufnahme des Gesprächs. Wir machen diese Erfahrung, oft in schmerzhafter Weise, dort, "va von uns eine Aussage verlangt wird. Die Frage, auf die es da zu antworten giltdenken wir etwa an das extreme Beispiel des Verhörs oder der Aussage vor Gericht -, ist wie eine Schranke, die gegen den Geist des Sprechens, der sich aussprechen und Gespräch will, aufgerichtet ist (,)Hier rede ich« oder ,)Antworten Sie auf meine Frage!«). Alles Gesagte hat seine Wahrheit nicht einfach in sich selbst, sondern verweist nach rückwärts und nach vorwärts auf Ungesagtes. Jede Aussage ist motiviert, das heißt, man kann an alles, was gesagt wird, mit Sinn die Frage richten: ,) Warum sagst du das ?« Und erst, wenn dies Nichtgesagte mit dem Gesagten mitverstanden ist, ist eine
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Aussage verständ1ich. Wir kennen das im besonderen bei der Frage. Eine Frage, die \vir nicht als motiviert verstehen, kann auch keine Antwort finden. Denn die Motivationsgeschichte der Frage öffnet allererst den Bereich, aus dem her Antvvort geholt und gegeben werden kann. So ist es in Wahrheit im Fragen wie im Antworten ein unendliches Gespräch, in dessen Raume Wort und Antwort stehen. Alles Gesagte steht in solchem Raume. Wir können uns das an einer Erfahrung verdeutlichen, die jeder von uns macht. Ich meine das Übersetzen und das Lesen von Übersetzungen aus fremden Sprachen. Was der Übersetzer vorfindet, ist sprachlicher Text, d. h. ein mündlich oder schriftlich Gesagtes, das er in die eigene Sprache übersetzen soll. Er ist gebunden an das, was da steht, und er kann doch nicht einfach das Gesagte aus dem fremden Sprachstoff in den eigenen Sprachstoff umformen, ohne daß er selber wieder zum Sagenden wird. Das aber heißt, er muß in sich den unendlichen Raum des Sagens gewinnen, der dem in der fremden Sprache Gesagten entspricht. Jedermann weiß, wie schv.rer das ist. Jedermann weiß, wie die Übersetzung das in der fremden Sprache Gesagte gleichsam flach fallen läßt. Es bildet sich in einer Fläche ab, so daß Wortsinn und Satzform der Übersetzung das Original nachzeichnen, aber die Übersetzung hat gleichsam keinen Raum. Ihr fehlt jene dritte Dimension, aus der sich das ursprünglich, d. h. im Original Gesagte, in seinem Sinnbereich aufbaute. Das ist eine unvermeidliche Schranke aller Übersetzungen. Keine kann das Original ersetzen. Aber wenn man meinen sol1te, jene ins Flache projizierte Aussage des Originals müßte nun in der Übersetzung gleichsam leichter verständlich geworden sein, da vieles im Original anklingende Hintergründige, Z wischenzeilige nicht mit hinübergetragen werden konnte - wenn man nun meinte, diese Reduktion auf einen einfältigen Sinn müsse das Verständnis erleichtern, so täuscht man sich. Keine Übersetzung ist so verständlich wie ihr Original. Es ist eben gerade der vieles einbeziehende Sinn des Gesagten - und Sinn ist immer Richtungssinn -, der nur in der Ursprünglichkeit des Sagens zur Sprache kommt und in allem Nachsagen und Nachsprechen entgleitet. Die Aufgabe des Übersetzers muß daher immer die sein, nicht das Gesagte abzubilden, sondern sich in Richtung des Gesagten, d. h. in seinen Sinn, einzustellen, um in die Richtung seines eigenen Sagcns das zu Sagende zu übertragen. Am deutlichsten wird das bei solchen Übersetzungen, die ein mündliches Gespräch durch die Zwischenschaltung der Dolmetscher zwischen Menschen fremder Muttersprache ermöglichen sollen. Ein Do1metscher, der nur wiedergibt, was die von dem einen gesprochenen Worte und Sätze in der anderen Sprache sind, verfremdet das Gespräch ins Unverständliche. Was er wiedergeben muß, ist nicht das Gesagte in seinem authentischen Wortlaut, sondern das, was der andere sagen wollte und sagte, indem er vieles ungesagt ließ. Auch die Begrenztheit seiner Wiedergabe muß den Raum -gewin-
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nen, in dem allein Gespräch, d. h. die innere Unendlichkeit, die aller Verständigung zukommt, möglich wird. So ist die Sprache die wahrhafte Mitte des menschlichen Seins, wenn man sie nur in dem Bereich sieht, den sie allein ausfüllt, dem Bereich menschlichen .Miteinanderseins, dem Bereich der Verständigung, des immer neu anwachsenden Einverständnisses, das dem menschlichen Leben so unentbehrlich ist wie die Luft, die wir atmen. Der Mensch ist wirklich, wie
Aristotcles es gesagt hat, das Wesen, das Sprache hat. Alles, was menschlich ist, sollen wir uns gesagt sein lassen.
12. Über die Planung der Zukunft 1965
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es nicht so sehr der Fortschritt der Naturwissenschaften als solcher ist, als vielmehr die Rationalisierung ihrer technisch-wirtschaftlichen Anwendung, was die neue Phase der industriellen Revolution heraufgeftihrt hat, in der wir stehen. Nicht der ungeahnte Zuwachs an Beherrschung der Natur, sondern die Entfaltung wissenschaftlicher Steuerungsmethoden ftir das Leben der Gesellschaft scheint mir das Gesicht unserer Epoche zu prägen. Erst damit wird der Sieges zug der modernen Wissenschaft, wie er mit dem 19. Jahrhundert begann, ein alles beherrschender sozialer Faktor. Jetzt erst hat der unserer Zivilisation zugrundeliegende Wissenschaftsgedanke alle Bereiche der gesellschaftlichen Praxis ergriffen. Wissenschaftliche Marktforschung, wissenschaftliche Kriegftihrung, wissenschaftliche Außenpolitik, wissenschaftliche Nachwuchslenkung, wissenschaftliche Menschenftihrung usw. geben dem Expertenturn in Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Stellung. So stellt sich erstmalig das Problem der Weltordnung. Damit ist nicht mehr Erkenntnis einer bestehenden Ordnung gemeint, sondern Planung und Schaffung einer nicht bestehenden Ordnung. Es wird zu fragen sein, ob das überhaupt eine richtige Problemstellung ist: daß etwas, das es noch nicht gibt, geplant und hergestellt werden soll. Gewiß leuchtet ein, daß zwischen den Völkern eine Weltordnung, wie man sie sich wünschte, nicht besteht. Das geht schon daraus hervor, daß heute die Vorstellungen von der richtigen Ordnung so differieren, daß die Resignationsparole der Koexistenz herrschend ist. Aber zugleich enthält diese Parole, die aus dem Gleichgewicht der Nuklearwaffen erwachsen ist, eine Aussage, die den Sinn der Problemstellung selber gefahrdet. Hat die Rede von einer zu schaffenden Weltordnung überhaupt noch Sinn, wenn die Unvereinbarkeit der Vorstellungen von der richtigen Ordnung am Anfang steht? Kann man Planungen am Maßstab der Weltordnung messen, wenn man nicht weiß, zu welchem Ende alle mittleren, vielleicht gar alle überhaupt möglichen Schritte fuhren sollen? Hängt nicht eine jede Planung im Weltrnaßstab davon ab, daß eine bestimmte gemeinsame Zielvorstellung besteht? Es gibt gewiß ermutigende Teilbereiche, z. B. auf dem Gebiete der Weltgesundheit, des Weltverkehrs, viel-
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leicht auch der Welternährung. Aber läßt sich auf diesem Wege derart fortschreiten und der Bereich des rational und einheitlich zu Regelnden schrittweise derart erweitern, daß das Ende eine durchgängig geregelte und vernünftig geordnete Welt ist? Dagegen spricht, daß der Begriff der Weltordnung notwendig eine inhaltliche Differenzierung annimmt, je nach dem Ordnungsgesichtspunkt, der dabei leitend ist. Methodisch wird das klar, wenn man zu einem solchen Begriff seinen möglichen Gegensatz hinzudenkt. Es liegt in der Natur der Sache, daß unsere Vorstellungen vom Rechten, vom Guten usw. weit weniger genau und bestimmt sind wie die vom Unrechten, vom Schlechten usw. Das Negative bzw. Privativc hat offenbar den Vorzug, daß es als das zu Verneinende und zu Beseitigende unserem Veränderungswillen von sich aus sich aufdrängt und sich dadurch Profil gibt. So ist der Begriff der Unordnung, um deren Behebung es gehen 5011, jeweils leichter zu bestimmten und ergibt einen differenzierteren Sinn von Ordnung per contrarium. Aber ist die Übertragung von Teilbereichen, in denen Unordnung herrscht und Ordnung entstehen soll, auf das Ganze der Weltordnung noch legitim? Nehmen wir das Beispiel der ökonomischen Unordnung. Im Bereich der Ökonomie scheint eine rationale Ordnungsvorstellung am leichtesten zu gev.'inncn. Unordnung könnte jeder Zustand heißen, der die ökonomische Rationalität hindert. Nun gibt es gewiß auch unter dem Begriff der allgemeinen Wohlfahrt differente Auffassungen von wcltwirtschaftlicher Ordnung, die nicht in die Vorstellung der Rationalität einer einzigen großen Weltfabrik auflösbar sind. So etwa in der Frage, ob übermäßiger Unternehmergewinn um der allgemeinen Wohlfahrtssteigerung willen in Kauf zu nehmen ist, oder ob man aus sozialpolitischen Gründen eine verstaatlichte und entsprechend bürokratisierte Wirtschaft vorziehen soll, auch wenn sie einen geringeren Wirkungsgrad hat. Aber ist das noch eine rein ökonomische Frage? Offenbar nicht. Eben deshalb, weil hier andere, politische Gesichtspunkte hineinspielen, bleibt der ökonomische Aspekt im Grunde ganz unangetastet. Die steigende Rationalität der weltwirtschaftlichen Kooperation scheint ein echter Maßstab, durch den sich der Sinn von Weltordnung definiert. Trotzdem ist darin eine fragwürdige Voraussetzung enthalten. Das ist die Ablösbarkeit des ökonomischen Gesichtspunktes von dem politischen. Kann man ebenso, wie man von einem Zustand ökonomischer Unordnung und rationaler Weltwirtschaftsordnung sprechen kann, auch den Zustand politischer Unordnung bestimmen, dessen Behebung den Begriff der politischen Ordnung rational faßbar werden ließe? Nun könnte man sagen: Für die Weltpolitik ist in der Vermeidung der globalen Selbstzerstörung ein ebenso eindeutiger Maßstab gegeben, wie es rur die Weltwirtschaft die allgemeine Wohlfahrt ist. Aber ist das eine wirkliche Parallele? Folgen daraus wirklich politische Ordnungsvorstellungen, über die man vernünftige
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Übereinstimmung erzielen kann? Wenn man z. B. sagt, Erhaltung des Friedens sei das Ziel aller Politik, so kann das, solange es sich um konventionelle Kriege handelt, nur sehr begrenzt einleuchten. Denn wörtlich verstanden hieße das: Der Status quo sei die zu erhaltende Weltordnung - eine Folgerung, die zur Zeit unter dem Druck des nuklearen Gleichgewichts tatsächlich weitgehend gilt und den Spielraum möglicher weltpolitischer Veränderungen immer mehr einengt. Aber ist das ein Maßstab rur Politik und ein erstrebenswertes Ideal' Setzt doch Politik die Veränderbarkeit der Zustände voraus. Daß es politische Umgestaltungen gibt, die >richtig< sind und der >richtigen< weltpolitischen Ordnung dienen können, wird doch niemand bestreiten wollen. Aber damit erneuert sich die Frage: Woran mißt sich solche Richtigkeit? An einem politischen Ordnungsbild? Selbst wenn es sich um so vernünftige weltpolitische Ordnungsvortellungen handelt, wie etwa die einer Einigung Europas, wird der Maßstab ganz ungewiß. Wäre ein solches Europa )richtig<, d. h. ein Fortschritt in der Ordnung der Welt, wenn dadurch bestehende weltwirtschaftliche und weltpolitische Verflechtungen gestört und z. B. der Zusammenhalt des Commonwealth gesprengt würde? Entstünde dann mehr Ordnung oder mehr Unordnung? Man kann die Frage grundsätzlicher formulieren. Läßt sich eine bestimmte politische Ordnungsvorstellung ausdenken, die nicht notwendig Gegenvorstellungen hervortreibt? Lassen sich politische Ordnungsvorstellungen ausdenken, die nicht der einen oder der anderen der bestehenden politischen Mächte Chancen verheißen und zwar der einen nur dann verheißen, wenn sie der anderen abträglich sind? Soll man sagen, daß das Bestehen solcher Gegensätze der Machtinteressen Unordnung ist? Macht es nicht vielmehr das Wesen der politischen Ordnung aus? Eher könnte es schon etwas Einleuchtendes haben, das Vorhandensein unterentwickelter Länder als Unordnung anzusehen. Die Bestrebung, diese Unordnung zu beseitigen, nennen wir bekanntlich Entwicklungspolitik. Dazu gibt es sofort vernünftige Sachfragen, z. B. bevälkerungspolitischer und emährungspolitischer Art. Es wird einleuchten, daß jeder Überdruck der Bevölkerungsvermehrung als Unordnung anzusehen ist oder auf der anderen Seite die Vergeudung von Nahrungsmitteln, die Nichtausnutzung von Bodenschätzen, die Zerstörung von Nahrungsquellen usw. Aber alle solche partikularen Ordnungsvorstellungen sind in die Weltpolitik verwoben, und in ihr sind so mannigfaltige Gesichtspunkte bestimmend, daß es hoffnungslos scheint, eine politische Ordnungsvorstellung allgemein einleuchtend zu machen. Auch besteht kein vernünftiger Grund zu meinen, daß die Erweiterung der Bereiche, in denen rationale Planung und Ordnung gelingt, uns auch der vernünftigen politischen Weltordnung näherbringen muß. Man wird mit ebenso viel Recht den umgekehrten Schluß ziehen können und die steigende
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GeHihrlichkcit zugeben müssen, die die Ausnutzung rationaler Zusammenhänge zu unvernünftigen Zwecken darstellen würde, etwa nach dem Muster: )}Lieber Kanonen als Butter«. Und noch grundsätzlicher wird man sich fragen müssen, ob nicht gerade die Verwissenschaftlichung unserer Wirtschaft und unseres Soziallebens - man denke etwa an die Meinungsfor-
schung und die Strategie der Meinungsbildung - die Unsicherheit über die letzten Zwecke, d. h. über den Inhalt der Weltordnung, die sein soll, wenn nicht gesteigert, so doch bewußt gemacht hat. Indem sie erstmals die Gestaltung unserer Welt im ganzen zum Objekt wissenschaftlich informierten und
gelenkten Planens macht, bewirkt sie in Wahrheit, daß die Unsicherheit des Ordnungsmaßstabs verdeckt bleibt. Ist am Ende die Aufgabe falsch gestellt' Soviel auch wissenschaftlich rationalisiertes Handeln auf unzähligen Teilgebieten ausrichtet - kann man sich die Ordnung der Welt im ganzen über-
haupt als Gegenstand einer solchen rationalen Planung und AusfUhrung denken? Die Frage mag dem Wissenschaftsglauben unseres Zeitalters noch so sehr ins Gesicht schlagen - man muß sie auf dem Hintergrund einer weit allgemeineren Frage sehen, die durch die Entstehung der modernen Wissenschaft
seit dem 17. Jahrhundert gestellt wurden - und ungelöst geblieben ist. Alles Nachdenken über die Ordnungsmöglichkeiten unserer Welt muß von der tiefen Spannung ausgehen, die zwischen der Autorität der Wissenschaft einerseits und den durch Religion, überlieferte Sitte und Brauch geprägten
Lebensformen der Völker auf der anderen Seite besteht. Wir kennen diese Spannung etwa in Gestalt jener, die bei der Berührung alter Kulturen Asiens oder der Lebensformen sogenannter unterentwickelter Länder mit der europäischen Zivilisation entstehen. Sie stellen aber nur einen Spezialfall des
allgemeineren Problems dar. Nicht die Frage scheint mir die dringendste, wie man die abendländische Zivilisation mit fremdartigen Traditionen in fernen Ländern vermitteln und zu einem fruchtbaren Ausgleich bringen kann, sondern wie man auf unserem eigenen Kulturboden die Bedeutung dieses, durch die Wissenschaft ermöglichten, Zivilisationsprozesses einzuschätzen und mit den religiösen und moralischen Traditionen unserer Ge-
sellschaft zu vermitteln hat. Denn das ist in Wahrheit das Problem der Weltordnung, das uns heute beschäftigt. Durch den zivilisatorischen Erfolg der europäischen Wissenschaft ist es überall in der gleichen Grundsätzlich-
keit gestellt worden. Ein Blick auf die Geschichte der letzten Jahrhunderte zeigt aufs deutlichste, daß der neue Wissenschaftsgedanke, der im 17. Jahrhundert seine Verwirklichung begann, die universalen Möglichkeiten, die in ihm liegen, zunächst nur sehr zögernd und schrittweise zu entfalten vermochte. So kann man wohl sagen, daß mit alleiniger Ausnahme der Kernphysik die unsere heutige industrielle Revolution kennzeichnenden Entwicklungen samt und
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sonders auf den wissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts beruhen, das heißt: wissenschaftlich schon damals möglich gewesen wären. Aber selbst das liberale 19. Jahrhundert war in ihrer Ausnutzung zögernd, soweit die hergebrachten christlichen und mora1ischen Normgesichtspunkte entgegenstanden. Ich erinnere an die Widerstände, die der Darwinismus zu überwinden hatte. Heute scheint diese Art von Hemmungen im Abbau begriffen, und damit sind die technischen Möglichkeiten unserer wissenschaftlichen Entdeckungen freigesetzt worden. Der Experte bietet die Möglichkeiten an, die in seiner Wissenschaft liegen; und das öffentliche Bewußtsein ruft, wenn es über die Tunlichkeit des Möglichen entscheiden soll, nach nichts anderem als wiederum nach der Wissenschaft. Auch hier bestätigt die Ausnahme die Regel. Man denke etwa an die in der Erbgenetik aufgetauchten Möglichkeiten der Menschenzüchtung, denen gegenüber ein elementares Zurückschrecken vor den Konsequenzen unüberwunden ist. Nun hat es gewiß genug warnende Stimmen gegeben, die sich seit einem Jahrhundert in Gestalt der pessimistischen Kulturkritik vernehmen Jassen. Sie besitzen jedoch trotz der Resonanz, die sie vor allem in den von Depossedierung bedrohten oder betroffenen Schichten - etwa im Adel, im Großbürgertum und im Bildungsbürgertum - finden, wenig innere Glaubwürdigkeit, weil sie aufs Ganze gesehen ihrerseits auf dem Boden der modemen wissenschaftlichen Zivilisation stehen. Ich erinnere an die denkwürdige Weise, in der einmal Max Weber der romantischen Esoterik Stefan Georges auf den Leib gerückt ist. Das heißt nicht, daß solche Stimmen nicht ihrerseits einen dokumentarischen Wert haben. Was sie bezeugen, ist jedoch nicht, was sie verkünden. Während sie den Verfall der Kultur verkünden, bezeugen sie in Wahrheit eine gewisse Unproportioniertheit zwischen den Werttafeln sinkender Lebenstraditionen und dem sich selbst ständig bestätigenden Wissenschaftsglauben. Die Frage muß weit radikaler gestellt werden. Es scheint mir verhängnisvoll, wenn der moderne Wissenschaftsgedanke seinerseits sich immer nur in seinem eigenen Kreise dreht, d. h. immer nur die Methoden und Möglichkeiten der wissenschaftlichen Beherrschung der Dinge im Auge hat - als ob es jene Unproportioniertheit zwischen dem so erwerb baren Reich der Mittel und Möglichkeiten und den Normen und Zwecken des Lebens gar nicht gäbe. Eben das erscheint als die immanente Tendenz des Wissenschaftsgedankens selber, die Frage nach den Zwecken dureh die steigende Fortschrittstendenz in der Besorgung und >Beherrschung< der Mittel gleichsam überflüssig zu machen und dadurch in die tiefste Unwissenheit zu stürzen. So wird die Frage nach den Ordnungsformen unserer heutigen und der zukünftigen Welt zumeist als eine rein szientifische Frage gestellt: Was können wir alles? Wie können wir die Dinge einrichten? Wie sehen die Grundlagen aus, auf denen wir planen können? Was muß man verändern und
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beachten, damit die Verwaltung unserer Welt eine immer bessere und reibungslosere wird? Die Idee einer perfekt verwalteten Welt scheint das Ideal, dem gerade die fortschrittlichsten Länder ihrer Lebensstimmung wie ihrer politischen Überzeugung nach ganz verschrieben sind. Es ist bezeichnend, daß sich dieses Ideal als ein Ideal der perfekten Verwaltung darstellt, nicht also als ein inhaltlich bestimmtes Ideal der Zukunft, etwa als ein Staat der Gerechtigkeit, wie er der platonischen Staatsutopie zugrunde lag, oder als der Welt-Staat, der durch die Herrschaft eines bestimmten politischen Systems, eines Volkes oder einer Rasse über andere Systeme. Völker und Rassen, gebildet wäre. Im Ideal der Verwaltung liegt vielmehr eine Ordnungsvorstellung, der kein spezifischer Inhalt einwohnt. Nicht, welche Ordnung herrschen soll, sondern daß alles seine Ordnung haben soll, ist das erklärte Ziel aller Verwaltung. Der Idee der Verwaltung gehört daher wesens mäßig das Ideal der Neutralität zu. Was erstrebt wird, ist das gute Funktionieren als ein Selbstwert. Wahrscheinlich ist es nicht einmal eine utopische Hoffnung, daß sich die großen Weltreiche unserer Gegenwart auf dem neutralen Boden eines solchen Verwaltungsideals zu begegnen und auszugleichen vermöchten. Es liegt nahe, von hier aus die Idee der Weltverwaltung als die Ordnungsform der Zukunft anzusehen. In ihr würde dann die Versachlichung der Politik ihre eigentliche Vollendung finden. Ist also das formale Ideal der Weltverwaltung die Erflillung der Idee der Weltordnung? Es ist alles schon einmal dagewesen. Der Kenner der platonischen Dialoge weiß, daß im Zeitalter der sophistischen Aufklärung die Idee des Sachwissens eine ähnliche, universale Funktion erhielt. Sie hieß bei den Griechen Techne, das Wissen um das Herstellbare, das einer eigenen Perfektion fahig ist. Art und Aussehen des zu verfertigenden Gegenstandes bilden den Gesichtspunkt, unter dem der ganze Vorgang steht. Die Wahl der rechten Mittel, die Wahl des richtigen Materials, der kunstgerechte Ablauf der einzelnen Arbeitsphasen, all das läßt sich zu einer idealen Perfektion steigern, die das von Aristoteles zitierte Wort wahr macht: »Die Techne liebt die Tyche und die Tyche liebt die Techne." '" Wer seine Kunst beherrscht, braucht kein Glück. Trotzdem liegt es im Wesen aller Techne, daß sie nicht um ihrer selbst willen da ist und auch nicht um eines zu verfertigenden Gegenstandes willen, der seinerseits um seiner selbst willen da wäre. Was Art und Aussehen des zu verfertigenden Gegenstandes betrifft, so hängt das vielmehr von dem Gebrauch ab, rur den er bestimmt ist. Über diesen Gebrauch ist das Wissen und Können dessen, der den Gebrauchsgegenstand herstellt, selber nicht Herr, weder in dem Sinne, daß das Ding, das cr hergestellt hat, so gebraucht wird, '" [N.E.Z4, 1140a19]
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wie es sachgerecht ist, noch auch in dem viel entscheidenderen Sinne, daß es zu etwas gebraucht wird, das recht ist. Also müßte es ein neues Sachwissen geben, das fUr den rechten Gebrauch der Dinge sorgt, d. h. ftir die Anwendung der Mittel zu den rechten Zwecken. Und da offenbar unsere Gebrauchs welt ein ganzes hierarchisches GefUge solcher Mittel- und Zweckzusammenhänge ist, entsteht wie von selbst die Idee einer obersten Techne, eines Sachwissens, das über den rechten Einsatz allen Sachwissens seinerseits Bescheid weiß, eine Art königliches Sachwissen: die pohtische Techne. Ist eine solche Idee sinnvoll? Der Staatsmann als der Sachkenner aller Sachkenner, die Staatskunst als die oberste Sachkenntnis schlechthin? Gewiß ist das, was da Staat heißt, die griechische Polis und nicht die Welt, aber da das griechische Denken über die Polis immer nur die innere Ordnung der Polis meint und nicht eigentlich das, was wir die große Politik der zwischenstaatlichen Beziehungen nennen, ist das bloß eine Frage des Maßstabes. Die perfekt verwaltete Welt entspricht genau der idealen Polis. Indessen - die Frage ist, ob die Sachkenntnis aller Sachkenntnisse, die von Plato als die politische Kunst gekennzeichnet wird, mehr ist als ein kritisches Gegenbild zu der kenntnislosen Betriebsamkeit derer, die nach Plato das Verderben seiner Vaterstadt zu verantworten haben. Erfullt das Ideal der Techne, des lehr- und lernbaren Sachwissens, überhaupt die Forderung, die an die politische Existenz des Menschen gestellt ist? Es ist hier nicht der Ort, über die Reichweite und die Grenzen des Gedankens der Techne in der platonischen Philosophie zu sprechen, ganz zu schweigen von der anderen Frage, wieweit etwa Platos eigene Philosophie bestimmten politischen Idealen folgt, die nicht die unsrigen sein können. Aber zur Verdeutlichung des aktuellen Problems kann die Erinnerung an ihn dennoch dienen. Er lehrt uns den Zweifel daran, daß die Steigerung menschlicher Wissenschaft jemals das Ganze seiner eigenen gesellschaftlichen und staatlichen Existenz erfassen und regulieren kann. Man darf hier an den cartesianischen Gegensatz von res cogitans und res extensa erinnern, der bei aller möglichen Modifikation die Grundproblematikjeglicher Anwendung von ,Wissenschaft( auf,Selbstbewußtsein< richtig vermessen hat. Erst mit der Anwendung der neuen Wissenschaft auf die Gesellschaft, die der Descartes der )provisorischen Moral~ nur erst als ein fernes Ziel vor Augen sah, hat freilich diese Problematik ihren vollen Ernst erhalten. Kants Rede von dem Menschen als dem }Bürger zweier Welten< gibt dem angemessenen Ausdruck. Daß der Mensch im ganzen seiner Existenz derart Objekt zu werden vermöchte, daß einer ihn herzustellen wüßte, in allen seinen gesellschaftlichen Lebensbezügen, daß es also einen Sachverständigen geben könnte, der nicht }er< selbst ist, der }ihn< aber ebenso wie auch alle anderen >verwaltet<, und daß dieser Sachverständige seinerseits wieder mit seinem eigenen Verwalten mitverwaltet würde, das fUhrt in offenkundige Verwicklungen, die die Idee jenes platonischen Sach-
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wissens als ein ironisches Zerrbild erscheinen lassen, auch wenn dasselbe mit allen Farben einer Erleuchtung, einer Erkenntnis des transzendenten Göttlichen oder Guten illuminiert ist. Selbst wenn man ganz von der Frage der Stellung des Planers einer plan voll-vernünftigen Organisation der Welt und der des vernünftigen Verwalters innerhalb dieser Welt absieht, erweist sich die Verwicklung als
unlösbar, die mit der Idee der Herrschaft der .Wissenschaft, über die konkrete Lebenssituation der Menschen und die in ihr betätigte Vernünftigkeit verbunden ist. Auch hier scheint mir das griechische Denken von höchster Aktualität. Es ist die aristotelische Unterscheidung von Techne und Phroncsis, die diese Verwicklung durchreflektiert. Das praktische Wissen, das das Tunliehe in der konkreten Lebenssituation erkennt, hat seine Perfektion nicht in derselben Weise wie das Sachwissen die seinige in der Techne hat.
Während Techne lehr bar und erlernbar ist und ihre Leistung offenkundig davon unabhängig ist, was einer, moralisch oder politisch gesehen, ftir ein
Mann ist, gilt fur das Wissen und die Vernunft, die die praktische Lebenssituation des Menschen erhellen und leiten, genau das Gegenteil. Sicher gibt es auch hier in gewissen Grenzen so etwas wie Anwendung eines allgemeinen Wissens auf einen konkreten Fall. Was wir unter Menschenkenntnis, unter
politischer Erfahrung, unter geschäftlicher Klugheit verstehen, enthält - in freilich einigermaßen ungenauen Analogieschlüssen - ein Element des Allgemeinwissens und seiner Anwendung. Wäre das nicht so, dann gäbe es
dafür überhaupt kein Lehren und Lernen. Dann wäre auch das philosophische Wissen nicht möglich, das Aristoteles im Entwurf seiner Ethik und seiner Politik entwickelt hat. Gleichwohl handelt es sich hier nirgends um das logische Verhältnis von Gesetz und Fall und damit auch nicht um ein der modernen Wissenschaftsidee entsprechendes Berechnen und Vorauswis-
sen von Abläufen. Selbst wenn man den utopischen Gedanken einer Physik der Gesellschaft zugrunde legte, würde man aus der Verwicklung nicht herauskommen, die Plato dadurch aufgezeigt hat, daß er den Staatsmann, und das heißt den politisch Handelnden überhaupt, zu einem obersten Fachmann heraufstilisierte. Ein solches Wissen des, wenn ich ihn so nennen
darf, Physikers der Gesellschaft mag einen Techniker der Gesellschaft möglich machen, der alles Erdenkliche herzustellen wüßte, aber er bliebe einer, der seinerseits nicht wüßte, was man von dem, was er kann, wirklich
herstellen soll. Aristoteles hat diese Verwicklung genau durchdacht und nennt deshalb das praktische Wissen, um das es in den konkreten Situationen geht, »)eine andere Art von Wissen«.!} Es ist kein dumpfer Irrationalismus, dem er damit das Wort redet; sondern es handelt sich um die Helligkeit von
" [N.E.Z9,1!41b33undl142a30]
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Vernunft, die in einem praktisch-politischen Sinne das jeweils Tunliche zu finden weiß. So besteht jede praktische I.ebensentscheidung in einer Abwägung von Möglichkeiten. die zu den gewählten Zielen fUhren. Es ist verständlich, daß die Sozialwissenschaften seit Max Weber auf die Rationalität der Mittelwahl ihre wissenschaftliche Legitimation gegründet haben und heute im Begriff stehen. immer mehr Bereiche. die ehedem >politischer< Entscheidung unterstanden, zu versachlichen. Aber wenn schon Max Weber das Pathos seiner wertfreien Soziologie mit einem nicht minder pathetischen Bekenntnis zu dem >Gott<, den ein jeder wählen müsse, verband - ist die Abstraktion eigentlich zulässig, nach der es unsje erlaubt wäre, von feststehenden Zwecken auszugehen? Wenn ja, dann käme es nur noch aufFachwissen an und wir gingen herrlichen Zeiten entgegen. Denn die Aussicht auf Verständigung zwischen Fachleuten ist sehr viel größer als zwischen Staatsmännern. Man ist sogar versucht, fur das Scheitern der Verständigung bei internationalen Verhandlungen in den sogenannten Expertengremien die politischen Direktiven der Regierungen verantwortlich zu machen. Es fragt sich, ob das zutrifft. Zwar gibt es partikulare Bereiche, in denen es eine Frage der reinen Zweckrationalität ist, wie zu prozedieren ist. Hier scheint die Einigung zwischen Sachverständigen leicht. Aber welches Maß von Selbstkontrolle gehört nicht schon dazu, um auch nur im Falle des Gerichtsgutachtens die Aussage des Gutachters auf das zu beschränken, was er wissenschaftlich wirklich verantworten kann. Und vermutlich ist der in diesem Sinne ideale Gutachter im forensischen Zusammenhang an der Grenze der Unbrauchbarkeit. Denn die Notwendigkeit zu entscheiden, die fUr das Gericht besteht. zwingt immer wieder, mit Feststellungen zu arbeiten, deren Unumstößlichkeit keineswegs gesichert ist. Nicht nur Indizienbeweise sind ungewiß. Je stärker nun der Inbegriff herrschender gesellschaftlicher oder politischer Vorurteile ins Spiel kommt, desto fiktiver erscheint der reine Experte und damit der Begriff der wissenschaftlich gesicherten Zweckrationalität. Es dürfte ftir den ganzen Bereich der modernen Sozialwissenschaften zutreffen, daß sie Mittel-Zweck-Zusammenhänge nicht beherrsch bar zu machen vermögen, ohne zugleich die Bevorzugung bestimmter Zwecke zu implizieren. Würde man den inneren Bedingungen dieser Implikationen auf den Grund kommen, so würde sich am Ende der Widerspruch zwischen der zeitlosen Wahrheit, die die Wissenschaft sucht, und der zeitlichen Verfassung derer, die von der Wissenschaft Gebrauch machen, ergeben. Was tunlieh ist, ist eben nicht einfach das, was möglich ist oder innerhalb dessen, was möglich ist, ein schlechthin Vorteilhaftestes. Vielmehr bemißt sich jeder mögliche Vorteil und Vorzug, der dem einen vor dem anderen gegeben wird, an einem bestimmten Maß, das man sich setzt bzw. das einem gesetzt ist. Es ist der Inbegriff des in der Gesellschaft Gültigen, der Normen, die, in sittlichen und politischen Überzeugungen ausgeprägt, alle
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Erziehung und Selbsterziehung, auch die zur wissenschaftlichen Objektivität, leiten.
Das soll natürlich nicht sagen, es gebe kein anderes sittliches oder politisches Ideal als das der Anpassung an die jeweils bestehende Gesellschaftsordnung und ihre Maßstäbe. Das hieße vielmehr abermals einer verkehrten Abstraktion verfallen. Die gültigen Maße sind nicht nur die von den anderen - oder gar vOn den Vätern - gesetzten, die man anzuwenden hätte wie das
Gesetz auf einen Fall. Vielmehr ist jede konkrete Entscheidung des einzelnen ihrerseits mitbestimmend für das im ganzen Gültige. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sogenannten sprachlichen Rich-
tigkeit. Auch da gibt es eine unbestrittene Allgemeinheit des Gültigen, die sogar eine gewisse Kodifizierung verträgt. Beispielsweise der Sprachunterricht auf den Schulen ist mit einer inneren Notwendigkeit von der Schulmei-
sterei beherrscht, die solche kodifizierten Regeln aufnötigt. Gleichwohl lebt die Sprache, und sie lebt nicht durch die starre Anwendung von Regeln, sondern durch die beständige Weiterbildung des Sprachgebrauchs, also zuletzt durch das Tun eines jeden einzelnen.
In der Philosophie unseres Jahrhunderts sind einige dieser Wahrheiten durch die heute so gern geschmähte Existenzphilosophie vertreten worden.
Insbesondere hat der Begriff der Situation bei der Abkehr vom wissenschaftlichen Methodologismus der neukantianischen Schule eine große Rolle gespielt. In der Tat liegt in diesem Begriff, wie ihn vor allem Karl Jaspers analysiert hat, ein logisches Motiv, dessen Komplexion die einfache Rela-
tion von Allgemeinem und Besonderem bzw. Gesetz und Fall übertrifft. Sich in einer Situation befinden, enthält immer ein fur die vergegenständlichende Erkenntnis unerreichbares Moment. Nicht umsonst gebraucht man in solchem Zusammenhang metaphorische Wendungen wie die, daß man sich in die Situation versetzen muß, sc. um über die allgemeine Auskenntnis
hinaus das wirklich Tunliehe und Mögliche zu erkennen. Situation hat eben nicht den Charakter des bloßen Gegenüber, so daß die Kenntnis der objektiven Gegebenheiten genügte, um Bescheid zu wissen. Auch eine zureichende Kenntnis aller objektiven Gegebenheiten, wie sie die Wissenschaft bereitstellt, vermag nicht die Perspektivität zu antizipieren, die sich vom Standort
des Situations gebundenen her ergibt. Das Ergebnis dieser Überlegungen scheint zu sein, daß die altherge brachte Vorstellung des Machens und des Herstellens ein falsches Erkcnntismodell darstellt. Die Spannung zwischen dem Wissen rur jedermann, wie es mit
dem Begriff der lehrbaren Wissenschaft (bzw. Techne) verknüpft ist, und dem Wissen um das praktisch Beste rur einen selbst ist an sich alt, aber es ist kein Zufall, daß sie vor der Entstehung der modernen Wissenschaft nicht zu einer wirklichen Antinomie zugespitzt worden ist. Bei Aristotelcs etwa scheint das Verhältnis zwischen politischer Kunst und politischem Sinn
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(Techne bzw. Phronesis) ohne eigentliche Problematik. Wo es lernbares Wissen gibt, hat man es zu lernen. Aber das sind immer nur Teilbereiche des Wissens und Könnens, die die Sphäre des sittlichen und politischen Handelns niemals auszufullen vermögen. Das Gesamtwissen, in das sich alle Formen menschlichen Wissens einfUgen, gibt auch aller Techne ihr Maß. Sie bleibt in einem grundsätzlichen Sinne die Ausfrillung von Lücken, die die Natur frir menschliche Arbeit freigelassen hat, und bleibt damit stets nur eine Ergänzung unseres Wissens. Heute dagegen läßt die großartige Abstraktion, mit der das Methodenideal der modernen Wissenschaft seinen Gegenstand isoliert und umgrenzt, zwischen dem sich beständig überholenden Wissen der Wissenschaft und der unwiderruflichen Endgültigkeit aller wirklichen Entscheidungen, mithin zwischen dem Fachmann und dem Politiker eine qualitative Differenz aufbrechen. Jedenfalls scheint es an einem vernünftigen Moden dessen zu fehlen, was das Wissen des Staatsmannes ausmacht. Max Webers donquichottehafte Zuspitzung des Unterschiedes zwischen wertfreier Wissenschaft und weltanschaulicher Entscheidung macht dieses Fehlen offenkundig. Das Ideal des Herstellens, das dem Konstruktionsgedanken der modernen Wissenschaft zugrunde liegt, fuhrt hier in eine Aporie. Vielleicht könnte es diese Lücke schließen, wenn man an die Stelle des Modells des Machens das alte Modell des Steuerns setzt. Denn Steuern ist nicht Machen - eher ein Sich-Anpassen an Gegebenheiten. Es sind darin offenbar zwei Momente in inniger Einheit verknüpft, die das Wesen des Steuerns ausmachen: die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts, das in einem genau umgrenzten Spielraum schwankt, und die Lenkung, d. h. die Bestimmung einer Richtung der Fortbewegung, die unter Wahrung dieses schwankenden Gleichgewichts möglich ist. Es leuchtet ein, daß sich all unser Planen und Tun innerhalb einer labilen Gleichgewichtslage vollzieht, die unsere Lebensbedingungen darstellen. Diese Vorstellung des Gleichgewichts ist nicht nur eine der ältesten politischen Ordnungsvorstellungen, von der aus sich der Freiheitsgrad des Handelnden begrenzt und bestimmt. Gleichgewicht ist eine Grundbestimmung des Lebens überhaupt, an die alle unbestimmten, noch nicht festgelegten Möglichkeiten des Lebendigen zurückgebunden bleiben. Der Mensch der technischen und wissenschaftlichen Zivilisation kann sich so wenig daraus befreien wie nur je ein Lebendiges. Ja, man darf darin sogar die eigentliche Bedingung seiner Freiheit sehen. Nur dort, wo sich Kräfte das Gleichgewicht halten, kann der Faktor menschlichen Wollens und Wirkens überhaupt ins Gewicht fallen. Wir kennen das von jeher aus der Politik. Handlungsfreiheit gewinnen, setzt Schaffung einer Gleichgewichtslage voraus. Aber auch in der modernen Naturwissenschaft kennen wir Ähnliches. Immer mehr ist man den Reglersystemen auf der Spur und bleibt dabei weit von dem naiven Glauben entfernt, solche Systeme der Selbstkorrektur des Lebendigen mit unseren groben Mitteln darstel-
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len zu können. Und doch macht all unsere Forschung, soweit sie Erkenntnisse vermittelt, gerade das möglich, auf immer sachgerechtere Weise in den natürlichen Ablauf mit künstlichen Mitteln einzugreifen. So gewinnt das Erkenntnismodell des Steuerns gegenüber dem Planen und Machen zunehmend größeres Gewicht. Indessen, auch dieses Modell darf nicht verdecken, welche Voraussetzungen - welches Wissen um Ziel und um Richtung allem Steuern vorgegeben sind. Plato hat gerade am Können des Steuermanns die Grenze alles Könnens markiert. Er bringt seine Passagiere gut an Land- aber ob es fUr sie gut ist anzukommen, darüber kann er nichts wissen. Den Steuermann des Agamemnon mägen nach dem Mord an seinem Herrn Zweifel überkommen haben. Vielleicht gibt es kein Beispiel, das die hier liegenden Probleme besser illustriert, als die ärztliche Situation. Hier wird der Konflikt zwischen der Wissenschaft und der Konkretion des ärztlichen Helfens in der Einheit eines beruflichen Tuns erfahren. Daß sich analoge Verwicklungen überall zeigen, wo ein auf wissenschaftlicher Ausbildung beruhender Beruf die Vermittlung zwischen Lebenspraxis und Wissenschaft zu leisten hat, so beim Juristen, beim Seelsorger, beim Lehrer, versteht sich von selber. Aber der Fall der Medizin hat doch einen besonderen Modellcharakter. Hier sind es die modemen Naturwissenschaften in der ganzen Fülle und Großartigkeit ihrer Möglichkeiten, die unmittelbar mit der ärztlichen Grundsituation des Helfens und Heilens, wie sie von jeher dem Medizinmann zufiel, in Konflikt geraten. Dieser Konflikt übertrifft auf eine radikale Weise die Fragwürdigkeit, die seit alters der ärztlichen Wissenschaft anhaftet. An sich ist es ein uraltes Problem der Medizin, wie weit sie sich als )Wissenschaft(, natürlich als eine praktische Wissenschaft, eine Techne, d. h. ein Herstellenkönnen, verstehen läßt. Denn während jedes andere praktische Wissen, das etwas herzustellen weiß, an seinem Werk den Beweis seines Wissens findet, ist das Werk der Medizin von einer unaufhebbaren Zweideutigkeit. Wie weit die Maßnahmen des Arztes ftir die Wiederherstellung der Gesundheit hilfreich waren, oder ob die Natur sich selber geholfen hat, kann im Einzelfalle unentscheidbar sein, und damit ist die ganze Heilkunst - sehr im Unterschiedezu anderen Technai -von altershereiner besonderen Apologie bedürftig. 12 Es gehört wohl zur Struktur dessen, was man Gesundheit nennt, daß es sich dabei nicht um ein wohlumgrenztes Ding handelt, sondern um einen Zustand, der von jeher durch den Begriff des Gleichgewichtes charakterisiert worden ist. Zum Begriff des Gleichgewichtes gehört aber, daß es in 12 [Über dieses Problem vgl. vom Verfasser: >Apologie der HeilkullSt(, Kl. Sehr. I, S. 211-219,jetztin Gcs. WerkeBd. 4, sowie)Theorie, Technik, Praxis<, Vorwortzu>Neue Anthropologie<, hrsg. von H.-G. Gadamer und P. Vogler, Stuttgart 1972ff., Bd. I, S. IX- XXXVI, jetzt in Ges. Werke Bd. 4]
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gewissem Umfange Schwankungen ausgesetzt ist, die sich selbst ausgleichen, und daß erst bei Überschreitung der zulässigen Schwankungs breite das Gleichgewicht ganz verloren geht und durch eine neue Anstrengung mühsam wieder errichtet werden muß - falls das noch möglich ist. Daher bedeutet die gelingende Wiederherstellung nichts anderes als die WiederherbeifUhrung eines schwankenden Gleichgewichts. Das setzt dem >Eingriff< ein besonderes Maß. Er greift ja von außen in ein System ein, das in sich balanciert und sich selbst reguliert. Jeder Eingriff. der eine Störung in diesem Gleichgewicht beseitigen soll, ist daher in Gefahr, andere Gleichgewichtsbedingungen ungewollt zu verändern. Und diese Gefahr wächst, je gräßer die Möglichkeiten der Wissenschaft werden. Um es allgemeiner auszudrücken: Hier besteht eine wesenhafte Spannung zwischen den isolierbaren Zusammenhängen von Wissen und Machen, die durch die naturwissenschaftliche Kausalanalyse erarbeitet werden, und der individuellen Organisation, die, wie Kant gezeigt hat, unter teleologischen Gesichtspunkten allein verstanden werden kann. Insofern ragt die moderne Medizin in die allgemeine Problematik hinein, die in der wissenschaftlichen Biologie von heute ausgetragen wird. Die Fortschritte, die gerade auf diesem Gebiete, insbesondere durch die sogenannte Informationstheorie und die Kybernetik, erzielt worden sind, haben das Kant ganz unerreichbar erscheinende Ideal eines Newton des Grashalms viel von der Eindeutigkeit einer utopischen Idee verlieren lassen. Gleichwohl ist damit in keiner Weise etwas über die Frage der morphologischen Methoden entschieden. Vielmehr ist es nicht einmal einzusehen, warum morphologische Methoden sich nicht aufs beste mit kausalanalytischen vertragen sollen. Auch die sogenannte Verhaltensforschung macht doch bereits methodische Voraussetzungen eigener Art, wenn sie das Verhalten beobachtet, das offenbar nicht als ein mechanischer UrsacheWirkungs-Zusammenhang angesehen werden kann - ohne daß deswegen eine solche Erklärung desselben bereits irgendeinen Widerspruch implizierte. Selbst wenn es einmal gelungen sein sollte, lebendige Organismen in der Retorte herzustellen, wird es nicht sinnlos bleiben, das Verhalten der so hergestellten Organismen zu studieren. Der Gedanke der Wissenschaft läßt beide Methoden zu und ordnet sie dem gleichen Ziele unter, einen Erfahrungsbereich wissenschaftlich zu erkennen und entsprechend verfugbar zu machen. VerfUgbarmachen beschränkt sich eben keineswegs auf das bloße Herstellenkönnen. Es gehört dazu ebenso das Voraussehenkönnen von Abläufen, die man nicht in der Hand hat, wie z. B. das Verhalten von Lebewesen in bestimmten Lagen. Unser Problem ist also keineswegs das dieses Methodendualismus, sondern betrifft die spezifische Problematik der Medizin, die, wie ich glaube, geradezu ein Modellfall fUr das Thema der Ordnung der modernen Welt durch die Wissenschaft ist. Die ungeheuren Fortschritte, die für die Meiste-
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rung der eigentlich kritischen Situationen menschlicher Krankheit von der modernen Medizin erreicht worden sind, lassen problematische Verwicklungen entstehen, von denen sich die Verschworenen des hippokratischen
Eides am Ende einmal werden Rechenschaft geben müssen. Es geht doch offenkundig nicht nur darum, daß die praktische Notwendigkeit des Helfens und Heilens das Modell der technischen Anwendung von Wissenschaft als zu partikular erweist. Gewiß ist es so, daß es auch der Stand unseres Wissens ist,
d. h. seine Begrenztheit, was am Ende den Arzt nötigt, dem Fingerspitzengeftihl oder der Intuition zu vertrauen und, wo dieselben nicht ausreichen, dem bloßen Herumprobieren. Indessen, es schiene mir kein Widerspruch, sich eine perfekte Biologie zu denken, die auch der Medizin zu einer wissenschaftlichen Perfektion verhülfe, wie wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen
können. Aber gerade dann würden, meine ich, die Verwicklungen deutlich, die wir in Ansätzen schon heute gewahren. Ich denke z. B. an die Sterbensver-
längerung, die durch die heutige medizinische Technik praktiziert wird. Die Einheit der Person, die als der Kranke zu dem helfenden Arzt ein echtes Gegenüber bildet, hat dabei gleichsam keinen Ort mehr. Ähnliches wurde schon oben ftir die erbbiologischen Züchtungs möglichkeiten angedeutet. Es scheint, daß die Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens den Konflikt unausweichlich macht, der zwischen der Naturwissenschaft in
ihren höchsten Möglichkeiten und dem menschlichen Selbstverständnis besteht. Hier mag nun, jenseits von Machen - d. h. Herstellen auf Grund eines
Entwurfs - und Steuern - d. h. Wiederherstellen von Gleichgewicht und Festhalten einer Richtung unter beständig neuen Bedingungen - eine Verhaltensweise wichtig werden, die der Grenze allen Verftigungswillens Rechnung trägt und die Aristoteles folgerichtig nicht zur Techne rechnet: das Mit-sichzu-Rate-Gehen, das der einzelne (oder auch die Gruppe) angesichts der Entscheidung fordernden Situation anstellt. Da geht es nicht mehr um das Wissen des Fachmannes, der als der Wissende den anderen gegenübertritt, sondern um ein Wissen, das man braucht und das einem keine Wissenschaft
liefert. Man findet sich verschiedenen Möglichkeiten, die sich anbieten, gegenüber und erwägt hin und her, welches die richtige ist. Ein Wissen, das allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, steht nicht zur Verftigung. So bedarfes der Beratung, die eine ganz andere Gemeinsamkeit einschließt als die des Allgemeingültigen. Sie läßt den anderen zu Worte kommen und sich gegenüber dem andern. Sie kann daher nicht im Stile der Wissenschaft bis zu Ende versachlicht werden. Denn es handelt sich nicht nur um das Finden des richtigen Mittels zu einem feststehenden Zweck, sondern vor allem um die Vorstellung von dem, was sein soll und was nicht - was recht und was nicht recht ist. Das ist es, "\vas sich im Sich-Beraten über das Tunliehe auf unausdrückliehe Weise als ein wahrhaft Gemeinsames herausbildet. Am Ende
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solcher Beratung steht nicht die Ausftihrung eines Werks oder die Herbeiführung eines erstrebten Zustandes allein, sondern eine Solidarität, die alle eint. Wenden wir diese Überlegungen auf die Situation der modernen Welt und die Aufgaben, die wir sehen, an. Es war von etwas anderem die Rede als VOn der wissenschaftlichen Bewältigung der planetarischen politischen Ordnungsaufgaben, vor denen wir stehen. Daß die Wissenschaft auch dafür noch eine gewaltige Zukunft hat, sei ausdrücklich hervorgehoben; auch wenn es durchaus nicht ausgemacht ist, daß die abendländische Zivilisation sich widerstandslos ausbreitet und alle anderen menschlichen Ordnungsformen schließlich verdrängt oder erstickt. Aber gerade das ist das Problem. Die Produktion eines einheitlichen technischen Zivilisationsmenschen, der sich einer entsprechend einheitlichen Zivilisationssprache bedienen lerntund das Englische ist ja auf gutem Wege, diese Rolle zu übernehmen -, könnte gewiß das Ideal einer wissenschaftlichen Weltverwaltung erleichtern. Aber die eigentliche Frage ist, ob ein solches Ideal wirklich gewollt werden kann. Wir können es vielleicht an sprachlichen Vorgängen schon ablesen, wie sich der zivilisatorische Ausglcichsprozeß auf unserem Planeten auswirken muß. Das Zeichensystem, das die Bedienung eines technischen Apparates verlangt und ermöglicht, entwickelt eine eigentümliche Dialektik. Es hört auf, ein bloßes Mittel zur Erreichung der technischen Zwecke zu sein. Es schließt nämlich die Zwecke aus, die sich mit seinen Mitteln nicht anzeigen und mitteilen lassen. Das perfekte Funktionieren der internationalen Verkehrssprache z. B. beruht auf der Begrenztheit des darin Mitteilbaren überhaupt. Die logisch-erkenntnistheoretische Perfektionierung einer allgemeinen Wissenschaftssprache, wie sie etwa den Bemühungen um unity of sdence obliegt, würde genau das gleiche Gesicht tragen. Ihrer Perfektion könnte es gelingen, alle Ungenauigkeiten und Vieldeutigkeiten, die die zwischenmenschliche Verständigung bedrängen, zu eliminieren. Man brauchte deswegen nicht einmal zu einer Zukunfts weltsprache zu streben. Es würde genügen, daß die lebendigen Volkssprachen gleichsam in ein System von Transformationsgleichungen eingegliedert würden, so daß eine ideale Übersetzungsmaschine die Eindeutigkeit der Verständigung garantierte. Das wäre alles möglich und liegt vielleicht nicht einmal so fern. Aber auch hier wäre es unvermeidlich, daß sich dieses universale Mittel in den universalen Zweck verkehrte. Es wäre damit nicht eigentlich ein Mittel gewonnen, alles Erdenkliche sagen und einander mitteilen zu können, sondern es wäre ein Mittel gewonnen, das garantierte, daß nur das in die Programmierung Aufgenommene und Mitgeteilte überhaupt noch gedacht wird. Am Ende stehen wir in dieser Entwicklung schon mitten darin. Das unheimliche Phänomen der Sprachregclung, das durch die Verbreitung der modernen Massenmedien eine neue Gangart angenommen hat, zeigt bereits
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deutlich die Dialektik von Mittel und Zweck, die hier besteht. Vorläufig tritt das erst noch in der Profilierung von Fronten zutage. Was in dem einen Teil der Welt Demokratie oder Freiheit heißt, erscheint als eine Sprachregelung, die vom anderen Teil der Welt als eine bloße Manipulation der Meinungsbildung und der Massendomestikation denunziert \\rird. Aber das ist nur ein Ausdruck der Unvollkommenheit dieses Systems. Die Sprachregelung, die alle erfaßt hat, hat sich selbst zum Zweck erhoben und sich damit ins Unmerkliche geborgen. Man muß sich solche extremen Vorstellungen vor Augen halten, um einzusehen, \\'as es bedeutet, daß in aller ursprünglichen menschlichen Wclterfahrung unaufhebbare Bedingungen liegen, die uns alle schon vorgängig bestimmen. Daß die Sprache, in die wir hineinwachsen, wenn wir aufwachsen, mehr ist als ein Zeichensystem, das der Beherrschung eines Zivilisationsapparates dient, meint nicht irgendeine romantische Vergötzung der Muttersprache. Vielmehr liegt in jeder Sprache eine Tendenz zur Schematisierung. Die Wc1tauslegurig durch die Sprache nimmt beim Erlernen der Sprache immer zugleich den Charakter der Sprach regelung an. Mit dem Wort wird die Sache zurechtgelegt. Das geniale Sprachalter des Zwei- oder Dreijährigen wird durch den kommunikativen Zwang der Umwelt beendet. DeIllloch scheint es mir ein Unterschied zu jedem künstlich gestifteten Zeichensystem, daß sich das Leben der Sprache nicht abgelöst von den lebendigen Überlieferungen vollzieht und weitervollzieht, in denen eine historische Menschheit steht. Das sichert allem Sprachlcben eine innere Unendlichkeit, die sich nicht zuletzt darin bewährt, daß der Mensch beim Erlernen fremder Sprachen in fremde Weltauslegungen einzutreten vermag und Reichtum und Armut des Eigenen am Fremden erfahrt. Auch dies ist ein Ausdruck der unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen. Jeder einzelne muß sprechen lernen und wird darin seine Geschichte haben und sie selbst in der extremsten Vollendung des Maschinenzeitalters nicht loswerden. Das Zeitalter der post-histoire, in das wir hineingehen, wird daran seine Begrenzung finden. Worauf wir hier verv.,riesen werden, scheint freilich den Maßstäben der modernen Welt nicht recht zu entsprechen. Es mag richtig sein, daß in der Bewußtmachung der Grenzen, die der Anwendung der Wissenschaft gesetzt sind, zugleich ins Bewußtsein tritt, was vor aller Wissenschaft und unabhängig von ihr die Völker trennt und verbindet, wie die Formen von Recht und Sitte, die Inhalte der eigenen Überlieferung, Gesang und Sage und Geschichte, das Zusammenleben prägen. Aber bleibt nicht solche Bewußtmachung stcts auf kleine intellektuelle Gruppen beschränkt, während der technologische Traum unserer Gegenwart das Bewußtsein der Menschheit mehr und mehr einlullt? Indessen - was die Überzeugungen der Menschen prägt und was auf den
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tausend Wegen der direkten und indirekten Erziehung auf sie einwirkt, mag noch so sehr von dem wissenschaftlichen Expertentum geplant, geordnet und geregelt werden - am Ende sind es doch in ihre Traditionen gebundene Menschen, deren Bewußtsein sich umsetzt und fortwirkt. Sie aber werden sich in unserer immer näher zusammenrückenden Welt in steigendem Maße dessen bewußt werden, daß nicht nur ökonomisch-technische Entwicklungsunterschiede die Völker trennen, und nicht nur deren Aufhebung sie verbindet, sondern daß gerade die unaufhebbaren Unterschiede zwischen ihnen, ihre natürlichen und geschichtlich gewordenen, es sind, die uns als Menschen verbinden. Abschließend wird man sich daher die Frage stellen dürfen, was eine Erinnerung dieser Art gegenüber dem übermächtigen Trend der wissenschaftlichen Zivilisation unserer Epoche überhaupt rur eine Bedeutung haben soll. Daß dic beliebte Kritik an der Technik mit allen anderen Arten VOn Kulturkritik die gleiche innere Unaufrichtigkeit teilt, wurde oben schon berührt. Auch wird man von der Bewußtmachung all dessen, was dem technologischen Traum der Gegenwart eine Grenze setzt, nicht eigentlich erwarten, daß es das Schrittgesetz des zivilisatorischen Fortschritts beeinflussen könnte oder sollte. Um so mehr stellt sich die Frage, was solche Bewußtmachung überhaupt leistet, und das ist eine allgemeine Frage, die keine summarische Antwort gestattet. So werden die Möglichkeiten der Beherrschung der Natur dort andere Bedeutung haben und dort eine höhere Einschätzung finden, wo man VOn der Beherrschung der Naturkräfte besonders weit entfernt ist und beständig mit physischer Not, Armut und Krankheit zu kämpfen hat. Die Eliten in dieser Weise zurückstehender Länder werden der wissenschaftlich fundierten Planung ihre volle Kraft schenken - sie werden auch besonders empfindlich sein gegen die retardierenden Wirkungen, die von der religiösen bzw. gesellschaftlichen Tradition dieser Länder ausgehen. Wenn Sachlichkeit des Planens unter allen Umständen ein hohes moralisches Niveau der Selbstkontrolle verlangt, so wird sie unter solchen Umständen mit po1itischer Glaubensfahigkeit und bewußter Ideologiekritik verbunden sein. Umgekehrt wird man in hochentwickelten Ländern zwar niemals der Phantasie des Planers, der die menschliche Wohlfahrt zu steigern verspricht, eine wunschlose Sattheit entgegensetzen. Man wird auch dort Hemmungen des Fortschritts, die in den Besitzverhältnissen oder in den Profitmäglichkeiten liegen, zu bekämpfen haben. Aber je mehr Freiheit von äußerer Not und übermäßiger Arbeit, je mehr Mäßigung des Tempos im Leben der modernen Industriegesellschaft erreichbar scheinen, um so weniger wird man von der wissenschaftlichen Planung der Zukunft allein das Heil erwarten. Es handelt sich dabei nicht nur um Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung der Länder. Es sind auch die Unterschiede zwischen den alten
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Kulturtraditionen, die in einer zusammenrückenden Welt in aller Bewußtsein treten werden. So wird Bewußtmachung der zwischen den Menschen und Völkern bestehenden Unterschiede gerade dann zu einer vordringlichen Forderung, wenn Planung und Fortschritt Beliebiges erreichbar erscheinen lassen. Solche Bewußtmachung ist kaum noch eine Leistung der Wissenschaft, eher schon eine der Wissenschafts kritik. Sie ist vor allem eine Erziehung zur Toleranz. 13 Bewährte Ordnungsvorstellungen staatlichen Zusammenlebens, wie z. B. das Ideal der Demokratie (im westlichen oder im östlichen Sinne), werden in solcher Bewußtmachung ihrer eigenen Voraussetzungen inne. Ökonomischer Fortschritt mag in allen Teilen der Welt gleich wünschbar sein und wird dennoch nicht das gleiche bedeuten. Zum Schluß mag es erlaubt sein, nach der Rolle der Philosophie in der bezeichneten Situation zu fragen. Hat sie in einer Zur Perfektion gelangenden wissenschaftlichen Kultur überhaupt noch eine Funktion? Hier sind gewisse weitverbreitete Tendenzen in der Auffassung und Sclbstauffassung der Philosophie zurückzuweisen. Vom Philosophen eine Art Superwissenschaft zu verlangen, die der Spezialisierung der Einzclwissenschaften den zusammenfassenden Rahmen gäbe - eine AufgabensteIlung, die sich von den klassischen Zeiten der Philosophie herleitet, als sie selber noch die Gesamtwissenschaft war -, ist wissenschaftlicher Dilettantismus. Von ihr das allgemeine Organon einer Logik und Methodenlehre zu erwarten, scheint mir aber nicht minder dilettantisch: Als ob die einzelnen Wissenschaften davon Gewinn hätten und nicht schon längst auf ihre Weise ringsumher von anderen Wissenschaften Methoden und Zeichensysteme übernähmen, wenn sie ihnen von Nutzen scheinen. Eine philosophische Methodenlehre der Wissenschaften ist dazu keil)eswegs nötig. Sie ist gewiß eine legitime Aufgabe der Philosophie. Aber die Frage, was rur eine Funktion die Philosophie als universale Bewußtmachung heute hat, wird von ihr auch nicht beantwortet. Sie setzt vielmehr eine Antwort auf diese Frage bereits voraus. Bewußtmachen dessen, was ist, dazu gehärt gewiß auch Bewußtmachen dessen, was die Wissenschaft ist. Aber ebenso gehört dazu, sich dafur offen zu halten und dessen eingedenk zu sein, daß nicht alles, was ist, Gegenstand der Wissenschaft ist oder sein kann. In der heutigen philosophischen Diskussion gibt es im Grunde zwei Antworten auf die Frage, was Bewußtmachung leisten kann. Die eine Antwort geht davon aus, daß es das Verständnis dessen, was heute wirklich ist, zuzuspitzen und zu radikalisieren gelte. Zu dieser Aufgabe gehört die Zerstörung al1er romantischen Illusionen über die gute alte Zeit und das Eingeständnis, daß sichere Geborgenheit in einer christlich verstandenen Welt nicht mehr existiert. Man kann daraus folgern, es gelte sich einzugestcu rVgl. meine Arbeit >Die Idee der Toleranz, in Ges. Werke Bd. 41
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hen, daß Gott sich vor uns verborgen hat und wir in der Gottesfinsternis leben (Martin Buber), oder auch, daß die Frage nach dem >Sein< in totaler Seinsvergessenheit versinkt, je mehr unsere metaphysische Tradition in der Herrschaft der Wissenschaft sich vollendet (Martin Heidegger). In solcher Weise würde sich das philosophische Denken als eine Art weltlicher Eschatologie verstehen, d. h. eine Art Erwartung der Umkehr begründen, die zwar nicht sagen kann, was sie erwartet, aber indem sie die radikalen Konsequenzen der Gegenwart vorwegnimmt, sich mit der Notwendigkeit der Umkehr durchdringt. Solcher Radikalität, die sich das äußerste Bewußtsein dessen, was ist, zumutet, wird man nachrühmen dürfen, daß sie nicht in jene Kulturkritik verfallt, deren Unaufrichtigkeit darin besteht, das zu genießen, was sie verneint, und die eben damit das Bewußtsein dessen verhindert, was wirklich ist. Aber sieht solcher Radikalismus das, was wirklich ist, selber richtig, wenn er in allem das Nichts sieht? Es gibt noch eine andere mögliche Antwort auf die Frage, was Bewußtmachung leisten kann, und diese scheint mir in vollem Einklang mit unserem Bedürfnis, zu wissen, und alles, was wir wissen können, praktisch werden zu lassen. Könnte es nicht sein, daß der technologische Traum, den unsere Gegenwart hegt, wirklich ein Traum ist? Denn die immer schnellere Abfolge von Veränderungen und Umgestaltungen, die unsere Welt erfUllt, hat tatsächlich, gemessen an den bestandhaften Wirklichkeiten unseres Lebens, etwas Phantomhaftes und Unwirkliches. Bewußtmachung dessen, was ist, könnte gerade dies zum Bewußtsein bringen, wie wenig sich die Dinge ändern, gerade wo alles sich so radikal zu verändern scheint. Daraus folgt keineswegs ein Plädoyer fUr die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung (und Unordnung). Es handelt sich vielmehr um eine Berichtigung unseres Bewußtseins, das wieder lernen könnte, hinter dem, was sich ändert und was man verändern kann und soll, das Unabänderliche und Wirkliche zu gewahren. Der Konservative und der Revolutionär scheinen mir in der gleichen Weise solcher Berichtigung ihres Bewußtseins bedürftig. Die unveränderlichen und bestandhaften Wirklichkeiten - Geburt und Tod, Jugend und Alter, Heimat und Fremde, Bindung und Freiheit - verlangen von jedem Anerkennung. Sie bemessen den Spielraum, innerhalb dessen Menschen planen können, und stecken die Grenzen ftir das, was ihnen gelingen kann. Weltteile und Weltreiche, Revolutionen der Macht und des Denkens, alle Planung und Einrichtung unseres Lebens auf diesem Planeten - und außerhalb seiner -, was immer die Wissenschaft vermag, es wird ein Maß nicht überschreiten können, das vielleicht keiner kennt und das dennoch allem gesetzt ist.
13. Semantik und Hermeneutik 1968
Es scheint mir kein Zufall, daß unter den Forschungsrichtungen des heutigen Philosophierens die Semantik und die Hermeneutik eine besondere Aktualität gewonnen haben. Beidc gehen von der sprachlichen Ausdrucksgestalt unseres Dcnkens aus. Sie überspringen nicht mehr die primäre Gegebenheitsform aller geistigen Erfahrung. Sofern sie es beide mit dem Sprachlichen zu tun haben, besitzen sie offenkundig heide einen Gesichtspunkt von echter Universalität. Denn was ist an der sprachlichen Gegebenheit nicht Zeichen und was ist an ihr nicht ein Moment des Prozesses der Verständigung? Die Semantik scheint das sprachliche Gegebenheitsfeld gleichsam von außen beobachtend zu beschreiben, so daß es sogar möglich gewesen ist, eine Klassifikation der Verhaltensweisen im Umgang mit diesen Zeichen zu entwickeln. Wir verdanken sie dem amerikanischen Forscher Charles Morris. Auf der anderen Seite hat die Hermeneutik den Innenaspekt im Gebrauch dieser Zeichenwelt im Auge, oder besser den inneren Vorgang des Sprechens, der sich von außen gesehen als die In-Gebrauchnahme einer Zeichen welt darsteUt. Beide thematisieren auf ihrem Wege die Totalität des Weltzuganges, den Sprache darstellt. Und beide tun es. indem sie hinter den gegebenen Sprach pluralismus zurückfragen. Es scheint mir das Verdienst der semantischen Analyse, die Totalitätsstruktur von Sprache bewußt gemacht und damit die falschen Ideale der Eindeutigkeit von Zeichen bzw. Symbolen und der logischen Formalisierbarkcit des sprachlichen Ausdrucks zurückgebundcn zu haben. Der hohe Wert semantischer Strukturanalyse beruht nicht zuletzt darauf, daß sie den Schein der Selbigkeit auflöst, den das isolierte Wortzeichen erzeugt, und zwar tut sie das auf verschiedene Weise: sei es in der Form, daß seine Synonyme bewußt gemacht werden, sei es in der noch weit bedeutungsvolleren Gestalt, daß sich der einzelne Wort-Ausdruck überhaupt als unübertragbar und unaustauschbar erweist. Ich nenne diese zweite Leistung deshalb bedeutungsvoller, weil sie auf etwas zurückgeht, was hinter aUer Synonymität steht. Die Mehrheit von Ausdrücken fur dieselben Gedanken, von Wörtern ftir dieselbe Sache mag, unter dem Gesichtspunkt der bloßen
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Bezeichnung und Benennung einer Sache, der Unterscheidung, Gliederung und Differenzierung zugänglich sein, aber je weniger das einzelne Wortzeichen dabei isoliert ist, desto stärker individualisiert sich die Bedeutung des Ausdrucks. Der Begriff der Synonymität löst sich mehr und mehr auf. Am Ende steht offenbar ein semantisches Ideal, das in einem bestimmten Kontext nur einen Ausdruck und keinen anderen als den richtigen, als das treffende Wort anerkennt. Der dichterische Wortgebrauch dürfte hier an der Spitze stehen, und innerhalb desselben scheint sich eine Steigerung dieser Individualisierung aufzutun, die von dem epischen Wortgebrauch über den dramatischen zum lyrischen, zum dichterischen Gebilde des Gedichtes, fUhrt. Das stellt sich in der Tatsache, daß das lyrische Gedicht weitgehend unübersetzbar ist, dar. Das Beispiel eines Gedichtes mag verdeutlichen, was der semantische Aspekt leistet. Es gibt einen Vers von Immermann, wo es heißt: "Die Zähre rinnt«, und jedernlann, der zuerst diesen gewählten Wortgebrauch VOn Zähre statt Träne hört, wird vielleicht stutzen, daß ein so altertümelndes Wort an die Stelle des gewohnten tritt. Und doch ,"vird man im Wägen eines Kontextes dichterischer Art dort, \vo es sich - wie in diesem Falle - um ein wirkliches Gedicht handelt, die Wahl des Dichters schließlich anerkennen. Man wird sehen, daß es ein anderer, ein leise veränderter Sinn ist, der durch das Wort Zähre dem Alltag des Weinens gegenüber herausgehoben wird. Man mag zweifeln. Ist das wirklich eine Sinndifferenz? Ist das nicht bloß ästhetisch bedeutsam, d. h. ist der Unterschied nicht bloß einer der emotionalen oder euphonischen Wertigkeit' Gewiß, es mag sein, daß bei Zähre anderes anklingt als bei Träne. Aber ist nicht doch für den Sinn das eine rur das andere substituierbar? Man muß den Einwand in seiner ganzen Strenge durchdenken. Denn in der Tat ist es schwierig, eine bessere Definition fur das, was der Sinn oder die Bedeutung oder the meaning eines Ausdruckes ist, zu finden, als seine Substituierbarkeit. Wenn ein Ausdruck an die Stelle des anderen tritt, ohne daß sich der Sinn des Ganzen ändert, dann hat auch der Ausdruck selber den gleichen Sinn wie der, den er ersetzt. Nun läßt sich aber bezweifeln, wieweit eine solche Substitutions theorie ftir den Sinn der Rede, der eigentlichen Einheit des sprachlichen Phänomens, wirklich gelten kann. Daß es um die Redeeinheit und nicht um den substituierbaren Einzelausdruck als solchen geht, ist ja unstrittig. Gerade die Überwindung einer wortisolierenden Bedeutungstheorie liegt in den Möglichkeiten der semantischen Analyse. Unter diesem weiteren Aspekt \vird man die Substitutionstheorie, die die Wortbedeutung definieren so11, in ihrer Geltung einzuschränken haben. Die Struktur eines sprachlichen Gebildes ist nicht ohne weiteres von der Korrespondenz und Ersetzbarkeit einzelner Ausdrucke her zu beschreiben. Gewiß gibt es äquivalente Wendungen, aber solche Äquivalenzverhältnisse sind keine unwan-
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delbarcn Zuordnungen, sondern kommen auf und sterben ab, so wie sich der Geist einer Zeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auch in semantischem Wandel spiegelt. Man beobaehte etwa das Hineinwachsen englischer Ausdrücke in das gesellschaftliche Leben unserer Tage. So kann die semantische Analyse die Unterschiede der Zeiten und den Gang der Geschichte gleichsam ablesen und ist insbesondere in der Lage, das Hineinragen einer strukturellen Totalität in eine neue Totalstruktur greifbar zu machen. Ihre deskriptive Präzision erweist die Inkohärenz, die sich bei der Übernahme eines Wortbereichs in neuen Zusammenhängen ergibt - und solche Unstimmigkeit weist oft darauf, daß hier wirklich Neues erkannt wurde. Das gilt auch und insbesondere feir die Logik der Metapher. Die Metapher hält ja so lange den Schein einer Übertragung fest, d. h. die Metapher wirkt wie zurückweisend auf den ursprünglichen Sinnbereich, aus dem sie geschöpft ist und aus dem sie in einen neuen Anwendungsbereich übertragen wurde, als eben dieser Zusammenhang als solcher noch bewußt ist. Erst wenn das Wort in seinem metaphorischen Gebrauch gleichsam eingewurzelt ist und den Rezeptions- und Übertragungscharakter verloren hat, beginnt es seine Bedeutung in neuem Zusammenhang als >eigentliche~ zu entwickeln. So ist es sicherlich eine bloße schulgrammatische Konvention, wenn man gewisse Ausdrücke, die wir in der Sprache gebrauchen, wie etwa das Wort >Blüte(, in ihrer eigentlichen Funktion in der Pflanzenwelt zu Hause erkennt und die Verwendung dieses Wortes etwa ftir ein lebendiges Wesen oder gar feir höhere Lebenseinheiten wie die Gesellschaft oder die Kultur als uneigentlichen und übertragenen Gebrauch ansieht. Der Aufbau eines Vokabulars und seiner Verwendungsregeln bringt eben nur den Grundriß dessen zustande, "vas auf diese Weise durch das ständige Hineinwachsen von Ausdrücken in neue Verwendungsbereiche die Struktur einer Sprache bildet. Damit ist der Semantik eine gewisse Grenze gesetzt. Gewiß kann man von der Idee einer totalen Analyse der semantischen Grundstruktur von Sprache aus alle gegebenen Sprachen als Erscheinungsformen von Sprache überhaupt ansehen. Aber man \vird dabei die beständige Individualisierungstendenz im Sprechen mit der Konventionalitätstendenz, die ebenfalls zu allem Sprechen gehört, in Spannung antreffen. Denn das macht ja offenbar das Leben der Sprache aus, daß man sich zwar niemals allzu weit von der Sprachkonvention entfernen kann. Wer eine Privatsprache spricht, die kein anderer versteht, spricht überhaupt nicht. Aber auf der anderen Seite: Wer nur eine Sprache spricht, deren Konventionalität in der Wort\vahl, in der Syntax, im Stil total geworden ist, verliert die Macht der Anrede und der Evokation, die durch die Individualisierung des sprachlichen Wortschatzes und der sprachlichen Mittel allein erreichbar ist. Ein gutes Beispiel für diesen Vorgang ist die Spannung, die seit jeher zwischen Terminologie und lebendiger Sprache besteht. Das ist ein nicht nur
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dem Forscher, sondern vor allem gerade auch dem bildungs beflissenen Laien wohlbekanntes Phänomen, daß sich die Fachausdrücke wie sperrig erweisen. Es ist so, daß sie eine Art von Sonderumriß besitzen, der sich in das eigentliche Leben der Sprache nicht einfUgen will. Und dennoch ist offenbar gerade dies wesentlich rur solche eindeutig definierten Fachausdrücke, die in lebendiger Kommunikation in das Leben der Sprache eingebettet sind, daß sie ihre durch Eindeutigkeit beengte Aufschlußkraft mit der kommunikativen Kraft des vieldeutig vagen Sprechens anreichern. Die Wissenschaft kann sich gegen solche Verunklärung ihrer eigenen Begriffe gewiß wehren, aber methodische >Reinheit< ist immer nur in partikularem Bereiche ereichbar. Der Zusammenhang von Weltorientierung, der im sprachlichen Weltbezug als solchem liegt, geht ihr voraus. Man denke etwa an den Kraftbegriff der Physik und die Bedeutungstäne, die in dem lebendigen Wort ,Kraft< mitklingen und dem Laien die Erkenntnisse der Wissenschaft bedeutsam machen. Ich habe gelegentlich zeigen können, wie Newtons Leistung auf diese Weise durch Getinger und durch Herder ins allgemeine Bewußtsein integriert wurde. Der Begriff der Kraft wurde von der leb~ndigen Erfahrung von Kraft aus verstanden. Eben damit aber wächst das Begriffswort in die deutsche Sprache ein und wird bis zur Unübersetzbarkeit individualisiert. Oder wer will Goethes: »Im Anfang war die Kraft« in einer anderen Sprache wiedergeben, ohne mit Goethe zu zögern: »Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe«? Sieht man auf die Individualisierungstendenz, die in der lebendigen Sprache als solcher zu Hause ist, dann wird man in der Tat im dichterischen Gebilde die Perfektion dieser Individualisierungstendenz erkennen. Wenn das aber richtig ist, dann wird es fraglich, ob die Substitutionstheorie dem Begriff des Sinnes des sprachlichen Ausdrucks wirklich Genüge tut. Die Unübersetzbarkeit, die im Extremfall das lyrische Gedicht auszeichnet, so daß es überhaupt nicht mehr von einer Sprache in eine andere übertragen werden kann, ohne seine gesamte dichterische Sagkraft einzubüßen, läßt die Idee der Substitution, des Eintretens eines Ausdrucks rur einen anderen, offenkundig scheitern. Das scheint aber auch unabhängig von dem besonderen Phänomen einer hochindividualisierten Dichtungssprache von allgemeiner Bedeutung. Substituierbarkeit widerstreitet, wenn ich recht sehe, dem individualisierenden Moment im Sprach vollzug als solchem. Auch dort, wo wir im Sprechen etwa einen Ausdruck durch einen anderen ersetzen oder neben einen anderen setzen, in der Abundanz der Rhetorik oder in der Selbstkorrektur des Redners, der den besseren Ausdruck nicht sogleich fand, baut sich die Sinnmeinung der Rede im Fortgang der einander ablösenden Ausdrücke auf und nicht im Heraustreten aus dieser fließenden Einmaligkeit. Ein Heraustreten aber ist es, wenn man an die Stelle eines gebrauchten Wortes ein mit ihm sinnidentisches anderes zu setzen unternimmt. Man
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gelangt hier an den Punkt, an dem Semantik sich selbst autbebt und in etwas anderes übergeht. Semantik ist eine Lehre vom Zeichen, insbesondere von den sprachlichen Zeichen. Zeichen aber sind Mittel. Sie \verden nach Belieben in Gebrauch genommen und weggelegt wie alle anderen Mittel menschlicher Tätigkeit auch. )Man beherrscht seine Mittel<, heißt: )man setzt sie zweckentsprechend ein<. So sagen wir gewiß auch, daß man eine Sprache beherrschen muß, \venn man sich in dieser Sprache mitzuteilen unternimmt. Aber das wirkliche Sprechen ist mehr als die Wahl von Mitteln zur Erreichung bestimmter Kommunikationszielc. Die Sprache, die man beherrscht, ist so, daß man in ihr lebt, d. h. das, was man mitteilen möchte, gar nicht anders als in sprachlicher Form ,kennk Daß man seine Worte >wählt<, ist ein kommunikativ erzeugter Anschein oder Effekt, in dem das Sprechen gehemmt ist. >Freies< Sprechen fließt dahin in der selbstvergessenen Hingabe an die Sache, die im Medium der Sprache evoziert wird. Das gilt sogar vom Verstehen schriftlich fixierter Rede, von Texten. Denn auch Texte werden, wenn man sie versteht, in die Sinnbewegung der Rede wieder eingeschmolzen. So taucht hinter dem Untersuchungsfcld, das die sprachliche Verfassung eines Textes als ein Ganzes analysiert und seine semantische Struktur heraushebt, noch eine andere Frage- und Forschungsrichtung auf, eben die hermeneutische. Sie hat ihren Grund darin, daß Sprache immer auch hinter sich selber und hinter die Ausdrücklichkeit, die sie darstellt, zurückweist. Sie geht gleichsam nicht aufin dem, was in ihr ausgesagt ist, \vas in ihr zu Worte kommt. Die hermeneutische Dimension, die sich hier auftut, bedeutet offenbar eine Begrenzung der Objektivierbarkeit dessen, was man denkt und mitteilt, überhaupt. Der sprachliche Ausdruck ist nicht einfach ungenau und verbesserungs bedürftig, sondern bleibt immer und notwendig, gerade wenn er das ist, was er sein kann, hinter dem zurück, was er evoziert und mitteilt. Denn im Sprechen \vird ständig ein in ihn gelegener Sinn impliziert, der nur als hintergründiger Sinn seine Sinnfunktion ausübt, ja der seine Sinnfunktion geradezu verliert, wenn er in die Ausdrücklichkeit gehoben wird. Ich möchte, um das zu verdeutlichen, zwei Formen unterscheiden, in denen sich das Sprechen in dieser Weise hinter sich selbst zurückbewegt: das im Sprechen Ungesagte und doch durch das Sprechen Präsent gemachte, und ferner das durch das Sprechen geradezu Verdeckte. Wenden wir uns zunächst dem trotz seiner Ungesagtheit Gesagten zu. Was sich hier auftut, ist der große Bereich der Okkasionalität alles Redens, die den Sinn der Rede mit ausmacht. Okkasionalität. das heißt Abhängigkeit von der Gelegenheit, in der ein Ausdruck gebraucht wird. Die hermeneutische Analyse vermag zu zeigen, daß solche Abhängigkeit von der Gelegenheit nicht selber eine gelegentliche ist, wie etwa die sogenannten okkasionellen Ausdrücke von dem Typus >Hier< oder )Dies<, die ja offenkundig in ihrer
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semantischen Eigentümlichkeit keinen festen, angebbaren Gehalt besitzen, sondern wie Leerformen einsetzbar sind bzw. in die, wie in Leerformen, wechselnde Inhalte eingesetzt werden können. Die hermeneutische Analyse aber vermag zu zeigen, daß solche Gelegcntlichkeit das Wesen des Sprechens selbst ausmacht. Dennjede Aussage hat nicht einfach einen eindeutigen Sinn in ihrem sprachlichen und logischen Aufbau als solchem, sondern jede Aussage ist motiviert. Eine hinter ihr stehende Frage gibt jeder Aussage erst ihren Sinn. Die hermeneutische Funktion der Frage wiederum schlägt Zurück auf den Aussagesinn von Aussage überhaupt, Antwort zu sein. Ich will hier nicht über die noch ganz im argen liegende Hermeneutik der Frage sprechen. Es gibt sehr viele Arten von Fragen und jedermann weiß, daß die Frage nicht einmal eine syntaktische Auszeichnung zu besitzen braucht, um dennoch ihren Fragesinn voll auszustrahlen. Ich meine den Frageton, durch den ein syntaktisch als Aussagesatz formiertes Redeganzes Fragechrakter Zu erhalten vermag. Ein sehr schönes Beispiel ist aber auch die Umkehrung dessen, nämlich daß etwas, was Fragecharakter hat, Aussagecharakter gewinnt. Das nennen \vir eine rhetorische Frage. Die sogenannte rhetorische Frage ist ja nur der Form nach eine Frage, der Sache nach eine Behauptung. Und wenn wir analysieren, wie hier der Fragecharakter affirmativ und behauptend wird, dann zeigt sich, daß offenbar die rhetorische Frage dadurch affirmativ wird, daß sie die Antwort unterstellt. Sie nimmt gleichsam durch ihre Frage die gemeinsame Antwort vorweg. Die formalste Gestalt, in der sich das Ungesagte im Gesagten selber anzeigt, ist also die Zurück beziehung auf die Frage. Man wird sich zu fragen haben, ob diese Form der Implikation allumfassend ist oder ob sie noch andere Formen solcher Implikation neben sich hat. Gilt sie zum Beispiel auch fur den ganzen großen Bereich von Aussagen, die überhaupt nicht mehr im strengen Sinne Aussagen sind, weil sie nicht Information, Mitteilung eines gemeinten Sachverhaltes als ihre eigentliche und einzige Intention haben, sondern vielmehr einen ganz andersartigen Funktionssinn besitzen? Ich meine etwa Phänomene des Sprechens wie den Fluch oder den Segen, die Heilsverkündigung einer religiösen Überlieferung, aber auch den Befehl oder die Klage. Das sind alles Weisen des Sprechens, die ihren eigenen Sinn dadurch bekunden, daß sie keine Wiederholbarkeit besitzen, daß ihre sogenannte Signierung, d. h. ihre Umformung in eine informierende Aussage. etwa der Art: ))Ich sage, daß ich Dich verfluche«, den Sinn der Aussage, den Fluehcharakter im Beispiel, ganz verändert, um nicht zu sagen zerstört. Die Frage ist: Ist auch hier das Wort Antwort auf eine es motivierende Frage? Ist es dadurch und nur dadurch verständlich? Sicherlich ist der Sinn aller solcher Formen der Aussage, vom Fluch bis zum Segen, nicht erfullbar, ohne seine Sinndetermination aus einem Handlungszusammenhang zu empfangen. Man wird nicht bestreiten können, daß auch diese Formen der Aussage den
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Charakter von Okkasionalität besitzen, sofern die Gelegenheit ihres Gesagt-
seins im Verstehen zur Ausftillung gelangt. Wieder eine neue Problemebene tut sich dort auf, wo wir einen >Text( im eminenten Sinne von >Literatur< vor uns haben. Denn der >Sinn( eines solchen Textes ist nicht okkasionen motiviert, sondern beansprucht im Gegenteil, >immer( sprechend zu sein, d. h. >immer( Antwort zu sein, und das heißt, die Frage unausweichlich mitzuerregen, auf die der Text Antwort ist. Gerade diese Texte sind die Vorzugs gegenstände der traditionellen Hermeneutik, als theologische, als juristische wie als Literaturkritik, denn an solchen >Texten( stellt sich die Aufgabe. den zum Buchstaben erstarrten Sinn aus dem Buchstaben selbst zu erwecken. In die hermeneutischen Bedingungen unseres sprachlichen Verhaltens dringt aber eine andere Fonn hermeneutischer Reflexion noch tiefer ein, die nicht das Ungesagte allein meint, sondern das durch das Sprechen Verdeckte. Daß Sprechen durch seinen eigenen Vollzug zu verdecken vermag, ist allbekannt in dem besonderen Fall der Lüge. Das komplizierte Geflecht mitmenschlicher Beziehungen, in dem die Lüge begegnet, von der orientalischen Höflichkeitsformel bis zu dem klaren Vertrauensbruch zwischen Menschen, hat als solche keinen primär semantischen Charakter. Wer wie gedruckt lügt, rut das ohne Stottern und ohne Verlegenheit zu zeigen, d. h. er verdeckt auch noch das Verdecken, das sein Sprechen ist. Aber sprachliche Realität erhält offenbar dieser Charakter der Lüge im besonderen nur dort, wo wir es als eine Aufgabe ansehen, durch Sprache allein Wirklichkeit zu evozieren, d. h. im sprachlichen Kunstwerk. Innerhalb der sprachlichen Totalität einer dichterischen Aussageganzheit besitzt die Weise des Verdekkens, die man Lüge nennt, ihre eigenen semantischen Strukturen. Der moderne Linguist redet dann etwa bei Texten von Lügensignalen, durch die in einem Text die Aussage als eine auf Verdeckung angelegte kenntlich gemacht wird. Lüge ist ja nicht einfach die Behauptung von etwas Falschem. Es handelt sich hier um ein verdeckendes Sprechen, das weiß. Und deshalb ist die Durchschauung der Lüge oder besser das Verständnis des Lügencharakters der Lüge wie sie der ""vahren Absicht des lügenden Sprechers entspricht, die sprachliche Darstellungsaufgabe im dichterischen Kontext, Dagegen ist die Verdeckung im Sinne des Irrtums von ganz anderer Art. Hier unterscheidet sich das Sprachverhalten im Falle der richtigen Behauptung in nichts von dem Sprachverhalten im Falle der irrigen Behauptung. Irrtum ist kein semantisches Phänomen, aber auch kein hermeneutisches, wenn auch beides mit im Spiele ist. Irrtümliche Aussagen sind >richtigen Ausdruck irriger Meinungen, aber als Ausdrucks- und Sprach phänomen nicht spezifisch gegenüber dem Ausdruck richtiger Meinungen. Wohl aber ist die Lüge ein ausgezeichnetes Sprachphänomen, aber freilich im allgemei-
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nen ein harmloser Fall des Verdeckcns. Nicht nur weil Lügen kurze Beine haben, sondern weil sie in ein sprachliches Weltverhalten eingebettet sind, das sich in ihnen insofern bestätigt, als der kommunikative Wahrheitswert des Sprechens in ihnen vorausgesetzt ist und sich im Durchschauen oder Aufdecken der Lüge wiederherstellt. Der einer Lüge Überfuhrte erkennt denselben an. Erst dort, wo die Lüge nicht mehr ihrer selbst als solcher Verdeckung bewußt ist, gewinnt sie einen neuen, den gesamten Welt bezug bestimmenden Charakter. Wir kennen dieses Phänomen als die Verlogenheit, in der sich der Sinn rur das Wahre und die Wahrheit überhaupt verloren hat. Solche Verlogenheit bekennt sich nicht ein, sie sichert sich gegen ihre Entlarvung durch Reden selbst. Sie hält sich selbst fest, indem sie den Schleier der Rede über sich breitet. Hier begegnet die Macht der Rede, wenn auch immer noch in der Hloßstellung eines gesellschaftlichen Verdiktes, in ihrer totalen und allumfassenden Entfaltung. Verlogenheit wird dadurch exemplarisch fur die Selbstentfremdung, die dem sprachlichen Bewußtsein zu widerfahren vermag und die nach Auflösung durch die Anstrengung der hermeneutischen Reflexion verlangt. Hermeneutisch gesehen bedeutet fur den Partner die Erkenntnis von Verlogenheit, daß der andere aus der Kommunikation ausgeschlossen wird, weil er zu sich selbst nicht steht. Denn Hermeneutik greift sonst dort ein, wo sich Verständigung und Selbstversrändigung nicht ergeben will. Die beiden machtvollen Formen von Verdeckung durch Sprechen, denen sich die hermeneutische Reflexion vor allem zuzuwenden hat und die ich im folgenden erörtern möchte. betreffen eben diese Verdeckung durch Sprechen, die das gesamte Weltverhalten bestimmt. Die eine ist die stillschweigende Inanspruchnahme von Vorurteilen. Es ist eine Fundamentalstruktur unseres Sprechens überhaupt, daß wir von Vorbegriffen und einem Vorverständnis in unserem Reden derart dirigiert werden, daß dieselben sich ständig verdeckt halten und daß es einer eigenen Brechung des in der Intentionsrichtung des Redens Liegenden bedarf, um die Vorurteile als solche bewußt zu machen. Im allgemeinen leistet das eine neue Erfahrung. Durch sie wird eine Vormeinung unhaltbar. Aber die tragenden Vorurteile sind machtvoller und sichern sich dadurch ab, daß sie selbstverständliche Gewißheit fur sich in Anspruch nehmen oder gar sich als vermeintliche Vorurteilslosigkeit darstellen und dadurch ihre Geltung befestigen. Wir kennen diese sprachliche Gestalt des Befestigens von Vorurteilen als die hartnäckige Wiederholung, die aller Dogmatik eigen ist. Wir kennen sie aber auch aus der Wissenschaft, wenn etwa um des voraus setzungslosen Erkennens willen und um der Objektivität der Wissenschaft willen die Methode einer bewährten Wissenschaft wie der Physik ohne methodische Modifikation auf andere Gebiete, etwa auf die Erkenntnis der Gesellschaft, übertragen wird. Und mehr noch, wenn, wie das in unserer Zeit mehr und mehr geschieht, die Wissenschaft als die oberste Instanz
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gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse selber angerufen \vird. Hier wird, wie es gerade die hermeneutische Reflexion allein zeigen kann, das Interesse verkannt, das sich mit der Erkenntnis verbündet. Wir kennen diese herme-
neutische Reflexion als die Ideologiekritik, welche den Ideologieverdacht erhebt, d. h. die vermeintliche Objektivität als einen Ausdruck der Stabilität realer gesellschaftlicher Maehtverhältnisse erklärt. Ideologiekritik will mit Hilfe der geschichtlichen und gesellschaftlichen Reflexion gesellschaftlich herrschende Vorurteile bewußt machen und auflösen, d. h. sie will die Verdeckung aufheben, die in der unkontrollierten Auswirkung solcher Vorurtei1c wirksam ist. Das ist eine Aufgabe von extremer Schwierigkeit. Denn die Bczweiflung des Selbstverständlichen weckt immer den Widerstand aller praktischen Evidenzen. Gcnau hier aber liegt die Funktion der hermeneutischen Theorie: Sie stiftet eine generelle Bereitschaft, wo die spezielle von
machtvollen Gewohnheiten und Vorurteilen blockiert sein mag. Die Ideologiekritik stellt nur eine besondere Form hermeneutischer Reflexion dar, die eine bestimmte Art von Vorurteilen kritisch aufzulösen trachtet. Hermeneutische Reflexion ist aber von universaler Reichweite. Gegenüber der Wissenschaft hat sie auch dort um ihre Anerkennung zu kämpfen,
wo es nicht um das besondere gesellschaftskritische Problem des Ideologieverdachts geht, sondern um Selbstaufklärung der wissenschaftlichen Methodik. Wissenschaft beruht auf der Partikularität dessen, was sie mit ihren
objektivierenden Methoden überhaupt zum Gegenstand erhebt. Sie ist als moderne methodische Wissenschaft durch einen Anfangsverzicht be-
stimmt, nämlich all das auszuschalten, das sich der Methodik des eigenen Vorgehens entzieht. Eben damit erweist sie sich in ihrer eigenen Zuständigkeit als unbegrenzt und kann um ihre Selbstrechtfertigung niemals verlegen sein. So erweckt sie den Totalitätsschein von Erkenntnis, hinter dem sich gesellschaftliche Vorurteile oder Interessen verteidigen. Man denke nur an
die Rolle des Experten in der Gesellschaft der Gegenwart, an die Weise, wie Wirtschaft und Politik, Krieg und Rechtspflege durch die Stimme des Experten stärker bestimmt werden als durch die politischen Gremien, in denen
sich der Wille der Gesellschaft repräsentiert. Ihre eigentliche Produktivität gev,.rinnt aber die hermeneutische Kritik erst dann, wenn sie die Selbstreflexion aufbringt, ihr eigenes kritisches Bemü-
hen, d. h. die eigene Bedingtheit und Abhängigkeit, in der es steht, mit zu reflektieren. Hermeneutische Reflexion, die das tut, scheint mir dem wirklichen Erkenntnisideal näherzukommen, weil sie auch noch die Illusion der Reflexion zum Bewußtsein bringt. Ein kritisches Bewußtsein, das überall
Vorurteilshaftigkcit und Abhängigkeit nachweist, aber sich selbst ftir absolut, d. h. ftir vorurteilslos und unabhängig hält, bleibt notwendig in Illusionen befangen. Denn es ist selbst erst motiviert durch das, dessen Kritik es ist. Eine unauflösbare Abhängigkeit besteht rur es gegenüber dem, das es
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auflöst. Der Anspruch auf völlige Vorurteilslosigkeit ist eine Naivität, ob sich dieselbe als der Wahn einer absoluten Aufklärung darstellt oder als der Wahn einer von allen Vormeinungen der metaphysischen Tradition freien Empirie oder als der Wahn einer Überwindung der Wissenschaft durch Ideologiekritik. In jedem Falle scheint mir das hermeneutisch aufgeklärte Bewußtsein eine überlegene Wahrheit Zur Geltung Zu bringen, indem es sich selbst in die Reflexion ein bringt. Seine Wahrheit nämlich ist die Wahrheit der Übersetzung. Deren Überlegenheit ist, daß sie ein Fremdes zum Eigenen werden läßt, indem sie es nicht einfach kritisch auflöst oder unkritisch reproduziert, sondern indem sie es mit ihren eigenen Begriffen in ihrem eigenen Horizont auslegt, neu zur Geltung bringt. Das Übersetzen läßt Fremdes und Eigenes in eine neue Gestalt zusammengehen, indem es den Wahrheitspunkt des anderen gegenüber sieh selbst festhält. In solcher Form hermeneutischer Reflexionspraxis ,"vird das gegebene sprachlich Formulierte in gewissem Sinne aufgehoben, nämlich aus seiner eigenen sprachlichen Wcltstruktur herausgehoben. Aber es wird selbst - und nicht unsere eigene Meinung darüber - in eine neue sprachliche Weltauslegung hineingezogen. In diesem Prozeß des sich stets endlich Weiterbewegens des Denkens, im Geltenlassen des anderen gegenüber sich selber, beweist sich die Macht der Vernunft. Sie weiß, daß menschliches Erkennen begrenzt ist und begrenzt bleibt, auch wenn es seiner eigenen Grenze inne ist. Hermeneutische Reflexion übt so eine Selbstkritik des denkenden Bewußtseins, die alle seine Abstraktionen, auch die Erkenntnisse der Wissenschaften, in das Ganze menschlicher Welterfahrung zurückübersetzt. Philosophie vollends, die immer, ausdrücklich oder nicht, Kritik der überlieferten Denkversuche sein muß, ist ein solcher hermeneutischer Vollzug, der die Strukturtotalitäten, die die semantische Analyse herausarbeitet, in das Kontinuum des Über setzens und Begreifens einschmilzt, in dem wir bestehen und vergehen.
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Das Problem des Verstehens hat in den letztenjahren zunehmend an Aktualität gewonnen - gewiß nicht außer Zusammenhang mit der weltpolitischen und gesellschaftspolitischen Zuspitzung der Lage und der Verschärfung der unsere Gegenwart durchziehenden Spannungen. Es begegnet allerorten, daß Versuche der Verständigung zwischen den Zonen, den Nationen, den Blöcken, den Generationen daran scheitern, daß eine gemeinsame Sprache zu fehlen scheint und daß die gebrauchten Leitbegriffe wie Reizworte wirken, die die Gegensätze verfestigen und die Spannungen verschärfen, zu deren Behebung man zusammenkommt. Man denke nur an Worte wie )Dernokratie( oder >Freiheit<,
So bedarf es eigentlich keines Beweises ftir die These, daß alle Verständigung ein Sprachproblem ist und im Medium der Sprachlichkeit gelingt oder mißlingt. Alle Phänomene der Verständigung, des Verstehens und Mißverstehens, die den Gegenstand der sogenannten Hermeneutik bilden, stellen eine Sprach erscheinung dar. Indessen ist die These, die ich im folgenden diskutieren Inöchte, noch einen Schritt radikaler. Sie besagt nämlich, daß nicht nur der zwischenmenschliche Vorgang der Verständigung, sondern der Prozeß des Verstehens selbst auch dann ein Sprachgeschehen darstellt, wenn er sich auf Außersprachliches richtet oder auf die erloschene Stimme des geschriebenen Buchstabens horcht, ein Sprachgeschehen von der Art jenes inneren Gesprächs der Seele mit sich selber, als das Plato das Wesen des Denkens charakterisiert hat. Daß alles Verstehen sprachlich ist, ist eine herausfordernde Behauptung. Wir brauchen nur um uns und auf unsere eigenen Erfahrungen zu blicken, um sofort eine Fülle scheinbarer Gegenbeispicle zu haben, in denen sich gerade das sch\veigencle, das stille Verstehen als die höchste und innigste Weise des Verstehens darstellt. Wer sich bemüht, die Sprache abzuhören, wird sofort auf solche Phänomene gestoßen werden, wie etwa das )schweigende Einverständnis< oder )das stille Erraten<. Es fragt sich freilich, ob das nicht in gewissem Sinne Modi der Sprachlichkeit sind. Warum es einen Sinn hat, das zu sagen. hoffe ich noch deutlicher zu machen. Aber wie ist es mit noch anderen Phänomenen, zu denen uns die Sprache
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selber leitet, ich denke etwa an ,das sprachlose Staunen{ oder ,das stumme Bewundem{? Was uns so begegnet, sind Phänomene, von denen wir geradezu sagen können: Das verschlägt uns die Sprache. Und es verschlägt uns die Sprache offenbar gerade dadurch, daß es so sehr einleuchtet, daß es allzu groß dasteht vor unserem immer mehr erfassenden Blick, als daß Worte hinreichen könnten, es zu fassen. Ist das nicht eine allzu kühne Behauptung, zu sagen, das sei auch noch eine Form der Sprachlichkeit, daß es einem die Sprache verschlägt' Sollte das nicht jener absurde Dogmatismus der Philosophen sein, die immer wieder und immer noch einmal die Dinge auf den Kopf zu stellen versuchen, die ganz gut auf ihren Beinen stehen? Indessen, wenn es einem die Sprache verschlägt, so heißt das, daß man so viel sagen möchte, daß man nicht weiß, wo beginnen. Das Versagen der Sprache bezeugt ihr Vermägen, rur al/es Ausdruck zu suchen - und so ist es ja selbst geradezu eine Redensart, daß es einem die Sprache verschlägt - und eine solche, mit der man seine Rede nicht beendet, sondern beginnt. Das möchte ich vor allem an dem ersten von mir angeftihrten sprachlichen Gegenbeispiel zeigen, nämlich daß wir von )stillem Einverständnis< reden. Welches ist der hermeneutische Stellenwert dieser sprachlichen Wendung? Die Problematik des Verstehens, die wir heute so vielfaltig diskutiert finden, ins besondere in all den Wissenschaften, in denen sich keine exakten Methoden der Verifikation anbieten, besteht darin, daß es dort eine bloße innere Evidenz des Verstehens ist, die plötzlich aufleuchtet, zum Beispiel, wenn ich einen Satzzusammenhang, eine Aussage von irgend jemandem in einer bestimmten Situation plötzlich verstehe. Das heißt, wenn es mir plötzlich ganz klar und greifbar ist, mit welchem Recht der andere das sagt, was er sagt, oder auch mit welchem Unrecht. Solche Erfahrungen des Verstehens setzen offenkundig immer Schwierigkeiten im Verstehen voraus, die Gestörtheit des Einverständnisses. So beginnt alle Anstrengung des Verstehenwollens damit, daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, herausfordernd, desorientierend entgegentritt. Die Griechen hatten ein sehr schönes Wort ftir das, wobei unser Verstehen zum Stocken kommt, sie nannten das das atopon. Das heißt eigentlich: Das Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer Verstehenserwartung und das uns deswegen stutzen läßt. Die berühmte platonische Lehre, daß das Philosophieren mit dem Staunen beginnt, meint dieses Stutzen, dieses Nichtweiterkommen mit den vorschematisierten Erwartungen unserer Weltorientierung, das zum Denken aufruft. Aristoteles beschreibt es einmal sehr hübsch, daß das, was wir erwarten, davon abhängt, wieviel Einsicht wir in einen Zusammenhang haben, und er nennt als Beispiel: Wenn einer sich darüber wundert, daß die Wurzel aus zwei irrational ist, daß also das Verhältnis von Diagonale und Seitenlänge eines Quadrats nicht rational ausdrückbar ist, so sieht man daran, daß er kein Mathe-
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matiker ist; ein Mathematiker würde sich wundern, wenn jemand dieses Verhältnis für rational hielte. So relativ ist dies Stutzen, so schr bezogen auf Wissen und tieferes Eindringen in die Sachen. All dies Stutzen und Staunen und im Verstehen Nichtweiterkommen ist offenkundig immer auf Weiterkommen, auf eindringlichere Erkenntnis angclegt~ Ich behaupte daher: wir müssen das Phänomen des Verstehens aus der Bevorzugung der Verstehensstärung bewußt herausdrehen, "venn wir seinen Ort im ganzen unseres Menschseins, auch unseres sozialen Menschseins, wirklich in den Blick bekommen wollen. Einverständnis ist vorausgesetzt, wo es Gestörtheit von Einverständnis gibt. Es sind die rdativ seltenen Hindernisse in der Verständigung und im Einverständnis, an denen sich allererst die Aufgabe gezielten Verstehen-Wollens stellt, das zur Behebung eines gestörten Verstehens fUhren soll. Mit anderen Worten, das Beispiel des >stillen Einverständnisses< ist so wenig ein Einwand gegen die Sprachlichkcit des Verstehens, daß es der Sprachlichkeit des Verstehens vielmehr ihre Weite und Universalität sichert. Das scheint mir eine Grundwahrheit, die es wieder zu Ehren zu bringen gilt, nachdem wir durch einige Jahrhunderte den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft fur unser Selbstverständnis absolutgesetzt haben, Die moderne Wissenschaft ist die im 17. Jahrhundert entstehende Wissenschaft, die auf den Gedanken der Methode und des methodischen Sicherns des Erkenntnisfortschritts gegründet ist. Sie hat unseren Planeten in einer einzigartigen Weise verändert, indem sie eine Form des Zugangs zur Welt privilegiert hat, der weder der einzige noch der umfassendste Zugang ist, den wir besitzen. Es ist der Zugang, der durch methodische Isolierung und bewußte Befragung - im Experiment - die partikularen Bereiche, die durch solche Isolierung thematisiert werden, einem neuen Zugriff unseres Tuns aufbereitet. Das war die große Leistung der mathematischen Naturwissenschaften, im besonderen der Galileischen Mechanik im 17, Jahrhundert, Bekanntlich ist die geistige Leistung der Entdeckung der Gesetze des freien Falls, der schiefen Ebene, nicht durch bloße Beobachtung erbracht worden. Es gab kein Vakuum. Der freie Fall war eine Abstraktion. Jeder erinnert sich wohl noch an das eigene Staunen über das Experiment, das er in der Schulstube erlebte, wie da im relativen Vakuum das Bleiblättchen und die Bettfeder gleich schnell fallen. Für Galilei war es eine Isolierung von Bedingungen, die in der Natur so gar nicht vorkommen, wenn er vom Widerstand des Mediums abstrahierte. Nur solche Abstraktion aber ermöglicht die mathematisch exakte Beschreibung der Faktoren, die ein Resultat im Naturgeschehen bilden, und damit den kontrollierten Eingriff des Menschen. Die Mechanik, die Galilei so aufbaute, ist in der Tat die Mutter unserer technischen Zivilisation. Hier ist eine ganz bestimmte methodische Erkenntnisweise aufgekommen, die die Spannung zwischen unserem unme-
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thodischen, die ganze Breite unserer Lebenserfahrung umfassenden Welterkennen und der Erkenntnisleistung der Wissenschaft heraufbeschworen hat. Es war die große philosophische Leistung Kants, daß er fUr diese neuzeitliche Problemspannung eine überzeugende begriffliche Lösung fand. Denn die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts hatte sich in der unlösbaren Aufgabe verzehrt, das große Allwissen der metaphysischen Tradition mit der neuen Wissenschaft zu vereinigen - ein Versuch, der einen wirklichen Ausgleich zwischen Vernunftwissenschaft aus Begriffen und Erfahrungs-Wissenschaft nicht erreichen konnte. Kant dagegen fand die Lösung. Seine die englische Metaphysikkritik aufgreifende kritische Einschränkung der Vernunft und ihrer begrifflichen Erkenntnis auf das in der Erfahrung Gegebene bedeutete zwar die Zerstörung der Metaphysik als dogmatischer Vernunftwissenschaft. Aber der }AIleszermalmer<, als den die Zeitgenossen den zarten Professor Kant zu Königsberg empfanden, war zugleich der große Begründer der Moralphilosophie auf dem strengen Prinzip der Autonomie der praktischen Vernunft. Indem er die Freiheit als ein einzigartiges Faktum der Vernunft erkannte, d. h. zeigte, daß ohne die Annahme der Freiheit die praktische Vernunft des Menschen und damit das sittliche und gesellschaftliche Dasein des Menschen nicht gedacht werden können, eröffnete er gegenüber allen deterministischen Tendenzen, die von der modernen Naturwissenschaft ausgingen, dem Denken unter Freiheitsbegriffen eine neue Legitimation. In der Tat steht sein moralphilosophischer Impuls, vor allem in der Vermittlung Fichtes, hinter den großen Bahnbrechern der ,historischen Weltanschauung<: Wilhelm von Humboldt, Ranke, Droysen vor allem. Aber gewiß auch Hegel und alle von ihm positiv oder negativ Bestimmten sind von dem Begriff der Freiheit bis ins letzte erfUllt und behalten daher gegenüber jedem bloßen Methodologismus der historischen Wissenschaft einen Zug ins Große und Ganze der Philosophie. Indessen, eben dieser Zusammenhang zwischen der neuen Wissenschaft und dem Methodenideal, das sie trägt, war es auch, der das Phänomen des Verstehens sozusagen verfremdet hat. So wie die Natur Hir den Naturforscher zunächst das undurchdringliche Fremde ist, das er durch Berechnung und gezielten Zwang, durch Folterung mit Hilfe des Experimentes, zu Aussagen nötigt, so haben die Wissenschaften, die das Verstehen gebrauchen, sich mehr und mehr von dem Methodenbegriff dieser Art her verstanden und deswegen Verstehen vorwiegend und in erster Linie als Wegräumen von Mißverständnissen, als Überbrücken der Fremdheit zwischen Ich und Du in den Blick genommen. Aber ist das Duje so fremd wie es per definitionem der Gegenstand der experimentellen Naturforschung ist? Es gilt anzuerkennen: Einverständnis ist ursprünglicher als Mißverständnis, so daß das Verstehen immer wieder zurückmündet in das wiederhergestellte
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Einverständnis. Das, scheint mir, gibt der Universalität des Verstehens ihre
volle Legitimation. Aber warum ist die Erscheinung des Verstehens eine sprachliche? Warum
bedeutet das >stille Einverständnis<, das sich immer wieder herstellt als die Gemeinsamkeit der Weltorientierung, Sprachlichkeit? So fragen impliziert die Antwort. Es ist die Sprache, die diese Gemeinsamkeit der Wcltoricntie-
rung ständig aufbaut und trägt. Miteinandersprechen ist nicht primär Sichmiteinander-Auseinandersetzen. Es scheint mir bezeichnend ftir Spannun-
gen innerhalb der Moderne, daß sie diese Wendung unserer Sprache so liebt. Miteinanderreden ist auch nicht primär Aneinandervorbeireclen. Im Miteinanderreden baut sich vielmehr ein gemeinsamer Aspekt des Beredeten auf.
Das macht die eigentliche Wirklichkeit menschlicher Kommunikation aus, daß das Gespräch nicht die Meinung des einen gegen die Meinung des anderen durchsetzt oder die Meinung des einen zu der Meinung des anderen
wie in einer Addition hinzufUgt. Das Gespräch verwandelt beide. Ein gelungenes Gespräch ist von der Art, daß man nicht wieder zurückfallen kann in den Dissensus, aus dem es sich entzündete. Gemeinsamkeit, die so sehr gemeinsam ist, daß sie nicht mehr mein Meinen und dein Meinen ist, sondern gemeinsame Ausgelegtheit der Welt, macht erst sittliche und soziale
Solidarität möglich. Was recht ist und als Recht gilt, verlangt seinem Wesen nach die Gemeinsamkeit, die sich im Sich-Verstehen der Menschen errichtet. Gemeinsames Meinen baut sich in der Tat ständig im Miteinandersprechen auf und sinkt dann zurück in die Stille des Einverständnisses und des
Selbstverständlichen. Aus diesem Grunde scheint mir die Behauptung gerechtfertigt, daß alle außerverbalen Formen des Verstehens zurückzielen auf das Verstehen, das sich im Sprechen und Miteinandersprechen ausbreitet.
Wenn ich von dieser Einsicht ausgehe, so heißt das nicht mehr, als daß in allem Verstehen eine potentielle Sprachbezogenheit liegt, so daß es immer möglich ist - das ist der Stolz unserer Vernunft -, dort, wo ein Dissensus auftaucht, durch Miteinanderreden Einverständnis anzubahnen. Es wird uns nicht immer gelingen, aber unser Sozialleben beruht auf der Voraussetzung, daß das im Miteinander-Reden im weitesten Umfange gelingt, was im Sichversteifen auf seine eigenen Meinungen sich versperrt. Es ist daher auch ein schwerer Irrtum, wenn jemand meint, daß die Universalität des
Verstehens, von der ich hier ausgehe und die ich glaubhaft zu machen suche, etwa eine besondere harmonisierende oder konservative Grundhaltung zu
unserer gesellschaftlichen Welt einschließe. Die Fügungen und Ordnungen unserer Welt )verstehen<, uns miteinander in dieser Welt verstehen, setzt ganz gewiß ebenso viel Kritik und Bekämpfung von Erstarrtem oder einem Fremdgewordenen voraus wie Anerkennung oder Verteidigung bestehender Ordnungen. Das zeigt sich wiederum in der Art, wie wir miteinander sprechen und
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Einverstandnis aufbauen. Man kann es von Generation zu Generation beobachten. Vollends wenn die Weltgeschichte einmal Siebenmeilenstiefel anlegt, wie das vielleicht besonders im letzten Jahrzehnt geschehen ist, wird man gleichsam zum Zeugen dessen, wie da neue Sprache entsteht. Neue Sprache meint hier gewiß nicht eine total neue Sprache, aber doch offenkundig mehr als eine bloße Ausdrucksveränderung rur das gleiche. Mit neuen Aspekten, mit neuen Zielen wird auch ein neu es Sprechen ausgearbeitet und geboren. Neue Sprache bringt Störung in die Verständigung, aber im kommunikativen Geschehen zugleich auch Überwindung der Störung. Mindestens ist das das ideelle Ziel aller Kommunikation. Es mag sich unter besonderen Bedingungen als unerreichbar erweisen. Zu solchen besonderen Bedingungen zählt insbesondere der pathologische Abbruch des zwischenmenschlichen Einverständnisses, welcher durch den Tatbestand der Neurose gekennzeichnet ist, und es fragt sich, ob auch im gesellschaftlichen Leben im ganzen der kommunikative Vorgang nicht auch der Verbreitung und Aufrechterhaltung eines tfalschen< Bewußtseins zu dienen vermag. Das wenigstens ist die These der Ideologiekritik, daß der Gegensatz in den gesellschaftlichen Interessenlagen das kommunikative Geschehen praktisch ebenso unmöglich macht wie im Falle der seelischen Erkrankung. Aber wie im letzteren Falle die Therapie gerade darin besteht, den Erkrankten an die Verständigungsgemeinschaft der Gesellschaft wieder anzuschließen, ist es doch auch gerade der Sinn der Ideologiekritik selbst, das falsche Bewußtsein zu berichtigen und damit ein richtiges Einverständnis neu zu begründen. Sonderfälle eines tiefgestörten Einverständnisses mögen dabei eigene Formen der Wiederherstellung nötig machen, die auf einem expliziten Wissen um die Störung beruhen. Sie bestätigen aber eben damit die konstitutive Funktion der Verständigung als solcher. Überdies ist es selbstverständlich, daß Sprache immer in dem Antagonismus zwischen Konventionalität und revolutionärem Aufbruch ihr spannungsvolles Leben fUhrt. Wir alle haben die erste sprachliche Dressur erfahren, als wir in die Schule kamen. Was da alles nicht mehr erlaubt war, das doch unserer gesunden Sprachphantasie richtig schienl Nicht anders ist es etwa beim Zeichenunterricht, der ja sehr oft dazu f!.ihrt, daß das Kind auf der Schule die Lust am Zeichnen und das Zeichnen verlernt. In Wirklichkeit ist eben die Schule eine Institution des gesellschaftlichen Konformismus im großen. Natürlich nur eine unter anderen. Ich möchte nicht so mißverstanden werden, als ob damit ein bestimmter Angeklagter bezeichnet werden sollte. Vielmehr meine ich: das ist Gesellschaft, so wirkt Gesellschaft, immer normierend und konformistisch. Das heißt keineswegs, daß alle gesellschaftliche Erziehung nur ein Repressionsvorgang sei und Spracherziehung ein bloßes Instrument solcher Repression. Denn allem Konformismus zum Trotze lebt die Sprache. Es entstehen neue sprachliche Fügungen und Aussa-
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geweisen aus den Veränderungen unseres Lebens und unserer Erfahrung. Der Antagonismus, der Sprache zu etwas Gemeinsamem macht und dennoch immer neue Impulse zur Verwandlung dieses Gemeinsamen aufkommen läßt, besteht immer fort. Nun wird man sich die Frage stellen, ob sich nicht dieses Verhältnis zwischen dem natürlichen Konformismus der Gesellschaft und den sie sprengenden Kräften, die aus kritischer Einsicht entbunden werden, in einer hochindustrialisierten technischen Zivilisation qualitativ verändert hat. Unmerkliche Veränderungen im Gebrauch und Leben der Sprache, Aufkommen und Absterben von Modeworten und Schlag worten hat es immer gegeben, und besonders kritische Zeiten konnten in ihrem Verfallsgeschehen geradezu durch die Beobachtung des Sprachwandels abgebildet werden, wie etwa Thukydides in der berühmten Schilderung der Folgen der Pest im belagerten Athen gezeigt hat. Aber bei unseren gegenwärtigen Umständen handelt es sich vielleicht doch um etwas qualitativ Neues und Andersartiges, was so noch nicht da war. Ich meine die zielbewußte Sprachregelung. Das scheint ein von der technischen Zivilisation erst erfundener Sachverhalt. Dann was wir so Sprachregelung nennen, ist nicht mehr die absichtslose des Schulmeisters oder der Organe der öffentlichen Meinung, sondern ein bewußt gehandhabtes Instrument der Politik. Sie vermag mit dem Mittel eines zentral gelenkten Kommunikationssystems Sachverhalte dadurch suggestiv zu machen, daß sie Sprachregelungen auf technischem Wege sozusagen verordnet. Ein aktuelles Beispiel, das wir gerade jetzt wieder in einer sich verwandelnden Sprachbewegung begriffen finden, ist die Bezeichnung der anderen Hälfte Deutschlands als DDR. Diese Ausdrucksweise war bekanntlich jahrzehntelang durch amtliche Sprachregelung verpönt, und niemand wird übersehen können, daß das darur empfohlene ,Mitteldeutschland( einen scharfen politischen Akzent setzte. Hier sei ganz von allen inhaltlichen Fragen abgesehen und nur der Vorgang als solcher beachtet. Die technische Form der Meinungsbildung von heute gibt der zentralgesteuerten Sprachregelung einen Einfluß, der den natürlichen Konformismus der Gesellschaft eigentümlich verzerrt. Es gehört Zu den Problemen unserer Gegenwart, wie man die Politik zentralgesteuerter Meinungsbildung mit den Forderungen in Einklang halten soll, die die Vernunft erhebt, aus freier Einsicht und kritischem Urteil das Leben der Gesellschaft mitzubestimmen. Man mag als Lösung dieses Problems im Auge haben, daß es doch gerade die Auszeichnung der Wissenschaft sei, Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinungsbildung und von der Politik zu ermöglichen und die Urteilsbildung aus freier Einsicht zu schulen. In ihrem eigensten Bereiche darf dies in der Tat die Auszeichnung der Wissenschaft heißen. Aber bedeutet das, daß sie auch aus eigener Kraft zur öffentlichen Wirkung kommt? Wissenschaft mag sich allen Manipulationen ihrer eigenen Intention nach noch so sehr
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entziehen wollen - die ungeheure öffentliche Schätzung der Wissenschaft steht dem ganz und gar entgegen. Sie begrenzt beständig die kritische Freiheit, die sie am Forscher bewundert, indem sie Berufung auf die Autorität der Wissenschaft auch dort vornimmt, wo es in Wahrheit um politische Machtkämpfe geht. Gibt es überhaupt eine eigene Sprache der Wissenschaft, auf die man hören sollte' Der Ausdruck ist offenkundig zweideutig: Einerseits entwikkelt sie eigene sprachliche Mittel zur Fixierung und kommunikativen Verständigung im Prozeß der Forschung selbst. Andererseits, und das ist eine andere Bedeutung, fUhrt sic eine Sprache, die das öffentliche Bewußtsein erreichen und die legendäre Unverständlichkeit der Wissenschaft überwinden möchte. Ob aber die kommunikativen Systeme, die innerhalb der wissenschaftlichen Forschung entwickelt werden, überhaupt den Charakter einer eigenen Sprache haben? Wenn man in diesem Sinne von der Sprache der Wissenschaft redet, meint man offenbar solche Kommunikationssysteme, die nicht aus der alltäglichen Sprache erwachsen. Bestes Beispiel ist die Mathematik und ihre Rolle in den Naturwissenschaften. Was die Mathematik rur sich ist, das ist ihr Privatgeheimnis. Das wissen nicht einmal die Physiker. Was sie erkennt, was ihr Gegenstand ist, was ihre Fragen sind, ist etwas Einzigartiges. Es ist offenbar eins der großen Wunder der menschlichen Vernunft, daß sie sich da in sich selbst entfaltet, als Vernunft sich anschaut und bei sich selbst forschend verweilt. Aber als Sprache, in der über die Welt gesprochen wird, ist die Mathematik ein Symbolsystem unter anderen Symbolsystemen im Ganzen unserer Sprachhaltung und nicht eine eigene Sprache. Der Physiker, der bekanntlich immer in der peinlichsten Lage ist, wenn er außerhalb seiner Gleichungen anderen oder auch nur sich selbst verständlich machen will, was er da ausgerechnet hat, befindet sich ständig in der Spannung dieser Integrationsaufgabe. Gerade die großen Physiker werden da auf eine oft sehr geistreiche Weise poetisch. Was diese Atömchen da alles machen, wie sie sich Elektronen einfangen und andere brave und listige Prozeduren vornehmen, das ist eine ganze Märchensprache, in der ein Pliysiker das, was er exakt in Gleichungen abbildet, sich selber und in gewissem Umfange dann auch uns allen verständlich zu machen sucht. Doch darin liegt: Die Mathematik, mit der der Physiker seine Erkenntnisse gewinnt und formuliert, ist nicht eine eigene Sprache, sondern gehört in das vieWiltig-sprachliche Instrumentarium, mit dem er das, was er sagen will, zur Sprache bringt. Mit anderen Worten heißt das: wissenschaftliches Sprechen ist immer Vermitteln einer Fachsprache oder von Fachausdrücken - wir nennen es: eine gelehrte Terminologie - mit der in sich lebenden, wachsenden und sich wandelnden Sprache. Diese Integrations- und Vermittlungsaufgabe hat beim Physiker ihre ganz besondere Zuspitzung, weil
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er von allen Naturforschern der am meisten in Mathematik Sprechende ist. Gerade weil er der Extremfall des Gebrauchs einer weitgehend mathematischen Symbolik ist, ist er besonders lehrreich. An jener poetischen Metaphorik zeigt sich, daß rur die Physik die Mathematik nur ein Teil der Sprache ist, aber keineswegs ein autonomer. Sprache ist autonom, wo sie, wie etwa die gewachsenen Sprachen, als Weltaspekte der verschiedenen Kulturen ihre Wirklichkeit hat. Nun ist die Frage, wie das Verhältnis von wissenschaftlichem und außerwissenchaftlichem Sprechen und Denken ist. Ist es etwa nur ein Annäherungszustand an die wissenschaftliche Sprache, was in der biegsamen Freiheit unseres alltäglichen Sprechens geschieht? Wer das verneint, dem könnte man einwenden, daß es gegenwärtig zwar noch so aussieht, als wären die gewachsenen Sprachen unentbehrlich. Aber wir müßten eben alle noch ein biß ehen besser lernen, und schließlich verstünden wir die Gleichungen der Physik ohne Worte und rechneten vielleicht sogar uns selbst und unsere Handlungen aus Gleichungen aus; dann brauchten wir keine andere Sprache mehr als die Wissenschaftssprache. In der Tat hatte der moderne Logikkalkül eine solche eindeutige Kunstsprache zum Ziel. Aber das ist umstritten. Vico und Herder hielten im Gegenteil die Poesie für die Ursprache des Menschengeschlechts und die Intellektuierung der modernen Sprachen rur ihr armes Schicksal und nicht rur die Vollendung der Sprach-Idee. Die Frage ist dabei: Ist diese Meinung, daß es eine wachsende Annäherung an eine wissenschaftliche Sprache ist, der jede Sprache als ihrer Vollendung zustrebt, überhaupt richtig? Um diese Frage erörtern zu können, möchte ich zwei Phänomene einander gegenüberstellen. Das eine ist die Aussage und das andere ist das Wort. Ich will zunächst die beiden Begriffe erläutern. Wenn ich sage ,das Wort<, so meine ich nicht das Wort, dessen Plural die Wörter sind, wie sie im Lexikon stehen. Ich meine auch nicht das Wort, dessen Plural die Worte sind und das jeweils mit anderen den Kontext des Satzes bildet, sondern ich meine das Wort, das ein Singularetantum ist. Das ist das Wort, das einen trifft, das Wort, das einer sich gesagt sein läßt, das Wort, das in einem bestimmten und eindeutigen Lebenszusammenhang >fallt( und seine Einheit eben aus dieser Gemeinsamkeit des Lebenszusammenhangs empfangt. Es ist gut, sich zu erinnern, daß runter diesem Singularetantum }das Wort{ schließlich auch der Sprachgebrauch des Neuen Testaments steht. Denn was auch immer jener Anfang mit dem) Wort( meint, über dem Faust brütet, wenn er dasJohannesEvangelium übersetzen will- dieses kraftausstrahlende und tätige Wort ist rur Goethe nicht ein einzelnes Zauberwort, sondern weist (ohne Anspielung auf das Inkarnationsgeschehen) über das Verbindende der menschlichen Vernunft auf ihren }Durst nach Existenz<. Wenn ich in diesem Sinn )das Wort( der }Aussage( gegenüberstelle, so wird dadurch auch der Sinn von Aussage deutlich. Wir reden von Aussage in der
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Verbindung Aussagelogik, Aussagekalkül, in der modemen mathematischen Formalisierung der Logik. Diese uns selbstverständliche Ausdrucksweise geht letzten Endes auf eine der folgenschwersten Entscheidungen unserer abendländischen Kultur zurück, und das ist der Aufbau der Logik auf der Aussage. Aristoteles, der Schöpfer jenes Teils der Logik, der meisterhafte Analytiker der Schlußprozesse des logischen Denkens, hat dies durch eine Formalisierung von Aussagesätzen und ihrer Schlüssigkeitszusammen_ hänge geleistet. Man kennt die bekannten Schulbeispiele eines Syllogismus: Alle Menschen sind sterblich. Darius ist ein Mensch, Darius ist sterblich. Was ist hier ftir eine Abstraktionsleistung vollbracht? Offenbar diese, daß hier das Ausgesagte allein zählt. Alle anderen Formen der Sprache und des Sprechens werden nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht, nur Aussage allein. Das griechische Wort heißt apophansis, logos apophantikos, das heißt die Rede, der Satz, dessen einziger Sinn ist, das apophainesthai} das Sichzeigen des Gesagten zu bewirken. Das ist ein Satz, der in dem Sinne theoretisch ist, daß er von allem abstrahiert, was er nicht ausdrücklich sagt. Nur das, was er selber durch sein Gesagtsein offenbarmacht, bildet hier den Gegenstand der Analyse und das Fundament der logisehen Sehlüssigkeit. Ich frage nun: Gibt es solche reinen Aussagesätze, und wann und wo? Jedenfalls ist die Aussage nieht die einzige Redeform, die es gibt. Aristoteles spricht davon in dem Zusammenhang seiner Lehre von der Aussage. und es ist klar, woran man noch zu denken hat: etwa an Gebet und Bitte, an Fluch und Befehl. Man muß sogar eines der rätselhaftesten Zwischenphänomene in Betracht ziehen: die Frage, zu deren eigentümlichem Wesen offenbar gehört. daß sie der Aussage so nah steht wie keines dieser anderen Sprachphänomene und dennoeh offenkundig keine Logik im Sinne der Aussagelogik gestattet. Vielleicht gibt es eine Logik der Frage. Zu einer solchen könnte gehören, daß die Antwort auf eine Frage notwendig neue Fragen weckt. Vielleicht gibt es auch eine Logik der Bitte, z. B. daß die erste Bitte nie die letzte Bitte ist. Aber ob das >Logik, heißen soll oder ob Logik allein den Zusammenhang reiner Aussagen betrifft? Aber wie grenzt sich denn ab, was eine Aussage ist? Kann man eine Aussage ablösen von ihrem Motivationszusammenhang ? In der Methodenlehre der modemen Wissenschaft ist davon freilich nicht gerade oft die Rede. Denn es ist ja das Wesen der Wissenschaftsmethodik, daß ihre Aussagen gleichsam eine Art von Schatzhaus methodisch gesicherter Wahrheiten sind. Wie jedes Schatzhaus enthält auch das der Wissenschaft einen Vorrat zu beliebiger Verwendung. In der Tat ist das das Wesen der modernen Wissenschaft, daß sie den Vorrat von Erkenntnis zu beliebiger Verwendung beständig anreichert. All die Probleme der gesellschaftlichen und humanen Verantwortung der Wissenschaft, die wir seit Hiroshima so dringend in unserem Gewissen tragen, haben darin ihre Schärfe, daß es eine
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Folge der methodischen Konsequenz der modernen Wissenschaft ist, nicht imstande zu sein, die Zwecke, zu denen ihre Erkenntnisse angewendet werden, so zu beherrschen, wie sie die Sachzusammenhänge selber beherrscht. Es ist die methodische Abstraktion der modernen Wissenschaft, die ihr ihre Erfolge verschafft hat, sofern sie praktische Anwendung ermöglicht, die wir Technik nennen. Technik, als Anwendung von Wissenschaft, ist daher nicht selber wieder beherrschbar . Ich bin damit keineswegs ein Fatalist und ein Untergangsprophet, wenn ich bestreite, daß die Wissenschaft sich selber begrenzen könnte. Ich meine vielmehr, daß es nicht die Wissenschaft als solche ist, sondern letzten Endes unser aller menschliche und politische Fähigkeit, der es allein gelingen kann, die vernünftige Anwendung unseres Könnens zu garantieren oder jedenfalls dahin zu fUhren, daß wir die äußersten Katastrophen vermeiden. Damit ist zugleich anerkannt, daß die Isolierung der Aussagewahrheit und die auf den Aussagesatz aufgebaute Logik in der modernen Wissenschaft durchaus legitim ist - nur daß wir daftir den teuren Preis zu zahlen haben, den die moderne Wissenschaft ihrem Wesen nach uns nicht ersparen kann: daß nämlich der Universalität des Machenkönnens, die sie uns aufbaut, keine Begrenzung des Machenkönnens durch theoretische Vernunft und mit den Mitteln der Wissenschaft entspricht. Kein Zweifel, daß es hier >reine< Aussagesätze gibt, das heißt aber, daß sich in ihnen Wissen darstellt, das allen möglichen Zwecken zu dienen vermag. Ich frage mich freilich, ob nicht selbst dieses Beispiel noch, in dem sieh die isolierten Aussagesätze als das Fundament der wc1tumgestaltenden Macht der Technik herausstellen, in Wahrheit zeigt, daß Aussagen nie in vollständiger Isolierung begegnen_ Scheint es nicht auch hier wahr, daß jede Aussage immer motiviert ist? Liegt doch der Abstraktion und Konzentration auf das Machenkönnen, wie es im 17_ Jahrhundert schließlich zu diesem großen methodischen Gedanken der modernen Wissenschaft führte, eine Trennung von den religiösen Vorstellungen der mittelalterlichen Welt und ein Entschluß zur Bescheidung und zur Selbsthilfe zugrunde_ Das ist die Motivationsgrundlage ftir ein Wissen wollen, das zugleich Machenkönnen ist und deshalb jeder Begrenzung oder Steuerung spottet_ Dagegen ist das Wissen in den großen Hochkulturen Ostasiens dadurch ausgezeichnet, daß dort die technische Anwendung des Wissens von Bindekräften der gesellschaftlichen Vernunft gesteuert wurde, so daß Möglichkeiten des eigenen Könnens unrealisicrt blieben_ Welche Kräfte, die uns fehlen, das ermöglichten, ist eine Frage an den Religionsforscher, den Kulturhistoriker und letzten Endes auch an den noch immer nicht gefundenen Philosophen, der in der chinesischen Sprache und Kultur wirklich zu Hause ist. Jedenfalls scheint mir das Extrembeispiel der modernen wissenschaftlichen und technischen Kultur zu zeigen, daß die Isolierung der Aussage, ihre
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Ablösung von jeglichem Motivationszusammenhang, ihre Fragwürdigkeit hat, sowie man auf das Ganze der Wissenschaft sieht. So bleibt es richtig, daß das, was wir unter Aussage verstehen, eine motivierte Aussage ist. Da gibt es besonders vielsagende Phänomene, etwa das Verhör oder die Zeugenaussage. Aus Gründen der Rechtsprechungsweisheit bzw. der Rechtsfindungsnotwendigkeit ist es da so, daß der Zeuge, in gewissen Fällen wenigstens, vor Fragen gestellt wird, von denen er nicht weiß, warum sie an ihn gestellt werden. Nur darauf beruht ja gegebenenfalls der Zeugniswert der Aussage, die der Zeuge macht, daß sie nicht als Entlastung oder Belastung des Angeklagten gewollt sein kann, weil der Zeuge den Zusammenhang, der aufgeklärt werden soll, nicht durchschaut. Nun wird jeder, der einmal Zeuge oder Opfer eines Verhörs war, wissen, wie grauenhaft das ist, daß man auf Fragen antworten soll, ohne es zu wissen, warum man so gefragt wird. Der Fiktion der )reinefl( Aussage entspricht bei solcher Art von Zeugenaussagen offenbar die der nicht minder fiktiven reinen Tatbestandsfeststellung, und es ist gerade diese fiktive Restriktion auf das Tatsächliche, was dann den Anwälten ihre Chance gibt. Das extreme Beispiel der Aussage vor Gericht lehrt also, daß man motiviert redet, also nicht eine Aussage macht, sondern antwortet. Auf eine Frage antworten heißt aber, den Sinn der Frage und damit ihren Motivationshintergrund realisieren. Bekanntlich ist nichts so schwierig, wie auf sogenannte )dumme Fragen< antworten zu sollen, das heißt auf Fragen, die derart schief gestellt sind, daß sie in keine eindeutige Sinnrichtung weisen. Es erhellt daraus, daß niemals eine Aussage ihren vollen Sinn-Gehalt in sich selber enthält. In der Logik hat man das lange als das Problem der Okkasionalität gekannt. Die sogenannten )okkasionellen( Ausdrücke, die in jeder Sprache vorkommen, sind dadurch ausgezeichnet, daß sie ihren Sinn offenkundig nicht wie andere Ausdrücke in sich voll enthalten. Zum Beispiel, wenn ich sage >hiere Was >hien ist, ist nicht dadurch, daß es gesagt wurde oder geschrieben steht, rur jeden verständlich, sondern man muß wissen, wo das war oder wo das ist. >Hier< erfordert für seine eigene Bedeutung die Ausftillung durch die Gelegenheit, die oceasio, bei der es gesagt wird. Die Ausdrücke dieser Art fanden deshalb das besondere Interesse der logisch-phänomenologischen Analyse, weil man an diesen Bedeutungen zeigen kann, daß sie die Situation und die Gelegenheit in ihren eigenen Bedeutungsgehalt einschließen. Das Sonderproblem der sogenannten >okkasionellen< Ausdrücke scheint nämlich in vieler Hinsicht der Erweiterung bedürftig. Hans Lipps hat das in seinen Untersuchungen zur hermeneuti· sehen Logik 14 getan, und ähnlich ist es in der modernen englischen Analytik, etwa bei den sogenannten ;Austinianern(, den Anhängern von Austin, eine 14
[Tübingen 1938, jetzt in Werke Bd. 2, Frankfurt 1976]
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wichtige Fragestellung, der Aus/in den Ausdruck gegeben hat: »How to do things with worcls«( (Wie kann man mit Worten etwas tun?)15, Das sind Beispiele von sich selbst ins Handeln transzendierenden Formen des Sprechens, die sich von dem reinen Begriff der Aussage besonders scharf abheben. Stellen wir nun diesem Begriff der isolierten Aussage mit ihren verschwimmenden Grenzen das ~Wort( entgegen, aber nicht als die kleinste Einheit, die es im Sprechen gibt. Das Wort, das man sagt oder gesagt bekommt, ist nicht jenes grammatische Element einer sprachlichen Analyse, von dem sich an konkreten Phänomenen des Sprechenlernens zeigen läßt. wie sekundär es etwa gegenüber der Sprachmelodie eines Satzes ist. Das Wort, das wirklich als eine kleinste Einheit von Sinn gelten kann, ist nicht das Wort, bei dem die Aufgliederung einer Rede als letztem Bestandstück ankommt. Dies Wort ist aber auch nicht der Name, und Sprechen ist nicht Nennen, und zwar deswegen nicht, weil bei Name und nennen, wie etwa der Bericht der Genesis zeigt, die falsche Implikation der Namengebung besteht. Das gerade ist nicht unser sprachliches Grundverhältnis, daß wir uns je in der Willkür und Freiheit des Namengebens befanden: Es gibt kein erstes Wort. Die Rede von einem ersten Wort ist in sich selbst widerspruchsvoll. Es liegt immer schon ein System von Worten dem Sinn jedes Wortes zugrunde. Ich kann auch nicht etwa sagen: I~lch fuhre ein Wort ein. « Es gibt zwar immer wieder Leute, die das so sagen, aber sie überschätzen sich gewaltig. Sie sind es nicht, die das Wort einfUhren. Bestenfalls bringen sie einen Ausdruck zum Vorschlag oder prägen einen Fachausdruck, den sie definieren. Aber ob der ein Wort wird, das steht nicht bei ihnen. Ein Wort fUhrt sich ein. Erst dann ist es ein Wort geworden, wenn es in kommunikativen Gebrauch übergetreten ist. Das geschieht nicht durch den einfUhrenden Akt von jemandem, der es vorgeschlagen hat, sondern offenkundig, wenn und weil es >sich eingefUhrt hate Selbst die Wendung vom >Sprachgebrauch, suggeriert immer noch Dinge, die am Wesen unserer sprachlichen Welterfahrung vorbeigehen. Da sieht es immer noch so aus, als hätte man die Worte in der Hosentasche und holte sie, je wie man sie braucht, heraus, als wäre der Sprachgebrauch im Belieben dessen, der die Sprache gebraucht. Sie ist gerade nicht von ihm abhängig. In Wahrheit heißt Sprachgebrauch auch dies, daß die Sprache sich weigert, mißbraucht zu werden. Die Sprache selber ist es, die vorschreibt, was sprachlicher Brauch ist. Darin lieg keine Mythologisierung der Sprache, sondern das meint einen nicht aufindividuelles subjektives Meinenje reduzierbaren Anspruch der Sprache. Daß wir es sind, die da sprechen, keiner von uns, und doch wir alle, das ist die Seinsweise der ISprache<. Das Wort ist auch nicht durch die lideale Einheit< der Wortbedeutung von 15
U. L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962]
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Zeichen oder anderen Ausdrucksphänomenen voll abhebbar. Zwar war es eine der wichtigsten logischen und phänomenologischen Leistungen am Anfang unseres Jahrhunderts, daß die Phänomenologie, besonders Husserl in seinen Logischen Untersuchungen! den Unterschied zwischen aUen Zeichen sonst und der Bedeutung von Worten herausgearbeitet hat, Er hat richtig gezeigt, daß die Bedeutung eines Wortes nichts zu tun hat mit den realpsychischen Vorstellungsbildern, die sich beim Gebrauch eines Wortes einstellen, Die Idealisierung, die ein Wort dadurch hat, daß es eine - und immer diese eine - Bedeutung hat, unterscheidet es von allem anderen Sinn von ,Bedeutung<, etwa der Zeichen-Bedeutung, So grundlegend die Einsicht war, daß die Bedeutung eines Wortes nicht einfach psychischer Natur ist, so ungenügend ist es doch andererseits, von der idealen Einheit einer Wortbedeutung zu sprechen. Sprache beruht offenbar darauf, daß Worte ihrer bestimmten Bedeutung zum Trotz keine Eindeutigkeit haben, sondern eine schwankende Bedeutungsbreite besitzen, und gerade dieses Schwanken macht die eigentümliche Waghalsigkeit des Sprechens aus. Erst im Vollzug des Sprechens, im Weitersprechen, im Aufbau eines sprachlichen Kontextes fixieren sich die bedeutungtragenden Momente der Rede, indem sie sich gleichsam gegenseitig zurechtrücken. Wir erkennen das besonders an dem Verstehen von fremdsprachigen Texten. Da ist es ganz allbekannt, wie sich das Schwanken der Wortbedeutungen im Durchgehen und Reproduzieren der Sinneinheit eines Satzgebildes langsam stabilisiert. Selbst das ist natürlich noch eine ganz unvollkommene Beschreibung. Man braucht nur an den Vorgang des Übersetzens zu denken, um zu sehen, wie unvollkommen diese Beschreibung ist. Denn darin liegt das ganze Elend des Übersetzens, daß die Einheit der Meinung, die ein Satz hat, sich durch die bloße Zuordnung von Satzgliedern zu den entsprechenden Satzgliedern der anderen Sprache nicht treffen läßt und daß so diese gräßlichen Gebilde zustande kommen, die uns im allgemeinen in übersetzten Büchern zugemutet werden - Buchstaben ohne Geist. Was dort fehlt und allein Sprache ausmacht, ist, daß ein Wort das andere gibt, ein jedes Wort von dem anderen Worte sozusagen herbeigerufen wird und seinerseits selber den Fortgang des Redens weiter offen hält. Ein übersetzter Satz, wenn er nicht von einem Meister der Übersetzungskunst so gründlich verwandelt ist, daß man ihm nicht mehr anmerkt, wie ein anderer lebendiger Satz dahinter war, ist wie eine Landkarte im Vergleich zu der Landschaft selber. Die Bedeutung eines Wortes ist eben nicht nur im System und im Kontext allein da, sondern dieses In-einem-Kontext-Stehen bedeutet zugleich, daß sie sich von der Vieldeutigkeit, die das Wort an sich hat, auch dann nicht völlig abscheidet, wenn der Zusammenhang denjeweiligen Sinn eindeutig macht. Der Wortsinn, der dem Wort in der Rede, in der es begegnet, zukommt, ist es offenkundig nicht allein, was da ist. Da ist anderes mitprä-
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sent, und die Präsenz all dieses Mitpräsenten macht die Evokationskraft aus,
die in der lebendigen Rede liegt. Daher läßt sich sagen, daß jedes Sprechen ins Offene des Weitcrsprechens weist. Stets ist mehr und mehr in der Richtung zu sagen, in der das Sprechen einsetzte. Darin liegt die Wahrheit der These begründet, daß Sprechen im Element des ,Gesprächs< vor sich geht. Wenn man das Phänomen der Sprache nicht von der isolierbarcn Aussage her, sondern von der Totalität unseres Weltverhaltens aus faßt, die zugleich ein Gesprächsleben ist, dann wird besser verständlich, warum das Phänomen der Sprache so rätselhaft, anziehend und abweisend zugleich, ist. Sprechen ist die am tiefsten selbstvergessene Handlung, die wir als vernünftige Wesen überhaupt ausfuhren. Jedermann kennt die Erfahrung, wie man beim eigenen Sprechen stockt und einem die Worte in dem Augenblick ausgehen, in dem man auf sie bewußt achtet. Eine hübsche kleine Geschichte, die ich mit meiner kleinen Tochter erlebt habe, kann das illustrieren: Sie sollte }Erdbeeren< schreiben und fragte, wie das geschrieben wird. Als man es ihr sagte, bemerkte sie: I) Komisch, wenn ich das so höre, verstehe ich das Wort überhaupt nicht mehr. Erst wenn ich es wieder vergessen habe, bin ich wieder in dem Worte drin. « So Drinsein im Worte, daß man ihm nicht als Gegenstand zugewendet ist, ist offenbar der Grundmodus alles sprachlichen Verhaltens. Die Sprache hat eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so daß das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewußten geborgen bleibt. Wenn man das entbergend-bergende Wesen der Sprache erkannt hat, dann wird man über die Dimensionen der Aussagelogik hinausgenötigt und dringt in weitere Horizonte vor. Innerhalb der Lebenseinheit der Sprache ist die Sprache der Wissenschaft stets nur ein integriertes Moment, und im besonderen gibt es solche Weisen des Wortes wie die, die wir im philosophischen, im religiösen und im dichterischen Sprechen vor uns haben. In ihnen allen ist das Wort etwas anderes als der selbstvergessene Durchgang zur Welt. Wir sind in ihm zuhause. Es ist wie eine Art Bürge für das, wovon es spricht. Das liegt besonders im dichterischen Sprachgebrauch klar vor aller Augen.
15. Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? 1970
Das erste, was wir uns hier klarmachen müssen, ist: Warum ist das für uns eine Frage? Welcher Verdacht oder welche Kritik an unserem Denken steht hinter dieser Frage? Es ist der grundsätzliche Zweifel daran, ob wir überhaupt aus dem Bannkreis unserer sprachlichen Erziehung, unserer sprachlichen Gesittung und unserer sprachlich vermittelten Denkweise herauszutreten vermögen und uns der Begegnung mit einer Wirklichkeit auszusetzen wissen, die unseren Vormeinungen, Vorformungen, Vorerwartungen nicht entspricht. Dieser Verdacht besteht unter den heutigen Bedingungen, d. h. angesichts der verbreiteten Beunruhigung unseres menschlichen Daseinsbewußtseins in bezug auf die Zukunft der Menschheit, als ein langsam in unser aller Bewußtsein tretender Verdacht, daß, wenn wir so weitermachen, wenn wir die Industrialisierung und Profitierung unseres menschlichen Daseinsbewußtseins in bezug auf die Zukunft der Menschheit, als ein langsam in unser aller Bewußtsein tretender Verdacht, daß, wenn wir so weitermachen, wenn wir die Industrialisierung und Profitierung unserer menschlichen Arbeit so weitertreiben und unseren Planeten mehr und mehr zu einer großen arbeitenden Fabrik organisieren, wir die Lebensbedingungen des Menschen im biologischen Sinne sowohl wie im Sinne seiner eigenen humanen Ideale bis zur Selbstvernichtung gefahrden. So kommt es, daß wir heute mit besonderer Wachheit fragen, ob in unserem Weltverhalten nicht etwas falsch ist und ob wir vielleicht schon in unserer durch Sprache vermittelten Welterfahrung Vorurteilen unterliegen oder, was noch schlimmer wäre, ob wir Zwangsläufigkeiten ausgeliefert sind, die bis auf die sprachliche Strukturierung unserer ersten Welterfahrung zurückgehen und uns sozusagen sehenden Auges in eine unheilvolle Sackgasse rennen lassen. Es zeichnet sich langsam ab, daß, wenn wir so weitermachen - das ist zwar nicht auf den Tag auszurechnen, aber es ist ganz sicher vorauszusagen -, das Leben auf diesem Planeten unmöglich wird. Das ist so sicher vorauszusagen, als wenn wir einen Zusammenstoß mit einem anderen großen Gestirn auf Grund astronomischer Rechnungen voraussagen müßten. So ist es ein Thema von
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echter Aktualität, ob es wirklich die Sprache ist, in deren unheilvollem Bann wir uns dergestalt befinden.
Daß unsere Sprache Einfluß auf unser Denken hat, wird niemand leugnen. Wir denken in Worten. Denken heißt, sich etwas denken. Und sich etwas denken heißt, sich etwas sagen. Insofern hat Plato das Wesen des Denkens, wie ich meine, völlig fichtig erkannt, wenn er es den inneren Dialog der Seele mit sich selber nennt, einen Dialog, der ein beständiges Sich-Überholen, auf sich selbst und auf seine eigenen Meinungen und Ansichten zweifelnd und einwendend Zurückkommen ist. Und wenn etwas unser menschliches Denken kennzeichnet, dann ist es eben dieser unendliche und nie endgültig zu etwas fUhrende Dialog mit uns selber. Das unterscheidet uns vonjenem Ideal eines unendlichen Geistes, fur den alles, was ist und was wahr ist, in einem einzigen geöffneten Lebensblick vor ihm läge. Es ist unsere Spracherfahrung, unser Hineinwachsen in dieses innere Gespräch mit uns selber, das immer zugleich das vorweggenommene Gespräch mit andefcn und das Hereinholen anderer in das Gespräch mit uns ist, worin allein
sich uns die Welt in allen Erfahrungsbereichen aufschließt und ordnet. Das bedeutet aber, daß wir keinen anderen Weg zum Ordnen und Orientieren
haben als den, der aus den jeweils sich uns anbietenden Erfahrungsgegebenheiten zu Orientierungspunkten gefUhrt hat, die wir als den Begriff oder als das Allgemeine kennen, fUr das das Jeweilige ein einzelner Fall ist. Das hat Aristoteles schön gezeigt in einem glänzenden Bilde rur diesen
Weg aller Erfahrung zum Begriff und zum Allgemeinen." Es ist jene Beschreibung, in der er darstellt, wie aus vielen Wahrnehmungen sich die
Einheit einer Erfahrung bildet und wie sich aus der Vielheit der Erfahrungen schießlieh langsam so etwas wie ein Innewerden des Allgemeinen bildet, das in diesem Fluß wechselnder Aspekte des Erfahrungslebens sich durchhält. Und er hat dafUr ein schönes Gleichnis gefunden. Er fragt: Wie kommt es eigentlich zu diesem Wissen des Allgemeinen? Dadurch, daß sich die Erfahrungen häufen, daß man immer wieder dieselben Erfahrungen macht und als
dieselben wiedererkennt? Ja, natürlich, aber eben dort liegt das Problem: Was heißt, sie ,als dieselben( erkennen und wann wird so die Einheit eines
Allgemeinen zustande gebracht? Das ist so, wie wenn ein Heer auf der Flucht ist. Schließlich fangt einer an, einmal rückwärts zu blicken, wie nah der Feind ist, und sieht, er ist gar nicht so nah, und bleibt einen Augenblick stehen, und ein Zweiter bleibt stehen. Der erste, der zweite, der dritte, das ist
doch noch nicht das Ganze - und doch steht am Ende das Ganze des Heeres wieder. So ist es auch mit dem Sprechenlernen. Es gibt kein erstes Wort; und
doch wachsen wir lernend in Sprache und Welt hinein. Folgt daraus nicht, daß alles davon abhängt, wie wir in die Vorschematisierungen unserer 16
[An. Post. B 19, 100 a 3ff.]
Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?
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künftigen Weltorientierung durch das Sprechenlernen und alles, was wir auf den Wegen des Gespräches lernen, hineinwachsen? Es ist der Prozeß, den man heute >Sozialisation< nennt: das Hineinwachsen in das gesellschaftliche Verhalten. Es ist notwendig auch ein Hineinwachsen in Übereinkünfte, in ein durch Übereinkünfte geordnetes gesellschaftliches Leben, und steht daher unter dem Verdacht, Ideologie zu sein. So wie Sprechenlernen im Grunde eine ständige Einübung von Wendungen und Einübung von Argumenten ist, so ist auch unsere gesamte Überzeugungs- und Meinungsbildung ein Weg, sich in einem vorgeformten GefUge von Bedeutungsartikulationen zu bewegen. Was ist daran Wahrheit? Wie soll es gelingen, diesen vorgeformten Stoff von Wendungen und Formulierungen ganz und gar flüssig zu machen und zu jener Vollendung zu gelangen, in der man das seltene Geftihl hat, daß man das wirklich gesagt har, was man meinte? So wie es im Sprechen ist, so ist es doch wohl in unserer ganzen Lebensorientierung, daß uns eine konventionell vorgeformte Welt vertraut wird. Die Frage ist, ob wir in unserem eigenen Selbstverständnis je so weit kommen, wie wir in jenen seltenen Fällen des Sprechens, die ich eben beschrieb, manchmal zu kommen meinen, wenn einer wirklich sagt, was er sagen will. Das aber hieße: Kommt manje so weit, daß man versteht, was wirklich ist? Beides, totales Verstehen und adäquates Sagen, sind Grenzfalle unserer Weltorientierung, unseres inneren unendlichen Dialogs mit uns selber. Und doch meine ich: Gerade weil dieser Dialog unendlich ist, weil diese uns in vorgeformten Schemata des Redens angebotene Sach-Orientierung in den spontanen Vorgang unserer Verständigung miteinander und mit uns selber ständig eingeht, hat sich uns damit die Unendlichkeit dessen aufgetan, was wir überhaupt verstehen, was "\vir uns überhaupt geistig zu eigen machen können. Es gibt keine Grenze rur den inneren Dialog der Seele mit sich selber. Das ist die These, die ich dem gegen die Sprache gewendeten Ideologieverdacht entgegenstelle. Es ist also der Universalitätsanspruch des Verstehens und des Sprechens, den ich mit Gründen verteidigen möchte. Wir können alles zur Sprache bringen, und wir können uns miteinander über alles zu verständigen suchen. Daß wir dabei durch die Endlichkeit unseres eigenen Könnens und Vermögens beengt bleiben und daß nur ein wahrhaft unendliches Gespräch diesen Anspruch ganz einlösen könnte, ist freilich wahr. Aber das versteht sich von selbst. Die Frage ist vielmehr: Gibt es nicht eine Reihe zwingender Einwendungen, die sich gegen die Universalität unserer sprachlich vermittelten Welterfahrung erheben? Da ist die These der Relativität aller sprachlichen Weltbilder, die von den Amerikanern aus dem Humboldtschen Erbe geschöpft und mit neuer empirischer Forschungsgesinnung aktiviert worden ist, wonach Sprachen Weltbilder und Weltsichten sind, und zwar so, daß man aus diesem jeweiligen Weltbild, in dessen Schematisierungen man
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eingeschlossen ist, nicht heraustreten kann. Es gibt bereits in Nietzsches Aphorismen zum >Willen zur Macht. die Bemerkung, daß die eigentliche Schöpfungstat Gottes darin bestehe, daß Gott die Grammatik geschaffen habe, d. h. er habe uns in diese Schernatisierungen unserer We1tbc\vältigung eingewiesen, und das so, daß wir nicht hinter sie zurückdringen können. Ist diese Abhängigkeit des Denkens von unseren Sprechmöglichkeiten und Sprachgewohnheiten nicht zwingend? Und welche schicksalhafte Bedeutung liegt darin, wenn wir uns umsehen in einer Welt, die sich zu einer interkontinentalen globalen Ausgleichskultur zu formen beginnt, so daß wir nicht mehr mit der früheren Selbstverständlichkeit von der abendländischen Philosophie allein sprechen' Werden wir da nicht nachdenklich über der Einsicht, daß unsere ganze philosophische Begriffssprache und die aus ihr in die Wissenschaften übernommene und umgeformte Begriffssprache nur eine dieser Weltperspektiven, und zwar letzten Endes griechischen Ursprungs ist? Es ist die Sprache der Metaphysik, deren Kategorien wir aus der Grammatik kennen, \vie Subjekt und Prädikat, wie Nomen und Verbum, Hauptwort und Tätigkeitswort. Wir spürten mit dem erwachenden planetarischen Bewußtsein, das sich heute regt, daß etwa bei einem Begriff wie Tätigkeitswort eine Vorschematisierung unserer ganzen europäischen Kultur anklingt. So liegt immer die bange Frage dahinter. ob wir nicht in all unserem Denken und selbst noch in der kritischen Auflösung aller metaphysischen Begriffe wie Substanz und Akzidenzien, Subjekt und seine Eigenschaften und dergleichen, mit Einschluß unserer ganzen prädikativen Logik, nur zu Ende denken, was Jahrtausende vor jeder schriftlichen Überlieferung sich in der indogermanischen Völkerfamilie als Sprachstruktur und Welthaltung ausgebildet hat? Es ist eine Frage, die wir uns gerade heute stellen, wo wir vielleicht am Ende dieser unserer Sprachkultur stehen, das mit der technischen Zivilisation und ihren mathematischen Symbolismen langsam heraufzieht. Es ist also nicht ein müßiger Verdacht gegen die Sprache, es ist tatsächlich so, daß man sich fragen muß, wie weit von hier aus alles vorbestimmt ist. Ist am Ende doch ein Wurf im Schicksalsspiel der Weltgeschichte vor aller Weltgeschichte gefallen, der uns durch unser Sprechen in unser Denken genötigt hat und, wenn es so weitergeht, zur technischen Selbstzerstörung der Menschheit fUhrt' Nun \väre dem entgegenzuhalten, ob wir mit diesem Verdacht gegen uns selber nicht unsere eigene Vernunft künstlich entmündigen. Stehen wir nicht hier auf einem gemeinsamen Boden und wissen, daß wir von etwas Wirklichem reden und daß es nicht die Schwarzmalerei irgend so eines Wolkenkukkucksheimers von Philosophen ist, wenn ich von einer von weither kommenden Selbstgefahrdung der Menschheit spreche und einen Schicksalszusammenhang abendländischer Geschichte sehe, den uns vor allen Dingen in
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jüngster Zeit Heidegger sehen gelehrt hat? Das wird später einmal zu dem selbstverständlichen Wissen der Menschheit gehören. Wir sehen heute mit gesteigerter Klarheit und haben das vor allem von Heidegger gelernt, daß die griechische Metaphysik der Anfang der Technik ist. Die aus der abendländischen Philosophie erwachsende Begriffsbildung hat das Übermächtigenwollen als Grunderfahrung der Wirklichkeit auf einem langen geschichtlichen Weg heraufgefUhrt. Indes, sollen wir wirklich meinen, daß das, was wir so zu erkennen beginnen, unübersteigbarc Schranken aufrichtet? Der zweite Einwand, dem hier zu begegnen ist, wurde insbesondere VOn Habermas gegen meine eigenen Theorien entwickelt. Es ist die Frage, ob nicht die außersprachlichen Erfahrungsweisen unterschätzt werden, wenn man, \\'ie ich, behauptet, die Sprache sei es, durch die wir die Welterfahrung artikulieren als eine gemeinsame. Zwar ist die Vielheit der Sprachen kein Einwand. Diese Relativität ist gar nicht von der Art, daß sie uns in einen nie zu lösenden Bann schlägt, wie jeder von uns weiß, der ein wenig in anderen Sprachen zu denken vermag. Aber gibt es nicht andere Wirklichkeitserfahrungen, die nicht-sprachlicher Art sind? Da ist die Erfahrung von Herrschaft und die Erfahrung von Arbeit. Das sind die beiden Argumente, die etwa Habermas 17 gegen die Universalität des hermeneutischen Anspruchs geltend macht, indem er offenkundig die sprachliche Verständigung, ich weiß nicht, warum, als eine Art geschlossenen Kreises immanenter Sinn bewegung interpretiert und das die kulturelle Überlieferung der Völker nennt. Nun, die kulturelle Überlieferung der Völker ist vor allen Dingen eine Überlieferung von Herrschaftsformen und Herrschaftskünsten, von Freiheitsidealen, Ordnungszielen und dergleichen. Wer leugnet, daß unsere eigenen menschlichen Möglichkeiten nicht bloß im Sprechen bestehen? Man sollte zugeben, daß alle sprachliche Welterfahrung die Welt erfahrt und nicht die Sprache. Ist es etwa nicht Begegnung mit der Wirklichkeit, was wir in sprachlicher Auseinandersetzung artikulieren? Die Begegnung mit Herrschaft und Unfreiheit fUhrt zur Ausbildung unserer politischen Ideen, und es ist die Welt der Arbeit, die Welt des Könnens, die wir in der Meisterung von Arbeitsgängen als einen Weg unserer menschlichen Selbstfindung erfahren. Es wäre eine falsche Abstraktion, zu meinen, daß es nicht vor allem die konkreten Erfahrungen unserer menschlichen Existenz in Herrschaft und Arbeit sind, in denen allein unser menschliches Selbstverständnis, unsere Wertungen, unser Gespräch mit uns selbst seine konkrete ErfUllung und seine kritische Funktion hat. Die Tatsache, daß wir in einer sprachlichen Welt uns bewegen und durch eine sprachlich vorgeformte Erfahrung in unsere Welt hineinwachsen, 17 U. Habermas, >Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik,. In: Hermeneutik und Dialektik. FS fur H.-G. Gadamer 2 Bde., hrsg. vonR. Bubner, K. Cramerund R. Wiehl, Tübingen 1970, Bd. 1, S. 73-104, und meine Arbeit >Die Universalität des hermeneutischen Problems<, unten S. 219ff.]
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nimmt uns durchaus nicht die Möglichkeit der Kritik. Im Gegenteil: Es öffnet sich uns die Möglichkeit, über unsere Konventionen und alle unsere vorschematisierten Erfahrungen hinauszugelangen, indem wir uns im Gespräch mit anderen, Andersdenkenden neuer kritischer Bewährung und neuen Erfahrungen stellen. Im Grunde geht es in unserer Welt noch immer um das gleiche, um das es von Anbeginn an gegangen ist: die sprachliche Einformung in Konventionen, in gesellschaftliche Normen, hinter denen stets auch wirtschaftliche und Herrschaftsinteressen stehen. Aber eben das ist unsere menschliche Erfahrungswelt, in der wir auf unsere Urteilskraft angewiesen sind, das heißt aber, auf unsere Möglichkeit, uns jeder Konvention gegenüber kritisch zu verhalten. Sie verdanken wir in Wahrheit der sprachlichen Virtualität unserer Vernunft, und wir sind nicht etwa durch die Sprache an unserer Vernunft gehindert. Nun ist es gewiß richtig, daß unsere Welterfahrung nicht nur im Sprechenlernen und in sprachlicher Übung vor sich geht. Es gibt vorsprachliche Wclterfahrung, wie Habermas im Verweis auf die Forschungen Piagets geltend macht. Es gibt die Sprache der Gesten und der Mienen und Gebärden, die uns verbinden, das Lachen und Weinen, auf deren Hermeneutik H. Plessner aufmerksam gemacht hat, und es gibt die durch die Wissenschaft aufgebaute Welt, in der am Ende die exakten Sondersprachen mathematischer Symbolismen den festen Grund der Theorienbildung ermöglichen und die eine Fähigkeit, zu machen und zu manipulieren, herbeigeftihrt haben, clie uns geradezu als eine Art Selbstdarstellung des homo ~fäber, der technischen Ingeniosität des Menschen, erscheint. Aber alle diese Formen menschlicher Selbstdarstellung müssen doch selber in jenes innere Gespräch der Seele mit sich selbst ständig hineingeholt werden. Ich erkenne an, daß diese Phänomene darauf hinweisen, daß hinter allen Rclativitäten von Sprachen und Konventionen ein Gemeinsames liegt, das überhaupt nicht mehr Sprache ist, sondern ein auf mögliche Verspraehlichung angelegtes Gemeinsames, rur das vielleicht das gute Wort ,Vernunft< noch nicht ganz das schlechteste ist. Gleichwohl gibt es da etwas, was Sprache als Sprache auszeichnet, und das ist, daß die Sprache als Sprache sich auf eine eigentümliche Weise von allem anderen Kommunikationsgeschehen abheben läßt. Wir nennen diese Abhebung Schreiben und Schriftlichkeit. Was bedeutet es, daß etwas, was auf so anschauliche und lebenclige Weise voneinander unablösbar ist wie das überzeugende Reden des einen mit dem anderen oder des einen mit sich selber, die erstarrte Form von Schriftzügen annehmen kann, die zu entziffern und zu lesen und in neuen Sinnvollzug zu erheben möglich ist, und das so sehr, daß unsere ganze Welt mehr oder minder - vielleicht nicht mehr lange - eine literarische Welt, eine durch Schreiben und Schriftlichkeit verwaltete Welt ist? Woraufberuht die Universalität dieser Schriftlichkeit und was geschieht da? Ganz unabhängig von
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allen Unterschieden der Schriftlichkeit würde ich sagen: Jedes Schriftliche verlangt, um verstanden zu sein, so etwas wie eine Art Erhebung in das innere Ohr. Wo es sich um Poesie und dergleichen handelt, ist das selbstverständlich, und auch in der Philosophie pflege ich meinen Studenten zu sagen: Ihr müßt euer Ohr schärfen, ihr müßt wissen, daß, wenn ihr ein Wort in den Mund nehmt, ihr nicht so ein beliebiges Werkzeug angewendet habt, das, wenn es euch nicht paßt, in die Ecke geworfen wird, sondern euch in Wahrheit festgelegt habt in eine Richtung des Denkens, die von weit her kommt und weit über euch hinausreicht. Es ist immer eine Art Rückverwandlung, die von uns geleistet wird. Ich möchte sie in einem sehr weiten Sinne> Übersetzung i nennen. Lesen ist schon Übersetzen und Übersetzen ist dann noch einmal Übersetzen. Denken \:vir einen Augenblick über diese Tatsache nach, was das heißt, daß wir übersetzen, d. h. daß wir etwas Totes hinübersetzen in den neuen Vollzug des lesenden Verstehens oder gar in den neuen Vollzug des Verstehens in einer anderen, unserer eigenen Sprache, von etwas, was nur in einer fremden Sprache aufgezeichnet wurde und als Text gegeben ist. Der Vorgang des Übersetzens schließt im Grunde das ganze Geheimnis menschlicher Weltverständigung und gesellschaftlicher Kommunikation ein. Übersetzen ist eine unlösbare Einheit von implizitem Antizipieren, den Sinn im Ganzen Vorweggreifen, und explizitem Festlegen des so Vorweggenommenen. Selbst alles Reden hat etwas von dieser Art des Vorwegnehmeus und des Festlegens. Es gibt einen sehr schönen Aufsatz von Heinrich von Kleist mit dem Titel: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Redeni<. Wenn es nach mir ginge, müßte jeder Professor, der einen Kandidaten zu prüfen hat, vorher einen Revers unterschreiben, daß er diesen Artikel gelesen hat. Der Aufsatz schildert die Erfahrung, die Heinrich von Kleist bei seinem Referendarexamen in Berlin gemacht hat. Auch damals waren Examina öffentlich, wurden allerdings nur besucht von künftigen Examinanden (das soll heute auch nicht anders sein). Da hat nun Heinrich von Kleist beschrieben, wie ein Examen vor sich geht; wie da der Professor wie aus der Pistole geschossen eine Frage stellt, und dann soll der Kandidat wie aus der Pistole geschossen eine Antwort abschießen. Nun wissen wir doch alle: Eine Frage, auf die jeder die Antwort weiß, können nur Dummköpfe beantworten. Eine Frage muß sich stellen, und das heißt, daß sie eine Offenheit von Antwortmöglichkeiten einschließt. Daß die gegebene AntWOrt vernünftig ist, das ist die einzige mögliche Examensleistung, die man bewerten kann. Eine }richtigei Antwort können Computer und Papageien mit weit größerer Schnelligkeit finden. Kleist hat auch ein sehr schönes Wort fur diese Erfahrung gefunden: das Schwungrad der Gedanken muß in Gang gesetzt werden. Im Sprechen ist es so, daß ein Wort das andere gibt, und dadurch breitet sich unser Denken aus. Das erst ist wirkliches Wort, was sich
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aus noch so sehr vorschematisiertem Sprachschatz und Sprachgebrauch im Sprechen von sich aus anbietet. Man sagt es, und es fuhrt einen weiter zu von einem selber vielleicht nicht abgesehenen Konsequenzen und Zielen. Das ist der Hintergrund rur die Universalität des sprachlichen Weltzugangs, daß unsere Welterkenntnis - um es in einem Gleichnis zu sagen - sich uns nicht als ein unendlicher Text darstellt, den wir lernen, mühsam und stückhaft aufzusagen. Das Wort )aufsagen< soll bewußt machen, daß es überhaupt kein Sprechen wäre. Aufsagen ist das Gegenteil von Sprechen. Aufsagen weiß nämlich schon, was kommt, und setzt sich nicht dem möglichen Vorteil des Einfalls aus. Wir kennen alle die Erfahrung, die wir am schlechten Schauspieler machen, der aufsagt, so daß man das Geruhl hat, er denkt immer schon ans nächste Wort, wenn er das erste sagt. In Wahrheit ist das kein Sprechen. Unser Sprechen ist nur Sprechen, wenn wir das Risiko eingehen, etwas zu setzen und seinen Implikationen zu folgen. Zusammenfassend würde ich sagen, das eigentliche Mißverständnis bei der Frage der Sprachlichkeit unseres Verstehens ist ein Mißverständnis über Sprache, als ob Sprache ein Bestand von Worten und Sätzen, von Begriffen, Ansichten und Meinungen wäre. Sprache ist in Wahrheit das eine Wort, dessen Virtualität uns die Unendlichkeit des Weitersprechens und des Miteinandersprechens und die Freiheit des Sich-Sagens und Sich-Sagenlassens eröffnet. Nicht ihre ausgearbeitete Konventionalität, nicht die Last der Vorschematisierungen, mit denen wir überschüttet werden, ist Sprache, sondern die generative und kreative Kraft, solches Ganze immer wieder zu verflüssigen.
16. Die Unfihigkeit zum Gespräch 1972
Man versteht sofort, was ftir eine Frage hier gestellt wird und von welcher Tatsache die Frage ihren Ausgang nimmt. Ist die Kunst des Gesprächs im Verschwinden? Beobachten wir nicht itn gesellschaftlichen Leben unserer Zeit eine zunehmende Monologisierung des menschlichen Verhaltens? Ist das eine allgemeine Erscheinung unserer Zivilisation, die mit der wissenschaftlich-technischen Denkweise derselben zusammenhängt? Oder sind es besondere Erfahrungen der Selbstentfremdung und der Vereinsamung in der modernen Welt, die den Jiingeren den Mund verschließen? Oder ist es gar die entschlossene Abkehr von allem Verstäncligungswillen und eine verbissene Auflehnung gegen die Schein verständigung, die im öffentlichen Leben herrscht, die von den anderen als Unfahigkeit zum Gespräch beklagt wird? Das sind die Fragen, die jedem sofort kommen, wenn er das Thema hört, um das es hier geht. Dabei ist die Fähigkeit zum Gespräch eine natürliche Ausstattung des Menschen. Aristoteles hat den Menschen das Wesen genannt, das Sprache hat, und Sprache ist nur im Gespräch. Mag immer Sprache kodifizierbar sein, in Wörterbuch, Gralnmatik und Literatur eine relative Fixierung haben - ihre eigene Lebendigkeit, ihr Veralten und Sich-Erneuern, ihre Vergröberung und ihre Verfeinerung bis zu den hohen Stilformen literarischer Kunst, a11 das lebt von dem lebendigen Austausch der miteinander Sprechenden. Sprache ist nur im Gespräch. Aber wie verschieden ist die Rolle, die das Gespräch unter Menschen spielt. Ich habe einmal in einem Berliner Hotel eine Militärdelegation finnischer Offiziere beobachten können, die um einen großen runden Tisch saßen, schweigsam und in sich gekehrt, und zwischen einem jeden und seinem Nachbarn erstreckte sich die weite Tundra ihrer Seelenlandschaft wie eine nicht zu überbrückende Distanz. Und wer hat nicht schon als reisender Nordländer die beständige Brandungswelle des Gesprächs bestaunt, die auf den Märkten und Plätzen südlicher Länder, Spaniens etwa oder Italiens, sich rauschend und donnernd überschlägt! Aber vielleicht sollte man weder das eine als einen Mangel an Gesprächsbereitschaft noch das andere als eine besondere Begabung zum Gespräch betrachten. Denn vielleicht ist Gespräch
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doch noch etwas anderes als der in seiner Lautstärke wechselnde Umgangsstil des geselligen Lebens. Und sicher ist bei der Klage über die Unfähigkeit zum Gespräch nicht das gemeint. Gespräch ist in einem anspruchsvolleren Sinne zu verstehen. Machen wir es uns an einem Gegenphänomen klar, das vielleicht nicht ohne Schuld daran ist, daß die Fähigkeit zum Gespräch so im Rückgang ist: Ich meine das Telefongespräch. Es ist uns so gewohnt geworden, daß wir lange Gespräche am Telefon fUhren, und zwischen einander nahestehenden Menschen ist die kommunikative Verarmung, die beim Telefon durch die Beschränkung auf das Akustische gegeben ist, kaum fUhlbar. Aber das Problem des Gespräches stellt sich ja gar nicht in solchen Fällen, in denen eine enge Verwehung des Lebens zweier Menschen auch die Fäden des Gesprächs fort- und fortspinnt. Die Frage der Unfähigkeit zum Gespräch meint vielmehr, ob man sich überhaupt so weit öffnet und den anderen offen findet, damit die Fäden des Gesprächs hin- und herlaufen können. Hier ist die Erfahrung des Telefongesprächs dokumentarisch wie ein photographisches Negativ. Was am Telefon fast gar nicht möglich ist, ist jenes Hinhorchen auf die offene Bereitschaft des anderen, sich auf ein Gespräch einzulassen, und was einem am Telefon nie zuteil wird, ist jene Erfahrung, durch die Menschen einander nahezukommen pflegen, daß man Schritt für Schritt tiefer in ein Gespräch gerät und am Ende so in dasselbe verwickelt ist, daß eine erste nicht wieder abreißende Gemeinsamkeit zwischen den Partnern des Gesprächs entstanden ist. Ich nannte das Telefongespräch eine Art photographischen Negativs. Denn eben die Sphäre des Tastens und Horchens, durch die hindurch Menschen einander näher kommen, wird durch die künstliche Nälierung, die der Draht vermittelt, gleichsam fühllos durchstoßen. Etwas von der Brutalität des Störens bzw. des Gestörtwerdens bleibt an jedem telefonischen Anruf haften, auch wenn der Partner noch so sehr versichert, wie er sich über den Anruf freue. An unserem Vergleich wird zum ersten Male ftihlbar, wie weit die Bedingungen echten Gesprächs gespannt sind, damit das Gespräch in die Tiefe menschlicher Gemeinsamkeit zu fuhren vermag, und welche Gegenkräfte in der modernen Zivilisation ihre Ausbreitung gefunden haben, die dem entgegenstehen. Die moderne Informationstechnik, die vielleicht erst in den Anfängen ihrer technischen Perfektion steht und, wenn man den technischen Propheten glauben darf, Buch und Zeitung und erst recht die echte Belehrung, die aus menschlichen Begegnungen zu erwachsen vermag, bald ganz überflüssig machen wird, ruft uns ihr Gegenteil ins Gedächtnis, die Charismatiker des Gesprächs, die die Welt verändert haben: Konfuzius und Goutama Buddha, Jcsus und Sokrates. Wir lesen ihre Gespräche zwar, aber sie sind die Aufzeichnungen anderer, die das eigentliche Charisma des Gesprächs nicht zu erhalten und zu wiederholen vermögen, das nur in der
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lebendigen Spontaneität des Fragens und Antwortens, des Sagens und Sichgesagt-sein-Lassens anwesend ist. Gleichwohl sind gerade solche Aufzeichnungen von einer besonderen dokumentarischen Kraft. In gewissem Sinne sind sie Literatur, das heißt, sie setzen eine Kunst des Schreibens voraus, die mit literarischen Mitteln eine lebendige Wirklichkeit zu evozieren und zu gestalten weiß. Aber im Unterschiede zu den dichterischen Spielen der Einbildungskraft behalten solche Aufzeichnungen eine einzigartige Durchlässigkeit auf etwas hin, das hinter ihnen die eigentliche Wirklichkeit und das eigentliche Geschehen war. Der Theologe Franz Overbeck hat das richtig beobachtet und in der Anwendung auf das Neue Testament den Begriff der >Urliteratur< geprägt, die der eigentlichen Literatur so vorausliegt wie die Urzeit der geschichtlichen Zeit. Es ist nützlich, sich hier noch an einem anderen, analogen Phänomen Zu orientieren. Die Unfahigkeit Zum Gespräch ist ja nicht das einzige kommunikative Schwundphänomen, das wir kennen. Länger schon beobachten wir das Verschwinden des Briefes und der Korrespondenz. Die großen Briefschreiber des 17. und 18. Jahrhunderts gehören der Vergangenheit an. Das Zeitalter der Postkutsche war offenbar dieser Form der Kommunikation, wo man mit wendender Post - das meint ganz buchstäblich das Wenden der Postpferde - einander antwortete, günstiger als das technische Zeitalter der fast vollen Gleichzeitigkeit von Frage und Antwort, die das telefonische Gespräch auszeichnet. Wer Amerika kennt, weiß, daß dort noch sehr viel weniger Briefe geschrieben werden als in der Alten Welt. Tatsächlich ist, was man brieflich einander mitteilt, auch in der Alten Welt so reduziert, so sehr auf Dinge beschränkt, die weder sprachliche Gestaltungskraft noch seelische EinfUhlungskraft noch produktive Einbildungskraft brauchen können oder verlangen, daß der Fernschreiber es eigentlich besser macht als die Schreibfeder. Der Brief ist eine Art rückständigen Informationsmittels geworden. Auch auf dem Gebiete des philosophischen Denkens hat das Phänomen des Gesprächs und insbesondere jene ausgezeichnete Form des Gesprächs, die man das Gespräch unter vier Augen, den Dialog nennt, eine Rolle gespielt, und zwar in derselben Gegenstellung wie die, die wir uns als ein allgemeines Kulturphänomen soeben bewußt gemacht haben. Es war vor allem die Epoche der Romantik und ihre Wiederholung im 20. Jahrhundert, die dem Phänomen des Gesprächs eine kritische Rolle gegenüber der verhängnisvollen Monologisierung des philosophischen Denkens zuwies. Meister des Gesprächs wie Friedrich Schleiermacher, dieses Genie der Freundschaft, oder Friedrich Schlegel, dessen allgemeine Reizbarkeit ihn mehr im Gespräch sich verströmen ließ, als etwas zu bleibender Gestaltung zu bringen, waren zugleich der philosophische Anwalt einer Dialektik, die dem platonischen Vorbild des Dialogs, des Gesprächs, einen eigenen Wahrheitsvorrang zusprach. Es ist leicht begreiflich, worin dieser Vorrang liegt. Wenn
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zwei Menschen einander begegnen und sich miteinander austauschen, dann sind das immer gleichsam zwei Welten, zwei Welt blicke und zwei Weltbilder, die einander gegenübertreten. Es ist nicht der eine Blick auf die eine Welt, wie ihn das Denken der großen Denker mit ihrer Anstrengung des Begriffs und ihrer ausgearbeiteten Lehre mitteilbar zu machen versucht. Schon Plato hatte nicht nur aus Pietät gegenüber dem Meister des Gespräches, der Sakrates gewesen war, seine Philosophie lediglich in geschriebenen Dialogen mitgeteilt. Er hatte darin ein Prinzip der Wahrheit gesehen, daß das Wort nur durch die Aufnahme im anderen und die Zustimmung des anderen seine Bewährung findet und daß die Konsequenz des Denkens, die nicht zugleich ein Mitgehen des anderen mit den Gedanken des einen ist, ohne zwingende Kraft bliebe. Und es ist wahr, jeder menschliche Blickpunkt hat etwas Zufalliges an sich. Die Art, vllie einer auf seine Weise die Welt erfahrt, im Sehen und Hören und vollends im Schmecken, bleibt unaufhebbar sein eigenstes Geheimnis. ))Wer zeigt mit Fingern auf einen Geruch?« (Rilke). Wie unsere sinnliche Weltapperzeption auf eine unaufhebbare Weise privat ist, so vereinzeln uns auch unsere Antriebe und unsere Interessen, und die Vernunft, die allen gemeinsam ist und die das allen Gemeinsame zu erfassen begabt ist, bleibt ohnmächtig gegenüber den Verblendungen, die unsere Einzelnheit in uns nährt. So bedeutet das Gespräch mit dem anderen, seine Einwendungen oder seine Zustimmung, sein Verständnis und auch seine Mißverständnisse, eine Art Ausweitung unserer Einzelnheit und eine Erprobung der möglichen Gemeinsamkeit, zu der uns Vernunft ermutigt. Es läßt sich eine ganze Philosophie des Gespräches denken, die von diesen Erfahrungen ausgeht: dem unvertauschbaren Blickpunkt des einzelnen, in dem sich die ganze Welt spiegelt, und der ganzen Welt, die sich in all den einzelnen Blickpunkten anderer als eine und dieselbe darstellt. Es war die großartige metaphysische Konzeption von Leibniz, die auch Goethe bewundert hat, daß die vielen Spiegel des Universums. die die einzelnen Individuen sind, in ihrer Allheit das eine Universum selbst sind. Das ließe sich zu einem Universum des Gesprächs ausgestalten. Was so die Romantik in der Entdeckung des unaufschließbaren Geheimnisses der Individualität gegen die abstrakte Allgemeinheit des Begriffes kehrt, das wiederholte sich am Anfang unseres Jahrhunderts in der Kritik an der Schulphilosophie des 19. Jahrhunderts und am liberalen Fortschrittsglauben. Nicht zufillig war es ein Schüler der deutschen Romantik, der dänische Schriftsteller Sören Kierkegaard, der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit großer schriftstellerischer Kunst gegen die Schulherrschaft des HegeIschen Idealismus zu Felde gezogen war, der jetzt im 20.Jahrhundert durch die Übersetzung ins Deutsche zu europäischer Wirkung karn. Es war hier in Heidelberg (aber auch an manchem anderen Orte Deutschlands), daß das Denken dem neukantianischen Idealismus die Erfah-
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rung des Du entgegenstellte und des Wortes, das Ich und Du verbindet. In der Zeitschrift ~Die Kreatur< fand die in Heidelberg insbesondere durch Jaspers geförderte Kierkegaard-Renaissance einen wirksamen Ausdruck. Männer wie Franz Rosenzweig und Martin Buber, Friedrich Gogarten und Ferdinand Ebner, um von sehr verschiedenen Lagern kommende jüdische, protestantische und katholische Denker zu nennen, aber auch ein Psychiater vom Range Viktor von Weizsäckcrs, vereinigten sich in der Überzeugung, daß der Weg der Wahrheit das Gespräch sei. Was ist ein Gespräch? Gewiß denken \~lir dabei an einen Vorgang zwischen Menschen, der bei aller Ausbreitung und potentiellen Endlosigkeit dennoch eine eigene Einheit und Geschlossenheit besitzt. Etwas ist rur uns ein Gespräch gewesen, was etwas in uns hinterlassen hat. Nicht dies, daß wir da etwas Neucs erfahren haben, machte das Gespräch zu einem Gespräch, sondern daß uns im anderen etwas begegnet ist, was uns in unserer eigenen Welterfahrung so noch nicht begegnet war. Was die Philosophen in der Kritik des monologischen Denkens bewegte, das erfahrt der einzelne an sich selber. Das Gespräch hat eine verwandelnde Kraft. Wo ein Gespräch gelungen ist, ist uns etwas geblieben und ist in uns etwas geblieben, das uns verändert hat. So ist das Gespräch in eigentümlicher Nachbarschaft mit Freundschaft 18 • Nur im Gespräch (und im Miteinanderlachen, das wie ein wortlos überbordendes Einverständnis ist) können Freunde einander finden und jene Art von Gemeinsamkeit aufbauen, in der jeder dem anderen derselbe bleibt, weil beide den anderen finden und am anderen sich selber finden. Doch um nicht immer von diesem äußersten und tiefsten Sinn von Gespräch allein zu sprechen, wol1en wir unsere Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Formen von Gespräch richten, die in unserem Leben vorkommen und die alle unter der eigentümlichen Bedrohung stehen, von der unser Thema spricht. Da ist zunächst das pädagogische Gespräch. Nicht daß es an sich einen besonderen Vorrang verdiente. Aber an ihm läßt sich besonders gut zeigen, was hinter der Erfahrung der Unfähigkeit zum Gespräch liegen mag. Das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler ist z\var sicherlich eine der Urformen von Gesprächserfahrung, und jene Charismatiker des Gesprächs, von denen wir oben sprachen, sind alle Meister und Lehrer, die ihre Schüler oder Jünger durch die Gespräche belehren. In der Situation des Lehrers liegt aber offenbar eine eigentümliche Schwierigkeit, die Fähigkeit zum Gespräch in sich festzuhalten, der die meisten erliegen. Wer zu lehren hat, glaubt reden zu müssen und reden zu dürfen, und je konsistenter und zusammenhängender er zu reden vermag, desto eher meint er, seine Lehre mitzuteilen. Das ist 16 rVgl. meinen Beitrag in der FS fUr U. Hölscher (Würzburg 1985) >Freundschaft und Selbsterkenntnis<, in Ges. Werke Bd. 7]
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Ergänzungen
die Gefahr des Katheders, die wir alle kennen. Ich erinnere mich aus meiner
Studienzeit einer Seminarübung bei Husser!. Solche Übungen sollen ja bekanntlich nach Möglichkeit Forschungsgespräche und mindestens pädagogische Gespräche pflegen. Husserl, der in den frühen zwanziger Jahren als der Freiburger Meister der Phänomenologie von einem tiefen Missions-
drang beseelt war und in der Tat eine bedeutende philosophische Lehrtätigkeit ausübte, war kein Meister des Gesprächs. Injener Seminarsitzung stellte er am Anfang eine Frage, bekam eine kurze Antwort und ging dann auf diese Antwort zwei Stunden lang in einem ununterbrochenen Lehrmonolog ein. Als er am Ende der Sitzung mit seinem Assistenten Heideggcr aus dem Saale ging, sagte er zu ihm: ))Heute war es einmal eine anregende Diskussion.«Es sind Erfahrungen solcher Art, die heute zu etwas wie einer Krisis der
Vorlesung geruhrt haben. Die Unfahigkeit zum Gespräch besteht hier vor allem auf der Seite des Lehrers, und sofern der Lehrer der eigentliche Vermittler der Wissenschaft ist, auf der monologischen Struktur der modernen Wissenschaft und Theorienbildung. Man hat im Hochschulleben immer wieder Versuche gemacht, die Vorlesung durch Diskussion aufzulockern, und hat dabei freilich auch die umgekehrte Erfahrung machen müssen, daß das Umspringen von der rezeptiven Haltung des Zuhörers zu der Initiative des Fragens und Opponierens äußerst schwierig ist und nur selten gelingt. Am Ende liegt in der Lehrsituation, sowie sie über die Intimität eines Gesprächs im kleinen Kreise hinaus ausgeweitet ist, eine unautbebbarc Schwierigkeit rur das Gespräch. Plato hat das bereits wohl gewußt; ein Gespräch ist nie mit vielen zugleich möglich oder auch nur in der Anwesenheit vieler. Unsere sogenannten Podiumsdiskussionen, diese Gespräche am halbrunden Tisch, sind immet auch halb tote Gespräche. Es gibt aber andere, echte, d. h. individualisierte Gesprächssituationen, in denen das Gespräch seine eigentliche Funktion behält. Ich möchte drei Typen unterscheiden: das Verhandlungsgespräch, das Heilgespräch und das vertrauliche Gespräch. Schon im Worte Verhandlungsgespräch liegt eine Betonung der Wechselseitigkeit, in der hier die Gesprächspartner aufeinander zukommen. Gewiß handelt es sich hier um Formen sozialer Praxis. Verhandlungen zwischen Geschäftspartnern oder auch politische Verhandlungen haben nicht den Charakter der sogenannten wechselseitigen Aussprache von Personen. Hier leistet das Gespräch, wenn es erfolgreich ist, zwar auch einen Ausgleich, und das ist seine eigentliche Bestimmung, aber die Personen, die im gegenseitigen Austausch ihrer Bedingungen zu einem Ausgleich gelangen, sind dabei nicht als Personen angesprochen und eingesetzt, sondern als Sachwalter der von ihnen vertretenen Parteiinteressen. Trotzdem wäre es reizvoll, einmal näher zu untersuchen, welche Züge echter Gesprächsbegabung den erfolgreichen Geschäftsmann oder Politiker auszeichnen und wie er die Barrikaden
Die Unfahigkeit zum Gespräch
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im anderen, die einem Ausgleich entgegenstehen, zu überwinden weiß. Gewiß ist auch darin die entscheidende Voraussetzung, daß man den anderen als anderen \vahrzunehmen weiß. In diesem Falle die wirklichen Interessen des anderen, die den eigenen Interessen entgegenstehen, und die doch, richtig wahrgenommen, vielleicht Möglichkeiten des Sich-Zusammenfindens enthalten. Insofern bewährt sich selbst im Verhandlungs gespräch die generelle Bestimmung des Gespräches, daß man, um zum Gespräch fahig zu sein, muß hören können. Die Begegnung mit dem anderen erhebt selbst da über die eigene Begrenztheit, wo es nur um Dollars oder um Machtinteressen geht. Von besonderer Aufschlußkraft für unser Thema wird das Heilgespräch sein, insbesondere das in der psychoanalytischen Praxis gepflegte Heilgespräch. Denn hier ist die U nfahigkeit zum Gespräch geradezu die Ausgangslage, von der aus sich die Wiedererlernung des Gesprächs als der Vorgang der Heilung selber darstellt. Es macht die krankhafte Stärung aus, die den Patienten schließlich in die volle Hilflosigkeit treibt, daß die natürliche Kommunikation mit der Mitwelt durch Wahnvorstellungen unterbrochen ist. Der Kranke ist in diese Vorstellungen so verstrickt, daß er die Sprache der anderen nicht mehr wirklich zu hören weiß, so sehr nährt er seine eigenen krankhaften Vorstellungen. Aber eben die Unerträglichkcit dieser Abgespaltenheit aus der natürlichen Gesprächsgemeinschaft der Menschen bringt ihn am Ende zur Krankheitseinsicht und führt ihn zum Arzt. Damit ist eine Ausgangssituation beschrieben, die fur unser Thema von vorzüglicher Bedeutung ist. Das Extrem ist immer lehrreich fur alle mittleren Fälle. Das Besondere am psychoanalytischen Heilgespräch ist nun, daß es die Unfahigkeit zum Gespräch, die hier die eigentümliche Krankheit ausmacht, auf keine andere Weise zu heilen unternimmt als durch Gespräch. Doch ist, was aus diesem Vorgang zu lernen ist, nicht einfach übertragbar. Einmal ist der Analytiker nicht bloß Gesprächsparrner, sondern auch der Wissende, der gegen den Widerstand des Patienten die tabuierten Bereiche des Unbewußten aufzuschließen drängt. Man betont zwar mit Recht, daß das Gespräch selber dann doch eine gemeinsame Aufklärungsarbeit ist und nicht einfache Anwendung eines Wissens seitens des Arztes. Aber eine andere, damit zusammenhängende Bedingung ist eine spezifische, die die Übertragung des psychoanalytischen Heilgesprächs auf das Gesprächslebcn der sozialen Praxis einschränkt: Hier muß die erste Voraussetzung die Krankheitseinsicht des Patienten sein, das heißt, die Unfahigkeit zum Gespräch ist hier sich selbst eingeständig. Das eigentliche Thema unserer Überlegungen ist dagegen eine Unfahigkeit zum Gespräch, die sich selbst nicht eingesteht. Sie hat im Gegenteil die Normalform, daß man diese Unfahigkeit nicht bei sich sieht, sondern bei dem anderen. Man sagt: ))Mit Dir ist nicht zu reden. ({ Und bei dem anderen
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ist es dann das Gefuhl oder auch die Erfahrung, nicht verstanden zu werden. Das läßt einen im vorhinein verstummen oder gar in Erbitterung die Lippen zusammenpressen. Insofern ist >Unfahigkeit zum Gespräch< in letztem Betracht immer die Diagnose, die einer stellt, der sich selbst dem Gespräch nicht stellt bzw. dem es nicht gelingt, mit dem anderen ins Gespräch zu kommen. Die Unfähigkeit des anderen ist immer zugleich auch die Unfähigkeit des einen. Ich möchte diese Unfahigkeit sowohl nach der subjcktiven wie nach der objektiven Seite hin betrachten, d. h. einerseits von der subjektiven Unfähigkeit sprechen, der Unfähigkeit zu hören, und auf der anderen Seite von der objektiven Unfahigkeit, die darauf beruht, daß keine gemeinsame Sprache existiert. Unfahigkeit zu hören ist ein so wohlbekanntes Phänomen, daß man sich durchaus nicht dabei andere vorzustellen braucht, die diese Unfahigkeit in besonderem Maße besäßen. Man erfahrt sie genügend an sich selbst, sofern man überhört oder auch falsch hört. Und ist das nicht wirklich eine unserer menschlichen Grunderfahrungen, daß wir nicht rechtzeitig wahrnahmen, was in dem anderen vorgeht, daß unser Ohr nicht fein genug war, sein Verstummen und sein Sichversteifen zu ~hören Oder auch, daß man falsch hört. Es ist unglaublich, was da möglich ist. Ich hab einmaldurch einen (an sich belanglosen) Übergriff örtlicher Stellen in Leipzig - im Polizeigefangnis gesessen. Da wurden den ganzen Tag über Namen durch die Gänge gerufen von denen, die jeweils zum Verhör geftihrt werden sollten. Ich hab doch tatsächlich fast bei jedem Ruf im ersten Augenblick meinen Namen zu hören gemeint - so sehr war solche Erwartung in mir gespannt! Überhören und Falschhören - beides erfolgt aus dem gleichen in einem selbst antreffbaren Grunde. Nur der überhört oder hört falsch, der sich selbst ständig zuhört, dessen Ohr gleichsam so erflillt ist von dem Zuspruch, den er sich selbst ständig zuspricht, indem er seine Antriebe und Interessen verfolgt, daß er den anderen nicht zu hören vermag. Das ist, wie ich betone, in allen denkbaren Abstufungen unser aller Wesenszug. Trotzdem immer wieder zum Gespräch fahig zu werden, d. h. auf den andern zu hören, scheint mir die eigentliche Erhebung des Menschen zur Hutnanität. Nun mag es freilich auch den objektiven Grund geben, daß die Sprache als eine gemeinsame zwischen den Menschen mehr und mehr zerfallt, je mehr wir uns in die Monologsituation der wissenschaftlichen Zivilisation unserer Tage eingewöhnt haben und an die Informationstechnik anonymer Art, der man da ausgeliefert ist. Man denke etwa an das Tischgespräch und die extreme Form seiner Abtötung, die in gewissen Luxuswohnungen bemitleidenswert reicher Amerikaner durch technischen Komfort und seine sinnlose Verwendung erreicht sein soll. Da soll es Speisezimmer geben, die so eingerichtet sind, daß jeder Tischgenosse im Aufblicken von seinem Teller bequem in einen eigens ftir ihn angebrachten Fernsehapparat schaut. Mankann
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sich einen Fortschritt der Technik ausmalen, der noch viel weiter geht und bei dem man sozusagen eine Brille aufhat, durch die man nicht mehr hindurchsieht, sondern Fernsehen sicht, etwa wie man manchmaljemanden durch den Odenwald wandern und dabei den wohlvertrauten Klängen und Schlagern lauschen sicht, die er in einem Transistorgerät mit sich spazieren trägt. Das Beispiel soll nur sagen, daß es objektive gesellschaftliche Umstände gibt, durch die man das Sprechen verlernen kann, das Sprechen nämlich, das Zu-jemandem-Sprechen ist und Auf-jemanden-Antworten ist und das wir ein Gespräch nennen. Indessen mag das Extrem auch hier wieder das Mittlere deutlich machen. Es ist nämlich zu beachten, daß die Verständigung zwischen Menschen ebensosehr eine gemeinsame Sprache schafft wie auch umgekehrt voraussetzt. Entfremdung zwischen Menschen zeigt sich darin, daß sie nicht mehr dieselbe Sprache sprechen (wie man sagt), und Annäherung darin, daß man eine gemeinsame Sprache findet. Es ist wahr: Verständigung wird schwer, wo die gemeinsame Sprache fehlt. Verständigung \\7ird aber auch schön, wo eine gemeinsame Sprache gesucht und am Ende gefunden wird. Wir kennen es am extremen Fall des stammelnden Gesprächs zwischen Menschen verschiedener Muttersprache, die nur Brocken von der Sprache des anderen kennen, aber sich gedrängt ftihlen, einander et\vas zu sagen. Wie sich da Verstehen und am Ende gar Einverständnis im praktischen Umgang oder auch im persönlichen oder theoretischen Gespräch am Ende doch erreichen lassen, mag ein Symbol dafUr sein, daß auch, wo die Sprache zu fehlen scheint, Verständigung gelingen kann, durch Geduld, durch FeinfUhligkeit, durch Sympathie und Toleranz und durch das unbedingte Vertrauen auf die Vernunft, die unser aller Teil ist, Wir erleben es ja beständig, daß auch zwischen Menschen verschiedenen Temperamentes, verschiedener politischer Ansichten Gespräch möglich ist. ,Unfahigkeit zum Gespräch< scheint mir mehr der Vorwurf, den einer gegen den erhebt, der seinen Gedanken nicht folgen will, als der Mangel, den der andere wirklich besitzt,
IV. Weiterentwicklungen
17. Die Universalität des hermeneutischen Problems 1966
Warum hat in der heutigen philosophischen Diskussion das Problem der Sprache eine ähnlich zentrale Stellung erworben wie vor etwa 150 Jahren der Begriff des Denkens oder des sich selber denkenden Denkens? Ich möchte mit dieser Frage indirekt auf die Frage eine Antwort geben, die wir als die zentrale Frage der Neuzeit, wie sie uns durch die Existenz der modernen Wissenschaft aufgegeben ist, bezeichnen müssen. Ich meine die Frage, wie sich unser natürliches Weltbild. die Wclterfahrung, die wir als Menschen haben, sofern wir unsere Lebensgeschichte und unser Lebensschicksal durchleben, zu jener unangreifbaren und anonymen Autorität verhält, welche die Stimme der Wissenschaft darstellt. Seit dem 17. Jahrhundert ist das die eigentliche Aufgabe der Philosophie geworden, diesen neuen Einsatz des menschlichen Wissen-Könnens und Machen-Könnens mit dem Ganzen unserer menschlichen Lebenserfahrung zu vermitteln. Das spricht sich in vielem aus und umfaßt auch noch den Versuch, den die heutige Generation zu machen unternimmt, wenn sie das Thema der Sprache, die Grundvollzugsweise unseres In-der-Welt-Seins, als die alles umgreifende Form der Weltkonstitution in den Mittelpunkt der Philosophie rückt. Wir haben dabei immer die in den sprachlosen Zeichen erstarrende Aussage der Wissenschaften im Auge und die Aufgabe der Rückbindung der durch sie verfügbar gemachten und in unsere Willkür gestellten gegenständlichen Welt, die wir Technik nennen, an die unwillkürlichen und nicht mehr von uns zu machenden, sondern zu ehrenden Grundordnungen unseres Seins. Ich will ein paar schlichte Dinge explizieren, an denen sich die Universalität dieses Gesichtspunktes, den ich unter Anknüpfung an eine von Heidegger in seiner Frühzeit entwickelte Sprechweise und damit in FortfUhrung einer aus der protestantischen Theologie ursprünglich stammenden und durch Dilthey in unser Jahrhundert überlieferten Perspektive ,hermeneutisch< genannt habe. Was ist Hermeneutik? Ich möchte ausgehen von zwei Entfremdungserfahrungen, die uns in dem Bereiche der uns angehenden Bedeutsamkciten unseres Daseins begegnen. Ich meine die Entfremdungserfahrung des ästhetischen Bewußtseins und die Entfremdungserfahrung des historischen Be-
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Weitercnrwicklungen
wußtseins. Was ich damit sagen will, läßt sich in beiden Fällen mit wenigen Worten angeben: Das ästhetische Bc\vußtsein realisiert die Möglichkeit, die wir als solche \"leder ableugnen noch in ihrem Werte mindern können, daß Inan sich zur Qualität eines künstcrlischen Gebildes kritisch oder affirmativ verhält; das heißt aber so, daß das Urteil, das wir selber haben, über die Aussagekraft und die Geltung dessen, was wir so beurteilen, letzten Endes entscheidet. Das, was wir verwerfen, hat uns nichts zu sagen oder wir verwerfen es, \\'cil es uns nichts zu sagen hat. Das charakterisiert unser Verhä1tnis zur Kunst im großen Sinne des Wortes, die ja bekanntlich, wie Hegel gezeigt hat, auch noch die ganze griechisch-heidnische religiöse Welt mit umfaßt, als Kunst-Religion, als die Weise, das Göttliche zu erfahren in der bildnerischen Antwort des Menschen. Wenn nun diese ganze Erfahrungswe1t sich zum Gegenstand ästhetischer Beurteilung verfremdet, dann verliert sie offenbar ihre ursprüngliche und fraglose Autorität. Indessen, wir müssen uns eingestehen, daß uns die Welt der künsterlischen Überlieferung, die großartige Gleichzeitigkeit, die uns die Kunst mit so vielen menschlichen Welten verschafft, mehr ist als ein bloßer Gegenstand unseres freien Annehmens und Verwerfens. Ist es nicht in Wahrheit so, daß das, was uns als Kunst\verk ergriffen hat, uns gar nicht mehr die Freiheit läßt, es noch einmal von uns wegzuschieben und von uns aus anzunehmen oder zu verwerfen? Und stimmt es nicht obendrein, daß diese Gebilde der menschlichen Kunstfertigkeit, wie sie durch diejahrtausende gehen, ganz gewiß nicht rur solches ästhetische Annehmen oder Verwerfen gebildet worden sind? Kein Künstler der religiös gebundenen Kulturen der Vergangenheit hat je sein Kunstwerk in einer anderen Absicht aufgestellt als in der, daß das, was er da geschaffen hat, in dem, was es sagt und darstellt, angenommen wird und in die Welt hineingehört, in der die Menschen miteinander leben. Das Bewußtsein von Kunst, das ästhetische Bewußtsein, ist immer ein sekundäres Bewußtsein. Es ist sekundär gegenüber den1 unmittelbaren Wahrheitsanspruch, der von dem Kunst"verk ausgeht. Insofern ist es eine Verfremdung von etwas, was uns in Wahrheit viel innerlicher vertraut ist, wenn wir etwas auf seine ästhetische Qualität hin beurteilen. Solche Verfremdung zum ästhetischen Urteil greift immer dort Platz, wo einer sich entzogen hat, \VO einer dem unmittelbaren Anspruch dessen, was ihn ergreift, sich nicht stellt. Deswegen war einer der Ausgangspunkte meiner Überlegungen eben dieser, daß die ästhetische Souveränität, die sich im Bereiche der Erfahrung der Kunst geltend macht, gegenüber der eigentlichen Erfahrungswirklichkeit, die uns in der Gestalt der künstlerischen Aussage begegnet, eine Verfremdung darstellt. ' 1 [Vgl. dazu bereits 1958 ,Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins( und meine anderen Arbeiten in Ges. Werke Bd. 8J
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Vor etwa 30 Jahren wurde das hier liegende Problem auf entstellte Weise bewußt, als die nationalsozialistische Kunstpolitik auf dem Wege und Zu dem Zwecke ihrer eigenen politischen Ziele den Formalismus einer reinen ästhetischen Kultur durch ihre Rede von der volksverbundenen Kunst zu kritisieren versuchte, eine Redeweise, der man bei allem Mißbrauch, der diese Parole mit sieh fUhrte, doeh nieht absprechen kann, daß sie auf etwas Wirkliches hinweist. Jedem echten künsterlischen Schaffen ist seine Gemeinde zugeordnet, und eine solche ist immer etwas anderes als die Bildungs gesellschaft, die von der Kunstkritik informiert und terrorisiert wird. Die zweite Weise von Entfremdungserfahrung ist das, was man das historische Bewußtsein nennt, jene langsam sich ausbildende großartige Kunst des Sich-selber-gegenüber-kritisch-Werdens in der Aufnahme der Zeugnisse vergangenen Lebens. Die bekannte Rankesche Formulierung von der Auslöschung der Individualität hat in eine populäre Formel gekleidet, was Ethos des historischen Denkens ist: daß das historische Bewußtsein sich die Aufgabe stellt, alle Zeugnisse einer Zeit aus dem Geiste dieser Zeit zu verstehen, sie wegzurücken VOn den uns einnehmenden Aktualitäten unseres gegenwärtigen Lebens und ohne moralische Besserwisserei die Vergangenheit zu erkennen, wie auch sie eine menschliche war. 2 Nietzsches bekannte Abhandlung ,Über Nutzen und Nachteil der Historie fUr das leben, hat den Widerspruch zwischen einer solchen historischen Distanzierung und dem unmittelbaren Formungswillen, der immer der Gegenwart eignet, formuliert. Zugleich hat er manche der Folgen dieses, wie er es nannte, alexandrinerhaften, geschwächten Formwillens des Lebens, der sich als die moderne historische Wissenschaft darstellt, aufgezeigt. Ich erinnere an seine Anklage der Wertungsschwäche, die den modernen Geist befallen hat, weil er sich so sehr gewöhnt habe, in immer wieder anderes und wechselndes Licht zu treten, so daß er geblendet sei und zu einer eigenen Wertung dessen, was sich ihm zeigt, zu einer Standortbestimmung gegenüber dem, was ihm gegenübertritt, nicht mehr fahig ist; die Wertblindheit des historischen Objektivismus wird hier zurückgefUhrt auf den Konflikt zwischen der verfremdeten geschichtlichen Welt und den lebenskräften der Gegenwart. Nietzsche ist gewiß ein ekstatischer Zeuge, aber daß es mit dem historischen Bewußtsein und seinem Anspruch auf historische Objektivität eigene Schwierigkeiten hat, das hat die geschichtliche Erfahrung, dic wir mit diesem historischen Bewußtsein in den letzten hundert Jahren gemacht haben, eindrucksvoll gelehrt. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten
2 rVgL O. Vossler, Rankes historisches Problem. Einleitung zu: L. Ranke, Französische Geschichte - vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert, Leipzig 1943, auch in: O. Vossler, Geist und Geschichte - Gesammelte Aufsätze, München 1964, S. 184-214.]
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Weiterentwicklungen
unserer wissenschaftlichen Erfahrung, daß wir die Meisterwerke historischer Forschung, in denen Rankes Forderung der Selbstauslöschung des Individualismus zu einer Art Vollendung gebracht scheint, dennoch mit unfehlbarer Sicherheit den politischen Tendenzen ihrer eigenen Gegenwart zuordnen können. Wir wissen, wenn wir Mommsens römische Geschichte lesen, wer das nur geschrieben haben kann, d. h. in welcher politischen Situation der eigenen Zeit dieser Historiker die Stimmen der Vergangenheit zu einer sinnvollen Aussage zusammengeordnet hat. Wir wissen es ebenso von Treitschke oder von Sybel, um nur ein paar recht markante Beispiele aus der preußischen Historiographie zu wählen. Das will zunächst nur heißen: offenbar ist es nicht die ganze Wirklichkeit der geschichtlichen Erfahrung, die in der Selbstauffassung der historischen Methode zur Sprache kommt. Es ist unbestreitbar ein berechtigtes Ziel, die Vorurteile der eigenen Gegenwart so sehr unter Kontrolle zu nehmen, daß man die Zeugnisse der Vergangenheit nicht mißversteht. Aber es ist offenbar nicht die ganze Aufgabe des Verstehens der Vergangenheit und ihrer Überlieferung, die sich darin vollendet. Ja, es könnte sein, - und diesem Gedanken nachzugehen, ist in der Tat eine der ersten Aufgaben, die sich bei der kritischen Prüfung der Selbstauffassung der historischen Wissenschaft stellen - daß nur die belanglosen Dinge in der historischen Forschung diesem Ideal einer totalen Auslöschung der Individualität nahezukommen erlauben, während die großen produktiven Forschungsleistungen stets etwas von dem glanzvollen Zauber einer unmittelbaren Spiegelung von Gegenwart in Vergangenheit und Vergangenheit in Gegenwart bewahren. Auch diese zweite Erfahrung, von der ich ausgehe, die historische Wissenschaft, bringt nur einen Teil dessen zur Sprache, was unsere wahrhafte Erfahrung, d. h. was die Begegnung mit der geschichtlichen Überlieferung ftir uns ist, und kennt sie nur in einer entfremdeten Gestalt. Wenn ich nun das hermeneutische Bewußtsein als eine umfassendere Möglichkeit, die es zu entwickeln gilt, dem gegenüberstelle, so gilt es auch da, zunächst die wissenschaftstheoretische Verkürzung zu überwinden, mit der das, was man traditionellerweise )Wissenschaft der Hermeneutik ( nennt, in die moderne Wissenschaftsidee eingegliedert worden ist. Wenn wir uns der Schleiermachersehen Hermeneutik zuwenden, in der Schleiermacher die Stimme der historischen Romantik geftihrt hat und zugleich das Anliegen des christlichen Theologen dabei wachsam im Auge behielt, sofern seine Hermeneutik als eine allgemeine Kunstlehre des Verstehens der Sonderaufgabe der Auslegung der Heiligen Schrift zugute kommen sollte, so zeigt sich seine Perspektive fur diese hermeneutische Disziplin durch den modernen Wissenschaftsgedanken eigentümlich beschränkt. Schleiermacher definiert die Hermeneutik als die Kunst, Mißverstand zu vermeiden. Sicherlich ist das keine ganz verkehrte Beschreibung der hermeneutischen Bemühung. Das
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Fremde verfuhrt leicht zu Mißverstand, der durch den Zeitenabstand, die Veränderung von Sprachgewohnheiten, den Wandel von Wortbedeutungen und von Vorstellungsweisen uns nahegclegt ist. Es gilt, Mißverstehen durch kontrollierte methodische Besinnung auszuschalten. Nur ist auch hier die Frage: Ist das Phänomen des Verstehens angemessen definiert, wenn ich sage: Verstehen heißt, Mißverstehen vermeiden? Liegt nicht in Wahrheit allem Mißverstehen etwas wie ein )tragendes Einverständnis< voraus? Es ist ein Stück Lebenserfahrung, das ich hier zu evozieren suche. Wir sagen etwa: Verstehen und Mißverstehen spielt zwischen Ich und Du. Schon die Formulierung )lch und Du< bezeugt aber eine ungeheure Verfremdung. So etwas gibt esja gar nicht. Es gibt weder)das< Ichnoch )das< Du, es gibt ein Du-Sagen eines Ich und es gibt ein Ich-Sagen gegenüber einem Du; aber das sind Situationen, denen immer schon Verständigung vorhergeht. Zujemandem Du-Sagen - wir wissen es alle - setzt ein tiefes Einverständnis voraus. Da trägt schon etwas, was dauerhaft ist. Auch bei dem Versuch, uns über eine Sache zu verständigen, in der wir verschiedener Meinung sind, ist das immer mit im Spiele, selbst, wenn wir dieses Tragenden uns nur selten bewußt werden. Nun will uns die Wissenschaft der Hermeneutik glauben machen, der Text, den wir zu verstehen haben, sei etwas Fremdes, das uns zum Mißverständnis zu verfUhren suche, und es komme darauf an, durch ein kontrolliertes Verfahren historischer Erziehung, durch historische Kritik und kontrollierbare Methode im Bunde mit psychologischer Einftihlungskraft alle die Momente auszuschalten, durch die ein Mißverstehen sich einschleichen kann. Das ist, wie mir scheint, eine in einem Teilaspekt gültige, aber doch sehr teilhafte Beschreibung eines umfassenden Lebensphänomens, das das Wir-Sein, das wir alle sind, konstituiert. Es scheint mir die Aufgabe, über die Vorurteile, die dem ästhetischen Bewußtsein, dem historischen Bewußtsein und dem zu einer Technik des Vermeidens von Mißverständnissen restringierten hermeneutischen Bewußtsein zugrunde liegen, hinauszukommen und die in ihnen gelegenen Verfremdungen zu überwinden. Was ist es denn, was uns in diesen drei Erfahrungen als das Ausgelassene erschien, und warum ihre Partikularität uns so fuhlbar wird? Was ist das ästhetische Bewußtsein angesichts der Fülle dessen, was uns immer schon angesprochen hat und was wir in der Kunst ~klassisch< nennen?3 Ist nicht auf diese Weise immer schon bestimmt, was rur uns sprechend wird und was wir bedeutsam finden? All das, wovon wir mit einer instinktiven - wenn auch 3 [Es ist ein Mißverständnis, meine Ausftihrungen in W u M, Ges. Werke Bd. 1, S.290f. über )Das Beispiel des Klassischen< als Bekenntnis zu einem platonisierenden klassizistischen Stilideal zu sehen (H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1979) und nicht als Herausarbeitung einer geschichtlichen Kategorie.]
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viclleicht irrigen - Sicherheit, aber Hir unser Bewußtsein zunächst gültig, sagen; »das ist klassisch, das wird bleiben«, hat doch schon unsere Möglichkeit, etwas ästhetisch zu beurteilen, vorgeformt. Es ist nicht so, daß es rein formale Kriterien wären, welche das Gestaltungsniveau oder den Formungsgrad beliebig auf seine artistische Virtuosität hin zu beurteilen und gutzuheißen beanspruchten. Wir stehen vielmehr mitten in einem durch die Stimmen, die uns ständig erreichen, beschickten ästhetischen Resonanzraum unserer sensitiv-geistigen Existenz, - und das liegt aller ausdrücklichen ästhetischen Beurteilung voraus. Ähnlich steht es mit dem historischen Bewußtsein. Auch da werden wir gewiß zugeben, daß es unzählige Aufgaben historischer Forschung gibt, die keinen Bezug zu unserer eigenen Gegenwart und ihrer geschichtlichen Bewußtseinstiefe haben. Wohl aber scheint es mir kein Zweifel, daß sich der große Vergangenheitshorizont, aus dem heraus unsere Kultur und unsere Gegenwart leben, bei al1em als wirksam erweist, was wir in die Zukunft hinein wollen, hoffen oder fUrchten. Die Geschichte ist mit da und ist selbst nur da im Lichte dieser unserer Zukünftigkeit. Hier haben wir alle durch Heidegger gelernt, der gerade den Primat der Zukünftigkeit fUr das mögliche Erinnern und Behalten und damit rur das Ganze unserer Geschichte gezeigt hat. Das wirkt sich in dem, was Heidegger über die Produktivität des hermeneutischen Zirkels gelehrt hat, aus, und ich habe dem die Formulierung gegeben, daß nicht so sehr unsere Urteile als unsere Vorurteile unser Seill ausmachen. 4 Das ist eine provokatorische Formulierung, sofern ich damit einen positiven Begriff des Vorurteils, der durch die französische und englische Aufklärung aus dem Sprachgebrauch verdrängt worden ist, wieder in sein Recht einsetze. Es läßt sich nämlich zeigen, daß der Begriff des Vorurteils ursprünglich durchaus nicht allein den Sinn hat, den wir damit verbinden. Vorurteile sind nicht notwendig unberechtigt und irrig, so daß sie die Wahrheit verstellen. In Wahrheit liegt es in der Geschichtlichkeit unserer Existenz, daß die Vorurteile im wörtlichen Sinne des Wortes die vor gängige Gerichtetheit a11 unseres Erfahren-Könnens ausInachen. Sie sind Vorcingenommenheiten unserer Wcltoffenheit, die geradezu Bedingungen dafür sind, daß wir etwas erfahren, daß uns das, \\'as uns begegnet, etwas sagt. Gc\viß heißt das nicht, daß wir, durch eine Mauer von Vorurteilen eingefriedet, nur das durch die enge Pforte lassen, was seinen Paß vorweisen kann, auf dem steht: hier wird nichts Neues gesagt. Gerade der Gast ist uns willkommen, der unserer Neugier Neues verheißt. Aber woher erkennnen wir den Gast, der zu uns eingelassen wird, als einen, der uns etwas l\Teues zu 4 [Vgl. W uM, Ces. Werke Bd. 1, S.278ff. und >Vom Zirkel des Verstchens(, oben S. 57ff. J
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sagen hat?5 Bestimmt sich nicht auch unsere Envartung und unsere Bereitschaft, das /'okue zu hören, notwendig von dem Alten her, das uns schon eingenommen hat? Das Bild soll eine Art Legitimation dafür geben, warum der Begriff des Vorurteils, der mit dem Begriff der Autorität in einem tiefen inneren Zusammenhang steht, einer hermeneutischen Rehabilitierung bedarf. Wie jedes Bild ist auch dieses schief. Die hermeneutische Erfahrung ist nicht von der Art, daß etwas draußen ist und Einlaß begehrt: Wir sind vielmehr von etwas eingenommen und gerade durch das, was uns einnimmt, aufgeschlossen fUr Neues, Anderes, Wahres. Es ist, wie Plato es mit dem schönen Vergleich zwischen den leiblichen Speisen und der geistigen Nahrung klar macht: während man jene zurückweisen kann, z. B. auf Anraten des Arztes, hat man diese immer schon in sich aufgenommen. 6 Nun fragt es sich freilich, wie sich die hermeneutische Bedingtheit unseres Seins gegenüber der Existenz der modernen Wissenschaft legitimieren soll, die doch mit dem Prinzip der Unvoreingenommenheit und Vorurteilslosigkeit steht und fallt. Es wird sicherlich nicht damit getan sein - ganz abgesehen davon, daß solche Deklamationen immer etwas Lächerliches haben-, daß man der Wissenschaft Vorschriften macht und ihr empfiehlt, sich zu mäßigen. Den Gefallen wird sie uns nicht tun. Sie wird mit einer nicht in ihrem Belieben liegenden inneren Notwendigkeit ihre Wege weitergehen und immer mehr an Erkenntnisse und Machbarkciten heranführen, bei denen uns der Atem stockt. Sie wird nicht anders können. Es ist sinnlos, etwa einem Forscher auf dem Gebiete der Erbgenetik wegen der drohenden Züchtung des Übermenschen in den Arm zu fallen. So kann das Problem nicht aussehen, daß sich unser menschliches Bewußtsein in einen Gegensatz zum wissenschaftlichen Gang der Dinge stellt und sich herausnimmt, hier eine Art von Gegen-Wissenschaft aufzubauen. Trotzdem ist der Frage nicht auszuweichen, ob nicht das, was ""vir an scheinbar so harmlosen Gegenständen wie dem ästhetischen Bewußtsein und dem historischen Bewußtsein gewahren, eine Problematik darstellt, die erst recht unserer modernen Naturwissenschaft und unserem technischen Wcltverhalten einwohnt. Wenn wir auf der Grundlage der modernen Wissenschaft die neue technische Zweckwelt errichten, die alles um uns herum verändert, so unterstellen wir nicht, daß der Forscher, der die dafUr entscheidenden Erkenntnisse gewonnen hat, auch nur mit einem Blick auf solche technischen Verwertbarkeiten geblickt hat. Es ist echter Erkenntniswille und nichts sonst, was den wahren Forscher befeuert. Und trotzdem ist die Frage zu stellen, ob sich nicht auch gegenüber dem Ganzen unserer modernen wissenschaftlich fundierten Zivi, [Zum Begriff des ,Neuen( vgI. ,Das Alte und das Neut;'(, Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1981 (Ces. Werke Bd. 4)] 6 [Prot.314al
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lisation wiederholt, daß hier etwas ausgelassen ist - und ob nicht, wenn Voraussetzungen, unter denen diese Erkenntnis-Möglichkeiten und Machens-Möglichkeiten stehen, im Halbdunkel bleiben, eben das zur Folge haben kann, daß die Hand, die diese Erkenntnisse anwendet, zerstörerisch wird. 7 Das Problem ist wirklich universell. Die hermeneutische Frage, wie ich sie charakterisierte, ist durchaus nicht beschränkt auf die Gebiete, von denen ich bei meinen eigenen Untersuchungen ausgegangen bin. Es ging nur darum, erst einmal eine theoretische Basis zu befestigen, die auch das Grundfaktum unserer gegenwärtigen Kultur, die Wissenschaft und ihre industrielle technische Verwertung, zu tragen vermag. Ein nützliches Beispiel daftir, wie die hermeneutische Dimension das gesamte Verfahren der Wissenschaft umfaßt, ist die Statistik. Sie lehrt als Extrembeispiel, daß Wissenschaft stets unter bestimmten methodischen Abstraktionsbedingungen stelit und daß die Erfolge der modemen Wissenschaften daraufberuhcn, daß andere Fragemöglichkeiten durch Abstraktion abgedeckt werden. An der Statistik kommt das liandgreiflich heraus, weil sie sich durch die Vorgreiflichkeit der Fragen, die sie beantwortet, so sehr zu Propagandazwecken eignet. Was Propagandaeffekt machen soll, muß ja immer das Urteil des Angesprochenen vorgängig zu beeinflussen und seine Urteilsmöglichkeit einzuschränken suchen. Was da festgestellt wird, sieht so aus wie die Sprache der Tatsachen; aber auf welche Fragen diese Tatsachen eine Antwort geben und welche Tatsachen zu reden begönnen, wenn andere Fragen gestellt würden, das ist eine hermeneutische Fragestellung. Sie würde erst die Bedeutung dieser Tatsachen und damit die Folgerungen, die aus dem Bestehen dieser Tatsachen sich ergeben, legitimieren. Icli greife damit vor und liabe unwillkürlich die Wendung gebraucht, welche Antworten auf welche Fragen eigentlich in den Tatsachen stecken, Das ist in der Tat das hermeneutisclie Urphänomen, daß es keine mögliche Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daß sie nur so verstanden werden kann. Das beeinträchtigt die großartige Methodik der modernen Wissenschaft nicht im geringsten. Wer eine Wissenschaft lernen will, muß ihre Methodik belierrschen lernen. Wir wissen aber auch, daß Methodik als solche überhaupt noch nicht ftir die Produktivität ihrer Anwendung garantiert. Es gibt vielmehr (das ist etwas, was eines jeden Lebenserfahrung zu bestätigen vermag) die methodisclie Sterilität, d. h. die Anwendung der Methodik auf etwas Nicht-Wissenswürdiges, auf etwas, was gar nicht aus einer echten Fragestellung heraus zum Gegenstand von Forschung gemacht wird. 7 [Das inzwischen viel diskutierte Problem der Verantwortlichkeit der Wissenschaft ist in meinen Augen ein moralisches Problem. J
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Das methodische Selbstbewußtsein der modernen Wissenschaft freilich steht dem entgegen. So wird einem etwa der Historiker entgegenhalten, das sei ja alles sehr schön mit dieser geschichtlichen Überlieferung, in der allein die Stimmen der Vergangenheit Bedeutung gewönnen und durch die die Vorurteile, die die Gegenwart bestimmen, inspiriert seien. Aber es sei doch ganz anders, wo es sich ernsthaft um historische Forschung handele. Wie könne man im Ernste meinen, daß z. B. die Aufklärung der Steuergewohnheiten der Städte im 15. Jahrhundert oder der Ehesitten der Eskimos irgendwie von dem Gegenwarts-Bewußtsein und seinen Antizipationen ihre Bedeutung erst verliehen bekäme. Das seien doch Fragen der historischen Erkenntnis, die man ganz unabhängig von jedem Gegenwarrsbezug als Aufgaben ergreife. Auf diesen Einwand ist zu antworten, daß das Extrem dieses Standpunktes dem ähneln würde, was es in gewissen großindustriellen Forschungseinrichtungen gibt, so vor allem in Amerika und in Rußland, ich meine den sogenannten Seriengroßversuch, in dem man die Materien, mit denen man zu tun hat, ohne Rücksicht auf Verluste und Kosten einfach durchmißt - mit der Chance, daß schließlich einmal unter Tausenden von Messungen eine Messung einen interessanten Befund ergibt, d. h. sich als Antwort auf eine Frage erweist, von der aus man weiterkommt. Kein Zweifel, daß die moderne Forschung auch in den Geisteswissenschaften in gewissem Umfange so arbeitet. Man denke etwa an die großen Editionen und insbesondere an die immer perfekteren Indices. Ob freilich die moderne liistorische Forschung bei solchen Verfahren die Chance vergrößert, die interessante Tatsache wirklich zu bemerken und aus ihr dann die entsprechende Bereicherung unserer Erkenntnis zu gewinnen, muß offenbleiben. Aber selbst wenn es so wäre, dürfte man fragen: ist das ein Ideal, daß von tausend Historikern ungezählte Forschungsvorhaben, d. h. also Feststellung von Tatsachenzusammenhängen, erarbeitet werden, damit der 1001. Historiker dabei etwas bemerkt, was interessant ist? Gewiß zeichne ich damit eine Karikatur echter Forschung. Aber wie in jeder Karikatur, ist auch in dieser Wahrheit. Sie enthält eine indirekte Antwort auf die Frage: Was macht eigentlich den produktiven Forscher? Daß er die Methoden gelernt hat? Das hat gerade auch der, der nie etwas Neues herausbringt. Phantasie ist die entscheidende Aufgabe rur den Forscher. Phantasie meint hier natürlich nicht ein vages Vermögen, sich allerhand einzubilden, Phantasie steht vielmehr in hermeneutischer Funktion und dient dem Sinn fUr das Fragwürdige, dem freilegen-Können von wirklichen, produktiven Fragen - was im allgemeinen nur dem gelingt, der alle Methoden seiner Wissenschaft beherrscht. Als Platoniker liebe ich die unvergeßlichen Szenen besonders, in denen Sokrates mit den sophistischen Alles-Künstlern in Streit gerät und sie durch seine Fragen zur Verzweiflung bringt, bis sie es schließlich nicht mehr
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aushalten können und ihrerseits die Rolle des Fragers beanspruchen, die so erfolgreich scheint. Und was geschieht dann? Sie wissen nichts zu fragen. Es fallt ihnen einfach nichts ein, was man in der Weise fragen kann, daß es lohnt, darauf einzugehen und beharrlich eine Antwort zu geben. Ich ziehe die Konsequenz. Das hermeneutische Bewußtsein, das ich anfangs nur von bestimmten Punkten aus bezeichnete, hat seine eigentliche Wirksamkeit immer darin, daß man das Fragwürdige zu sehen vermag. Wenn wir nun nicht nur die künstlerische Überlieferung der Völker, nicht nur die historische Überlieferung, nicht nur das Prinzip der modernen Wissenschaft in seinen hermeneutischen Vorbedingungen uns vor Augen gestellt haben, sondern das Ganze unseres Erfahrungslebens, dann, meine ich, gelangen wir dahin, an unsere eigene, allgemeine und menschliche Lebenserfahrung auch die Erfahrung der Wissenschaft wieder anzuschließen. Denn jetzt haben wir die Fundamentalschicht erreicht, die man (mit Johannes LohmannH) die >sprach1iche Weltkonstitutionl nennen kann. Sie stellt sich dar als das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das alle unsere Erkenntnismöglichkeiten vorgängig schematisiert. Ich sehe davon ab, daß der Forscher, auch der Naturforscher, von Mode und Gesellschaft und von allen möglichen Faktoren seiner Umwelt vielleicht nicht ganz unabhängig ist - "\.vas ich meine, ist, daß es innerhalb seiner wissenschaftlichen Erfahrung nicht so sehr die )Gesetze des eisenharten Schließens< (Hclmholtz) als vielmehr unvorhcrsehbare Konstellationen sind, die ihm die fruchtbare Idee eingeben, ob es nun Newtons fallender Apfel ist oder welche zufallige Beobachtung immer, an der der Funke der wissenschaftlichen Inspiration zündet. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein hat seinen Vollzug im Sprachlichen. Wir können von dem denkenden Sprachforscher lernen, daß die Sprache in ihrem Leben und Geschehen nicht bloß als ein sich Veränderndes gedacht werden muß, sondern daß darin eine Teleologie wirksam ist. Das will sagen, daß die Worte, die sich bilden, die Ausdrucksmittel, die in einer Sprache auftreten, um bestimmte Dinge zu sagen, sich nicht zufallig fixieren, soweit sie nicht überhaupt wieder abkommen, sondern daß auf diese Weise eine bestimmte Weltartikulation aufgebaut wird - ein Vorgang, der wie gesteuert wirkt und den wir ja alle immer wieder bei dem sprechenlernenden Kind beobachten können. Ich berufe mich dafür auf eine Stelle des Aristotclcs, die ich genaucr explizieren möchte, weil an ihr der Akt der Sprach bildung von einer bestimmten Seite aus genial beschrieben ist. Es handelt sich um das, was Aristoteles die Epagoge nennt, d. h. die Bildung des Allgemeinen. Wie kommt es zum Allgemeinen? In der Philosophie sagt ~ ;Philosophie und Sprachwissenschaft<, veröffentlicht in der Reihe Erfahrung und Denken, Scbriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzchvissenschaften, Nr. 15 (1965).
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man: zum Allgemeinbegriff; aber auch Worte sind in diesem Sinne offenkundig Allgemeines. Wie kommt es dazu, daß sie )Worte< sind, d. h. eine allgemeine Bedeutung haben? Da findet sich das sinnlich ausgestattete Wesen bei seinen ersten Apperzeptionen in einem flutenden Reizmeer, und es beginnt schließlich eines Tags etwas, wie wir sagen, zu erkennen. Offenbar wollen wir damit nicht sagen, daß es vorher blind war -, sondern wir meinen, wenn \vir sagen >erkennen< -, >wiedererkennen<, d. h. etwas als dasselbe herauserkennen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder. Dieses so Herauserkannte wird otTenbar fest gehalten. Aber wie eigentlich? Wann erkennt ein Kind zum ersten Male seine Mutter? Dann, wenn es sie zum ersten Mal gesehen hat? Nein. Ja wann eigentlich' Wie geschieht denn das? Können wir überhaupt sagen, daß das ein einmaliges Ereignis ist, in dem ein erstes Erkennen das Kind aus dem Dunkel des Unwissens herausreißt? Es scheint mir offenkundig, daß es so nicht ist. Aristoteles hat es wunderbar beschrieben. Er sagt, es ist so, wie wenn ein Heer auf der Flucht ist, panisch gejagt von Angst, und schließlich fangt einer an stehenzubleiben und sich umzusehen, ob eigentlich der Feind so gefahrlich nahe ist. Das Heer bleibt nicht dadurch stehen, daß einer stehenbleibt. Es bleibt dann ein Zweiter stehen. Das Heer bleibt nicht dadurch stehen, daß zwei stehenbleiben. Wann bleibt dann eigentlich das Heer stehen? Plötzlich steht es wieder. Plötzlich gehorcht es \vieder dem Kommando. Bei dem, \vas Aristotcles hier beschreibt, ist noch ein sehr feiner sprachlicher Scherz dabei. Komnlando heißt nämlich auf griechisch Arche, d. h. Principium. Wann ist das Prinzip als Prinzip da? Durch welches Vermägen? - Das ist in der Tat die Frage nach dem Zustandekommen des Allgemeinen. 9 Genau die gleiche Teleologie ist es, wenn ich J oh. Lohmanns Darlegungen nicht mißverstehe, die sich ständig im Leben der Sprache auswirkt. Wenn Lohmann von den sprachlichen Tendenzen spricht, in denen sich als dem eigentlichen Agens der Geschichte bestimmte Formen ausbreiten, so weiß er natürlich, daß sich das in diesen Formen des - wie das deutsche Wort sagtZustandekommens, des Zum-Stehen-Kommens vollzieht. Was sich dabei zeigt, ist, wie ich meine, die eigentliche Vollzugs weise unserer menschlichen Welterfahrung überhaupt. Das Sprechen-Lernen ist gewiß eine Phase besonderer Produktivität, und das Genie unserer Dreijährigkeit haben wir alle inzwischen in ein karges und spärliches Talent umgewandelt. Aber im Gebrauch der am Ende zustandegekommenen sprachlichen Weltauslegung bleibt noch etwas von der Produktivität unserer Anfange lebendig. Wir kennen das alle z. B. bei dem Versuch des Übersetzens, im Leben oder in der Literatur oder wo immer, dieses seltsame, unruhige und quälende Geftihl, solange man nicht das richtige Wort hat. Wenn man es hat, den rechten 9
[Vgl. Aristoteles, An. Post. B 19, 100a 3ff.]
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Weiterenrnricklungcn
Ausdruck gefunden hat (es braucht nicht immer ein Wort zu sein), wenn es einem gewiß ist, daß man es hat, dann )stcht{ es, dann ist etwas >zustande~ gekommen, dann haben wir wieder einen Halt inmitten der Flut des fremden Sprach geschehens, dessen unendliche Variation die Orientierung verlieren läßt. Was ich so beschreibe, ist aber die Weise der menschlichen Wclterfahrung überhaupt. Ich nenne sie hermeneutisch. Denn der so beschriebene Vorgang wiederholt sich ständig ins Vertraute hinein. Es ist stets eine sich schon auslegende, schon in ihren Bezügen zusammengeordnete Welt, in die Erfahrung eintritt als etwas Neues, das umstößt, was unsere Erwartungen geleitet hatte, und das sich im Umstoßen selber neu einordnet. Nicht das Mißverständnis und nicht die Fremdheit ist das Erste, so daß die Vermeidung des Mißverstandes die eindeutige Aufgabe wäre, sondern umgekehrt ermöglicht erst das Getragensein durch das Vertraute und das Einverständnis das Hinausgehen in das Fremde, das Aufnehmen aus dem Fremden und damit die Erweiterung und Bereicherung unserer eigenen Welterfahrung. So ist der Anspruch auf Universalität zu verstehen, der der hermeneutischen Dimension zukommt. Verstehen ist sprachgebunden. Darin liegt keineswegs eine Art Sprachrclativismus. Es ist zwar wahr: man lebt in einer Sprache. Sprache ist nicht ein System von Signalen, die man, wenn man in das Büro oder in die Sendestation tritt, mit Hilfe einer Tastatur losläßt. Das ist kein Sprechen, denn es hat nicht die Unendlichkeit des sprachbildnerischen und weiterfahrenden Tuns. Aber obwohl man ganz in einer Sprache lebt, ist das kein Relativismus, weil es durchaus kein Gebanntsein in eine Sprache gibt- auch nicht in die eigene Muttersprache. Das erfahren wir alle, wenn wir fremde Sprachen lernen, und besonders auf Reisen, sofern wir die fremde Sprache einigermaßen beherrschen, und eben das heißt, daß wir nicht immerfort mit dem Blick auf unsere Welt und ihr Vokabular innerlich sozusagen nachschlagen, wenn wir uns in dem fremden Lande sprechend bewegen. Je besser wir die Sprache können, desto weniger ist solch ein Seitenblick auf die Muttersprache fuhlbar, und nur weil wir fremde Sprachen nie genug können, fühlen wir etwas davon immer. Aber es ist gleichwohl bereits ein Sprechen, wenn auch vielleicht ein stammelndes, das wie alles echte Srammeln das Gestautsein eines Sagen-Wollens und daher ins Unendliche der Aussprachemöglichkeit geöffnet ist. In dem Sinne ist jede Sprache, in der ,"vir leben, unendlich, und es ist ganz verkehrt, zu schließen, weil es die verschiedenartigen Sprachen gibt, gibt es eine in sich zerklüftete Vernunft. Das Gegenteil ist wahr. Gerade auf dem Wege über die Endlichkeit, die Partikularität unseres Seins, die auch an der Verschiedenheit der Sprachen sichtbar wird, öffnet sich das unendliche Gespräch in Richtung auf die Wahrheit, das wir sind. Wenn das richtig ist, dann \vird sich vor allem auf der Ebene der Sprache das eingangs geschilderte Verhältnis unserer modernen, durch die Wissen-
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schaft begründeten Industrie- und Arbeitswelt spiegeln. Wir leben in einer Epoche steigender Nivellierung aller Lebensformen, - das ist ein Gebot der rationalen Notwendigkeit der Lebenserhaltung auf unserem Planeten. Das Nahrungsproblem der Menschheit z. B. ist überhaupt nur zu bewältigen durch die Preisgabe jener großartig schönen Verschwendung, mit der ehedem die Erde bebaut wurde. Es ist unvermeidlich, daß sich die maschinelle Industriewc1t auch innerhalb des Lebens des Einzelnen als eine Art technischer Perfektions sphäre ausbreitet, und wenn wir moderne Liebespaare miteinander reden hören, dann fragen wir uns schon manchmal, ob das Worte sind, mit denen sie sich verständigen, oder Reklamemarken und Fachausdrücke aus der Zeichensprache der modernen Industriewelt. Es kann nicht ausbleiben, daß sich die nivellierten Lebensformen des Industriezeitalters auch auf die Sprache auswirken, \vie in der Tat die Verarmung des Vokabulars der Sprache ungeheure Fortschritte macht und damit die Annäherung der Sprache an ein technisches Zeichensystem. Leute, die >trotz< mit dem Dativ verbinden, wie ich das noch tue, werden bald eine Art Museumswert haben. Nivellierungstendenzen dieser Art sind unaufhaltsam. Und trotzdem dauert immer noch und gleichzeitig der Aufbau der eigenen Welt in der Sprache überall fort, wo wir einander etwas sagen wollen. Es ist die eigentliche Zuordnung der Menschen zueinander, die sich damit ergibt, daß jeder zunächst eine Art Sprachkreis ist, und daß sich diese Sprachkreise berühren und mehr und mehr verschmelzen. Was so zustandekommt, ist immer wieder die Sprache, in Vokabular und Grammatik wie eh undje, und nie ohne die innere Unendlichkeit des Gespräches, das zwischen jedem solchen Sprechenden und seinem Partner im Gange ist. Das ist die fundamentale Dimension des Hermeneutischen. Echtes Sprechen, das etwas zu sagen hat und deswegen nicht vorgesehene Signale gibt, sondern Worte sucht, durch die man den anderen erreicht, ist allgemeine menschliche Aufgabe - es ist aber eine besondere Aufgabe ftir den, der schriftliche Überlieferung zum Reden zu bringen sucht, z. B. ftir den Theologen, dem das Weitersagen einer Botschaft aufgetragen ist, die geschrieben steht.
18. Rhetorik. Hermeneutik und Ideologiekritik Metakritische Erörterungen zu >Wahrheit und Methode<
1967
Daß eine philosophische Hermeneutik die Aufgabe hat, die hermeneutische Dimension in ihrer vollen Reichweite aufzuschließen, und ihre grundlegende Bedeutung unser gesamtes Weltverständnis zu Geltung zu bringen, in allen seinen Formen, von der zwischenmenschlichen Kommunikation bis zur gesellschaftlichen Manipulation, von der Erfahrung des Einzelnen in der
rur
Gesellschaft wie von der Erfahrung, die er an der Gesellschaft macht, von der aus Religion und Recht, Kunst und Philosophie aufgebauten Tradition bis zu der emanzipatorischen Reflexionsenergie des revolutionären Bewußt-
seins, schließt nicht aus, daß es begrenzte Erfahrungen und Erfahrungsfclder sind, von denen der einzelne Forscher seinen Ausgang nimmt. Mein eigener Versuch schloß sich insofern Diltheys philosophischer Weiterftihrung des Erbes der deutschen Romantik an, als er die Theorie der Geisteswissenschaften zum Thema nahm, aber zugleich auf eine neue, um vieles verbreiterte Grundlage stellte: Die Erfahrung der Kunst entgegnet ja der historischen Verfremdung der Geisteswissenschaften mit dem siegreichen Anspruch auf Gleichzeitigkeit, der ihr eignet. Daß damit hinter alle Wissenschaft zurückfragende und umgekehrt auf alle Wissenschaft vorgreifende Wahrheit anvisiert war, sollte an der essentiellen Sprachlichkeit aller menschlichen Welterfahrung heraustreten, deren Vollzugsweise beständig sich erneuernde Gleichzeitigkeit ist. Indessen konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Ausgangsphänomene auch bei der Analyse der universellen Sprachliehkeit des menschlichen Welt verhaltens besonders vordrängten. Das entsprach der wissenschaftsgeschichtlichen Herkunft des hermeneutischen Problems, das sich an der schriftlichen Überlieferung, der durch die Fixierung, die Dauerhaftigkeit, den Zcitcnabstand fremd gewordenen Überlieferung entzündet hatte. So lag es nahe, das vielschichtige Problem der Übersetzung zum Modell der Sprachlichkeit des menschlichen Weltverhaltens zu erheben und an den Strukturen von Übersetzung das allgemeine Problem zu entwickeln, wie Fremdes zu eigen wird.
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Indessen, das >Sein zum TexteText< über den engeren Sinn hinaus den Text meint, den lGott mit eigener Hand geschrieben hat<, den fiber nawrae, und der damit auch alle Wissenschaft, von der Physik bis zur Soziologie und Anthropologie, umfaßt. Doch selbst dann ist mit dem Modell der Übersetzung die Vielfalt dessen, was Sprache im Verhalten des Menschen bedeutet, keineswegs erfaßt. Am Lesen dieses größten lBuches< wird zwar Spannung und Lösung demonstrierbar, die Verstehen und Verständlichkeit - und vielleicht auch Verstand- strukturieren, und insofern ist an der Universalität des hermeneutischen Problems kein Zweifel möglich. Es ist kein sekundäres Thema. Hermeneutik ist keine bloße Hilfsdisziplin der romantischen Geisteswissenschaften. Indessen, das universale Phänomen der menschlichen Sprachlichkeit entfaltet sich auch in anderen Dimensionen. So reicht das hermeneutische Thema noch in andere Zusammenhänge hinein, die die Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung bestimmen. Manches davon ist in )Wahrheit und Methode< selber angeklungen. So war dort das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein als die bewußte ErheBung der menschlichen Sprachidee in einigen Phasen seiner Geschichte dargestellt worden; es reicht aber, wie Johannes Lohmann inzwischen in seinem Buch lPhilosophie und Sprachvvissenschaft(11 und in einer Diskussion meines eigenen Versuchs im Gnomon 12 gezeigt hat, noch in ganz andere Dimensionen. Lohmann verlängert die >Prägung des Begriffs Sprache im Denken des Abendlandes<, die ich skizziert hatte, im Riesenmaßstab der Sprachgeschichte zugleich nach rückwärts und nach vorwärts. Nach rückwärts, indem er der »Heraufkunft des >Begriffes( als des inteBektuellen Vehikels der aktueBen ,Subsumtion< gegebener Gegenstände unter eine gedachte Form« (714) nachgeht, im )stamm-flektierenden< Typus des Altindogermanischen die grammatische Form des Begriffs erkennt, die in der Copula ihren sichtbarsten Ausdruck findet - auf diese Weise leitet sich die Möglichkeit der Theorie als der eigensten Scliöpfung des Abendlandes ab. Nach vorwärts, indem er wieder an der Entwicklung der Sprachform die Denkgeschichte des Abendlandes, welche Wissenschaft im modemen Sinne, als Verftigbarmaehung der Welt, möglich macht, durch den Übergang vom stamm-flektierenden zum wort-flektierenden SprachTypus deutet. Wahrhaft universale Sprachlichkeit, die dem Hermeneutischen im anderen Sinne wesenhaft voraus1iegt und fast so etwas wie das Positiv zu dem Negativ der sprachlichen Auslegungskunst darstellt, bezeugt ferner die So O. Marquard auf dem Heidclberger Philosophiekongreß 1966. Erfahrung und Denken, Schriften zur Förderung der Beziehung zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, Nr. 15 (1965). " Bd. 37.1965,709-718. 10
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Rhetorik. Die Zusammenhänge zwischen Rhetorik und Hermeneutik, die ich in meinenl Buche beachtet hatte, lassen sich vielfaltig erweitern, wie die reichen Ergänzungen und Berichtigungen zeigen, die Klaus Dockhorn in den Göttingischen Gelehrten-Anzeigen" beigesteuert hat. Sprachlichkeit aber ist endlieh so tiefin die Sozialität des menschlichen Seins verwoben, daß Recht und Grenze der hermeneutischen Fragestellung auch den Theoretiker der Sozialwissenschaften beschäftigen müssen. So hat Jürgen Habcrmas 14 kürzlich zur Logik der Sozialwissenschaften auch die philosophische Hermeneutik in Beziehung gesetzt und von den Erkenntnisinteressen der Sozialwissenschaften her ausgewertet. Es erscheint geboten, die sich durchdringenden Universalitäten der Rhetorik, der Hermeneutik und der Soziologie in ihrer Interdependenz zum Thema zu machen und die verschiedenartige Legitimität dieser Universalitäten aufzuhellen. Das ist um so wichtiger, als ihnen allen - am sichtbarsten den beiden ersten - eine gewisse, durch den Bezug auf Praxis mitbestimmte, Zweideutigkeit ihres Wissenschaftsanspruchs zukommt. Denn daß Rhetorik nicht eine bloße Theorie der Redeformen und Überredungsmittel ist, sondern sich aus einer natürlichen Fähigkeit zur praktischen Meisterschaft entwickeln läßt, selbst ohne jede theoretische Reflexion auf ihre Mittel, ist offenkundig. Ebenso ist die Kunst des Verstehens - was auch immer ihre Mittel und Wege seien - offenbar nicht direkt von der Bewußtheit abhängig, mit der sie ihren Regeln folgt. Auch hier setzt sich ein natürliches Vermögen, das jeder hat, in ein Können um, durch das einer alle anderen übertrifft, und die Theorie kann bestenfalls nur sagen, warum. In beiden Fällen besteht ein Verhältnis der Nachträglichkeit zwischen der Theorie und dem, woraus sie abstrahiert ist und was wir Praxis nennen. Dabei ist das eine der frühesten griechischen Philosophie zugehörig, das andere eine Folge der späten Auflösung fester Traditionsbindungen und der Anstrengung, das Entschwindende festzuhalten und in heller Bewußtheit aufzuheben. Die erste Geschichte der Rhetorik hat Aristoteles geschrieben. Wir besitzen nur Bruchstücke. Vor allem aber ist die Theorie der Rhetorik von Aristotelcs ausgebildet worden, in Ausftihrung eines Programms, das zuerst Plato entworfen hatte. Hinter a11 dem Scheinanspruch, den die zeitgenössischen Redelehrer erhoben, hatte Plato eine echte Aufgabe entdeckt, die nur der Philosoph, der Dialektiker, zu lösen imstande sei, nämlich: die Rede, die effektvoll Einleuchtendes vorzubringen hat, so zu beherrschen, daß die jeweils angemessenen Argumente an diejenigen herangebracht werden, deren Seele dafLir spezifisch empfanglich ist. Das ist eine theoretisch einleuch218.Jahrg .• Heft 3/4, (1966) S. 169-206. Philosophische Rundschau, Beiheft 5 (1967), S. 149-180. rInzwischen: der Sozialwissenschaften<, Frankfurt 1970, 5. crw. AufI. 19821 B
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IZur
Logik
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tende AufgabensteIlung, die dennoch zwei platonische Voraussetzungen impliziert: Nämlich erstens, daß nur der das >wahrscheinliche( Ps eu dos des rhetorischen Arguments mit Sicherheit zu finden weiß, der die Wahrheit, d. h. die Ideen kennt, und zweitens, daß er sich ebenso wissend in den Seelen auskennen muß, auf die cr wirken soll. Die aristotelische Rhetorik ist in erster Linie eine Ausarbeitung des letzteren Themas. In ihr vollendet sich die Theorie der Anpassung von Rede und Seele, die Plato im ,Phaidros< gefordert hat, in der Gestalt einer anthropologischen Fundierung der Redekunst, Die Theorie der Rhetorik war das lang vorbereitete Ergebnis einer Kontroverse, die durch den berauschenden und erschreckenden Einbruch einer neuen Redekunst und Bildungsidee, die wir mit dem Namen Sophisrik bedenken, ausgelöst wurde. Damals war als ein unheimliches neues Können, das alles auf den Kopf zu stellen lehrte, die Redekunst aus Sizilien in das ständisch gebundene, aber von einer leicht verftihrbaren Jugend belebte Athen eingeströmt, Nun galt es, diesen großen Machthaber (wie Gorgias die Redekunst nennt 15 ) in eine neue Zucht zu nehmen. Von Protagoras bis zu Isokrates war es der Anspruch der Meister, nicht nur reden zu lehren, sondern auch das rechte staatsbürgerliche Bewußtsein zu formen, das politischen Erfolg verhieß. Aber erst Plato schuf die Grundlagen, von denen aus die neue, alles erschütternde Kunst der Rede - Aristophanes hat uns das anschaulich genug geschildert -, ihre Grenze und ihren legitimen Ort fand. Das bezeugt ebensosehr die philosophische Dialektik der platonischen Akademie wie die aristotelische Begründung von Logik und Rhetorik. Die Geschichre des Verstehens ist nicht minder alt und ehrwürdig. Wollte man überall dort Hermeneutik erkennen, wo sich eine wahre Kunst des Verstehens beweist, so müßte man, wenn nicht mit dem Nestor der Ilias, so doch mit Odysseus beginnen. Man könnre sich darauf berufen, daß die neue Bildungsbewegung der Sophistik tarsächlich die Auslegung berühmter Dichterworte betrieb und sie als pädagogische Exempel kunstvoll ausmalte, und man könnte mit Gundert dem eine sokratische Hermeneutik entgegensetzen 16 , Indessen, eine Theorie des Verstehens ist das noch lange nicht, und es scheint überhaupt für das Aufkommen des hermeneutischen Problems charakteristisch, daß eine Ferne herangeholt, eine Fremdheit überwunden, eine Brücke zwischen Einst und Jetzt gebaut werden mußte. Insofern war ihre Stunde die Neuzeit, die sich ihres Abstandes von den älteren Zeiten bewußt geworden war. Etwas davon lag schon in dem theologischen Anspruch des reformatorischen Bibelverständnisses und seines Prinzips der sola scriptura! aber seine eigentliche Entfaltung fand es, als aus Aufklärung und Romantik das historische Bewußtsein erwuchs und zu aller Überlieferung 15 16
Hermann Gundert in: Hermeneia, FS fur Otto Regenbogen, 1952. fGorg. 456 aff.]
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ein gebrochenes Verhältnis etablierte. Es hing mit dieser Geschichte der hermeneutischen Theorie zusammen, daß sie sich an der Aufgabe der Auslegung >schriftlich fixierter Lcbcnsäußerungen( orientierte, auch wenn die theoretische Ausarbeitung der Hermeneutik bei Schlciermacher das Verstehen, wie es im mündlichen Umgang des Gesprächs geschieht, einbezog. Umgekehrt war die Rhetorik auf die Unmittelbarkeit der Redewirkung gerichtet, und wenn sie auch die Wege kunstvoller Schriftlichkeit mit betrat und so die Lehre vom Stil und den Stilen entwickelte, so liegt ihr eigentlicher Vollzug doch nicht im Lesen, sondern irn Reden. Die Mittelstellung der vorgelesenen Rede zeigt freilich bereits die Tendenz, die Kunst der Rede auf schriftlich fixierbare Kunstmittel zu gründen und von der ursprünglichen Situation abzulösen. Hier setzt dann die Wechselwirkung mit der Poetik ein, deren sprachliche Gegenstände so ganz und gar Kunst sind, daß ihre Transformation von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit und zurück ohne Einbuße gelingt. Die Redekunst als solche aber ist an die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung gebunden. In welchem Umfange die Erregung von Affekten als das wichtigste Überredungs mittel von Cicero und Quintilian bis zur politischen Rhetorik des englischen 18. Jahrhunderts zu gelten hat, ist von Klaus Dockhorn mit profunder Gelehrsamkeit gezeigt worden. Nun ist freilich die Erregung der Affekte, die des Redners wesentliche Aufgabe ist, in der schriftlichen Äußerung, die Gegenstand hermeneutischer Bemühung wird, nur abgeblaßt \virksam, und gerade auf diese Unterschiede kommt es an: Der Redner reißt den Zuhörer mit. Das Einleuchtende seiner Argumente überschüttet den Zuhörer. Kritische Besinnung kann und soll ihm unter der Überzeugungskraft der Rede nicht kommen. Umgekehrt ist das Lesen und Auslegen von Geschriebenem so sehr von dem Schreiber, seiner Gestimmtheit, seinen Absichten und seinen unausgesprochenen Tendenzen entfernt und abgelöst, daß die Erfassung des Textsinnes den Charakter einerselbständigen Produktion empfangt, die ihrerseits mehr der Kunst des Redners als dem Verhalten seines Zuhörers gleicht. So ist es zu verstehen, daß die theoretischen Mittel der Auslegungskunst, \vie ich an einigen Punkten zeigte und wie Dockhorn auf breiter Basis durchfuhrt, weitgehend der Rhetorik entlehnt sind. Woran sonst sollte sich auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tadition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruehes ist, der da? Wahrscheinliche, das eikos (verisimile), und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewißheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt? Überzeugen und Einleuchten, ohne eines Beweises fähig zu sein, ist offenbar ebenso sehr das Ziel und Maß des Verstehens und Auslegens wie der Rcde- und Überredungskunst - und dieses ganze weite Reich der einleuchtenden Überzeugun-
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gen und der allgemein herrschenden Ansichten wird nicht etwa durch den Fortschritt der Wissenschaft allmählich eingeengt. so groß der auch sei, sondern dehnt sich vielmehr auf jede neue Erkenntnis der Forschung aus, um sie für sich in Anspruch zu nehmen und sie sich anzupassen. Die Ubiquität der Rhetorik ist eine unbeschränkte. Erst durch sie wird Wissenschaft zu einem gesellschaftlichen Faktor des Lebens. Was wüßten wir VOn der modernen Physik, die unser Dasein so sichtbarlich umgestaltet, allein aus der Physik? Alle Darstellungen derselben, die sich über den Kreis der Fachleute hinaus richten (und vielleicht sollte man sagen: soweit sie sich nicht auf einen jeweils sehr kleinen Kreis eingeweihter Spezialisten beschränken), verdanken ihre Wirkung dem rhetorischen Element, das sie trägt. Selbst Descartes, dieser große und leidenschaftliche Anwalt von Methode und Gewißheit, ist in allen seinen Schriften ein Schriftsteller, der die Mittel der Rhetorik auf großartige Weise handhabt, wie vor allem Henri Gouhier 17 nachgewiesen hat. An ihrer fundamentalen Funktion innerhalb des sozialen Lebens kann kein Zweifel sein. Alle Wissenschaft, welche praktisch werden soll, ist auf sie angewiesen. - Auf der anderen Seite ist die Funktion der Hermeneurik nicht minder universal. Die Unverständlichkeit oder Mißverständlichkeit überlieferter Texte, die sie ursprünglich auf den Plan gerufen hat, ist nur ein Sonderfall dessen, was in al1er menschlichen Weltorientierung als das atopon, das Seltsame begegnet, das sich in den gewohnten Erwartungsordnungen der Erfahrung nirgends unterbringen läßt. Und wie im Fortschritt der Erkenntnis die mirabilia ihre Befremdlichkeit verlieren, sowie sie verstanden worden sind, so löst sich auch jede gelingende Aneignung von Überlieferung in eine neue, eigene Vertraulichkeit auf, in der sie uns gehört und in der wir ihr gehören. Beides fließt Zusammen in die eine, Geschichte und Gegenwart umspannende, eigene und miteigene Welt, die im Reden der Menschen miteinander ihre sprachliche Artikulation empfängt. Auch von der Seite des Verstehens her zeigt sich also die Universalität der menschlichen Sprachlichkeit als ein in sich grenzenloses Element, das alles trägt, nicht nur die durch Sprache überlieferte Kultur, sondern schlechthin alles, weil alles in die Verständlichkeit hereingeholt wird, in der wir uns miteinander bewegen. Plato hat mit Recht davon ausgehen können, daß wer die Dinge im Spiegel der Reden betrachtet, ihrer in ihrer vollen und unverkürzten Wahrheit gewahr wird. Auch hat es einen tiefen und richtigen Sinn, wenn Plato lehrt, daß alle Erkenntnis erst als Wiedererkenntnis ist, was sie ist. Eine )erste< Erkenntnis ist so wenig möglich wie ein erstes Wort. Auch die neueste Erkenntnis, deren Folgen noch gar nicht absehbar scheinen, ist erst, was sie eigentlich war, wenn sie sich in sie 17 Henri Gouhier, La rcsistance an vrai ... (Retorica e Barocco, cd. E. Castdli, Rom 1955).
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ausgefo1gcrt hat und in das Medium der intersubjektiven Verständigung eingegangen ist. So durchdringen sich der rhetorische und der hermeneutische Aspekt der menschlichen Sprachlichkeit auf vollkommene Weise. Es gäbe keinen Redner und keine Redekunst, wenn nicht Verständigung und Einverständnis die menschlichen Beziehungen trüge - es gäbe keine hermeneutische Aufgabe, wenn das Einverständnis derer, die >ein Gespräch sind<, nicht gestört wäre und die Verständigung nicht gesucht werden müßte. Die Verschränkung mit der Rhetorik ist also geeignet, den Schein aufzulösen, als wäre Hermeneutik auf die ästhetisch-humanistische Tradition allein beschränkt und als habe es die hermeneutische Philosophie mit einer der Welt des >realen< Seins entgegengesetzten Welt des >Sinnes< zu tun, die sich in der )kulturellen Überlieferung< ausbreitet. Es entspricht der Universalität des hermeneutischen Ansatzes, daß er auch rur die Logik der Sozialwissenschaften beachtet werden muß. So hat Habermas die in )Wahrheit und Methode< gegebenen Analysen des >wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins< und des Modells der ,Übersetzung< behandelt und ihnen eine positive Funktion für die Überwindung der positivistischen Erstarrung der sozialwissenschaftlichen Logik wie der historisch unreflektierten linguistischen Grundlegung derselben zuerkannt. 18 Solche Bezugnahme auf Hermeneutik steht also unter der eingestandenen Prämisse, der Methodologie der Sozialwissenschaften dienen zu sollen. Das ist freilich von dem traditionellen Ausgangsboden der hermeneutischen Problematik, den die ästhetisch-romantischen Geisteswissenschaften bilden, durch eine Vorentscheidung von größter Tragvveite getrennt. Zwar wird von der methodischen Verfremdung, die das Wesen der modernen Wissenschaft ausmacht, auch in den )humanities< durchaus Gebrauch gernacht >Wahrheit und Methode< hat den Gegensatz, den der Titel impliziert, nie als einen ausschließenden gemeint. 19 Aber freilich waren die Geisteswissenschaften der Ausgangspunkt der Analyse, weil sie mit Erfahrungen zusalnmenrücken, in denen es überhaupt nicht um Methode und Wissenschaft geht, sondern um Erfahrungen. die außer halb der Wissenschaft liegen. wie die Erfahrung der Kunst und die Erfahrung der durch ihre geschichtliche Überlieferung geprägten Kultur. Die hermeneutische Erfahrung ist in ihnen allen in gleicher Weise wirksam, und insofern ist sie nicht selbst Gegenstand methodischer Verfremdung, sondern liegt dieser voraus, indem sie der Wissenschaft ihre Fragen aufgibt und dadurch erst den Einsatz ihrer Methoden ermöglicht. Die modernen Sozialwissenschaften dagegen, falls die hermeneutische 18 D. Habermas, Zur Logik der Sozialv"'issenschaften, Phil. Rdsch. Beiheft 5, Tübingen 1967. Kap. JIll 19 [Vgl. das Vorwort zur 2. Aufl., unten S. 437ff.J
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Reflexion für sie als unumgänglich erkannt wird (wie das für die Geisteswissenschaften in )Wahrheit und Methode( nachgewiesen ist), erheben den Anspruch, v/ie Habermas es formuliert, durch eine I)kontrollierte Verfreludung\\ das Verstehen II aus einer vorwissenschaftlichen Übung zum Rang eines reflektierten Vorgehens\~ zu erheben, sozusagen durch die »methodische Ausbildung der Klugheit« (172/174). Nun ist das seit alters der Weg der Wissenschaft, durch lehrbare und kontrollierbare Verfahrensweisen zu leisten, was individueller Klugheit zuweilen auch, wenngleich auf unsichere und unkontrollierbare Weise, gelingt. Wenn die Bewußtmachung der hermeneutischen Bedingungen, die in den verstehenden Geistes\vissenschaften im Spiele sind, die Sozialwissenschaften, die nicht ~verstehen< wollen, sondern unter Einbeziehung der in der Sprachlichkeit sich ablagernden Verständliehkeiten' das reale GefUge der Gesellschaft wissenschaftlich in den Griff zu nehmen suchen, auf methodische Veranstaltungen fUhrt, die ihrer Arbeit forderlich sind, so ist das gewiß ein wissenschaftlicher Gewinn. Freilich wird sich die hermeneutische Reflexion von ihnen nicht vorschrdben lassen, sich auf diese wissenschaftsimmanente Funktion zu beschränken, und insbesondere sich nicht davon abhalten lassen, der methodischen Verfremdung des Verstehens, die die Soziahvissenschaften betreiben, aufs neue eine hermeneutische Reflexion zuzuwenden, - auch wenn sie der positivistischen Abwertung der Hermeneutik damit abermals entgegenkommt. Doch sehen \-vir erst, wie sich die hermeneutische Problematik innerhalb der sozialwisscnschaftlichen Theorie geltend macht und von ihr her sich ausnimmt. Da ist zunächst der )linguistische Ansatz< (124f.). Wenn die Sprachlichkeit als Vollzugs weise des hermeneutischen Bewußtseins ausgezeichnet ist, so liegt es nahe, in der Sprachlichkeit als der Grundverfassung menschlicher Sozialität das gültige Apriori der Sozialwissenschaften zu erkennen, von dem aus sich die behavioristisch-positivistischen Theorien, die die Gesellschaft als ein beobachtbares und steuerbares Funktionsganzes ansehen, ad absurdum führen. Das hat etwas Einleuchtendes, sofern die menschliche Gesellschaft in Institutionen lebt, die als solche verstanden, tradiert, reformiert, kurz, vom inneren Selbstverständnis der die Gesellschaft bildenden Individuen determiniert werden. Habermas sieht nun sowohl gegenüber Wittgensteins Theorie der Sprachspiele wie gegenüber Winchs 20 Auswertung derselben für ein sprachliches Apriori aller sozial wissenschaftlichen Aussagen das Recht der Hermeneutik darin, daß sie vom Gedanken der Wirkungsgeschichte aus den kommunikativen Zugang zu dem Objektbereich der Sozialwissenschaften einklagt. 20
P. Winch, The Idea of a Social Science. London/New York 1958 (deutsch 1966)
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Wciterent\vicklungen
Indessen, wenn Habcrmas der Analyse des Vorverständnisses und der essentiellen Vorurteilsbedingtheit folgt, die allem menschlichen Verstehen und Handeln zukommt, so ist der Anspruch, den er an die hermeneutische Reflexion stellt, gleichwohl ein grundsätzlich anderer. Das wirkungs gcschichtliehe Bnvußtsein, das die eigenen Vorurteile zu reflektieren sucht und sein eigenes Vorverständnis kontrolliert, mache zwar dem naiven Objektivismus ein Ende, der ebenso die positivistische Wissenschaftstheorie \vie die phänomenologische und sprachanalytische Grundlegung der Sozialvvissenschaften verfalsche. Aber was leiste solche Reflexion eigentlich? Da ist einmal das Problem der Universalgeschichte, d. h. die Vorstellung von einem Ziel der Geschichte, das sich jeweils aus den Zielvorstellungen gesellschaftlichen HandeIns erhebt. Begnügt sich die hermeneutische Reflexion mit allgemeinen Erwägungen, daß über die Begrenztheit des eigenen Standorts nie hinauszukommen ist, so ist sie folgenlos. Zwar wird der Anspruch einer inhaltlichen Geschichtsphilosophie durch solche Erwägung bestritten, aber das historische Bewußtsein wird trotzdem ständig aus seiner eigenen Zukunftsgerichtetheit eine vorverstandene Universalgeschichte entwerfen. Was hilft das Wissen um deren Vorläufigkeit und essentielle Überholbarkeit? Dort aber, wo die hermeneutische Reflexion effektiv wird, was tut sie da? In welches Verhältnis setzt sich die wirkungsgeschichtliche Reflexion zu der Tradition, derer sie sich bewußt wird? Meine These ist nun, und ich meine, daß sie die not\vendige Folge der Anerkennung unserer \virkungsgeschichtlichen Bedingtheit und Endlichkeit ist, daß die Hermeneutik uns lehrt, den Gegensatz zwischen fortlebender, maturwüchsigen Tradition und reflektierter Aneignung derselben als dogmatisch zu durchschauen. Dahinter steckt ein dogmatischer Objektivismus, der auch noch den Begriff der Reflexion deformiert. Der Verstehende ist auch in den verstehenden Wissenschaften aus dem wirkungs geschichtlichen Zusammenhang seiner hermeneutischen Situation nicht so herausreflektiert, daß sein Verstehen nicht selber in dieses Geschehen einginge. Der Historiker, auch der der sogenannten kritischen Wissenschaft, löst so wenig fortlebende Traditionen, z. B. die nationalstaatlichen, auf, daß er als nationaler Historiker vielmehr in dieselben bildend und fortbildend eingreift, und das Wichtigste ist:jc bewußter er auf seine hermeneutische Bedingtheit reflektiert, desto mehr. Droysen, der die }eunuchenhafte Objektivität< der Historiker in ihrer tnethodologischen Naivität klar durchschaute, ist selber für das nationale Staats bewußtsein der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts höchst wirksam gewesen - jedenfalls wirksamer als das epische Bewußtsein Rankes, das eher zur obrigkeitsstaatlichen Apo1itie erziehen mochte. Verstehen ist selber Geschehen. Nur ein naiver, unreflektierter Historisnlus wird in den historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein absolut Neues sehen, das die Macht der Tradition aufhebt. Den unzweideutigen Beweis ftir die beständige Vermittlung, in der
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gesellschaftliche Überlieferung fortlebt, suchte ich durch den Aspekt der Sprachlichkeit zu erbringen, die alles Verstehen zu tragen vermag. Dem hält Habermas entgegen, daß sich das Medium der Wissenschaft durch Reflexion tiefgreifend verwandele. Das gerade sei das unverlierbare Erbe, das uns vom deutschen Idealismus aus dem Geist des 18. Jahrhunderts vermacht sei. Wenn auch die Hegelsche Erfahrung der Reflexion sich nicht mehr in einem absoluten Bewußtsein vollenden lasse, so sei doch der »Idealismus der Sprachlichkeit« (179), der sich in der bloßen »kulturellen Überlieferung((, ihrer hermeneutischen Aneignung und Fortbildung erschöpfe, eine traurige Ohnmacht angesichts des realen Ganzen des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, der nicht nur aus Sprache, sondern ebenso aus Arbeit und Herrschaft gewebt sei. Die hermeneutische Reflexion müsse in Ideologiekritik übergehen. Habermas knüpft damit an das zentrale Motiv des soziologischen Erkenntnis interesses an. Wie Rhetorik (als Theorie) der Verzauberung des Bewußtseins durch die Macht der Rede entgegentrat, indem sie die Sache, das Wahre, von dem Wahrscheinlichen, das sie zu erzeugen lehrt, zu unterscheiden nötigte, wie Hermeneutik ein gestörtes intersubjektives Einverständnis in kommunikativer Wechsclreflexion neu zu stiften und insbesondere ein zu einem falschen Objektivismus verfremdetes Erkennen auf seine hermeneutischen Grundlagen zurückzustellen trachtet, so ist in der gesellschaftswissenschaftlichen Reflexion ein emanzipatorisches Interesse wirksam, das äußere und innere gesellschaftliche Z\vänge durch Bcvvußtmachung aufzulösen unternimmt. Sofern sich dieselben durch sprachliche Auslegung zu legitimieren suchen, wird Ideologiekritik, zvvar selber ein sprachlich sich auslegendes Tun der Reflexion, zur Entlarvung der ») Täuschung mit Sprache« (178). Auch im Bereich der psychoanalytischen Therapie bestätigte sich die fur das soziale Leben in Anspruch genommene emanzipatorische Macht der Reflexion. Die durchschaute Repression nimmt den falschen Zwängen ihre Macht, und wie dort als der Endzustand eines reflektierten BildungsprozesSes alle Handlungsmotive mit dem Sinn zusammenfal1cn würden, an dem sich der Handelnde selbst orientiert - was freilich in der psychoanalytischen Situation durch die therapeutische Aufgabe begrenzt wird und daher nur einen Grenzbegriff darstellt -, so wäre auch die soziale Wirklichkeit nur in einem solchen fiktiven Endzustand hermeneutisch angemessen faßbar. In Wirklichkeit besteht das Leben der Gesellschaft aus einem Geflecht von verständlichen Motiven und realen Zwängen, das die Sozialforschung in einem fortschreitenden Bildungsprozeß anzueignen und für das Handeln freizusetzen habe. Man kann nicht bestreiten, daß diese sozialtheoretische Konzeption ihre Logik hat. Ob freilich der Beitrag der Hermeneutik richtig einbehalten
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wird, wenn cr von dem Grenzbegriff eines Zusammenfalls aller Handlungsmotive mit verstandenem Sinn aus festgesetzt wird, erscheint fraglich. Ist doch das hermeneutische Problem nur deshalb so universal und für alle zwischenmenschliche Erfahrung der Geschichte wie der Gegenwart grundlegend, weil auch dort Sinn erfahren werden kann, \VO er nicht als intendierter vollzogen wird. Es verkürzt die Universalität der hermeneutischen Dimension, wenn ein Bereich des verständlichen Sinnes (>kulturelle Überlieferung<) gegen andere, lediglich als Realfaktoren erkennbare Determinanten der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgegrenzt wird. Als ob nicht gerade jede Ideologie, als ein falsches sprachliches Bewußtsein, sich nicht nur als verständlicher Sinn gäbe, sondern gerade auch in ihrem >wahren< Sinn, z. B. dem des Interesses der Herrschaft, verstanden werden kann. Gleiches gilt ftir die unbewußten Motive, die der Psychoanalytiker zum Bewußtsein bringt. Der Ausgangspunkt der Ent\vicklung der hermeneutischen Dimension, den) Wahrheit und Methode< in der Erfahrung der Kunst und in den Geisteswissenschaften nahm, scheint hier die Würdigung ihres v.rahren Umfangs zu erschweren. Gnviß ist auch die universal genannte Durchftihrung im dritten Teil des Buches zu skizzenhaft und einseitig. Der Sache nach aber erscheint es von der hermeneutischen Problemstellung aus geradezu als absurd, daß die realen Faktoren von Arbeit und Herrschaft außer halb ihrer Grenzen liegen sollen. Was sind denn die Vorurteile, auf die es in der hermeneutischen Bemühung zu reflektieren gilt, anderes? Woher sollen sie sonst kOlumen? Aus kultureller Überlieferung? Sicher auch. Aber woraus bildet sich diese? Der idealismus der Sprachlichkeit wäre in Wahrheit eine groteske Absurdität - soweit er nicht eine methodische Funktion allein haben will. Habermas sagt einmal: »)Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des Traditionszusammenhangs« (177). Daran ist etwas Wahres, wenn damit der Gegensatz zu einem )von außen< bezeichnet ist, das in unsere zu verstehende, verständliche oder unverständliche Welt nicht hineinkommt, sondern in der feststellenden Beobachtung von Veränderungen (statt von Handlungen) verharrt. Daß das kulturelle Überlieferung verabsolutieren soll, scheint mir aber irrig. Es gilt nur, alles verstehen zu wollen, \vas sich verstehen läßt. In diesem Sinne gilt der Satz: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. {{21 Damit \vird nicht auf eine Welt des Sinnes eingeengt, die im Erkennen des Erkannten (A. Boeckh) eine Art Sekundärgegenstand des Erkennens wäre, Aneignung von schon Erkanntem und die Reichtümer der >kulturellen Überlieferung< zu den wahren ökonomischen und politischen Realitäten, die das Leben der Gesellschaft in erster Linie bestimmen, hinzuergänzte - im Spiegel der Sprache reflektiert sich vielmehr alles, was ist. In ihm und nur in 21
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ihm tritt uns entgegen, was uns nirgends begegnet, weil wir es selber sind (nicht bloß das, was wir meinen und von uns wissen). Am Ende ist die Sprache gar kein Spiegel, und was wir in ihr gewahren, keine WiderspiegeJung unseres und allen Seins, sondern die Auslegung und Auslebung dessen, was es mit uns ist, in den realen Abhängigkeiten von Arbeit und Herrschaft so gut wie in allem anderen, das unsere Welt ausmacht. Sprache ist nicht das endlich gefundene anonyme Subjekt aller gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesse und Handlungen, das sich und das Ganze seiner Tätigkeiten, Objektivationen unserem betrachtenden Blick darböte, sondern sie ist das Spiel, in dem wir alle mitspielen. Keiner vor allen anderen. Jeder ist )dran< und immerfort am Zuge. Solches vollzieht sich, wenn wir verstehen, und gerade auch, wenn wir Vorurteile durchschauen oder Vorwände entlarven, die die Wirklichkeit versteHen. Ja, da am meisten >verstehen< wir. Dann endlich, wenn wir etwas durchschaut haben, das uns seltsanl und unverständlich schien, wenn wir es untergebracht haben in unserer sprachlich geordneten Welt, geht alles auf, wie bei einer schwierigen Schachaufgabe, wo erst die Lösung die Notwendigkeit der absurden Stellung, bis in den letzten Stein hinein, verständlich macht. Aber heißt das, daß wir nur dann verstehen, wenn \vir Vorwandhaftes durchschauen und falsche Anmaßungen entlarven? Habermas scheint das vorauszusetzen. Mindestens scheint sich ihm nur darin die Macht der Reflexion zu erweisen, daß sie das tut, und ihre Ohnmacht, wenn wir in dem Gespinst der Sprache hängen bleiben und an ihm weiters pinnen. Seine Voraussetzung ist ja, daß die Reflexion, die in den hermeneutischen Wissenschaften geübt wird, »die Dogmatik der Lebenspraxis erschüttert«. Umgekehrt sieht er es als einen unbegründbaren und das Erbe der Aufklärung preisgebenden Satz an, daß die Transparentmachung der Vorurteilsstruktur des Verstehens in der Anerkennung von Autorität - einer dogmatischen Gewalt! - münden könne. - Es kann schon sein, daß der Konservativismus (nicht jener Generation eines Burke, sondern einer Generation, die drei große Umbrüche der deutschen Geschichte hinter sich hat, ohne daß es je zu einer revolutionären Erschütterung der bestehenden Gesellschaftsordnung gekommen wäre) daftir günstig ist, eine Wahrheit einzusehen, die sich leicht verbirgt. Um den Anspruch, etwas Einsehbares zu sagen, und nicht unl eine »Grundüberzeugung« (174) handelt es sich jedenfalls, wenn ich Autorität und Vernunft aus der abstrakten Antithese der emanzipatorischen Aufklärung herauslöse und ihre wesenhaft ambivalente Beziehung behaupte. 22 Die abstrakte Antithese der Aufklärung scheint mir eine Wahrheit zu 22 [Vgl. inzwischen meinen Aufsatz >Über den Zusammenhang von Autorität und kritischer Freiheit(, Sch"weizer Archiv fur Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 133 (1983), S. 11-16]
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Wci Kren twick 1un gell
verkennen, und dies hat verhängnisvolle Folgen - und zwar, weil man der Reflexion alsdann eine falsche Macht zuschreibt und die wahren Abhängigkeiten idealistisch verkennt. Zugegeben, daß Autorität in unzähligen Formen von Herrschaftsordnungen dogmatische Gewalt ausübt, von der Ordnung der Erziehung über die Befehlsordnung von Heer und Verwaltung bis zu der Machthierarchie politischer Gewalten oder von Heilsträgern. Aber dies Bild des der Autorität erwiesenen Gehorsams kann niemals zeigen. warUIn das alles Ordnungen sind und nicht die Unordnung handfester Gewaltübung. Es scheint mir Z\vingend, wenn ich für die wirklichen Autoritätsverhältnisse Anerkennung bestimmend finde. Die Frage kann lediglich sein, worauf diese Anerkennung beruht. Gewiß kann so1chc Anerkennung oft mehr ein tatsächliches Weichen des Ohnmächtigen gegenüber det Gewalt ausdrükkeil, aber das ist nicht Anerkennung und beruht nicht auf Autorität. Man braucht nur Vorgänge wie den von Autoritätsverlust oder Autoritätsverfal1 (und ihr Gegenteil) zu studieren, und man sieht, was Autorität ist und woraus sie lebt. Nicht von dogmatischer Gewalt, sondern von dogmatischer Anerkennung her. Was aber sol1 dogmatische Anerkennung sein, wenn nicht dies, daß der Autorität eine Überlegenheit an Erkenntnis zugebilligt wird und daß man deshalb glaubt, daß sie recht hat. Nur darauf >beruht( sie. Sie herrscht also, weil sie >frei< anerkannt \vird. Es ist kein blinder Gehorsam, der auf sie hört. Aber nun ist es eine unzulässige Unterstellung, als meinte ich, es gäbe nicht Autoritätsverlust und emanzipatorische Kritik. Ob man sagen darf: Autoritätsverlust durch emanzipatorische Kritik der Reflexion, oder: daß sich Autoritätsverlust in Kritik und EInanzipation äußert, mag hier auf sich beruhen und ist vielleicht überhaupt keine echte Alternative. Was strittig ist, ist lediglich, ob Reflexion imnler die substanticl1cn Verhältnisse auflöst oder sie gerade auch in Bewußtheit übernehmen kann. Der von mir (im Blick auf die aristotelische Ethik) herangezogene Lern- und Erziehungsprozcß wird von Habermas merkwürdig einseitig gesehen. Daß Tradition als solche einziger Grund der Geltung von Vorurteilen sein und bleiben solle - wie Habermas mir zuschreibt -, schlägt doch meiner These, daß Autorität auf Erkenntnis beruht, geradezu ins Gesicht. Der mündig Ge\vordene kann aber er muß doch nicht! - aus Einsicht übernehmen, was er gehorsalll einhielt. Tradition ist kein Ausweis, jedenfalls nicht dort, wo Reflexion einen Ausweis verlangt. Aber das ist der Punkt: Wo verlangt sie ihn? Überall' Dem halte ich die Endlichkeit des menschlichen Daseins und die wesCllhafte Partikularität der Retlexion entgegen. Es geht um die Frage, ob man die Funktion der Reflexion auf der Seite der Bewußtmachung festmacht, die faktisch Geltendes mit anderen Möglichkeiten konfrontiert und alsdann zugunsten anderer Möglichkeiten Bestehendes verwerfen, aber auch wissend übernehmen kann, was die Tradition de facto entgegenbringt, oder ob
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Bewußtmachung immer nur Geltendes auflöst. Wenn Habermas (176) l30Sj sagt, daß »der Autorität das, was an ihr bloße Herrschaft \-var, (- ich interpretiere: was nicht Autoritätwar-) abgestreift und in gC\valtlosenZwang von Einsicht und rationaler Entscheidung aufgelöst« werden kann, dann weiß ich nicht mehr, \vorum \vir streiten. Höchstens darum, ob die >rationale Entscheidung< einem von den Sozialwissenschaften (auf Grund welcher Fortschritte!) abgenommen werden kann oder nicht. Doch davon später. Der Begriff der Reflexion und Bewußtmachung, den Habcrmas gebraucht, erscheint der hermeneutischen Reflexion als dogmatisch vorbelastet, und hier wünschte ich, die hermeneutische Reflexion, die ich anstelle, würde effektiv. Wir haben durch Husserl (in seiner Lehre von den anonymen Intentionalitäten) und durch Heidegger (im Nachweis der ontologischen Verkürzung, die in dem Subjekts- und in dem Objektsbegriff des Idealismus steckt) gelernt, die falsche Vergegenständlichung zu durchschauen, die dem Reflexionsbegriff aufgeladen wird. Es gibt sehr wohl eine innere Rückwendung der Intentionalität, die keineswegs das so Mitgemeinte zum thematischen Gegenstand erhebt. Das hat schon Brentano (in Aufnahme aristotelischer Einsichten) gesehen. Ich wüßte nicht, wie man die rätselhafte Seins gestalt der Sprache überhaupt begreifen will, wenn nicht von da aus. Man muß (mit J. Lohmann zu reden) die 'effektive< Reflexion, die in der Entfaltung der Sprache geschieht, von der ausdrücklichen und thematischen Reflexion unterscheiden, die sich in der abendländischen Denkgeschichte herausgebildet hat und die, indem sie alles zum Gegenstand macht, als Wissenschaft die Voraussetzungen der planetarischen Zivilisation von morgen geschaffen hat. Welch eigentümlicher Affekt, mit dem Habermas die Erfahrungswissenschaften dagegen verteidigt, ein beliebiges Sprachspiel zu sein. Wer macht ihnen ihre Notwendigkeit- unter dem Gesichtspunkt mäglichertechnischer Verftigung über Natur- streitig? Höchstens der Forscher selber wird fur sein Verhältnis zu seiner Wissenschaft die technische Motivation seiner Arbeit abstreiten, mit vollem subjektivem Recht. Daß die praktische Anwendung der modernen Wissenschaft unsere Welt und damit auch unsere Sprache tiefgreifend verändert, wird dagegen niemand ableugnen. Aber eben: »auch unsere Sprache«(, Das heißt in gar keiner Weise, wie Habermas mir unterstellt, daß das sprachlich artikulierte Bewußtsein das materielle Sein der Lebenspraxis bestimmt, sondern allein, daß es keine gesellschaftliche Wirklichkeit mit allen ihren realen Zwängen gibt, die sich nicht ihrerseits wieder in einem sprachlich artikulierten Bewußtsein zur Darstellung bringt. Die Wirklichkeit geschieht nicht »hinter dem Rücken der Sprache« (179)[309], sondern hinter dem Rücken derer, die sich anmaßen, die Welt ganz Zu verstehen (oder gar nicht mehr zu verstehen), und sie geschieht auch in der Sprache.
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Freilicli wird von hier aus der Begriff der »Naturwüchsigkeit« (z. B. 173/ 4)[302/3] hoeliverdächtig, den schon Marx als Gegenbegriff gegen die Arbeitswelt der modernen Klassengesellschaft gelten ließ und den auch Habermas gern gebraucht (I>naturwüchsige Substanz der Überlieferung(j, aber auch f)Kausalität naturwüchsiger Verhältnisse«). Das ist Romantik - und diese Romantik schafft einen künstlichen Abgrund zwischen Tradition und der auf dem historischen Bewußtsein gründenden Reflexion. Der »Idealismus der Sprachlichkeit« hat immerhin den Vorzug, in diese Romantik nicht zu verfallen. Habermas' Kritik gipfelt darin, den transzendental philosophischen Immanentismus auf die geschichtlichen Bedingungen hin zu befragen, die er selber in Anspruch nimmt. In der Tat ein zentrales Problem. Wer es mit der Endlichkeit des menschlichen Daseins ernst nimmt und sich kein >Bewußtsein überhaupt< oder einen intellectus archetypus oder ein transzendentales Ego konstruiert, das alle Geltung konstituieren soll, wird sich der Frage nicht entziehen können, wie sein eigenes Denken als transzendentales selber empirisch möglich ist. Nur sehe ich darin gerade für die hermeneutische Dimension, die ich entwickelt habe, keine wirkliche Sch,vierigkeit. Pannenbergs höchst nützliche Auseinandersetzung mit meinem Versuch23 hat mir bewußt bemacht, welch grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Anspruch Hegels besteht, Vernunft auch in der Geschichte zu erweisen, und jenen sich ständig überholenden universalgeschichtlichen Konzeptionen, in denen man sich stets \vie »der letzte Historiker« (166) benimmt. Über Hegels Anspruch einer Philosophie der Weltgeschichte kann man gewiß streiten. Auch er wußte: »)Die Füße derer, die dich hinaustragen, sind schon vor der Türe«, und man kann finden, daß durch alle weltgeschichtlichen Desavouierungen hindurch dem Endgedanken der Freiheit aller eine zwingende Evidenz zukommt, die man so wenig je überholen kann, wie man Bewußtheit überholen kann. Gleichwohl ist der Anspruch, denjeder Historiker erheben muß und der darin besteht, den Sinn alles Gescliehens im Heute festzumaclien (und in der Zukunft dieses Heute), ein grundsätzlich anderer und viel bescheidenerer. Niemand kann bestreiten, daß Historie Zukünftigkeit voraussetzt. Eine universalgeschichtliche Konzeption ist insofern unvermeidlicherweise eine der Dimensionen gegenwärtiger historischer Bewußtheit >in praktisclier Absicht<. Aber wird man Hegel gerecht, wenn man ihn auf dieses interpretatorische Bedürfnis aller Gegenwart einschränken will? >In praktischer Absicht< - daß niemand heute diesen Anspruch überzieht, dafur sorgt schon das eingeprägte Bewußtsein der eigenen
23 W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, Ztschr. f. Theologie und K;ccheliO, 1963, S. 90-121.
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Endlichkeit und das Mißtrauen gegen die Diktatur des Begriffs. Will man ernstlich Hege! auf praktische Absicht reduzieren' Meine Diskussion mit Pannen berg stößt, soweit ich verstehe, in diesem Punkte ins Leere. Denn auch Pannen berg will nicht Hegcls Anspruch erneuern - nur macht es freilich einen Unterschied, daß rur den christlichen Theologen die }praktische Absicht< aller universalhistorischen Konzeption in der absoluten Geschichtlichkeit der Inkarnation ihren festen Punkt hat. Indessen, die Frage bleibt. Wenn sich die hermeneutische Problematik sowohl gegenüber der Universalität der Rhetorik wie gegenüber der Aktualität der Ideologiekritik behaupten will, so wird sie ihre eigene Universalität begründen müssen, und das gerade gegenüber dem Anspruch der modernen Wissenschaft, die hermeneutische Reflexion in sich aufzunehmen und der Wissenschaft dienstbar zu machen (in »methodischer Ausbildung der Klugheit«). Sie wird das nur können, wenn sie sich nicht in der unangreifbaren Immanenz transzendentaler Reflexion verfangt, sondern ihrerseits zu sagen weiß, was diese Reflexion gegenüber der modernen Wissenschaft - und nicht nur innerhalb ihrer -leistet. Da die hermeneutische Reflexion die Leistung vollbringen wird, die alle Bewußtmachung vollbringt, wird sich das zunächst innerhalb der Wissenschaft selbst zeigen müssen. Die Reflexion eines gegebenen Vorverständnisses bringt etwas vor mich, was sonst hinter meinem Rücken geschieht. Etwas - nicht alles. Denn wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist auf eine unautbebbare Weise mehr Sein als Bewußtsein. Das bedeutet aber nicht, daß es ohne beständige Bewußtmachung der ideologischen Erstarrung entgehen könnte. Nur durch diese Reflexion bin ich nür gegenüber nicht länger unfrei, sondern kann über Recht und Unrecht meines Vorverständnisses frei befinden - und sei es auch nur in der Weise, daß ich vorurteilsvoll gesehenen Dingen ein neues Verständnis abzugewinnen lerne. Darin liegt aber, daß die mein Vorverständnis leitenden Vorurteile stets mit aufs Spiel gesetzt werden - bis hin zu ihrer Preisgabe, die freilich stets auch Umbildung heißen kann. Das ist die unermüdliche Kraft der Erfahrung, in allem Bclehrtwerdcn beständig neues Vorverständnis auszubilden. Auf den Ausgangsfeldern meiner hermeneutischen Studien, den Kunstwissenschaften und den philologisch-historischen Wissenschaften, ist es leicht aufzuweisen, wie hermeneutische Reflexion wirksam wird. Man denke daran, wie die Autonomie der stilgeschichtlichen Betrachtung in den Kunstwissenschaften durch die hermeneutische Reflexion auf den Begriff der Kunst - oder die auf einzelne Epochen- und Stilbegriffe - erschüttert worden ist, wie die Ikonographie aus ihrer Randstellung nach vorne drängte, wie die hermeneutische Reflexion über die Begriffe Erlebnis und Ausdruck literaturwissenschaftliche Folgen hat - und sei es auch nur im Sinne der bewußteren Weiterftihrung schon länger andrängender Forschungstcn-
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denzen. (Wechselwirkung ist auch Wirkung.) Daß die Erschütterung fester Vorurteile wissenschaftlichen Fortschritt verspricht, ist überhaupt selbstverständlich. Sie macht neue Fragen möglich, und was die historische Forschung durch begriffsgeschichtliche Bewußtheit zu gewinnen vermag, erleben wir beständig. Auf diesen Feldern glaube ich gezeigt zu haben. wie sich in der Gestalt von )Horizontverschmelzung< die historistische Verfremdung vermittelt. Ocr scharfsinnigen Arbeit Habermas' verdanke ich, daß mir innerhalb der Sozialwissenschaften der hermeneutische Beitrag sichtbar wird, insbesondere dadurch, daß das Vorverständnis der positivistischen Wissenschaftstheorie, aber auch das einer aprioristischen Phänomenologie und einer allgemeinen Linguistik, mit der hermeneutischen Dimension konfrontiert wird. Aber die Funktion der hermeneutischen Reflexion erschöpft sich nicht in dem, was sie fur die Wissenschaften bedeutet. Allen modernen Wissenschaften eignet eine tiefwurzelnde Verfremdung, die sie dem natürlichen Bewußtsein zumuten und die schon im Anfangsstadium der modernen Wissenschaft durch den Begriff der Methode zu reflektiertem Bewußtsein gelangte. An ihr kann hermeneutische Reflexion nichts ändern wollen. Aber sie kann, indem sie die in den Wissenschaften jeweils leitenden Vorverständnisse transparent macht, neue Fragedimensionen freilegen und damit der methodischen Arbeit indirekt dienen. Sie kann aber darüber hinaus zum Bewußtsein bringen, was die Methodik der Wissenschaften fur ihren eigenen Fortschritt zahlt, welche Abblendungen und Abstraktionen sie zumutet. durch die sie das natürliche Bewußtsein ratlos hinter sich läßt- das dennoch, als der Konsument der durch die Wissenschaft erlangten Inventionen und Informationen, ihnen beständig folgt. Das kann man - mit Wittgenstein - so ausdrücken: Die 'Sprachspiele< der Wissenschaft bleiben auf die Metasprache, die die Muttersprache darstellt. bezogen. Die von der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse gehen über die modernen Informationsmittel und in gehöriger (manchmal ungehörig großer) Verspätung über Schule und Erziehung in das gesel1schaftliche Bewußtsein ein. So artikulieren sie die >soziolinguistischen< Wirklichkeiten. Für die Naturwissenschaften als solche ist das freilich ohne Belang. Dem echten Naturforscher ist es ohnehin klar, wie partikular der Erkenntnisbereich seiner Wissenschaft im ganzen der menschlichen Wirklichkeit ist. Er teilt die Vergötterung derselben nicht, die ihm die Öffentlichkeit aufdrängt. Um so mehr bedarf diese - und der Forscher. der in die Öffentlichkeit gehtder hermeneutischen Reflexion auf die Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft. Die sogenannten Humam'ora vermitteln sich noch immer auf leichte Weise mit dem allgemeinen Bewußtsein, soweit sie dasselbe überhaupt noch erreichen, weil ihre Gegenstände der kulturellen Überlieferung und dem herkömmlichen Bildungswesen unmittelbar zugehören. Aber die
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik
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modernen Soziahvissenschaften stehen zu ihrem Gegenstand, der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in einem eigentümlich spannungsvollen Verhältnis, das der hermeneutischen Reflexion eigens bedarf. Die methodische Verfremdung, der sie ihren Fortschritt verdanken, bezieht sich hier auf die menschlich-gesellschaftliche Welt im ganzen. Sie sieht sich durch sie der wissenschaftlichen Verftigung ausgesetzt, in Planung, Lenkung, Organisation, Entwicklung, kurz in einer Unzahl von Funktionen, die alle das Leben jedes einzelnen und jeder Gruppe sozusagen von außen determinieren. Der Sozialingenieur, der das Funktionieren der Gcsellschaftsmaschine betreut, scheint wie abgespalten von der Gesellschaft, der er doch angehört. Dem kann eine hermeneutisch reflektierte Soziologie nicht folgen. Habermas' luzide Analyse der sozial wissenschaftlichen Logik hat das andersartige Erkenntnisinteresse, das die Soziologen gegenüber den Technikern der Gesellschaft auszeichnet. entschlossen herausgearbeitet. Er nennt es ein emanzipatorisches, das allein auf Reflexion zielt, und beruft sich dafUr auf das Beispiel der Psychoanalyse. In der Tat ist die Rolle, welche die Hermeneutik im Rahmen einer Psychoanalyse zu spielen hat, eine fundamentale, und da, wie oben betont wurde, fUr die hermeneutische Theorie auch das unbewußte Motiv keine Grenze darstellt und da vollends die Psychotherapie sich so beschreiben läßt, daß ))linterbrochene Bildungsprozesse zu einer vollständigen Geschichte (die erzählt werden kann) ergänzt werden« (189), hat die Hermeneutik und der Kreis der Sprache, der sich im Gespräch schließt, hier ihren Ort, wie ich vor allem aus J. Lacan gelernt zu haben meine 24• Jedoch ist es klar, daß das nicht alles ist. Der von Freud ausgearbeitete Interpretationsrahmen beansprucht weithin den Charakter echter naturwissenschaftlicher Hypothesen, bzw. der Erkenntnis geltender Gesetze. Das muß sich in der Rolle darstellen, die die methodische Verfremdung innerhalb der Psychoanalyse spielt, und das tut es auch. Wenngleich die gelingende Analyse ihre eigene Beglaubigung im Erfolge gewinnt, ist der Erkenntnisanspruch der Psychoanalyse doch keineswegs aufs Pragmatische reduzierbar. Das heißt aber, daß sie offenkundig einer abermaligen hermeneutischen Reflexion ausgesetzt ist. Wie verhält sich das Wissen des Psychoanalytikers zu seiner Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der er doch angehört? Daß er die bewußteren Oberflächeninterpretationen hinterfragt, maskiertes Selbstverständnis durchbricht, die repressive Funktion gesellschaftlicher Tabus durchschaut, das gehört zur emanzipatorischen Reflexion, in die er seinen Patienten hineinfUhrt. Aber wenn er dieselbe Refle24 Vgl. jetzt die Sammlung seiner Schriften, Ecrits, Aux Editions du Seuil, Paris (1966) [und die vorzügliche Heidelberger Dissertation von Hermann Lang. Die Sprache und das Unbewußtc. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt 1973].
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xion dort ausübt, wo er nicht als Arzt dazu legitimiert ist, sondern wo er selber sozialer Spiclpartner ist, fallt er aus seiner sozialen Rolle. Wer seine Spiel partner auf etwas jenseits ihrer Liegendes hin ,durchschaut<, d. h. das nicht ernst nimmt, was sie spielen, ist ein Spielverderber, denl man aus dem Wege geht. Die emanzipatorische Kraft der Reflexion. die der Psychoanalytiker in Anspruch nimmt, muß mithin an dem gesellschaftlichen Bewußtsein ihre Grenze finden, in welchem sich der Analytiker, ebenso wie sein Patient, mit allen anderen versteht. Die hermeneutische Reflexion lehrt uns, daß soziale Gemeinschaft bei allen Spannungen und Störungen immer wieder auf ein soziales Einverständnis zurückfUhrt, durch das sie existiert. Damit wird aber die Analogie zwischen psychoanalytischer und soziologischer Theorie problematisch. Denn \"\'o soll diese ihre Grenze finden? Wo hört dort der Patient auf und tritt die Sozialpartnerschaft in ihr unprofessionelles Recht? Gegenüber welcher Sclbstinterpretation des gesellschaftlichen Bewußtseins - und alle Sitte ist eine solche - ist das Hinterfragen und Hintergehen am Platze, etwa in revolutionärem Veränderungswillen, und gegenüber welcher nicht? Diese Fragen scheinen unbeantwortbar. Es scheint sich die unausbleibliche Konsequenz zu ergeben, daß dem prinzipien emanzipatorischen Bnvußtsein die Auflösung alles Herrschaftszwangs vorschv.teben muß - und das hieße, daß die anarchistische Utopie ihr letztes Leitbild sein muß. - Dies freilich scheint mir ein henneneutisch falsches Bewußtsein.
19. Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik< 1971
Hermeneutik ist die Kunst der Verständigung. Nichtsdestoweniger scheint es von besonderer Schwierigkeit, sich über die Probleme der Hermeneutik zu verständigen - \venigstens solange ungeklärte Begriffe von Wissenschaft, Kritik und Reflexion die Diskussion beherrschen. Da leben wir in einem Zeitalter, in dem Wissenschaft in immer größerem Ausmaß die Beherrschung der Natur vollbringt und die Verwaltung dcs menschlichen Zusammenlebens regelt, und dieser Stolz unserer Zivilisation, die unermüdlich die Mängel ihrer Erfolge korrigiert und beständig neue wissenschaftliche Forschungsaufgaben produziert, auf die sich abermals Fortschritt, Planung und Schadensvorbeugung gründen, entwickelt die Macht einer echten Verblendung. Im Sichversteifen auf den Weg fortschrittlicher Weltgestaltung durch Wissenschaft perpetuiert sich ein System, in das sich das praktische Bewußtsein des einzelnen resignierend und einsichtslos ergibt oder gegen das es sich revoltierend - und das heißt nicht minder einsichtslos - wehrt. Aufklärung über diese Verblendung hat nichts mit jener romantischen Kulturkritik zu tun, die sich gegen die Wissenschaft und ihre technische Ausstrahlung als solche wendet. Ob man den >Verlust der Vernunft, (The eclipse of reason) oder die steigende )Seinsvergessenheit< oder die Spannung von) Wahrheit und Methode< zum Gegenstand des Denkens erhebt - nur ein bis zur Verblendung gereiztes Wissenschafts bewußtsein kann verkennen, daß der Streit um die wahrhaften Zwecke der menschlichen Gesellschaft oder das Fragen nach dem Sein inmitten der Vorherrschaft des Machens, oder das Innesein unserer geschichtlichen Herkunft und Zukunft auf ein Wissen gewiesen sind, das nicht Wissenschaft ist, aber das in aller menschlichen Lebenspraxis die Führung hat. und das selbst dort, wo diese Lebenspraxis sich ex professo die Förderung und Anwendung von Wissenschaft angelegen sein läßt. Zwar hat die moderne Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert eine neue Welt heraufgefuhrt, indem sie auf die Erkenntnis der Substanzen entschlossen verzichtete und sich auf den mathematischen Entwurf der Natur und den [Die Seitenzahlen hinter den zitierten Autorennamen beziehen sich auf die Beiträge in und Ideologiekritik< (Frankfurt 1971), auf die meine Replik antwortet.]
~Hermeneutik
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methodischen Einsatz des Messens und des Experimentierens einschränkte und so den konstruktiven Weg der Narurbeherrschung aufschloß. Die erdumspannende Ausbreitung der technischen Zivilisation wurde dadurch eingeleitet. Aber erst in unserem Jahrhundert hat sich mit steigenden Erfolgen die Spannung zwischen unserem wissenschaftlichen Fortschrittsbewußtsein und unserem gesellschaftlich-politischen Bewußtsein mehr und mehr verschärft. Gleichwohl ist der Konflikt Z\vischen diesem und jenem Wissen ein sehr altes Problem. Er hat Sokrates das Leben gekostet, als dieser das Fachwissen der Handwerker seiner Unwissenheit über das eigentlich Wissenswürdige, das Gute, überflihrtc. Das wiederholte sich in dem platonischen Sokrates-Porträt. Plato hebt die Dialektik, die Kunst, ein Gespräch zu führen, nicht nur gegen das begrenzte Fachv.dssen der Fachleute ab, sondern sogar gegen das höchste Vorbild aller Wissenschaft, gegen die Mathematikobwohl er doch in der Beherrschung der Mathematik die unabdingbare Voraussetzung dafUr sah, daß einer sich den letzten >dialektischen< Fragen nach dem wahren Sein und dem höchsten Guten zuwendete. Und selbst dort, wo die grundlegende Aufklärung über den Unterschied von Herstellungswissen (techne) und praktischem Wissen (phronesis) erarbeitet wurde, in der Ethik des AristoteIes, bleibt es in manchem Punkt unklar, wie sich das politische Wissen des Staatsmannes und politisch Handelnden und das technische Wissen des Fachmannes zueinander verhalten. Zwar scheint es da eine klare Hierarchie zu geben, indern etwa der Feldherr, in dessen Dienst alle anderen )Künste( stehen, selber am Ende im Dienste des Friedens steht. \\'ährend der Staatsmann im Frieden ,"vie im Krieg für das Glück aller handelt. Aber da ist einmal die Frage: wer ist Staatsmann?Jener Experte, der auf der Leiter politischer Ämter nach oben gelangt ist, oder der Bürger, der als Teilglied des wahren Souveräns seine Entscheidung durch Stimmabgabe trifft (und der daneben seinen ,bürgerlichen< Beruf hat)' Im ,Charmidcs( hat Plato das Expertenideal einer politischen Wissenschaft, die Wissenschaft der Wissenschaft wäre, ad absurdum geruhrt". Offenkundig ist es nicht angängig, das Wissen, auf dem die praktisch-politischen Entscheidungen beruhen, nach dem Muster des Herstellungswissens zu verstehen und darin das oberste technische Wissen zu erblicken, nämlich das Wissen um die Herstellbarkeit des menschlichen Glücks. So etwas ist gerade nicht lehrbar, wie schon Plato an den Söhnen der großen Männer von Athen zu demonstrieren liebte und wie noch Aristoteles, der selber, ohne athenischer Bürger zu sein, in Athen lehrte, gleicl1\\'ohl die heran reisenden Experten idealer Staatsgründung und Verfassungsgebung als Sophisten (nicht als Politologen) bezeichnete und abwehrte. In der Tat waren diese Experten alles andere als Staatsmänner, d. h. als führende Bürger in ihrer eigenen 2, Vgl. meinen Diskussionsbeitrag: >Die Grenzen des Expertemums< zum 9. DarmstädterGespräch: Der Mensch und seine Zukunft, 1967, S. 160-168.
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Polis. Aber selbst \"\Tenn das alles rur Aristoteles sonnenklar war und er die eigene Struktur des praktischen Wissens gegenüber der des technischen Wissens meisterhaft herausgearbeitet hat - es blieb doch abermals eine Frage zurück: Was soll das für ein Wissen sein, in dem Aristoteles selber diese Unterscheidungen traf und lehrte? Was ist die praktische (und politische) Wissenschaft ihrerseits fur ein Wissen? Solches Wissen ist nicht einfach eine höhere Betätigungjenes praktischen Wissens, das Aristoteles als Phronesis beschrieben und analysiert hat. Zv.rar ist )praktische Philosophie< von der >theoretischen Wissenschaft< bei AristoteIes ausdrücklich unterschieden, offenbar eben dadurch, daß der )Gegenstand< dieser Wissenschaft nicht das Immerseiende und die obersten bleibenden Prinzipien und Axiome sind, sondern die beständiger Veränderung unterliegende menschliche Praxis. Aber in gewissem Sinne ist sie doch selbst theoretisch, sofern, was sie lehrt, kein wirkliches Handlungswissen ist, das eine konkrete Situation der Praxis klärt und entscheidet, sondern )allgemeine< Erkenntnisse über menschliches Verhalten und die Formen seines )politisehen< Daseins vermittelt. So geht durch die Tradition der abendländischen Wissenschaftsgeschichte als eine eigene Form von Wissenschaft die scientia practica, die praktische Philosophie, die weder theoretische Wissenschaft ist, noch auch zureichend dadurch charakterisiert wird, daß sie )praxisbezogen< ist. Sie ist - als Lehre - ganz gewiß kein >Handlungswissen<26. Aber ist sie nichts als Techne oder >Kunstlehre Sie ist nicht zu vergleichen mit der Grammatik oder Rhetorik, die für ein technisches Können - Reden oder Schreiben - ein technisches Regelbewußtsein bereithalten, das seinerseits Kontrolle der Praxis möglich macht und andererseits auch Lehre. Diese Kunstlehren scheinen bei aller ihrer Überlegenheit über die bloße Erfahrung doch der Ausübung des Sprechens oder Schreibens eine letzte Geltung zuzuerkennen, so wie alle andere Techne, alles Handwerkswissen, dem Gebrauch untergeordnet ist, den man von dem hergestellten Produkt macht. Praktische Philosophie ist nicht in diesem Sinne, in dem Grammatik oder Rhetorik Kunstlehren sind, ein Regclwissen rur menschlich-gesellschaftliche Praxis. Sie ist vielmehr Reflexion auf ein solches und somit in einem letzten Betracht> allgemein< und >theoretisch<. Auf der andern Seite stehen Lehre und Rede hier unter eigentümlichen Bedingungen, sofern alles moralphilosophische Wissen und entsprechend auch jede allgemeine Staatslehre auf die besonderen Erfahrungsbedingungen des Lernenden bezogen sind. Aristotcles gesteht sich das durchaus ein, daß sich solches >Reden im allgemeinen< über das, was eines jeden eigens te konkrete Praxis ist, nur rechtfertigt, wenn man es mit Schülern zu tun hat, die reif genug sind, 26 Das hat Ernst Schmidt in der Kritik des Buches >Moral Knowledge and its Methodology in Aristotle< von J. Donald Monan richtig gezeigt (Philosophische Rundschau, 17, 1971, S. 249ff).
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allgemeine Reden auf die konkreten Umstände ihrer Lebenserfahrung in selbständiger Verantwortung anzuwenden. Die praktische Wissenschaft ist also wohl ein >allgemeines< Wissen, aber offenkundig ein Wissen, das man weniger Hcrstellungswisscn nennen kann als Kritik. Geradeso scheint es nun mit der philosophischen Hermeneutik zu stehen. Sofern man Hermeneutik als Kunst des Verstehens definiert und die Ausübung dieser Kunst, wie die der Rede und des Schreibens, als ein gekonntes Verhalten versteht, dann ist solches Wissen der Disziplinierung zu bewußtem Regelgebrauch fahig und darf Kunstlehre heißen. So verstanden noch Schleiermacher und seine Nachfolger Hermeneutik als )Kunstlchrc<. Aber nicht das ist }philosophische< Hermeneutik. Sie vvill nicht ein Können zum Regelbewußtsein erheben. Solche >Erhebung< bleibt ohnehin ein eigentümlich ambivalenter Vorgang, sofern auch umgekehrt Regelbewußtsein sich immer wieder bis zum )automatischen< Können >erhebt<. Philosophische Hermeneutik dagegen ret1ektiert über dieses Können und über das Wissen, auf dem es beruht, Sie dient also nicht mehr der Überwindung bestimmter Schwierigkeiten des Verstehens, wie sie gegenüber Texten oder im Gespräch mit anderen Menschen begegnen, sondern was sie erstrebt, ist, wie Habermas es nennt, ein »kritisches Reflexionswissen«. Aber was heißt das? Verschaffen wir uns über das Gemeinte konkrete Anschauung. Die Ret1exion, die eine philosophische Hermeneutik anstellt, wäre etwa in dem Sinne kritisch, daß sie den naiven Objektivismus aufdeckt, in dem ein an den Naturwissenschaften orientiertes Selbstverständnis der geschichtlichen Wissenschaften befangen ist. Hier macht sich Ideologiekritik die hermeneutische Reflexion zunutze, indem sie die Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens gesellschaftskritisch auslegt. - Oder die hermeneutische Reflexion entdeckt falsche Hypostasierungen von Worten in dem Stile, in dem Wittgenstein die Begriffe der Psychologie durch Rückgang auf die hermeneutische Ursituation des praxisbezogenen Sprechens kritisiert hat. Auch solche Kritik an den Verhexungen durch Sprache berichtigt unser Selbstverständnis, so daß es unseren Erfahrungen besser gerecht zu werden vermag. - Kritische Reflexion wird von der Hermeneutik aber z, B. auch dadurch geleistet, daß sie verständliches Sprechen gegen Fehlansprüche der Logik verteidigt, die bestimmte Maßstäbe des Aussagekalküls an philosophische Texte heranträgt und beweisen möchte (Carnap oder Tugendhat), daß, wenn Heidegger oder Hegel vom Nichts reden, solches Reden sinnlos ist, da es logische Bedingungen nicht erflillt, Hier kann die philosophische Hermeneutik kritisch zeigen, daß solche Einwendungen der hermeneutischen Erfahrung nicht entsprechen und dadurch hinter das zurückfallen, was man verstehen soll. Das >nichtende Nichts( z. B. drückt nicht, wie Carnap meint, ein Gefuhl aus, sondern eine Bewegung des Gedankens, die es zu verstehen gilt. - Hermeneutische Reflexion scheint mir ebenso produktiv, wo jemand etwa in
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platonischen Dialogen die sokratische Argumentations\veise auf ihre logische Schlüssigkeit hin prüft. Hier kann die hermeneutische Reflexion aufdecken, daß der kommunikative Vorgang so1cher sokratischer Gesprächsftihrung ein Vorgang des Verstehens und der Verständigung ist, der von dem Erkenntnisziel des logischen Analytikers überhaupt nicht getroffen wird27 . Die reflexive Kritik beruft sich offenkundig in allen diesen Fällen auf eine Instanz, die durch die hermeneutische Erfahrung und ihren sprachlichen Vollzug repräsentiert ist. Sie erhebt zu kritischem Bewußtsein, was der scopus der vorliegenden Aussagen ist und welche hermeneutische Anstrengung ihr Anspruch aufWahrsein verlangt. Es handelt sich durchweg um Berichtigung eines Selbstverständnisses. Insofern ist solche hermeneutische Reflexion >philosophisch<-nicht, weil sie eine bestimmte philosophische Legitimation von sich aus in Anspruch nimmt, sondern im Gegenteil, weil sie einen bestimmten )philosophischen< Anspruch bestreitet. Was sie kritisiert, ist nicht etwa ein wissenschaftliches Verfahren als solches, z. B. das der Naturforschung oder das der logischen Analyse, sondern die mangelnde Methodengerechtigkeit, die in solchen Anwendungen, wie sie oben geschildert wurden, liegt. Philosophische Legitimation auf solches kritische Geschäft zu gründen, ist übrigens nichts Besonderes. Es gibt wohl keine andere Rechtfertigung des Philosophierens als durch den Verweis auf die Tatsache, daß immer bereits philosophiert wird, wenn auch oft unter gegen den Anspruch der )Metaphysik< negativen Vorzeichen, z. B. dem der Skepsis, der Sprachkritik oder der Wissenschaftstheorie. Aber die philosophische Hermeneutik dehnt ihren Anspruch weiter aus. Sie erhebt Anspruch auf Universalität. Sie begründet ihn damit, daß Verstehen und Verständigung nicht primär und ursprünglich ein methodisch geschultes Verhalten zu Texten meinen, sondern die Vollzugsform des menschlichen Soziallebens sind, das in letzter Formalisierung eine Gesprächsgcmeinschaft ist. Von dieser Gesprächsgemeinschaft ist nichts ausgenommen, keine Welterfahrung überhaupt. Weder die Spezialisierung der modernen Wissenschaften und ihre zunehmende Betriebsesoterik, noch die materielle Arbeit und ihre Organisationsformen, noch die politischen Herrschafts- und Verwaltungsinstitutionen, die die Gesellschaft verfaßt halten, befinden sich außerhalb dieses universalen Mediums praktischer Vernunft . (und Unvernunft). Nun ist eben die Universalität der hermeneutischen Erfahrung das eigentlich Strittige. Ist sie nicht durch ihre sprachliche Vollzugsweise auf einen Kreis kommunikativer Verständigung eingeschränkt, der in mancher Weise hintergehbar scheint? Da ist zunächst das Faktum der Wissenschaften selbst 27
Plato, 7. Brief, 343 a 7: »weil nicht die
>Seele~
des Redenden widerlegt wird. «(
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und ihrer Theoriebildung. Habcrmas sieht darin geradezu einen Einwand: »Offensichtlich kann die moderne Wissenschaft legitim den Anspruch erheben, dadurch zu wahren Aussagen über die )Dinge< zu gelangen, daß sie monologisch verfahrt, statt den Spiegel der menschlichen Rede zu achten.« Er erkennt zwar an, daß solche )ffionologisch( aufgebauten Theorien der Wissenschaft im alltagssprachlichen Dialog verständlich gemacht werden müssen. Aber cr sieht darin doch ein_ fur die Hermeneutik selbst neues Problem, daß sie es mit solchen Theoriesprachen zu tun bekommt. Hermeneutik habe es von Hause aus mit der umgangssprachlich konstituierten und überlieferten Kultur allein zu tun, und es sei eine neue Aufgabe, zu erklären, wie Sprache überhaupt aus der Dialogstruktur heraustreten und strenge Theoriebildung ermöglichen könne. Ich verstehe diese Darlegungen nicht. Die Differenz zwischen Fachsprache und Umgangssprache hat es doch seit Jahrtausenden gegeben. Ist die Mathematik etwas Neues? Und definiert es nicht von jeher den Fachmann, den Schamanen und den Arzt, daß er sich nicht allgemeinverständlicher Verständigungsmittel bedient? Was man als ein neuzeitliches Problem ansehen kann, ist doch höchstens dies, daß der Fachmann die Übersetzung seines Wissens in die allgemeine Umgangssprache nicht mehr als seine eigene Aufgabe ansieht, so daß die Aufgabe dieser hermeneutischen Integration sich als eine Sonderaufgabe stellt. Aber die hermeneutische Aufgabe als solche ändert sich dadurch nicht. - Oder meint Habermas damit nur, daß man theoretische Kontruktioncn, ",,·ie sie etwa im Felde der Mathematik und der heutigen mathematischen Naturwissenschaft vorkommen, ohne jeden Rekurs auf die Umgangssprache )verstehen( könne? Das ist freilich nicht strittig. Es wäre absurd zu behaupten, daß alle unsere Welterfahrung nichts als ein Sprachvorgang sei, daß etwa die Entwicklung unseres Farbensinns bloß in der Differenzierung im Gebrauch von Farbwörtern bestünde 28 • Auch machen genetische Erkenntnisse wie etwa die von Piaget, auf die Habermas Bezug nimmt und die wahrscheinlich machen, daß es einen vorsprachlichen operationellen Kategoriengebrauch gibt, aber auch all die sprachlosen For-
2.S Von Barmann, S. 98, geht so weit, mir nachzusagen, daß die Worte, die verstanden werden, eigentlich nichts mehr sind als WorteH -, }}ohne konkreten Sinn ... ({ und fUhrt das auf eine zu weit getriebene Formalisierung der hermeneutischen Fragestellung zurück. Aber hier ist er doch der Zweideutigkeit zum Opfer gefallen, die er an mir kritisiere - er unterschätzt die wesenhafte Beziehung aller Philosophie der Hermeneutik aufhermeneutische Praxis. Man will wissen, was einem da geschieht (und nicht etwa )glauben<). Die }Zweideutigkeit<, die er mir in seiner höchst forderlichen Kritik nachweist, ist gewiß zu einem Teile die Folge meiner bcgriffiichen Schwäche. zum anderen aber liegt es dem Wesen der hermeneutischen Erfahrung zugrunde, unentschieden zu sein und ständig versucht, das, was man als Aussage eines anderen versteht, auch sachlich einleuchtend zu finden.
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men von Kommunikation, die Helmuth Plessner 29 , Michael PolanyPO und Hans Kunz:l l besonders beachtet haben, jede These lächerlich, die andere außersprachliche Verstehensformen mit der Berufung auf eine sprachliche Universalität ableugnen wollte. Sprechen ist im Gegenteil deren mitgeteiltes Dasein. Aber eben in der Mitteilbarkeit des Verstehens liegt das Thema der Hermeneutik, wie Habermas (S. 77) selber richtig erkennt. Wenn man einen Streit um Worte vermeiden will, sollte man daher lieber auf die Gänsefüßchen verzichten und beispielsweise nicht unterstellen, daß künstliche Zeichensysteme in detnselben Sinne )verstanden( werden, in dem unsere sprachliche Weltauslegung eine verstehende ist. Man \vird dann freilich auch nicht mehr sagen dürfen, daß die Naturwissenschaften zu Aussagen über ,die Dinge< gelangen, ohne ,auf den Spiegel menschlicher Rede zu achten<. Was fur >Oinge( kennt denn die Naturwissenschaft? Der Anspruch der Hermeneutik ist und bleibt, in die Einheit sprachlicher Wc1tauslegung zu integrieren, was als unverständlich oder als nicht allgemein, sondern nur unter Eingeweihten >verständlich< begegnet. Es kann nicht im Ernst als ein Einwand gegen diesen Anspruch geltend gemacht werden, daß die moderne Wissenschaft ihre eigenen Sondersprachen und Fachsprachen und künstlichen Symbolsysteme entwickelt hat und innerhalb derselben 'monologisch< verfahrt, d. h. außerhalb aller umgangssprachlichen Kommunikation ,Verstehen( und) Verständigung< erreicht. Habermas, der diesen Einwand erhebt, weiß doch selbst sehr gut, daß solches, Verstehen< und Sich-Verstehenauf, das ja auch das Pathos des modemen Sozialingenieurs und Experten ausmacht, gerade der Reflexion ermangelt, durch die es gesellschaftlich verantwortet werden könnte. Er weiß es so gut, daß er, um der Reflexion zu ihrem Recht zu verhelfen, das Beispiel einer kritischen Reflexionswissenschaft breit ausmalt, das der gesellschaftlichen Reflexion ein Vorbild sein solle: die Psychoanalyse. Sie betreibt kritische, emanzipatorische Reflexion, indern sie deformierte Kommunikation durch Reflexion von ihren Blockaden befreien und Kommunikation wiederherstellen will. Auf solche emanzipatorische Reflexion komme es auch im sozialen Bereich an. Nicht nur der neurotische Patient leide an systematisch verzerrter Kommunikation, wenn er seine Neurose verteidigt, sondern im Grunde ein jedes gesellschaftliches Bewußtsein, das sich mit dem herrschenden gesellschaftlichen System im Einverständnis befinde und daher dessen Zwangscharakter unterstütze. Dies ist die nicht selber zur Diskussion gestellte Voraussetzung, unter der Habermas argumentiert. Wie der Psycholanalytiker dem vom Heilungswunsch zu ihm getriebe29 30 31
Jetzt in: Philosophische Anthropologie, Conditio humana. Frankfurt 1970. In: The Tacit Dimension, New York 1966. Z. B. in kritischer Auseinandersetzung mit mir in Studia philosophica XX, 1961.
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Weitcrent,.,ricklungcn
nen Patienten eine im übrigen höchst verantwortlich freigebende Reflexionsarbeit zumute, so müsse auch im sozialen Bereich jede Form von Herrschaftszwang bewußt gemacht und zur Auflösung gebracht werden. Insbesondere Habermas und Giegel konkretisieren das auf verschiedene Weise unter dem grundsätz1ichen Thema der Hintergchbarkeit der Sprache. Was sie damit meinen, ist al1erdings in gev,lissem Sinne eine Technisierung des Verstehens, durch die die Vieldeutigkeit sprachlicher Kommunikation überwindbar würde. Aber das ist nicht alles. Habermas streift zwar solche metalinguistischen Möglichkeiten, aber was ihm die Psychoanalyse bedeutet, ist etwas anderes, nämlich ihre methodische Besonderheit, erklärende Wissenschaft (damit mögliche Technik) und zugleich emanzipatorische Reflexion zu sein. Im Falle der Psychoanalyse muß Sprache hintergangen werden, meint er. Denn in der Neurose finden wir eine so gründliche und systematische Kommunikationsstärung, daß das therapeutische Gespräch scheitern müßte, wenn es nicht unter ganz besonderen und komplizierten Bedingungen vorginge. Es kannim Gespräch die Voraussetzung eines tragenden Einverständnisses, welche sonst Gesprächspartner verbindet, nicht zur Einlösung bringen, wenn auch die Analyse am Ende in der Affirmation des Patienten ihre Bestätigung empfangt und wenn auch im Abbau der Symptome der Patient in die normale Komm unikationsfahigkeit zurückkehrt. Habermas bezieht sich hier weitgehend auf die einleuchtenden Schilderungen Lorenzers über ~Sprachzerstörung<. Aber worauf es ihm ankommt, fugt er aus eigenem hinzu: So wie der Patient den undurchschauten Zwang durchschauen, Verdrängungen auflösen und in Bewußtheit überwinden lernt, so gelte es auch im sozialen Bereich, den undurchschauten Zwang gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse durch Ideologiekritik zu durchschauen und aufzulösen. Der vertrauensvolle Gesprächsoptimismus der philosophischen Hermeneutik könne das nicht leisten, da diese nur ein Pseudoeinverständnis auf der Basis der herrschenden gesellschaftlichen Vorurteile perpetuiere. Ihr fehle die kritische Reflexion. So bedürfe es der tiefenhermeneutischen Deutung einer »systematisch verzerrten Kommunikation«. Denn wir )~haben Veranlassung anzunehmen, daß der Hintergrundkonsensus eingelebter Traditionen und Sprachspiele nicht nur im pathologischen Einzelfall gestörter Familiensysteme. sondern auch im gesamtgesellschaftlichen System ein zwangsintegriertes Bewußtsein, ein Ergebnis von Pseudokommunikation sein kann«. Habermas wehrt sich gegen die Zumutung, die Kommunikation auf den »Traditionsspielraum geltender Überzeugungen{( einzuschränken, und sieht darin eine unmögliche Privatisierung des Aufklärungsanspruchs, den die Tiefenhermeneutik erhebt. In diesem Sinne hat er offenbar meine Erinnerung an die soziale Rolle des Arztes und die einschränkenden Bedingungen der Psychotherapie verstanden.
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In der Tat liegt der Einwand nahe, den ich vorbrachte, daß der Patient und der Arzt auf ein bestimmtes soziales Rollenspiel eingespielt und eingeschränkt seien, sofern die emanzipatorische Reflexionsarbeit in beruflicher Verantwortung betrieben werde. Es könnte nicht zu der sozialen Legitimation des Arztes (bzw. des Laienanalytikers) gehören, über den ärztlichtherapeutischen Bereich hinauszugreifen und in emanzipatorischer Reflexion das soziale Bewußtsein anderer als )krank< zu )behandeln<. - Ich verkenne damit nicht den eigentümlichen Charakter von Behandlung, der der psychoanalytischen Therapie eigen ist, jenes komplizierte Ineinander von Inbesitznahme (> Übertragung<) und Freigabe, das bei der Behandlung einzuhalten die Kunst des Analytikers ausmacht. Sowohl Lorenzers ausgezeichneter Schilderung des Verfahrens, auf die sich Habermas stützt, als auch der Darstellung bei Giegel gestehe ich voll zu, daß solche >Behandlung< nicht als eine Technik zu bezeichnen ist, sondern als eine gemeinsame Reflexionsarbeit. Ich erkenne auch darüber hinaus an, daß der Analytiker seine analytische Erfahrung und sein Wissen nicht einfach beiseite stellen kann, wenn er als Sozialpartner, und nicht mehr als Arzt, seine soziale Rolle spielt. Aberdas ändert nichts daran, daß eben diese Einmischung psychoanalytischer Kompetenz einen Störungsfaktor im sozialen Umgang bedeutet. Ich sage nicht, daß derartiges vermeidbar sei. Man schreibt ja auch Graphologen Briefe und liefert sich ihnen aus, ohne daß man damit ihre graphologische Kompetenz ansprechen \~,1ill, und auch außerhalb solcher spezifischer Kompetenzen ist es doch so, daß man bei der dialogischen Zuwendung, beim Hören auf Gründe und bei der affektiven Beeinflussung durch einen anderen, auch seinerseits Menschenkenntnis, anderweitige Informationen und distanzierte Beobachtung ins Spiel bringt und sich dadurch der Offenheit rur das >reine< rationale Gespräch in Grenzen entzieht. Man denke etwa an Sartres berühmte Beschreibung des Blicks des anderen. Trotzdem ist die hermeneutische Situation im sozialen Partnerschaftsverhältnis von der im analytischen Verhältnis sehr wohl unterschieden. Wenn ich jemandem einen Traum erzähle und es veranlaßt mich dazu nicht eine analytische Absicht oder gar meine Rolle als Patient, dann hat die Mitteilung offenkundig nicht den Sinn, eine analytische Traumdeutung einzuleiten. Der Zuhörer verfehlt den hermeneutischen Scopus, wenn er das dann doch tut. Die Absicht ist vielmehr, an den unbewußten Spielen der eigenen Traumphantasie teilzugeben, so wie man etwa auch an der Märchenphantasie oder an der dichterischen Einbildungskraft teilnimmt. Dieser hermeneutische Anspruch ist legitim und hat nichts mit dem Widerstand zu tun, der innerhalb der Analyse ein wohlbekanntes Phänomen ist. Es ist durchaus berechtigt, es abzulehnen, wenn einer die beschriebene hermeneutische Situation verkennt und z. B. Jean Pauls Traumdichtungen, statt sie als bedeutungsvolle Spiele der Einbildungskraft verstehen zu wollen, als den
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Weiterenrwicklungen
bedeutungsvollen Ernst unbnvußter Symbolisierung einer verschütteten Biographie zu deuten untcrnitnmt. Hier ist hermeneutische Kritik an tiefenpsychologischer Legitimität arn Platze und ist keineswegs auf ästhetische Bildungsfreuden beschränkt. Wenn jemand z. B. einen anderen in einer politischen Frage mit leidenschaftlicher Emotion und bis zum Ärger gesteigerter Schärfe argumentativ zu überzeugen sucht, so hat er einen hermeneutischen Anspruch darauf, Gegenargumente zu bekommen und nicht seine Emotionen tiefenpsychologisch behandelt zu sehen, nach dem Motto: Wer sich ärgert, hat unrecht. Wir \-verden auf dieses Verhältnis psychoanalytischer und hermeneutischer Reflexion und die Gefahren einer Verwirrung dieser beiden )Sprachspiele( noch zurückkommen. Nun liegt die exemplarische Bedeutung, die der Psychoanalyse ftir die Kritik an der Hermeneutik und ftir die Kritik innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation zukommen soll, in der Rolle der emanzipatorischen Reflexion, die in ihr ihre therapeutische Funktion hat. Die Reflexion befreit, indem sie durchschau bar macht, von dem, was einen undurchschaut beherrscht. Offenbar ist das in einem anderen Sinne kritische Reflexion, als in dem die hermeneutische Reflexion es ist, die, wie ich schilderte, inadäquates Selbstverständnis zerstört und den Mangel an Methodengerechtigkeit aufdeckt. Nicht daß die am Vorbild der Psychoanalyse orientierte Kritik solcher hermeneutischen Kritik widerspräche (wenn auch, wie ich zeigen möchte, die hermeneutische Kritik dieser Vorbildnahme widersprechen muß). Aber sie ist ihr nicht genug. Die hermeneutischen Wissenschaften verteidigen sich durch hermeneutische Reflexion gegen die These, ihr Verfahren sei unwissenschaftlich, da es die )Objektivität( der seienee verleugne. In diesem Punkte stimmt die Ideologiekritik der philosophischen Hermeneutik sogar zu. Aber sie wendet ihre Kritik gegen die Hermeneutik, sofern diese auf unzulässige Weise ein traditionalistisches Festhalten an überkommenen Vorurteilen perpetuiere. Seit dem Einbruch der industriellen Revolution und der Wissenschaft in das soziale Leben spiele das Traditionsmoment nur noch eine sekundäre Rolle. K. O. Ape! spricht diese Kritik allerdings so aus, daß er offenbar mißversteht, was die philosophische Hermeneutik meint, wenn sie von Applikation spricht. Es handelt sich dabei um ein implizites Moment alles Verstehens. Man sollte es wirklich ernst nehmen, daß die von mir vorge1cgte Analyse der hermeneutischen Erfahrung die erfolgreiche Praxis der hermeneutischen Wissenschaften zum Gegenstand hat, in der ganz gewiß keine >bewußte Applikation( am Werke ist, von der man ideologische Korrumpierung der Erkenntnis befürchten könnte. Dies Mißverständnis hatte schon Betti beunruhigt. - Offenbar ist hier eine Unklarheit im Begriffe des Applikationsbewußtseins im Spiel. Es ist durchaus wahr, wie Apel feststellt, daß Applikationsbewußtsein gegenüber dem objektivistischen Sdbstverständ-
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nis der ver~tehenden Wissenschaften und ebenso angesichts der Lebenspraxis des Verstehens als hermeneutische Forderung aufgestellt wird. Insofern ist eine philosophische Hermeneutik, wie ich sie zu entwickeln versucht habe, gewiß mormativ" nämlich in dem Sinne, daß sie eine schlechte Philosophie durch eine bessere zu ersetzen trachtet. Aber sie propagiert nicht eine neue Praxis, und es ist keine Rede davon, daß die hermeneutische Praxis jeweils in concreto von einem Bewußtsein der Applikation und einer Absicht der Applikation geleitet wäre, und das gar noch im Sinne der bewußten Legitimierung einer geltenden Tradition. Gewiß gibt es eine Rückwirkung eines falschen Selbstverständnisses auf ein praktisches Verfahren und ebenso gewiß auch die umgekehrte Rückwirkung eines angemessenen Selbstverständnisses, sofern dieses solche von Theorie herrührenden praktischen Verzerrungen von der Theorie her zerstört. Aber es ist keineswegs die Aufgabe der wirkungsgeschichtlichen Reflexion, nach Aktualisierung zu streben und auf >An\vendung< aus zu sein, sondern im Gegenteil, alle aktualisierenden Anbiederungen beim Verstehen von Überlieferung nicht nur durch die formale Disziplin der wissenschaftlichen Methodik, sondern dutch konkrete inhaltliche Reflexion zu verhindern und zu dccouvrieren. Ape1 spricht mir aus der Seele, wenn er sagt: »Es liegt durchaus im Pflichtbereich einer applikationsbewußten Interpretationsmethode, der Gegenwart die akruelle Applikation im Interesse einer nicht begrenzten Verständigung unter Umständen schwerrnachen zu müssen.« (141) Ich würde sogar noch weiter gehen und statt lunter Umständen< sagen: >unter allen Umständen< - nur daß ich diesen Grundsatz nicht erst für eine Folge der Applikationsbewußtheit halte, sondern rür eine Erfüllung der echten Pflicht der Wissenschaftlichkeit, die mir freilich oft gerade dort verletzt scheint, \vo ideologische Vorurteile im Hintergrunde als eine vis a tergo deshalb wirksam bleiben, weil eine pseudoexakte Methodenbesinnung sie nicht wahrhaben will. An diesem Punkt sehe ich, mit Ape! (32), in der Tat eine ideologische Korruptionsgefahr. Ob dieselbe auch, wie Apel (35) sagt, diejenigen hermeneutischen Geisteswissenschaften, die er >existentialistische< nennt, trifft, kann ich nicht sagen, da ich nicht weiß, was er meint. Aber gewiß trifft sie nicht diejenigen, an denen sich die philosophische Hermeneutik orientiert oder gar diese selbst. Hier vermag hermeneutische Reflexion im Gegenteil )praktisch< zu werden: sie macht jede Ideologie verdächtig, indem sie Vorurteile bewußt macht. Am besten prüft man derartiges am konkreten Beispiel. Sehen wir uns etwa, um in meinem Kompetenzbereich zu bleiben, die Geschichte der Vorsokratikerdeutung unseres Jahrhunderts an. Da bringt eine jede Interpretation bestimmte Vorurteile ins Spiel, ]oel das Religionswissenschaftliche, Karl Reinhardt das Vorurteil der logischen Aufklärung, Werner Jaeger einen
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undurchschautcn religiösen Monotheismus (wie W. Bröcker 32 glänzend gezeigt hat), und wenn ich selbst, gewiß durch Heideggers Exposition der Seinsfrage inspiriert, ,das Göttliche< im Licht der klassischen Philosophie und vom philosophischen Gedanken her zu verstehen suche33 , so ist gewiß in a11 diesen Fällen die Wirksamkeit eines leitenden Vorurteils zu beobachten, das gerade dadurch produktiv wird, daß es bisher geltende Vorurteile korrigiert. Hier werden nicht vorgefaßte Meinungen auf Textc angewandt, sondern man versucht zu verstehen, was da steht, und besser zu verstehen, weil man das Vorurteil des andern durchschaut. Aber dies Durchschauen wird selber nur erreicht, \vcil man das, was dasteht, mit neuen Augen anblickt. Die hermeneutische Reflexion ist nicht ablös bar von hermeneutischer Praxis. Man muß sich daher auch hüten, diese Art hermeneutischer Bewegung der Forschung nach dem Muster unmittelbaren Fortschritts verstehen zu wollen. Apcl hat dic Diskussion über die hermeneutische Problemlage durch seine Heranziehung von Peirce und Royce sehr bereichert, indenl er den Praxis bezug in allem Sinnverstehen herausarbeitet, und er hat völlig recht, wenn er dabei die Idee einer unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft in Anspruch nimmt. Sicherlich ist nur eine solche geeignet, den Wahrheitsanspruch der Verständigungsbemühungen zu legitimieren. Und doch zweifle ich, ob es berechtigt ist, die Legitimation derselben mit der Idee des Fortschritts zu verknüpfen. Die Vie1faltigkcit der Interpretationsmöglichkeiten, die erprobt werden, schließt keineswegs aus, daß sich dieselben wechselseitig vers chatten. Auch ist die Tatsache, daß im Fortgang dieser Interpretationspraxis dialektische Antithesen hervortreten, keinerlei Garantie ftir die Annäherung an wahrere Synthesen. Man muß vielmehr in diesen Bereichen der geschichtlichen Wissenschaften das >Resultat, des Interpretationsgeschehens nicht so sehr in dem Fortschritt sehen, den es immer nur in Teilaspekten gibt, als in einer dem Absinkcn und Verfallen von Wissen entgegengestellten Leistung: der Wiederbelebung von Sprache und dem Wiedergewinnen von Sinn, der einem durch Überlieferung zugesprochen \\'ird. Das ist nur vom Maßstab eines absoluten Wissens her, das nicht unseres ist, ein bedrohlicher Relativismus. Eben deshalb scheint es mir auch ein Mißverständnis, wenn man die naive Applikation, die vor deill Aufkommen des historischen Bewußtseins den Gang der Tradition beherrschte, nun mit dem Applikationsilloment in allem Verstehen gleichsetzen möchte. 14 UnZ\veifdhaft ist durch den Traditionsbruch und das Aufkommen des historischen Bewußtseins die Praxis des [VgL Aristoteles. Frankfurt 1935, 4. Aufl. 1974, s. 213ff.l. [VgL meine Arbeit ,Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen(, Ges. Werke Bd. 6, S. 154ff.l. 34 fVgl. Gi..'S. Werke Bd. t, S. 344ff., 407J. 32
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Verstehen5 modifiziert worden. Es scheint mir trotzdem nach \vie vor nicht überzeugend, daß das historische Bewußtsein und seine Ausformung in den historischen Geistes\vissenschaften der Grund daftir sein soll, daß die Macht der Tradition abgebaut wird, und nicht vielmehr der Traditionsbruch selbst daftir bestimmend ist, der mit dem Beginn der Neuzeit anhob und etwa in der Französischen Revolution zu einer ersten radikalen Zuspitzung kam. Die historischen Geistes\vissenschaften scheinen nür \veit eher durch die Reaktion auf diesen Traditionsbruch auf den Plan gerufen zu sein, als diesen Traditionsbruch von sich aus bewirkt oder auch nur bejaht zu haben. Gewiß ist es richtig, daß die Geisteswissenschaften, ihrer romantischen Herkunft zum Trotz, selber ein gebrochenes Traditionsphänomen sind und in gewissem Sinne die kritische Aufklärung fortsetzen. Ich nannte das seinerzeit eine Umspiegclung der Aufklärung 3s . Aber auf der anderen Seite sind in ihnen offenkundig Antriebe romantischer Restauration wirksam. Ob lllan das begrüßt oder bekämpft, das ändert nicht das geringste daran, daß dieselben spezifische Erkenntnisleistungen zeitigen können. Man denke etwa an Raumers >Geschichte der Stauferzeit<. Das ist alles andere als bewußte Applikation. Vielmehr gehört innere Durchdringung kritischer Aufklärung, die die naive Fortgeltung von Überlieferungen kritisiert, und fortwirkende Tradition, die den geschichtlichen Horizont mitbestimmt, zum Wesen der geschichtlichen Wissenschaften, und das keineswegs nur im Heimatlande der romantischen Geistes\vissenschaften. Die Geschichte Athens im Peloponnesischen Kriege etwa, die Wertung eines Perikles oder des ,Gerbers KIeon<, sieht in der Tradition des kaiserlichen Deutschland erstaunlich anders aus als in der der amerikanischen Demokratie - so jung diese beiden Traditionen auch sind. - Das gilt nicht anders fLir die Tradition des Marxismus. Wenn ich z. B. Giegcls Fortdenken in den Kategorien des Klassenkampfes lese, so verkenne ich durchaus nicht (v.;ie er zu befürchten scheint), \,\·a5 wirkungsgeschichtliche Reflexion dabei bewußt zu machen vermöchte - nur irrt er sich, wenn er meint, daß in irgendeinem Falle eine Legitimation dadurch erbracht würde. Die hernIeneutische Reflexion ist darauf beschränkt, Erkenntnischancen offenzulegen, die ohne sie nicht wahrgenommen würden. Sie vermittelt nicht selbst ein Wahrheitskriterium. Die Rede von bewußter Applikation ist auch in anderen Bereichen mißverständlicli genug. Es bleibt mir erstaunlicli, daß im Falle des Regisseurs oder des Musikers von Apel der Aktualisierung im Sinne der bewußten Applikation das Wort geredet wird, so als ob liier keine Bindung an das wiederzubelebende Werk die gesamte Auslegung leiten müßte. In Walirheit würdigen wir doch gerade eine gelungene Inszenierungslcistung oder eine musikalische Reproduktion als eine Interpretation, weil das Werk selber in " [A. a. 0., S. 278].
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seinem \~lahren Gehalt neu zur Aussage gebracht wurde. Wenn uns umgekehrt grobe Aktualisierungstendenz und überdeutliche Anspielung auf Gegen'\vart in reproduktiven Leistungen zugemutet wird, dann empfinden wir das mit Recht als unangemessen. Umgekehrt scheint mir das Bild des Dolmetschers, der ja wirklich das gegebene Modell rur die hermeneutischen Aufgaben ist, weit unterinterpretiert, wenn man verkennt, daß der Dolmetscher nicht übersetzen darf, sondern den Part, den cr verstanden hat, in einer anderen Sprache dem anderen Partner gegenüber sprechend zu vertreten hat. Hier scheint mir jeweils ein objektivistischer Begriff von Sinn und Sinntransparenz leitend, der der Sache nicht entspricht. Die hermeneutische Erfahrung hat nicht erst seit der Wissenschaft der Neuzeit, sondern von dem Aufkommen der hermeneutischen Fragestellung selbst an eine Spannung in sich, die sich nie ausgleicht. Sie läßt sich nicht so weit unter das idealistische Schema der Selbsterkenntnis im Anderssein bringen, daß Sinn je voll erfaßt und tradiert würde. Solch idealistischer Begriff von Sinn-Verstehen beirrt meines Erachtens nicht nur Apel, sondern die meisten meiner Kritiker. Daß eine derart auf Idealismus reduzierte philosophische Hermeneutik der kritischen Ergänzung bedürfte, würde auch ich zugeben und habe das in der Kritik an den Hegel-Nachfolgern des 19. Jahrhunderts, an Droysen und Dilthey, selber zu zeigen versucht. Aber war es nicht von jeher der Antrieb der Hermeneutik, das Fremde, den unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der Klassiker, durch Auslegung zu >verstehen<, und bedeutet das nicht immer eine konstitutive Unterlegenheit dessen, der versteht, gegenüber dem, der sagt und zu verstehen gibt? Nun hat diese Urbestimmung der Hermeneutik durch den Traditionsbruch der Neuzeit und das Aufkommen eines ganz andersartigen Erkenntnisideals der Exaktheit an Profilierung gewonnen. Aber die Grundvoraussetzung der hermeneutischen AufgabensteIlung, die man nur nicht recht wahrhaben wollte und die ich \viederherzustellen versuchte, war von jeher die der Ancignung eines überlegenen Sinnes. Insofern ist es nicht etwas besonders Originelles, wenn ich in meiner Untersuchung die hermeneutische Produktivität des Zeitabstandes geltend machte 36 und grundsätzlich die Endlichkeit und Unabschließbarkeit alles Verstehens und aller wirkungsgeschichtlichen Reflexion betonte. Das ist nichts anderes als die Freilegung der wahren hermeneutischen Thematik. Ihre eigentliche Legitimation findet sie vollends in der Erfahrung der Geschichte. Hier ist es wahrlich nichts mit der Sinntransparenz. Die >Historik< muß sich stets gegen humanistische Verdünnung wehren. Die Erfahrung der Geschichte ist nicht die Erfahrung von Sinn und Plan und Vernunft, und nur unter dem verewigenden Blick der 36
[Vgl. Ges. WerkeBd. 1, S. 301ff.].
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Philosophie des absoluten Wissens konnte der Anspruch erhoben werden, die Vernunft in der Geschichte zu begreifen. So stellt die Erfahrung der Geschichte die hermeneutische Aufgabe in Wahrheit auf ihren eigentlichen Platz zurück. Sie hat die Sinnfragmente der Geschichte je- neu zu entziffern, die sich an der dunklen Kontingenz des Faktischen begrenzen und brechen und vor allem an der Dämmerung, in welcher fur jedes gegenwärtige Bewußtsein die Zukunft verschwimmt. Aueh der >Vorgriff der Vollkommenheit(37, der zur Struktur des Verstehens gehört, heißt mit Betonung )Vorgriff<, sofern die Überlegenheit dessen, was verstanden werden soll, durch keine Auslegung je ganz einhol bar ist. So ist man überrascht, wenn sich bei Apel, bei Habermas und mit einer wichtigen Modifikation bei Giegel die hermeneutische Reflexion im gleißenden Lichte einer erklärenden Wissenschaft zur vollen idealistischen Sinntransparenz erheben soll. Das nämlich liegt in der exemplarischen Rolle, die diese Autoren der Psychoanalyse zudenken. Wir kommen damit auf die Legitimität der Übertragung zurück, welche die emanzipatorische Reflexion der Psychoanalyse auf dem Sozialbereich zur Anwendung bringt. Ob Geschichte undurchschaubare Kontingenz ist, die jeden desavouiert, der sie vorauszuwissen und vorauszusagen kühn genug ist, oder ob dieses Faktum nur ein Noch-nicht darstellt, das ftir eine vernünftig gewordene Menschheit nicht mehr gelten würde, hängt davon ab, wie weit die Erkenntnisse der Psychoanalyse Geltung besitzen. Gewiß ist es kein Zufall, daß diese Wissenschaft in der Diskussion über Hermeneutik besondere Beachtung gefunden hat, und die Darstellungen ApeJs, Habermas' und Giegels vermitteln reiche Belehrung. Ob ihr anthropologischer Ertrag aber richtig formuliert wird? Wenn Apel etwa sagt, daß das Naturwesen ganz in bewußte Antriebskontrolle aufgehoben werde, so hängt dies Ideal von der Legitimität solcher Übertragung ab. Denn der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen. Habermas legt, um sie zu begründen, das breite Fundament einer metahermeneutischen Theorie der kommunikativen Kompetenz. Nachdem er eine Theorie der Entstehung der Ich-Es- und Über-Ich-Strukturen aufgrund der tiefenpsychologischen Erfahrung skizziert hat, scheint ihm der Übergang in den Sozialbereich ganz fraglos. Dort sei auf der Basis einer solchen allgemeinen» Theorie der kommunikativen Kompetenz« eine}) Theorie des Erwerbs von Grundqualifikationen des Rollenhandeins« das Gegenstück. Ich weiß nicht, ob ich Habermas recht verstehe. Der Ausdruck >kommunikative Kompetenz< ist offenbar dem der linguistischen Kompetenz Chomskys nachgebildet und meint ein ebenso fragloses Beherrschen der Leistungen des Verstehens und der Verständigung, wie dort solche des Sprechens ge" [A. a. 0., S. 299ff. und oben. S. 61 ff.j.
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Weiterent\vicklungen
meint sind. Wie dort das Ideal der Linguistik darin besteht, eine Theorie der sprachlichen Kompetenz zu entwickeln und so am Ende alle Ausfallserscheinungen und Modifikationen von Sprache konstruktiv zu erklären, so müsse sich auch der umgangssprachlichen Verständigung gegenüber ein Gleiches erreichen lassen. Wenngleich die Forschung dazu noch nicht weit genug sei, ändere das nichts an der grundsätzlichen Sachlage, daß sich mit Hilfe der Kenntnis der Bedingungen systematisch verzerrter Kommunikation ein Idealvollzug von Verständigung erreichen lasse, der den Consensus notwendig herbciftihren würde. Allein ein solcher Consensus könne ein vernünftiges Wahrheitskriterium sein. Ohne eine solche Theorie dagegen verfalle man dem >tragenden Einverständnis( eines Zwangs consensus, ohne das zu durchschauen. Die Theorie kommunikativer Kompetenz dient also zuletzt zur legitimierung des Anspruchs, verzerrte soziale Kommunikation zu durchschauen, und entspricht insofern der Leistung der Psychoanalyse im therapeutischen Gespräch. Indes, eines stimmt da nicht ganz. Wir haben es ja jetzt mit Gruppen zu tun, die jede unter sich im Einverständnis leben. Zwischen den Gruppen ist das Einverständnis zerstört und wird gesucht, also nicht etwas zwischen dem einzelnen, der da neurotisch abgespalten ist, und der Sprachgemeinschaft. Wer ist denn hier abgespalten? Welche Desymbolisationen müssen da geschehen, etwa bei dem Wort }Demokratie(? Aufgrund welcher Kompetenz? Daß dahinter eine Vorstellung von dem liegen muß, was Freiheit aller ist, versteht sich. Habermas sagt denn auch: ein zwangs freies rationales Gespräch, das solche Verzerrungen auflösen könnte, setze stets eine gewisse Antizipation des rechten Lebens voraus. Nur dann könne solches Gespräch gelingen. »Die Idee der Wahrheit, die sich am wahren Konsensus bemißt, schließt die Idee der Mündigkeit ein" (100). Mir kommt dies Wahrheitskriterium, das aus der Idee des Guten die Idee des Wahren und aus dem Begriff der ,reinen, Intelligenz das Sein ableitet, aus der Metaphysik recht bekannt vor. Der Begriff der reinen Intelligenz stammt aus der mittelalterlichen Intelligenzenlehre und ist dort im Engel verkörpert, der den entsprechenden Vorzug hat, Gott in seinem Wesen zu schauen. Es \vird mir schwer, Habermas hier kein falsches ontologisches Selbstverständnis zu unterstellen, wie es mir etv.ra auch in Apels Aufhebung des Naturwesens in Rationalität ge1cgen schien. Freilich, falsche Ontologisierung wirft Habermas gerade mir vor, z. B. weil ich zwischen Autorität und Aufklärung keinen ausschließenden Gegensatz zu sehen vermag. Das soll nach Habermas deshalb falsch sein, weil es voraussetzt, daß sich die legitimierende Anerkennung ohne das autoritäts begründende Einverständnis gewaltlos einspiele3". Diese Voraussetzung dürfe man aber nicht machen. J8
Von Bormann hat ganz recht, welln er (a. a. O. 89) auf das 17. und 18. Jahrhundert
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Wirklich nie? Macht Habermas nicht selbst diese Voraussetzung, v.renn er anerkennt, daß es unter der Leitidee eines zwangs- und herrschafts freien Gesellschaftslebens solche gewaltlose Zustimmung geben würde? Ich selber hatte freilich nicht einmal solche >idealen< Verhältnisse im Auge, sondern nur all die Fälle konkreter Erfahrung, in denen man von natürlicher Autorität spricht und von der Gefolgschaft, die sie findet. Hier immer von Zwangskommunikation zu sprechen, z. B. wo Liebe, Vorbildwahl, willige Ergebenheit Über- und Unterordnung stabilisieren, scheint mir ein dogmatisches Vorurteil in bezug auf das, was) Vernunft< unter Menschen bedeutet. So vermag ich nicht zu sehen, wie im gesellschaftlichen Bereich kommunikative Kompetenz und ihre theoretische Beherrschung die Barriere zwischen Gruppen niederlegen soll, welche sich in "\vechselseitiger Kritik den Zwangscharakter des bei dem anderen bestehenden Einverständnisses vorwerfen. Da scheint doch »die sanfte Gewalt des Herstellens« (Giege! 249) unentbehrlich, und damit die Inanspruchnahme einer ganz anderen Kompetenz, nämlich der des politischen Handelns - mit dem Ziele, Kommunikationsmöglichkeiten dort herbeizuftihren, wo sie fehlen. In diesem Punkt leuchtet mir Giegels Argumentation, die in Wahrheit weit mehr gegen mich als gegen Habermas gerichtet ist, eher ein. Zwar weiß ich absolut nicht, wovon er redet, \venn er von einer »Pflicht zur Verständigung« (soll das ein Synonym ftir Vernunft sein?) und einem »Recht der Kritik« (soll das nicht auch ein Synonym ftir Vernunft sein?) spricht. Als ob nicht eins immer das andere einschlösse. Aber darin stimme ich ihm zu, daß die Möglichkeit der kommunikativen Verständigung unter Bedingungen stelit, die nicht selber wieder durch Gespräch geschaffen werden können, sondern eine vorgängige Solidarität bilden. Ja, das scheint mir grundsätzlich ftir jedes Gespräch zu gelten. Es läßt sich überhaupt nicht erzwingen, sondern nur ermöglichen. Giege1 hat grundsätzlich recht: wer sich in ein Gespräch einläßt, hat damit schon zugestanden, daß er die Bedingungen ftir ein solches als gegeben ansieht. Umgekehrt bedeutet die Ablehnung des Gesprächs oder der Abbruch eines versuchten Gespräches mit der Wendung >mit dir ist nicht zu reden< eine Situation, in der die kommunikative Verständigung so gestört ist, daß man vom Kommunikationsversuch nichts erwarten kann. Das ist nun freilich eine Art von Störung, die man im allgemeinen nicht gerade neurotisch nennen wird. Ganz im Gegenteil ist es die alltägliche Erfahrung emotionaler Hartnäckigkeit oder Verblendung, die oft sogar eine und insbesondere auf Lessing verweist. Ich selbst habe mich vor allem auf Spinoza berufen, auch auf Descartes, und in anderem Zusammehang aufChladenius, und meine überhaupt, daß ich nirgends auf die obskurantistische Seite gehörte, die die Aufklärung >in totoablehnt( (a.a.O.115).
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beiderseitige ist und von bei den Seiten dem anderen vorgeworfen wird. Sie bedeutet also nicht eine Störung der kommunikativen Kompetenz, sondern unübenvinclliche Meinungsverschiedenheiten. Gewiß kann man zwischen solchen gegensätzlichen Überzeugungen jeweils von Dialog-Unfahigkeit sprechen. Das hat aber einen ganz anderen Hintergrund als den der Neurose. Es ist die Herrschaft von Gruppenüberzeugungen, die in den Funktionskreis der Rhetorik fallen, durch die eine dialogwidrige Situation eintreten kann, Der Vergleich mit der krankhaften Dialogunfahigkeit, die der Analytiker dem Neurotiker zuspricht und von der er ihn zu heilen versucht, fUhrt hier in die Irre, Unüberbrückbare Gegensätze zwischen gesellschaftlichen und politischen Gruppen beruhen auf dem Unterschied der Interessenlagen und der Verschiedenartigkeit der Erfahrungen, Sie stellen sich durch das Gespräch heraus, d. h. ihre Unüberbrückbarkeit steht nicht von vornherein fest, sondern ist das Resultat des Verständigungsversuchs - und als solches nie endgültig, sondern auf die Wiederaufnahme des Gesprächs in jener ideell unendlichen Interpretationsgemeinschaft bezogen, die zum Begriff der kommunikativen Kompetenz gehören dürfte. Hier von Verblendung zu sprechen, würde den Alleinbesitz der richtigen Überzeugung voraussetzen. Diesen zu behaupten, dürfte wohl eine eigene Art von Verblendung sein. Dagegen scheint mir die philosophische Hermeneutik nach wie vor im Recht, wenn sie rur den eigentlichen Sinn von Kommunikation hält, daß die Vorurteile wechselseitig auf die Probe gestellt \\'erden, und wenn sie sogar noch der kulturellen Überlieferung der .Texte< gegenüber an solcher Gegenseitigkeit festhält, Nun hat offenbar die Wendung, die ich gelegentlich gebrauchte, daß es darauf ankäme, an die Tradition Anschluß zu gewinnen, Mißverständnisse begünstigt. Darin liegt keineswegs eine Bevorzugung des Herkömmlichen, der man sich blind unterwerfen müsse. Die Wendung )Anschluß an die Tradition< meint vielmehr nur, daß Tradition nicht aufgeht in dem, was man als die eigene Herkunft weiß und dessen man sich bewußt ist, so daß Tradition nicht in einem adäquaten Geschichtsbewußtsein aufgehoben sein kann. Veränderung von Bestehendem ist nicht minder ein Form des Anschlusses an die Tradition wie die Verteidigung von Bestehendem. Tradition ist selbst nur in beständigem Anderswerden. An sie )Anschluß gewinnen( drängt sich als Formulierung einer Erfahrung auf, derzufolge unsere Pläne und Wünsche der Wirklichkeit stets vorauseilen, sozusagen ohne Anschluß an die Wirklichkeit sind. Worauf es ankommt, ist daher, zwischen den Antizipationen des Wünschbaren und den Möglichkeiten des Tunlichen, zwischen bloßem Wünschen und "virklichem Wollen zu vermitteln, d. h. die Antizipationen in den Wirklichkeits stoff einzubilden. Das geschieht wahrlich nicht ohne kritisches Unterscheiden. Ja, ich würde sagen, nur das allein sei wirkliche Kritik, was in solchem Praxis bezug
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)entscheidet<. Eine Kritik, die dem anderen oder den herrschenden gesellschaftlichen Vorurteilen ihren Zwangs charakter generell entgegenhält und auf der anderen Seite beansprucht, einen solchen Verblendungszusammen_ hang kommunikativ aufzulösen, befindet sich, wie ich mit Giegel meine, in einer schiefen Lage. Sie muß sich über fundamentale Unterschiede hinwegsetzen. Im Falle der Psychoanalyse ist im Leiden und im Heilungswunsch des Patienten eine tragende Grundlage ftir das therapeutische Handeln des Arztes gegeben, der seine Autorität einsetzt und ohne Nötigung die verdrängten Motivationen aufzuklären drängt. Dabei ist eine freiwillige Unterordnung des einen unter den anderen die tragende Basis. Im sozialen Leben dagegen ist der Widerstand des Gegners und der Widerstand gegen den Gegner eine gemeinsame Voraussetzung aller. Das scheint mir so selbstverständlich, daß ich verblüfft bin, daß meine Kritiker, so Giegel wie im Grunde schon Habermas, mir nachsagen, daß ich, auf meiner Hermeneutik bestehend, einem revolutionären Bewußtsein und Veränderungswil1en seine Legitimation bestreiten wolle. Wenn ich gegen Habermas sage, daß das Arzt-Patient-Verhältnis ftir den gesellschaftlichen Dialog nicht genügt, und ihm die Frage stelle: »Gegenüber welcher Selbstinterpretation des gesellschaftlichen Bewußtseins - und alle Sitte ist eine solche - ist das Hinterfragen und Hintergehen am Platze, etwa im revolutionären Veränderungswillen, und gegenüber welcher nicht?((, so halte ich diese Frage der von Habermas behaupteten Analogie entgegen. Ihre Beantwortung ist im Falle der Psychoanalyse durch die Autorität des wissenden Arztes gegeben. Im Bereich des Gesellschaftlichen und Politischen fehlt aber die besondere Basis der kommunikativen Analyse, in deren Behandlung sich der Kranke freiwillig, aus Krankheitseinsicht, begibt. Und deshalb scheinen mir in der Tat solche Fragen nicht hermeneutisch beantwortbar. Sie beruhen auf politisch-gesellschaftlichen Überzeugungen. Das heißt ganz und gar nicht, daß deswegen revolutionärer Veränderungswille im Unterschiede zu einer Bestätigung der Tradition keiner Legitimation fahig sei. Weder die eine noch die andere Überzeugung ist einer theoretischen Legitimation durch Hermeneutik fahig oder bedürftig. Die Theorie der Hermeneutik kann von sich aus nicht einmal darüber entscheiden, ob die Voraussetzung richtig ist oder nicht, daß die Gesellschaft durch den Klassenkampf beherrscht werde und daß keine Dialogbasis zwischen den Klassen vorhanden sei. Offenbar haben meine Kritiker den Geltungsanspruch, der in der Reflexion auf die hermeneutische Erfahrung besteht, verkannt. Sonst könnten sie nicht an der These Anstoß nehmen, daß überall, wo Verständigung möglich ist, Solidarität vorausgesetzt ist. Sie machenja dieselbe Voraussetzung. Nichts berechtigt zu der Unterstellung, als würde von mir das )tragende Einverständnis( mit der einen mehr als mit der anderen Seite, als konservative und nicht ebenso als revolutionäre Solidarität in Anspruch genommen. Es ist die Idee
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der Vernunft selbst, die auf die Idee des allgemeinen Einverständnisses nicht verzichten kann. Das ist die Solidarität, die alle eint. Nur hatte mich die Diskussion mit den Jüngeren, insbesondere auch mit Habermas, darüber belehrt, daß die intentio obliqua des Ideologiekritikers gleichwohl an meinen Akzentsetzungen )konservative Vorurteile( gewahrt. Indem ich auf diese vermutlich berechtigte Wahrnehmung einging, führte ich aus, welchen hermeneutischen Sinn das konservative Vorurteil hier haben könne, nämlich: bewußt zu machen, \vie viele selbstverständliche Voraussetzungen immer in Anspruch genommen werden, wo Gespräch ist. Giegel zitiert zwar, was ich über meinen Konservativismus zugestehe, aber er bricht das Zitat dort ab, wo seine Aussage beginnt. Diese aber ist, daß bestimmte Erkenntnisse so möglich geworden seien. Nur auf die Erkenntnischance kam es mir an. Das ist aber auch das einzige, worüber man diskutieren kann: ob das \virklich wahr ist, was ich unter diesen Voraussetzungen erkannt zu haben meine. Da scheint mir nun Giegel von seinen entgegengesetzten Vorurteilen aus genau zum g1eichen Resultat zu gelangen und darin mit mir ganz übereinzustimmen, daß Habermas der Reflexion eine falsche Macht zuschreibt. Vermutlich sind es die gleichen Erfahrungen wie die, auf die ich mich berief, wenn auch in entgegengesetzter Wertung derselben, die zu seiner entsprechenden Kritik an Habermas geruhrt haben, einer Kritik, die er geradezu am Bernsteinschen Revisionismus konkretisiert. Daher ist es auch ganz konsequent, wenn Giegel, so wie er die Hermeneutik versteht, gegen sie geltend macht: »Aus diesem Traum (der Solidarität, die alle eint) kann sie denn wohl kaum durch Gegenkritik, sondern nur durch die Entfaltung des revolutionären Kampfes selber gerissen werden. «( Nicht ganz so konsequent scheint mir, daß dieser Satz einen Diskussionsbeitrag beschließt .. Kehren wir zu dem zurück, worüber sich diskutieren läßt - und das sind die theoretischen Grundlagen dessen, was hermeneutische Praxis ist. In einem Punkt stimme ich da mit meinen Kritikern überein und habe ihnen fur die Heraushebung dieses Punktes, die sie mir abnötigen, zu danken: Wie die Ideologiekritik die .Kunstlehre< des VerstehetlS aufSelbstreflexion hin überschreitet, scheint mir auch die hermeneutische Reflexion ein integrales Moment des Verstehens selber, ja dies so sehr, daß mir die Trennung der Reflexion von der Praxis eine dogmatische Beirnmg einzuschließen scheint, die auch noch den Begriff der ,emanzipatorischen Reflexiow trifft. Das ist auch der Grund, warum ich den Stufen gang der Gestalten, den in Hegels Phänomenologie der werdende Geist durchläuft, durch den Begriff der )Ernanzipation( schlecht beschrieben finde. Gewiß ist die Erfahrung der Dialektik bei Hegel als Veränderung durch Bewußtrnachung wirksam. Mir scheint aber, daß Bubner der Sache nach an der phänomenologischen Dialektik Hegels etwas mit Recht hervorhebt, nämlich daß eine Gesralt des
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Geistes. die aus der anderen hervorgeht, in Wahrheit nicht aus ihr hervorgeht, sondern eine neue Unmittelbarkeit entfaltee". Der Stufen gang der Gestalten des Geistes ist gleichsam von ihrer Vollendung her entworfen und nicht von ihrem Anfang her ableitbar. Das war es, \vas mich zu der Formulierung veranlaßte, es komme darauf an, die >Phänomenologie des Geistes( rückwärts zu lesen, so rückwärts, wie sie in Wahrheit gedacht ist: vom Subjekt auf die in ihm ausgebreitete und sein Bewußtsein übertreffende Substanz hin. Diese Umkehrtelldenz schließt eine grundsätzliche Kritik an der Idee des absoluten Wissens ein. Die absolute Transparenz des Wissens kommt einer idealistischen Verschleierung der schlechten Unendlichkeit gleich, in der das endliche Wesen Mensch seine Erfahrungen macht. Ich drücke mich damit in der Sprache Hegels aus. Das ist Gegenstand kritischer Bemerkungen ge\vorden, insbesondere seitens von Bormanns, der sowohl meinen Gebrauch von Begriffen Kierkegaards wie des Nikolaus von Kues wie insbesondere Hegels deshalb illegitim findet, \veil ich die begriffssprachlichen Mittel, deren ich mich da bediene, ihrem systematischen Zusammenhang entfremde 40 • Diese Kritik ist nicht ohne Recht und insbesondere im Falle Hegels besonders naheliegend, weil meine kritische Auseinandersetzung mit Hegel in )Wahrheit und Methode< sicherlich recht unbefriedigend ist4 1 • Gleichwohl möchte ich den deskriptiven Gnvinn eines Denkens mit den Klassikern auch in diesem Falle verteidigen. Indem ich Hegels Beschreibung des .Begriffs der dialektischen Erfahrung des Bewußtseins( auf den breitesten Sinn von Erfahrung hin \vende, tritt meiner Meinung nach mein kritischer Punkt gegenüber Hege! sachgemäß heraus. Vollendete Erfahrung ist nicht Vollendung des Wissens, sondern vollendete Offenheit fur neue Erfahrung. Das ist die Wahrheit, welche die hermeneutische Reflexion gegen den Begriff des absoluten Wissens geltend macht. Darin ist sie nicht zweideutig. Nicht anders aber steht es mit der Rede von Emanzipation. Der Begriff der Reflexion, der in diesem Zusammenhang gebraucht wird, scheint mir nicht undogmatisch. Er druckt nicht die Bewußtmachung aus, die der Praxis eigen ist, sondern beruht, wie Habermas es einmal formuliert, auf einem ,kontrafaktischen Einverständnis<. Darin steckt der Anspruch VOfherzuwissen - vor der praktischen Konfrontation -, womit man nicht einverstanden ist. Es ist aber der Sinn der hermeneutischen Praxis, von einem solchen kontrafaktischen Einverständnis nicht auszugehen, sondern ein solches möglich zu machen und es herbeizuftihren, was nichts anderes A.a.O. S. 231ff. A.a.O. S. 99ff. 41 Inzwischen bitte ich die Arbeit: !Die Idee der Hegelschen Logik< (in >Hegcls Dialektik(, Tübingen 1971, S. 49-69) zu beachten. [Inzwischen in der 2. AufI. , Tübingen 1980, S. 65-86; Ges. Werke Bd. 3]. 39
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heißt als: durch konkrete Kritik zu überzeugen. Der dogmatische Charakter des Reflexionsbegriffs, den Habermas zugrunde legt, tritt etwa an folgendem Beispiel heraus: In berechtigter Kritik an dem Expertenaberglauben der Gesellschaft fordert er, ))sich von der Reflexionsstufe einer technologisch beschränkten Rationalität zu lösen«42. Darin ist eine StufenvorsteHung impliziert, die mir falsch scheint. Auch angesichts der »neuen Funktion der Wissenschaft« in der Gesellschaft gilt, daß die Rationalität des Machenkönnens - was Aristoteles teehne nannte- eine andere, nicht: eine niedere Art von Reflekticrthcit ist als die im vernünftigen Consensus der Bürger gelegene. Auf deren Erhellung aber ist die hermeneutische Reflexion gerichtet. Sie ist wahrlich nicht ohne ein ständiges gegenseitiges Sichausspielen kritischer Argumente zu erzielen, aber solcher, in denen sich die konkreten Überzeugungen der Gesprächspartner reflektieren. Das Ideal der Aufhebung einer naturhaften Bestimmtheit in rationalbewußte Motivation stellt m. E. eine dogmatische Übersteigerung dar, die der cottdition humaine unangemessen ist. Selbst auf dem Gebiet der Individualpsychologie und Tiefenpsychologie ist das so. Durch den Gegensatz von Krankheit und Gesundheit, Angewiesenheit auf ärztliche Hilfe und Wiederherstellung durch Heilung ist schon gesetzt, daß die Analyse eine begrenzte Reichweite besitzt - wie ja auch der Analyst selber, was die Lehre von der ~Gegcnübertragung< durchaus anerkennt, nie zu Ende analysiert ist. Ich fUhle mich nicht kompetent, die anthropologisch-psychologischen Konsequenzen aus dieser Grunclsituation der Tiefenpsychologie zu ziehen, und verweise nur auf den Begriff des Gleichgewichts und die Seinsform des Spielens um die Gleichgewichtslage, die ich in anderem Zusammenhang zur ontologischen Charakteristik von Gesundheit gebraucht habe". Andererseits, wenn Habermas von >Tiefenhermeneutik< spricht, so muß ich meine eigenen Thesen insofern dazurechnen, als ich die Reduktion der Hermeneutik auf die ,kulturelle Überlieferung< und das Ideal der Sinntransparenz, das in diesem Bereich gelten soll, idealistisch verdünnt finde. Daß Sinnverstehen weder auf die mens auctoris noch die mens actoris zu begrenzen ist, ist mein eigenster Punkt. Allerdings heißt das nicht, daß Verstehen in der Aufklärung unbewußter Motive gipfelt, sondern vielmehr, daß Verstehen, über die beschränkten Horizonte des einzelnen hinaus, die Sinnlinien überallhin auszuziehen hat, damit die geschichtliche Überlieferung sprechend wird. Die hermeneutische Sinndimension ist, wie Apel richtig unterstrichen hat, auf das unendliche Gespräch einer idealen Interpretationsgemeinschaft bezogen. Ich habe in' Wahrheit und Methode<" die UndurchfUhrbarkeit von Habermas, Theorie und Praxis, S. 232. Insbesondere in: Apologie der Heilkunst. Kleine Schriften I, S. 211 ff. [Gcs. Werke Bd.4]. # [Ge,. Werke Bd. 1, S. 376ft]. 42
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Collingwoods Re-enactment-Theorie nachzuweisen versucht und muß entsprechend in tiefenpsychologischen Deutungen der literarischen Werke von Autoren oder des geschichtlichen Handelns von Aktoren oft eine die Schleusen aller Komik öffnende Verwechslung von Sprachspielen erblicken. Es unterscheidet die hermeneutische Praxis und ihre Disziphnierung von der Erlernbarkeit einer bloßen Technik, ob dieselbe nun Sozialtechnik oder kritische Methode heißen mag, daß in ihr stets ein wirkungsgeschichtlicher Faktor das Bewußtsein des Verstehenden mitdeterminiert. Darin hegt aber auch die Umkehrung, daß das Verstandene immer eine gewisse Überzeugungskraft entwickelt, die an der Bildung neuer Überzeugungen mitwirkt. Ich leugne gar nicht, daß die Abstraktion von den eigenen Sachmeinungen eine berechtigte Anstrengung des Verstehens darstellt. Wet verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen. Und doch meine ich, daß uns die hermeneutische Erfahrung lehrt: Die Kraft dieser Abstraktion ist immer nur eine begrenzte. Das, was man versteht, spricht stets auch fur sich selbst. Just hierauf beruht der Reichtum des hermeneutischen Universums. Indem es sich in seiner ganzen Spielweite ins Spiel bringt, zwingt es auch den Verstehenden, seine Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Das alles sind Reflexionsgewinne, die aus Praxis und allein aus Praxis zuwachsen. Man möge es mir altem Philologen zugute halten, wenn ich das alles am >Sein zum Texte< exemplifiziert habe. In Wahrheit ist die hermeneutische Erfahrung ganz und gar in das allgemeine Wesen der menschlichen Praxis verwoben, in die das Verstehen von Geschriebenem zwar wesentlich, aber doch nur sekundärerweise eingeschlossen ist. Sie reicht so weit, wie die Gesprächsbereitschaft vernünftiger Wesen überhaupt reicht. Ich vermisse daher die Anerkennung der Tatsache, daß dies der Bereich ist, den Hermeneutik mit Rhetorik teilt: der Bereich der überzeugenden Argumente (und nicht der logisch zwingenden). Mit der Verteidigung der Rhetorik hat man es in der modernen wissenschaftlichen Kultur schwer. (Selbst Giegel, wenn er Vico zur Illustration heranzieht, mißversteht den Vernunftcharakter, der in der Rhetorik liegt, wenn er offenbar meint, etwas so Ruchloses wie das in utramque partem disputare sei nur üblichen Demagogen zuzutrauen und wohl gar Carneades für einen solchen hält.) Wenn die Redekunst auch, wie es seit alters klar ist, die Affekte anspricht, so fallt sie damit doch keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus, und Vico macht mit Recht einen eigenen Wert derselben geltend: die copia, den Reichtum an Gesichtspunkten. Auf der anderen Seite scheint mir eine Behauptung wie die von Habermas, der zufolge die Rhetorik einen Zwangs charakter besitze, den man zugunsten des zwangs freien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse, von erschreckender Irrealität. Wenn Rhetorik ein Zwangsmoment enthält, so steht jedenfalls fest, daß soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ohne dieses Zwangsmoment gar nicht
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Weiten::ntwicklungen
denkbar ist. Ich finde es bemerkenswert, daß die Wissenschafts kultur unserer Epoche die Bedeutung der Rhetorik nicht etwa gemindert, sondern supplementär gesteigert hat, wie ein jeder Blick auf die Massenmedien (oder auch aufHabermas' treffsichere Analyse der ,öffentlichen Meinung<) lelirt. Der Begriff der Manipulation ist in diesem Zusammenhang recht zweideutig. Jede emotionale Beeinflussung durch Rede ist in gewissem Sinne eine solche. Und doch ist das keine bloße Sozialteclinik, was als Rhetorik cin integrales Moment des sozialen Lebens von jeher ist. Schon AristoteIes nennt die Rhetorik nicht eine techne, sondern eine dynamis 4 \ so sehr gehört sie zum zoon [oRon echon. Selbst die technisierten Formen der Meinungsbildung, die unsere industrielle Gesellschaft entwickelt hat, enthalten immer an irgendeinem Punkte ein Moment der Zustimmung, sei es seitens des Konsumenten, der seine Zustimmung auch vorenthalten kann, sei es, und das ist das Entscheidende, in der Weise, daß unsere Massenmedien nicht einfach der verlängerte Arm eines einheitlichen politischen Willens sind, sondern Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, die ihrerseits die politischen Vorgänge in der Gesellschaft teils reflektieren, teils determinieren. Eine Theorie der Tiefenhermeneutik dagegen, die eine sozialkritische emanzipatorische Reflexion rechtfertigen soll oder gar von einer allgemeinen Theorie natürlicher Sprache erwartet, daß sie gestatten würde, "das Prinzip vernünftiger Rede als das not\vendige Regulativ jeder wirklichen Rede, und sei sie noch so entstel1t, abzuleiten«, impliziert - insbesondere angesichts der Organisation des modernen Sozialstaates und der Formen der Meinungsbildung in ihm - wider ihren Willen die Rolle des Sozialingenieurs, der herstellt, ohne freizustellen. Das \vürde ihn als den Inhaber der Publizitätsmittcl und der von ihm prätendierten Wahrheit mit der Ge"\valt eines Meinungsmonopols ausstatten. Das ist doch wahrlich keine fiktive Annahnle. Rhetorik darf nicht \vegdisputiert werden, als ob es ihrer nicht bedürfte oder von ihr nichts abhinge. Nun sind gewiß Rhetorik wie Hermeneutik als Vollzugsformen des Lebens nicht unabhängig von dem, was Habermas die Antizipation des rechten Lebens nennt. Eine solche liegt aller sozialen Partnerschaft und ihren Verständigungsbemühungen zugrunde. Aber auch hierfur gilt das gleiche: Dasselbe Ideal der Vernunft, das jeden Überzeugungsversuch leiten muß, von wessen Seite auch immer er ausgehe, verbietet zugleich, daß einer fur sich selber die rechte Einsicht in des anderen Verblendung in Anspruch nimmt. Das Ideal eines Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation ist daher ebenso verbindlich wie unbestimmt. Es sind sehr verschiedene Lebensziele, die sich in diesen formalen Rahmen einspannen lassen. Auch die Antizipa-
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tRhctorikA 2, 1355bl.
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tion des rechten Lebens, die in der Tat aller praktischen Vernunft wesentlich ist, muß sich konkretisieren, d. h. sie muß den schneidenden Gegensatz bloßer Wünschbarkeiten und echter Ziele tätigen Wol1ens in ihr Bewußtsein aufnehmen. Worauf es nlir dabei ankommt, läßt sich, meine ich, als ein altes Problem erkennen, das schon Aristoteles in seiner Kritik an der allgemeinen Idee des Guten bei Plato im Auge hat. 46 Das menschliche Gute ist etwas, \vas in der menschlichen Praxis begegnet, und es ist nicht ohne die konkrete Situation bestimmbar, in der etwas einem anderen vorgezogen wird. Das allein, und nicht ein kontrafaktisches Einverständnis, ist die kritische Erfahrung des Guten. Es muß bis in die Konkretion der Situation durchgearbeitet sein. Als allgemeine Idee ist eine solche Idee des rechten Lebens >leer<47. Darin liegt die schwerwiegende Tatsache, daß das Wissen der praktischen Vernunft kein Wissen ist, das sich gegenüber dem Unwissenden seiner Überlegenheit bewußt ist. Vielmehr begegnet hier in einem jeden der Anspruch, das Rechte für das Ganze zu wissen. Für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen bedeutet das aber, andere überzeugen zu müssen - ge\viß nicht in dem Sinne, daß nun Politik und Gestaltung des sozialen Lebens nichts als eine bloße Gesprächsgemeinschaft wäre, so daß man sich an das zwangsfreie Gespräch unter Ausschaltung allen Herrschaftsdrucks als das wahre Heilmittel verwiesen sähe. Politik verlangt von der Vernunft, daß sie Interessen zu Willensbildungcn führt, und alle sozialen und politischen Willcnsbekundungen sind vom Aufbau gemeinsamer Überzeugungen durch Rhetorik abhängig. Das schließt ein, und ich meine, das gehört zum Begriff der Vernunft, daß man stets mit der Möglichkeit rechnen muß, daß die Gegenüberzeugung, ob das nun im individuellen oder im sozialen Bereich statthat, recht haben könnte. Mich hat der Weg der hermeneutischen Erfahrung, die, wie ich gern zugebe, spezifische Inhalte der abendländischen Bildungstradition in sich verarbeitet hat, zu der Inanspruchnahme eines Begriffs gefUhrt, der offenkundig von weitester Anv.rendung ist. Ich meine den Begriff des Spiels. Wir kennen ihn nicht nur aus den modernen Spieltheorien der Ökonomie. Er reflektiert vielmehr, wie mir scheint, die Pluralität, die mit der Vernunftausübung des Menschen verknüpft ist, ebensosehr vI;ie die Pluralität, die einander entgegenstehende Kräfte zur Einheit eines Ganzen zusammenschließt. Das Spiel der Kräfte ergänzt sich durch das Spiel der Überzeugungen, Argumentationen und Erfahrungen. Das Schema des Dialogs behält in rechter Verwendung seine Fruchtbarkeit: Im Austausch der Kräfte wie im Sichmessen der Ansichten baut sich eine Gemeinsamkeit auf, die den einzelnen und die Gruppe, der er zugehört, übertrifft. 46 [Vgl. inzwischen meine Hcidelberger Akademie-Abhandlung lDie Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<. Heidelberg 1978; Ges. Werke Bd. 7]. 47 Arist. Eth. Nie. 1': 4, 1096 b 20: Jiriwwv IO döo(.
20. Rhetorik und Hermeneutik 1976
Man kann im Rahmen der Vorträge der Jungius-Gesellschaft kaum ein Thema wählen, das stärker den Ton eines Gegenthemas trägt als das Thema Rhetorik und Hermeneutik. Denn was Jungius auszeichnet und nicht nur in den Augen eines Lcibniz zu einem echten Partner der großen Bahnbrecher der neuen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts macht, ist gerade seine entschlossene Abkehr von der dialektischen und hermeneutischen Verfahrensweise und seine Zuwendung zur Empirie und zu einer (von sklavischer Aristoteles-Vergottung al1erdings gereinigten) Beweis-Logik. Indessen war er nicht nur selber in der humanistischen Lernkultur, die auf Dialektik und Rhetorik gegründet war, aufgewachsen, er gestand ihr auch später noch vorbereitenden Wert zu und sah insbesondere für die Kontroverstheologie die Stärkung der »dialektischen und hermeneutischen Fähigkeit« als wichtig an (BriefanJac Lagus von 1638). Das steht freilich in einem Brief und ist mehr pädagogisch-diplomatisch gemeint als eine wirkliche Bewertung, sofern Jungius seinen früheren Schüler in Wahrheit rür das Interesse an der Methodik und Logik der Wissenschaft gewinnen will. Aber auch dann noch weist solche flexible Haltung auf die allgemeine Präsenz der rhetorischen Bildung. die fur einen Mann der Wissenschaft damals selbstverständlich "var. Von diesem Hintergrund aus läßt sich das eigentümliche Verdienst von Männern wie Jungius, den Pionieren einer neuen Wissenschaftsgesinnung, überhaupt erst würdigen. Der Hintergrund der )Rhetorik< verdient jedoch ein eigenes thematisches Interesse, "venn man das erkenntnistheoretische und wissenschaftliche Schicksal der Humaniora - bis zu ihrer rnethodologischen Konstitution in Gestalt der romantischen Geisteswissenschafen - verstehen will. Es ist weit weniger die Rolle, die die hermeneutische Theorie in diesem Zusammenhang spielt- sie ist mehr oder minder sekundär-, als die antike, mittc1alterliche und hUlnanistische Tradition der Rhetorik, auf die es dabei ankomnlt. Als ein Teil des Trivium ftihrte dieselbe ein Leben von fast unmerklicher, weil alles durchdringender Selbstverständlichkeit. Das aber bedeutet. daß sich im unauWilligen Wandel des Alten das Neue der geschic;htlichen Wissenschaften langsam anbahnte. Die Geschichte der hermeneutischen Theo-
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rie, wie sie sich in der Abwehr des gegen reformatorischen, tridentinischen Angriffs auf das Luthertum ausbildete, von Luther über Melanchthon und Flacius, durch den beginnenden Rationalismus und den sich ihm entgegenstellenden Pietismus bis zur Entstehung der historischen Weltanschauung im Zeitalter der Romantik ftihrte, hat sich nicht unter erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten, sondern unter der Dringlichkeit der theologischen Kontroversen entfaltet, die mit der Reformation einsetzten. Es war freilicli die leitende Fragestellung nach der Vorgeschichte der modernen historischen Geisteswissenschaften, unter der diese Geschichte von Wilhe1m Dilthey undJoaehim Wach geschrieben worden ist. Nun ist es eine hermeneutische Wahrheit, die mit dem Begriff des Vorverständnisses verknüpft ist, die hier ins Spiel kommt. Auch die Erforschung der Geschichte der Hermeneutik steht unter dem allgemeinen hermeneutischen Gesetz des Vorverständnisses. Das sei einleitend an drei Beispielen gezeigt. Das este ist eben das, das Wilhclm Diltheys Studien zur Geschichte der Hermeneutik zugrunde liegt, jener Prcisschrift der Berliner Akademie der Wissenschaften, die Dilthey als junger Gelehrter geschrieben hat und von der vor der endlich imJahre 1966 erfolgten Veröffentlichung, die wir Martin Redekers Redaktion des unvollendeten zweiten Bandes von Diltheys >Leben Schlciermachers( verdanken, nur geringe Teile sowie die Kurzfassung von 1900 bekannt waren 48 . Dilthey gibt dort eine meisterhafte, mit zahlreichen Belegstellen ausgestattete Darstellung von Flacius. Er prüft und würdigt Flacius' hermeneutische Theorie, indem er den Maßstab des seiner selbst bewußt ge\vordenen historischen Sinnes und der wissenschaftlichen, historisch-kritischen Methode anlegt. An diesem Maßstab gemessen mischt sich in Flacius Werk geniale Antizipation des Richtigen mit unbegreiflichen Rückfällen in dogmatische Enge und leeren Formalismus. In der Tat, wenn sich bei der Interpretation der Heiligen Schrift kein anderes Problem stellte als das, was die historische Theologie des liberalen Zeitalters beschäftigte, dem Dilthey angehört, wäre damit das letzte Wort gesprochen. Die löbliche Absicht, jeden Text aus seinem eigenen Zusammenhang zu verstehen und keinem dogmatischen Zwang zu unterwerfen, führt in der An\vendung auf das Neue Testament am Ende zu der Auflösung des Kanon, wenn man mit Schleiermacher die }psychologische( Interpretation in den Vordergrund stellt. Jeder Schriftsteller des Neuen Testaments steht unter diesem hermeneutischen Gesichtspunkt für sich, und das führt zur Unterminierung einer auf das Schriftprinzip gestützten protestantischen Dogmatik. Das ist eine Konsequenz, die Dilthey implicite gutheißt. Sie liegt seiner Kritik an Flacius zugrunde, wenn er den Mangel seiner Exegese in der unhistorischen und 48
Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers II, S. 595fT.
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Weitcrentv,ricklungen
abstrakt logischen Fassung des Prinzips des Schriftganzen oder des Kanon sieht. Ähnlich zeigt sich die Spannung von Dogmatik und Exegese auch an anderen Stellen der Diltheyschen Darstellung und vollends in der Kritik an Franz und dessen Betonung des Vorrangs des Kontextes des Schriftganzen gegenüber den Einzeltexten. Inzwischen sind \-vir durch die Kritik an der historischen Theologie, die im letzten halben Jahrhundert geführt v.rorden ist und die in der Herausarbeitung des Begriffs des >Kerygma I gipfelt, ruf die hermeneutische Legitimität des Kanon und damit ruf die hermeneutische Legitimität des dogmatischen Interesses bei Flacius cmpfanglichcr gc\vorden. Ein anderes Beispiel der Wirksamkeit von Vorverständnis in der Erforschung der Geschichte der Hermeneutik ist die von L. Gc1dsetzer eingefUhrte Unterscheidung von dogmatischer und zetetischer Hermeneutik4~. Mit Hilfe dieser Unterscheidung einer dogmatisch gebundenen, durch Institutionen und ihre Autorität festgelegten Auslegung, die überal1 auf die konsequente Verteidigung der dogmatischen Normen zielt, von einer undogmatisehen, offenen, suchenden, unter Unlständen sogar bei der Aufgabe der Auslegung zu einem >non liquet( fUhrenden Auslegung von Texten, nimmt die Geschichte der Hermeneutik eine Gestalt an, die das von der modernen Wissenschaftstheorie geprägte Vorverständnis verrät. In dieser Perspektive tritt die neuere Hermeneutik, sofern sie theologisch-dogInatische Interessen stützt, in bedenkliche Nähe zu einer juristischen Henneneutik, die sich ganz dogmatisch als Durehsetzung der dureh die Gesetze festgelegten Rechtsordnung versteht. Aber es ist gerade die Frage, ob nicht die juristische Hermeneutik selber verkannt "vird, wenn man in der Bemühung um die Rechtsfindung das zetetische Element bei der Gesetzesauslegung ignoriert und in der bloßen Subsumtion des Falles unter das allgemeine Gesetz, das als solches gegeben ist, das Wesen der juristischen Hermeneutik sicht. Hier dürfte die neuere Einsicht in das dialektische Verhältnis von Gesetz und Fall, ruf die Hegel die entscheidenden Denkhilfen bietet, unser Vorverständnis der juristischen Hermeneutik gewandelt haben. Die Rolle der Judikatur hat ja von jeher das Subsumtionsmodell eingeschränkt. Sie dient in Wahrheit der rechten Auslegung des Gesetzes (und nicht nur seiner richtigen Anwendung). Ähnliches gilt nun erst recht rur die von allen praktischen Aufgaben entlastete Auslegung der Bibel oder mutatis mutandis der Klassiker. Wie dort die >Analogie des Glaubens< rur die Bibelauslegung keine feste dogmatische Vorgegebenheit ist, so ist auch die Sprache, die ein klassischer Text zu dem jeweiligen Leser fuhrt, nicht angemessen begreifbar, wenn man sich dabei an dem wissenschaftstheoretischen Begriff der Objektivität orientiert und den 49 Vgl. die äußerst lesenswerten Einleitungen Geldsetzers zu seinen hermeneutischen Neudrucken von Tbibaut und Flacius.
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Vorbildcharakter eines solchen Textes für eine dogmatische Einengung des Verständnisses hält. Die Unterscheidung von dogmatischer und zetetischer Hermeneutik scheint mir selber eine dogmatische Zu sein und sollte der hermeneutischen Auflösung verfallen. Ein dritter interessanter Typus des Vorverständnisses, durch den die Geschichte der Hermeneutik in eillem besonderen Lichte erscheint, ist kürzlich von Hasso Jaeger in einem hochgelehrten Beitrag Zur Frühgeschichte der Hermeneutik entwickelt worden 50. Jaeger stellt Dannhauer in den Mittelpunkt, bei dem sich zuerst das Wort )Hermeneutik< und die Idee einer Erweiterung der aristotelischen Logik durch die Logik der Auslegung findet. Er sicht in ihm einen letzten Zeugen der humanistischen res publica litteraria, bevor der Rationalismus dieselbe zum Erstarren brachte und der Irrationalismus und moderne Subjektivismus von Schleiermacher über Dilthey zu Husserl und Heidegger (und noeh Schlimmeren) seine giftigen Blüten trieb. Erstaunlicherweise berührt der Verfasser weder den Zusammenhang der humanistischen Be"\vegung Inie dem Schriftpinzip der Reformation noch die bestimmende Rolle, die die Rhetorik für die gesamte Auslcgungsproblematik spielt. Nun ist es kein Zweifel, und das war Dilthey auch wohl bewußt, daß das reformatorische Schriftprinzip selber, ebensowohl wie seine theoretische Verteidigung, einer allgemeinen humanistischen Wendung entsprach, die von dem scholastischen Lehrstil und seiner Berufung auf die kirchlichen Autoritäten wegführte und das Lesen der originalen Texte selber verlangte. Es gehört somit in den größeren hUllunistischen Zusammenhang der Wiederentdeckung der Klassiker, die freilich insbesondere das klassische Latein eines Cicero meinte. Das aber war nicht nur eine theoretische Entdeckung, sondern stand zugleich unter dem Gesetz der bnitatio, der Erneuerung der klassischen Redekunst und Stilkunst, und so ist die Rhetorik allgegenwärtig. Allerdings war es eine seltsam deklamatorische Wiedergeburt. Wie sollte die klassische Redekunst ohne ihren klassischen Raum, die Polis, bzw. die res puhlica, wiederervleckt werden? Die Rhetorik hatte seit dem Ende der römischen Republik ihre politische Zentralstellung verloren und bildete im Mittelalter ein Element der von der Kirche gepflegten Sehulkultur. Sie konnte eine Erneuerung, wie sie der Humanismus anstrebte, nicht erfahren, ohne einen noch viel drastischeren Funktionswandel zu durchlaufen. Die Wiederentdeckung des klassischen Altertums kam mit zwei folgenschweren Dingen zusammen, der Erfindung der Buchdruckerkunst und, im Gefolge der Reformation, der gewaltigen Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war. Damit setzte ein Prozeß ein, der am Ende und überjahrhundertelange Vermittlung 50
Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35-84
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Weiterent\vicklungcn
hinv.'cg nicht nur zur Beseitigung des Analphabetentums ftihrte, sondern ineins damit zu einer Kultur des stillen Lcsens, die das Gesprochene und sogar das laut gelesene Wort und die wirklich gesprochene Rede auf den nveiten Platz verwies - ein ungeheurer Vorgang der Verinnerlichung, der uns erst jetzt so recht bnvußt wird, seit die Massenmedien einer neuen Mündlichkeit die Bahn geöffnet haben. So ist die humanistische Neubelebung der Rhetorik, die sich mehr auf Cieero und auf Quintilian als auf AristoteIes berief, sehr bald von ihren Ursprüngen weggeftihrt worden und in neue Kraftfelder eingetreten, die ihre Figur und ihre Wirkung verwandelten. Ihre theoretische Gestalt ließ sich zwar als eine Logik der Wahrscheinlichkeit begreifen und war mit der Dialektik zu einer unzerreißbaren Einheit zusammengeschlossen. Als solche sollte sie die Befreiung von der Schule des logischen Formalismus und einer auf die Autoritäten gestützten theologischen Dogmatik bringen. Indessen steht die Logik der Wahrscheinlichkeit viel zu sehr unter dem Maßstab der Logik, als daß sie auf die Dauer den Vorrang der Logik der Notwendigkeit, wie sie die aristotelische Analytik bot, geHihrden konnte. So wiederholte sich in der Epoche der Renaissance eine ähnliche Auseinandersetzung, wie sie im klassischen Altertum zwischen Rhetorik und Philosophie gefuhrt worden war. Doch war esjetzt nicht so sehr die Philosophie als vielmehr die moderne Wissenschaft und die ihr entsprechende Logik von Urteil, Schluß und Beweis, die Recht und Geltung der Rhetorik bestritt und auf die Dauer siegreich blieb. Für das Übergewicht der neuen Wissenschaft ist das Plädoyer ein sprechendes Zeugnis, das Giambattista Vico am Anfang des 18. Jahrhunderts selbst in dem traditions stolzen Neapel für die Unentbehrlichkeit der Rhetorik halten mußte51 • Gleichwohl ist die Sache, die Vico mit seinen Argumenten verteidigte, die Bildungsfunktion der Rhetorik, immer lebendig gewesen und ist bis heute lebendig geblieben - freilich nicht so sehr im wirklichen Gebrauch der Redekunst und im die Redekunst schätzenden Kunstverstand, als eben in der Um wendung der rhetorischen Tradition auf das Lesen klassischer Texte. Damit kommt, auch "venn es sich wie eine bloße Anwendung der Lehren der alten Redekunst gibt, am Ende etwas Neues auf, eben die neue Hermeneutik, die über die Auslegung von Texten Rechenschaft gibt. Nun sind in einem Punkte Rhetorik und Hermeneutik zutiefst verwandt: Redenkönnen wie Verstehenkönnen sind natürliche menschliche Fähigkeiten, die auch ohne bewußte Anwendung von Kunstregeln zu voller Ausbildung zu gelangen vermögen, wenn natürliche Begabung und die rechte Pflege und Ausübung derselben zusammenkommen. 51
G. Vico, De ratione studiorum rVgl. Ges. Werke Bd. 1, S.24ff.J
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So bedeutete es im Grunde eine thematische Einengung, wenn die Tradition der klassischen Rhetorik nur von der bewußten Kunstübung redete, die in der Stilkunst geschriebener Reden vorliegt und die Redekunst in die gerichtliche, politische und epideiktische Gattung differenzierte. Es ist übrigens höchst charakteristisch, daß der Praeceptor germaniae, Melanchthon, hier das Renos didaskalikon, den Lehrvortrag, anftigte52 • Noch charakteristischer aber ist, daß Melanchthon den eigentlichen Nutzen der Rhetorik, der klassischen ars bene dicendi, geradezu darin sah, daß die jungen Leute die ars bette legendi. das heißt die Fähigkeit, Reden, längere Disputationen und vor allem Bücher und Texte aufzufassen und zu beurteilen, nicht entbehren könnten 53 • Das klingt bei ihm zwar aufs erste so, als handelte es sich dabei um eine bloße ergänzende Motivation ftir die Er1crnung und Ausbildung der Beredsamkeit. Aber im Laufe der Melanehthonsehcn Darlegungen schiebt sich mehr und mehr das Lesen als solches und die Übermittlung und Aneignung der in den Texten zugänglichen religiösen Wahrheiten vor das humanistische Ideal der Imitation. So übten die Rhetorikvorlesungen Melanchthons eine be.stimmende Wirkung auf die Gestaltung des neuen protestantischen Schulwesens aus. Damit verlagert sich die Aufgabe von der Rhetorik weg auf die Hermeneutik, ohne daß ein adäquates Bewußtsein dieser Verschiebung bestand und erst recht, bevor der neue Name Hermeneutik gefunden war. Zugleich bleibt aber das große Erbe der Rhetorik auch ftir das neue Geschäft der Interpretation von Texten in entscheidenden Punkten wirksam. 50' wie eine wahre Rhetorik ftir den Schüler Platos von dem Wissen um die Wahrheit der Sachen54 (rerum cognitio) nicht abgetrennt werden kann, ohne in absolute Nichtigkeit zu versinken, ist auch ftir die Interpretation von Texten die selbstverständliche Voraussetzung, daß die auszulegenden Texte die Wahrheit über die Sachen enthalten. Das dürfte schon Hir die älteste Erneuerung der Rhetorik im humanistischen Zeitalter, die ja ganz unter dem Ideal der Imitatio stand, eine fraglose Selbsverständlichkeit besessen haben. Vollends gilt es aber rur die Wendung zur Hermeneutik hin, die wir untersuchen. Denn bei Melanchthon wie bei dem ersten Begründer der protestantischen Hermeneutik, bei Flacius Illyricus, bildet die theologische Kontroverse über die Verständlichkeit der Heiligen Schrift die motivierende Grundlage. Insofern kann die Frage gar nicht aufkommen, ob die Kunst des Verstehens et\va auch den wahren Sinn eines falschen Satzes aufzuschließen berufen sei. Das wird erst mit dem steigenden Methodenbewußtsein des 17. Jahrhunderts anders - wobei Zabarella wohl Einfluß ausübte -, und damit verändert sich 52
53 54
Melanchthon, Op XIII, 423fT. A.a.O.,417. A. a. 0.: rerum cognitio ad docendum necessaria; Plato, Phdr. 262 c.
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Weiterentwicklungen
auch die wissenschaftstheoretische Anlehnung der Hermeneutik. Das werden wir bei Dannhauer beobachten, der die Rhetorik in den Anhang verweist und die neue Hermeneutik aus der Anlehnung an die aristotelische Logik zu begründen sucht. Das bedeutet freilich nicht, daß nicht auch er inhaltlich von der Tradition der Rhetorik ganz abhängig bliebe, die eben das Vorbild der Auslegung von Texten bildete. Betrachten wir zunächst Melanchthon, so ist dort das Schriftprinzip der lutherischen Theologie im Zusammenhang seines Rhetorikkurses zwar eine selbstverständliche Voraussetzung und spielt auch inhaltlich hinein, beherrscht aber nicht den Duktus der Argumentation, die ganz im peripatetischen Schulgeiste gehalten ist. Melanchthon bemüht sich, den Sinn und Wert der Rhetorik ganz allgemein in der neuen Wendung auf das Lesen hin, die wir beschrieben, zu rechtfertigen. »Denn niemand ist in der Lage, längere Ausführungen und komplizierte Disputationen geistig zu erfassen, wenn er nicht durch eine Art Kunst unterstützt wird, die ihm die Anordnung der Teile und die Gliederung sowie die Absichten der Sprecher und eine Methode vermittelt, dunkle Dinge auseinanderzulcgen und klarzmuaehen. ,,55 Dabei denkt Mclanchthon gewiß auch an theologische Kontroversen, aber er folgt ganz Aristoteles, der mittelalterlichen und humanistischen Tradition, wenn er die Rhetotik engstens auf die Dialektik bezieht, und das heißt, ihr kein besonderes Gebiet zuschreibt, sondern ihre allgemeine Anwendbarkeit und Nützlichkeit unterstreicht. »Das erste, worauf es ankommt, ist die hauptsächliche Absicht und der zentrale Gesichtspunkt oder, wie wir es nennen, der Scopus der Rede. ,,56 Melanchthon fUhrt damit einen in der späteren Hermeneutik des Flacius beherrschenden Begriff ein, den er aus der methodischen Einleitung zur aristotelischen Ethik entlehnt. Hier denkt Melanehthon offenkundig gar nicht mehr an Rede im engeren Sinne, wenn er sagt, daß die Griechen so am Anfang ihrer Bücher (siel) zu fragen pflegen. Die Grundabsicht eines Textes sei rur ein adäquates Verständnis wesentlich. Dieser Punkt wird in Wahrheit auch rur die wichtigste Lehre grundlegend, die Melanehthon aufstellt, und das ist ohne Zweifel seine Lehre von den Iod communes. Er fUhrt sie als einen Teil der inventio ein und folgt damit der antiken Tradition der Topik, ist sich abet der hermeneutischen Problematik, die darin liegt, völlig bewußt. Er betont, daß diese wichtigsten Kapitel, »die die Quellen und die Summe der ganzen Kunst enthalten«(5?, nicht einfach ein großer Vorrat von Ansichten sind, von denen möglichst viele zu haben für den Redner oder Lehrer das Nützlichste wäre - denn in Wahrheit schließe die richtige Sammlung solcher
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Mclanchthon Opera XIII, 417f. A.a.O.,442f.
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A. a. 0., 470.
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Iod das Ganze des Wissens ein. Das ist implicite eine hermeneutische Kritik an der Oberflächlichkeit einer rhetorischen Topik". Umgekehrt bezweckt sie die Rechtfertigung seines eigenen Verfahrens. Denn Melanchthon hat als Erster die altprotestantische Dogmatik auf eine sinnvolle Auswahl und Sammlung entscheidender Stellen der Heiligen Schrift gegründet, die 1519 zuerst herausgekommenen lod praedpui. Die spätere katholische Kritik an dem protestantischen Schriftprinzip ist nicht ganz im Recht, wenn sie im Hinblick auf solche Aufstellung dogmatischer Sätze dem Schriftprinzip der Reformatoren Inkonsequenz vorwirft. Es ist zwar wahr, daß jede Aus\vahl eine Interpretation einschließt und damit dogmatische Implikationen hat, aber der hermeneutische Anspruch der altprotestantischen Theologie besteht eben darin, daß ihre dogmatischen Abstraktionen aus der Schrift selber und ihrer Absicht legitimiert sind. Eine andere Frage ist freilich, wieweit die reformatorischen Theologen ihrem Grundsatz \virklich genügend folgten. Der springende Punkt ist dabei die Zurückdrängung der allegorischen Interpretation, die freilich gegenüber dem Alten Testament eine gewisse Unentbehrlichkeit behielt, wie noch heute in Form der sogenannten >typologischen< Interpretation anerkannt ist. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf Luthers exegetische Praxis bei der Auslegung des Deuteronomium und der Propheten mag die Fortgeltung des Schriftprinzips illustrieren. Melanchthon sagt: »)Hier werden nicht bloße Allegorien übermittelt, sondern zunächst wird die Geschichte selber auf die 10ci communes des Glaubens und der Werke bezogen, und dann erst ergeben sich aus diesen loci die Allegorien. Aber dies Verfahren kann niemand befolgen, der nicht ausgezeichnete Gelehrsamkeit besitzt. ({59 Noch im Kompromiß bestätigt die Stel1e unsere Interpretation, daß das Schriftprinzip seine grundlegende Stellung behauptet. Man könnte fortfahren, Elemente der Rhetorik als Grundsätze der späteren Hermeneutik zu identifizieren, aber es genügt vielleicht eine al1gerneine Überlegung. Es geht um die neue Aufgabe des Lesens. Im Unterschiede zur gesprochenen Rede ist der geschriebene oder vervielfaltigte Text a11 der Verständnishilfen beraubt, die der Sprecher zu liefern pflegt. Sie lassen sich Zusammenfassen unter dem Begriff der richtigen Betonung, und jedermann 58 Dieser Problematik waren sich die Anhänger Melanehthons offenbar nicht in der gleichen Weise bewußt. So finde ich bei Johannes Sturm, linguae latinae resolvendae ratio, publ. 1581: »Neo tempore valde occupati fUlmus adolescentes in instituendis loels communibus. Corrogavimus quaedam ex co libro Erasmi. quem edidit de ratione disecndi. Philippus honorifieae memoriae etiam tradidit qllosdam 10cos eommunes et aEi alios tradiderunt. Ego pllto non solum faeiendos 10eos communcs virtutum et vitiarum, sed loeos communes omnium rerum ... Vobis hi 10ci in star memoriae seu recordationes. {( Die Schüler Melanchthons waren sich also über die hermeneutische Dimension der Sammlung von Iod nicht ebenso im klaren. 59 A. a. 0.,452.
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Weiterentwicklungen
weiß, wie schwierig es ist, Sätze eines Textes in wirklich angemessener Betonung wiederzugeben. Die ganze Summe des Verstehens ist in den idealen - und niemals vollendet verwirklichten - Fall der richtigen Betonung eingegangen. Dannhauer macht einmal die richtige Bemerkung: »Literatur wird kaum auf andere Weise zum Verständnis gebracht als durch einen lebendigen Lehrer. Wer vermöchte ohne eine solche Hilfe die alten Manuskripte der Mönche überhaupt zu lesen? Die Interpunktionen aber können nur erkannt werden auf Grund der Vorschriften, die die Redner über Perioden, Kommata und Kola geben.« Die Stelle bestätigt: Die neue Lesehilfe der Interpunktion beruht auf der alten Gliederungskunst der Rhetorik. Die volle Reich\veite dieses Problems ist aber eigentlich erst von der pietistischen Hermeneutik erfaßt worden, wie sie in der Nachfolge von August Hermann Francke durch Rambach und dessen Nachfolger entwikkelt worden ist. Hier erst wird das alte Kapitel der klassischen Rhetorik, die Erweckung von Affekten, als ein hernIeneutisches Prinzip erkannt. Aller Rede wohnt aus der eigensten Bestimmung des Geistes Affekt inne und man kennt die Erfahrung: )}Dieselben Worte verbreiten, wenn sie mit verschiedenem Affekt und Gestus gesprochen werden, oft einen ganz verschiedenen Sinn. {~ In der Anerkennung dieses Momentes der affektiven Modulation aller Rede (und insbesondere der Predigt) liegt dann die Wurzel der von Schleiermacher begründeten >psychologischeIll Interpretation und am Ende aller sogenannten Einfühlungstheorie, so wenn es bei Rambach etwa heißt: l)Dem Interpreten ist der Geist des Autors so anzuziehen, daß er langsam wie dessen zweites Ich herauskomnlt. « Doch damit greifen wir weit vor. Die erste hermeneutische Selbstbesinnung ist ja bereits im Zeitalter der Reformation von Flacius vollbracht worden. Auch er \var natürlich zunächst nichts als ein Philologe und Humanist, der für die Reformation Luthers gewonnen worden war. Ihm kommt das unbestreitbare Verdienst zu, das lutherische Schriftprinzip gegen die Angriffe der Tridentiner Theologen durch Entwicklung seiner Hermeneutik abgesichert zu haben, Seine Verteidigung der Heiligen Schrift mußte gleichsam gegen Z\vei Fronten kämpfen. Auf der einen Seite gegen das humanistische Stilideal des Ciceronianismus, dem die Bibel nicht entsprach. Auf der anderen Seite gegen den gegenreformatorischen Angriff, daß die Heilige Schrift überhaupt unverständlich sei, \venn man sie nicht mit Hilfe der Lehrtradition der Kirche aufschlüssele. Die Heilige Schrift ohne solchen dogmatischen N achschlüsscl aufzuschließen, ist die wesentliche Intention jenes Schlüssels, der sogenannten )Clavis scripturae sacrae(, den Flacius verfaßt hat. Mit großer Gründlichkeit behandelt Flacius darin die Ursachen der Schwierigkeit der Heiligen Schrift und erhält dafür sogar von seinem katholischen Kritiker Richard Simon ironisches Lob - \vie auch für seine Belesenheit in den Kirchenvätern. Nun liegt aber die wichtigste, die für das
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ganze Schriftprinzip theologisch grundlegende Schwierigkeit· der Heiligen Schrift nach Flacius nicht in a11 den allgemeinen Schwierigkeiten, die ein in fremder Sprache abgcfaßter Text dem Verständnis bietet. Das ist nur die am \\·eitesten entfaltete Seite der Sache, für die sich Flacius als ein führender Hebraist und Graecist besonders kompetent ruhlen konnte. Wichtiger ist in Wahrheit ein religiöser Grund. dn der Heilslehre sind alle Menschen ihrer Natur nach nicht nur schwerfällig und dumm, sondern geradezu dem gegenteiligen Sinne eiligst zugeneigt; wir sind nicht nur unfähig, sie zu lieben, zu begehren und zu verstehen, sondern wir halten sie sogar rur töricht und unfromm und schrecken weit von ihr zurück. « Hier gelangt offenbar ein zentrales Motiv aller Hermeneutik, nämlich die Überwindung der Fremdheit und die Aneignung des Fremden, zu seiner besonderen, ja einzigartigen Ausgestaltung, der gegenüber a11 die sonstigen Fremdheiten von Texten, die der Sprache, der Zeitanschauungen, der Ausdrucksformen, geradezu untergeordnet wirken. Denn hier handelt es sich um das Urmotiv des Protestantismus, den Gegensatz von Gesetz und Verheißung bzw. Gnade. Man macht es sich zu leicht, wenn man wegen dieses dogmatischen Interesses die hier begründete Hermeneutik selber dogmatisch nennt. Gewiß will sie dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens und der Annahme des Evangeliums dienen. Aber sie bleibt trotzdem im Prinzip eine rein hernleneutische Anstrengung. Sie ist die Ausarbeitung und Rechtfertigung des protestantischen Schriftprinzips, dessen Anwendung die religiöse Voraussetzung der >Rechtfertigung durch den Glauben, bestätigt. Es ist in Wahrheit eine verkürzende Perspektive, wenn man die Aufgabe der Interpretation von Texten unter das Vorurteil der Theorie der modernen Wissenschaft und unter den Maßstab der Wissenschaftlichkeit stellt. Die Aufgabe des Interpreten ist in concreto niemals eine bloße logisch-technische Ermittlung des Sinnes beliebiger Rede, bei der von der Frage der Wahrheit des GesagteIl ganz abgesehen würde. Jede Anstrengung, den Sinn eines Textes zu verstehen, bedeutet das Annehmen einer Herausforderung, die der Text darstellt. Sein Wahrheitsanspruch ist noch dann die Voraussetzung der gesamten Anstrengung, wenn im Ergebnis bessere Erkenntnis zur Kritik daran fUhrt und den verstandenen Satz als falsch erweist. Das muß auch bei der Art, wie Flacius seine Hermeneutik anlegt, beachtet werden. Er weiß, welche Herausforderung das Evangelium darstellt. Es ist keineswegs überflüssig, aber auch nicht dogmatisch beengend, wenn er allerhand Bedingungen rur das rechte Verständnis der Heiligen Schrift aufzählt. Es handelt sich dabei nicht nur, um ein Beispiel zu nennen, um die fromme Erwartung, Gottes Wort zu hören, wie Flacius verlangt, sondern etwa auch um die Bedingung eines von allen Sorgen freien Geistes, der ausdrücklich in allen schwierigen Sachen und Geschäften notwendig sei (Seite 88). Oder neben dem Rat, etwas, das man nicht ganz verstanden hat, auswendig zu
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lernen, »in der Hoffnung. daß uns Gott das eines Tages klarmache«, steht der andere Rat, der wahrlich allgemein und rur das Lesen einer jeden Schrift als gültig empfohlen wird, gleich als erstes den >Scopus<, den Zweek und die Intention des ganzen Textes zur Kenntnis zu nehmen. Mit solchen allgemeinen Ratschlägen wird die Besonderheit des Anspruchs der Heiligen Schrift keineswegs nivelliert, sondern kommt gerade durch deren Anwendung zur rechten Abhebung. »Man muß beachten, daß in diesem Buche nicht nur eine Art von Lehre enthalten ist, wie sonst meist in Büchern, sondern deren zwei, das Gesetz und das Evangelium. Sie sind zwar von Natur einander entgegengesetzt, stimmen aber inso\veit überein, als das Gesetz, indem es unsere Sündigkeit offenlegt, mittelbar der Annahme der Vergebung (durch den Erlöser) dient.« Auch das noch ist eine hermeneutische Angelegenheit. Es bedeutet, daß die Bibel eine besondere Form der Aneignung erheischt, nämlich die Annahme der frohen Botschaft durch den Glaubenden. Das ist der Scopus, unter dem man die Heilige Schrift zu lesen hat, auch dann, \venn man als bloßer Historiker an sie herantritt oder etwa als Atheist, z. B. auf marxistischer Grundlage, die ganze Religion für )falsch( hält. Diese Art Text muß - wie jeder andere - ihrer Intention nach verstanden werden. AUe Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere aber auch das Wort der Predigt, das die Heilige Schrift so zum Leben erwecken soll, daß sie erneut zur Botschaft wird, stehen unter dem kerygmatischen Anspruch des Evangeliums. Das hat eine hermeneutische Besinnung anzuerkennen, und dieser Anspruch rechtfertigt keineswegs, daß die hermeneutische Theorie des Flacius dogmatisch genannt werden dürfte. Sie gibt nichts anderes als eine adäquate theoretische Begründung des Schriftprinzips, das Luther aufgestellt hatte. Die hermeneutische Lehre des Flacius verstößt nicht gegen die humanistischen und philologischen Prinzipien rechter Auslegung, wenn sie einen religiösen Text als religiöse Botschaft versteht. Sie verlangt nirgends inhaltlich dogmatische Vorannahmen, die sich am Text des Neuen Testamentes nicht ausweisen lassen, sondern eine diesem Text gegenüber überlegene Instanz darstellen. Das Ganze seiner Hermeneutik folgt dem einen Grundsatz, daß allein der Zusammenhang den Sinn einzelner Worte, Textstdlcn usw. wirklich bestimmen kann: »ut sensus locorum turn ex scopo scripti auf textus, aun ex toto contextu petatur. « Hier ist die polemische Frontstellung gegen alle schriftfremde Lehrtradition vollkommen deutlich. Es entspricht dem, daß flacius, wie Melanchthon, Luther folgt, indem er vor den Gefahren der Allegorese warnt. Gerade dieser Versuchung soll die Lehre vom scopus totius scripti vorbeugen. Sieht man näher zu, so sind es offenkundig die klassischen Begriffsmetaphern der Rhetorik, die hier gegen die dogmatische Unterwerfung der Schrift unter die Lehrautorität der Kirche aufgeboten werden. Der Scopus
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wird als der Kopf oder das Gesicht des Textes bezeichnet, der oft schon aus dem Titel deutlich \verde, vor allem aber aus den Grundlinien der Gedankenftihrung hervorgehe. Damit wird der alte rhetorische Gesichtspunkt der dispositio aufgenommen und ausgebaut. Man habe sorgsam darauf zu achten, wo, um es so auszudrücken, Kopf, Brust, Hände, Füße sind und wie die einzelnen Glieder und Teile zum Ganzen zusammenwirken. Flacius spricht geradezu von einer )Anatomie< des Textes. Das ist echtester Plato. Statt eine bloße Aneinanderreihung von Worten und Sätzen zu sein, muß jede Rede wie ein lebendiges Wesen organisiert sein, einen eigenen Leib haben, so daß sie weder ohne Kopf noch ohne Fuß ist, sondern Mittleres wie Äußeres in gutem harmonischem Verhältnis zueinander und zum Ganzen aufweist. So sagt es der ,Phaidros' (264 c). Auch Aristoteles folgt dieser rhetorischen Begrifflichkcit, wenn er in der Poetik den Aufbau einer Tragödie beschreibt: flo::.per zoon flefl holon60 . Unsere deutsche Redensart })das hat Hand und Fuß" steht in der gleichen Tradition. Es ist aber auch echtester Plato (dem Aristotcles Ausführung und Begründung gewidmet hat), daß sich das Wesen der Rhetorik nicht in solchen als technische Regeln formulierbaren Künsten erschöpft. Was die Lehrer der Rhetorik, die Plato im IPhaidros< kritisiert, betreiben, liege noch )vor( der eigentlichen Kunst. Denn die eigentliche Kunst der Rhetorik sei v.,reder von dem Wissen um das Wahre ablösbar noch von dem Wissen um die )5eelel. Gemeint ist damit die seelische Lage des Zuhörers, dessen Affekte und Leidenschaften zwecks Überredung durch die Rede erregt werden sollen. So lehrt der ,PhaidroS<, und so folgt die gesamte Rhetorik dem Grundsatz des argumentum ad hominem selbst beim alltäglichen Gebrauch im Umgang mit Menschen bis zum heutigen Tage. Nun ist es allerdings wahr, daß im Zeitaler der neuen Wissenschaft und des Rationalismus, der im 17. und 18. Jahrhundert zur Entfaltung kommt, das Band zwischen Rhetorik und Hermeneutik gelockert worden ist. In jüngster Zeit hat H. Jaeger" vor allem auf die Rolle aufmerksam gemacht, die Dannhauer mit seiner idea bon i interpretis gespielt hat. Er scheint der erste zu sein, der das Wort Hermeneutik terminologisch gebraucht hat, und zwar in offenkundiger Anlehnung an die entsprechende Schrift des aristotelischen Organon. Darin zeigt sich: Es ist der Anspruch Dannhauers, den Anfang, den Aristoteles mit seiner Schrift Peri hermeneias gemacht hatte, fortzusetzen und zu vollenden. Wie er selbst sagt: ~)die Grenzen des aristotelischen Organon durch die Hinzuftigung einer neuen Stadt zu erweitern. {( Seine Orientierung ist also die Logik, der er als einen weiteren Teil, als eine weitere Poetik 23, 1459 a 20. [H. Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, Archiv fUf Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35-84, S. 4lff.J w
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philosophische Wissenschaft, die des Interpretierens zur Seite stellen will, und zwar in einer so allgemeinen Weise, daß diese der theologischen v.rie der juristischen Hermeneutik vorgeordnet sei, ganz so wie Logik und Grammatik aller besonderen Anwendung vorgeordnet sind. Dannhauer läßt dabei das, was er die rednerische Auslegung nennt, nämlich den Gebrauch und Nurzen, den man mit einem Texte anstrebt und den nun al1gcmcin accomodatio textus nenne, beiseite und sucht durch seine Hermeneutik eine der Logik ebenbürtige menschliche und logische Unfehlbarkeit im allgemeinen Verständnis von Texten zu bewerkstelligen. Diese Tendenz zu einer Art neuer Logik ist es, die ihn zur Parallclisierung mit und zur ausdrücklichen Abhebung von der analytischen Logik fUhrt. Beide Teile der Logik, die Analytik wie die Hermeneutik, haben es mit der Wahrheit zu tun und beide lehren, Falschheit zurückzuweisen. Aber sie unterscheiden sich dadurch, daß jene, die Hermeneutik, den wahren Sinn auch eines grundfalschen Satzes zu erforschen lehre, während diese, die Analytik, Wahrheit des Schlußsatzes nur aus wahren Prinzipicn ableitc. Jene habe es also nur mit dem )Sinn< von Sätzen zu tun, nicht mit ihrer sachlichen Richtigkeit. Dannhauer ist sich dabei der Schwierigkeit durchaus bewußt, daß der vom Autor gemeinte Sinn nicht klar und eindeutig zu sein brauche. Das sei eben die Schwäche der Menschen, daß auch eine einzige Rede vielerlei Sinn haben könne. Aber sein Anspruch ist, solche Vieldeutigkeiten durch hermeneutische Anstrengung aufzulösen. Wie rationalistisch er dabei schon denkt, kommt heraus, wenn er es als das Ideal der Hermeneutik hinstellt, Reden, die nicht logisch sind, in logische zu verwandeln und gleichsam zu verflüssigen. Es käme darauf an, derartige Reden, zum Beispiel poetische, derart neu zu placieren, daß sie in ihrem eigenen Lichte leuchten und niemanden täuschen können. Dieser wahre Platz aber sei die logische Rede, die reine Aussage, das kategorische Urteil, die eigentliche Redeweise. Es scheint mir irrig, eine solche logische Orientierung der Hermeneutik als die eigentliche Erftillung der Idee der Hermeneutik anzupreisen, wie das H. Jaeger tut. Dannhauer selber, ein Straßburger Theologe des frühen 17. Jahrhunderts, bekennt sich als ein Schüler des aristotelischen Organon, das ihn von den Konfusionen der zeitgenössischen Dialektik befreit habe. Er teilt aber mit der protestantischen Hermeneutik, wenn man von dieser wissenschaftstheoretischen Einordnung absieht und auf den Inhalt blickt, fast alles, und wenn er den Zusammenhang mit der Rhetorik übergeht, so unter unmittelbarer Berufung auf Flacius, der dieser Seite genügende Aufmerksamkeit gewidmet habe. In der Tat teilt er als protestantischer Theologe auch ausdrücklich die Anerkennung der Bedeutung der Rhetorik. In seiner Herrneneutica sacrae scripturae zitiert er seitenlang Augustin, um zu beweisen, daß in der Heiligen Schrift keineswegs eine bloße Kunstlosigkeit liege (wie das unter dem Ciceronianischen Ideal der Rhetorik erscheinen
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mochte), sondern eine besondere Art Von Beredsamkeit, wie sie Männern von höchster Autorität und beinahe göttlichen Männern gerade angemessen sei. Man sieht, wie noch im 17. Jahrhundert der Stilkanon der humanistischen Rhetorik eine Geltung besaß, sofern sich der christliche Theologe nur dadurch wehren kann, daß er - mit Augustin - das rhetorische Niveau der Bibel verteidigt. Was seine rationalistische Neuorientierung des methodischen Selbstverständnisses der Hermeneutik inhaltlich an Neuem bringt, betrifft nirgends die Substanz des hermeneutischen Unternehmens als solchen, vlie es durch das reformatorische Schriftprinzip inauguriert worden war. Auch Dannhauer bezieht sich ständig auf die strittigen theologischen Fragen und besteht genau wie die anderen Lutheraner darauf, daß die hermeneurische Fähigkeit und damit auch die Möglichkeit, die Heilige Schrift zu verstehen, allen Menschen gemeinsam sei. Auch bei ihm dient die Ausbildung der Hermeneutik der Abwehr der Papistenfi2 • Indessen, ob man sein methodisches Selbstverständnis in der Orientierung an der Logik oder an der Rhetorik bzw. Dialektik ausbildet, in jedem Fall ist die )Kunst< der Hermeneutik von einer alle Anwendungsformen -auf die Bibel, auf die Klassiker, auf die Gesetzestexte - überschreitenden Allgemeinheit. Das ist in heiden Orientierungsweisen angelegt und liegt in der eigentümlichen Problematik begründet, die dem Begriff der >Kunstlehre< anhaftet und die ihren Ursprung in der von Aristoteles eingefUhrten Begriffs bildung hat. Gegenüber den >reinen. Fällen von Techne oder Kunstlehre stellen die Rhetorik so gut wie die Hermeneutik offenbar Sonderfalle dar. Beide haben es mit der Universalität des Sprachlichen und nicht mit bestimmt begrenzten Sachfeldern des Herstellens zu tun. Damit hängt zusammen, daß sie in mehr oder minder fließendem Übergang von der natürlichen, allgemein menschlichen Fähigkeit des Sprechcns oder des Verstehens zu dem bewußten Gebrauch von Kunstregeln des Sprechens und Verstehens fortschreiten. Das aber hat eine andere wichtige Seite, die von dem modernen Wissenschaftsbegriff aus so gut wie von dem antiken Begriff der Techne aus nicht recht sichtbar wird. Die Ablösung der >reinen Kunst( von den natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der alltäglichen Praxis ist in beiden Fällen nur in beschränktem Umfang möglich. Im Falle der Rhetorik bedeutet das, daß losgelöst von Naturanlage und natürlicher Übung das bloße Regelwissen als solches und seine Einlemung nicht zu wirklicher Beredsamkeit verhilft, und es heißt auch umgekehrt, daß die bloße Kunstfertigkeit der Rede, wenn sie keinen angemessenen Inhalt besitzt, leere Sophistik bleibt. 62 Für den oben genannten Sturm kommt eine Anlehnung an Aristotelcs in solcher Weise gar nicht in Frage. Er warnt geradezu vor den Jesuiten ~ut magis sirrt Aristotelici quam theologi(.
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Überträgt man das auf die Kunst der guten Auslegung, so hat man es hier gewiß mit einer eigentümlichen Zwischendimension zu tun, nämlich der in Schrift oder Druck fixierten Rede. Einerseits bedeutet das eine Erschwerung der Verständlichkeit, selbst dann, wenn die sprachlich-grammatischen Bedingungen vollkommen erflillt sind. Das tote Wort muß ja zu lebendigem Sprechen auferweckt werden. Andererseits bedeutet die Fixiertheit aber auch eine Erleichterung, sofern sich das Fixierte der wiederholten Verstehensbemühung unverändert darbietet. Es handelt sich dabei nicht um eine starre Aufrechnung von positiven und negativen Punkten, die mit der Fixiertheit gegeben sind. Sofern es in der Hermeneutik um die Auslegung von Texten geht und Texte entweder zum Vorlesen oder zum stillen Lesen bestimmte Rede sind, kommt in jedem Falle der Aufgabe der Auslegung und des Verstehens die Kunst des Schreibens entgegen. So gehörte eine besondere Kunst des Schreibens dazu, in den Frühzeiten der Vorlesekultur die Textgrundlage fUr den Vortrag richtig einzurichten. Das ist ein \vichtiger stilistischer Gesichtspunkt, der im klassischen Zeitalter der Griechen wie der Römer eine bestimmende Rolle spielte. Mit der allgemeinen Verbreitung des stillen Lesens und vollends mit dem Aufkommen des Buchdrucks werden andere Lesehilfen, Interpunktion und Gliederung besonders nötig. Damit ändert sich offenkundig auch das, was von der Kunst des Schreibens verlangt wird. Es ließe sich eine Parallele zu den in Tacitus' >Dialogus( erörterten Gründen flir den Niedergang der Beredsamkeit denken: in der Buchdrukkerkunst liegen die Gründe rur den Niedergang der epischen Literatur und fur die Veränderung in der Kunst des Schreibens, die der veränderten Kunst des Lesens entspricht. Man sieht, wie weit beides, Rhetorik und Hermeneutik, von dem handfesten Modell handwerklichen Wissens differiert, an das der Begriff >Kunstlehre< (techne) geknüpft ist. Noch bei Schleiermacher ist die Problematik im Begriff der Kunstlehre, wenn er auf Rhetorik und Hermeneutik angewendet wird, recht deutlich fUhlbar. Es ist ja eine ganz ähnliche Interferenz, die zwischen Verstehen und Auslegen statthat, wie die, die zwischen Reden und Redekunst besteht. In beiden Fällen ist der Anteil der regelbewußten Anwendung so untergeordnet, daß es einem richtiger scheint, in der Rhetorik wie in der Hermeneutik, ganz ähnlich wie im Falle der Logik, von einer Art theoretischer Bewußtmachung zu sprechen, d. h. einer ,philosophischen< Rechenschaftsgabe, die von ihrer Anwendungsfunktion mehr oder minder abgelöst ist. Hier kommt einem notwendig die eigentümliche Sonderstellung in den Sinn, die die praktische Philosophie bei Aristoteles besitzt. Sie heißt zwar philosophia, und das meint jedenfalls eine Art >theoretischen< und nicht praktischen Interesses. Trotzdem wird sie aber, wie Aristoteles in seiner Ethik betont, nicht um des bloßen Wissens willen betrieben, sondern um der arete, d. h. um des praktischen Seins und Handelns willen. Nun scheint es
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mir sehr bemerkenswert, daß man ähnliches auch von dem sagen möchte, was Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik poietike philosophia nennt und was offenbar sowohl die Poetik als auch die Rhetorik umfaßt. Heide sind nicht einfach Arten von Techne im Sinne des technischen Wissens. Beide beruhen ja auf einer universalen Fähigkeit des Menschen. Ihre Sonderstellung gegenüber den Technai trägt freilich nicht eine so klare Auszeichnung, wie sie der Idee der praktischen Philosophie zukommt, die sich durch ihren polemischen Bezug auf die platonische Idee des Guten profiliert. Indessen kann man, wie mir scheint, die Sonderstellung und Abgrenzung auch der poietischen Philosophie, in Analogie zur praktischen Philosophie, als eine Konsequenz des aristotelischen Gedankens behaupten, und jedenfalls hat die Geschichte diese Konsequenz gezogen. Das in Grammatik, Dialektik und Rhetorik differenzierte Trivium, das unter Rhetorik ja auch die Poetik mir umfaßt, besitzt eine ähnlich universale Stellung gegenüber allen besonderen Weisen des Machens und Herstellens von et\vas, wie sie der Praxis überhaupt und der sie leitenden Vernünftigkeit zukommt. Weit entfernt davon, Wissenschaften zu sein, sind diese Bestandstücke des Trivium )freie< Künste, d. h. sie gehören zum Grundverhalten des menschlichen Daseins. Sie sind nichts, was man tut oder lernt, damit man dann der ist, der das gelernt hat. Diese Fähigkeit aus bilden zu können, gehört vielmehr zu den Möglichkeiten des Menschen als solchen, zu dem, was einjeder ist oder kann. Das aber ist es, was das Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik, dessen Entwicklung wir studieren, im letzten Grunde bedeutend macht. Auch die Kunst der Auslegung und des Verstehens ist nicht eine spezifische Fertigkeit, die einer erlernen kann, um ein solcher zu werden, der das gelernt hat, eine Art Dolmetscher von Beruf. Sie gehört zum Menschsein als solchen. Insofern trugen und tragen die sogenannten >Geisteswissenschaften< den Namen der Humaniora oder humanities mit Recht. Das mag durch die Freisetzung von Methode und Wissenschaft, die zum Wesen der Neuzeit gehört, unklar geworden sein. In Wahrheit kann aber auch eine Kultur, die der Wissenschaft eine fuhrende Stellung einräumt, und damit der Technologie, die auf sie gegründet ist, den größeren Rahmen niemals ganz sprengen, in den die Menschheit als menschliche Mitwelt und als Gesellschaft gefaßt ist. In diesem größeren Rahmen haben Rhetorik und Hermeneutik eine unanfechtbare und allumfassende Stellung.
21. Logik oder Rhetorik? Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik
1976 Durch seinen Aufsatz >Studien zur Frühgeschichte der Hermcneutik,63 hat H.-E. Hasso Jaegcr unsere Kenntnis der frühgeschichte der Hermeneutik durch ein ganzes neues Kapitel bereichert. Man \vußte schon länger, daß das Wort >Hermeneutik< zuerst in einer Schrift von Joh. Conrad Dannhauer begegnet, und es war mindestens seit Dilthey auch klar, daß die Hermeneutik eine gewisse humanistische Vorgeschichte hat. Mit der eigenen Würdigung von Dannhauer, die Jaeger vorlegt, diffetenziert sich aber das Bild, Zunächst zeigt Jaeger, daß Dannhauer schon seit seiner Jugend das Programm einer Logik der Auslegung verfolgte und bereits 1629 den Ausdruck ,Hermeneutik{ dafUr einfUhrte, Jaeger möchte gegen Dilthey diese Hermeneutik nicht länger als eine theologische - und dann doch recht dürftigeVorstufe der romantischen Hermeneutik sehen, sondern als eine eigene Schöpfung der humanistischen Bewegung, die mit der Kontroverse über das Schriftprinzip, die zwischen Luther und den Papisten ausgetragen wurde, zunächst nichts zu tun habe. Dilthey hatte uns freilich gezeigt, daß diese Kontroverse zu einer ersten Formulierung der hermeneutischen Grundsätze der protestantischen Bibelexegese fUhrte, die in Flaeius Illyricus ihre Dokumentation fand, H Jaeger sucht jedoch die theologische Seite des Problems soweit wie möglich auszuschalten. Sein eigentliches Interesse ist, die ~Hermeneutik< als eine \vissenschaftstheoretische Konzeption des 17. Jahrhunderts zu erweisen, die in Dannhauers ,[dea boni interpretis< (1630) vorgetragen wurde. Die auf profunder Gelehrsamkeit beruhende begriffs geschichtliche Studie Jaegers setzt, wie es sich gehört, mit wortgeschichtlichen Feststellungen ein, und am Ende beherrscht die wortgeschichtliche Fragestellung das Ganze seines Beitrags so sehr, daß er die theologische Kontroversliteratur zur Bibelauslcgung, die Dilthey behandelt hatte'" ganz beiseite läßt, Das Auf63 Archiv fLir Begriffsgeschichte XVIII/1, 33-84. Die Seitenzahlen im Text verv,,'cisen auf diesen Beitrag. 64 Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der
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treten von Hermeneutica bei Dannhauer ist, wie Jaeger zeigt, selbst nicht ohne Vorgeschichte. Doch ist die wissenschaftstheoretische Begründung der neuen Disziplin - die oikonomia, ,\,ie Dannhauer sagt - sein eigenes Werk. Die Darstellung, die Jaeger von Dannhauer gibt (47-59), macht sowohl dessen \vissenschaftstheoretisches Konzept wie die Namengebung Henneneutik verständlich. Er hat rur sich selbst das aristotelische Organon wiederentdeckt und datiert von dieser Entdeckung seine ganze geistige Existenz. Offenbar ist es die Rückkehr zum echten Aristoteles, die ihn gegen die ramistische Logik (60) feit und ihn in dem Altarfer Aristotelismus Bestätigung finden läßt. Dannhauer stellt neben die in Aristoteles per; hermeneias vorgetragene Logik der Aussage die hermetteutica generalis wie eine meue Stadt< (50). Die ThemensteIlung des aristotelischen Organon wird damit auf die Interpretation der Rede und Schrift anderer ausgeweitet. Jaeger deutet an, daß Dannhauer sich damit an die neuere Lehre von der Analytik anschließt, die den damaligen Aristotelismus beherrschte und als methodus resolutiva bekannt ist (51 f). Darüber wird von Jaeger noch etwas zu lernen sein, wenn er sein angekündigtes größeres Werk vorlegt. Soweit ich sehe, ist diese methodus eine freie Weiterbildung des spätantiken Synkretismus aristotelischer Logik und platonischer Dialektik, rur die bei Aristoteles selbst nur spärliche Ansätze vorliegen: Aristoteles bezieht sich offenkundig immer auf den geometrischen Begriff des analyein, sowohl wenn er das Schluß- und Beweisverfahren zum logischen Thema macht, als auch bei der Anwendung auf die Struktur der praktischen Überlegung (Findung der Mittel zum Zweck). Das sollte durchJaegers Hinweis auf den neuplatonischen Gebrauch von Analytik als Weg zu den Prinzipien nicht verunklärt werden (52). Die Anlehnung an diese Analytik wird nun ftir Dannhauers Programm der Hermeneutik bestimmend. Dannhauer sah offenbar in der aristotelischen Schrift peri hermeneias in Wahrheit ein Verfahren der Synthesis (Zusammensetzung der Rede aus ihren Teilen). Er stellt dieser synthetischen Logik der Aussage die Hermeneutik als analytisch zur Seite. Diese Ausweitung der aristotelischen Analytik hat nun eine wichtige Folge. Wie die formale Schlußlehre nur immanente Schlüssigkeit und nicht sachliche Richtigkeit sichert, will auch die Hermeneutik bei Dannhauer den richtigen Sinn einer Aussage und nicht den Sinn einer richtigen Aussage ermitteln. Sie erstre bt ja keine Ableitung derselben aus Prinzipien. Hier ist Dannhauer sehr radikal, undJaeger zeigt, daß er damit einer älteren, mittelalterlichen Lehre der Unterscheidung von sm,us und sententia folgt (56). Andere erkannten dagegen in der Hermeneutik einen eigenen, wenn auch mittelbaren und untergeordneten Weg der Wahrheits erkenntnis. Das ist offenbar die Auffasalten protestantischen Hermeneutik [1860], in: Gesammelte Schriften XIVI2, 595-787; Die Entstehung der Hermeneutik [1860/1900j, in: Gesammelte Schriften V, 317-338.
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Vieiteren twickl un gen
sung noch bei Keckermann gewesen (1614), der deshalb geradezu von einer clavis in/elligen/iae spricht (71 f). Wie dem auch sein mag, injedem Falle steht Dannhauer Hir den Zusammenschluß von hermeneutica und analytica - anders gesprochen: ruf die Einordnung der Hermeneutik in die Logik (61). Eine wortgeschichtliche Untersuchung zum Aufkommen des Wortes hermeneia im Zeitalter des Humanismus, die Jacgcr hinzuftigt, illustriert das no eh (65-73). Die Vorgeschichte der Dannhaucrschen systematischen Nomenklatur wird deutlicher. Man nimmt auch daraus reiche Belehrung entgegen. Besonders interessant war mir dort die Rolle, die Ammonios Hermeill spielt. Er sieht in der aristotelischen Schrift peri henneneias die ursprüngliche Verwortung der Gedanken, das heißt, nicht nur Übersetzung von einer Sprache in eine andere Sprache oder von dunklem Ausdruck in klaren, sondern die sprachliche Artikulation des Dcnkens überhaupt (64f). Trotz dem Venveis auf die hermeneutische )Sccle< am Schluß des Jaegersehen Aufsatzes (81 f) scheint dies Motiv bei Dannhauer selbst aber keine Rolle zu spielen. So angernessen diese Darstellung von Dannhauers Idee der Hernleneutik ist, so einseitig scheint mir die Perspektive, dieJaeger verfolgt. Überschaut man nämlich das Ganze des wortgeschichtlichen Materials, das der gelehrte Verfasser beibringt, und inbesondere das amike Vorkommen des Wortes, sieht man sich keineswegs auf die Logik und Wissenschaftstheorie verwiesen. Das Bezugsfeld des Wortes weist vielmehr in den Bereich der Rhetorik. Da dies der Intention des Verfassers nicht entspricht, sei es erlaubt, diese Seite der Sache an dem von ihm vorgelegten Material eigens hervorzuheben. Da ist zunächst das bekannte Vorkommen des Wortes in der platonischen >Epinomis< (84 Anm. 160). Man kann aufgrund der Parallelstellung zur Mantik nicht daran Z\veifeln, daß es sich hier um einen wirklichen Sprachgebrauch handelt. Das Wort meint den Verkehr mit den Göttern, der nicht so einfach ist, als daß die Deutung ihrer Winke ohne Kunst gelingen könnte. Ich weiß nicht, warum der Verfasser die Stelle nicht licbt. Es behauptet ja niemand, daß das in Platos Augen eine sehr edle Kunst war. Aber das spielt hier keine Rolle. Daß es sich hier um die gleiche Aufgabe handelt, die auch die von Jaeger anerkannte humanistische Hermeneutik hatte, aber ebenso auch die von ihm verworfene neuere, nämlich Unverständliches dem Verständnis nahezubringen (die Grundsituation des Dolmetscherdicnstes), sollte man nicht verkennen. Auch vermag ich absolut nicht zu verstehen, warum der Verfasser sich so von der Beziehung des Wortes auf den Gott Hermes distanziert. Ich vermag das Triumphgeftihl nicht ganz zu teilen, das der Verfasser darüber empfindet, daß die Herleitung des Wortes Hermeneutik von Hermes durch die moderne Sprachwissenschaft als Fiktion entlarvt ist und wir statt dessen
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nicht wissen, was das Wort etymologisch bedeutet (84 Anm. 160). leh nehme das zur Kenntnis, fühle mich freilich wenig dadurch beirrt, wenn ich sehe, ""vie Augustin und offenbar eine ganze Tradition das Wort verstand. Die Berufung auf Herrn 13envcniste (41 Anm. 17a) kann daran nichts ändern. Das Zeugnis der Tradition wiegt schwer - nicht als ein sprachwissenschaftliches Argument natürlich, aber als gültiger Hinweis darauf, wie weit und wie universal das hermeneutische Phänomen gesehen werden muß und gesehen worden ist: als >Nuntius fur alles Gedachte<. Einen neuen Beitrag stellte rur mich der Beleg in einem Digesten-Zitat des Corpusjuris civilis dar. Dort ist die Verständigungskunst gemeint, die dem Maklerberuf eigentümlich ist und zur Verständigung über den zwischen den Kontrahenten auszuhandelnden Preis fuhrt. Da ist es nun überaus belehrend, wasJaeger von deIn französischen Humanisten Antoine Conte zitiert (38f). Aus dem Zitat geht hervor, daß die besondere Dolmetschkunst, die im Maklerdienst begegnet, von dem französischen Humanisten bereits in einem allgemeineren Sinne verstanden wird. Er sagt da, daß die Bezahlung für solche Dienste nicht immer ein so anrüchiger Gewinn sei wie die fur die Maklerdienste. Es handelt sich also um einen Dolmetscherdienst und Vermittler dienst im weitesten Sinne. Die Funktion solchen Dolmetschcns ist aber, wie die Analogie zum Makler zeigt, nicht auf die technisch-sprachliche Übersetzung und auch nieht auf die bloße Klärung von Dunkelheiten beschränkt, sondern stellt eine umfassende Verständigungshilfe dar, die die Vermittlung zwischen den Interessen der Parteien (voluntatum contrahentium) leistet. Genau wie die Epinomisstelle geht es also auch hier um eineallgemeine Vermittlungstätigkeit, die weit mehr im Umgang des praktischen Lebens begegnet als im Zusammenhang der Wissenschaft. (Natürlich handelt es sich bei solchen Anwendungen des Wortes lediglich um eine praktische Kunst zur BefOrderung der Verständigung und nirgends um eine logische Analyse von Regeln dieser Kunst.) Immerhin weist schon dieser Sprachgebrauch, sowohl der der Antike wie der seiner humanistischen Wiederaufnahme, unmißverständlich auf den Bereich der Rhetorik und nicht auf den der Logik. Das scheint mir der Punkt, an dem ich mir von dem gelehrten Verfasser noch andere Aufschlüsse erwarte, als er in seinem Aufsatz gegeben hat. Was er zum Thema macht, scheint mir nicht die ganze Breite dessen zu treffen, was die humanistische Tradition bereithielt. Die allgemeine Wendung von der res publica litteraria, die er ständig gebraucht, kann gerade die Differenz von Rhetorik und Logik nicht aufklären. Steht Dannhauers Option fur die >Logik< im Zusammenhang mit dem Einfluß Zabarellas? (74) Oder in Straßburg besonders wirksamer französischer humanistischer (und antiramistischer) Logiker? Es ist außerordentlich interessant, daß schon Dannhauer für die Bedeutung der Hermeneutik auf die Verbreitung der Druckkunst hinweist. Es ist
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unbezweifelbar, daß durch die Druckkunst das Leben der sprachlichen Kommunikation sich grundlegend gewandelt liat. Die Gewohnheit des stillen Lesens, die insbesondere mit dem reformatorischen Pathos des allgemeinen Priestertums zusammenhängt, stellt eine neue Situation dar, bei der es einer ncuen disziplinierten Anleitung bedarf. Zwischen den Schriftzeichen, die als die Sinnspur des Textes begegnen, und dem intendierten Sinn hat sich der Abstand gewaltig vergrößert, seit nicht mehr das gesprochene Wort oder das durch einen Kundigen vorgelesene Wort den Kommunikationsvorgang beherrscht. Hier liegen ganz neue Probleme, die nicht nur den Aufgabenkreis des Verstehens und Auslegens betreffen, sondern ebenso auch die Kunst des Schreibens selber. Auf alle Fälle kann man verstehen, daß hier die wahre Urheberschaft der Hermeneutik zu suchen ist. Dem trägt nicht erst die wissenschaftstheoretische Variante Rechnung, die Dannhauer bringt. Es ist Melanchthon selber, der bei der Umwendung der Rhetorik auf die Auslegungskunst Pate gestanden hat65 •
Aueh Flacius, auf den sich Dilthey berief, kann nicht einfach, wie Jaeger es tut (38), auf die Kontroversliteratur der Theologen abgeschoben werden. Die )Clavis( des Flacius steht zwar im Dienste seines theologischen Anliegens. aber ihre Grundlage ist ganz und gar eine im allgemeinen Sinne philologisch-humanistische. Flacius sucht nachzuweisen. daß die Heilige Schrift durchaus verstanden werden kann - wie jeder andere Text. Insofern verteidigt er, als der große Hebraist und Philologe, der er war, Luthers Losung sacra scriptura sui ipsius interpres gegen die tridentinische Polemik, die die Unentbehrlichkeit der Lehrtradition der Kirche behauptete. Es ist hier nicht der Ort, auf die Frage einzugehen, wie weit Flacius seine Intention erftillt hat, oder besser, ob ihn bei seiner BeweisfUhrung fUr die Verständlichkeit der Bibel ungerechtfertigte dogmatische Vorbegriffe leiten und ob das wirklich ein Mangel ist, wie Dilthey das noch darstellte. Seine Lehre von dem >Scopus<, der aller interpretatorischen Bemühung zugrunde liegt, scheint mir in Wahrheit eng mit der Rechtfertigungstheologie Luthers zusammenzuhängen, so daß sich die neue hermeneutische Besinnung von dem religiösen Sinn der Bemühung um das Lesen der Heiligen Schrift am Ende nicht trennen läßt"". Aber gilt das nicht ftir die Tradition des Humanismus und sein Ideal der Imitatia in ganz entsprechender Weise? Der normative und kanonische Sinn der zu interpretierenden Texte scheint mir - wie bei der Gesetzesauslegung - das bestimmende Moment der ganzen Auslegungsbemühung. Das bedeutet in sich durchaus keine Einschränkung des hermeneuti65 Das habe ich soeben in einem Vortrag vor der Jungius-Gesellschaft gezeigt: ,Rhetorik und Hermeneutik, 1976. Uetzt oben S. 276ff.]. 66 Vgl. die in der vorigen Anmerkung zitierte Studie.
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schen Anspruchs, einen schwer verständlichen Text dem Verständnis näherzubringen. Flacius war in seiner Argumentation so vorsichtig, die Lektüre der Bibel den periti vorzubehalten. Das ist gut humanistisches Erbgut. Aber das ändert nichts daran, daß es am Ende doch der Anspruch der Reformation, jedermann zum Leser der Heiligen Schrift zu machen, war der der Entfaltung der Hermeneutik zugrunde liegt. (Die juristische Hermeneutik blieb demgegenüber immer nur eine professionelle Disziplin.) Eben das stellt die N ach barschaft der Rhetorik ins klare Licht. Auch sie ist ja mehr als eine Sache von Fachleuten. Auch wenn die Kunst der Rede sich besonderer Kunstmittel bedient, die man lernen kann, bleibt sie im Grunde eine natürliche Fähigkeit des Menschen, so gut wie die Kunst des Verstehens. Der Sprachgebrauch des Wortes ;Hermeneutik< ist, genau wie im Falle der Rhetorik, eine Bestätigung dessen. Man sagte im 18. und noch im 19. Jahrhundert von jemandem, der die Kunst des Verstehens und Eingehens auf andere besaß, zum Beispiel von einem Seelsorger, daß er über die ,Hermeneutik< verfuge, und das meint die Kunst, andere Menschen zu verstehen und sich selber ihnen verständlich zu machen 67 • Nun spricht der gelehrte Verfasser als ein überzeugter Anwalt der Res publica litteraria universali" deren Verfall er mit Schopenhauer beklagt (40 Anm. 16). Diesen Verfall, den er wohl im 18. Jahrhundert einsetzen sieht, macht er auch dafLir verantwortlich, daß die von ihm geschilderte humanistische Hermeneutik rasch von plattem Rationalismus (und - wie man hinzuftigen müßte - von pietistisch theologischen Gegcntendenzen) erdrückt worden sei. So durchzieht seine Abhandlung ein polemischer Ton. Er will die gesamte romantische Tradition der Geisteswissenschaften von Dilthey bis zur zeitgenössischen Hermeneutik anprangern, vor allem aber ihre neuere Entwicklung in der ,Richtung Heideggers und Bultmanns< (35). Der Verfasser starrt offenbar ganz fixiert auf einen Begriff von >konstruktiver Hermeneutik<, den er sich gebildet hat und mit dem er auf eine geradezu erheiternde Weise Husserls Begriff der sinngebenden Akte zusammenbringt (83f.). Gegen diese Lehre Husserls gibt es wahrlich Einwände, die vor allem von Heideggers ontologischer Kritik an Husserls Vorurteilen auszugehen hätten. Was hat das mit >konstruktiver Hermeneutik< zu tun? Und was soll >konstruktive Hermeneutik< sein? Ebensowenig hat die Rede von der Ausdruckskraft der Sprache auch nur das geringste mit Heideggers 67 Vf., Ges. Werke Bd. 1, S. 312ff. Dort ist zu ergänzen:JohannPcter Hebel schreibt an seinen Freund Hitzig (Nov. 1804): »Hofrath Volz, der die schönste aller Hcrmeneutiken hat und übt, menschliche Schwachheiten zu verstehen und menschlich auszulegen ... ({. (Briefe der Jahre 1784-1809. Der Gesamtausgabe Erster Band. Hrg. u. erl. v. W. Zentner, Karlsruhe 1957, S. 230). - Auch in den Prosaschriften Seumes findet sich der Ausdruck wiederholt in diesem Sinne. (Seume hatte ja in Leipzig bei Morus Theologie studiert.)
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>Die Sprache spricht( zu tun. Was Heideggers provozierende Formulierung meint, ist die Vorgängigkeit der Sprache vor jedem einzelnen Sprecher. So kann man in einem bestimmten Sinne sagen - aber gewiß nicht in dem vom Verfasser unterstellten Sinne -, daß die Sprache ruf das Denken eine gewisse, aber begrenzte Vorgegebenheit besitzt. Den vernünftigen Sinn dessen, daß >Sprache spricht<, scheint mir das neu-platonische Moment zu enthalten, daß das eine Wort, das aber wahrlich das Wort des Gedankens ist, sich in Worten und Rede artikuliert. Dies Motiv berührt der Verfasser am Schluß seiner Abhandlung selber, wenn er Plotins psyche zitiert (82), zieht daraus aber keinen Gewinn. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Lehre sich sowohl auf Augustin wie auf Nikolaus von Kues berufen kann6~. Die Rolle, die der Pietismus rur die )Psychologisierung< der Auslegung spielt, dürfte dann die entscheidende Vermitt1ung zwischen dem humanistisch-rhetorischen Erbe und der romantischen Theorie darstellen (A. H. Francke, Rambach.)Jaeger erwähnt dieselbe überhaupt nicht. Ihm scheint es eine gewisse Genugtuung zu bereiten, daß die neue Hermeneutik ohne Tradition sei. Wie es damit auch sei, kann er sich jedenfalls nur in verschiedenem Sinne aufDilthey und auf die von Heidegger aus entwickelte Fragestellung einer philosophischen Hermeneutik beziehen. Dilthey hat die Tradition theologischer Hermeneutik aufzuzeigen versucht, in der Schleiermacher und mit ihm die historische Methode der nachromantischen Ara steht. Die vorromantische Vorgeschichte bleibt in der Tat mehr Vorgeschichte als Geschichte. Erst mit der Ausweitung der theologischen und philologischen Auslegungslehre auf die Idee einer allgemeinen historischen Methodenlehre \vird die meuere Hermeneutik( im SinneJaegcrs geboren. Dagegen hat die Wendung der hermeneutischen Theorie, die von Heideggers Kritik am Bewußtseinsidealismus eröffnet wurde, eine sehr alte Geschichte. Hier finden wir die Verknüpfung des hermeneutischen Problems mit der Tradition der praktischen Philosophie seit Aristoteles, die von J. Ritter und von mir gefordert worden ist. Sie läßt sich nicht so einfach abtun. und Gott weiß, warum Jaeger bei )Deuten( und )Verstehen< rot sieht. Das sind in höchstem Maße analytische Prozeduren, die mit irgendeinem irrationalistischen Abenteurerturn nicht das geringste zu tun haben. Sie entsprechen vielmehr der klassischen Tradition der Rhetorik, und nach ]aegers Aufsatz, der rur mich das Verdienst hat, mich zum Studium Dannhauers veranlaßt zu haben, weiß ich, daß auch die aristotelische Logik als Analytik im Sinne der A1ethodus resolutiva eine andere, mögliche Orientierung fur hermeneutische Theorienbildung ist. Mehr freilich kann ich aus Jaegers gelehrtem Beitrag nicht entnehmen als solches )auch<. Warum der logische Aristotelismus Dannhauers innerhalb der res publica litteraria gegenüber Fla0>8
Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 424ff.
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dus und der theologischen Hermeneutik eine Vorzugs stellung einnehmen soll, weiß ich nicht. Daß die vonJaeger sogenannte meuere Hermeneutik< ein oft recht strapaziertes Gebilde ist, wird man gern zugeben. Ihre Thesen und Tendenzen werden manchmal bis zur Karikatur mißverstanden. Aber was Jaeger selber mit der neueren Hermeneutik, die er bekämpft, eigentlich meint? Es klingt bei ihm nach einer irrationalistischen Wunderwaffe. Was in aller Welt meint er mit >Deuten Wenn er Schleiermachers und in der Folge Diltheys Psychologisierung der Interpretation damit im Auge hätte, könnte ich ihm zustimmen. Aber von dem großzügigen Abstand aus, den er als ein Mitglied der Respublica litteraria universalis, so wie er sich geriert, empfindet, rücken ihm Diltheys und E. Bettis Zusammenfassung der idealistisch-hermeneutischen Tradition mit Heidegger und mit meinem eigenen Beitrag in eins zusammen (35). Eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften und eine philosophische Reflexion, die die Grenzen aller Methodik aufdeckt, gelten ihm gleich viel. Wie soll man das verstehen' Daß sie alle des Teufels sind? Ich sehe nur einen Weg, mir klarzumachen, was solche Zusammenschau des Divergenten meinen kann und wie sie sich rechtfertigen ließe. Er bietet sich in dem Ausgangspunkt bei der querelle des anciens el des modernes, die seinerzeit schon Leo Strauss in seinem frühen Spinozabuch69 als Orientierung gewäh1t hat. Strauss hatte dabei klar für die anciens optiert. Inz\vischen ist die Bedeutung dieser querelle für die Enstehung des historischen Bewußtseins vor allem von romanistischer Seite ins Licht gerückt worden (vgl. den von H. R. Jauss eingeleiteten Neudruck von PerraulfÜ ). Hier geht es um ein ernstes Problem. Alle genannten >Hermeneutiken, mit Einschluß der Philosophie des deutschen Idealismus, gehören natürlich zu den >Modernen(. Diltheys lebenslanges Ringen mit dem Gespenst des historischen Relativismus kann die Problematik der >Modernen( gut illustrieren. Die Frage hat mich seit Jahrzehnten beschäftigt: Was soll eine Partcinahme rur die aneiens heute bedeuten? Sie ist doch auf alle Fälle mit der Hypothek behaftet, daß ihr Anwalt nicht einfach mit den Augen der anciens sieht und wie sie denkt, sondern als ein heutiger Historiker dieses Sehen sieht, dieses Denken denkt. So steht auch Jaegcr selbst inmitten einer hermeneutischen Problematik, die ihn mindestens dadurch von den anciens unterscheidet, daß er die zeitgenössische Hermeneutik mit grimmigem Sarkasmus ablehnt. Man kann nicht im Ernst bestreiten, daß eine solche Untersuchung wie die fE Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Berlin 1930. [Vgl. auch meine Arbeit >Hermeneutik und Historismus<, unten S. 387ff.]. 70 Perrault, M., Parallele des anciens et des modemes en ce qui regarde les arts et les scienccs [1688] mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauss: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexionen in der Querelle des anciens et des modernes, München 1964.
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von ihm vorgelegte die Voraussetzungen der nachromantischen Ära, d. h. das historische Bewußtsein ftir sich selbst in Anspruch nimmt. Das gilt fur ihn \vie fUr jeden anderen, daß er zu den >Modernen< zählt. Das bedeutet ganz und gar nicht, daß man mit der Anerkennung dessen die besonderen Lehren der meueren Hermeneutik< in die Vergangenheit zurückprojiziert. Man kann doch auch nichr bestreiten, daß etwa der historische Abstand, der die Christenheit der Zeit Augustins von der Nomadenkultur der Patriarchenzeit trennt, rur Augustin selbst ein echtes hermeneutisches Problem stellte. Die religiöse Aufnahme der alttestamentlichen Schriften durch die Christenheit war durchaus nicht problemlos. In diesem Sinne hat >De doctrina christiana< eine hermeneutische Dimension. So pauschal wird man also mit der Verrechnung der meueren Hermeneutik< auf modernistische Irrtümer nicht vorgehen dürfen. Es könnte vielmehr die Aufgabe hermeneutischer Reflexion sein, sich über den in der klassischen querelle des anciens et des modernes ausgetragenen Gegensatz zu erheben und weder dem Fortschrittsglauben der Moderne noch der Bescheidung in bloßer Nachahmung der Alten das Wort zu reden. Das hieße zugleich, auf der einen Seite das Vorurteil durchschauen, das mit dem Primat des Selbstbewußtseins und dem Gewißheitskanon methodischer Wissenschaftlichkeit verknüpft ist - und auf der anderen Seite das entgegengesetzte Vorurteil kontrollieren, als könnten wir das christliche Weltalter und die moderne Wissenschaft einfach außer Kraft setzen. Das hat Schiller in seiner berühmten Charakteristik Goethes bereits mit vollendeter Klarheit zum Ausdruck gebracht. Den Alten recht geben, kann nicht eine Rückkehr zu ihnen oder ihre Nachahmung sein. Im falle der Hermeneutik kann das nur meinen, daß das neuzeitliche philosophische Denken, das im Selbstbewußtsein gründet, sich seiner Einseitigkeit bewußt wird und sich der hermeneutischen Erfahrung stellt, daß wir mit den Alten manches besser begreifen lernen als mit den Neueren. Sollte es dieser >Subjektivismus< sein, den Jaeger mit der Polemik gegen die ,konstruktive Hermeneutik~ und gegen Husserls >sinngebende Akte< meint? Das wäre freilich sehr nach meinem eigenen Herzen. Aber das scheint mit dem Sinne des Verfassers nicht vereinbar. Wie vertrüge sich das mit seinen Anspielungen auf Heidegger? Was bleibt dann' Noch mehr ohne Tradition sein, als Jaeger selbst der neueren Hermeneutik nachsagt? Die Tradition, in der wir stehen und in der er selbst steht, einfach ignorieren?
22. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 1978
Nicht nur das Wort Hermeneutik ist alt. Auch die Sache, die damit bezeichnet wird, ob sie nun heute mit Interpretation, Auslegung, Übersetzung oder gar nur mit Verstehen wiedergegeben wird, liegt jedenfalls der Idee methodischer Wissenschaft, wie sie die Neuzeit entwickelt hat, weit voraus. Selbst der neuzeitliche Sprachgebrauch spiegelt indessen noch etwas von dem eigentümlichen Doppclaspekt und der Ambivalenz der theoretischen und der praktischen Perspektive, unter der die Sache der Hermeneutik erscheint. Im späten 18. wie im frühen 19. Jahrhundert zeigt vereinzeltes Vorkommen des Wortes Hermeneutik bei einigen Schriftstellern, daß damals der Ausdruck - vermutlich von der Theologie her - in den allgemeinen Sprachgebrauch eindrang und dann selbstverständlich nur die praktische Fähigkeit des Verstehens selber bezeichnete, das heißt, das verständnisvoll einfUhlsame Eingehen auf den anderen. Das wird etwa beim Seelsorger rühmend hervorgehoben. So fand ich das Wort bei dem deutschen Schriftsteller Heinrich Seume (der freilich Student bei Morus in Leipzig gewesen war) und bei Johann Peter Hebel. Aber auch Schleiermacher, der Begründer der neueren Entwicklung der Hermeneutik zur allgemeinen Methodenlehre der Geisteswissenschaften, beruft sich nachdrücklich darauf, daß die Kunst des Verstehens nicht nur Texten gegenüber erforderlich sei, sondern auch im Umgang mit Menschen. So ist Hermeneutik mehr als nur eine Methode der Wissenschaften oder gar die Auszeichnung einer bestimmten Gruppe von Wissenschaften. Sie meint vor allem eine natürliche Fähigkeit des Menschen. Das Schwanken eines Ausdrucks wie )Hermeneutik< zwischen praktischer und theoretischer Bedeutung begegnet auch sonst. So reden wir etwa von >Logik< oder auch dem Fehlen derselben im täglichen Umgang mit Menschen und meinen damit durchaus nicht die spezielle philosophische Disziplin der Logik. Gleiches gilt auch flir das Wort >Rhetorik<, mit dem wir ebenso sehr die !ehrbare Kunst des Redens als die natürliche Gabe und ihre Betätigung bezeichnen. Hier ist es obendrein klar, daß ohne die natürliche Begabung das Lernen des Lernbaren nur zu sehr bescheidenen Erfolgen fUhrt. Mangel an natürlicher Begabung flir das Reden kann durch methodi-
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Weiterentwicklungen
sehe Lehre kaum ausgeglichen werden. Das wird nun sicherlich auch ftir die Kunst des Verstehens, rur die Hermeneutik gelten. Derartiges hat seine wissenschaftstheoretische Bedeutung. Was ist das Hit eine Art von Wissenschaft, die sich mehr \-vie eine Fortbildung natürlicher Gaben und wie eine theoretische Bevvußtmachung derselben darstellt? Für die Wissenschaftsgeschichte stellt das ein offenes Problem dar. Wo gehört die Kunst des Verstehens hin? Steht die Hermeneutik in der Nähe der Rhetorik oder muß man sie mehr in die Nähe der Logik und der Methodenlehre der Wissenschaften rücken? Zu diesen wissenschaftsgeschichtlichen Fragen habe ich selbst kürzlich einige Beiträge zu geben versuchei. Wie der Sprachgebrauch gibt auch diese wissenschaftsgeschichtliche Frage einen Hinweis darauf, daß der für die moderne Wissenschaft grundlegende Methodenbegriff einen Begriff von ,Wissenschaft( abgelöst hat. der gerade nach der Richtung solcher natürlichen Fähigkeit des Menschen hin offen war. So erhebt sich die allgemeine Frage, ob nicht bis heute innerhalb des Systems der Wissenschaften ein Sektor fortbesteht, der sich stärker an die älteren Traditionen des Begriffs von Wissenschaft anschließt als an den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft. Es läßt sich immerhin fragen, ob das nicht mindestens für einen wohlumgrenzbaren Bereich der sogenannten Geisteswissenschaften gilt - unbeschadet der Frage, ob nicht in alles Wissenwollen, auch das der modernen Naturwissenschaft, eine hermeneutische Dimension mithineinspielt. Nun gibt es mindestens ein Vorbild 'i-vissenschaftstheoretischer Art, das einer solchen U morientierung der Methoden besinnung der Geisteswissenschaften eine gewisse Legitimität verleihen könnte, und das ist die von Aristoteles begründete >praktische Philosophie,n. Aristoteles hat gegenüber der platonischen Dialektik, so wie er sie als theoretisches Wissen verstand, für die praktische Philosophie eine eigentümliche Selbständigkeit in Anspruch genommen und eine Tradition praktischer Philosophie eröffnet. die bis ins 19. Jahrhundert hinein ihre Wirkung ausgeübt hat, bis sie schließlich in unserem Jahrhundert durch die sogenannte 'politische Wissenschaft( oder ,Politologie( abgelöst wurde. Bei aller Bestimmtheit, mit der Aristoteles die Idee der praktischen Philosophie gegen die platonische Einheitswissenschaft der Dialektik stellt, ist aber die \vissenschaftstheoretischc Seite der sogenannten )praktischen Philosophie< recht dunkel geblieben. Es gibt bis zum heutigen Tage Versuche, in der ,Methode( der aristotelischen Ethik, die von ihm als 'praktische Philosophie< eingeführt wurde und in der die Tugend der praktischen Vernünftigkeit, die Jetzt in Kleine Schriften IV, S. 148-172 und S. 164-172 Lietzt oben S. 276 ff.]. Als ich über das Thema dieses Aufsatzes im Januar 1978 in Münster sprach, benutzte ich die Gelegenheit. hier dem Gedächtnis meines Kollegen Joachim Ritter meinen Tribut zu zollen, dessen Arbeiten gerade fur diese Frage viel Förderliches enthalten. 71
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Phronesis, eine zentrale Stellung einnimmt, nichts anderes als eine Ausübung praktischer Vernünftigkeit zu sehen. (Daß eine jede menschliche Handlung dOll Maßstab praktischer Vernünftigkeit unterliegt und daher auch der Vortrag der aristotelischen Gedanken zur praktischen Philosophie, sagt nichts darüber, was die Methode derpraktischen Philosophie ist.) Streit über diesen Punkt kann insofern nicht überraschen, als allgemeine aristotelische Aussagen zur Methodik und Systematik der Wissenschaften spärlich sind und offenkundig \veniger die methodische Eigenart der Wissenschaften als die Verschiedenheit ihrer Gegenstandsgebiete im Auge haben. Das gilt insbesondere für das erste Kapitel von Metaphysik Epsilon und seine Dublette in K 7. Dort wird zwar die Physik (und in letzter Abzweckung die )Erste Philosophie<) als theoretische Wissenschaft gegen die praktische und poietische Wissenschaft abgehoben. Aber "venn man prüft, \vie die Unterscheidung der theoretischen und der nichttheoretischen Wissenschaften begründet wird, findet man, daß allein von der Verschiedenheit der Gegenstände solchen Wissens die Rede ist. Nun entspricht das gewiß dem allgemeinen methodischen Grundsatz des Aristotelcs, daß die Methode sich jeweils nach ihrem Gegenstand richten müsse, und \vas die Gegenstände betrifft, so liegt die Sache klar. Im Falle der Physik ist ihr Gegenstand durch Sclbstbewegung ausgezeichnet. Dagegen hat der Gegenstand des herstellenden Wissens, das herzustellende Werk, seinen Ursprung im Herstellenden und dessen Wissen und Können, und ebenso ist das, was der praktischpolitisch Handelnde ausrichtet, von dem Handelnden und seinem Wissen her bestinlmt. So kann der Anschein entstehen, als spräche Aristoteles hier von dem technischen Wissen (zum Beispiel dem des Arztes) und von dem praktischen Wissen dessen, der eine vernünftige Entscheidung trifft (prohairesis) , als ob solches Wissen selber die poietische oder praktische Wissenschaft ausmachte, die der Physik entspricht. Das ist offenkundig nicht der Fall. Die hier unterschiedenen Wissenschaften (denen im theoretischen Bereich die weitere Unterscheidung von Physik, Mathematik und Theologie zur Seite tritt) werden eingeführt als solche, die die Archai und Aitiai zu erkennen suchen. Es handelt sich hier um Arche-Forschung, das heißt, nicht um das jeweils in Anwendung befindliche Wissen des Arztes, Hand\verkers oder des Politikers, sondern um das, was sich darüber im allgemeinen sagen und lehren läßt. Nun ist es bezeichnend, daß Aristoteles über diesen Unterschied hier gar nicht reflektiert. Offenbar ist es rur ihn ganz selbstverständlich, daß auf diesen Gebieten das Wissen im allgemeinen gar keinen selbständigen Anspruch erhebt, sondern stets einschließt, daß es sich in die konkrete Anwendung im Einzelfalle umsetzt. Doch zeigt unsere Überlegung, daß es notwendig ist, die philosophischen Wissenschaften, die den praktischen oder poetischen Vollzug des Handelns oder Herstellens (mit Einschluß des Dichtcns
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und des ,Machens< von Reden) zum Thema machen, als Erforschung dieser Vollzüge von ihnen selbst scharf zu unterscheiden. Praktische Philosophie ist nicht die Tugend der praktischen Vernünftigkeit. Freilich zögert man, den modernen Begriff der Theorie auf die praktische Philosophie anzuwenden, die schon ihrer Sclbstbezeichnung nach praktisch sein will. So ist es ein höchst schwieriges Problem, die Sonderbedingungen von Wissenschaftlichkeit herauszuarbeiten, die auf solchen Gebieten gelten, zumal Aristoteles sie nur mit der vagen Angabe charakterisiert, daß sie weniger genau seien. Im Falle der praktischen Philosophie ist die Sachlage besonders kompliziert und hat eben deshalb eine gewisse methodische Reflexion von seiten des Aristoteles gefordert. Die praktische Philosophie bedarf einer Legitimation eigener Art. Offenbar ist das entscheidende Problem, daß diese praktische Wissenschaft es mit dem allumfassenden Problem des Guten im menschlichen Leben zu tun hat, das nicht wie die Technai sonst auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkt ist. Trotzdem will die Wendung ,praktische Philosophie< gerade sagen, daß es nicht angeht, rur die praktischen Probleme von Argumenten kosmologischer, ontologischer, metaphysischer Art bestimmenden Gebrauch zu machen. Wenn es hier nötig ist, sich auf das CUr den Menschen wichtige, das praktisch Gute, zu beschränken, so ist doch offenbar die Methode, die diese Fragen des praktischen Handelns behandelt, ihrerseits gründlich von praktischer Vernunft verschieden. Schon in dem scheinbaren Pleonasmus einer }theoretischen Philosophie< und erst recht in der Selbstbezeichnung ,praktische Philosophie< liegt, was sich bis auf den heutigen Tag in der Reflexion der Philosophen spiegelt, daß sie nicht ganz auf den Anspruch verzichten kann, nicht nur zu wissen, sondern selber praktische Wirkung zu tun, das heißt, als >Wissenschaft vom Guten im menschlichen Leben( dieses Gute selber zu befördern. Bei den poietischen Wissenschaften, den sogenannten Technai, ist das auch rlir uns eine Selbstverständlichkeit. Sie sind eben ,Kunstleliren<, CUr die der praktische Gebrauch allein entscheidend ist. Im Falle der politischen Ethik ist das ganz anders, und doch ist es kaum möglich, auf einen solchen praktischen Anspruch zu verzichten. So ist er auch bis in unsere Tage hinein fast immer erhoben worden. Die Etliik will nicht nur geltende Normen beschreiben, sondern ihre Geltung begründen oder gar richtigere N armen einfUhren. Mindestens seit Rousseaus Kritik an dem Vcrnunftstalz der Aufklärung ist das aber zu einem wirklichen Problem geworden. Wie soll die philosophische )Wissenschaft von den moralischen Dingen< ihren Existenzanspruch überhaupt legitimieren, wenn in Wahrheit die Unverdorbenheit des natürlichen sittlichen Bewußtseins das Gute und die Pflicht mit unübertrefflicher Genauigkeit und feinster Empfindlichkeit zu kennen und zu wählen weiß? Es ist hier nicht der Ort, wie Kant angesichts der Rousseauschen Herausforderung das Unternehmen der Moralphilosophie begründet hat, in
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extenso zu erörtern, oder auch nur darzustellen, wie sich Aristoteles der gleichen Frage stellt und ihr gerecht zu werden sucht, indem er die besondercn Bedingungen hervorhebt, die an den Lernenden gestellt sind, der eine theoretische Unterweisung über das >praktisch Gute< mit Sinn empfangen kann. 73 Die praktische Philosophie fungiert in unserem Zusammenhang nur als Beispiel rur eine Tradition solchen Wissens, das nicht dem modernen Methodenbegriff entspricht. Unser Thema ist die Hermeneutik, und für sie steht ihre Beziehung Zur Rhetorik im Vordergrund. Auch wenn wir nicht wüßten, daß die neuzeitliche Hermeneutik sich wie eine Art Parallelkonstruktion zur Rhetorik im Zusammenhang mit Melanchthons Wiederbelebung des Aristotelismus entwickelt hat, wäre das wisscnschaftstheoretische Problem der Rhetorik der gegebene Orientierungspunkt. Offenbar ist das Redenkönnen und das Verstehenkönnen von der gleichen Weite und Universalität. Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen. Rhetorik und Hermeneutik haben hier eine sehr enge innere Beziehung. Die kunstvolle Beherrschung solchen Redenkönnens und Verstehenskönnens zeigt sich vollends im schriftlichen Gebrauch, im Schreiben von >Reden< und im Verstehen von Geschriebenem. Hermeneutik läßt sich geradezu als die Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu bringen. Was das fUr eine ,Kunst< ist, können wir nun von der Rhetorik lernen. Was Rhetorik als Wissenschaft ist, was also die Kunst der Rhetorik ausmacht, ist ein Problem, das bereits in den Anfangen wissenschaftstheoretischer Reflexion zum Gegenstand gemacht worden ist. Es war der bekannte Antagonismus zwischen Philosophie und Rhetorik im griechischen Erziehungswesen, der Plato die Frage nach dem Wissenscharakter der Rhetorik stellen ließ. Nachdem Plato im >Gorgias< die gesamte Rhetorik als bloße Schmeichelkunst mit der Kochkunst gleichgesetzt und allem wirklichen Wissen entgegengesetzt hatte, ist der platonische Dialog ,PhaidroS< der Aufgabe gewidmet, der Rhetorik einen tieferen Sinn zu verleihen und ihr eine philosophische Rechtfertigung zuteil werden zu lassen. So wird dort gefragt, was eigentlich an ihr techne sei. Die Perspektiven des )Phaidros< liegen auch noch der aristotelischen Rhetorik zugrunde, die mehr eine Philosophie des menschlichen Lebens, das durch Reden bestimmt ist, darstellt, als eine Technik der Redekunst. Eine solche Rhetorik teilt nun mit der Dialektik die Universalität ihres Anspruchs, sofern sie nicht, wie das sonst für das spezialisierte Können einer Techne gilt, auf einen bestimmten Bereich eingeschränkt ist. Eben darauf 73 [Vgl. dazu meine Arbeit> Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik(, Kl. Sehr. I, S. 179-191; Ges. We,keBd. 41.
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Wcitcrcn t'\vic kl ungen
beruhte es, daß sie mit der Philosophie in Wettbewerb stand und als eine universale Propädeutik mit ihr rivalisieren konnte. Nun will der IPhaidrosl zeigen, daß eine so1che ins Weite gestellte Rhetorik, wenn sie die Enge einer bloßen geregelten Technik überwinden will, die nach Plato nur la pro tes lechnes anankaia malhemala (Phaidr. 269 b) enthält, am Ende in der Philosophie, dem Ganzen des dialektischen Wissens, aufgehen muß. Diese Be\vcisftihrung geht uns hier an, denn \vas im >Phaidros< ftir die Erhebung der Rhetorik über eine bloße Technik zu einem wahren Wissen (das Plato freilich seinerseits )Techne< nannte) gesagt wird, muß sich am Ende auf die Hermeneutik als die Kunst des Verstehens anwenden lassen. Nun ist es eine \veithin akzeptierte Meinung, daß Platü die Dialektik, das heißt die Philosophie, selber als eine Techne verstanden und gegenüber den sonstigen Technai ihre Eigenart nur in dem Sinne ausgezeichnet habe, daß sie ein höchstes Wissen sei, eben das Wissen des Höchsten, das man wissen müsse, des Guten (mcJ[iston mathema). Das Gleiche müßte dann mutatis mutandis auch rur die von ihm geforderte philosophische Rhetorik gelten, und damit am Ende rur die Hermeneutik. Erst Aristoteles habe die folgenschwere Unterscheidung von Wissenschaft, Techne und praktischer Vernünftigkeit Iphronesis) getroffen. Die Konzeption der praktischen Philosophie beruht nun in der Tat auf der aristotelischen Kritik an Platos Idee des Guten. Allein, wenn man genauer hinsieht, zeigt sich, volie ich in einer inzwischen abgeschlossenen Untersuchung" glaubhaft zu machen gesucht habe, daß die Frage nach dem Guten nvar so gestellt wird, als wäre sie die höchste Erfüllungjener selben Idee des Wissens, der die Technai und die Wissenschaften in ihren Bereichen folgen. Aber diese Frage erfLillt sich nicht wirklich in einer höchsten lernbaren Wissenschaft. Jener höchste Lerngegcnstand des Guten (to agallIOn) tritt im sokratischen Elenchos stets in einer negativen Beweisfunktion auf. Sokrates widerlegt den Anspruch der Technai, wirkliches Wissen zu sein. Sein eigenes Wissen ist docta ignorantia und heißt nicht umsonst Dialektik. Nur der weiß, der bis ins letzte Rede und Antwort zu stehen vermag. So kann auch, was die Rhetorik betritTt, diese nur Techne oder Wissenschaft sein, wenn sie Dialektik wird. Nur der ist ein wirklicher Könner im Reden, der auch das, wozu er zu überreden weiß, selber als das Gute und Rechte erkannt hat und damit für es einzustehen vermag. Dies Wissen des Guten und dies Können der Redekunst meint aber nicht ein allgemeines Wissen >des Guten<, sondern das Wissen dessen, wozu man hier und jetzt zu überreden hat, und dann auch, \vie man es zu tun hat und wem gegenüber. Erst wenn man die Konkretion 74 )Die Idee des Guten nvischen Placo und Aristoteles<, (Sitzungs berichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1978, Philos.-histor. Klasse. Abh. 3), Heidelbcrg 1978 [Ge,. Wecke ßd. 7J.
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sicht, die das Wissen des Guten verlangt, versteht man, weshalb die Kunst, Reden zu schreiben, in der weiteren Argumentation eine solche Rolle spielt. Auch sie kann eine Kunst sein. Das erkennt Plato mit seiner versöhnlichen Wendung an Isokrates ausdrücklich an, aber nur dort und dann, wenn einer auch noch obendrein - über die Schv.räche des gesprochenen Wortes hinausum die Schwäche alles Geschriebenen weiß und ihm jeweils, wie aller Rede auch, zu Hilfe zu kommen vermag - als der Dialektiker, der Rede steht. Das ist eine Aussage von grundsätzlicher Tragweite. Wirkliches Wissen muß auch noch, zu allem hinzu, was Wissen ist und das am Ende alles Wißbare, die ,Natur des Ganzen< umschließt, den Kairos kennen, d. h. wissen, wann und wie man zu reden hat. Das aber kann man nicht selber durch Regeln und bloßes Lernen derselben erwerben. Es gibt keine Regeln rur den vernünftigen Gebrauch von Regeln, wie Kant in seiner ,Kritik der Urteilskraft< mit Recht gesagt hat. Bei Plato tritt das in amüsanter Zuspitzung im ,PhaidroS< (268ff.) heraus: wer nur alle ärztlichen Kenntnisse und Verhaltens regeln besäße, aber nicht wüßte, wo und \-vann sie anzuwenden sind, wäre kein Arzt. Der Tragödiendichter oder der Musiker, der nur die allgemeinen Regeln und Verfahrensweisen seiner Kunst gelernt hätte, aber damit kein Werk zustande brächte, wäre kein Dichter oder Musiker (280 b ff.). So muß auch der Redner von all dem das Wo und Wann kennen (hai eukairiai te kai akairiai, 272 a6)' Hier kündigt sich bei Plato bereits eine Überspielung des Techne-Modells lernbarer Wissenschaft an, indem er das höchste Wissen auf die Dialektik hinaus spielt. Weder der Arzt noch der Dichter noch der Musiker wissen ,das Gute<. Der Dialektiker oder der Philosoph, der das wirklich ist, und das heißt kein Sophist ist, ,hat< nicht ein besonderes Wissen, sondern ist in seiner Person die Verkörperung der Dialektik bzw. der Philosophie. Dem entspricht, daß auch im Dialog vom Staatsmann die \-vahre politische Kunst als eine Art Webekunst herauskommt, mit der man Gegensätzliches zur Einheit zusammenzuweben hat (305 e). Sie ist im Staatsmann verkörpert. Ebenso ergibt sich im ,Philebos< das Wissen um das gute Leben als eine Kunst des Mischens, die der einzelne, der sein Glück sucht, in concreto zu vollbringen hat. Für den ,Staatsmann< hat das Ernst Kapp in einer schönen Arbeit gezeigt, und meine eigenen Anfangerarbeiten zur Kritik der entwicklungsgeschichtlichen Konstruktion Werner Jaegers hatten ftir den ,Philebos< Ahnliches im Auge 75. Auf diesem Hintergrunde muß die Ausarbeitung der Unterscheidung von theoretischer, praktischer und poietischer Philosophie, die bei Aristotelcs 75 Ernst Kapp, Theorie und Praxis, Mnemosync 6, 1938, S. 179-194; H. G. Gadamer, Der aristotelische Protrcptikos ... , Hermes 63,1928, S. 138-164; den., Platos dialektischeEthik, 1931. [Ges. WerkeBd. 5,5.164-186 bzw. S.3-163].
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sich in ersten Ansätzen zeigt, gesehen und der wissenschaftstheoretische Stellenwert seiner praktischen Philosophie bestimmt werden. Die dialektische Überhöhung der Rhetorik, die Plato im >Phaidros( vornimmt, erweist sich als wegweisend. Rhetorik ist nicht ablösbar von Dialektik, das Überreden, das ein Überzeugen ist, ist nicht ablösbar vom Wissen des Wahren. Ebenso muß Verstehen vom Wissen her gedacht werden. Es ist Lernenkönnen, und das betont noch Aristoteles, wenn er von synesis handeleö . Nun geht es bei dem wahren dialektischen Redner wie beim Staatsmann und wie bei der Führung des eigenen Lebens um ,das Gute< - und das stellt sich nicht als ein Ergon dar, das durch ein Machen hergestellt wird, sondern als Praxis und Eupraxie (das heißt, als Energeia). Dazu paßt, daß die aristotelische Politik die Erziehung, obwohl sie gute Bürger ,machen< soll, nicht eigentlich als poietische Philosophie behandelt, sondern wie die Lehre von den Verfassungsformen als praktische Philosophie. 77 Nun ist es zwar richtig, daß die aristotelische Idee einer praktischen Philosophie nicht als Ganzes ein wirkliches Nachleben gefunden hat, sondern in der Beschränkung auf die Politik. Diese kam dem Begriff einer Technik näher, sofern sie eine Art philosophisch fundierter Sachkunde im Dienste der gesetzgeberischen Vernunft vermitteln will. Das ließ sich auch noch in das wissenschaftliche Denken der Neuzeit eine Weile integrieren. Dagegen hat die griechische Moralphilosophie weniger in ihrer aristotelischen als in ihrer stoischen Ausprägung die Folgezeit, und insbesondere die Neuzeit bestimmt. Ebenso ist die Rhetorik des Aristoteles auf die Tradition der antiken Rhetorik verhältnismäßig einflußlos geblieben. Sie war fUr die Meister der Redekunst und fur die Anleitung zu einer meisterlichen Redekunst eben zu sehr Philosophie. Aber sie fand, und gerade vermöge ihres ,philosophischen< Charakters, der sie, wie Aristoteles sagt, mit der Dialektik und mit der Ethik (peri ta ah, pragmateia, Rhet. 1356 a26) verband, ihre neue Stunde im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Eben der Gebrauch, den die Reformatoren und insbesondere Melanchthon von der aristotelischen Rhetorik machten, geht uns hier an. Er wandte sie von der Kunst, Reden zu >machen(, auf die Kunst um, Reden mit Verständnis zu folgen, das heißt auf die Hermeneutik. Hier kam zweierlei zusammen: die mit der Erfindung der Buchdruckerkunst einsetzende neue Schriftlichkeit und neue Lesekultur und die theologische Wendung der Reformation gegen die Tradition und zum Schriftprinzip. Die zentrale Stellung der Heiligen Schrift fUr die Verkündigung des Evangeliums fUhrte zu ihrer Übersetzung in die Volkssprachen, und zugleich ftihrte die Lehre von dem allgemeinen Priestertum einen Schriftgebrauch herauf, der neuer Anleitung bedurfte. 76
ENZll.
n
[poL H 1. 1337 a 14ff.].
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Denn überall, wo nun von Laien gelesen wurde, handelte es sich nicht mehr um Menschen, die durch handwerkliche Traditionen bestimmter Berufsstände beim Lesen angeleitet oder auf dem Wege rednerischen Vortrags in das Verständnis eingeleitet wurden. Weder die eindrucksvolle Rhetorik des Juristen noch die des Geistlichen, noch die des Literaten kommt ja dem Leser zu Hilfe. Man weiß, wie schwer es ist, einen fremdsprachigen Text oder auch nur einen schwierigen Text der eigenen Sprache auf Anhieb so vorzulesen, daß man ihn verstehen kann. Wenn man im Unterricht einen Anfanger bittet, einen Satz vorzulesen, ob das nun deutsch, griechisch oder chinesisch ist - es ist immer chinesisch, v·.renn einer vorliest, was er nicht versteht. Erst wenn man versteht, was man liest, kann man so modulieren und rhythmisieren, daß das Gemeinte wirklich herauskommt. So war es eine gesteigerte Schwierigkeit, die Schwierigkeit zu lesen, das heißt, Schrift zum Sprechen zu bringen, die in der Neuzeit die Kunst des Verstehens in verschiedenen Richtungen zu methodischem Selbstbewußtsein erhob. Schriftlichkeit begegnet freilich nicht erst in unseren neuen Jahrhunderten der Lesekultur , deren Ende wir uns heute vielleicht nähern. Die hermeneutische Aufgabe, die mit der Schriftlichkeit gestellt ist, betrifft von jeher nicht so sehr die äußerliche Technik des Entzifferns der Schriftzeichen als die Aufgabe des rechten Verstehens des schriftlich fixierten Sinnes. Wo immer Schrift die Funktion der eindeutigen Festlegung und der kontrollierbaren Beglaubigung ausübt, ist die Abfassung wie das Verstehen des so entstehenden Textes eine Aufgabe, die Kunstübung verlangt, mag es sich dabei um Steuerlisten, um Verträge (die dann manchmal zur Freude unserer Sprachforscher zweisprachig abgefaßt sind) oder um andere religiöse oder rechtliche Beurkundungen handeln. So ist auch die Kunstübung der Hermeneutik auf eine alte Praxis gegründet. Als Hermeneutik macht sie bewußt, was in solcher Praxis geschah. Die Besinnung auf die Praxis des Verstehens läßt sich von der Tradition der Rhetorik gar nicht ablösen, und so war es einer der wichtigsten Beiträge zur Hermeneutik, die schon Mclanchthon gebracht hat, daß er die Lehre von den Scopi, den Gesichtspunkten, entwickelt hat. Melanchthon beobachtete, daß Aristoteles ebenso wie die Redner am Anfang ihrer Schriften auf den Gesichtspunkt hinweisen, unter dem man ihre AusfUhrungen zu verstehen habe. Es ist offenbar etwas anderes, ob man ein Gesetz auszulegen hat oder etwa die Heilige Schrift oder ein )klassisches{ dichterisches Werk. Der >Sinn< solcher Texte bestimmt sich nicht für ein meutrales< Verstehen, sondern von ihrem Geltungsanspruch her. Es war vor allem auf zwei Gebieten, auf denen das Problem der Auslegung von Schriftlichem eine solche alte Kunstübung vorfand und eine neue,
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Wciterent\'v'icklungen
gesteigerte theoretische Bewußtheit hervorbrachte: in der Auslegung von Rechtstexten, die insbesondere seit der justinianischen Kodifikation des römischen Rechts das juristische Handwerk ausmachte, und in der Auslegung der Heiligen Schrift im Sinne der kirchlichen Lehrtradition der Doctrina Christiana. An sie konnte diejuristische und die theologische Hermeneutik der Neuzeit anknüpfen. Selbst unabhängig von aller Kodifikation enthält die Aufgabe der Rechtsfindung und Urteilsfindung eine unaufhebbare Spannung, die schon Aristo(eIes klar zum Thema gemacht hat, die Spannung zwischen der Allgemeinheit der geltenden - kodifizierten oder unkodifizierten - Rechtssatzung und der Einzigkeit des konkreten Falles. Daß die konkrete Fällung eines Urteils in einer Rechtsfrage keine theoretische Aussage ist, sondern ein) Tun von Dingen mit Worten<, liegt dabei auf der Hand. Die rechte Auslegung des Gesetzes ist bei seiner Anwendung in gewissem Sinne vorausgesetzt. Insofern kann man sagen, daß jede Anwendung eines Gesetzes über das bloße Verstehen seines Rechtssinnes hinausgeht und eine neue Realität schafft. Es ist wie bei den reproduktiven Künsten, wo man auch das gegebene Werk, ob es die Noten oder ob es ein dramatischer Text ist, insofern überschreitet, als neue Wirklichkeiten durch die Auffuhrung geschaffen und festgelegt werden. Es bleibt aber bei den reproduktiven Künsten trotzdem sinnvoll zu sagen, daß jede AuffUhrung auf einer bestimmten Auslegung des gegebenen Werkes beruht. Und offenbar bleibt es sinnvoll, unter den vielen möglichen Auslegungen, die solche AufTuhrungen darstellen, Grade der Angemessenheit zu unterscheiden und zu behaupten. Mindestens beim literarischen Theater und im Falle der Musik ist daher die AuffUhrung selber ihrer idealen Bestimmung nach nicht bloß Darstellung, sondern Auslegung, und so sprechen wir insbesondere im Falle der Musik ganz selbstverständlich von der Interpretation eines Werkes durch den reproduzierenden Künstler. Die Anwendung des Gesetzes auf einen gegebenen Rechtsfall scheint mir nun in analoger Weise einen Akt der Auslegung zu enthalten. Das aber heißt, daß jede Anwendung von gesetzlichen Bestimmungen, die als sachgerecht erscheint, den Sinn eines Gesetzes konkretisiert und fort bestimmt. Max Weber hat, wie mir scheint, Recht, wenn er sagt: }) Wirklich bewußt )schöpferisch(, das heißt neues Recht schaffend, haben sich nur Propheten zum geltenden Recht verhalten. Im übrigen ist es durchaus nichts spezifisch Modernes, sondern gerade auch den, o~jektiv betrachtet, am meisten )schöpferischen~ Rechtspraktiken eigen gewesen, daß sie subjektiv sich nur als Mundstücke schon - sei es auch eventuell latent - geltender Normen, als deren Interpreten und Anwender, nicht aber als deren )Schöpfer<, fUhlten." Dazu paßt die alte aristotelische Weisheit, daß die Rechtsfindung immer der ergänzenden Billigkeitserwägung bedarf und daß der Gesichtspunkt der Billigkeit nicht etwa in Widerspruch zum Rechte steht, sondern durch das Nachlassen von dem
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Buchstaben des Rechtes den Rechtssinn gerade erst ganz erfuHt. Daß diese alten Probleme der Rechtsfindung in der beginnenden Neuzeit durch die Rezeption des römischen Rechts eine besondere Zuspitzung erfuhren, sofern traditionelle Formen der Rechtspflege durch das neue Juristenrecht in Frage gestellt wurden, mußte der juristischen Hermeneutik als der Lehre von der Auslegung eine ausgezeichnete Bedeutung verleihen. Die Verteidigung der Aequitas nimmt in der Diskussion der frühen Neuzeit von Budeus bis Vico einen breiten Raum ein. Ja, man v,lird doch wohl sagen dürfen, daß die Rechtsgelehrsamkeit, die den Juristen ausmacht, noch heute mit gutem Grunde .Jurisprudenz< genannt wird, das heißt Rechtsklugheit. Noch das Wort erinnert an das Erbe der praktischen Philosophie, die in der prudentia die höchste Tugend praktischer Vernünftigkeit sah. Es bezeichnet den Verlust der Einsicht in die methodische Eigenart dieser Rechtsgelehrsamkeit und ihrer praktischen Bestimmung, daß im späten 19. Jahrhundert der Ausdruck RechtsvV"l.ssenschaft vorherrschend wurde 78 • Ähnlich liegt die Sache im Felde der Theologie. Zwar gab es seit dem späten Altertum eine Art Auslegungskunst, ja sogar eine richtige differenzierte Lehre von den verschiedenen Auslegungsweisen der Heiligen Schrift, aber die dort seit Cassiodor unterschiedenen Formen der Schriftauslegung dienten mehr als Anweisung, die Heilige Schrift der Lehrtradition der Kirche nutzbar zu machen, als daß sie von sich aus zur Ermitt1ung der rechten Lehre einen Weg der Auslegung der Hl. Schrift angeben wollten. Mit dem reformatiorischen Rückgang auf die Schrift selber und insbesondere mit der Verbreitung des Lesens der Bibel auch außerhalb der Zunfttradition der Kleriker, die in der reformierten Lehre von dem allgemeinen Priestertum impliziert war, stellt sich dagegen das hermeneutische Problem mit ganz anderer Dringlichkeit. Dabei ist es nun wiederum nicht so sehr entscheidend, daß es sich bei der >Schrift( um Texte in fremden Sprachen handelte, deren sachgemäße Übertragung in die Volkssprache und das genaue Verständnis das ganze Rüstzeug sprachlicher, literarischer und historischer Sachkenntnis ins Spiel bringt. Durch den Radikalismus des reformatorischen Rückgangs auf das Neue Testament und durch die Zurücksetzung der Lehrtradition der Kirche trat vielmehr die christliche Botschaft selber mit einer neuen, fremdartigen Radikalität dem Leser entgegen. Das ging 7R Der Ursprung der Verdeutschung vonjurisprudentia durch Rechtswissenschaft (anstelle des älteren >Rechtsgelehrsamkeit<) mag bis auf die Anfange der historischen Schule zurückreichen, der ja jedenfalls Savigny und seine )Zeitschrift ftir die historische Rechtswissenschaft( zugehört. Dort wird die Analogie zur historischen Wissenschaft und die Kritik an einem dogmatischen Naturrechtsdenken hineinspielen. Im übrigen lag die Möglichkeit immer bereit, statt der prudentia die scientia stärker zu akzentuieren und die Billigkeitserwägung der Praxis zuzuschieben. (VgL z. B. Frant;:ois Connans Kritik dieser Tendenz zur juris scientia in seinen Commentaria I 11.) Vgl. auch Koschacker, Europa und das Römische Recht 21953. S. 337.
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weit über die philologischen und historischen Hilfsmittel hinaus, die auch für jeden anderen fremdsprachlichen alten Text nötig waren. Was die reformatorische Hermeneutik hervorkehrte und was insbesonde-
re Flacius hervorhob, war, daß die Botschaft der Heihgen Schrift dem natürlichen Vorverständnis des Menschen in den Weg tritt. Nicht der Gehorsam gegenüber dem Gesetz und die verdienstlichen Werke, sondern allein
der Glaube - und das ist der Glaube an das Unglaubhche der Menschwerdung Gottes und der Auferstehung - verheißt Rechtfertigung. Das überzeugend zu machen, entgegen allem Bestehen auf sich selbst, den eigenen Verdiensten, den >guten Werken<, fordert die Botschaft der Heihgen Schrift, und so ist die ganze Form des christlichen Gottesdienstes, seit die Reformation das in den Vordergrund stellte, noch entschiedener, als sie es in der älteren christlichen Tradition schon war, Bekenntnis und Bekräftigung und
Aufruf zum Glauben. Er beruht damit insgesamt auf der rechten Auslegung der christlichen Botschaft. Daß daher die Schriftauslegung durch die Predigt in den Vordergrund des Gottesdienstes in den christlichen Kirchen getreten
ist, läßt die besondere Aufgabe der theologischen Hermeneutik hervortreten. Sie dient nicht so sehr einem wissenschaftlichen Verständnis der Schrift
als der Praxis der Verkündigung, durch die die Heilsbotschaft den einzelnen erreichen soll, so daß er sich angeredet und gemeint weiß. Daher ist die
Applikation nicht eine bloße >Anwendung< des Verstehens, sondern dessen wahrer Kern. So stellt die Apphkationsproblematik, die gewiß im Pietismus bis zum Extrem übertrieben worden ist, nicht nur ein wesentliches Moment in der Hermeneutik religiöser Texte dar, sondern macht die philosophische Bedeutung der hermeneutischen Frage insgesamt sichtbar. Sie ist mehr als eine methodische Zurüstung. Es bedeutete einen entscheidenden Schritt in der Entfaltung der Herme-
neutik, daß im Zeitalter der Romantik durch Schleiermacher und seine Nachfolger die Hermeneutik zu einer universalen )Kunstlehre, ausgebildet
wurde, die die Eigenart der theologischen Wissenschaft und ihre methodische Gleichberechtigung im Kranze der Wissenschaften legitimieren sollte.
Dabei hatte Schleiermacher, dem das verständnisvolle Eingehen auf den anderen die natürliche Mitgift seines Genies war und der wohl der genialste Freund einer Zeit genannt werden darf, in der die Kultur der Freundschaft einen wahren Höhepunkt erreichte, einen klaren Begriff davon, daß man die Kunst des Verstehens nicht auf die Wissenschaft allein beschränken könne.
Sie spiele vielmehr im geselligen Leben eine hervorragende Rolle, und wenn man die Worte eines geistreichen Mannes, die man nicht sofort eingängig findet, zu verstehen suche, bediene man sich dieser Kunst beständig. Man suche gleichsam zwischen den Worten des geistvollen Gesprächspartners so zu hören, wie man bei Texten manchmal zwischen den Zeilen lesen müsse. Trotzdem zeigt sich gerade bei Schleiermacher der Druck, den der Wissen-
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schafts begriff der Neuzeit auf das hermeneutische Selbstverständnis ausübt. Er unterscheidet nämlich eine laxere Hermeneutik von einer strengeren Praxis der Hermeneutik. Die laxere Praxis gehe davon aus, daß gegenüber den Äußerungen eines anderen das rechte Verstehen und Einverständnis die Regel und das Mißverständnis die Ausnahme sei. Dagegen gehe die strengere Praxis von der Annahme aus, daß der Mißverstand die Regel sei und daß man nur durch kunstvolle Anstrengung den Mißverstand vermeiden und zu richtigem Verständnis gelangen kann. Es ist offenkundig. daß mit dieser Unterscheidung die Aufgabe der Auslegung sozusagen aus dem Verständniszusammenhange herausgedreht wird, in dem das eigentliche Leben des Verstehens sich ständig tauscht. Jetzt hat es eine völlige Entfremdung zu überwinden. Der Einsatz einer künstlichen Veranstaltung, die das Fremde aufschließen soll und zum Eigenen machen, tritt an die Stelle des kommunikativen Könnens, in dem die Menschen miteinander leben und sich mit der Überlieferung, in der sie stehen, vermitteln. Es paßt zu dieser von Schleiermacher eröffneten universalen Thematik der Hermeneutik und insbesondere zu seinem eigensten Beitrag, der Einftihrung der ,psychologischen< Interpretation, die neben die hergebrachte 19rammatische( zu treten habe, daß in seiner Nachfolge im 19.Jahrhundert die Entfaltung der Hermeneutik zu einer Methodenlehre ausgestaltet wurde. Ihr Gegenstand sind die )Texte<, ein anonymer Bestand, dem der Forscher gegenübertritt. Insbesondere hat in der Nachfolge Schlciermachcrs Wilhclm Dilthey die hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften betrieben, um ihre Ebenbürtigkeit mit den Naturwissenschaften zu begründen, indem er Schleiermachers Akzentuierung der psychologischen Interpretation ausbaute. So sah er den eigentlichen Triumph der Hermeneutik in der Auslegung von Kunst"verkcn, die eine unbewußt geniale Produktion zum Bewußtsein erhebt. Dem Kunstwerk gegenüber bedeuten alle traditionellen Methoden der Hermeneutik, die grammatische, historische, ästhetische und psychologische Methode, nur insofern eine höchste Venvirklichung des Ideals des VersteheIlS. als alle diese Mittel und Methoden dem Verstehen des individuellen Gebildes als solchen zu dienen haben. Hier, und insbesondere auf dem Felde der Literaturkritik, setzt die Fortbildung der romantischen Hermeneutik ein Erbe um, das bis in den Sprachgebrauch hinein seine ältere Herkunft verrät, Kritik zu sein. Kritik heißt, das einzelne Gebilde in seiner Geltung und seinem Gehalt zu gewahren und von allem zu unterscheiden, das seinem Maßstab nicht genügt. Dilthcys Anstrengung galt freilich dem Bemühen, den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft auch auf die )Kritik< auszudehnen und den dichterischen )Ausdruck< von einer verstehenden Psychologie her wissenschaftlich aufzuschließen. Auf dem Umweg über die )Litcraturgeschichtc( hat das schließlich den Ausdruck )Literaturwissenchaft< aufkommen lassen. Er spiegelt das Absinken eines Traditions-
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bewußtseins im Zeitalter des \visscnschaftlichen Positivismus des 19. Jahrunderts, das im deutschen Sprachraum die Anglcichung an das Ideal der Illodernen N acu[wisscnschaft bis zur veränderten Namensgebung steigerte. Wenn wir von dem Überblick über die Entfaltung der neuzeitlichen Hermeneutik aus auf die aristotelische Tradition der praktischen Philosophie und der Kunstlehre zurückblicken, stehen wir vor der Frage, vvicwcit sich die bei Plato und Aristoteles greifbare Spannung Z\vischen einem technischen und einem die letzten Zwecke des Menschen einschließenden praktisch-politischen Wissens begriff auf dem Boden der modernen Wissenschaft und Wissenschaftstheorie fruchtbar machen läßt. Gerade was die Hermeneutik betrifft, so liegt es offenbar nahe, die Absonderung der Theorie von der Praxis, die dem neuzeitlichen Begriff der theoretischen Wissenschaft und ihrer praktisch-technischen An\vendung entspricht, mit einem Wissensgedanken zu konfrontieren, der den umgekehrten Weg von der Praxis zu ihrer theoretischen Bnvußtmachung gegangen ist. Daß das Problem der Hermeneutik von dort her eine stärkere Klärung erfahren kann, als von der immanenten Problematik der \vissenschaftlichen Methodenlehre von heute her möglich ist, scheint mir aus ihrem Doppelbezug auf die ihr vorausliegende Rhetorik und auf die praktische Philosophie des Aristotcles zu folgen. Es ist freilich schwierig genug, den wissenschaftstheoretischen Platz einer Disziplin wie der aristotelischen Rhetorik zu bestimlnen. Wir haben doch wohl Ursache, sie mit der Poetik recht nahe zusammenzurücken, und werden den beiden unter dem Namen des Aristoteies erhaltenen Schriften ihre theoretische Absicht nicht abstreiten können. Sie wollen nicht an die Stelle technischer Handbücher treten und in einem technischen Sinne die Kunst des Redens und des Dichtens fördern. Würden sie überhaupt in den Augen des Aristotcles mit der Heilkunst und der Gymnastik, die er gerne als technische Wissenschaften in solchem Zusammenhange nennt, in eine Reihe gehören? Hat er nicht selbst dort, wo er wirklich ein immenses Material politischen Wissens theoretisch verarbeitet hat, in seiner >Politik<, den Problemhorizont der praktischen Philosophie so \veit ausgespannt, daß über der Vielfalt von Verfassungsformen, die er studierte und analysierte, die Frage nach der besten Verfassung und somit eine >praktische( Fragestellung, die Frage nach dem )Guten(, leitend blieb? Wie \vürde \vohl die Kunst des Verstehens, die wir Hermeneutik nennen, in dem Horizont der aristotelischen Denkweise ihren Platz gefunden haben? Hier scheint es mir etwas zu besagen, daß das griechische Wort für Verstehen und Verständnis Synesis, das in der Regel im neutralen Zusammenhang des Phänomens des Lernens und in austauschbarer Nachbarschaft zu dem griechischen Wort für Lernen (Alathesis) zu begegnen pflegt, im Rahmen der aristotelischen Ethik eine Art geistiger Tugend darstellt. Das ist zweifellos eine engere Festlegung des sonst auch von Aristoteles oft in
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neutralem Sinne gebrauchten Wortes, wie sie der entsprechenden terminologischen Einengung von Techfle und Phronesis im gleichen Zusammenhange entspricht. Aber sie ist vielsagend. )Verständnis< begegnet dort also in demselben Sinne, in dem auch die von mir eingangs erwähnte Verwendung von Hermeneutik rur Seclenkenntnis und Seelenverständnis im 18. Jahrhundert üblich war. ,Verständnis( meint dann eine Modifikation der praktischen Vernünftigkeit, die einsichtsvolle Beurteilung der praktischen Erwägungen eines anderen 79 • Darin liegt offenbar mehr als das bloße Verstehen von et\vas Gesagtem. Es schließt eine Art von Gemeinsamkeit ein, durch die das Miteinander-zu-Rate-Gehen, die Erteilung und die Annahme eines Rates, überhaupt erst sinnvoll ist. Nur Freunde und freundschaftlich Gesinnte könnenja raten. Das weist in der Tat ganz in die Mitte der Fragen, die mit der Idee der praktischen Philosophie verknüpft sind, Denn es sind moralische Implikationen, die mit diesem Gegenstück zur praktischen Vernünftigkeit (Phronesis) impliziert sind. Was er hier in seiner Ethik analysiert, sind) Tugenden<, Normbegriffe, die immer schon unter der Voraussetzung ihrer normativen Geltung stehen. Die Tugend der praktischen Vernunft ist nicht als eine neutrale Fähigkeit, zu praktischen Mitteln die richtigen Zwecke zu finden, gedacht, sondern ist untrennbar mit dem verbunden, was Aristoteles Ethos nennt. Ethos ist für ihn die Arche, das >Daß<, von dem aus alle praktischphilosophische Aufklärung auszugehen hat. Er unterscheidet zwar in analytischer Absicht die ethischen und die dianoetischen Tugenden und fUhrt sie auf zwei sogenannte >Teile< der vernünftigen Seele zurück. Aber was fTeile( der Seele bedeuten und ob sie nicht vielleicht viel eher als zwei verschiedene Ansichten des Gleichen gedacht werden müssen wie das Konvexe und das Konkave, hat Aristoteles selber gefragt (EN A 13, 1102 a 28f[), Am Ende müssen auch diese grundlegenden Scheidungen in seiner Analyse dessen, was ftir die Menschen das praktische Gute ist, von dem methodischen Anspruch her gedeutet werden, den seine praktische Philosophie überhaupt erhebt, Sie will sich nicht an die Stelle praktisch vernünftiger Entscheidungen drängen, die jeweils dem einzelnen in der jeweiligen Situation abverlangt werden. Alle seine typisierenden Deskriptionen verstehen sich vielmehr auf solche Konkretion hin, Auch die berühmte Analyse der Struktur der Mitte zwischen Extremen, die den aristotelischen ethischen Tugenden zukommen soll, ist eine vielsagende Leerbestimmung. Nicht nur, daß sie ihren rc1ativen Inhalt von den Extremen her empfangt, deren Profilierung in den sittlichen Überzeugungen und Reaktionen der Menschen eine weit größere Bestimmtheit besitzt, als die löbliche Mitte - es ist das Ethos des ?~ Cl aus von Barmann, Der praktische Ursprung der Kritik (1974), stellt S. 70 seines im übrigen höchst fcirderlichen Buches die Fundierungen auf den Kopf, wenn cr das Verständnis tUt andere auf das ,kritische Verständnis ftir sich selbst( gründen will.
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spoudaio5, das auf diese Weise schematisch beschrieben wird. Das hos dei und das hos 110 orthos logos sind nicht Ausflüchte gegenüber einer strengeren begrifflichen Forderung, sondern Hinweise auf die Konkretion, in der allein Arete ihre Bestimmtheit erreicht. Diese Konkretion zu leisten, ist offenbar die Sache dessen, der phronesis besitzt. Von solchen Überlegungen her gewinnt die vieldiskutierte Eingangsbeschreibung der Aufgabe der praktischen und politischen Philosophie ihren genauen Kontur. Was Burner eine bewußte Anpassung des Aristoteles an den platonischen Sprachgebrauch von techne hie1t 80 , hat seinen wahren Grund in der Interferenz, die zwischen dem >poietischen< Wissen der Techne und der )das Gute( in typischer Allgemeinheit erörternden >praktischen Philosphie< besteht, die ja selber nicht als solche phroniisis ist. Auch hier stehen praxis, prohairesis, teehne und methodos in einer Reihe und bilden gleichsam ein Kontinuum von Übergängen. 81 Dennoch reflektiert Aristoteles auch über die Rolle, die die politike rur das praktische Leben zu spielen vermag. Er vergleicht den Anspruch solcher praktischen Pragmatie mit der Marke, die der Bogenschütze ins Visier nimmt, wenn er sein Jagdziel anvisiert. Mit einer solchen Marke im Blick wird er leichter treffen. Das heißt gewiß nicht, daß die Kunst des Bogenschießens nur darin besteht, daß man auf eine solche Marke zielt. Die Kunst des Bogenschießens muß man vielmehr beherrschen, damit man überhaupt treffen kann. Aber um das Zielen zu erleichtern, um die Richtung des Schießens genauer und besser einzuhalten, dazu vermag die Marke ihren Dienst zu tun. Wendet man den Vergleich auf die praktische Philosophie an, so wird man auch hier davon ausgehen müssen, daß der handelnde Mensch als der, der er - seinem )Ethos( nach - ist, von seiner praktischen Vernünftigkeit bei seinen konkreten Entscheidungen geleitet ist und sicherlich nicht von der Unterweisung eines Lehrers dabei abhängt. Gleichwohl mag es auch hier eine Art Hilfe in der bewußten Vermeidung von Abirrungen sein, die die ethische Pragmatie anzubieten vermag, sofern sie der vernünftigen Überlegung die letzten Ziele ihres HandeIns gegenwärtig zu halten hilft. Sie ist nicht nur auf ein partikulares Feld eingeengt. Sie ist überhaupt nicht )Anwendung( eines Könnens auf einen Gegenstand. Sie mag Methoden entwickeln - es sind mehr Faustregeln als Methoden - und läßt sich als Kunst, die einer besitzt, zu v,lahrer Meisterschaft erheben. Trotzdetll ist sie kein )Können(, das sich wie das Machenkönnen seine Aufgabe jev,reils (beliebig oder auf Verlangen) wählt, sondern sie stellt sich, wie die Praxis des Lebens sie stellt. So ist die praktische Philosophie des Aristoteles et\vas anderes als das angebHch neutrale Fachwissen des Experten, der wie
rur
so [lrn Kommentar seiner Ausgabe der Eth. Nie. zu A t j. " [EN A 1, 1094, 1ff. J.
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ein unbeteiligter Beobachter an die Aufgaben der Politik und der Gesetzgebung herantritt. Das spricht Aristoteles in dem Kapitel, das von der Ethik zur Politik überleitet, mit klaren Worten aus. R2 Praktische Philosophie setzt eben voraus, daß wir durch die normativen Vorstellungen immer schon vorgeformt sind, in denen wir erzogen wurden und die der Ordnung des ganzen sozialen Lebens zugrundeliegen. Das bedeutet keineswegs, daß diese normativen Gesichtspunkte unveränderlich feststehen und unkritisierbar wären. Gesellschaftliches Leben besteht in einem beständigen ProzeG der Umbildung des bisher Geltenden. Doch ,väre es eine Illusion, Normvorstellungen in abstracto ableiten zu wollen und mit dem Anspruch wissenchaftlicher Richtigkeit in Geltung zu setzen. Es geht also um einen Wissenschafts begriff, der das Ideal des unbeteiligten Beobachters nicht gelten läßt, sondern stattdessen die Be\vußtmachung des Gemeinsamen betreibt, das alle verbindet. Ich habe diesen Punkt in meinen Arbeiten auf die hermeneutischen Wissenschaften angewandt und die Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretandum betont. Wer etwas verstehen will, bringt immer schon etwas mit, das ihn vorgreiflich mit dem verbindet, \vas er verstehen will, ein tragendes Einverständnis. So muß der Redner immer an ein solches anknüpfen, wenn ihm in strittigen Fragen Überreden und Überzeugen gelingen wilpG. So ist auch jedes Verstehen der Meinung eines anderen oder eines Textes allen möglichen Mißverständnissen zum Trotz von einem Verständigungs zusammenhang umgriffen und sucht durch allen Dissens hindurch Verständigung. Das schließt sogar noch die Praxis lebendiger Wissenschaft ein. Sie ist auch nicht einfach Anwendung von Wissen und Methoden auf einen beliebigen Gegenstand. Nur wer in einer Wissenschaft steht, nur dem stellen sich die Fragen. Wie sehr die eigenen Probleme, Denkerfahrungen, Nöte und Hoffnungen einer Zeit auch noch die Interessenrichtung der Wissenschaft und der Forschung spiegeln, ist jedem Historiker der Wissenschaften bekannt. Besonders aber setzt sich im Bereich der verstehenden Wissenschaften, deren universales Thema der in Überlieferungen stehende Mensch ist, der alte Universalitätsanspruch fort, den schon Plato der Rhetorik aufgebürdet hatte. Für die Hermeneutik gilt damit dic gleiche Nachbarschaft zur Philosophie, die das provokatorische Ergebnis der Rhetorikdiskussion des ,Phaidros< gewesen war. Das bedeutet durchaus nicht, daß die Methodenstrenge moderner Wissenschaft hier preisgegeben oder auch nur eingeschränkt würde. Die sogenannten )hermeneutischen< oder ,Geisteswissenschaften< unterliegen den "' [ENK 10, 1179b24f. und 1180aI4f.1. IB Hier hat eh. PereIman und seine Schule aus der Erfahrung des Juristen alte Einsichten in die Struktur und Bedeutung der )Argumentationj als eines rhetorischen Vorgangs erneuert.
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gleichen Maßstäben kritischer Rationalität, die das methodische Vorgehen aller Wissenschaften kennzeichnet, auch wenn ihre Interessenahme und ihr Verfahren von dem der Naturwissenschaften wesentlich verschieden sind.
Vor allem aber dürfen sie sich auf das Vorbild der prakrischen Philosophie mit Recht berufen, die bei Aristotc1es auch >Politik< heißen konnte. Sie wurde von Aristotelcs die >am meisten architektonische< gcnanntR4 , sofern sie alle Wissenschaften und Künste der antiken Systematik in sich einbegriff.
Selbst die Rhetorik gehörte zu diesen. So besteht auch der universale Anspruch der Hermeneutik darin, sich alle Wissenschaften einzuordnen, die Erkenntnischancen aller wissenschaftlichen Methoden, wo immer sie sich auf Gegenstände anwenden lassen, wahrzunehmen und sie in allen ihren
Möglichkeiten zu nutzen. Aber wie die ,Politik, als praktische Philosophie mehr ist als eine oberste Technik, so gilt das ebenso von der Hermeneutik. Sie hat alles, was die Wissenschaften erkennen können, in den Verständigungszusammenhang einzubringen, in dem wir selber stehen. Sofern die Hermeneutik den Beitrag der Wissenschaften in diesen Verständigungszusammenhang einordnet, der uns mit der Überlieferung, die auf uns gekommen ist, zu lebens wirklicher Einheit verbindet, ist sie nicht selber eine
Methode und auch nicht ein bloßes Bündel von Methoden, wie es im 19. Jahrhundert von Sehlciermacher und Boeckh bis zu Dilthey und Emilio Betti als Methodenlehre der philologischen Wissenschaften entwickelt wurde, sondern sie ist Philosophie. Sie gibt nicht nur Rechenschaft über die Verfahren, die die Wissenschaft anwendet, sondern auch über die Fragen, die
der Anwendung aller Wissenschaft vorgeordnet sind - wie die Rhetorik, die Plato meinte. Es sind die Fragen, die alles menschliche Wissen und Handeln bestimmen, jene )größten< Fragen, die fLir den Menschen als Menschen und seine Wahl des ~Guten< entscheidend sind.
M
IEN A 1, 1094 a 271.
23. Probleme der praktischen Vernunft 1980
Die Probleme der praktischen Vernunft stellen sich in meinen Augen unter andcrm und vor allem andern in bezug auf das Selbstverständnis der sog. Geisteswissenschaften. Welchen Platz nehmen die humanities, die >Geisteswissenschaften<, im Kosmos der Wissenschaften ein? Ich will versuchen zu zeigen, daß es die praktische Philosophie des Aristoteles ist - und nicht der neuzeitliche Begriff von Methode und Wissenschaft -, die das einzige tragkräftige Modell für ein angemessenes Selbstverständnis der Geisteswissenschaften darstellt. Eine kurze geschichtliche Besinnung soll zu dieser provokatorischen These hinfUhren. Der Begriff der Wissenschaft ist die eigentlich wendende Entdeckung des griechischen Geistes, mit der sich die Geburt dessen vollzog, was \vir die abendländische Kultur nennen; darin liegt ihre Auszeichnung und vielleicht auch ihr Verhängnis, wenn wir sie mit den großen Hochkulturen Asiens vergleichen. Wissenschaft vnr fur die Griechen wesentlich durch die Mathematik repräsentiert. Sie ist die eigentliche und einzige Vernunftwissenschaft. Hier handelt es sich um Unveränderliches, und nur, wo etwas unveränderHch ist, kann man von ihm wissen, ohne jeweils neu hinzusehen. Auch die moderne Wissenschaft hat diesen Grundsatz in gewisser Weise festhalten müssen, um überhaupt sich als Wissenschaft verstehen zu können. Die unveränderlichen Naturgesetze traten an die Stelle dessen, was die großen Inhalte der mathematisch inspirierten griechischen Weisheit, der pythagoreischen Wissenschaft von den Zahlen und den Sternen, waren. Es ist klar, daß unter diesem Modell die menschlichen Dinge wenig Ansatz rur Wissensfähigkeit besitzen. Moral und Politik, auch die Gesetze, die Menschen sich geben, die Werte, nach denen sie leben, die Institutionen, die sie sich schaffen, die Gewohnheiten, denen sie folgen, a11 das kann nicht den Anspruch auf Unveränderlichkeit und damit wirkliche Wissensfahigkeit, d. h. Wißbarkeit erheben. Unter dem Gesichtspunkt der modernen Wissenschaft hat sich nun etwas etabliert, das das antike Erbe des Wissenschafts gedankens auf neue Grundlagen umgelegt hat: Mit Galilei beginnt eine neue Epoche des Wissens von der Welt, Ein neuer Gedanke der Wißbarkeit bestimmt von nun an den Gegen-
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stand der "\visscnschaftlichen Fragestellung. Das ist der Gedanke der Methode und des Primats der Methode über die Sache: Die Bedingungen der methodischen Wißbarkcit definieren den Gegenstand der Wissenschaft. So stellt sich die Frage, was für eine Wissenschaft unter diesen Umständen die Humaniora sind - dieser eigentümliche Komparativ, der einen irnmcr fragen läßt, wie der Superlativ, eine wahrhaft menschliche Wissenschaft, eigentlich aussähe. Was sind diese Wissenschaften von den menschlichen Dingen, die wir die Geisteswissenschaften nennen? Offenbar sind sie zu einem guten Teile dem Wissenschafts gedanken der Neuzeit gefolgt. Aber sie haben zugleich die alte Tradition menschlichen Wissens. die von der Antike her die Bildungsgeschichte des Abendlandes geprägt hat, weiter gepflegt. NochJohn Stuart Mill. der berühmte Verfasser der >Induktiven Logik<, jenes Grundbuches des Selbstverständnisses ftir den wissenschaftlichen Aufbruch. der im 19. und 20. Jahrhundert erfolgte. hat die Geisteswissenschaften als moral seieners bezeichnet, also mit dem antiken Namen. Aber er hat ihren Wisscnschaftscharakter- es ist kein Witzmit der Meteorologie verglichen: Der Grad der Verläßlichkeit von Aussagen in den Geistcs\vissenschaftcn ähnelt der langfristigen Wetterprognose. Das folgt offenkundig aus der Extrapolation eines Begriffes empirischer Wissenschaft, der durch die siegreichen Naturwissenschaften der Neuzeit seine Ausprägung gefunden hat. Seitdem ist es eine der Aufgaben der Philosophie geworden, den >humanen Wissenschaften<, den Humaniora, ihren autonomen Geltungsrang zu verteidigen. Ehedem bedurfte es dessen nicht. Der Überlieferungsstrom, der das ältere Wissen des Menschen vom Menschen unbestritten trug, war die Rhetorik. Das klingt für moderne Ohren ein wenig befremdlich, weil man Rhetorik nur als ein Schimpfwort für unsachliche Argumentation kennt. Man muß aber dem Begriff der Rhetorik seine echte Weite \viedergeben. Sie umfaßt jede auf das Redenkönnen gegründete Kommunikationsform und ist das, was menschliche Gesellschaft zusammenhä1t. Ohne miteinander zu reden und ohne einander zu verstehen und ohne einander auch ohne logisch schlüssige Argumentationen zu verstehen, \vürde es keine menschliche Gesellschaft geben. So gilt es. sich der Bedeutung der Rhetorik und ihrer Stellung zur modernen Wissenschaftlichkeit neu bC\vußt zu werden. Daß die Rhetorik im griechischen Sinne nicht als Wissenschaft ga1t, ist selbstverständlich. Aber ebenso klar ist. daß z. B. auch die Geschichtsschreibung in den Augen eines griechischen Denkers keine Wissenschaft war. Sie gehörte in den gleichen großen Zusammenhang des Gut-Redens und GutSchreibens. Wenn Sextus Empiricus in seinen berühmten skeptischen Argumentationen die Ge1tung der Wissenschaften bezweifelt, fallt es ihm gar nicht ein, die Geschichte auch nur eines Wortes zu würdigen. So ist es ftiruns eine neue Frage: Wie stellt sich in unserer, durch die Wissenschaft, und das
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heißt: durch die moderne Erfahrungswissenschaft, geprägten Zivilisation das Erbe der antiken Rhetorik und damit die Chance einer wissenschaftlichen Begründung und Rechtfertigung des durch sie tradierten Wissens vom Menschen dar? Um das recht anschaulich zu machen, darf ich daran erinnern, wie sich zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert das Ideal des Historikers gewandelt hat. Ich meine den Wandel von Plutarch, dem spätgriechischen Verfasser der Vitae parallelae, dieser Parallelbiographien großer Männer, die ftir das 18. Jahrhundert ein großes Schauspiel moralischer Erfahrung vermitte1ten, zu dem anderen großen und in gewissem Sinne wahrlich größeren Historiker der Griechen, zu Thukydides, der dank seiner kritischen Haltung gegenüber den Berichten seiner Zeitgenossen, seiner Sorgfalt in der Prüfung der Vorurteile aller Zeugenaussagen und vor a11em dank der fast übermenschlichen Unparteilichkeit seines Geschichtswerks wie ein Heros Eponymos der modemen kritischen Historie vor uns steht. Meine Frage ist nun, \vie sich dieses neue Verständnis kritischer Wissenschaftlichkeit mit dem alten Verständnis, das Menschen ftir Menschen und Menschen unter Menschen und Menschen mit Menschen zusammen entwickeln, verträgt. In moderner Fragestellung heißt das: Was ist der erkenntnistheoretische Charakter der sogenannten Geisteswissenschaften? Sind sie wirkhch nur die )ungenauen< Wissenschaften, die am ehesten noch mit der langfristigen Wetterprognose konkurrieren können, oder haben sie ein Privileg, das vielleicht selbst die genaueste unter allen Wissenschaften, ich meine natürlich die einzige reine Vernunftwissenschaft, die es überhaupt gibt, die Mathematik, nicht besitzt? Das erkenntnistheoretische Problem läßt sich auch formulieren als das Verhältnis von Tatsache und Theorie. Als solches ist es ein universales Problem unserer kritischen Selbstrechtfertigung als Männer der Wissenschaft. Es ist nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkt. Es ist klar, daß auch in den Naturwissenschaften die Theorie erst den eigentlichen Erkenntnisgewinn einer Tatsachenfeststellung bestätigen und bestimmen muß. Die bloße Anhäufung von Tatsachen ist überhaupt keine Erfahrung, geschweige denn das Fundament der Erfahrungswissenschaft. Es ist auch auf diesem Gebiet das )hermeneutische< Verhä1tnis zwischen Tatsache und Theorie, das entscheidend ist. Jene erkenntnistheoretischen Versuche, die die Wiener Schule unternommen hatte, mit dem Protokollsatz als dem unbezweifelt gewissen Satz zu arbeiten, weil da der Beobachter und das Beobachtete in unmittelbarer Gleichzeitigkeit zueinander stehen, und die Naturwissenschaften auf dieser Basis zu errichten, sind schon in der frühesten Phase des Wiener Kreises (1934) durch Moritz Schlick, wie mir scheint treffend, widerlegt worden. Indessen, so lange wir allein diese )hermeneutische< Kritik der Tatsachen
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unter dem Gesichtspunkt ihrer Theorien bildung im Auge haben, werden wir den Geisteswissenschaften nur zu einem sehr kleinen Teil gerecht. Dann bleibt am Ende nur das großartige und doch irgend wo donquichottenhafte Unternehmen Max Webers, die )wcrtfreie Wissenschaft< auch auf das Wissen von der Gesellschaft auszudehnen. Das eigentlich hermeneutische Problem stellt sich im Gebiete des Wissens vom Menschen und des Wissens des Menschen über sich selbst nicht in der bloßen Isolierung des Wechselverhältnisses von Theorie und Tatsache. Als diesüdwestdeutscheSchuleimspäten 19.Jahrhundert ihre Herrschaft antrat (und Max Weber folgte ihr in gewissem Umfang), war es die Selbstbegrundung der Geisteswissenschaften auf die Definition dessen, \vas eine historische Tatsache ist, was die Schlüsselposition darstellte. Daß eine historische Tatsache nicht einfach eine Tatsache ist und daß nicht alles, was geschieht, eine historische Tatsache heißen kann, ist klar. Was erhebt eine Tatsache zu einer historischen Tatsache? Die bekannte Antwort lautet: der Wertbezug. Daß es etwas bedeutete, im Lauf der Dinge, daß in der Schlacht von Wagram (oder wo immer es war) Napoleon einen Schnupfen bekam. Nicht alle Schnupfen, die Menschen bekommen, sind historische Tatsachen. Die Theorie der Werte also war die herrschende Theorie. Von Werten gibt es aber keine Wissenschaft. So kamMax WeberbiszuderradikaIen Steigerung, daß Wertfragen überhaupt aus der Wissenschaftauszuschalten seien, und daß sich die Soziologie um eine neue Basis zu bemühen habe. Nun war diese neukantianische Geschichtsphilosophie der Werte gewiß eine schmale Basis. Einflußreicher sollte sich das romantische Erbe des deutschen Geistes erweisen, das Erbe Hegcls und das Erbe Schleiermachers, das insbesondere durch Diltheys Bemühungen um eine hermeneutische Begründung der Geisteswissenschaften verwaltet wurde. Diltheys Denken war weiter gespannt als die Erkenntnistheorie des Neukantianismus, sofern er das volle Erbe Hegels, die Lehre vom objektiven Geist, übernahm. Danach findet der Geist nicht nur in der Subjektivität seines aktualen Vollzugs, sondern auch in der Objektivation von Institutionen, Handlungssystemen und Lebenssystemen wie Wirtschaft, Recht und Gesellschaft seine Verkörperung und wird damit als >Kultur< zum Gegenstand des möglichen Verstehens. Freilich war Diltheys Versuch, die Hermeneutik Schleiermachers zu erneuern und damit sozusagen den Identitätspunkt zwischen dem Verstehenden und dem Verständlichen als Grundlage der Humaniorazu erweisen, insofern zum Scheitern verurteilt, als Geschichte offenbar eine viel tiefere Befremdung und Fremdartigkeit an sich hat, als daß man sie so zuversichtlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Verständlichkeit sehen dürfte. Charakteristisches Symptom [ur Diltheys Verfehlen der ,Faktizität< des Geschehens ist das Detail, daß Dilthey die Autobiographie, also den Fall, in dem jemand einen Geschichtsverlauf sehenden Auges mitdurchlebt und in der Rückschau deutet, ftif das Modell geschichtlichen Verstehens hielt. In Wahrheit ist eine Autobiographie
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in jedem Falle weit eher eine Geschichte der privaten Illusionen als das Verständnis des wirklichen geschichtlichen Geschehens. 85 Demgegenüber bedeutete die Wendung, die das 20. Jahrhundert heraufführte und rur die, wie ich persönlich glaube, Husscrl und Hcidcgger die entscheidenden Leistungen vollbracht haben, die Entdeckung der Grenzen einer solchen idealistischen oder geistesgeschichtlichen Identität zwischen Geist und Geschichte. In Husserls späten Arbeiten \var es das Zauberwort von der ,Lebenswc1t( - eine dieser seltenen und erstaunlichen künstlichen Wortprägungen (das Wort kommt nicht vor Husserl vor), die in das allgemeine Sprach bewußtsein Eingang gefunden haben und dadurch bezeugen, daß sie eine verkannte oder vergessene Wahrheit zur Sprache bringen. So hat das Wort ,Lebensvv-clt( an Voraussetzungen erinnert, die aller wissenschaftlichen Erkenntnis vorausliegen. Vollends war Heideggers Programm einer ,Hermeneutik der Faktizität( und das heißt: die Konfrontation mit dem Unverständlichen des faktischen Daseins selber, ein Bruch mit dem idealistischen Begriff der Hermeneutik. Verstehen und Verstehenwollen werden in ihrer Spannung zu dem wirklichen Geschehen anerkannt. Beides, sowohl Husserls Lehre von der Lebenswclt wie Heideggers Begriff der Hermeneutik der Faktizität halten die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen gegenüber der unendlichen Aufgabe des Verstchens und der Wahrheit fest. Meine These ist nun, daß von dieser Einsicht her Wissen sich nicht allein auf die Frage der Beherrschbarkcit des Anderen und Fremden stellt. Das ist das Grundpathos der wissenschaftlichen Erforschung der Wirklichkeit, das in unseren Naturwissenschaften lebendig ist (wenn auch vielleicht auf dem Grunde eines letzten Glaubens an die Rationalität der Welteinrichtung). Vielmehr behaupte ich: Das Wesentliche in den ,Geisteswissenschaften( ist nicht die Objektivität, sondern die vorgängige Beziehung zum Gegenstande. Ich würde ftir diesen Bereich des Wissens das Ideal der objektiven Erkenntnis, das vom Ethos der Wissenschaftlichkeit aufgerichtet ist, durch das Ideal der ,Teilhabe< ergänzen, Teilhabe an den wesentlichen Aussagen menschlicher Erfahrung, wie sie in Kunst und Geschichte sich ausgeprägt haben. Das ist in den Geisteswissenschaften das eigentliche Kriterium ftir Gehalt oder Gehaltlosigkeit ihrer Lehren. Ich habe in meinen Arbeiten versucht zu zeigen, daß das Modell des Dialogs fLir diese Form der Teilhabe strukturerhellende Bedeutung hat. Denn der Dialog ist auch dadurch ausgezeichnet, daß nicht einer das, was dabei herauskommt, überschaut und behauptet, daß er allein die Sache beherrscht, sondern daß man im Miteinander an der Wahrheit und aneinander teilgewinnt. 85 [Vgl. Ces. Werke Bd. 1, S. 228, 281 und meine Dilthey-Arbeiten in Bd.4 der Gesammelten WerkeJ.
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So viel mußte ich vorausschicken, damit die Bedeutung der praktischen Philosophie des Aristoteles und der mit ihr anhebenden Tradition Glaubwürdigkeit gewinnt. Es geht am Ende darum, einen gemeinsamen Grund hinter Rhetorik und Kritik, hinter der Traditionsgestalt des menschlichen Wissens von ihm selbst und der alles zu Objektivität verfremdenden modernen wissenschaftlichen Forschung herauszuarbeiten. Aristoteles hat die praktische Philosophie, welche die Politik umfaßt, in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit dem Ideal der Theorie und der theoretischen Philosophie entwickelt. Er hat darin die menschliche Praxis zu einem selbständigen Wissensgebiet erhoben. )Praxis( meint das Ganze der praktischen Dinge,
also alles menschliche Verhalten und alle menschliche Selbsteinrichtung in dieser Welt, und dazu gehört nicht zuletzt die Politik und innerhalb derselben die Gesetzgebung. Sie ist ja die Hauptaufgabe, durch deren Lösung sich menschliche Dinge regeln und ordnen, Selbstregelung durch >Verfassung, im weitesten Sinne sozialen und staatlichen Ordnungslebens. Was ist nun der theoretische Platz flir dieses Wissenwollcn und das Nachdenken über Praxis und Politik? Aristoteles erwähnt gelegentlich eine Dreiteilung der ,Philosophia< in theoretische, praktische und poetische Philosophie. (Unter letzterer ist die bekannte >Poetik< auf uns gekommen, und ebenso gehört die Rhetorik dazu, das Machen von Reden.) Aber zwischen den Extremen des Wissens und des Machens steht offenbar die Praxis, die der Gegenstand der praktischen Philosophie ist. Ihre eigentliche Grundlage bildet die zentrale Stellung und wesentliche Auszeichnung des Menschen, daß er sein eigenes Leben nicht Instinktzv.rängen folgend, sondern mit Vernunft fUhrt. Die Grundtugend, die aus dem Wesen des Menschen folgt, ist daher die seine >Praxis< leitende Vernünftigkeit. Der griechische Ausdruck dafUr ist >Phronesis<. Aristoteles' Frage ist: Wie steht diese praktische Vernünftigkeit zwischen dem Selbstbewußtsein des Wissenschaftlers und dem Selbstbewußtsein des Könners, des Machers, des Ingenieurs, des Technikers, des Handwerkers und dergl.? Wie steht diese Tugend der Vernünftigkeit neben und zusammen mit der Tugend der Wissenschaftlichkeit und der Tugend der technischen Könnerschaft? Auch ohne irgend etwas von Aristoteles zu wissen, wird man sofort anerkennen, daß es eine überlegene Stellung sein muß, die dieser praktischen Vernünftigkeit zukommt. Wo kämen wir in unserer Stellung im Leben und mit unseren eigenen Angelegenheiten hin, wenn in allem der Experte regierte oder wenn der Technokrat freien Lauf hätte? Müssen nicht unsere sittlichen wie unsere politischen Entscheidungen unsere sein? Da gilt doch auch: Nur wenn der vernünftige und verantwortliche politische Mensch, dem wir Vertrauen schenken, die Emschcidung trifft, kann man sich politisch ebenso verantwortlich fühlen, wie man als einzelner ftir sich verantwortlich ist.
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Auf dieser durch Sokrates verkörperten Wahrheit beruht die ,praktische Philosophie< des Aristotc1es. Hier muß es eine Rechenschaftsgabe über den Anspruch solcher Vernünftigkeit und Verantwortlichkeit geben, die Sache des Philosophen ist - und das heißt: die Anstrengung des Begriffs fordert. Man muß begreifen, daß und warum es neben der Theorie, neben der alles beherrschenden Leidenschaft des Wissenwollens, die in der Urtatsache der Neugier ihre anthropologische Basis hat, eine andere Art wirklich allumfassenden Vernunftgebrauches gibt, die nicht in einem erlernbaren Könnell oder in blindem Konformismus, sondern in vernünftiger Selbstverantwor_ tung besteht. Nun ist der entscheidende Gedanke, der ebenso rur die sogenannten Geistcs\vissenschaften gilt, \~lie für die >praktische Philosophie/: In beiden kommt die endliche Grundverfassung des Menschen gegenüber der unendlichen Aufgabe des Wissenwollens in die bestimmende Position. Das ist offenkundig die v.rescntliche Auszeichnung dessen, was wir Vernünftigkeit nennen, oder was wir meinen, \~renn wir von jemandem sagen, er sei ein vernünftiger Mensch, daß einer die dogmatische Versuchung, die in jedem vermeintlichen Wissen angelegt ist, überwindet. Dazu gehört, daß man fur das, was man v'lollen, anstreben und durch eigenes Handeln herbeizuführen versuchen kann, in den Gegebenheiten unseres endlichen Daseins seinen Grund finden muß. Die aristotelische Formulierung dafUr ist: In den praktischen Dingen ist das )Daß<, das Hoti, das Prinzip.86 Das ist gar keine geheimnisvolle Weisheit. Es ist nur in seiner wissenschafts theoretischen Bedeutung zu explizieren, daß hier die Tatsache das Prinzip ist. Wie kann Tatsächlichkcit den Charakter des Prinzips, des ersten und bestimmenden >Ausgangspunktes<, gewinnen? Nun, was ,Tatsache< hier meint, ist nicht die Tatsächlichkeit der fremden Tatsachen, mit denen man fertig werden muß, indem man sie sich erklären lernt. Es ist die Tatsächlichkeit der zuinnerst verständlichen und zutiefst gemeinsamen, von uns al1en geteilten Überzeugungen, Wertungen, Gewöhnungcn, der Inbegriff all dessen, was unser Lebenssystem ausmacht. Das griechische Wort fLir diesen Inbegriff solcher Tatsäehlichkeiten ist der wohlbekannte Begriff des ,Ethos<, des durch Übung und Gewöhnung gewordenen Seins. Aristoteles ist der Begründer der Ethik, weil er diesen Charakter der Tatsächlichkeit als bestimmend zu Ehren gebracht hat. Daß solches )Ethos< nicht eine bloße Abrichtung oder Anpassung ist und nichts mit dem Konformismus eines halbschlechten Gewissens zu tun hat, eben das ist durch die) Phronesisl, die verantwortliche Vernünftigkeit gesichert - nota bene: dort, wo einer diese Vernünftigkeit besitzt. Sie ist keine Naturgabe. Daß man sich im Austausch mit seinen Mitmenschen, im Zusammenleben in Gesellschaft und Staat, zu gemeinsamen Überzeugungen und Entscheidungen bekennt, ist also nicht Konformismus, sondern macht gerade die Würde des menschlichen Selbst~
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seins und Selbstverständnisses aus. Wer nicht, wie wir das nennen, asozial ist, der hat den anderen und den Austausch mit dem anderen und den Aufbau einer gemeinsamen Welt der Konvention immer schon akzeptiert. Konvention ist eine bessere Sache, als das Wort in unseren Ohren klingt. Konvention meint Übereingekommensein und Geltung Von Übereinkommen, meint also nicht die Äußerlichkeit eines bloß von außen vorgeschriebenen Regelsystems, sondern die Identität zwischen dem einzelnen Bewußtsein und den im Bewußtsein der anderen repräsentierten Überzeugungen und damit auch mit den Lebensordnungen, die man sich schafft. Das ist in gewissem Sinne eine Frage der Vernünftigkeit, und zwar der Vernünftigkeit nicht nur in dem technisch-pragmatischen Sinne von Vernunft, in dem wir das Wort im allgemeinen gebrauchen. Da sagen wir etwa: Wenn ich das und das ,"vilI, dann ist es einfach vernünftig, als ersten Schritt das und das zu tun. Das ist die berühmte Zweckrationalität von Max Weber. Wer einen bestimmten Zweck will, ist verpflichtet zu wissen, welche Mittel diesem Zweck dienen und welche Mittel ihm nicht dienen. Deswegen ist Ethik nicht nur Gesinnungsfrage. Auch unser Wissen oder Nichtwissen muß verantwortet werden. Wissen gehört zum ,Ethos<. Aber zweifellos ist das nicht alles, was Vernünftigkeit in dem großen sittlichen und politischen Sinne der aristotelischen Phronesü charakterisiert, daß man zu gegebenen Zwecken die rechten Mittel zu nützen "veiß. Das, ,"vorauf in der menschlichen Gesellschaft alles ankommt, ist, wie sie ihre Zwecke setzt oder besser noch, wie sie für die Übernahme von allen zu bejahender Zwecke Einverständnis erzielt und die richtigen Mittel findet. Es ist nun, wie mir scheint, ftir die ganze Frage des theoretischen Wissenwollens auf diesem Gebiet menschlicher Lebenspraxis von entscheidender Bedeutung, daß \vir jev.reils vor aller theoretischen Rechenschaftsgabe eine vorgängige Hingabe aller an ein inhaltlich bestimmendes Ideal der Vernünftigkeit voraussetzen. Eine Wissenschaft mit inhaltlichen Voraussetzungen! Hier entspringt, wie mir scheint, die eigentliche wissenschaftstheoretische Problematik, unter der die praktische Philosophie steht. Aristoteles hat darüber reflektiert. Er hat z. B. gesagt: Um über praktische Philosophie, also über die Normbegriffe menschlichen Verhaltens oder die Normbegriffe vernünftiger Staatsverfassungen etwas zu erlernen, muß man bereits erzogen sein, muß man bereits zur Vernünftigkeit fahig sein!" Hier setzt )Theorie< ,Teilhaben( voraus. Das sind Dinge, die dann auch Kant in ganz anderem Zusammenhang genauer entwickelt hat: Wie kann man, wenn man in der Vernünftigkeit eine moralische Qualität des Menschen erkennt, die nicht von semen theoretischen Fähigkeiten abhängt, Theorie und Philosophie der Moral überhaupt noch zulassen? Es gibt eine berühmte Note von Kant, die in " IEN AI. 1095, 3frJ.
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seinen Notizbüchern überliefert ist, in der er sagt: I,Rousseau hat mich zurecht gebracht!(( Er "vollte damit sagen: Von Rousseau habe ich gelernt, daß dic Vervollkommnung der Zivilisation und die Höhe der Verstandeskultur keine Garantie ftir einen Fortschritt menschlicher Moralität darstellt. In der Tat beruht seine bekannte Moralphilosophie auf dieser tiefen Einsicht. Dic moralische Selbstrechtfertigung des Menschcn ist nicht eine Aufgabe der Philosophie. sondern der Moralität selbst. Ocr so viel berufene kategorische Imperativ Kants hat nichts anderes in abstrakter Reflexion formuliert, als was jedermanns >praktische( Selbstverantwortung sich sagt. Darin liegt die Anerkennung, daß hier nicht ein theoretisches Vernunftwissen irgend welche Überlegenheit über die praktische Autonomie der Vernünftigkeit beanspruchen kann. So steht praktische Philosophie selbst unter praktischen Bedingungen. Ihr Prinzip ist das ,Daße Im kantisehen Sprachgebrauch nennt man das den ,Formalismus( in der Ethik. Es ist dieses Ideal der praktischen Philosophie, das mir ftir unsere Geisteswissenschaften, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, gültig scheint. Nicht umsonst hießen sie die moral seienees. Was hier gewußt wird, ist nicht ein bestimmter Bereich von Objekten, sondern dcr Inbegriff dessen, worin sich die Menschheit selber objektiviert, ihre Tatcn und Leiden so gut wieihrc dauerhaften Schöpfungen. Die praktische Universalität. die im Begriff der Vernünftigkeit (und in ihrem Mangel) impliziert ist, umfaßt uns allesamt und ganz und gar. Sie vermag dcswegen sogar für das theoretische Wissenwollen, das als solches keine Beschränkung kennt, in den Naturwissenschaften so gut wic in den Sozialwissenschaften, eine höchste Instanz der Verantwortlichkeit darzustellen. Das ist die Lehre der praktischen Philosophie des Aristoteles, die er auch IPolitib nannte. Die rechte Anwendung unseres Wissens und Könnens verlangt Vcrnunft. Hier geht das aristotelische Denken, wie mir scheint, semen eigenen, und wenn ich recht sehe, einen [ur unser eigenes Denken über das Wissen vom Menschen und seine Geschichtlichkeit vorbildlichen Weg. Man hat sich, wenn man Aristoteles folgt, nicht im Ausgang von einem allgemeinen Wissenschafts begriff auf die Sondcrart dieses Humanwissens zu besinnen, sondern sucht das sprachliche Medium auf, in dem sich dieses Wissen vermittelt, und gründet sich damit auf seinen wahren Ursprung, die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen. So handelt es sich nicht nur darum, im Denken der Philosophie oder etwa in der Theorie der Sozialwissenschaften der Sprache und der sprachlichen Vermittlung ihre zentrale Stellung anzuweisen, sondern gerade auch die normativen Implikationen bewußt zu machen, die in dem sprachlich Vermittelten stecken. Das kommt nicht von ungefahr. Diltheys bewunderungswürdiges Unternehmen einer Kritik der historischen Vernunft war durch seine Abhängigkeit von dem Methodenvorbild der experimentellen Natuf\vissenschaf-
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ten geprägt und, wie wir heute empfinden, auch behindert. Zwar, seine Abwehr des werttheoretischen Neukantianismus (Rickert) mochte ihr gutes Recht haben. Aber gewiß galt es, über die bloße Gegenstellung zur neukantianischen Werttheorie hinauszukommen. Dergleichen hat Theodor Litt unternommen. Als ich im Jahre 1941 Litts Vortrag in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hörte, derenjüngstes Mitglied ich gerade geworden war, klang mir diese Studie über )Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis( wie eine Synthese, in der Litt seine Zwischenstellung zwischen Kaut und Herder. die er in einem schönen Buche schon 1930 ausgearbeitet hatte, ins Prinzipielle wandte. Wie dort die Sprache zwischen dem Allgemeinen und dem Individuell-Singularen die Brücken schlug, das kam gewiß meinem eigenen Versuch nahe, Heideggers ontologische Kritik an der griechischen Metaphysik und ihrer Folgewirkung, dem Subjektivitätsdenken der Neuzeit, ftir ein besseres Selbstverständnis der Geisteswissenschaften nutzbar zu macher!. Noch heute empfinde ich eine gevvisse Nähe zu Litt, etwa in der Verteidigung der Sprache des Alltages gegenüber der Fachsprache und der >reinen< Begriffsbildung, die in den Naturwissenschaften ihr volles Recht hat. Litt hatte an Hegels Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen und an der Verschmelzung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft sein eigenes Denken zu artikulieren gelernt. Damit war der henneneutische Nerv berührt. Ich selber habe versucht. über den Horizont der neuzeitlichen Wissenschaftstheorie und Philosophie der Geisteswissenschaften hinauszugehen und das hermeneutische Problem an der fundamentalen Sprachlichkeit des Menschen zu entfalten. Am Ende ist die aristotelische Tugend der Vernünftigkeit, die Phroncsis, die hermeneutische Grundtugend selbst. Sie diente mir als ein Modell ftir meine eigene Gedankenbildung. So wurde in meinen Augen die Hermeneutik, diese Theorie der Anwendung, das heißt des Zusammenbringens des Allgemeinen und des Einzelnen, eine zentrale philosophische Aufgabe. Wahrscheinlich ""vürde Theodor Litt meinen eigenen Denkvcrsuchen entgegenhalten, daß eine philosophische Rechtfertigung der Geisteswissenschaften am aristotelischen Modell der Phronesis sich dazu bekennen müßte, ein Apriori geltend zu machen, das nicht einfach das Resultat empirischer Verallgemeinerung sein könne. Die praktische Philosophie des Aristoteles mißverstehe sich jedenfalls, wenn sie im )Oaß< ihr Prinzip sehe und nicht anerkenne, daß sie selber als Philosophie, also als ein theoretisches Wissenwollen, nicht von dem abhängen könne, was in der Erfahrung als ein konkret erfülltes Ethos und als praktisch getätigte Vernunft begegne. Litt würde also auf der transzendentalen Reflexion bestehen, der ja auch Husserl und selbst der Hcidegger von lSein und Zeir< gefolgt war. Das schien mir aber und das scheint mir, so sehr es gegenüber einer empiristisch-induktivi-
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stischen Theorie im Recht ist, zu verkennen, daß solche Reflexion ihre eigene Begründung und Begrenzung aus der Lebenspraxis empfangt, aus der sie jeweils aufsteigt. Diese Einsicht muß sich einer Reflexion verweigern, die sich in idealistischer Aufstufung zum >Geist< versteigt. So glaube ich, daß die aristotelische Vorsicht und die Sclbstbegrcnzung seines Denkens über das Gute im menschlichen Leben am Ende recht behält, und daß sie zu Recht - vielleicht mit Plato - dem philosophischen Gedanken, der gewiß keine bloße empiristische Verallgemeinerung ist, seine Rückbindung an die eigene Endlichkeit und daran, wie vvir dieselbe erfahren - und das ist an unsere geschichtliche Bedingtheit - auferlegt.
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Die Probleme der Hermeneutik sind zwar im Ausgang von einzelnen Wissenschaften, der Theologie und der Jurisprudenz im besonderen, und am Ende auch von den historischen Wissenschaften aus cnt\vickelt worden. Doch war es bereits die tiefe Einsicht der deutschen Romantik, daß das Verstehen und Interpretieren nicht nur, wie Dilthey es formuliert hat, bei schriftlich fixierten Lebensäußerungen ins Spiel kommt. sondern das allgemeine Verhältnis der Menschen zueinander und zur Welt betrifft. Das prägt sich sogar in abgeleiteten Worten, wie etwa dem Wort >Verständnis< aus. In der deutschen Sprache bedeutet Verstehen auch: >für etwas Verständnis haben(. So ist die Fähigkeit des Verstehens eine grundlegende Ausstattung des Menschen, die sein Zusammenleben mit anderen trägt und insbesondere auf dem Wege über die Sprache und das Miteinander des Gespräches vonstatten geht. Insofern ist der universale Anspruch der Hermeneutik außer allem Zweifel. Auf der anderen Seite bedeutet die Spraehlichkeit des Verständigungsgeschehens, das Z\vischen den Menschen spielt, geradezu eine unübersteigbare Schranke, die ebenfalls von der deutschen Romantik in ihrer metaphysischen Bedeutung zuerst positiv gewürdigt worden ist. Sie ist in dem Satz formuliert: Individuum est ineffabile. Der Satz formuliert eine Grenze der antiken Ontologie (ist allerdings nicht einmal aus dem Mittelalter belegbar). Für das romantische Bewußtsein heißt das aber: Sprache erreicht nie das letzte, unaufhebbare Geheimnis der individuellen Person. Das spricht das Lebensgefi1hl des romantischen Zeitalters treffend aus und weist auf eine Eigengesetzlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, die nicht nur seine Grenze ausmacht, sondern auch seine Bedeutung für die Ausbildung des die Menschen vereinigenden common sense. Es ist gut, sich an diese Vorgeschichte unserer heutigen Fragestellung zu erinnern. Das im Ausgang von der Romantik aufblühende Methodenbewußtsein der historischen Wissenschaften und der Druck, den das Vorbild der siegreichen Naturwissenschaften ausübte, haben dazu gefuhrt, daß die philosophische Reflexion die Allgemeinheit der hermeneutischen Erfahrung auf ihre wissenschaftliche Erscheingsform verkürzte. Weder bei Wilhc1m Dilthey, der in bewußter Fortftihrung der Ideen Friedrich Schleiermachers
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und seiner romantischen Freunde die Begründung der Geisteswissenschaf_ ten in ihrer Geschichtlichkeit suchte, noch bei den Neukantianern, die in Gestalt ihrer transzendentalen Kultur- und Wertphilosophie eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Geisteswissenschaften betrieben, stand die ganze Breite der hermeneutischen Grunderfahrung noch im Blick. Das mag im Heimatlande Kants und des transzendentalen Idealismus sogar noch stärker der Fall gewesen sein als in Ländern, in denen les Lettres eine bestimmende Rolle im öffenthchen Leben spielen. Doch hat die philosophische Reflexion am Ende überall eine ähnliche Richtung genommen. So \var mein eigener Ausgangspunkt mit der Kritik am Idealismus und dem Methodologismus der Ära der Erkenntnistheorie gegeben. Insbesondere Heideggers Vertiefung des Begriffs des Verstehens zu einem Existenzial, d. h. zu einer kategorialen Grundbestimmung des menschlichen Daseins, wurde für mich wichtig. Das war der Anstoß, der mich zu einer kritischen Überschreitung der Methodendiskussion und zu einer Ausweitung der hermeneutischen Fragestellung veranlaßte, die nicht mehr allein die Wissenschaft, welche auch immer, sondern ebenso die Erfahrung der Kunst und die Erfahrung der Geschichte in den Bhck nahm. Nun hatte sich Heidegger in kritischer und polemischer Absicht ftir die Analyse des Verstehens an die ältere Rede von dem hermeneutischen Zirkel angelehnt und denselben als einen positiven geltend gemacht und in seiner Daseinsanalytik auf den Begriff gebracht. Man darf darübet aber nicht vergessen, daß es sich hier nicht um Zirkularität als eine metaphysische Metapher handelt, sondern um einen logischen Begriff, der in der Theorie des wissenschaftlichen Beweisens als die Lehre vom drculus vitioSHS seinen eigentlichen Ort hat. Der Begriff des hermeneutischen Zirkels drückt nun dies aus, daß im Bereiche des Verstehens gar keine Ableitung des einen von dem anderen prätendiert wird, so daß der logische Beweisfehlet der Zirkelhaftigkeit hier kein Fehler des Verfahrens ist, sondern die angemessene Beschreibung der Struktur des Verstehens darstellt. 50 ist die Rede vom hermeneutischen Zirkel als Abgrenzung gegen das Ideal der logischen 5ehlüssigkeit in der Nachfolge Schleietmachers durch Dilthey eingeftihrt worden. Berücksichtigt man dabei die wahre Weite, die dem Begriff des Verstehens vom Sprachgebrauch her zukommt, dann weist die Rede von dem hermeneutischen Zirkel in Wahrheit auf die Struktur des In-der-Welt-Seins selber, d.h. auf die Aufhebung der Subjekt-Objektspaltung, die Heideggets transzendentaler Analytik des Daseins zugrunde lag. Wie der, der sich auf den Gebrauch eines Werkzeuges versteht, dasselbe nicht zum Objekt macht, sondern mit ihm hantiert, so ist auch das Verstehen, in dem das Dasein sich in seinem Sein und in seiner Welt versteht, kein Verhalten zu bestimmten Erkenntnisobjekten, sondern sein In-der Welt-Sein selber. Damit verwandelt sich die hermeneutische Methodenlehre Diltheyscher Prägung in eine )Hermcneutik der Fakti-
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zität<, die Heideggers Frage nach dem Sein leitet und die die Hinterfragung des Historismus und Diltheys einschließt. Nun hat Heidegger bekanntlich den Begriff der Hermeneutik später ganz fallen lassen, weil er sah, daß er auf diese Weise den Bannkreis der transzendentalen Reflexion nicht durchbrechen konnte. Sein Philosophieren, das die Abkehr vom Begriff des Transzendentalen als die >Kehre< zu vollziehen suchte, geriet damit zunehmend mehr in eine solche Sprachnot, daß viele Leser Heideggers mehr Poesie als philosophisches Denken darin zu finden glauben. Das halte ich freilich fur einen Irrtum. 8S So war es eines meiner eigenen Motive, Wege zu suchen, auf denen Hcideggers Rede vom Sein, das nicht das Sein des Seienden ist, ausweis bar gemacht werden kann. Das fuhrte mich wieder stärker an die Geschichte der klassischen Hermeneutik heran und nötigte mich, das Neue in der Kritik derselben zur Geltung zu bringen. Meine eigene Einsicht scheint mir, daß keine Begriffssprache, auch nicht die von Heidegger sogenannte >Sprache der Metaphysik(, einen unbrechbaren Bann für das Denken bedeutet, wenn sich nur der Denkende der Sprache anvertraut, und das heißt, wenn er in den Dialog mit anderen Denkenden und mit anders Denkenden sich einläßt. In voller Anerkennung der durch Heidegger geleisteten Kritik am Subjektsbegriff, dem er seinen Hintergrund von Substanz nachwies, suchte ich daher im Dialog das ursprüngliche Phänomen der Sprache zu fassen. Das bedeutete gleichzeitig eine hermeneutische Rückorientierung der Dialektik, die vom deutschen Idealismus als spekulative Methode entwickelt worden war, auf die Kunst des lebendigen Dialogs, in der sich die sokratisch-platonische Denkbewegung vollzogen hatte. Das heißt nicht, daß sie eine bloß negative Dialektik sein wollte, wenn sich auch die griechische Dialektik ihrer grundsätzlichen Unvollendbarkeit stets bewußt gewesen ist. Sie stellt jedoch ein Korrektiv gegenüber dem Methodenideal der neuzeitlichen Dialektik dar, die sich im Idealismus des Absoluten vollendete. Es war aus dem gleichen Interesse, daß ich nicht zuerst an der Erfahrung, die in der Wissenschaft verarbeitet ist, sondern an der Erfahrung der Kunst und der Geschichte selber, mit denen die sogenannten Geisteswissenschaften als ihren Gegenständen zu tun haben, die hermeneutische Struktur aufsuchte. Für das Kunstwerk, wie sehr auch immer es als eine geschichtliche Gegebenheit und damit als möglicher Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung erscheinen mag, gilt, daß es selber uns etwas sagt - und das so, daß seine Aussage niemals abschließend im Begriff ausgeschöpft werden kann. Ebenso gilt rur die Erfahrung der Geschichte, daß das Ideal der Objektivität der Geschichtsforschung nur die eine, sogar nur die sekundäre Seite der Sache ist, während es die Auszeich1I8 fVgl. die Sammlung meiner Studien zu Heideggers Spätwerk ~Heideggers Wege<, Tübingen 1983; Ges. Werke Bd. 3J.
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nung der geschichtlichen Erfahrung selber ausmacht, daß wir in emem Geschehen darin stehen, ohne zu wissen, wie uns geschieht und erst in der Rückschau begreifen, was geschah. Dem entspricht, daß die Geschichte von jeder neuen Gegenwart neu geschrieben werden muß. Am Ende gilt die gleiche Grunderfahrung aber auch ftir die Philosophie und ihre Geschichte. Das läßt sich nicht nur an Plato lernen, der nur Dialoge und keine dogmatischen Texte geschrieben hat. Auch was Hegel das Spekulative in der Philosophie nennt und was seiner eigenen Betrachtung der Geschichte der Philosophie zugrunde liegt, bleibt, wie ich meine, eine beständige Herausforderung fUr das Bemühen, dasselbe in dialektischer Methode zur Darstellung zu bringen. So habe ich gerade die Unvollendbarkeit aller Sinnerfahrung festzuhalten gesucht und aus der Heideggerschen Einsicht in die zentrale Bedeutung der Endlichkeit Schlüsse füt die Hermeneutik gezogen. Die Begegnung mit der französischen Szene bedeutet unter diesen U ffiständen fur mich eine echte Herausforderung. Insbesondere hat Derrida dem späten Heidegger gegenüber geltend gemacht, daß derselbe den Logozentrismus der Metaphysik nicht wirklich gebrochen habe. Sofern er nach dem Wesen der Wahrheit frage oder nach dem Sinn von Sein, spreche er noch immer die Sprache der Metaphysik, die den Sinn gleichsam als einen vorhandenen und aufzufindenden ansieht. Da sei Nietzsehe radikaler. Sein Begriff der Interpretation meine nicht die Auffindung eines vorhandenen Sinnes, sondern die Setzung von Sinn im Dienst des) Willens zur Machte Damit erst werde der Logozentrismus der Metaphysik wirklich gebrochen. Diese vor allem von Derrida entwickelte FortfUhrung Heideggerscher Einsichten, die sich als ihre Radikalisierung versteht, muß folgerichtigerweise Heideggers eigene Nietzsche-Darstellung und Nietzsche-Kritik ganz verwerfen. Nietzsche sei nicht das Extrem der Seinsvergessenheit, das in dem Begriffe des Wertes und des Wirkcns gipfelt. Er sei vielmehr die wahre Überwindung der Metaphysik, in der Heidegger befangen bleibe, wenn er nach dem Sein, nach dem Sinn von Sein wie nach einem aufzufindenden Logos frage. Nun ist klar, daß der späte Heidegger selber, um der Sprache der Metaphysik zu entgehen, seine halbpoetische Sondersprache entwickelte, die von Versuch zu Versuch eine neue scheint und einen vor die Aufgabe stellt, fur sich selber ständig als ein Übersetzer dieser Sprache tätig zu werden. Wieweit es einem gelingt, die Sprache dafUr zu finden, mag problematisch sein - aber die Aufgabe ist gestellt. Es ist die Aufgabe des )Verstehens<. Ich bin mir bewußt - und vollends in der Konfrontation mit den französischen FortfUhrern - daß meine eigenen Versuche, Heidegger zu >übersetzen<, meine Grenzen bezeugen und insbesondere zeigen, wie stark ich selber in der romantischen Tradition der Geisteswissenschaften und ihrem humanistischen Erbe verwurzelt bin. Aber gerade gegenüber dieser
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mich tragenden Tradition des )Historismusl habe ich einen kritischen Stand gesucht. Leo Strauss hat schon früher einmal in einem inzwischen veröffentlichten Privatbrief an mich" den Finger darauf gelegt, daß ftir Heidegger Nietzsehe und rur mich Dilthey den Orientierungspunkt der Kritik bilde. Es mag Hcideggers Radikalität auszeichnen, daß seine eigene Kritik am phänomenologischen Neukantianismus Husserlscher Prägung ihn am Ende tatsächlich in den Stand setzte, in Nietzsehe den extremen Endpunkt dessen zu erkennen, was er die Geschichte der Seinsvergessenheit nennt. Aber das ist eine eminent kritische Feststellung, die doch wohl nicht hinter Nietzsehe zurückfallt, sondern über ihn hinausgeht. Ich vermisse an der französischen Nietzsche-Nachfolge, daß sie das Versucherische von Nietzsches Denken in seiner Bedeutung erfaßt. Nur so, scheint mir, gelangt sie dazu, zu meinen, daß die Erfahrung des Seins, die Heidegger hinter der Metaphysik aufzudekken bemüht ist, von Nietzsches Extremismus an Radikalität noch übertroffen werde. In Wahrheit kommt vielmehr in Heideggers Nietzsche-Bild die tiefe Zweideutigkeit, daß er ihm bis in das letzte Extrem hinein folgt und gerade dort das Un-Wesen der Metaphysik am Werke sieht, sofern im Werten und Umwerten aller Werte in Wahrheit Sein selber zu einem Wertbegriffim Dienst des }Willens zur Macht< wird. Heideggers Versuch, das Sein zu denken, geht weit über solche Auflösung der Metaphysik in Wertdenken hinaus oder besser: er geht hinter die Metaphysik selber zurück, ohne in dem Extrem ihrer Selbstaufläsung Genüge zu finden, wie Nietzsche. Solches Zurückfragen hebt den Begriff des Logos und seine metaphysischen Implikationen nicht auf, aber erkennt seine Einseitigkeit und zuletzt }Oberflächlichkeit<. Daftir ist von entscheidender Bedeutung, daß das Sein nicht in seinem Sich-Zeigen aufgeht, sondern mit derselben Ursprünglichkeit. in der es sich zeigt, sich auch zurückhält und entzieht. Das ist die eigentliche Einsicht, die zuerst Schelling gegen den logischen Idealismus Hcgcls geltend gemacht hatte. Heidegger nimmt diese Frage wieder auf, indem er zugleich seine begriffliche Kraft daftir einsetzt, die Schelling gemangelt hatte. So war ich meinerseits benlüht, die Grenze nicht zu vergessen, die in aller hermeneutischen Erfahrung von Sinn impliziert ist. Wenn ich den Satz schrieb: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprachc~<90, so lag darin, daß das, was ist, nie ganz verstanden werden kann. Es liegt darin, sofern alles, was eine Sprache fuhrt, immer noch über das hinausweist, was zur Aussage gelangt. Es bleibt, als das, \vas verstanden werden soll, das, was zur Sprache kommt - aber freilich wird es immer als etwas genommen, wahr-genommen. Das ist die hermeneutische Dimension, in der Sein }sich zeigt<. Die 69 l!Corrcspondencc conccrning Wahrheit und Methode-Leo Strauss and Hans-Georg Gadamer<. IndependentJoumal ofPhilosophy 2 (1978), S. 5-12J. 90 Wahrheit und Mcthodc. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Ges. WerkeBd. 1, S. 478).
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iHermeneutik der Faktizität< bedeutet eine Verwandlung des Sinnes Von Hermeneutik. Freilich bin ich bei meinem Beschreibungsversuch der Probleme, den ich unternahm, durchaus der Leitung der an Sprache zu machenden Sinnerfahrung gefolgt, um an ihr die ihr gesetzte Grenze aufzu\veisen. Das )Sein zum Texte<, an dem ich mich orientierte, kann es gewiß nicht an Radikalität der Grenzerfahrung mit dem iSein zum Tode< aufnehmen und ebenso wenig bedeutet die unvollendbare Frage nach dem Sinn des Werkes der Kunst oder nach dem Sinn der Geschichte, die uns \viderfahrt, ein ebenso ursprüngliches Phänomen wie die dem menschlichen Dasein aufgegebene Frage seiner eigenen Endlichkeit. Ich kann daher verstehen, daß der spätere Heidegger (und Derrida wäre darin mit ihm vermutlich einig) der Meinung war, daß ich den Bannkreis der phänomenologischen Imnlanenz, wie sie Husserl konsequent durchhält und \vie sie auch meiner neukantianischen Erstprägung zugrunde lag, nicht wirklich verlasse. Ich kann auch verstehen, daß man diese methodische >Immanenz< in dem Festhalten an dem hermeneutischen Zirkel zu erkennen glaubt. In der Tat erscheint mir, diesen brechen zu wollen, als eine unvollziehbare, ja als eine wahrhaft sinnwidrige Forderung. Denn diese Immanenz ist, übrigens wie bei Schleiermacher und seinem Nachfolger Oilthe)', nichts als eine Beschreibung dessen, 'ivas Verstehen ist. Seit Herder erkennen wir in >Verstehen( mehr als ein methodisches Verfahren, das einen gegebenen Sinn aufdeckt. Angesichts der Weite dessen, was Verstehen ist, darf die Zirkularität, die zwischen Verstehendem und dem, was er versteht, kreist, echte Universalität Hir sich in Anspruch nehmen, und gerade hier liegt der Punkt, wo ich meine, Heideggers Kritik an dem phänomenologischen Immanenzbegriff, der in Husserls transzendentaler Letztbegründung impliziert ist, gefolgt zu sein. 91 Der dialogische Charakter der Sprache, den ich herauszuarbeiten suchte, läßt den Ausgangspunkt in der Subjektivität des Subjekts, gerade auch den des Sprechers in seiner Intention auf Sinn, hinter sich. Was im Sprechen herauskommt, ist nicht eine bloße Fixierung von intendiertem Sinn, sondern ein beständig sich wandelnder Versuch oder besser, eine ständig sich wiederholende Versuchung, sich auf etwas einzulassen und sich mit jemandem einzulassen. Das aber heißt, sich aussetzen. Sprechen ist so wenig eine bloße Ausfacherung und Geltendmachung unserer Vorurteile, daß es vielmehr dieselben aufs Spiel setzt - dem eigenen Zweifel preisgibt, wie der Entgegnung des anderen. Wer kennt nicht die Erfahrung, - und vollends gegenüber dem anderen, den wir überzeugen wollen - wie die guten Gründe, die man hat, und erst recht die guten Gründe, die gegen einen sprechen, ins Wort drängen. Die bloße Präsenz des anderen hilft, dem wir begegnen, noch bevor er zur 91 [Schon 1959 habe ich das in dem Heidegger gewidmeten Aufsatz> Vom Zirkel des Verstchensl zu zeigen versucht. Vgl. oben S. 57ff. J.
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Entgegnung den Mund aufmacht, die eigene Befangenheit und Enge aufzudecken und aufzulösen. Was uns hier zur dialogischen Erfahrung wird, beschränkt sich nicht auf die Sphäre der Gründe und Gegengründe, in deren Austausch und Vereinigung der Sinn jeder Auseinandersetzung enden mag. Es ist vielmehr, wie die beschriebenen Erfahrungen zeigen, noch etwas anderes darin, sozusagen eine Potentialität des Andersseins, die über jede Verständigung im Gemeinsamen noch hinaus liegt. Das ist die Grenze, die Hege! nicht überschreitet. Er hat zwar das spekulative Prinzip, das im >Logos< waltet, erkannt und sogar in dramatischer Konkretion zur Ausweisung gebracht. Er hat die Struktur des Selbstbewußtseins und der )Selbsterkenntnis im Andersseio< als die Dialektik der Anerkennung entfaltet und diese bis zum Kampf aufLeben und Tod zugespitzt. Ähnlich hat Nietzsches psychologischer Tiefblick das Substrat von >Wille zur Macht< in aller Hingabe und Aufopferung ins Bewußtsein gehoben: ))Auch im Knecht ist noch Wille zur Macht<<. Daß sich diese Spannung von Selbstaufgabe und Selbstbezug in die Sphäre der Gründe und der Gegengründe und damit in die sachliche Auseinandersetzung hinein fortsetzt, ihr gleichsam eingelagert ist, stellt aber den Punkt dar, an dem Heidegger ftir mich bestimmend bleibt, gerade weil er den ~Logozentrismus< der griechischen Ontologie darin erkennt. Hier wird eine Grenze des griechischen Vorbildes ftihlbar, die vom Alten Testament, von Paulus, von Luther und deren modernen Erneuerern vor allem, kritisch geltend gemacht wird. In der berühmten Entdeckung des sokratischen Dialoges als der Grundform des Denkens ist diese Dimension am Dialog gar nicht zum begrifflichen Be"\vußtsein gekommen. Das geht sehr wohl damit zusammen, daß ein Schriftsteller von der poetischen Imagination und Sprachkraft eines Plato die charismatische Figur seines Sokrates so zu schildern wußte, daß die Person und die erotische Spannung, die um sie zittert, wirklich zur Erscheinung kommt. Aber wenn dieser sein Sokrates in seiner Gesprächsftihrung auf der Rechenschaftsgabe besteht, andere ihres Scheinwissens überfuhrt und sogar den anderen zu sich sc1ber zu bringen vermag, so setzt er doch immer zugleich voraus, daß der Logos allen gemeinsam ist und nicht der seine. Die Tiefe des dialogischen Prinzips ist, wie schon angedeutet, erst in der Abenddämmerung der Metaphysik, im Zeitalter der deutschen Romantik, zu philosophischem Bewußtsein gelangt und in unserem Jahrhundert erneut gegen die Subjektsbefangenheit des Idealismus geltend gemacht worden. Hier habe ich angeknüpft und frage, wie sich die Gemeinsamkeit des Sinnes, die sich im Gespräch aufbaut, und die Undurchdringlichkeit der Andersheit des anderen miteinander vermitteln und was Sprachlichkeit im letzten Betracht ist: Brücke oder Schranke. Brücke, durch die der eine mit dem anderen kommuniziert und über dem fließenden Strome der Andersheit Selbigkeiten aufbaut, oder Schranke, die
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unsere Selbst aufgabe begrenzt und uns von der Möglichkeit abschrankt, uns selber je ganz auszusprechen und mitzuteilen. Im Rahmen dieser allgemeinen Fragestellung stellt nun der Begriff des >Textes< eine Herausforderung eigener Art dar. Das ist abermals etwas, was uns mit unseren französischen Kollegen verbindet oder vielleicht auch von ihnen trennt. Jedenfalls war dies mein Motiv, mich mit dem Thema >Text und Interpretation< neu auseinanderzusetzen. Wie steht Text zur Sprache? Was kann von Sprache in Text hinüber? Was ist Verständigung zwischen Sprechenden und was bedeutet es, daß uns so etwas wie Texte gemeinsam gegeben sein können oder gar, daß in der Verständigung miteinander etwas herauskommt, das wie ein Text fur uns ein- und dasselbe ist? Wieso hat der Begriff des Textes eine so universale Ausdehnung erfahren können? Für jeden, der sich die philosophischen Tendenzen unseres Jahrhunderts vor Augen fUhrt, ist es offenkundig, daß es sich unter diesem Thema um mehr handelt als um Reflexion über die Methodik der philologischen Wissenschaften. Text ist mehr als der Titel fur das Gegenstandsfeld der Literaturforschung. Interpretation ist mehr als die Technik der wissenschaftlichen Auslegung von Texten. Beide Begriffe haben im 20. Jahrhundert ihren Stellenwert im ganzen unserer Erkcnntnis- und Wcltgleichung gründlich verändert. Gewiß hängt diese Verschiebung mit der Rolle zusammen, die das Phänomen der Sprache in unserem Denken inzwischen einnimmt. Aber das ist nur eine tautologische Aussage. Daß die Sprache eine zentrale Stellung im philosophischen Gedanken erworben hat, hängt vielmehr seinerseits mit der Wendung zusammen, die die Philosophie im Laufe der letzten Jahrzehnte genommen hat, Daß das Ideal der \vissenschaftlichen Erkenntnis, dem die moderne Wissenschaft folgt, vom Modell des mathematischen Entwurfs der Natur ausgegangen war, wie ihn Galilei in seiner Mechanik zuerst entwikkelte, bedeutete ja, daß die sprachliche Weltauslcgung, d. h. die in der Lebenswelt sprachlich sedimentierte Welterfahrung, nicht länger den Ausgangspunkt der Fragestellung und des Wissenwollens bildete. Jetzt ist es das aus rationalen Gesetzen Erklärbare und Konstruicrbare, was das Wesen der Wissenschaft ausmacht. Damit verlor die natürliche Sprache, auch wcnn sie ihre eigene Weise, zu sehen und zu reden, festhält, ihren selbstverständlichen Primat. Es war eine konsequente Fortführung der Implikationen dieser modernen mathematischen Naturwissenschaft, daß das Ideal der Sprache in der modernen Logik und Wissenschaftstheorie durch das Ideal der eindeutigen Bezeichnung ersetzt wurde. So gehört es in den Zusammenhang der Grenzerfahrungen, die mit der Universalität des wissenschaftlichen Weltzugangs verbunden sind, wcnn sich inzwischen die natürliche Sprache als ein >Universale{ erneut in das Zentrum der Philosophie verlagert hat. Freilich bedeutet das nicht eine bloße Rückkehr zu den lebens weltlichen
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Erfahrungen und ihrer sprachlichen Sedimentation, die wir als den Leitfaden der griechischen Metaphysik kennen und deren logische Analyse zur aristotelischen Logik und zur Rrammatica speculativa ruhrte. Vielmehr wird jetzt nicht ihre logische Leistung, sondern die Sprache als Sprache und ihrc Schematisicrung des Weltzugangs als solche bewußt, und damit verschieben sich die ursprünglichen Perspektiven. Innerhalb der deutschen Tradition stellt das eine Wiederaufnahme romantischer Ideen dar - Schlegels, Humboldts usw. Weder bei den Neukantianern noch bei den Phänomenologen der ersten Stunde war das Problem der Sprache überhaupt beachtet worden. Erst in einer zweiten Generation wurde die Zwischcnwclt der Sprache zum Thema, so bei Ernst Cassirer und vollends bei Martin Heidcgger, dem vor allem Hans Lipps folgte. Im angelsächsischen Raum zeigte sich ähnliches in der Fortentwicklung, die Wittgenstein von dem Ausgangspunkt bei RusselJ aus genommen hat. Freilich handelt es sich fur uns jetzt nicht so sehr um eine Philosophie der Sprache, die auf dem Boden der vergleichenden Sprachwissenschaften aufbaute, oder um das Ideal einer Konstruktion von Sprache, das sich einer allgemeinen Zeichen theorie einordnet, als um den rätselhaften Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen. So haben wir auf der einen Seite die Zeichentheorie und Linguistik, die zu neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise und den Aufbau von sprachlichen Systemen und von Zeichensystemen gefLihrt haben, und auf der anderen Seite die Theorie der Erkenntnis, die realisiert, daß es Sprache ist, \\'as allen Weltzugang überhaupt vermittelt. lleides wirkt dahin zusammen, die Ausgangspunkte einer philosophischen Rechtfertigung des wissenschaftlichen Weltzugangs in einem neuen Lichte zu sehen. Deren Voraussetzung bestandja darin, daß sich das Subjekt in methodischer Selbstgewißheit mit den Mitteln der rationalen mathematischen Konstruktion der Erfahrungswirklichkeit bemächtigt und ihr in Urteilssätzen Ausdruck gibt. Damit erfullte es seine eigentliche Erkenntnisaufgabe, und diese ErfUllung gipfelt in der mathematischen Symbolisierung, in der sich die Naturwissenschaft allgemeingültig formuliert. Die Zwischenv.relt der Sprache ist der Idee nach ausgeklammert. Sofern sie als solche jetzt bewußt wird, zeigt sie sich als die primäre Vermittc1theit allen Weltzugangs. Damit wird die Unüberschreitbarkcit des sprachlichen Wcltschemas klar. Der Mythos des Sclbstbewußtseins, das in seiner apodiktischen Selbstgewißheit zum Ursprung und Rechtfertigungsgrund aller Geltung erhoben worden war, und das Ideal der Letztbegründung überhaupt, um das sich Apriorismus und Empirismus streiten, verliert seine Glaubwürdigkeit angesichts der Priorität und Unhintergehbarkeit des Systems der Sprache, in dem sich alles Bewußtsein und alles Wissen artikuliert. Wir haben durch Nietzsehe den Zweifel an der Begründung der Wahrheit in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins gelernt. Wir haben durch Freud die erstaunlichen wissenschaftlichen Ent-
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deckungen kennen gelernt, die mit diesem Zweifel Ernst machten, und an Heideggers grundsätzlielier Kritik am Begriff des Bewußtseins die begriffiiehen Voreingenommenheiten eingesehen, die aus der griechischen LogosPhilosophie stammen und in moderner Wendung denBegriffdes Subjektes ins Zentrum rückten. All das verleiht der >Sprachlichkeit( unserer Welterfahrung den Primat. Die Zwischenwclt der Sprache erweist sich gegenüber denIllusionen des Se1bstbewußtseins ebenso wie gegenü ber der N ai vität eines positivistischen Tatsachenbegriffs als die eigentliche Dimension dessen, was gegeben ist. Man versteht von da den Aufstieg des Begriffes der Interpretation. Das ist ein Wort, das ursprünglich auf das Vermittlungsverhältnis, auf die Funktion des Mittelsmanns zwischen Sprechern verschiedener Sprachen ging, d. h. also auf den Übersetzer, und wurde dann von dort auf die Aufschließung von schwerverständlichen Texten überhaupt übertragen. In dem Moment, in dem sich die Zwischcnwelt der Sprache dem philosophischcnBewußtsein in ihrer prädeterminierenden Bedeutung darstellte, mußte nun auch in der Philosophie Interpretation eine Art Schlüsselstellung einnehmen. Die Karriere des Wortes begann mit Nietzsche und wurde gleichsam zur Herausforderung allen Positivismus. Gibt es das Gegebene, von dessen sicherem Ausgangspunkte aus die Erkenntnis nach dem Allgemeinen, dem Gesetz, der Regel sucht und darin ihre Erftillung findet? Ist das Gegebene nicht selbst Resultat einer Interpretation? Interpretation ist es, was zwischen Mensch und Welt die niemals vollendbare Vermittlung leistet, und insofern ist es die einzig wirkliche Unmittelbarkeit und Gegebenheit, daß wir etwas als etwas verstehen. Der Glaube an die Protokollsätze als das Fundament aller Erkenntnis hat auch im Wiener Kreis nicht lange gewährt. 92 Die Begründung der Erkenntnis kann selbst im Bereich der Naturwissenschaften der hermeneutischen Konsequenz nicht ausweichen, daß das sogenannte Gegebene von der Interpretation nicht ablös bar ist. 93 Erst in deren Lichte wird etwas zu einer Tatsache und erweist sich eine Beobachtung als aussagekräftig. Radikaler noch hat Heideggers Kritik den Bewußtseinsbegriff der Phänomenologie und - ähnlich wie Scheler - den Begriff der )reinen Wahrnehmung< als dogmatisch entlarvt. So wurde im sogenannten Wahrnehmen selber das hermeneutische Etwas-als-etwas-Verstehen aufgedeckt. Das aber heißt in letzter Konsequenz, daß Interpretation nicht eine zusätzliche Prozedur des Erkennens ist, sondern die ursprüngliche Struktur des )In-der-Welt-Seins< ausmacht. Aber heißt das, daß Interpretation ein Einle,gcn von Sinn und nicht ein 92 {Moritz Schlick, Über das Fundament der Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze 1926-1936, Wien 1938, S. 290-295 und 300-309]. ~3 [HierfUr wäre auf die neuerc Wissenschaftstheorie zu verweisen, auf die J. C. Weinshelmer, Gadamer's Hermeneutics - A Reading of Truth and Method (Yale 1985), ein-
geht].
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Finden von Sinn ist' Das ist offenbar die durch Nictzsche gestellte Frage, die über Rang und Reichweite der Hermeneutik wie über die Einwände ihrer Gegner entscheidet. Jedenfalls ist fcstzuhalten, daß erst vom Begriff der Interpretation aus der Begriff des Textes sich als ein Zentral begriff in der Struktur der Sprachlichkeit konstituiert; das kennzeichnet ja den Begriff des Textes, daß er sich nur im Zusammenhang der Interpretation und von ihr aus als das eigentlich Gegebene, zu Verstehende darstellt. Das gilt selbst in der dialogischen Verständigung, sofern man sich umstrittene Aussagen wiederholen läßt und damit die Intention auf verbindliche Formulierung verfolgt, ein Vorgang, der dann in der protokollarischen Fixierung kulminiert. In ähnlichem Sinne fragt der Interpret eines Textes, was eigentlich dasteht. Das mag immer eine noch so voreingenommene und vorurteilsvolle Beantwortung finden, sofern jeder, der so fragt, eine direkte Bestätigung seiner eigenen Annahmen in Anspruch zu nehmen sucht. Aber in solcher Berufung auf das, was dasteht, bleibt doch der Text der feste Bezugspunkt gegenüber der Fragwürdigkeit, Beliebigkeit oder mindestens VieWiltigkeit der Interprctationsmäglichkeiten, die sich auf den Text richten. Das hat wiederum seine Bestätigung in der Wortgeschichte. Der Begriff ,Textj ist wesentlich in zwei Zusammenhängen in die modernen Sprachen eingedrungen. Einerseits als der Text der Schrift, deren Auslegung in Predigt und Kirchenlehre betrieben wird, so daß der Text die Grundlage für alle Exegese darstellt, alle Exegese aber Glaubenswahrheiten voraussetzt. Der andere natürliche Gebrauch des Wortes )Text( begegnet uns im Zusammenhang mit der Musik. Da ist es der Text für den Gesang, für die musikalische Auslegung der Worte, und insofern auch dies nicht so sehr ein vorgegebenes, als ein aus dem Vollzug des Gesanges Ausfallendes. Diese beiden natürlichen Verwendungsweisen des Wortes Text \veisen - wohl beide - auf den Sprachgebrauch der spätantiken römischen Juristen zurück, die nach der justinianischen Kodifizierung den Gesetzestext gegenüber der Strittigkeit seiner Auslegung und Anwendung auszeichnen. Von da hat das Wort überall dort Verbreitung gefunden, wo etwas der Einordnung in die Erfahrung Widerstand leistet und wo der Rückgriff auf das vermeintlich Gegebene eine Orientierung für das Verständnis geben soll. Die metaphorische Rede von dem )Bueh der Natur< beruht auf dem selben. 94 Das ist das Buch, dessen Text Gott mit seinem Finger geschrieben hat und den der Forscher zu entziffern bzw. durch seine Auslegung lesbar und verständlich zu machen berufen ist. So finden ",rir überall - und nur dort, wo mit einer primären Sinn vermutung an eine Gegebenheit herangetreten wird, die sich nicht widerstandslos in eine Sinnerwartung einftigt, den 94 rVgl. dazu E. Rothacker, Das >Buch der Natur<. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte. Aus dem Nachlaß hrsg. von W. Perpeet. Bonn 19791.
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hermeneutischen Bezug auf den Textbegriff am Werk. Wie eng Text und Interpretation ineinander verwoben sind, kommt vollends daran heraus, daß auch ein überlieferter Text nicht immer das ftir die Interpretation Vorgegebene ist. Oft ist es ja die Interpretation, die zur kritischen Herstellung des Textes fuhrt. Wenn man sich dieses innere Verhältnis von Interpretation und Text klarmacht, erzielt man einen methodischen Gewinn. Der methodische GeVv-inn, der sich aus diesen an der Sprache gemachten Beobachtungen ergibt, liegt darin, daß >Text( hier als ein hermeneutischer Begriff verstanden werden muß. Das will sagen, daß er nicht von der Perspektive der Grammatik und der Linguistik her, d, h, nicht als das Endprodukt gesehen wird, auf das hin die Analyse seiner Herstellung unternommen wird, in der Absicht, den Mechanismus aufzuklären, kraft dessen Sprache als solche funktioniert, im Absehen von allen Inhalten, die sie vermittelt. Vom hermeneutischen Standpunkt aus - der der Standpunkt jeden Lesers ist - ist der Text ein bloßes Zwischenprodukt, eine Phase im Verständigungsgeschehen, die als solche gewiß auch eine bestimmte Abstraktion einschließt, nämlich die Isolierung und Fixierung eben dieser Phase. Aber diese Abstraktion geht ganz in die umgekehrte Richtung als die dem Linguisten vertraute. Der Linguist will nicht in die Verständigung über die Sache eintreten, die in dem Text zur Sprache kommt, sondern in das Funktionieren von Sprache als solcher Licht bringen, was immer auch der Text sagen mag. Nicht, was da mitgeteilt wird, macht er zum Thema, sondern wie es überhaupt möglich ist, etwas mitzuteilen, mit welchen Mitteln der Zeichensetzung und Zeichengebung das vor sich geht. Für die hermeneutische Betrachtung dagegen ist das Verständnis des Gesagten das einzige, worauf es ankommt. Oaftir ist das Funktionieren von Sprache eine bloße Vorbedingung. So ist als erstes vorausgesetzt, daß eine Äußerung akustisch verständlich ist oder daß eine schriftliche Fixierung sich entziffern läßt, damit das Verständnis des Gesagten oder im Text Gesagten überhaupt möglich wird. Der Text muß lesbar sein. Nun gibt uns dafür der Sprachgebrauch wiederum einen wichtigen Wink. Wir reden auch in einem anspruchsvolleren Sinne von )Lesbarkeit{ eines Textes, wenn wir damit eine unterste Qualifikation bei der Würdigung eines Stils oder bei der Beurteilung einer Übersetzung aussprechen wollen. Das ist natürlich eine übertragene Rede. Aber sie macht die Dinge. wie das so oft bei Übertragungen der Fall ist, vollends klar. Ihre negative Entsprechung ist die Unlesbarkeit, und das meint immer, daß der Text als schriftliche Außerung seine Aufgabe nicht erfUllt, die darin besteht, ohne Anstoß verstanden zu werden. Es bestätigt sich damit, daß wir immer schon auf das Verstehen des im Text Gesagten vorausblicken. Erst von da aus gewahren und qualifizieren wir überhaupt einen Text als lesbar. Aus der philologischen Arbeit ist das als die Aufgabe, einen lesbaren Text
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heIzusteHen, wohl bekannt. Es ist aber klar, daß diese Aufgabe sich immer nur so stellt, daß dabei schon von einem ge"\vissen Verständnis des Textes ausgegangen wird. Nur wo der Text schon entziffert ist und der entzifferte Text sich nicht anstandlos ins Verständliche umsetzen läßt, sondern Anstoß gibt, fragt man danach, was eigentlich dasteht und ob die Lesung der Überlieferung bzw. die gewählte Lesart richtig war. Die Textbehandlung durch den Philologen, der einen lesbaren Text herstellt, entspricht also vollkommen der nicht nur akustischen Auffassung, die bei direkter auditiver ÜbermütJung vor sich geht. Wir sagen da, man habe gehört, \venn man verstehen konnte. Entsprechend ist die Unsicherheit im akustischen Auffassen einer mündlichen Botschaft \vie die Unsicherheit einer Lesart. In beiden Fällen spielt eine Rückkoppelung hinein. Vorverständnis, Sinnerwartung und damit allerhand Umstände, die nicht im Text als solchen liegen, spielen ihre Rolle fUr die Auffassung des Textes. Das wird vollends deutlich, wenn es sich um die Übersetzung aus fremden Sprachen handelt. Da ist die Beherrschung der fremden Sprache eine bloße Vorbedingung. Wenn in solchem Falle überhaupt von )Text( gesprochen wird, so ist es, weil er eben nicht nur verstanden, sondern in eine andere Sprache übertragen werden soll. Dadurch wird er zum) Text(, denn das Gesagte wird nicht einfach verstanden, sondern es wird zum ,Gegenstande< - es steht gegen die Vielfalt der Möglichkeiten, das Gemeinte in der }Zielsprache< wiederzugeben, und darin liegt wiederum ein hermeneutischer Bezug. Jede Übersetzung, selbst die sogenannte wörtliche Wiedergabe, ist eine Art Interpretation. So läßt sich zusammenfassend sagen: Was der Linguist zum Thema macht, indem er von der Verständigung über die Sache absieht, stellt rur die Verständigung selbst einen bloßen Grenzfall möglicher Beachtung dar. Was den Verständigungs vollzug trägt, ist im Gegensatz zur Linguistik geradezu Sprachvergessenheit, in die die Rede oder der Text formlieh eingehüllt ist. Nur wenn dieselbe gestört ist, d. h. wo das Verständnis nicht gelingen will, wird nach dem Wortlaut des Textes gefragt und kann die Erstellung des Textes zu einer eigenen Aufgabe ,verden. Im Sprachgebrauch unterscheiden wir zwar zwischen Wortlaut und Text, aber daß die beiden Bezeichnungen immer auch fLir einander eintreten können, ist nicht zufallig. (Auch im Griechischen geht Sprechen und Schreiben im Begriff der Grammatike zusammen.) Die Ausdehnung des Textbegriffes ist vielmehr hermeneutisch wohlbegründet. Ob mündlich oder schriftlich, in jedem Falle bleibt das Textverständnis von kommunikativen Bedingungen abhängig, die als solche über den bloßen fixierten Sinngehalt des Gesagten hinausreichen. Man kann geradezu sagen: Daß man überhaupt auf den Wortlaut bzw. auf den Text als solchen zurückgreift, muß immer durch die Besonderheit der Verständigungssituation motiviert sein. Das läßt sich am heutigen Sprachgebrauch des Wortes )Text< ebenso
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deutlich verfolgen, wie es sich an der Wortgeschichte des Wortes ITcxt< zeigen ließ. Zweifellos gibt es eine Art Schwundstufe von Text, die wir gewiß kaumje >Text< nennen werden, so etwa die eigenen Notizen, die sich einer zur Stützung seines Gedächtnisses gemacht hat. Hier wird sich die Textfrage nur dann stel1en, wenn die Erinnerung nicht gelingt, die Notiz fremd und unverständlich ist und deshalb zum Rückgriff auf den Zeichenbestand, also auf den Text nötigt. Im allgemeinen aber ist die Notiz kein Text, weil sie als bloße Erinnerungsspur in der Wiederkehr des in der Aufzeichnung Gemeinten aufgeht. Aber auch ein anderes Extrem der Verständigung motiviert im allgemeine nicht die Rede von >Text<. Das ist et\-va die wissenschaftliche Mitteilung, die von vornherein bestimmte Verständigungsbedingungen voraussetzt. Das liegt in der Art ihrer Adresse. Sie meint den Fachmann. Wie es fur die Notiz galt, daß sie nur für mich selbst ist, so ist die wissenschaftliche Mitteilung, auch wenn sie veröffentlicht ist, nicht fur alle. Sie will nur verständhch sein ftir den, der mit der Forschungslage und der Forscliungssprache wohlvertraut ist. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, wird der Partner im allgemeinen nicht auf den Text als Text zurückkommen. Das wird er nur tun, \-venn ihm die geäußerte Meinung allzu unglaubhaft erscheint und er sich fragen muß: Liegt da nicht ein Mißverständnis vor? - Anders ist die Lage natürlich für den Wissenschaftshistoriker, für den die gleichen wissenschaftlichen Zeugnisse wirkliche Texte sind. Sie bedürfen der Interpretation, sofern der Interpret hier nicht der getueinte Leser ist und den Abstand eigens überbrücken muß, der zwischen ihm und dem ursprünglichen Leser besteht. Zwar ist der Begriff des >ursprünglichen Lesers(, wie ich andernorts betont habe, 95 höchst vage. Aber etwa im Fortgang der Forschung hat er seine Bestimmtheit. Aus dem gleichen Grunde wird man im allgemeinen nicht von dem Text eines Briefes sprechen, wenn man selber der Empfinger ist. Dann geht sozusagen in die schriftliche Gesprächssituation bruchlos ein, falls sich nicht eine besondere Störung im Verständnis einstellt und dazu nötigt, auf den genauen Text zurückzugehen. Im schriftlichen Gespräch wird also im Grunde die gleiche Grundbedingung in Anspruch genommen, die auch ftir den mündlichen Austausch gilt. Beide haben den guten Willen, einander zu verstehen, So liegt überall, wo Verständigung gesucht wird, guter Wille vor. Die Frage wird sein, wieweit diese Situation und ihre Implikationen auch gegeben sind, wenn kein bestimmter Adressat oder Adressatenkreis gemeint ist, sondern der namenlose Leser - oder eben, wenn nicht der gemeinte Adressat, sondern ein Fremder einen Text verstehen will. Das Schreiben eines Briefes ist wie eine andere Form des Gesprächsversuchs, und wie im un95 Vgl. vor allem Ges. Werke Bd. 1, S. 397ffund insbesondere S. 399, wo der Text mit der Formulierung schließt: »Der Begriff des ursprünglichen Lesers steckt voller undurchschauter Idealisierung ('.
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mittelbaren sprachlichen Kontakt oder in allen eingespidten pragmatischen Handlungssituationen wird nur die Stärung in der Verständigung ein Interesse am genauen Wortlaut des Gesagten motivieren. Jedenfalls versucht der Schreiber, wie der im Gespräch Befindliche, das mitzuteilen, was er meint, und das schließt den Vorblick auf den anderen ein, mit dem cr Voraussetzungen teilt und auf dessen Verständnis er zählt. Der andere nimmt das Gesagte, wie es gemeint ist, d. h. er versteht dadurch, daß er das Gesagte ergänzt und konkretisiert und nichts in seinem abstrakten Sinngehalt wörtlich nimmt. Das ist auch der Grund, warum man in Briefen, selbst wenn man sie an einen Partner richtet, mit dem man sehr vertraut ist, dennoch gewisse Dinge nicht so sagen kann, wie in der Unmittelbarkeit der Gesprächssituation. Da ist zu vieles, das wegfiele, was in der Unmittelbarkeit des Gesprächs das rechte Verständnis mitträgt, und vor allem hat man im Gespräch immer die Möglichkeit, auf Grund der Entgegnung zu verdeutlichen oder zu verteidigen, wie es gemeint war. Das ist durch den sokratischen Dialog und die platonische Kritik an der Schriftlichkeit besonders bekannt. Die Logoi, die sich aus der Verständigungs situation herausgelöst darstellen, und das gilt natürlich ftir das Schriftliche insgesamt, sind dem Mißbrauch und Mißverständnis ausgesetzt, weil sie der selbstverständlichen Korrektur des lebendigen Gesprächs entbehren. Hier drängt sich eine wesentliche Folgerung auf, die rur die hermeneutische Theorie zentral ist. Wenn jede schriftliche Fixierung derart beschnitten ist, bedeutet das rur die Intention des Schreibens selber etwas. Weil man als Schreiber um die Problematik aller schriftlichen Fixierung weiß, ist man immer von dem Vorblick auf den Empfanger gesteuert, bei dem man sinngemäßes Verständnis erzielen will. Wie es im lebendigen Gespräch ist, wo man durch Rede und Gegenrede zur Verständigung zu gelangen sucht, das heißt aber, die Worte sucht und mit Betonung und Gestik begleitet, von denen man erwartet, daß sie den anderen erreichen, so muß beim Schreiben, das kein Suchen und Finden der Worte mit-teilen kann, gleichsam ein Auslegungs- und Verständnishorizont im Text selbst geöffnet werden, den der Leser auszurullen hat. >Schreiben< ist mehr als bloße Fixierung von Gesagtem. Zwar weist jede schriftliche Fixierung auf das ursprünglich Gesagte zurück, aber sie muß ebenso nach vorwärts blicken. Alles Gesagte ist auch immer schon auf Verständigung gerichtet und enthält den anderen mit. So reden wir etwa von dem Text des Protokolls, weil dieses von vornherein als Dokument gemeint ist, und das heißt, daß auf das darin Fixierte zurückgegriffen werden soll. Eben deshalb bedarf es der besonderen Zeichnung und Unterzeichnung durch den Partner. Gleiches gilt von allen Vertragsschließungen in Handel und Politik. Wir sind damit zu einem zusammenfassenden Begriff gelangt, der aller
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Konstitution von Texten zugrundeliegt und zugleich ihre Einbettung in den hermeneutischen Zusammenhang sich bar macht: Jeder Rückgang auf den Text - ob es sich dabei um einen wirklichen, schriftlich fixierten Text handelt oder um die bloße Wiederholung des im Gespräch Geäußerten, gilt gleichviel- meint die >Urkunde" das ursprünglich Gekündete oder Verkündete, das als ein sinnhaft Identisches gelten soll, Was allen schriftlichen fixierungen ihre Aufgabe vorschreibt, ist eben, daß diese ~Kunde( verstanden werden soll. Der fixierte Text soll die ursprüngliche Kundgabe so fixieren, daß ihr Sinn eindeutig verständlich wird, Hier entspricht der Aufgabe des Schreibenden die Aufgabe des Lesenden, Adressaten, Interpreten, zu solchem Verständnis zu gelangen, d. h. den fixierten Text wieder sprechen zu lassen, Insofern bedeutet Lesen und Verstehen, daß die Kunde auf ihre ursprüngliche Authentizität zurückgeführt wird, Die Aufgabe der Interpretation stellt sich immer dann, wenn der Sinngehalt des Fixierten strittig ist und es gilt, das richtige Verständnis der >Kunde< zu gewinnen. >Kunde< aber ist nicht, was der Sprechende bzw, der Schreibende ursprünglich gesagt hat, sondern was er hat sagen wollen, wenn ich sein ursprünglicher Gesprächspartner gewesen wäre. Das ist etwa fur die Interpretation von >Befehlen< als hermeneutisches Problem bekannt, daß sie >sinngemäß( befolgt werden sollen (und nichr wörtlich), Das liegt der Sache nach in der Feststellung, daß ein Text nicht ein gegebener Gegenstand ist, sondern eine Phase im Vollzug eines Verständigungsgeschehens. Dieser allgemeine Sachverhalt läßt sich besonders gut an der juristischen Kodifikation und entsprechend an der juristischen Hermeneutik illustrieren. Nicht umsonst hat die juristische Hermeneutik eine Art Modellfunktion, Hier ist die Überführung in die schriftliche Form und die beständige Berufung auf den Text besonders naheliegend. Was als Recht gesetzt ist, dient ja von vornherein der Schlichtung oder Vermeidung von Streit. Insofern ist hier der Rückgang auf den Text immer motiviert, sowohl für die Rechtsuchenden, die Parteien, wie auch für den Rechtfindenden, Rechtsprechenden, das Gericht. Die Formulierung von Gesetzen, von rechtsgültigen Verträgen oder rechtsgültigen Entscheidungen ist eben deshalb besonders anspruchsvoll, und ihre schriftliche Fixierung erst recht. Hier soll ein Beschluß oder eine Übereinkunft so formuliert werden, daß der rechtliclie Sinn derselben eindeutig aus dem Text hervorgeht und dem Mißbrauch oder der Verdrehung entzogen ist. Die >Dokumentation< verlangt gerade dies, daß eine authentische Interpretation gelingen muß, auch wenn die Autoren selber, die Gesetzgeber oder die Vertragspartner, nicht greifbar sind. Darin liegt, daß die schriftliche Formulierung den Auslegungsspielraum von vornherein mit bedenken muß, der rur den >Leser( des Textes entsteht, der denselben anzuwenden hat. Hier geht es stets darum - ob bei der >Verkündigung< oder der >Kodifikation<, gilt gleichviel-, Streit zu vermeiden, Mißverständnisse
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und Mißbrauch auszuschließen, eindeutiges Verständnis zu ermöglichen. Gegenüber der bloßen Verkündigung des Gesetzes oder dem aktuellen Abschluß des Vertrages will die schriftliche Fixierung lediglich eine zusätzliche Absieherung schaffen. Darin liegt aber, daß auch hier ein Spielraum der sinngemäßen Konkretisicrung bleibt, die rur die praktische Anwendung die Interpretation zu leisten hat. Daß sie wie ein Text ist, ob kodifiziert oder nicht, liegt in dem Gcltungsanspruch der Rechtssetzung. Das Gesetz wie die Satzung bedarf für die praktische Anwendung stets der Interpretation, und das bedeutet umgekehrt, daß in jede praktische An\vcndung Interpretation bereits eingegangen
ist. Daher kommt der Judikatur, den PräzedenzfalIen oder der bisherigen Handhabung stets eine rcchtsschäpfcrische Funktion zu. Insofern zeigt sich am juristischen Beispic1 mit exemplarischer Deutlichkeit, wie sehr jede Erstellung eines Textes aufInterpretation, und d. h. auf richtige, sinngemäße Anwendung, voraus bezogen ist. Es ist festzuhalten, daß das hermeneutische Problem zwischen mündlichem und schriftlichem Verfahren im Grunde das gleiche ist. Man denke etwa an das Verhör von Zeugen. Dieselben sind in der Regel in die Zusammenhänge der Untersuchung und die Anstrengung zur Urteilsfindung nicht eingeweiht. So begegnet ihnen die ihnen gestellte Frage mit der Abstraktheit des )Textes<, und die Antwort, die sie zu geben haben, ist von derselben Art. Das bedeutet, sie ist wie eine schriftliche Äußerung. Das kommt an der Unbefriedigung heraus, mit der die schriftliche Protokollierung einer Aussage vom Zeugen selber aufgenommen wird. Er kann das Gesagte zwar nicht abstreiten, möchte es aber auch nicht in solcher Isolation stehen lassen und würde es am liebsten sofort noch selber interpretieren. Dem trägt die Aufgabe der Fixierung, also die Protokollftihrung insoweit Rechnung, daß bei der Wiedergabe des tatsächlich Gesagten das Protokoll der Sinnintention des Sprechenden möglichst gerecht werden soll. Umgekehrt zeigt sich an dem gegebenen Beispiel der Zeugenaussage, wie das schriftliche Verfahren (bzw. die Komponente der Sehriftlichkeit im Verfahren) auf die Gesprächsbehandlung rückwirkt. Der auf seine Zeugenaussage hin isolierte Zeuge ist sozusagen schon auf die schriftliche Festlegung der Untersuchungsergebnisse hin isoliert. Ahnliches gilt offenkundig von solchen Fällen, in denen man sich etwa ein Versprechen oder einen Befehl oder eine Frage schriftlich geben läßt: Auch dies enthält eine Isolierung von der ursprünglichen kommunikativen Situation und muß in der Art der schriftlichen Fixierung den ursprünglichen Sinn zum Ausdruck bringen. Der Rückbezug auf die ursprüngliche Mitteilungssituation bleibt in allen diesen Fällen offenkundig. Das läßt sich auch durch zusätzliche Zeichensetzung tun, wie sie die schriftliche Fixierung inzwischen gefunden hat, um das rechte Verständnis zu erleichtern. So ist z. B. das Fragezeichen ein solcher Hinweis auf die Art,
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wie ein schriftlich fixierter Satz eigentlich artikuliert werden muß. Der treffliche spanische Brauch, den Fragesatz durch zwei Fragezeichen einzurahmen, macht diese Grundabsicht in überzeugender Weise sichtbar: Schon beim Beginn des Lesens weiß man dadurch, wie man die betreffende Phrase zu artikulieren hat. Die Entbehrlichkeit solcher Interpunktionshilfen, die es in vielen alten Kulturen überhaupt nicht gab, bestätigt andererseits, wie allein durch den fixierten Text Verständnis immerhin möglich ist. Die bloße Aneinanderreihung der Schriftzeichen ohne Interpunktion stellt gleichsam die kommunikative Abstraktion im Extrem dar. Nun gibt es ohne Zweifel viele Formen des kommunikativen sprachlichen Verhaltens, die dieser Finalität zu unterwerfen nicht möglich ist. Das sind insofern Texte, als man sie selbstverständlich als Texte ansehen kann, wenn sie von ihrem Adressaten abgelöst begegnen - etwa in literarischer Darstellung. Aber im kommunikativen Geschehen selber setzen sie der Textierung Widerstand entgegen. Ich möchte drei Formen derselben unterscheiden, um auf ihrem Hintergrunde den in eminenter Weise der Textierung zugänglichen, nein: in Textgestalt seine eigentliche Bestimmung erfüllenden Text zur Abhebung zu bringen. Diese drei Formen sind die Antitexte, die Pseudotexte und die Pratexte. Als Antitexte bezeichne ich solche Formen des Redens, die sich der Textierung widersetzen, weil in ihnen die Vollzugs situation des Miteinandersprechens dominant ist. Dazu gehört z. B. jede Art von Scherz. Daß wir etwas nicht ernst meinen und erwarten, daß es als Scherz verstanden wird, hat sicherlich im Kommunkationsgeschehen seinen Ort und findet dort auch seine Signalisierung: Im Tonfall oder in der begleitenden Gestik oder in der gesellschaftlichen Situation oder wie immer. Es ist aber deutlich, daß es nicht möglich ist, eine solche scherzhafte Bemerkung des Augenblicks zu wiederholen. - Ähnliches gilt von einer anderen, geradezu klassischen Form gegenseitiger Verständigung, nämlich der Ironie. I-lier ist die klare gesellschaftliche Voraussetzung die gemeinsame Vorverständigung, die der Gebrauch von Ironie voraussetzt. Wer das Gegenteil dessen sagt, was er meint, aber sicher sein kann, daß das Gemeinte dabei verstanden wird, befindet sich in einer funktionierenden Verständigungssituation. Wieweit solche >Verstellung<, die keine ist, auch auf schriftlichem Wege möglich ist, hängt von dem Grade der kommunikativen Vorverständigung und des beherrschenden Einverständnisses ab. So kennen wir den Gebrauch der Ironie z. B. in der früheren aristokratischen Gesellschaft, und dort gewiß auch bruchlos im Übergang in die Schriftlichkeit. In diesen Zusammenhang gehört auch der Gebrauch von klassischen Zitaten, oft in verballhornter Form. Auch damit wird auf eine gesellschaftliche Solidarität, in diesem Falle die überlegene Beherrschung VOn Bildungsvoraussetzungen, also auf ein Klasseninteresse und seine Bestätigung, abgezielt. Wo aber die Verhältnisse dieser Verständigungsbedingungen nicht ebenso k1ar sind, ist die Übertra-
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gung in die fixierte Schriftform bereits problematisch. So stellt der Gebrauch der Ironie oft eine außerordentlich schwierige hermeneutische Aufgabe, und die Annahme, daß es sich um Ironie handelt, ist schwer zu rechtfertigen. Nicht mit Unrecht hat man gesagt, etwas als ironisch auffassen ist oft nichts anderes als eine Verzweiflungstat des Interpreten. Im Umgang ist es dagegen ein eklatanter Bruch des Einverständnisses, \vcnn der Gebrauch von Ironie nicht verstanden wird. Es wird eben ein tragendes Einverständnis vorausgesetzt, wo immer Scherz oder Ironie möglich sein soll. Daher kann die Verständigung zwischen Menschen kaum dadurch wieder hergestellt werden, daß jemand seine ironische Ausdrucksweise in unmißverständliche Formulierung umprägen soll. Wenn das auch möglich ist, bleibt der so eindeutig gemachte Sinn der Aussage hinter demkommunikativen Sinn der ironischen Rede allzu weit zurück. Den zweiten Typus von textwidrigen Texten nalll1te ich die Pseudotexte. Damit meine ich Redegebrauch und auch Schriftgebrauch, der Elemente in sich aufgenommen hat, die gar nicht wirklich zur Sinnübermittlung gehören, sondern so etwas wie ein Füllmaterial ftir rhetorische Überbrückungen des Redeflusses darstellen. Der Anteil der Rhetorik läßt sich geradezu dadurch definieren, daß er an der Rede das ist, was nicht den Sachgehalt der Äußerungen darstellt, also den Sinngehalt, der in den Text überftihrbar ist, sondern was die rein funktionale und rituale Funktion des Redeaustausches in mündlicher bzw. in schriftlicher Form hat. Es ist sozusagen der bedeutungsentleerte Sprachbestandteil, den ich hier als Pseudotext behandle. Jedermann kennt dieses Phänomen etwa an der Schwierigkeit, die selbstverständlichen Füllmaterialien der Rede beim Übertragen eines Textes in eine andere Sprache zu erkennen und angemessen zu behandeln. Der Übersetzer vermutet in diesem Füllmaterial authentischen Sinn und zerstört durch die Wiedergabe den eigentlichen Mitteilungsfluß des ihm zur Übersetzung übergebenen Textes. Das ist eine Schwierigkeit, der jeder Übersetzer ausgesetzt ist. Das soll nicht bestreiten, daß sich das Äquivalent ftir solches Füllmaterial gewiß finden ließe, aber die Übersetzungsaufgabe meint in Wahrheit nur das Sinnhaltige des Textes allein, und deswegen besteht in der Erkenntnis und Ausmerzung solchen Füllmaterials von Leerstellen die wahre Aufgabe des sinnvollen Übersetzens. Im Vorausblick ist hier freilich anzumelden, daß dies for alle Texte von wahrhafi literarischer Qualität, die ich eminente Texte nnme, wie wir sie kennenlemen werden, ganz anders ist. Eben darauf beruht die Grenze der Übersetzbarkeit literarischer Texte, die sich in den verschiedensten Abstufungen zeigt, Als dritte Form textwidriger Texte habe ich die Prätexte im Auge, So nenne ich alle solche kommunikativen Äußerungen, deren Verständnis sich nicht in der Sinnübermittlung, die in ihnen intendiert ist, erfuHt, sondern in denen etwas Maskiertes zum Ausdruck kommt. Prätexte sind also so1che
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Texte, die wir auf etwas hin interpretieren, was sie gerade nicht meinen. Das, was sie meinen, ist ein bloßer Vorwand, hinter dem sich der )Sinn< verbirgt, und damit stellt sich die Interpretationsaufgabe, den Vorwand zu durchschauen und das wahrhaft darin zum Ausdruck Kommende zu ermitteln. Solche Texte liegen etwa in der öffentlichen Meinungsbildung vor, die ideologischen Einschlag zeigt. Der Begriff der Ideologie will gerade das sagen, daß hier nicht eine wirkliche Mitteilung verbreitet wird, sondern ein dahinterstehendes Interesse, dem sie als Vorwand dient. Die IdeologieKritik betreibt daher eine Zurückführung des Gesagten auf maskierte Interessen, z. B. die Interessen der bürgerlichen Klasse im kapitalistischen Interessenkampf. Ebenso dürfte wohl auch die ideologie-kritische Haltung selber als eine ideologische kritisierbar sein, sofern sie etwa antibürgerliche, oder was immer es sei, Interessen vertritt und damit ihre eigene Vorwandhaftigkeit maskiert. Man wird als die gemeinsame Motivation des Rückgangs auf ein darunter liegendes Interesse den Bruch des Einverständnisses ansehen dürfen, das, was Habermas die Kommunikationsverzerrung nennt. Verzerrte Kommunikation zeigt sich also ebenfalls als eine Stärung möglichen Einverständnisses und möglicher Verständigung und motiviert dadurch den Rückgang auf den wahren Sinn. Das ist wie eine Entschlüsselung. Ein anderes Beispiel solcher Interpretation als Hintergehung des Vorwandhaften stellt die Rolle dar, welche der Traum in der modemen Tiefenpsychologie einnimmt. Die Erfahrungen des Traumlebens sind ja in der Tat inkonsistent. Die Logik des Erfahrungslebens ist weitgehend außer Kraft. Das schließt nicht aus, daß von der Überraschungslogik des Traumlebens auch ein unmittelbarer Sinnreiz ausgehen kann, der ganz der der Unlogik des Märchens vergleichbar ist. In der Tat hat sich die erzählende Literatur des Genres des Traums wie der des Märchens bemächtigt, z. B. in der deutschen Romantik. Aber es ist eine ästhetische Qualität, die im Spiel der Traumphantasie in dieser Weise genossen wird und natürlich eine literarästhetische Interpretation erfahren kann. Dagegen wird das gleiche Phänomen des Traumes Gegenstand einer ganz andersartigen Interpretation, wenn man hinter den Fragmenten der Traumerinnerung einen wahren Sinn zu enthüllen sucht, der sich in den Traumphantasien nur maskiert und der Entschlüsselung fähig ist. Das macht die ungeheuere Bedeutung der Traumerinnerung in der psycho-analytischcn Behandlung aus. Mit der Hilfe der Traumdeutung gelingt es der Analyse, ein assoziatives Gespräch in Gang zu bringen, damit Blockaden aufzuheben und am Ende den Patienten von seiner Neurose zu befreien. Bekanntlich durchläuft dieser Prozeß der sogenannten Analyse komplizierte Stadien der Rekonstruktion des ursprünglichen Traumtextes und seiner Deutung. Es ist zwar ein ganz anderer Sinn als der vom Träumer >gemeinte< oder ehedem von den Traumdeutern herausgelese-
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ne, die das Beunruhigende der Traumerfahrung durch ihre Deutung auflösten. Vielmehr ist es die totale Gestörtheit des auf Einverständnis beruhenden Verständigungsgeschehens, die wir Neurose nennen, die den Rückgang hinter das )Gemeintc{ und die Interpretation des Vorwandes Inotiviert. Auch die außer halb der spezifischen neurotischen Störung bekannte Psychopathologie des Alltagslebens ist von der gleichen Struktur. Da werden Fehlhandlungen durch Rückgang auf unbewußte Regungen zu plötzlicher Verständlichkeit gebracht. Hier wiederholt sich die Motivation des Rückganges auf das Unbc\vußte wiederum aus der Inkonsistenz, cl. h. der Unbegreiflichkeit der Fehlhandlung. Durch die Aufklärung wird dieselbe begreiflich und verliert das Irritierende, das sie an sich hat. Der Zusammenhang zwischen Text und Interpretation, der das Thema dieser Studie darstellt, zeigt sich also hier in einer besonderen Form, die Ricoeur die Hermeneutik des Mißtrauens (hermeneutics oJ suspicion) nennt. Es ist ein Irrtum, diese Fälle verzerrter Verständlichkeit als den Normalfalldes Textverstehens zu privilegieren. 96 Nun gilt diese ganze bisherige Betrachtung dem Ziel zu zeigen, daß der Zusammenhang zwischen Text und Interpretation sich grundsätzlich ändert, wenn es sich um sogenannte >literarische Texte< handelt. In allen bisherigen Fällen, in denen sich die Motivation zur Interpretation ergab und sich etwas im kommunikativen Prozeß als Text konstituierte, war die Interpretation, wie der sogenannte Text selber, in das Geschehen der Verständigung eingeordnet. Das entsprach dem wörtlichen Sinne des Ausdrucks interpres, der den meint, der dazwischenredet und daher zunächst die Urfunktion des Dolmetschers, der zwischen Sprechern verschiedener Sprachen steht und durch sein Dazwischenreden die Getrennten zusammenbringt. Wie in solchem Falle die Barriere der fremden Sprache überwunden wird, so bedarf es dessen auch, wenn in der gleichen Sprache Störungen bei der Verständigung auftreten, wobei die Identität der Aussage im Rückgang auf sie, und das heißt potentiell in ihrer Behandlung als Text, begegnet. Das Befremdende, das einen Text unverständlich macht, soll durch den Interpreten aufgehoben werden. Der Interpret redet dazwischen, wenn der Text (die Rede) seine Bestimmung, gehört und verstanden zu werden, nicht zu erftillen vermag. Der Interpret hat keine andere Funktion als die, in der Erzielung der Verständigung ganz zu verschwinden. Die Rede des Interpreten ist daher nicht ein Text, sondern dient einem Text. Das heißt aber nicht, daß der Beitrag des Interpreten in der Weise, den Text zu hören, ganz verschwunden wäre. Er ist nur nicht thematisch, nicht als Text gegenständlich, sondern in den Text eingegangen. Damit wird das Verhältnis von Text und Interpretation in größter Allgemeinheit charakterisiert. % [Vgl. inz"\vischcn vom Verf.: The Hermeneutics oE Suspicion, in: Hermeneutics, Questions and Prospects (ed. G. Shapiro and A. Sica), Amherst 1984, S. 54-65.1
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Denn hier kommt ein hermeneutisches Strukturmoment zutage, das eigene Hervorhebung verdient. Dieses Dazwischenreden hat selber Dialogstruktur. Der Dolmetscher, der zwischen zwei Parteien vernüttclt, wird gar nicht anders können, als seine Distanz gegenüber den beiden Positionen wie eine Art Überlegenheit über die beiderseitige Befangenheit zu erfahren. Seine Mithilfe bei der Verständigung beschränkt sich daher nicht auf die rein hnguistische Ebene, sondern geht immer in eine sachliche Vermittlung über, die Recht und Grenzen der beiden Parteien miteinander zum Ausgleich zu bringen versucht. Der )Dazwischenredende( wird zum >Unterhändler<. Nun scheint mir ein analoges Verhältnis auch zwischen dem Text und dem Leser zu bestehen. Wenn der Interpret das Befremdliche in einem Text übervvindet und damit dem Leser ZUlU Verständnis des Textes verhilft, bedeutet sein eigenes Zurücktreten nicht Verschwinden im negativen Sinne, sondern sein Eingehen in die Kommunikation, so daß die Spannung zwischen dem Horizont des Textes und dem Horizont des Lesers aufgelöst wird - was ich Horizontvef5chmelzun2 genannt habe. Die getrennten Horizonte wie die verschiedenen Standpunkte gehen ineinander auf. Das Verständnis eines Textes tendiert daher dahin, den Leser Hir das einzunehmen, was der Text sagt, der eben damit selber verschwindet. Aber da gibt es die Literatur: Texte, die nicht verschwinden, sondern allem Verstehen gegenüber mit normativem Anspruch dastehen und allem neuen Sprechenlassen des Textes bevorstehen. Was ist ihre Auszeichnung? Was besagt es ftir die Zwischenrede des Interpreten, daß Texte so )da( sein können?97 Meine These ist: Sie sind immer erst im Zurückkommen auf sie eigentlich da. Das heißt aber, daß sie in ursprünglichem und eigentlichem Sinne Text sind, Worte, die erst im Zurückkommen auf sie eigentlich )da( sind, erftillen den wahren Sinn von Texten sozusagen aus sich seIher: sie sprechen. Literarische Texte sind solche Texte, die man heim Lesen laut hören muß, wenn auch vielleicht nur im inneren Ohr, und die man, wenn sie rezitiert werden, nicht nur hört, sondern innerlich mitspricht. Sie gewinnen ihr wahres Dasein im Auswendigkönnen, par coeur. Dann leben sie im Gedächtnis, des Rhapsoden, des Choreuten, des lyrischen Sängers. Wie in die Seele geschrieben, sind sie auf dem Wege zur Schriftlichkeit, und daher ist es gar nicht überraschend, daß man in Lesekulturen solche ausgezeichneten Texte )Literatur< nennt. Ein literarischer Text ist nicht nur die Fixierung vollzogener Rede. Er verweist gar nicht auf ein schon gesprochenes Wort zurück. Das hat herme97 rVgl. hierzu vor allem die in Ges. Werke Bd. 8 gesammelten Abhandlungen zur Literaturtheorie].
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neutische Konsequenzen. Die Interpretation ist da nicht mehr ein bloßes Mittel zur Wiedervermittlung einer ursprünglichen Äußerung. Der literarische Text ist gerade dadurch in einem besonderen Grade Text, daß er nicht auf eine ursprüngliche Sprachhandlung zurückweist, sondern seinerseits alle Wiederholungen und Sprachhandlungen vorschreibt; kein Sprechen kann je die Vorschrift ganz erflillen, die ein dichterischer Text darstellt. Derselbe übt eine normative Funktion aus, die weder auf eine ursprüngliche Rede noch auf die Intention des Redenden zurückweist, sondern die in ihm sc1bst entspringt, etwa im Glück des Gelingens eines Gedichtes selbst noch den Dichter überraschend und übertreffend. Nicht umsonst hat das Wort )Literatuf( einen wertenden Sinn erhalten, so daß Zugehörigkeit zur Literatur eine Auszeichnung darstellt. Ein Text solcher Art stellt nicht die bloße fixierung von Rede dar, sondern besitzt seine eigene Authentizität. Wenn es sonst den Charakter von Rede ausmacht, daß der Zuhörende gleichsam durch sie hindurchhört und ganz auf das gerichtet ist, was ihm clie Rede mitteilt, kommt hier die Sprache selber in eigentümlicher Weise zur Erscheinung. Es ist nicht leicht, diese Selbstpräsentation des Wortes richtig zu fassen. Selbstverständlich behalten Worte auch im literarischen Text ihre Bedeutung und tragen den Sinn der Rede, die etwas meint. Es gehört notv.rendig zu der Qualität eines literarischen Textes, daß er diesen Primat des Sachgehaltes, der allem Reden zukommt, nicht antastet, ja sogar umgekehrt, ihn so sehr steigert, daß der Wirklichkeits bezug seiner Aussage suspendiert wird. Andererseits darf das Wie des Gesagtseins sich nicht vordrängen. Sonst sprechen wir nicht von Kunst des Wortes, sondern von Künstlichkcit, nicht von einem Ton, der wie eine Sangart vorschreibt, sondern von poetisierender Imitation, bzw. wir sprechen nicht von einem Stil, dessen unverwechselbare Qualität wir bewundern, sondern VOn einer Manier, die sich störend fühlbar macht. Trotzdem verlangt ein literarischer Text, daß er in seiner sprachlichen Erscheinung präsent wird und nicht nur seine Mitteilungsfunktion ausübt. Er muß nicht nur gelesen, er muß auch gehört werden - wenn auch meist nur im inneren Ohr. So gewinnt das Wort im literarischen Text erst seine volle Selbstpriisettz. Es macht nicht nur Gesagtes präsent, sondern auch sich selbst in seiner erscheinenden Klangwirklichkeit. So wie der Stil als ein wirksamer Faktor den guten Text mit ausmacht und doch nicht als ein Stilkunststück nach vorn drängt, so ist auch die Klangwirklichkeit der Worte und der Rede mit der Sinnmitteilung unlösbar verbunden. Aber wenn sonst Rede durch das Vorlaufen auf den Sinn bestimmt wird, so daß wir über ihre Erscheinung hinweg ganz auf den mitgeteilten Sinn hinhören und hinlcscn, hat beim literarischen Text die Selbsterscheinung eines jeden Wortes in seiner KlangIichkeit und hat die Klangmclodie der Rede gerade auch flir das durch die
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Worte Gesagte ihre Bedeutung. Es entsteht eine eigentümliche Spannung zwischen der Sinnrichtung der Rede und der Selbstpräsentation ihrer Erscheinung. Jedes der Glieder der Rede, jedes einzelne Wort, das sich der Sinneinheit des Satzes einordnet, steHt selbst eine Art Sinneinheit dar, sofern es durch seine Bedeutung etwas Gemeintes evoziert. Sofern es dabei sich in seiner eigenen Einheit ausspielt und nicht nur als Mittel ftir den zu erratenden Redesinn wirkt, läßt es die Sinnvielfalt seiner eigenen Nennkraft Zur Entfaltung kommen. So spricht man dann von den Konnotationen, die mitsprechen, wenn in einem literarischen Text ein Wort in seiner Bedeutung erscheint. Dabei ist das Einzehvort als Träger seiner Bedeutung und als Mitträger des Redesinnes nur ein abstraktes Moment der Rede. Alles muß im größeren Ganzen der Syntax gesehen werden. Freilich ist das im literarischen Text eine Syntax, die nicht unbedingt und nicht allein die der üblichen Grammatik ist. Wie der Redner syntaktische Freiheiten genießt, die der Hörer ihm deshalb einräumt, weil er mit all den Modulationen und Gestikulationen des Sprechers mitgeht, besitzt auch der dichterische Text - bei allen Abstufungen, die cr zeigt - seine eigenen Freiheiten. Sie werden der Klangwirklichkeit eingeräumt, die dem Ganzen des Textes zu verstärkter Sinnkraft verhilft. Gewiß gilt es schon im Bereich der gewöhnlichen Prosa, daß eine Rede keine ~Schrcibe( ist und ein Vortrag keine Vorlesung, d. h. kein )paperc Doch ftir Literatur im enünenten Sinne des Wortes gilt das noch mehr. Sie überwindet die Abstraktheit des Geschriebenseins nicht nur so, daß der Text lesbar ist, und d. h., in seinem Sinn verständlich. Ein literarischer Text besitztviclmehr einen eigenen Status. Seine sprachliche Präsenz als Text fordert Wiederholung des originalen Wortlauts, aber so, daß sie nicht auf ein ursprüngliches Sprechen zurückgreift, sondern auf ein neues, idea1es Sprechen vorausblickt. Das Geflecht der Sinnbezüge erschöpft sich nie ganz in den Relationen, die zwischen den Hauptbedeutungen der Worte bestehen. Gerade die mitspielenden Bedeutungsrelationen, die in die Sinnteleologie nicht eingebunden sind, geben dem literarischen Satz sein Volumen. Gewiß kälnen sie nicht zur Erscheinung, wenn das Ganze der Rede nicht sozusagen an sich hielte, zum Verweilen einlüde und den Leser oder Hörer anhielte, immer hörender zu werden. Dieses Hörendwerden bleibt aber trotzdem, wie jedes Hören, ein Hören auf etwas, das das Gehörte als die Sinngestalt einer Rede auffaßt. Es ist schwierig zu sagen, was hier Ursache und was Wirkung ist: Ist es dieser Gewinn an Volumen, der seine Mitteilungsfunktion und seine Referenz suspendiert und ihn zu einem literarischen Text macht? Oder ist es umgekehrt so, daß die Durchstreichung der Wirklichkeitssetzung, die einen Text als Dichtung charakterisiert, und d. h. als Selbsterscheinung von Sprache, die SinnfLille der Rede erst in ihrem ganzen Volumen hervorkommen
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Weiteren twi ckl ungen
Beides ist offenbar untrennbar, und es v·:ird vonljeweiligen Anteil der Spracherscheinung am Sinnganzen abhängen, wie sich die Anteile bemessen, die den Raum von der Kunstprosa bis zur Poesie pure in verschiedener Weise ausftilIen. Wie kompliziert die Fügung der Rede zur Einheit und die Einfügung ihrer Bausteine, d. h. der Worte, ist, wird am Extrem deutlich. Z. B. wenn sich das Wort in seiner Polyvalenz zum selbständigen Sinnträger aufspreizt. So etwas nennen wir ein J;J/ortspiel. Nun ist nicht zu leugnen: Oft nur als Redesehmuck gebraucht, der den Geist des Sprechers glänzen läßt, aber der Sinnintention der Rede völlig untergeordnet bleibt, kann das Wortspiel sich zur Selbständigkeit aufsteigern. Das hat dann die Folge, daß die Sinnintention der Rede als ganzer plötzlich ihre Eindeutigkeit verliert. Hinter der Einheit der Klangerscheinung leuchtet dann die verborgene Einheit verschiedenartiger, ja entgegengesetzter Bedeutungen auf. Hegel hat in solchem Zusammenhang von dem dialektischen Instinkt der Sprache gesprochen, und Heraklit hat im Wortspiel einen der vorzüglichsten Zeugen seiner Grundeinsicht erkannt, daß das Entgegengesetzte in Wahrheit ein und dasselbe ist. Aber das ist philosophische Redeweise. Es handelt sich da um Brechungen des natürlichen Bedeutungszuges von Rede, die rur das philosophische Denken gerade deshalb produktiv sind, weil die Sprache auf diese Weise genötigt wird, ihre unmittelbare Objektbedeutung aufzugeben und gedanklichen Spiegelungen zur Erscheinung zu verhelfen. Wortspielhafte Mehrdeutigkeiten stellen die dichteste Erscheinungsform des Spekulativen dar, das sich in einander widersprechenden Urteilen expliziert. Die Dialektik ist die Darstellung des Spekulativen, wie Hegel sagt. Für den literarischen Text ist die Sache aber anders, und eben aus diesem Grunde. Die Funktion des Wortspiels verträgt sich gerade nicht mit der vielsagenden Vielstelligkeit des dichterischen Wortes. Die Mitbedeutungen, die mit einer Hauptbedeutung mitschwingen, geben der Sprache zwar ihr literarisches Volumen, aber dadurch, daß sie sich der Sinneinheit der Rede unterordnen und andere Bedeutungen nur anklingen lassen, Wortspiele sind nicht einfache Spiele der Vielstelligkeit oder Polyvalenz von Worten, aus der die dichterische Rede sich bildet - in ihnen spielen sich vielmehr selbständige Sinneinheiten gegeneinander aus. So zersprengt das Wortspiel die Einheit der Rede und verlangt, in einem höheren reflektierten Sinnbezug verstanden zu werden. Daher wird man selbst im Gebrauch von Wortspielen und Wortwitzen, wenn sie sich zu sehr jagen, irritiert, weil sie die Einheit der Rede zersetzen. Vollends wird sich in einem Lied oder einem lyrischen Gedichte, also überall, \\'o die melodische Figuration der Sprache vorwiegt, der Sprengsatz des Wortspieles schwerlich als wirksam erweisen. Natürlich ist es etwas anderes im Falle der dramatischen Rede, wo das Gegeneinander die Szene beherrscht. Man denke an die Stichomythie oder an die Selbstzer-
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störung des Helden, die sich im Wortspiel mit dem eigenen Namen bekundet. 9 /l Wieder anders ist es, wo dichterische Rede weder den fluß des Erzählens noch das Strömen des Gesanges noch dramatische Darstellung bildet, sondern sich bewußt im Spiel der Reflexion ergeht, zu deren Spiegelungsspielen das Aufsprengen von Redeerwartungen geradezu gehört. So kann in sehr reflektierter Lyrik das Wortspiel eine produktive Funktion übernehmen. Man denke etwa an die hermetische Lyrik von Paul Celan. Doch muß man sich auch hier fragen, ob sich nicht der Weg solcher reflexiven Aufladung von Worten am Ende im Ungangbaren verlieren muß. Es fallt doch auf, daß etwa Mal1arme Wortspiele vvohl in Prosaentwürfen, wie in IRitur, verwendet, aber wo es sich um den vollen Klangkörper dichterischer Gebilde handelt, kaum mit den Worten spielt. Die Verse von Salut sind gewiß vielschichtig und erfullen Sinnerwartung auf so verschiedenen Ebenen wie der eines Trinkspruchs und einer Lebensbilanz, zvvischen dem Schaum des Champagners im Glase und der Wellenspur schwebend, die das Lebensschiff zieht. Aber beide Sinndimensionen lassen sich in der gleichen Einheit von Rede als die gleiche melodische Sprachgebärde vollziehen. 99 Eine ähnliche Betrachtung hat auch der .j\1etapher zu gelten. Sie ist im Gedicht so sehr in das Spiel der Klänge, Wortsinne und Redesinn cingebun98
[Vgl. M. Warburg, Zwei Fragen zum )Kratylosc (Neue philologische Untersuchun-
gen 5) Berlin1929.] 99 {Das Sonett von Mallarme, dem ich eine kunstlose deutsche Parapharase zur Seite stelle, lamet:
Salut Rien, cette ecume, vierge vers A ne designer gue la coupe; TeIle loin se noie une troupe De sin::nes maintc .1l'envers. Nous naviguons, ö mes divers Amis, moi dej.1 sm la poupe Vous l' avant fastueux gui coupe Le flot de foudres et d'hivers; Une ivresse belle m 'engage Sans craindre meme son tangage De porter debout ce salm Solitude, fC!cif, etoile A n'importe cc gui valut Le blanc souci de notre toile.
Gruß Nichts, dieser Schaum, unschuldiger Vers Grad nur den Rand des Kelches zu zeichnen; In weiter Ferne taucht eine Schar Von Sirenen, meist abgewandt. Wir fahren dahin, meine so ungleichcn Freunde - ich schon am Heck Ihr vom am stolzen Bug, der schneidet Die Flut der Schläge und der Stürme. Eine schöne Berauschtheit läßt mich Ohne selbst ihr Schwanken zu scheuen Stehend zu entbieten als Gruß Einsamkeit, Klippe, Stern Mag sein was immer es sei Wohin der Sorge blankes Segel uns fuhrt.
P. Forget, der Herausgeber von Text und Interpretation, München 1984, zitiert S. 50 dazu U.Japp, Hermeneutik, München 1977, S.80ff. Dort sind drei Ebenen geschieden (in Anlehnung an Rastier); da wird die )gesättigte Analyse( auf die Spitze getrieben, salut nicht mehr als Gruß, sondern auch als Rettung verstanden (r€eiß!) und die weiße Sorge als Papier, was nirgends im Text begegnet, auch nicht im selbstbezüglichen vierge vers. Das ist Methode ohne Wahrheit.]
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den, daß sie als Metapher gar nicht zur Abhebung kommt. Denn hier fehlt die Prosa der gewöhnlichen Rede überhaupt. Selbst in dicherischer Prosa hat daher die Metapher kaum eine Funktion. Sie verschwindet gleichsam in der Weckung der geistigen Anschauung, der sie dient. Das eigentliche Herrschafts gebiet der Metapher ist vielmehr die Rhetorik. In ihr genießt man die Metapher als Metapher. In der Poetik verdient die Theorie der Metapher so wenig einen Ehrenplatz, wie die des Wortspiels. Der Exkurs lehrt, wie vielschichtig und wie differenziert das Zusammenspiel von Laut und Sinn in Rede wie in Schrift ist, wenn es sich um Literatur handelt. Man fragt sich, wie überhaupt die Zwischenrede des Interpreten in den Vollzug dichterischer Texte zurückgenommen werden kann. Die Beantwartung dieser Frage kann nur eine sehr radikale sein. Im Unterschied zu anderen Texten ist der literarische Text nicht von dem Dazwischenreden des Interpreten unterbrochen, sondern von seinem beständigen A1itreden begleitet. Das läßt sich an der Struktur der Zeitlichkeit, die aller Rede zukomint, zur Ausweisung bringen. Allerdings sind die Zeitkategorien, die wir im Zusammenhang mit Rede und mit sprachlicher Kunst gebrauchen, von eigentümlicher Schwierigkeit. Man redet da von Präsenz und, wie ich es oben tat, sogar von Selbstpräsentation des dichterischen Wortes. Es ist aber ein Trugschluß, wenn man solche Präsenz von der Sprache der Aletaphysik aus als die Gegenwärtigkeit des Vorhandenen oder vom Begriff der Objektivierbarkeit aus verstehen will. Das ist nicht die Gegenwärtigkeit, die dem literarischen Werk zukommtjja j sie kommt überhaupt keinem Text zu. Sprache und Schrift bestehen immer in ihrer Venvcisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen, und das gilt auch dann noch, wenn das Gemeinte nirgendwo sonst ist als in dem erscheinenden Wort. Dichterische Rede ist nur im Vollzug des Sprechens bzw. des Lesens selbst vollzogen, und d. h., sie ist nicht da, ohne verstanden zu sem. Die Zeitstruktur des Sprechens und des Lesens stellt ein weithin unerforschtes Problemgebiet dar. Daß das reine Schema der Sukzession auf Sprechen und Lesen nicht anzuwenden ist, wird einem sofort kar, wenn man sieht, daß damit nicht das Lesen, sondern das Buchstabieren beschrieben ist. Wer beim Lesenwollen buchstabieren muß, kann gerade nicht lesen. Ähnliches wie beim stillen Lesen gilt vom lauten Vorlesen. Gut vorlesen heißt, das Zusammenspiel von Bedeutung und Klang dem anderen so vermitteln, daß er es ftir sich und in sich erneuert. Man liest jemandem vor, und das heißt, daß man sich an ihn wendet. Er gehört dazu. Vorsprechen wie Vorlesen bleibt >dialogisch<. Sogar das laute Lesen, bei dem man sich selbst etwas vorliest, bleibt dialogisch, sofern es die Klangerscheinung und die Sinnerfassung möglichst in Einklang bringen muß. Die Kunst der Rezitation ist nichts grundsätzlich Anderes. Es bedarf nur besonderer Kunst, sofern die Zuhörer eine anonyme Menge sind und der
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dichterische Text dennoch die Realisierung in jedem einzelnen Hörer verlangt. Wir kennen hier etwas dem Buchstabieren beim Lesen Entsprechendes, das sogenannte Aufsagen. Das ist wiederum kein Sprechen, sondern ein ins Nacheinander zerdehntes Aufreihen von Sinn bruchstücken. Wir reden davon im Deutschen, wenn Kinder Verse auswendig lernen und zur Freude der Eltern >aufsagen<. Der wirkliche Könner oder Künstler der Rezitation wird dagegen ein Ganzes von sprachlicher Gestalt präsent machen, ähnlich wie der Schauspieler, der die Worte seiner Rolle wie im Augenblick gefunden neu gebären muß. Es darf nicht eine Reihe von Redeteilen sein, sondern ein Ganzes aus Sinn und Klang, das in sich selbst >steht<. Daher wird sich der ideale Sprecher gar nicht selbst präsent machen, sondern nur den Text, der selbst einen Blinden, der seine Gestik nicht sehen kann, voll erreichen muß. Goethe sagt einmal: }} Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschloßnen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein Shakespearesches Stück nicht zu deklamieren, sondern rezitieren zu lassen« 100. Man kann sich fragen, ob bei jeder Art dichterischer Texte Rezitation überhaupt möglich ist. Etwa wenn es sich um meditative Dichtung handelt? Auch in der Gattungsgeschichte der Lyrik bildet sich dieses Problem ab. Chorlyrik und überhaupt alles Liedhafte, das zum Mitsingen einlädt, ist etwas von der elegischen Tonart durchaus Verschiedenes. Meditative Dichtung scheint vollends im einsamen Vollzug allein möglich. Jedenfalls ist das Sukzessionsschema hier ganz fehl am Platze. Man erinnert sich dessen, was man im Erlernen der lateinischen Prosodik das Konstruieren nennt: Der Lateinschüler hat das) Verb< zu suchen und dann das Subjekt, und von da aus die gesamte Wortmasse zu artikulieren bis zum plötzlichen Zusammenschießen von Elementen, die anfangs völlig sinndisparat schienen. Aristotelcs beschreibt einmal das Gefrieren einer Flüssigkeit, wenn sie erschüttert wird, als schlagartigen Umschlag. Ähnlich ist es mit dem Schlagartigen des Verstehens, wenn sich die ungeordneten Wortfragmente in die Sinneinheit eines Ganzen auskristallisieren. Hören wie Lesen haben offenbar die gleiche Zeitstruktur des Verstehens, deren zirkulärer Charakter zu den ältesten Erkenntnissen der Rhetorik und Hermeneutik zählt. Das gilt rur alles Hören wie Lesen. Im Falle literarischer Texte ist die Sachlage noch weit komplizierter. Da geht es ja nicht allein um das Abernten einer durch den Text vermittelten Information. Man eilt nicht ungeduldig und gleichsam unbeirrbar auf das Sinn-Ende zu, mit dessen Ergreifung das Ganze der Mitteilung erfaßt wird. Gewiß gibt es auch hier so etwas wie ein schlagartiges Verstehen, in dem die Einheit des Gebildes aufleuchtet. Beim 100 ,Shakespeare und kein Ende< in: Johann Wolfgang Gocthe. Sämtliche Werke, Artemis-Gedenkausgabc Band 14, S. 757.
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dichterischen Text ist das ebenso wie beim künstlerischen Bild. Sinnbezüge werden - wenn auch vielleicht vage und fragmentarisch - erkannt. Aber in beiden Fällen ist der Abbildbezug auf das Wirkliche suspendiert. Der Text bleibt mit seinem Sinnbezug das einZig Präsente. Wenn wir literarische Texte sprechen oder lesen, werden \-vir daher auf die Sinn- und Klangrelationen zurückgeworfen, die das GefUge des Ganzen artikulieren, und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Wir blättern gleichsam zurück, fangen neu an, lesen neu, entdecken neue Sinnbezüge, und was am Ende steht, ist nicht das sichere Bewußtsein, die Sache nun verstanden zu haben, mit dem man sonst einen Text hinter sich läßt. Es ist umgekehrt. Man kommt immer tiefer hinein, je mehr Bezüge von Sinn und Klang einem ins Bewußtsein treten. Wir lassen den Text nicht hinter uns, sondern lassen uns in ihn eingehen. Wir sind dann in ihm darin, so wie jeder, der spricht, in den Worten, die er sagt, darin ist und sie nicht in einer Distanz hält, wic sie ftir den gilt, der Werkzeuge an\vendet, sie nimmt und weglcgt. Die Rede vom Anwenden v'on Worten ist daher seltsam schief. Sie trifft nicht das wirkliche Sprechen, sondern behandelt Sprechen mehr wie den Gebrauch des Lexikons einer fremden Sprache. So muß man grundsätzlich die Rede von Regel und Vorschrift einschränken, wenn es sich um wirkliches Sprechen handelt. Das gilt aber erst recht vom literarischen Text. Er ist ja nicht deshalb richtig, weil er das sagt, was ein jeder sagen würde, sondern hat eine neue, einzigartige Richtigkeit, die ihn als ein Kunstwerk auszeichnet. Jedes Wort ,sitzt< , so daß es fast unersetzbar scheint und in gewissem Grade wirklich unersetzbar ist. Es war Dilthey, der in Fortentwicklung des romantischen Idealismus hier die ersten Orientierungen gegeben hat. In Abwehr des zeitgenössischen Monopolismus des Kausaldenkens sprach er statt von dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung vom Wirkungszusammenhat1~, also von einem Zusammenhang, der zwischen den Wirkungen selber (unbeschadet dessen, daß sie alle ihre Ursachen haben) besteht. Er hat daftir den später zu Ehren gekommenen Begriff )Struktur< eingeführt und hat gezeigt, wie das Verstehen von Strukturen notwendig zirkuläre Form hat. Ausgehend vom musikalischen Hören, ftir das die absolute Musik durch ihre extreme Begriffslosigkeit ein Paradebeispiel ist, weil sie alle Abbildtheorie ausschließt, hat er von Konzentrierung in einem Mittelpunkt gesprochen und die Temporalstruktur des Verstehens zum Thema gemacht. In der Ästhetik spricht manin ähnlichem Sinne, sowohl bei einem literarischen Text wie bei einem Bilde, von )Gebilde<. In der unbestimmten Bedeutung von >Gebilde< liegt, daß etvvas nicht auf sein vorgeplantes Fertigsein hin verstanden wird, sondern daß es sich gleichsam von innen heraus zu einer eigenen Gestalt herausgebildet hat und vielleicht in weiterer Bildung begriffen ist. Es leuchtet ein, daß es eine eigene Aufgabe ist, dergleichen zu verstehen. Die Aufgabe ist, das, was
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ein Gebilde ist, in sich aufzubauen, etwas, was nicht Ikonstruiert, ist, zu konstruieren - und das schließt ein, daß alle Konstruktionsversuche wieder zurückgenommen \\'erden. Während die Einheit von Verstehen und Lesen sich sonst in verständnisvollem Lesen vollzieht und dabei die sprachliche Erscheinung ganz hinter sich läßt, redet beim literarischen Text ständig etwas mit, das 'i-vechsclnde Sinn- und Klangbezüge präsent macht. Es ist die Zeitstruktur der Bewegtheit, die wir das Verweilen nennen, die solche Präsenz ausftillt und in die alle Zwischenrede der Interpretation einzugehen hat. Ohne die Bereitschaft des Aufnehmenden, ganz Ohr zu sein, spricht kein dichterischer Text. Zum Abschluß mag ein berühmtes Beispiel Zur Illustration dienen. Es ist der Schluß des Gedichtes von Mörike Auf eine Lampe. >01 Der Vers lautet: ») Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. scheint es<. Das kann man wie >anscheinend<, >dokei" >videtur<, )il semble<, ~it seems<, >pare< usw. verstehen. Dieses prosaische Verständnis der Wendung gibt Sinn und fand deshalb seinen Verteidiger. Nun kann man aber sehen: es erftillt nicht das Gesetz des Verses. Es läßt sich zeigen, warum )scheint es< hier )es leuchtet<, )splendet( meint. Da ist zunächst ein hermeneutisches Prinzip anwendbar. Bei Anstößen entscheidet der größere Zusammenhang. Jede Doppelmöglichkeit des Verstehens ist aber ein Anstoß. Da ist es nun von entscheidender Evidenz, daß das Schöne hier auf eine Lampe angewendet wird. Das ist die Aussage des Gedichtes als eines Ganzen, die man durchaus verstehen soll. Eine Lampe, die nicht leuchtet, weil sie altmodisch und vergangen in einem >Lustgemachi hängt ()wer achtet sein?<), gewinnt hier ihren eigenen Glanz, weil sie ein Kunsl\verk ist. Es ist kein t01
Mörikes Gedicht lautet: Noch unverrückt, 0 schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von golden grünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze FormEin Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
Die Auseinandersetzung zwischen Emil Staiger und Martin Heideggcr, auf die der Fortgang anspielt, ist dokumentiert in: Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, dtv Wissenschaftliche Reihe 4078 (1971, Lizenzausgabe des Atlantis Verlages, Zürich und Freiburg i. Br. 1955), 5.28-42.
Zweifel. daß das Scheinen hier von der Lampe gesagt wird, die leuchtet, auch wenn sie niemand gebraucht. Leo Spitzer hat in einem hochgelehrten Beitrag zu dieser Diskussion die literarische Gattung solcher Dinggedichte näher beschrieben und ihren literaturgeschichtlichen Ort überzeugend angegeben. Heidegger hat seinerseits mit Recht den Hegriffszusammenhang von )schön< und )scheinen< geltend gemacht, der in Hegels berühmter Wendung vom sinnlichen Scheinen der Idee anklingt. Aber es gibt auch immanente Gründe. Gerade aus dem Zusammenwirken von Klang und Bedeutung der Worte folgt eine weitere klare Entscheidungsinstanz. Wie in diesem Verse die S-Laute ein festes Gewebe bilden (»was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst«) oder wie die metrische Modulation des Verses die melodische Einheit der Phrase konstituiert (ein metrischer Akzent liegt auf schön, selig, scheint, in, selbst), ist ftir eine reflexive lrruption kein Platz, wie sie ein prosaisches )scheint es, darstellen würde. Sie würde vielmehr den Einbruch kolloquialer Prosa in die Sprache eines Gedichtes bedeuten, eine Beirrung des dichterischen Vers tehens, die uns allen immer droht. Denn im allgemeinen sprechen wir Prosa, wie Molieres Monsieur Jourdain zu seiner Überraschung erfahrt. Eben das hat die Gegenwartsdichtung zu extremen hermetischen Stilformen geftihrt, den Einbruch der Prosa fernzuhalten. Hier, in Mörikes Gedicht, liegt solche Beirrung nicht einmal ganz fern. Manchmal nähert sich die Sprache dieses Gedichtes der Prosa (»wer achtet sein'«). Nun gibt aber die Stellung des Verses im Ganzen, nämlich, daß er der Schluß des Gedichtes ist, demselben ein besonderes gnomisches Gewicht. Und in der Tat, das Gedicht illustriert durch seine eigene Aussage, warum das Gold dieses Verses keine Anweisung ist, wie eine Banknote oder eine Information, sondern seinen eigenen Wert selbst hat. Das Scheinen wird nicht nur verstanden, sondern es strahlt über das Ganze der Erscheinung dieser Lampe, die in einem vergessenen Gemache unbeachtet hängt und nirgends mehr scheint als in diesen Versen. Das innere Ohr hört hier die Entsprechungen von )schön< und )selig, und >scheinen( und >selbst( - und vollends läßt das >selbst(, mit dem der Rhythmus endet und verstummt, die verstummte Bewegung in unserem inneren Ohr nachhallen. Es läßt in unserem inneren Auge das stille Sich-Verströmen des Lichtes erscheinen, das wir )scheinen< nennen. So versteht unser Verstand nicht nur, was da über das Schöne gesagt wird und was die Autonomie des Kunstwerkes ausspricht, das von keinem Gebrauchszusammenhang abhängt - unser Ohr hört und unser Verständnis vernimmt den Schein des Schönen als sein "vahres Wesen. Der Interpret, der seine Gründe beibrachte, verschwindet, und der Text spricht.
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Als Heidegger das Thema des Verstehens von einer Methodenlehre der Geisteswissenschaften zum Existenzial und Fundament einer Ontologie des Daseins erhob, stellte die hermeneutische Dimension nicht länger eine höherstufige Schicht der phänomenlogischen Intentionalitätsforschung dar, die in der leibhaftigen Wahrnehmung fundiert ist, sondern brachte auf europäischem Boden und in der Forschungsrichtung der Phänomenologie das zum Durchbruch, was als der )linguistic turn, in der angelsächsischen Logik fast gleichzeitig zum Zuge gelangte. In der ursprünglichen HusserlSchelerschen Entfaltung der phänomenlogischen Forschung war trotz aller Wendung zur Lebenswelt die Sprache ganz verschattet geblieben. In der Phänomenologie hatte sich die abgründige Sprachvergessenheit wiederholt, die bereits den transzendentalen Idealismus kennzeichnete und die durch die unglückliche Kritik Herders an der kantischen transzendentalen Wendung beglaubigt schien. Selbst in der HegeIschen Dialektik und Logik fand die Sprache keinen ausgezeichneten Platz. Auf der anderen Seite wies Hegel gelegentlich auf den logischen Instinkt der Sprache hin, dessen spekulative Antizipation des Absoluten dem genialen Werk der Hegelsehcn Logik seine Aufgabe stellte. Tatsächlich war nach Kants rokokohaft-zierlieher Eindeutschung der Sehulsprache der Metaphysik der Beitrag Hegels zur Sprache der Philosophie von unverkennbarer Bedeutung. Er erinnerte formlich an die sprach- und begriffs bildende Energie des Aristotcles und kam diesem größten Vorbild auch insofern am nächsten, als er in die Sprache des Begriffs viel vom Geiste seiner Muttersprache hinüber zu retten vermochte. Dieser Umstand hat freilich rur ihn die Schranke der Unübersetzbarkeit aufgerichtet, die über mehr als ein Jahrhundert unübersteigbar war und bis heute ein schwer zu nehmendes Hindernis bildet. Aber eine ZentralstelJung hatte auch bei Hegel die Sprache nicht gewonnen. In Heidegger wiederholte sich ein ähnlicher, ja sogar noch stärkerer Ausbruch ursprünglicher Sprachkraft im Reiche des Gedankens. Dazu trat sein bewußter Rückgriff auf die Ursprünglichkeit der griechischen Philosophensprache. So wurde )Sprache< in der ganzen Anschauungskraft ihrer lebensweltlichen Bodenständigkeit virulent und brach in die hochverfeiner-
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tc Deskriptionskunst der husserlschen Phänomenologie machtvoll ein. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Sprache selbst zum Gegenstand ihrer philosophischen Selbstbegreifung wurde. Wenn schon im Jahre 1920, wie ich bezeugen kann, von einem deutschen Katheder einjunger Denker, eben Heidcgger, darüber nachzudenken begann, was es heißt, daß )es weltet<, so war das der Durchbruch durch eine gediegene, aber ihren eigenen Ursprüngen ganz entfremdete Schulsprache der Metaphysik und bedeutete im selben Atem ein Sprachereignis und den Gewinn eines tieferen Verständnisses von Sprache überhaupt. Was in der Tradition des deutschen Idealismus von Humboldt, den Brüdern Grimm, SchJeiermacher und den Schlegels und zuletzt von Dilthey dem Phänomen der Sprache zugewandt wurde und der neueren Sprachwissenschaft, vor allem der Sprachvergleichung, einen ungeahnten Auftrieb verlieh, verblieb im Rahmen der Identitätsphilosophie. Die Identität des Subjektiven und des Objektiven, von Denken und Sein, von Natur und Geist hielt sich bis in die Philosophie der symbolischen Forrnen 102 durch, unter denen die Sprache hervorragt. Es war in letzter Aufgipfclung die synthetische Leistung der HegeIschen Dialektik, durch alle erdenklichen Widersprüche und Differenzierungen hindurch Identität wiedcr herzustellen und den aristotelischen Urgedanken der l\loesis noeseös zur reinsten Vollendung zu steigern. Das hat der Schluß paragraph von HegeIs Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften geradezu herausfordernd formuliert. Als ob die ganze lange Geschichte des Geistes, wie Hege! in Anlehnung an einen Vergilvers zum Ausdruck brachte, die Arbeit auf ein einziges Ziel hin war: >tafltae molis erat se ipsam cognoscere ffletttem<. In der Tat blieb es ftir das neue, nachmetaphysische Denken unsercs Jahrhunderts eine beständige Herausforderung, daß die dialektische Vermittlung im Stile Hegcls auf ihre Weise die Überwindung des neuzeitlichen Subjektivismus schon vollbracht hatte. Allein der hegeIsche Begriff des objektiven Geistes legt davon ein sprechendes Zeugnis ab. Noch die religiös-motivierte Kritik, die Kierkegaards Parole des Entweder-Oder an dem Sowohl-als-Auch der dialektischen Selbstaufhebung aller Setzungen geübt hatte, konnte in die totale Vermittlung der Dialektik eingesogen werden. Ja, selbst noch Heideggers Kritik am Bewußtseinsbegriff, die den gesamten Bewußtseinsidealismus durch eine radikale ontologische Destruktion als eine Entfrcmdung des griechischen Denkens erwies und die vollends die ncukantianisch überformtc Phänomenologie Husserls traf, war kein voller Durchbruch. Was sich Fundamcntalontologie des Daseins nannte, konnte trotz aller temporalen Analysen im Sorgecharakter des Daseins seinen
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1923.
E. Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen. Bd. I Die Sprache, Berlin
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Selbstbezug und damit die Fundamentalstellung des Selbstbewußtseins nicht überwinden. Daher konnte es keinen wirklichen Ausbruch aus der Bewußtseinsimmanenz Husserlscher Prägung herbeifuhren. Heidegger hat sich das sehr bald eingestanden und hat die radikalen Denkwagnisse Nietzsches in sich aufgenommen, ohne doch andere Wege zu finden als Holzwege, die nach der Kehre des Weges ins Unwegsame wiesen. War es nur die Sprache der Metaphysik, die diesen lähmenden Bann des transzendentalen Idealismus aufrecht erhielt? Heidegger zog die äußerste Konsequenz aus seiner Kritik an der ontologischen Bodenlosigkeit von Bewußtsein und Selbstbewußtsein durch Abkehr von dem Begründungsdenken der Metaphysik überhaupt, Dennoch blieb diese Kehre und Abkehr ein permanentes Ringen mit der Metaphysik. Ihre Überwindung sollte dadurch vorbereitet werden, daß nicht nur der neuzeitliche Subjektivismus durch die Destruktion seiner unausgewiesenen Begriffe hintergangen wurde, sondern daß auch als Positives die griechische Urerfahrung des Seins hinter dem Aufstieg und der Herrschaft der abendländischen Metaphysik im Lichte des Begriffs zurückgeholt werden sollte, Heideggers Rückgang von dem Physis-Begriff des Aristoteles auf die Seinserfahrung der vorsokratischen Anfange blieb in Wahrheit eine abenteuerhafte Irrfahrt, Es ist wahr, daß ihr, wenn auch noch so vage, das Fernziel stets vor Augen stand: den Anfang, das Anfangliehe neu zu denken. Dem Anfang näherkommen bedeutet ja immer, anderer, offener Möglichkeiten im Rückgang des gegangenen Weges gewahr werden. Wer ganz am Anfang steht, muß seinen Weg wählen, und wenn er zum Anfang zurückgeht, wird er dessen inne, daß er vom Ausgangspunkt aus auch andere Wege hätte gehen können - etwa, wie das östliche Denken andere Wege gegangen ist. Vielleicht geschah das dort so wenig aus freier Wahl, wie die abendländische Wegrichtung einer solchen entsprang. Vielmehr verdankte es sich dem Umstand, daß keine grammatische Konstruktion von Subjekt und Prädikat das östliche Denken auf die Metaphysik von Substanz und Akzidens hinsteuerte. So verwundert es nicht, daß auch Heideggers Rückweg zum Anfang etwas von der Faszination des östlichen Denkens zu spüren bekommen hat und demselben ein paar Schritte weit mit Hilfe japanischer und chinesischer Besucher - vergeblichzu folgen sucht. Sprachen, und insbesondere das allen Sprachen des eigenen Kulturkreises gemeinsame Grundgerüst, sind nicht leicht hintergehbar. Ja, selbst in der eigenen Herkunftsgeschichte läßt sich der Anfang nie wirklich erreichen. Er verschiebt sich immer wieder ins Ungewisse- so wie sich dem Küstenwanderer in der berühmten Schilderung des Rückschreitens in der Zeit, die Thomas Mann am Anfang seines >Zauberbergs( gegeben hat, hinter jedem letzten Küstenvorsprung ein immer neuer in endlosem Fortgang zeigt. Entsprechend hat Heidegger der Reihe nach an Anaximander, an Heraklit, an Parmenides, dann wieder an Heraklit, die anfangliehe Erfah-
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rung des Seins, Zeugnisse jenes Ineinander von Entborgenheit und VerbeIgung, zu finden gemeint. In Anaximander glaubt er das Anwesen selbst und die Weile seines Wesens zu finden, in Parmenides das schlaglose Herz der Aletheia, bei Heraklit die Physis, die sich zu verbergen liebt. Aber am Ende gilt all das zwar ftif den Wink der Worte, die ins Unzeitliche weisen, nicht wirklich fur die Rede, das heißt die Selbstauslegung des Gemeinten, die in den frühen Texten begegnet, Hcidegger konnte immer nur in dem Namen, in der Nennkraft der Worte und ihren unausschreitbaren Irrgängen wie in Goldadern seine eigene Vision des Seins wiedererkennen: Dies ,Sein< solltcja nicht das Sein von Seiendem sein. Die Texte selber erwiesen sich immer wieder nicht als das letzte Vorgebirge auf dem Wege zum Ausblick ins Freie des Seins. So war es sozusagen vorbestimmt, daß Heidegger auf diesem Wege seiner Schürfgänge im Urgestein der Wörter der Endgestalt Nietzsches begegnete, dessen Extremismus sich zur Sclbstzerstörung aller Metaphysik, aller Wahrheit und aller Erkenntnis von Wahrheit, vorgnvagt hatte. Freilich konnte ihm Nietzsches eigene Begriffskunst nicht genügen, so sehr ihm dessen Entzauberung der Dialektik - "Hegels und der anderen Schleiermacher« willkommen war und so sehr ihn die Vision der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bestätigen mochte, in der Philosophie noch etwas anderes zu sehen als jene Metaphysik einer wahren Welt hinter der scheinbaren. All das konnte ihm offenkundig nur eine kurze Weggenossenschaft mit Nietzsehe bedeuten. )) So viele Jahrhunderte - und kein neuer Gott,(, war das Motto seiner Nietzsche-Rezeption. Aber was weiß Heidegger von einem neuen Gott? Ahnt er ihn und fehlt ihm nur die Sprache, ihn anzurufen? Hält ihn zu sehr die Sprache der Metaphysik in Bann? Sprache ist trotz all ihrer vorgreiflichen Unhintergehbarkeit nicht einfach die babylonische Gefangenschaft des Geistes. Ebenso meint die babylonische Sprach verwirrung nicht nur, wie nach biblischer Überlieferung, die Vielheit der Sprachfamilien und die Vielheit der Sprachen, die menschliche Hybris heraufgeftihrt hat. Sie umfaßt vielmehr das Ganze der Fremdheit, die zwischen Mensch und Mensch sich auftut und immer neue Verwirrung schafft. Aber darin ist auch die Möglichkeit ihrer Überwindung eingeschlossen. Denn die Sprache ist Gespräch. Man muß das Wort suchen und kann das Wort finden, das den anderen erreicht, man kann sogar die fremde, seine, des Anderen Sprache lernen. Man kann in die Sprache der Anderen übergehen, um den Anderen zu erreichen. All das vermag Sprache als Sprache. Freilich ist das Verbindende, das sich als die sich bildende Verständigungssprache herstellt, wesens mäßig umwogt vom Gerede, dem Schein von Rede, der in Wahrheit auch das Gespräch zum Tausch leerer Worte werden läßt. Lacan hat mit Recht gesagt, daß das Wort, das nicht an einen anderen
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gerichtet ist, ein leeres Wort ist. Das eben macht den Primat des Gespräches aus, das sich in Frage und Antwort entwickelt und so die gemeinsame Sprache aufbaut. Eine bekannte Erfahrung im Gespräch von Menschen, die zwei einander fremde Sprachen sprechen, jedoch die Sprache des anderen halbwegs verstehen können, ist, daß man auf dieser Basis kein Gespräch fUhren kann, sondern in Wahrheit einen langsamen Kampf durchficht, bis die eine der beiden fremden Sprachen von beiden gesprochen wird, wenn auch von dem einen noch so schlecht. Das ist eine Erfahrung, die jeder machen kann. Darin liegt ein bedeutsamer Hinweis. Solches hat in Wahrheit nicht nur zwischen Angehörigen fremder Sprachen stattgefunden, sondern vollzieht sich ebenso in der wechselseitigen Anpassung der Partner injedem Gespräch, das in derselben Sprache gefUhrt wird. Erst die Antwort, die wirkliche oder die mögliche, macht ein Wort zu einem Wort. In denselben Erfahrungsbereich gehört, daß alle Rhetorik, eben weil sie keinen beständigen Austausch von Frage und Antwort, von Rede und Gegenrede zuläßt, immer Einschläge leerer Worte enthält, die wir als floskeln oder ,bloße Redensarten< kennen. Ahnlieh geht es uns mit dem tatsächlichen Vollzug des Verstehens beim Zuhören und ebenso im Vollzug des Lesens. Da ist der Bedeutungsvollzug, wie insbesondere Husserl gezeigt hat, von Leerintentionen durchsetzt. Hier muß weiter nachgedacht werden, wenn man mit der Sprache der Metaphysik einen Sinn verbinden will. Was damit gemeint sein kann, ist gewiß nicht die Sprache, in der die Metaphysik erstmals entwickelt wurde, die Philosophensprache der Griechen. Vielmehr ist damit gemeint, daß in die lebenden Sprachen heutiger Sprachgemeinschaften begriffliche Prägungen eingegangen sind, die aus dieser Ursprache der Metaphysik stammen. Wir nennen das im wissenschaftlichen wie im philosophischen Sprachgebrauch die Rolle der Terminologie. Während aber in den mathematischen Naturwissenschaften - vor allem in den experimentellen - die Einftihrung von Benennungen ein reiner Konventionsakt ist, der zur Bezeichnung allen zugänglicher Sachverhalte dient und überhaupt kein echtes Bedeutungsverhältnis zwischen dem international eingeftihrten Terminus und den Sprachgewohnheiten der nationalen Sprachen ins Spiel bringt - wer denkt auch nur bei >Volt< an den großen Forscher Volta? -, ist das im Falle der Philosophie anders. Da gibt es keinen allgemeinzugänglichen, d. h. kontrollierbaren Erfahrungsbereich, der durch verabredete Termini bezeichnet wird. Die Begriffsworte, die im Bereich der Philosophie geprägt werden, sind vielmehr immer durch die jeweils gesprochene Sprache artikuliert, der sie entstammen. Begriffsbildung bedeutet freilich auch dort, daß sich die Vielstrahligkeit möglicher Bedeutung, die einem Worte zukommt, auf eine genau bestimmt Bedeutung hin definiert. Aber solche Begriffs-Worte sind niemals ganz herausgelöst aus dem Bedeutungsfcld, in dem sie ihre volle
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Bedeutungsentfaltung besitzen. Ja, die gänzliche Herauslösung eines Wortes aus seinem Wortzusammenhang und seine Einschließung (hoYismos) in einen präzisen Inhalt, die es zum 13egriffswort macht, bedroht seinen Gebrauch notwendig mit Sinnentleerung. So ist etwa die Bildung eines metaphysischen Grundbegriffes, wie der Begriff der Ousia einer ist, nie voll einlösbar, solange der Wortsinn des griechischen Wortes nicht in seiner ganzen Feldbreite mitgegenwärtig ist. Daher hat es zum Verständnis des griechischen Seinsbegriffs viel beigetragen, zu wissen, daß das Wort Ousia im Griechischen in erster Linie das landwirtschaftliche Anwesen bedeutet und daß von da der Begriffssinn von }Sein( als Anwesenheit von Anwesendem herrührt. Das Beispicllehrt: eine Sprache der Metaphysik gibt es nicht, sondern nur eine metaphysisch gedachte Ausprägung von Begriffsworten, die aus der lebendigen Sprache abgehoben sind. Eine solche Begriffsprägung kann, wie im Falle der Logik und Ontologie des Aristoteles, eine feste Begriffstradition stiften und in der Folge eine Entfremdung einleiten, die schon früh einsetzt, mit der hellenistischen Schulkultur sich mit der Übertragung ins Lateinische fortsetzt und die dann abermals in der Übernahme der lateinischen Übertragung in die Nationalsprachen der Gegenwart eine Schulsprache bildet, in der der Begriff mehr und mehr seinen Ursprungssinn aus der Erfahrung des Seins verliert. So stellt sich die Aufgabe einer Destruktion der Begriffiichkeit der Metaphysik. Das allein ist der haltbare Sinn der Rede VOn der Sprache der Metaphysik: die in ihrer Geschichte zur Ausbildung gelangte llegriffiichkeit. Die Aufgabe einer Destruktion der entfremdeten Begriffiichkeit der Metaphysik, die im Denken der Gegenwart fortwirkt, ist von Heidegger in seinen Anfangsjahren zur Parole erhoben worden. Denkende Rückfuhnmg der Begriffsworte der Tradition auf die griechische Sprache, auf den natürlichen Wortsinn der Worte und die verborgene Weisheit der Sprache, die in ihnen aufzufinden ist, wie es Heidegger mit unglaublicher Frische vermochte, hat in der Tat das griechische Denken und seine Kraft, uns anzusprechen, neu belebt. Das war Heideggers Genie. So neigte er sogar dazu, Wörter auf ihren verschollenen, nicht mehr mitgemeinten Wortsinn zurückzubringen und aus diesem sogenannten etymologischen Wortsinn gedankliche Folgerungen zu ziehen. Bezeichnend, daß der späte Heidegger in diesem Zusammenhang von} Urworten< spricht, in denen sich, was er als die griechische Welterfahrung ansieht, weit greifbarer zur Sprache gebracht hat, als in den Lehren und Sätzen der frühgriechischen Texte. Heidegger war gewiß nicht der erste, die Sachcntfremdung zu realisieren, die in der Schulsprache der Metaphysik geschehen war. Es war vielmehr bereits das Bestreben des deutschen Idealismus seit Fichte und vor allem Hege!, die griechische Substanzontologie und ihre llegriffiichkeit durch die dialektische Bewegung des Gedankens aufzulösen und aufzuschmclzen.
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Auch dafUr gab es Vorläufer, sogar solche im Gebrauch der lateinischen Schulsprache, insbesondere dort, wo neben den lateinischen Schultraktaten das lebendige Wort der Predigt in der Landessprache einherging, wie etwa bei Meister Eckhart oder Nicolaus Cusanus, aber auch etwa in den Spekulationen eines Jakob Böhme. Doch das waren Randfiguren der metaphysi_ schen Tradition. Wenn Fichte an die Stelle der )Tatsache< die ,Tathandlung< setzt, so hat er im Grunde die provokatorischen Prägungen eines Heidegger vorweggenommen, der den Sinn der Worte geradezu auf den Kopf zu stellen liebte, z. B. Ent-fernung als Näherung verstand, oder auch Sätze, wie >Was heißt denken?< in dem Sinne verstand als wollte das sagen: ») Was befiehlt uns zu denken?{~ Oder >Nichts ist ohne Grund< als eine Aussage über das Nichts, grundlos zu sein, verstand: Gewaltsamkeiten eines Gegenschwimmers, der gegen den Strom ankämpft. Im deutschen Idealismus war es im ganzen jedoch weniger die Umprägung von Worten und Forcierung von Wort bedeutungen, was die Traditionsgestalt der metaphysischen Begrifflichkeit aufzuschmclzen bestimmt war, als die Zuspitzung von Sätzen zu ihrem Gegensatz und Widerspruch. Dialektik ist seit alters die Zuspitzung immanenter Gegensätze zum Widerspruch, und wenn die Verteidigung zv.reier entgegengesetzter Sätze keinen bloß negativen Sinn hat, sondern gerade auf die Vereinigung des Widersprechenden abzielt, ist gleichsam die äußerste Möglichkeit erreicht, die das metaphysische Denken, das heißt, das Denken in ursprünglich griechischen Begriffen, zur Erfassung des Absoluten fahig macht. Das Leben aber ist Freiheit und Geist. Die innere Konsequenz solcher Dialektik, in der Hegel das Ideal des philosophischen Beweisens sah, ermöglichte ihm in der Tat, über die Subjektivität des Subjektes hinauszugehen und Geist auch als objektiven zu denken, wie oben schon erwähnt. In ihrem ontologischen Resultat endet diese Bewegung aber erneut in der absoluten Präsenz des sich selbst gegenwärtigen Geistes, wie das Ende der HegeIschenEnzyklopädie bezeugt. Deshalb blieb Heidegger in einer beständigen, gespannten Auseinandersetzung mit der Verftihrung der Dialektik, die statt der Destruktion der griechischen Begriffe ihre Fortbildung zu dialektischen Begriffen für Geist und Freiheit betrieb und das eigene Denken gleichsam domestizierte. Es kann hier nicht ausgeftihrt werden, wie Heidegger von seiner Grundintention aus in seinem späteren Denken die destruktive Leistung seiner Anfange festgehalten und in sich aufgehoben hat. Dafür legt der sibyllinische Stil seiner späten Schriften Zeugnis ab. Er war sich selbst seiner und unserer Sprachnot voll bewußt. Neben seinen eigenen Versuchen, >die Sprache der Metaphysik, mit Hilfe der dichterischen Sprache Hölderlins hinter sich zu lassen, scheinen mir nur zwei Wege beschreitbar gewesen zu sein und sind beschritten worden, um gegen die ontologische Selbstzähmung, die der Dialektik eigen ist, einen Weg ins Freie zu weisen. Das eine ist der Weg von
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der Dialektik zurück zum Dialog und zurück zum Gespräch. Diesen Weg habe ich selbst in meiner philosophischen Hermeneutik zu gehen versucht. Der andere Weg ist vor allem der von Derrida gezeigte Weg der Dekonstruktion. Hier soll gerade nicht in der Lebendigkeit des Gespräches verschollener Sinn wiedererweckt werden. In dem hintergründigen Geflecht von Sinnbezügcll, das allem Sprechen zugrundeliegt, also in einem ontologischen Begriff von ecriture, - statt von Gerede oder Gespräch - soll vielmehr die Einheitlichkeit von Sinn überhaupt aufgelöst und damit die eigentliche Brechung der Metaphysik vollbracht werden. Im Raum dieser Spannung ergeben sich die eigentümlichsten Ulnakzentuierungen. In den Augen der hermeneutischen Philosophie überspringt Heideggers Lehre von der Überwindung der Metaphysik mit ihrem Enden in der totalen Seins vergessenheit der technologischen Ära den beständigen Widerstand und die Beharrungskraft gefUgter Einheiten des Lebens, die in den kleinen und großen Maßen des mitmenschlichen Miteinanderseins fortbestehen. In den Augen des Dekonstruktivismus dagegen läßt es Heidegger im Gegenteil an der letzten Radikalität fehlen, wenn er nach dem Sinn von Sein fragt und damit an einem Fragesinn festhält, von dem man zeigen könne, daß ihm eine sinnvolle Antwort nicht entsprechen könne. Derrida setzt der Frage nach dem Sinn von Sein die primäre Differenz entgegen und sieht in Nietzsehe die radikalere Figur gegenüber dem metaphysisch-temperierten Anspruch des Heideggerschen Denkens. Er sieht Heidcgger noch immer in der Linie des Logozentrismus, dem er das Gegenwort des immer auseinandergezogenen und sich verschiebenden Sinnes entgegenstellt, der alle Versammlung auf Einheit hin zersprengt und von ihm ecriture genannt wird. Offenbar bezeichnet Nietzsehe hier den kritischen Punkt. So werden sich fUr eine Gegenüberstellung und Abwägung der Aussichten, die sich auf den beschriebenen bei den Wegen öffnen, die von der Dialektik zurückfUhren, am Falle Nietzsches die Möglichkeiten diskutieren lassen, die sich fUr ein Denken bieten, das die Metaphysik nicht länger fortsetzen kann. Wenn ich die Ausgangslage, von der aus Heidegger scinen Weg zurück sucht, als Dialektik bezeichne, so geschieht das nicht nur aus dem äußerlichen Grunde, daß Hegcl seine säkulare Synthese des Erbes der Metaphysik durch eine spekulative Dialektik zustande gebracht hat, die die ganze Wahrheit des griechischen Anfangs in sich zu versammeln beanspruchte. Vielmehr vor allem deswegen, weil Heidegger tatsächlich derjenige war, der nicht innerhalb der Modifikationen und Perpetuierungen des Erbes der Metaphysik verblieb, wie es der Marburger Neukantianismus und Husserls neukantianische Überformung der Phänomenologie betrieben. Was er als Überwindung der Metaphysik anstrebte, erschöpfte sich auch nicht in der Protestgebärde, wie sie die Linkshegclianer und Männer wie Kierkegaard
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und Nietzsche darstellen. Er hat diese Aufgabe vielmehr mit der harten Arbeit des Begriffs, die an Aristotelcs zu lernen war, in Angriff genommen. Dialektik meint also in meinem Zusammenhang das weitgespannte Ganze der abendländischen Tradition der Metaphysik, ebenso sehr )das Logische< im Sprachgebrauch Hegels als auch den )Logos< im griechischen Denken, der bereits die ersten Schritte der abendländischen Philosophie geprägt hat. In diesem Sinne war Heideggers Versuch, die Seins frage zu erneuern oder besser, sie erstmals in einen nicht-metaphysischen Sinne zu stellen, also das, was er >den Schritt zurück< nannte, ein Rückweg von der Dialektik. Auch die hermeneutische Wendung zum Gespräch, die ich versuchte, geht im selben Sinne nicht nur hinter die Dialektik des deutschen Idealismus zurück, und das heißt auf die platonische Dialektik, sondern zielt auch noch hinter dieser sokratisch-dialogischen Wendung auf deren Voraussetzung, und das ist die in den Logoi gesuchte und geweckte Anamnesis. Diese aus dem Mythos geschöpfte, aber höchst rational gemeinte Wiedererinnerung ist nicht nur die der einzelnen Seele, sondern immer die des }Geistes der uns verbinden mag< - uns, die ein Gespräch sind. Im-Gespräch-Sein heißt aber Über-sich-hinaus-Sein, mit dem Anderen denken und auf sich zurückkommen als auf einen anderen. Wenn Heidegger den metaphysischen Begriff des Wesens nicht mehr als die Anwesenheit des Anwesenden denkt, sondern den Ausdruck >Wesen( als ein Verbum, das heißt ein Zeitwort, und das heißt >temporal< versteht, dann ist Wesen als An-Wesen verstanden, in einem Sinne, der dem üblichen Ausdruck >Verwesen< antworten soll. Das heißt aber, daß er, wie etwa in seinem Anaximander-Aufsatz, der ursprünglichen griechischen Zeiterfahrung die> Weile( unterlegt. Damit hinterfragt er in der Tat die Metaphysik und ihren Horizont, wenn sie nach dem Sein fragt. Heidegger hat selbst daran erinnert, daß der von Sartre zitierte Satz >Das Wesen des Daseins ist seine Existenz( mißbraucht wird, wenn man nicht beachtet, daß der Ausdruck Wesen in Anflihrungszeichen gesetzt ist. Es handelt sich also gerade nicht um den Begriff der >Essenz<, die als> Wesen< der Existenz, der Tatsache, vorausgehen soll, aber ebensowenig um die Sartresehe Umkehrung dieses Verhältnisses, so daß die Existenz der Essenz vorausginge. Nun meine ich, daß Heidegger, wenn er nach dem Sinn von Sein fragt. auch }Sinn< durchaus nicht im Sinne der Metaphysik und ihres Wesens begriffs denkt, sondern als den Fragesinn, der nicht einer bestimmten Antwort gewärtig ist, sondern in eine Wegrichtung des Fragens weist. >Sinn ist Richtungssinn< habe ich einmal gesagt, und Heidegger hat zeitweise sogar einen orthographischen Archaismus eingeftihrt, indem er den Ausdruck >Sein< als >Seyn< schrieb, um den Charakter eines Zeitwortes zu unterstreichen. Ähnlich ist mein Versuch zu sehen, die Erblast der SuhstanzOntologie dadurch abzuschütteln, daß ich vom Gespräch und von der in ihm gesuchten und sich bildenden gemeinsamen Sprache ausgehe, in der
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Weiterent'.vicklungcn
sich die Logik von Frage und Antwort als das Bestimmende erweist. Sie öffnet eine Dimension der Verständigung, die über sprachlich fixierte Aussagen hinausgeht und damit auch über die allumfassende Synthese im Sinne des monologischen Selbstverständnisses der Dialektik. Nun hat gewiß auch die idealistisclie Dialektik ilire Herkunft aus der spekulativen Grundstruktur der Sprache, wie ich sie im dritten Teil von }Wahrheit und Methode< entwikkelt liabe, niclit ganz verleugnet. Aber wenn Hegel die Dialektik einem Begriff von Wissenschaft und Methode zuordnet, verdeckt er in Wahrheit ilire eigene Herkunft, ihren Ursprung in der Sprache. So hat die philosophische Hermeneutik den Bezug auf die speku1ative Zwei-Einheit, die zwischen Gesagtem und Ungesagtem spielt, im Auge, die in Wahrheit der dialektischen Zuspitzung zum Widerspruch und seiner Aufbebung in einer neuen Aussage vorausliegt. Es scheint mir ganz in die Irre zu führen, \-venn man aus der Rolle, die ich der Überlieferung im Stellen von Fragen und im Vorzeichnen von Antworten zuerkannte, ein Übersubjekt macht und dann, wie Manfred Frank und Forget behaupten, die hermeneutische Erfahrung auf eine parole vide reduzierte. Das findet in >Wahrheit und Methode( keine Stütze. Wenn dort von Überlieferung und Gespräch mit ihr die Rede ist, dann stellt dies kein kollektives Subjekt dar, sondern ist einfach der Sammelname für den jeweils einzelnen Text (und auch dies im weitesten Sinne von Text, so daß ein Bildvverk, ein Bauwerk, ja selbst ein Naturgeschehen darin befaßt ist).103 Der sokratische Dialog platonischer Gestaltung ist gewiß eine sehr besondere Art von Gespräch, das von dem einen geführt wird und dem der andere willig-unwillig zu folgen hat, aber insofern bleibt es doch das Vorbild allen Gesprächsvollzugs, daß in ihm nicht die Worte, sondern die Seele des anderen widerlegt vvird. Das sokratische Gespräch ist kein exoterisches Einklcidungs- und Verkleidungsspiel ftir Besser-Gewußtes, sondern der wahre Vollzug der Anamnesis, der denkenden Erinnerung, die der in die Endlichkeit des Leiblichen gefallenen Seele allein möglich ist und die als Gespräch sich vollzieht. Eben das ist der Sinn der spekulativen Einheit, die sich in der Virtualität des Wortes vollbringt, daß es nicht ein einzelnes Wort ist und auch nicht eine ausformulierte Aussage, sondern vielmehr über alles Aussagbare hinaus\veist. Die Fragedimension, in der wir uns hier be\vegen, hat also nichts mit einem Code zu tun, um dessen Entzifferung es geht. Daß ein solcher entzifferter Code allem Schreiben und Lesen von Text zugrundeliegt, ist gewiß richtig, stellt aber eine bloße Vorbedingung ftir die hermeneutische Bemühung um das dar, was in den Worten gesagt wird. Darin stimme ich der Kritik am Strukturalismus durchaus zu. Ich gehe aber, wie mir scheint,
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Ges. Werke Bd. 1. S. 478
Destruktion und Dekonstrukrion
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über Derridas Dekonstruktion hinaus, als die Worte überhaupt nur 1m Gespräch da sind, und Worte im Gespräch überhaupt nicht als das einzelne Wort da sind, sondern als das Ganze eines Redc- und Ant\vortstehens. Offenbar geht es bei dem Prinzip der Dekonstruktion insofern um das Gleiche, als auch Derrida ein metaphysisches Sinnreich, dem die Worte und Wortbedeutungen zugeordnet sind, in den Vollzug aufzuheben bestrebt ist, den er als ecriture bezeichnet und dessen Vollbringung nicht ein essentiales Sein ist, sondern die Linie, die zeigende Spur. Damit richtet er sich gegen einen metaphysischen Begriff von Logos und spricht von dem Logozentrismus, der selbst noch Heideggers Seins frage als Frage nach dem Sinn VOn Sein eingeschrieben sei. Das ist ein seltsamer, auf Husserl zurückinterpretierter Heidegger, als ob alle Rede in Urteils aussagen bestünde. In diesem Sinne ist es ge\"iliß vnhr, daß die unermüdliche Konstitution von Sinn, der die phänomenologische Forschung gewidmet ist und die im Akt des Denkens als die Erftillung einer Intention des Bewußtseins geleistet wird, >Präsenz< meint. Die kundgebende Stimme (la voix) ist gleichsam der Präsenz des im Denken Gedachten zugeordnet. In Wahrheit ist es freilich auch in Husseds Bemühung um ehrliche Philosophie gerade die Zeiterfahrung und das Zeitbewußtsein, die aller )Präsenz< und aller Konstitution auch überzeitlicher Geltung voraus liegt. Es ist aber richtig, daß das Zeitproblem Husserls Denken in einem unauflöslichen Bann hält, weil er den griechischen Begriff von Sein festhält, der im Grunde schon Augustinus durch das Rätsel gebannt hat, das das Sein der Zeit darstellt, die )jetzt< ist und zugleich nicht ist, um es mit Hegcl auszudrücken. Ähnlich wie Heidegger selbst vertieft sich daher Derrida in die geheimnisvolle Vielfaltigkeit, die im Worte und der Vielfalt seiner Bedeutungen, dem ungewissen Potential seiner Bedeutungsdifferenzierungen, gelegen ist. Daß Heidegger von dem Satz und der Aussage auf die Offenheit des Seins zurückfragt, die überhaupt erst Worte und Sätze möglich macht, läßt ihn gleichsam der ganzen Dimension der aus Worten gebildeten Sätze und Gegensätze und Widersprüche zuvorkommen. Ähnlich scheint Derrida den Spuren nachzugehen, die in ihrer Lesung erst sind. Er hat insbesondere der Zeitanalyse des Aristotc1es abzugewinnen gesucht, daß >die Zeit< dem Scin als die diffirance sichtbar \.vird. Da er aber von Husserl aus Heidegger licst, nimmt er die Anlehnung an die husserlsche Begrifflichkeit, die in )Sein und Zeit< und seiner transzendentalen Sclbstbeschreibung fühlbar ist, für ein Zeugnis von Heideggers Logozentrismus, und wenn ich nicht nur das Gespräch, sondern das Gedicht und seine Erscheinung im inneren Ohr für die wahre Wirklichkeit von Sprache erkläre, dann nennt er das gar )Phonozentrismus<. Als ob Rede oder Stimme auch nur ftir das angestrengteste reflexive Bewußtsein in ihrem Vollzuge je Präsenz gewönne und nicht vielmehr das Verschwinden selbst wäre. Es ist kein billiges Reflexionsargu-
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Weiterentwicklungen
ment, sondern eine Erinnerung an das, was jedem Sprechenden und jedem Denkenden geschieht, daß er seiner selbst nicht gewahr ist, gerade weil cr >denkt<.
So mag Dcrridas Kritik an Hcidcggers Nietzschc-Interpretation - dessen Interpretation mich in der Tat überzeugt hat - zur Illustration der offenen Problematik, vor der wir uns befinden, dienen. Da steht auf der einen Seite der verwirrende Facettenreichtum und das unaufhörliche Maskenspiel, in dem sich Nietzsches kühne Dcnkvngnisse in eine ungreifbare Vielfaltigkeit zu zerstreuen scheinen, und auf der anderen Seite die Frage an ihn, was das Spiel dieses Wagnisses bedeutet. Nicht etwa, daß Nietzsehe selber die Einheit in der Zerstreuung vor Augen gehabt hätte und den inneren Zusammenhang zwischen dem Grundprinzip des Willens zur Macht und der mittäglichen Botschaft von der ewigen Wiederkehr des Gleichen selber in Begriffe gefaBt hätte. Aber wenn ich Heidegger recht verstehe, ist es gerade dies, .daß Nietzsehe das nicht getan hat, so daß uns diese Metaphern seiner letzten Visionen wie spiegelnde Facetten erscheinen, hinter denen kein Eines ist. Das stelle die einheitliche Endstellung dar, in der sich die Frage nach dem Sein selbst vergiBt und verliert. - So bedeute die technologische Ära, in der sich der Nihilismus vollende, in der Tat die ewige Wiederkehr des Gleichen. - Dies zu denken, Nietzsehe denkend aufzunehmen, scheint mir nicht eine Art Rückfall in die Metaphysik und ihren ontologischen Vorgriff, der im Begriff des Wesens gipfelt. Wäre das so, Heideggers Wege, die als nach einem )Wesen< ganz anderer, temporaler Struktur unterwegs sind, würden sich nicht immer wieder im Ungangbaren verlieren. Vol1ends das Gespräch, das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in unseren Tagen um neue große Partner aus einem sich planetarisch erweiternden Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz bestelit, steht am Anfang eines Gespräches, niclit an seinem Ziele.
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26. Exkurse I-VI 1960 zu I. 43 Der Begriff des Stiles ist eine der undiskutierten Selbstverständlichkeiten, von denen das historische Bewußtsein lebt. Ein Blick auf die noch wenig erforschte Wortgeschichte mag verdeutlichen, warum das so ist. Der Begriff fixiert sich, wie meistens, durch die Übertragung des Wortes aus seinem ursprünglichen Anwendungsbereich. Dabei \viId zunächst kein historischer, sondern ein normativer Sinn geprägt. So trirt )Sti]( in der neueren Tradition der antiken Rhetorik an die Stelle dessen, was dort die genera dicetldi meinen, und ist also ein normativer Begriff. Es gibt verschiedene Arten des Sagens und Schreibens. die je nach dem Zweck und Inhalt am Platze sind und ihre spezifischen Forderungen stellen. Das sind die Stilarten. Es ist klar, daß mit einer solchen Lehre von den Stilarten und ihrer rechten Anwendung auch die falsche Anwendung mitgegeben ist. Für den, der die Kunst des Schreibens und Sichausdrückens besitzt, ist also die Einhaltung des richtigen Stiles gefordert. So erscheint der Begriff des Stiles, wie es scheint, zuerst in der französischen Jurisprudenz und meint dort die tnaniere de proceder, also ein bestimmten juristischen Forderungen genügendes Prozeßverfahren. Vom 16. Jahrhundert ab wird der Begriff dann auch rur die sprachliche Darstellungsweise überhaupt gebraucht'. Offenbar liegt dem Wortgebrauch die Anschauung zugrunde, daß rur eine kunstgerechte Darstellung bestimmte vorgängige Forderungen, insbesondere der Einheitlichkeit. bestehen. die von dem jeweiligen Inhalt des Dargestellten unabhängig sind. Die bei Panofsky' und W. Hofmann' zusammengestellten Beispiele nennen neben dem Wort stile die Worte tnaniera und gusla rur diesen normativen Begriff. der eine Gattungsforderung als Stilideal geltend macht. Daneben gibt es aber von Anfang an auch den personalen Gebrauch des 1 Vgl. auch Nuevo Estilo y Formulario de Es[ribirals Titel einer Formulariensammlung ftir Briefschreiber . Auchin solchem Ge brauch ist die Einhaltung des Stilcs fast das gleiche wicdie der genera di[endi. Doch liegt die Übertragung auf alle Ausdruckshaltungen, natürlich im normativen Sinne, nahe. 2 E. Panofsky, Idca, Anm. 244. J W. Hofmann, Studium Generale, 8. Jahrg. 1955, Heft 1, S. 1.
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Wortes. Stil ist auch die individuelle Hand. die in den Werken des gleichen Künstlers überall kenntlich ist. Dieser übertragene Gebrauch wurzelt wohl schon in der antiken Übung, klassische Repräsentanten für bcstimnlte genera dicendi zu kanonisieren. Begrifflich gesehen ist die Verwendung des Begriffes Stil ftir den sogenannten Personalsti1 in der Tat eine konsequente Anwendung der gleichen Bedeutung. Denn auch dieser Sinn von Stil bezeichnet eine Einheitlichkeit in der Varietät der Werke, nämlich, wie sich die charakteristische Darstellungsweise eines Künstlers von der jedes anderen Künstlers unterscheidet. Das tritt auch in Goethes Wortgebrauch heraus, der ftir die Folgezeit maßgeblich geworden ist. Goethes Begriff des Stiles wird aus der Abgrenzung gegen den Begriff der Manier gewonnen und vereinigt offenbar beide Seiten 4 • Ein Künstler bildet sich einen Stil, sofern er nicht mehr liebevoll nachahmt, sondern zugleich sich selbst damit eine Sprache schafft. Obwohl er sich an die gegebene Erscheinung bindet, ist dieselbe keine Fessel rur ihn - er bringt dennoch sich sc1bst dabei zum Ausdruck. So selten die Übereinstimmung von >treuer Nachahmung< und individueller Manier (Auffassungsweise) auch ist, gerade sie macht den Stil aus. Es ist also ein normatives Moment im Begriff des Stiles auch dort miteinbegriffen, wo es sich um den Stil einer Person handelt. Die >Natun, das ,Wesen< der Dinge, bleibt die Grundfeste der Erkenntnis und Kunst, von der sich der große Künstler nicht entfernen darf, und durch diese Bindung an das Wesen der Dinge behält nach Goethe auch die personelle Verwendung von >Stil< in klarer Weise einen normativen Sinn. Man erkennt leicht das klassizistische Ideal. Goethes Sprachgebrauch ist zugleich aber geeignet, den begrifflichen Inhalt zu verdeutlichen, den der Begriff Stil stets besitzt. In keinem Falle ist Stil schon ein bloßer individueller Ausdruck - immer ist ein Festes, Objektives damit gemeint, das die individuelle Ausdrucksgestaltung bindet. So erklärt sich auch die Anwendung, die dieser Begriff als historische Kategorie gefunden hat. Denn als ein solches Bindendes erweist sich dem historischen Rückblick gewiß auch derjeweilige Zeitgeschmack, und insofern ist die An"vendung des Stilbegriffs auf die Geschichte der Kunst eine natürliche Konsequenz des historischen Bewußtseins. Allerdings ist dabei der Sinn der ästhetischen Norm, die im Stilbegriff ursprünglichlag (vero stile) , zugunsten seiner deskriptiven Funktion verlorengegangen. Damit ist keineswegs entschieden, ob der Stilbegriffeine so ausschließliche Geltung verdient, wie er sie innerhalb der Kunstgeschichte im allgemeinen erlangt hat, - und ebensowenig, ob cr über die Kunstgeschichte hinaus auf andere geschichtliche Erscheinungen, z. B. auf das politische Handeln, anwendbar ist. 4
Vgl. Schelling III 494.
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Was zunächst die erste dieser Fragen betrifft, so scheint der historische Stil begriff überall dort unzweifelhaft legitim, wo die Bindung an einen herrschenden Geschmack den einzigen ästhetischen Maßstab darstellt. Er gilt also in erster Linie für alle dekorativen Phänomene, deren eigenste Bestimmung es ist, nicht fur sich, sondern an etwas zu sein und es in die Einheit eines Lebenszusammenhanges einzuformen. Das Dekorative gehört offenkundig als eine beiherspielende Qualität dem an, was eine andersartige Bestimmung, nämlich einen Gebrauch hat. Ob es dagegen legitim ist, den stilgeschichtlichen Gesichtspunkt auf sog. freie Kunstwerke auszudehnen, kann man sich immerhin fragen. Nun hatten wir uns bnvußt gemacht, daß auch ein sog. freies Kunstwerk seinen ursprünglichen Platz in einem Lebenszusammenhange hat. Wer es verstehen will, darf nicht beliebige Erlebniswerte ihm abgewinnen wollen, sondern muß die richtige Einstellung, d. h. aber vor allem auch die historisch richtige Einstellung, zu ihnen gewinnen. Es gibt also in der Tat auch hier Stilforderungen, die nicht verletzt werden dürfen. Aber das heißt nicht, daß ein Kunstwerk keine andere als eine stilgeschichtliche Bedeutung besitzt. Darin hat Sedlmayr mit seiner Kritik der Stilgeschichte ganz recht5 • Das klassifikatorische Interesse, das durch die Stilgeschichte befriedigt wird, trifft nicht eigentlich das Künstlerische. Gleichwohl behält der Stilbegriff auch rur die eigentliche Kunstwissenschaft seine Bedeutung. Denn auch eine kunst\vissenschaftliche Strukturanalyse, wie sie Sedlmayr fordert, muß selbstverständlich in dem, was sie die richtige Einstellung nennt, den stil geschichtlichen Forderungen genügen. Bei den Kunstarten, die einer Reproduktion bedürfen (Musik, Theater, Tanz usw.), ist das ganz augenscheinlich. Die Wiedergabe muß stilgerecht sein. Man muß wissen, was der Zeitstil und der persönliche Stil eines Meisters verlangen. Dieses Wissen ist freilich nicht alles. Eine )historisch getreue< Wiedergabe wäre keine echte künstlerische Reproduktionsleistung, d. h. in ihr stellte sich nicht das Werk als Kunstwerk dar, sondern wäre vielmehr, soweit derartiges überhaupt möglich ist, ein didaktisches Produkt oder bloßes Material der Geschichtsforschung, wie es etwa auch die von dem Meister selbst dirigierten Schallplattenaufnahmen einst sein werden. Gleichwohl wird auch die lebendigste Erneuerung eines Werkes durch die stilgeschichtliche Seite der Sache gewisse Einschränkungen erfahren, denen sie nicht entgegenhandeln darf. Der Stil gehört in der Tat zu den ,Grundfesten< der Kunst, zu den Bedingungen, die in der Sache liegen, und was so an der Reproduktion heraustritt, das gilt offenbar für unser aufnehmendes Verhalten zu aller Art von Kunst (die Reproduktion ist ja nichts als eine 5 [Vgl. lKunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichtec Vermehrte Neuausgabe. Mäander 1978.1
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solchem Aufnehmen dienende bestimmte Art der Vermittlung). Der Begriff des Stils ist (ähnlich dem des Geschmacks, mit dem cr ve[\",andt ist. vgl. das Wort Stilgefühl) zwar kein ausreichender Gesichtspunkt für die Erfahrung von Kunst und ftir ihre \vissenschaftliche Erkenntnis - das ist er nur im Bereich des Dekorativen -, aber er ist notwendig mit vorausgesetzt, wo Kunst verstanden vverden soll.
Nun läßt sich dieser Begriff auch auf die politische Geschichte übertragen. Auch Handlungs\.vcisell können Stil haben, und selbst in Schicksalsverläufen kann sich ein Stil ausprägen. Das ist zunächst normativ gemeint. Wenn wir von einer Handlung sagen, sie habe großen Stil oder "\virklichcn Stil, so beurteilt man sie damit ästhetisch 6 • Auch "venn \vir etwa im politischen Sprachgebrauch einen bestimmten Stil des Handelns uns zum Ziele setzen, ist das im Grunde ein ästhetischer Stilbegriff. Indem man einen solchen Stil des Handelns zeigt, macht nun sich selbst fur andere sichtbar. so d,aß sie \ViSsell. wessen sie sich zu versehen haben. Auch hier bedeutet Stil eine Ausdruckseinheit. Nun fragt es sich aber, ob man diesen Stilbegriff auch als historische Kategorie gebrauchen darf. Die Übertragung des kunsthistorischen Stilbegriffs auf die allgemeine Geschichte setzt voraus, daß man die geschichtlichen Ereignisse nicht in ihrer eigenen Bedeutung meint, sondern in ihrer Zugehörigkeit zu einern Ganzen von Ausdrucksformen, die ihre Zeit kennzeichnen. Die geschichtliche Bedeutung eines Ereignisses braucht aber nüt dem Erkenntniswert, den es als Ausdruckserscheinung hat. nichtübereinzustimmen, und es ist irrefuhrend, \\'enn man es dadurch verstanden glaubt, daß man es derart als Ausdruckserscheinung versteht. Wollte man den Stilbegriff \\rirklich auf die allgemeine Geschichte aus\veiten, "vie das vor allem von Erich Rothacker diskutiert "vorden ist, und daraus geschichtliche Erkenntnis erwarten, so \.vürde man zu der Voraussetzung gezwungen, daß die Geschichte selbst einem inneren Logos gehorcht. Das mag fur einzelne Ent\vicklungslinien, die man verfolgt, gelten, aber eine solche 13indestrichHistorie ist keine "virkliche Geschichte, sondern idealtypische Konstruktion, die, wie Max Webers Kritik an den Organologen gezeigt hat, nur deskriptive Berechtigung besitzt. Eine stil geschichtliche 13etrachtungs\veise des Geschehens vermöchte so\.venig wie eine kunstwissenschaftliche Betrachtung, die nur stilgeschichtlich denkt, der entscheidenden Bestimmung gerecht zu werden, daß in ihr et\vas geschieht und sich nicht nur verständliche Abläufe abwickeln. Es ist die Grenze der Geistesgeschichte, an die \vir hier stoßen.
6
IVgI. Hegel, Nürnberger Schriften, S. 3101
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II zu I, 149 Okkasionalität muß als ein Sinnmoment im Sinnanspruch eines Werkes erscheinen und nicht als die Spur des Gelcgenheitlichen, das hinter dem Werke gleichsam verborgen ist und durch Interpretation aufgedeckt werden solL Wäre das letztere der Fall, so hieße das, daß man nur durch die Wiederherstellung der ursprünglichen Situation überhaupt in die Lage käme, den Sinn des Ganzen zu verstehen. Ist aber Okkasionalität ein Sinn moment im Anspruch des Werkes selbst, dann ist umgekehrt der Weg über das Verständnis des Sinngehalts des Werks zugleich eine Möglichkeit fur den Historiker, etwas über die ursprüngliche Situation zu erfahren, in die das Werk hineinspricht. Nun hatten unsere grundsätzlichen Erwägungen über die Seinsart des ästhetischen Seins dem Begriff der Okkasionalität eine neue, über alle Sonderformen hinausgehende Legitimation verschaffe. So über Raum und Zeit erhaben ist das Spiel der Kunst nicht, wie das ästhetische Bewußtsein es behauptet. Auch wenn man das grundsätzlich anerkennt, wird man nicht von einem Einbruch der Zeit in das Spiel reden dürfen, wie jüngst earl Sehmitt im Hinblick auf das Hamlet-Drama getan hat, Gewiß kann es das Interesse des Historikers sein, in der Gestaltung des Spieles der Kunst den Bezügen nachzuforschen, die es mit seiner Zeit verweben. Aber earl Schnütt scheint mir die Schwierigkeit dieser für den Historiker legitimen Aufgabe zu unterschätzen. Er glaubt, den Bruch im Spiel erkennen zu können, durch dessen Riß die zeitgenössische Wirklichkeit hindurchscheine und die die zeitgenössische Funktion des Werkes erkennen lasse. Dieses Verfahren ist voller methodischer Haken, wie uns et\va das Beispiel der Plato-Forschung gelehrt hat, Auch wenn es grundsätzlich richtig ist, die Vorurteile einer reinen Erlebnisästhetik auszuschalten und das Spiel der Kunst in seinen zeitgeschichtlichen und politischen Zusammenhang hineinzustellen, so scheint es mir doch bei >Hamlet< fehlerhaft, wenn einem zugemutet wird, Hamlet wie einen Schlüsselroman zu lesen. Ein Einbruch der Zeit in das Spiel, der als Bruch im Spiel erkennbar wäre, scheint mir hier keinesv./egs vorzuliegen. Für das Spiel selbst ist kein Gegensatz von Zeit und Spiel, wie ihn earl Schmitt annimmt, gegeben, Vielmehr bezieht das Spiel die Zeit in sein Spiel mit ein. Das ist die große Möglichkeit der Dichtung, durch die sie ihrer Zeit angehört und durch die die Zeit auf sie hört. In diesem allgemeinen Sinne steckt auch das Hamlet-Drama gewiß voller politischer Aktualität. Wenn man aber nun aus ihm die verhüllte Parteinahme des Dichters für Esscx und Jakob herausliest, so kann einem das die Dichtung schwerlich beweisen. Auch wenn der Dichter wirklich zu dieser Partei zählte - das von ihm gedichtete Spiel sollte dann seine Partei-
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nahme derart verhüllen, daß auch der Scharfsinn earl Schmitts daran scheitern müßte. Der Dichter mußte ja, wenn er sein Publikum erreichen wollte, ganz gewiß ebenso mit der Gegenpartei im Publikum rechnen. So ist es in Wahrheit der Einbruch des Spiels in die Zeit, der sich hier vor uns darstellt. Zweideutig wie das Spiel ist, kann es seine unvoraussehbare Wirkung erst im Sichausspiclcn entfalten. Es ist seinem Wesen nach nicht geeignet, ein Instrument maskierter Ziele zu sein, die man nur durchschauen müßte, um es eindeutig zu verstehen. Es bleibt als Spiel in einer unauflösbaren Zweideutigkeit. Die Okkasionalität, die in ihm liegt, ist nicht ein vorgegebener Bezug, durch den alles erst seinen wahren Sinn bekommt, sondern umgekehrt ist es das Werk selbst, dessen Aussagekraft diese wie jede Gelegenheit auszuftillen vermag. So verfällt earl Schmitt m. E. einem falschen Historismus, wenn er etwa das Offenlassen der Frage nach der Schuld der Königin politisch interpretiert und darin ein Tabu sicht. In Wahrheit macht es die Wirklichkeit eines Spieles aus, daß es um das eigentlich Thematische herum stets einen Hof des Unbestimmten läßt. Ein Drama, in dem alles durch und durch motiviert ist, knarrt wie eine Maschine. Das wäre eine falsche Wirklichkeit, wo das Geschehen wie eine Rechnung aufgeht. Zum Spiel der Wirklichkeit wird es vielmehr, wenn es den Zuschauer nicht alles, sondern nur ein wenig mehr verstehen läßt, als er in dem Treiben und Getriebenwerden seiner Tage zu verstehen pflegt. Je mehr dabei offenbleibt, desto freier gelingt das Verstehen, d. h. das Umsetzen des im Spiel Gezeigten in die eigene Welt und gewiß auch in die eigene politische Erfahrungswelt. Unabsehbar viel offenzulassen, scheint mit überhaupt das Wesen einer fruchtbaren Fabel und gehört z.ll. allem Mythos zu. Gerade dank seiner offenen Unbestimmtheit vermag der Mythos aus sich immer neue Erfindung hervorgehen zu lassen, wobei der thenlatische Horizont sich immer wieder in andere Richtung verschiebt. (Man denke etwa an die mannigfaltigen Versuche, die Faust-Fabel zu gestalten, von Marlowe bis zu Paul Valery.) Sieht man nun im Offengclassenen politische Absicht, wie das earl Schmitt tut, wenn er vom Tabu der Königin spricht, so verkennt man, was Spiel eigentlich heißt, nämlich das SichausspieIcn durch Erproben von Möglichkeiten. Das Sichau5spiclen des Spiels ist nicht in einer geschlossenen Welt des ästhetischen Scheins beheimatet, sondern vollzieht sich als ein beständiges Eingreifen in die Zeit. Die produktive Vieldeutigkeit, die das Wesen des Kunstwerks ausmacht, ist nur ein anderer Ausdruck rur die Wesensbestimmung des Spiels, stets neu zum Ereignis zu werden. In diesem grundsätzlichen Sinne rückt das Verstehen der Geisteswissenschaften mit der unmittelbaren Erfahrung des Kunstwerks aufs engste zusammen. Auch das Verstehen, das die Wissenschaft leistet, läßt die Sinndimension der Überlieferung sich ausspielen und besteht in der Erprobung derselben. Gerade deshalb istes
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selber noch Geschehen, wie im Laufe der vorliegenden Untersuchung gezeigt wird.
III zu 1,269 Auch Löwiths Auseinandersetzung mit Heideggers Nietzsche-Interpretation7 , die im einzelnen berechtigte Eirnvände erhebt, krankt im ganzen daran, daß er, ohne es zu durchschauen, Nietzsches Ideal der Natürlichkeit gegen das Prinzip der Idealbildung überhaupt ins Feld fuhrt. Was Heidegger meint, wenn er mit bewußter Zuspitzung Nietzschc mit Aristotc1es in eine Linie stellt - und d. h. rur ihn gerade nicht, daß er ihn auf denselben Punkt stellt -, wird dadurch unverständlich gemacht. Umgekehrt wird Löwith selbst durch diesen Kurzschluß zu der Absurdität verleitet, seinerseits Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft wie eine Art A.ristoteles redivivus zu behandeln. Für Aristoteles war in der Tat der e\vige Kreisgang der Natur der selbstverständliche Aspekt des Seins. Das sittliche und geschichtliche Leben der Menschen bleibt bei ihm auf die Ordnung bezogen, die der Kosmos vorbildlich darstellt. Davon ist bei Nietzsehe keine Rede.Er denkt vielmehr das kosmische Kreisen des Seins ganz aus dem Gegensatz, den das menschliche Dasein zu ihm darstellt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen hat ihren Sinn als eine Lehre fur die Menschen, d. h. als eine ungeheuerliche Zumutung rur den menschlichen Willen, die alle seine Illusionen von Zukunft und Fortschritt vernichtet. Nietzsche also denkt die Lehre von der ewigen Wiederkunft, um den Menschen in seiner Willens spannung zu treffen. Die Natur ist hier vom Menschen aus gedacht, als das, was von ihm nicht weiß. Man kann nun nicht abermals, wie in einer neuerlichen Umkehrung, die Natur gegen die Geschichte ausspielen wollen, wenn man die Einheit von Nietzsches Denken verstehen will. Löwith selbst bleibt bei der Feststellung des ungelösten Zwiespaltes in Nictzsche stehen. Muß man nicht angesichts dieser Feststellung die weitergehende Frage stellen, wie ein solches Sich verfangen in einer Sackgasse möglich war, d. h. wieso es rur Nietzsche selbst kein Sich verfangen und kein Scheitern war, sondern die große Entdeckung und Befreiung sein sollte? Auf diese weitergehende Frage findet der Leser bei Löwith keine Antwort. Das ist es aber doch, was man verstehen, d. h. durch eigenes Denken vollzieh bar machen möchte. Hcidegger hat das unternommen, d. h. er hat das Bezugssystem konstruiert, von dem aus sich Nietzsches Aussagen zueinander ordnen. Daß dieses Bezugssystem bei Nietzsche selber 7 Im 3. Kap. von )Heidegger - Denker in dürftiger Zeitl, Frankfurt 1953. Vgl. auch inzwischen die Neuauflage von Löwith, Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr [undjetzt den Nietzsche-Band in seinen Sämtlichen Schriften, Stuttgart 1986]
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nicht zur unmittelbaren Aussage kommt, liegt in denl methodischen Sinn solcher Rekonstruktion selbst. Umgekehrt sieht man Löwith paradoxerweise das, was er selber bei Nietzsehe nur als einen Bruch ansehen kann, von sich aus noch einmal tun: er reflektiert auf die Unreflcktiertheit; er philosophiert gegen die Philosophie im N amen der Natürlichkeit und beruft sich auf den gesunden Menschenverstand. Wäre der gesunde Menschenverstand "virklich ein philosophisches Argument, so wäre es längst mit aller Philosophie am Ende und damit auch mit der Berufung auf ihn. Es hilft nichts, Löv,tith wird aus dieser Verstrickung nur herauskommen, \venn er anerkennt, daß die Berufung auf die Natur und Natürlichkeit weder Natur noch natürlich ist.
N zu I. 271 Löwiths hartnäckiges Vorbeihören an dem transzendentalen Sinn der Hcideggerschcn Aussagen über das Verstehen 8 scheint mir auf doppelte Weise unrecht zu haben. Er sieht nicht, daß Heidegger etwas aufgedeckt hat, was in allem Verständnis liegt und als Aufgabe gar nicht abgeleugnet werden kann.' Ferner sieht er nicht, daß die Gewaltsamkeit, die bei vielen Heideggerschen Interpretationen auftritt, keineswegs aus dieser Theorie des Verstehens folgt. Sie ist vielmehr ein produktiver Mißbrauch der Texte, der eher einen Mangel an hermeneutischer Bewußtheit verrät. Offenbar ist es die Übergewalt des eigenen sachlichen Anliegens, was gewissen Seiten der Texte eine Überresonanz verleiht, die die Proportionen verzerrt. Heideggers ungeduldiges Verhalten zu überlieferten Texten ist so wenig die Folge seiner hermeneutischen Theorie, daß es vielmehr dem der großen Fortbildner geistiger Tradition ähnelt, die vor der Ausbildung des historischen Bewußtseins sich die Überlieferung mnkritisch< anverwandclten. Nur daß sich Heidegger dabei den Maßstäben der Wissenschaft anpaßt und seine produktive Anverwandlung der Überlieferung mitunter philologisch zu legitimieren sucht, fordert die philologische Kritik heraus. Das Recht seiner Analyse des Vers tehens wird dadurch nicht beeinträchtigt, sondern im Grunde bestätigt. Zum Verstehen gehört immer, daß die zu verstehende Meinung sich gegen die Ge\valt der Sinntendenzen behaupten muß, die den Interpreten beherrschen.
Vgl. Löwith, lHeideggcr - Denker in dürftiger Zeit<, Frankfurt 1953, S. 80f. [Hier würde allerdings Derrida widersprechen, der in Hcideggcrs Nietzsche-InterpretatiOll einen Rückfall in die Metaphysik sieht. Vgl. in diesem Band S. 361 ff.] 11 9
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Gerade weil wir von der Sache in Anspruch genommen \verden, bedarf es der hermeneutischen Anstrengung. Ohne daß man von der Sache in Anspruch genommen ist, vermag man aber umgekehrt Überlieferung überhaupt nicht zu verstehen, es sei denn in der totalen Sachindifferenz der psychologischen oder historischen Interpretation, die dort eintritt, wo man eben nicht mehr versteht.
v zu 1,427 Es ist seltsam, daß ein so hoch verdienter Plotin-Forscher wie Richard Harder in dem letzten Vortrag, der ihm zu halten vergönnt war, den Begriff der Quelle wegen seiner maturwissenschaftlichen Herkunft< kritisiert hat (Les Sources de Plotin, Entretiens V, VII, Quelle oder Tradition?). So berechtigt die Kritik an einer äußerlich betriebenen Quellenforschung ist - der Begriff der Quelle hat eine bessere Legitimation. Als philosophische Metapher ist er platonisch-neu platonischer Herkunft. Das Hervorquellen des reinen und frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe ist dabei die Leitvorstellung. Das zeigt u. a. die häufige Zusammenstellung pege kai arche (Phaidr. 245 e sowie oft bei Philo und Plotin). - Als Terminus der Philologie wird der Begriff des J0/15 wohl erst im Zeitalter des Humanismus eingeftihrt, meint aber dort zunächst nicht den aus der Quellenforschung bekannten Begriff, sondern versteht die Parole ad fon1e5, den Rückgang zu den Quellen, als Hinwendung zu der ursprünglichen, unentsteIlten Wahrheit der klassischen Autoren. 10 Auch darin bestätigt sich unsere Feststellung, daß die Philologie in ihren Texten die Wahrheit meint, die in ihnen zu finden ist. - Der Übergang des Begriffs in den uns geläufigen technischen Wortsinn dürfte von der ursprünglichen Bedeutung insofern et\vas festhalten, als die Quelle sich von der getrübten Wiedergabe oder der vernilschenden Aneignung unterscheidet. Das erklärt im besonderen, daß man nur bei literarischer Überlieferung den Begriff der Quelle kennt. Nur das sprachlich Überlieferte gibt über das, ,"vas in ihm gelegen ist, immerwährenden und vollen Aufschluß, ist nicht bloß zu deuten, wie sonstige Dokumente und Überreste, sondern gestattet unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen bzw. an der Quelle ihre späteren Derivationen zu messen. All das sind nicht naturwissenschaftliche, sondern sprachlich-geistige Bilder, die im Grunde bestätigen, was
10 [Ich verdanke E. Llcdo einen interessanten Beleg ftir das .ad fontes( aus dem spanischen Humanismus, der den Bezug auf die )Psalmen< zeigt.]
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Harder meint, daß nämlich Quellen durch ihre Benutzung durchaus nicht trüb werden müssen. In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Überlieferung. Ihr Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat.
VI zu I, 341 und 471
Zum Begriffdes Ausdrucks Im Ganzen unserer Darlegungen liegt es begründet, daß der Begriff des Ausdrucks von seiner modernen subjektivistischen Tönung gereinigt und auf seinen ursprünglichen grammatisch-rhetorischen Sinn zurückbezogen werden muß. Das Wort }Ausdruck< entspricht dem lateinischen expressio exprimere) das den geistigen Ursprung von Rede und Schrift bezeichnet (verbis exprimere). Es hat im Deutschen eine erste frühe Geschichte im Sprachgebrauch der Mystik und weist damit auf neu platonische Begriffsbildung zurück, die als solche noch zu erforschen wäre. Außerhalb des mystischen Schrifttums kommt das Wort erst im 18. Jahrhundert recht in Aufnahmc. Damals erweitert es seine Bcdeutung und dringt gleichzeitg in die ästhetische Theorie ein, wo es den Begriff der Nachahmung verdrängt. Doch liegt die subjektivistische Wendung, daß der Ausdruck Ausdruck eines Inneren, etwa eines Erlebnisses ist, auch damals noch fern ll . Beherrschend ist der Gesichtspunkt der Mitteilung und Mitteilbarkeit, d. h. es geht datum, den Ausdruck zu finden". Den Ausdruck finden, heißt aber, einen Ausdruck finden, der einen Eindruck erzielen will, also keineswegs den Ausdruck im Sinne des Erlebnisausdrucks. Das gilt insbesondere auch in der Terminoloj
11 Der dem Begriff der expressio im Denken der Scholastik entsprechende Gegenbegriff ist vielmehr die impressio speciei. Allerdings macht es das Wesen derim verbum geschehenden expressio aus, daß sich darin, wie Nicolaus Cusanus wohl als erster ausspricht, die mens manifestiert. So ist bei Nicolaus eine Wendung möglich, wie: das Wort sei expressio exprimentis et expressi (Camp. eheo!. VII). Aber das meint nicht einen Ausdruck von inneren Erlebnissen, sondern die reflexive Struktur des verbum: alles sichtbar zu machen und sich selbst im Aussprechen auch - so wie das Licht alles und sich selbst sichtbar macht. [Inzwischen ist der Artikel >Ausdruck< von Tonelli im Ritterschen Wörterbuch Bd. I, S. 653-655 erschienen. J J2 Kant, KdU B 198
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gie der Musik". Die musikalische Affektenlehre des 18. Jahrhunderts meint nicht, daß man sich selbst in der Musik ausdrückt, sondern daß die Musik etwas ausdrückt, nämlich Affekte, die ihrerseits Eindruck machen sollen. Das gleiche fmden wir in der Asthetik bei Sulzer (1765): Ausdruck ist nicht primär als Ausdruck der eigenen Empfindungen zu verstehen, sondern als Ausdruck, der Empfindungen erregt. Immerhin ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits weiter auf dem Wege zur Subjektivierung des Ausdrucksbegriffs. Wenn Sulzer z. B. gegen denjüngeren Riccoboni polemisiert, welcher die Kunst des Schauspielers im Darstellen und nicht im Empfinden sieht, hält er die Echtheit des Empfindens bei der ästhetischen Darstellung bereits flir erforderlich. So ergänzt er auch das espressivo der Musik durch eine psychologische Substruktion des Empfindens des Tonsetzers. Wir stehen also hier im Übergang von der rhetorischen Tradition zur Erlebnispsychologie. Indessen bleibt die Vertiefung in das Wesen des Ausdrucks, und des ästhetischen Ausdrucks im besonderen, am Ende doch immer wieder auf den metaphysischen Zusammenhang zurückbezogen, der neuplatonischer Prägung ist. Der Ausdruck ist niemals bloß ein Zeichen, durch das man auf ein Anderes, Inneres zurückgewiesen wird. Im Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da, z. B. in den Zornesfalten der Zorn. Das weiß die moderne Ausdrucksdiagnostik sehr wohl, so wie es schon Aristoteles gewußt hat. Offenbar ist es zur Seinsweise des Lebendigen gehörig, daß derart das eine im anderen ist. Das hat auch seine spezifische Anerkennung im Sprachgebrauch der Philosophie gefunden, wenn Spinoza in exprimere und expressio einen ontologischen Grundbegriff erkennt und wenn im Anschluß an ihn Hegel in dem objektiven Sinn von Ausdruck als Darstellung, Außerung, die eigentliche Wirklichkeit des Geistes sieht. Hege! stützt dadurch seine Kritik am Subjektivismus der Reflexion. AhnIich denkt Hölderlin und dessen Freund Sindair, bei dem der Begriff des Ausdrucks geradezu eine zentrale Stellung gewinnt. 14 Die Sprache als Produkt der schöpferischen Reflexion, die das Gedicht sein läßt, ist )Ausdruck eines lebendigen, aber besonderen Ganzen<. Die Bedeutung dieser Theorie des Ausdrucks ist offenbar durch die Subjektivierung und Psychologisierung des 19. Jahrhunderts gänzlich verstellt worden. In Wahrheit ist bei Hölderlin wie bei Hege! die rhetorische Tradition weit mehr bestimmend. Im 18. Jahrhundert tritt ,Ausdruck< überhaupt an die Stelle von }Ausdriickung< und meint jene bleibende Form, die beim Abdruck eines Siegels u. dergl. zurückbleibt. Der Bildzusammenhang wird völlig deutlich aus einer Stelle bei Gellert, »daß unsere Sprache gewisser Schönheit nicht 13 Vgl. den instmktiven Aufsatz von H. H. Eggebrecht, Das Ausdrucksprinzip im musikalischen Sturm und Drang. DVjs 29 (1955), S. 323-349. 14 Vgl. die Ausgabe von Hellingrath Bd. 3, S. 571 ff.
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fahig und ein sprödes Wachs ist, das oft lusspringt, wenn man die Bilder des Geistes hineindrücken vvill«. 15 Das ist alte neu platonische Tradition. 16 Die Metapher hat darin ihre Pointe, daß die eingeprägte Form nicht teilhaft, sondern ganz und gar in allen Abdrücken gegcl1v.rärtig ist. Darauf beruht auch die Anwendung des Begriffs im femanatistischen DenkenI, das nach Rothacker 17 unserem historischen Weltbild überall zugrunde liegt. Es ist wohl deutlich, daß die Kritik an der Psychologisierung des Begriffes >Ausdruck< das Ganze der vorliegenden Untersuchung durchzieht und sowohl der Kritik an der >Erlebniskunst( \vic der an der romantischen Hermeneutik zugrunde liegt. 18
Schriften Bd. 7, S. 273 VgL etwa Dionysiaka I, 87 I_ Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (Handb. d. Philos. III), S. 166. VgL in Bd. 1 S. 33 den Lebensbegriffbei Oeringer und S. 246ff. bei Husserl und GeafYmck. [Vgl. Ge,. Werkeßd. 1, S. 239ff., 253ff.J 18 Andeutungen auch in älteren Arbeiten des Verfassers, z. B. >Bach und Weimar< (1946), S. 9ff[Kl. Schrif. 11, S. 75-81; Ces. Werke Bd. 9 J und) Über die Ursprünglichkeit der Philosophie( (1947). S. 25. (Kl. Schrift. I, S. 11-38; Ges. Werke Bd. 4J 15
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27. Hermeneutik und Historismus 1965
Von Hermeneutik war in der philosophischen Besinnung auf die Grundlagen der Geisteswissenschaften früher kaum die Rede. Hermeneutik war eine bloße Hilfsdisziplin, ein Kanon von Regeln, die den Umgang mit Texten zum Gegenstand hatten. Sie differenzierte sich allenfalls noch, indem sie der Sonderart bestimmter Texte Rechnung trug, z. B. als bibhschc Hermeneutik. Und schließlich gab es eine etwas andersartige Hilfsdisziplin. die sich Hermeneutik nannte', in Gestalt der juristischen Hermeneutik. Sie enthielt die Regeln zur AusfUllullg von Lücken itn kodifizierten Recht, hatte also normativen Charakter. Die zentrale philosophische Problematik dagegen, die in dem Faktum der Geisteswissenschaften beschlossen lag, sah man - in Analogie zu den Naturwissenschaften und ihrer Begründung durch die kantische Philosophie - in der Erkenntnistheorie. Kants Kritik der reinen Vernunft hatte die apriorischen Elemente der Erfahrungserkenntnis der Naturwissenschaften gerechtfertigt. So kam es darauf an, der Erkenntnisweise der historischen Wissenschaften eine entsprechende theoretische Rechtfertigung zu verschaffen. J. G. Droysen entwarf in seiner >Historik( eine sehr einflußreiche Methodologie der historischen Wissenschaften, die ganz auf die Entsprechung zu der kantischen Aufgabe abzielte, und W. Dilthey, der die eigentliche Philosophie der historischen Schule entwickeln sollte, verfolgte von früh an mit ausdrücklichem Bewußtsein die Aufgabe einer Kritik der historischen Vernunft. Insofern war auch seine Selbstauffassung eine erkenntnistheoretische. Bekanntlich sah er in einer von der naturwissenschaftlichen Überfremdung gereinigten »beschreibenden und zergliedernden« Psychologie die erkenntnistheoretische Grundlage der sogenannten Geisteswissenschaften. Indessen wurde Dilthcy bei der DurchfLihrung dieser Aufgabe dazu geführt, seinen ursprünglichen erkenntnistheoretischen Ansatz zu überwinden, und so ist er es gewesen, der die philosophische Stunde der Hermeneutik heraufftihrte. Zwar hat er die erkenntnistheoretische Grundlage, die er in der Psychologie gesucht hatte, nie ganz aufgegeben. Daß Erlebnisse durch Innesein charakterisiert sind, so daß es hier ein Problem der Erkenntnis des anderen, des Nicht-Ich, wie es der kantischen Fragestellung zugrunde lag, gar nicht gibt, blieb die Basis, auf
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der er den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften zu errichten suchte. Aber die geschichtliche Welt ist kein Erlebniszusarnmcnhang von der Art, wie etwa in der Autobiographie Geschichte für die Innerlichkeit der Subjektivität sich darstellt. Geschichtlicher Zusammenhang muß am Ende als ein Sinnzusarnmcnhang verstanden werden, der den Erlebnishorizont des einzelnen grundsätzlich übersteigt. Er ist ,"vie ein großer, fremder Text, den zu entziffern eine Hermeneutik helfen muß. So suchte Dilthey aus dem Zwang der Sache den Übergang von der Psychologie zur Hermeneutik. Dilthey sah sich bei seiner Bemühung um eine solche hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften in betontem Gegensatz zu derjenigen erkenntnistheoretischen Schule, die damals vom ncukantianischen Standpunkt aus eine Grundlegung der GeistesvII'issellschaften versuchte, nämlich zu der von Windelband und Riekert entwickelten Wertphilosophie. Das erkenntnistheoretische Subjekt erschien ihm als eine blutleere Abstraktion. So sehr ihn auch selber das Streben nach Objektivität in den Geisteswissenschaften beseelte, er konnte nicht davon abstrahieren, daß das erkennende Subjekt, der verstehende Historiker, seinem Gegenstand, dem geschichtlichen Leben, nicht einfach gegenübersteht, sondern von der gleichen Bewegung geschichtlichen Lebens getragen wird. Insbesondere in seinen späteren Jahren hat Dilthey daher mehr und mehr der idealistischen Idcntitätsphiloso phie Gerechtigkeit widerfahren lassen, \....eil im idealistischen Begriff des Geistes die gleiche substantielle Gemeinsamkeit zwischen Subjekt und Objekt, z\vischen Ich und Du, gedacht war, wie sie in seinem eigenen Begriff des Lebens lag. Was Georg Misch als den Standpunkt der Lebensphilosophie gegen Husserl wie gegen Heidegger scharfsinnig verteidigt hat 19 , teilte offenbar mit der Phänomenologie die Kritik an einem naiven historischen Objektivismus sowohl wie an seiner erkenntnistheoretischen Rechtfertigung durch die südwestdeutsche Wertphilosophie. Die Konstitution der historischen Tatsache durch den Wertbezug trug, so einleuchtend das war, der Verwobenheit der geschichtlichen Erkenntnis in das geschichtliche Geschehen keine Rechnung. 20 Hier ist daran zu erinnern, daß der monumentale Torso, den Max Weber hinterlassen hat und der unter dem Titel> Wirtschaft und Gesellschft< 1921 zuerst ediert worden ist, selber als ein >Grundriß der verstehenden SozioloJ9 G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschcn Richtung mit Heidegger und Husserl, Philos. Anzeiger 1929/30, 2. Auf!. Leipzig, Berlin 1931. 2(J [Das Jahr 1983 hat, zugleich mit der Publikation der Materialien zum 2. Band der !Einleitung in die Geiseswissenschaft~ (Ges. Werke Bd. 18 und 19) W. Dilthey erneue ins allgemeine Bev.'Ußtsein gehoben. Vgl. auch meine neuen Dilchey-Arbeiten; Ges. Werke Bd.4.]
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gic< von ihm geplant war21 • Die weitgehend ausgeführten Teile dieser rur den Grundriß der Sozial ökonomik vorbereiteten Soziologie betreffen Religions-, Rechts- und Musiksoziologie, während z. B. die Staatssoziologie nur sehr bruchstückhaft ausgeftihrt ist. Hier interessiert vor allem der 191820 verfaßte einleitende Teil, der jetzt )Soziologische Kategorienlehre< betitelt ist. Ein imposanter Begriffskatalog auf extrem norninalistischer Basis, der übrigens - im Unterschied zu dem bekannten Logos-Aufsatz Von 1913 - den Wertbegriff (und damit die letzte Anlehnung an den süwestdeutschcn Neukantianismus) vermeidet. Max Weber nennt diese Soziologie }verstehend<, sofern sie den gemeinten Sinn des sozialen Handelns zum Gegenstand mache. Freilich kann der >subjektiv gemeinte( Sinn auf dem Gebiet des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens nicht nur der VOn den einzelnen Handelnden tatsächlich gemeinte sein. So tritt als hermeneutisch-methodischer Ersatzbegriff der begrifflich konstruierte reine Typus (die )ideal-typischc Konstruktion() ergänzend ein. Auf dieser Basis, die Max Weber )rationalistisch( nennt, ruht das ganze Gebäude - der Idee nach >wertfrei< und neutral -, eine monumentale Grenzbastion der }objektiven~ Wissenschaft, die ihrc methodische Eindeutigkeit durch klassifikatorische Systematik vcrteidigt und in den inhaltlich ausgeführten Partien zu großartiger systematischer Überschau über die geschichtliche Erfahrungswelt fUhrt. Die eigentliche Verwicklung in die Problematik des Historismus v.7ird hier durch methodische Askese vermieden. Die weitere Entwicklung der hermeneutischen Besinnung ist aber gerade durch die Fragestellung des Historismus beherrscht und geht daher von Dilthey aus, dessen gesammelte Schriften in den zwanziger Jahren bald auch Ernst Troeltschs Wirkung überdeckten. Diltheys Anknüpfung an die romantische Hermeneutik, die sich mit dem Wiederaufleben der spekulativen Philosophie HegeIs in unserem Jahrhundert verknüpfte, fUhrtc eine vielfaltige Kritik am historischen Objektivismus herauf(GrafYorck, Heidegger, Rothacker, Betti usw.). Sie hinterließ auch in der historisch-philologischen Forschung sichtbare Spuren, indem romantische Motive, die durch den wissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts verdeckt worden waren, sich innerhalb der Wissenschaft wieder zur Geltung brachten22 • Man denke etwa an das Pro21 Das Nachlaßwerk liegt jetzt in einer Neordnung der riesigen Materialien, dieJohs. Winckelmann besorgt hat, als 4. Auflage vor. 1. und 2. Halbband, Tübingen 1956 [Eine groß angelegte kritische Ausgabe des Gesamtwerks von Max Weber ist im Erscheinen. J 22 Einen brauchbaren Überblick über die in der modernen Geschichtswissenschaft geübte Selbstreflexion - unter ausdrücklicher Einbeziehung der englisch-amerikanischen und der französischen Geschichtsforschung - gibt F. Wagner, Moderne Geschichtsschreibung, Ausblick auf eine Philosophie der Geschichtswissenschaft, Berlin 1960. Es zeigt sich, daß überall der naive Objektivismus nicht mehr genügt und damit ein theoretisches Bedürfnis anerkannt wird, das über bloßen erkenntnistheoretischen Methodologismus
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blem der antiken Mythologie, das im Geiste Schellings von Walter F, Otto, Karl Kerenyi u. a. erneuert wurde. Selbst ein so abstruser, der Monomanie seiner Intuitionen verfallener Forscher wie J. J. Bachafen, dessen Ideen modernen Ersatzreligionen Vorschub leisteten (über Alfred Schuler und Ludwig Klages haben sie z, B, auf Stefan Gcorge eingewirkt), fand nun erneute wissenschaftliche Beachtung. 1925 erschien unter dem Titel ,Der Mythos von Orient und Occident, Eine Metaphysik der alten Weltt eine systematisch redigierte Sammlung von Bachofens Hauptschriften, zu der Alfred Bacurnler eine beredte und bedeutende Einleitung verfaBten , Auch wenn man die wissenschaftsgcschlchtlichc Sammlung von de Vrics' IForschungsgeschichte der Mythologici aufschlägt2 4 , erhält man den gleihinausdr::il1gt_ l Vgl. inHvischen K.-G. F:lber, Theorien der Geschichtswissenschaft, M ünehell 197 t und R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zm Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 11)7<)]. Auch W. Hafers unter dem Titel: Geschichte Z\vischen Philosophie und Politik, Studie zur Problematik des modernen Geschichtsdenkens. Stuttgart 1956, zusammengefaßte Einzelstudien über Ranke, E Meinecke, Litt, sowie die nationalsozialistische und bolschewistische Geschichtsinstrumentierung gehören in diesen Zusammenhang. H, sucht die Gefahren wie die produktiven Möglichkeiten solcher gesteigerten Reflektiertheit des historischen Denkens an dem Verhältnis zur Politik zu illustrieren. Hier wäre vor allem noch aufR. Wittram, Das Interesse an der Geschichte (Kleine Vandenhoeck-Reihe 59.160/61, Göttingen 1958) hinzU\veisen. Diese Vorlesungen stellen mit Entschiedenheit die Frage IlJ.ch der über die bloße )Richtigkeit< hinausgehende >Wahrheit in der Geschichte< und geben in den Anmerkungen breitgestreute Hinweise auf das neuere Schrifttum, insbesondere auch auf wichtige Zeitschriftenaufsätze. n 1m Jahre 1936, also nach drei Jahrzehnten, ist ein fotomechanischer Neudruck dieses Bachofen-Werkes herausgekommen (2. AufL München 1956). Wenn man das Werk heute wieder zur Hand nimmt, . .vird einem auf der einen Seite bewußt. daß die damalige Neuerscheinung einen "\virklichen Erfolg hatte, sofern inzwischen die große kritische Bachofen-Ausgabe \veitgehend verwirklicht ",:urde. Auf der anderen Seite liest man die riesige Einleitung Baeumlers mit einem seltsamen Gemisch von Be\vunderung und Bestürzung, Bacumlcr hat darin das geistes geschichtliche Verständnis rur Bachofen entschieden gefordert, indem er die Geschichte der deutseben Romantik neu akzentuierte. Er legte einen scharfen Schnitt z"\vischell die Jenaer ästhetische Romantik, die er als die Erntc des 18. Jahrhunderts \""ürdigte. und die religiöse Romantik Heidelbergs (vgl. H.-G. Gadamer, Hegd und die Hcidclberger Romantik, Hegels Dialektik (1971) S. 71-81). Als deren Archegeten machte er Görres sichtbar, dessen Wendung zur deutschen Vorzeit einer der Faktoren wurde, die die nationale Erhebung von 1813 vorbereiteten. Daran ist viel Richtiges, und insofern verdient die Arbeit Baeumlers noch heute Beachtung. Wie Bachofen selbst be'wegt sich freilich auch sein Interpret in einem Bereich seelischer Erfahrungen, die er auf einen falschen wissenschaftlichen Raum bezieht (wie Franz Wieacker in seiner Bachofen-Rezension im Gnomon, Bd. 28 (1956) S, 161173 mit Recht VOll Bachofen sagt), 24 Jan de Vries, Forschungsgeschichte der Mythologie, Freiburg-München, o.J. [VgL auch die nützliche Quellensammlung zur Mythologie, die von F. Schupp herausgegeben ist, und H.-G. Gadamcr/Heinrich Vries, Mythos und Wissenschaft. In: K, Rahner (u. a. Hrsg.), Christlicber Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg 21981, S. 8- 38. - Ein
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ehen Eindruck, "vie sich die >Krise des Historismus, in einer Neubelebung der Mythologie ausgnvirkt hat. Oe Vrics gibt eine durch weiten Horizont ausgezeichnete Übersicht - mit gut ausgewählten Leseproben, die insbesondere die Neuzeit, unter Ausklammerung der Religionsgeschichte und unter zu"veilcn etwas sklavischer, zu\veilcn et"vas allzu freier Beachtung der Chronologie, gut überschaubar macht. Es ist bemerkenswert, wie entschieden Waltcr F. Otto und Karl Kerenyi als Wegbereiter einer neuen, den Mythos ernstnehmenden Forschungsrichtung anerkannt \verden. Das Beispiel der Mythologie ist nur eines unter vielen. Man könnte in der konkreten Arbeit der Geisteswissenschaften an vielen Punkten die gleiche Abkehr von einem naiven Methodologismus aufweisen, dem in der philosophischen Besinnung ausdrückliche Kritik am historischen Objektivismus oder Positivismus entspricht. Von besonderer Bedeutung \vurde diese Wendung dort, \vo sich mit der Wissenschaft ursprünglich normative Gesichtspunkte verbinden. Das ist in der Theologie \vie in der Jurisprudenz der Fall. Die theologische Diskussion der letzten Jahrzehnte hat das Problem der Hermeneutik gerade dadurch in den Vordergrund gespielt, daß sie das Erbe der historischen Theologie mit neu aufgebrochenen theologisch-dogmatischen Antrieben vermitteln mußte. Den ersten revolutionären Einbruch stellte Karl Barths Erklärung des Römerbriefes dar 2s , eine >Kritik, der liberalen Theologie, die nicht so sehr die kritische Historie als solche meinte, als vielmehr die theologische Genügsamkeit, die deren Ergebnisse fur ein Verstehen der Heiligen Schrift hielt. Insofern ist Kar! Barths Römerbrief bei aller Abneigung gegen methodologische Reflexion eine Art hermeneutischen Manifestcs 20 • Wenn er sich mit RudolfBultmann und seiner These der Entmythologisierung des Neuen Testaments wenig befreunden kann, so trennt ihn nicht das sachliche Anliegen, sondern es ist, \vie Inir scheint. die Verknüpfung historisch-kritischer Forschung mit theologischer Exegese und die Anlehnung der methodischen Selbstbesinnung an die Philosophie (Heidegger), \vas Barth verhindert, sich in Bultmanns Verfahrensweise wiederzuerkennen. Es ist indessen eine sachliche Not"vendigkeit, das Erbe der libera1cn Theologie nicht einfach zu verleugnen, sondern zu bewältigen. Die gegenwärtige Diskussion des hermeneutischen Problems innerhalb der Theologie - und lIiche nur die des hermeneutischen Problems - ist daher durch die Auseinandersetzung der unabdinglichen theologischen Intention mit der kritischen Historie bestimmt. Die einen finden die historische Fragestellung angesichts dieser Lage erneut verteidigungs bedürftig, andere, wie die Arbeiten von Ott, Ebeling und Fuchs zeigen, stellen weniger den Foreindrucksvolles Zeugnis fUr die hermeneutische Dimension des Mythos ist als Ganzes das Buch von H. Blumeilbcrg, Arbeit am Mythos. Frankfurt 1979]. " 1. Ann. 1919. 26 Vgl. G. Ebcling, Wort Gottes und Hermeneutik (Zschr. f Th. u. K. 1959, 228ff.).
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schungscharaktcr der Theologie in den Vordergrund als ihre >hermeneutische< Hilfsleistung rur die Verkündigung. Wer als Laie zu der Entwicklung innerhalb derjuristischen Diskussion des hermeneutischen Problems Stellung nehmen will, wird sich nicht in die juristische Einzelarbeit vertiefen können. Er wird im ganzen beobachten, daß sich die Jurisprudenz von dem sogenannten Gesetzespositivismus überall entfernt und als eine zentrale Frage ansieht, wie weit die Konkretisierung im Recht ein eigenständiges juristisches Problem darstellt. Eine umfassende Übersicht über dieses Problem hat Kurt Engisch (1953) gegeben". Daß dieses Problem im Gegenschlag gegen den rechts positivistischen Extremismus in den Vordergrund drängt, wird auch in historischer Sicht verständlich, z. B. in Franz Wieackers >Privatrechtsgeschichte der Neuzeit~ oder in der >Methodenlehre der Rechtswissenschaft< von Karl L~renz. 2& So zeigt es sich auf al1en drei Gebieten, in denen von jeher Hermeneutik eine Rolle spielte, in den historisch-philologischen Wissenschaften, in der Theologie und in der Jurisprudenz, wie die Kritik am historischen Objektivismus bzw. am )Positivismus< dem hermeneutischen Aspekt eine neue Bedeutung verliehen hat. Es trifft sich bei dieser Sachlage gut, daß die ganze Spannweite des hermeneutischen Problems kürzlich durch die bedeutende Arbeit eines italienischen Forschers durchmessen und systematisch geordnet worden ist. Der Rechtshistoriker Emilio Betti hat in seiner großangelegten >T eoria generale dell' Interpretazione(29, deren Hauptideen auch in deutscher Sprache in einem >hermeneutischen Manifest< unter dem Titel >Zur Grundlegung einer al1gemeinen Auslegungslehre<30 entwickelt worden sind, eine Übersicht über den Stand des Problems gegeben, die ebenso sehr durch die Weite ihres Horizonts, die imponierende Kenntnis im einzelnen wie durch ihre klare systematische Durchflihrung besticht. Als Rechtshistoriker, der zugleich selbst ein Rechtslehrer ist, und als Landsmann Croces und Gentiles, der zugleich selbst in der großen deutschen Philosophie Zu Hause ist, so daß er ein schlechthin vollendetes Deutsch spricht und schreibt, war er gegen die Gefahren eines naiven historischen Objektivismus ohnehin gefeit. Er weiß 27 Die Idee der Konkrecisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Hcidclberg, 1953, 294 S. (Abh. d. Hd. Ak. d. W., phil.-hist. KI. 1953/1. vgI. neuerdings: Einftihrung in das juristische Denken, Stuttgart 1956). Vgl. S. 520. 2R fAußer K. Larenz eint1ußreicher Darstellung in der 3. Auflage seiner )Methodenlehre< sind die Arbeiten von]. Esser Ausgangspunkte einer juristischen Diskussion geworden. Vgl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entschcidungspraxis. Frankfurt 1970 und Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts. (Sitzb. Heid. Akad. d. Wiss., Phil.-histor. Klasse 1979, Abh. 1) Heidelbcrg 1979]. 29 2 Bde .. Milano 1955. Deutsche Ausgabe 1967. 3U Festschrift f. E. Rabel, Bd. H, Tübingen 1954.
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die ganze große Ernte hermeneutischer Besinnung einzubringen, die seit Wilhclm von Humboldt und Schleicrmacher in unablässigen Bemühungen gereift ist. In deutlicher Abkehr von der extremen Position, die Benedetto Croce eingenommen hatte, sucht Betti die Mitte zwischen dem objektiven und dem subjektiven Element alles Verstehens. Er formuliert einen ganzen Kanon hermeneutischer Prinzipien, an dessen Spitze die Sinnautonomie des Textes steht, derzufolge der Sinn, d. h. die Meinung des Autors aus dem Texte selbst zu gewinnen ist. Er betont aber mit gleicher Entschiedenheit das Prinzip der Aktualität des Verstehens bzw. der Anpassung desselben an das Objekt, d. h. er sieht, daß die Standortgebundenheit des Interpreten ein integrierendes Moment der hermeneutischen Wahrheit ist. Als Jurist ist er auch davor bewahrt, die subjektive Meinung, z. B. die historischen Zufalligkeiten, die zur Formulierung eines Rechtsgehaltes geftihrt haben, zu überschätzen und mit dem Rechtssinn schlechthin gleichzusetzen. Auf der anderen Seite bleibt er freilich so sehr im Gefolge der durch Schleiermacher begründeten ,psychologischen Interpretation<, daß seine hermeneutische Position immer wieder zu verschwimmen droht. So sehr er bemüht ist, die psychologische Verengung zu überwinden, und die Aufgabe darin sieht, den geistigen Zusammenhang von Werten und Sinngehalten nachzukonstruieren, vermag auch er diese eigentlich hermeneutische Aufgabenstellung doch nur durch eine Art Analogie zur psychologischen Auslegung zu begründen. So schreibt er etwa, daß das Verstehen ein Wiedererkennen und N achkonstruieren des Sinnes sei, und erläutert diese Wendung: I,mithin des durch die Formen seiner Objektivation zum denkenden Geiste sprechenden Geistes, der sich jenem im gemeinsamen Menschentum verwandt fUhlt: es ist ein Zurück- und ZusammenfUhren und Wiederverbinden jener Formen mit dem inneren Ganzen, das sie erzeugt hat und von welchem sie sich getrennt haben. Eine Verinnerlichung dieser Formen; wobei al1erdings ihr Inhalt in eine von der ursprünglichen verschiedene Subjektivität verlegt wird. Man hat es demnach mit einer Umkehrung (Inversion) des schöpferischen Prozesses im Auslegungsprozeß zu tun, einer Umkehrung, derzufolge der Interpret auf seinem hermeneutischen Wege den schöpferischen Weg in umgekehrter Richtung durchlaufen muß, dessen l"\fachdenken er in seinem Innern durchzuführen hat.« (S. 93f.) Betti folgt damit Schleiermacher, Boeckh, eroce und anderen 3 ]. Sonderbarerweise meint er, mit diesem strikten Psychologismus romantischer Prägung die ,Objektivität< des Verstehens zu sichern, die er 31
Vgl. Anm. 19 u. S. 147 des Manifests.
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von aUen denen bedroht glaubt, die im Anschluß an Heidegger eine solche Rückbindung an die Subjektivität des Meinens rur verfehlt halten. In seiner auch in Deutschland vviederholt vorgetragenen Auseinandersetzung mit mir 32 sieht er bei mir nichts als Äquivokationen und Bcgriff'iverwechslungen. Dergleichen beweist in der Regel, daß der Kritiker den Autor auf eine von ihm nicht gemeinte Fragestellung bezieht. So scheint es mir auch hier. Daß seine Sorge um die Wissenschaftlichkeit der Interpretation, die mein Buch in ihm erregt hatte, unnötig sei, hatte ich ihm in einem Privatbrief versichert, aus dem er in seiner Abhandlung höchst loyalenveise folgendes abdruckt: »Im Grunde schlage ich keine ,Alethode vor, sondern ich beschreibe, was ist. Daß es so ist, wie ich es beschreibe, das, meine ich, kann man nicht im Ernst bestreiten ... Auch Sie z. B. vvissen sofort, wenn Sie eine klassische Untersuchung Mommsens lesen, \vann das allein geschrieben sein kann. Selbst ein Meister der historischen Methode vermag sich nicht von den Vorurteilen seiner Zeit, seiner gesellschaftlichen Umwelt, seiner nationalen Position usw. ganz freizuhalten. Soll das nun ein Mangel sein? Und selbst, \\'enn es das wäre, halte ich es fLir eine philosophische Aufgabe, darüber nachzudenken, warum dieser Mangel nirgends fehlt, wo eewas geleistee \vird. Mit anderen Worten, ich halte es allein fur wissenschaftlich, anzuerkermen, was ist) statt von dem auszugehen, was eben sein sollte oder sein möchte_ In diesem Sinne versuche ich, über den Methodenbegriff der nlOdernen Wissenschaft (der sein begrenztes Recht behält) hinauszudenken und in prinzipieller Allgemeinheit zu denken, was immer geschieht.« Aber \vas sagt Betti dazu? Daß ich das hermeneutische Problein also auf die quaestio facti einenge (~phänomenologisch<, )deskriptiv<) und die quaestio iuris gar nicht stelle. Als ob Kants Stellung der quaestio iuris der reinen Naturwissenschaft hätte vorschreiben v.rollen, wie sie eigentlich sein sollte, und nicht vielmehr die transzendentale Möglichkeit derselben, wie sie \var, zu rechtfertigen suchte. Im Sinne dieser kantischen Unterscheidung stellt das Hinausdenken über den Methodenbegriff der Geisteswissenschaften, wie es mein Buch versucht, die Frage nach der )Möglichkeit< der Geistes\vissenschaften (was durchaus niche heißt: wie sie eigentlich sein sollten!). Es ist ein sonderbares Ressentiment gegen die Phänomenologie, das den verdienten Forscher hier beirrt. Er zeigt sich dadurch, daß er das Problem der Hermeneutik nur als ein Methodenproblem zu denken vermag, tief in den Subjektivismus befangen, um dessen Überwindung es geht. Offenbar ist es mir nicht gelungen, Betti davon zu überzeugen, daß eine 32 E. Betti, L'Erme-neutica storica e Ja storiciti dell intendcre, Annali della Faculta di Giurisprudenza XVI. Bari 1961 und Die Hermeneutik als allgemeine- Methodik der Geisres\visscnschaften, Tübingen 1962.
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philosophische Theorie der Hermeneutik keine - richtige oder falsche (>gef;ihrliche l ) - Methodenlehre ist. Es mag mißverständlich sein, wcnn etwa Bollnow das Verstehen eine >\vcsensmäßig schöpferische Leistung< nenntobwohl Betti selber die rechts ergänzende Tätigkeit der Gesetzesauslegung ohne Zaudern so qualifiziert. Ganz gewiß aber genügt die Anlehnung an die Genieästhetik, die Betti selber vornimmt, nicht. Durch eine Theorie der Inversion läßt sich die psychologische Verengung nicht wirklich überwinden, die er (in der Nachfolge Droysens) an sich richtig als solche erkennt. So kommt er über die Zweideutigkeit nicht ganz hinaus, die Dilthey zwischen Psychologie und Hermeneutik festhielt. Wenn er etwa, um die Möglichkeit des geisteswissenschaftlichen Verstehens zu erklären, die Voraussetzung machen muß, daß nur ein Geist gleichen Niveaus einen anderen verstehen könne, wird das Unbefriedigende solcher psychologisch-hermeneutischer Ambiguität offenkundig". Auch wenn man sich über den Unterschied psychischer Partikularität und geschichtlicher Bedeutung grundsätzlich im klaren ist, bleibt es offenbar schwierig, den Übergang von der Enge der Psychologie zu einer historischen Hermeneutik zu finden. Schon Droysen war sich über die Aufgabe durchaus im klaren (Historik § 41), aber nur in Hege!s dialektischer Vermittlung des subjektiven und des objektiven Gcistes im absoluten Geist scheint der Übergang bisher wirklieh begründet. Selbst dort, wo einer Hege! sehr nahe bleibt, wie der von eroce stark beeinflußte R. G. Collingv>.1Ood, ist das zu spüren. Wir besitzen jetzt von Collingwood zwei Arbciten in deutscher Übersetzung: seine Autobiographie, die untcr dem Titel Denken nun auch dem deutschen Leser vorliegt, nachdem sie in der Originalsprache ehedem ein großer Erfolg gewesen ise4, und ferner sein Nachlaßwerk >The Idea ofHistory( unter dem Titel >Philosophie der Gcschichte(:'I5. Über die Autobiographie habe ich in der Einleitung zur deutschen Ausgabe einiges bemerkt, was ich hier nicht wiederholen will. Das Nachlaßwerk enthält eine Geschichte der Geschichtsschreibung von der Antike bis zur Gegenwart, bezeichnenderweise mit Croce endend, und als einen 5. Teil eine eigene theoretische Erörterung. Ich beschränke mich auf diesen letzten Teil, da die geschichtlichen Partien ohnehin auch hier, wie so oft, von nationalen Denktraditionen bis zur Unverständlichkeit beherrscht werden. So ist etwa das Kapitel über Wilhelm Dilthey fur einen deutschen Leser recht enttäuschend: 33 Vgl. auch Bettis Aufsatz im Studium Generale XII (1959), S. 87, dem neuerdings F. Wieacker, Notizen ... (oben S. 390) unerschrocken beistimmt. [Bettis große Verdienste und meine Kritik an ihm habe ich erneut in ,Emilio Betti und das idealistische Erbc1 (Quaderni Fiorentini 7 (1978), S. 5-11) diskutiert.l J4. Eingeleitet von H.-G. Gadamer, Stuttgart 1955. 35 Stuttgart 1955.
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»Dilthey hat sich der Frage gegenübergesehen, die Windelband und die übrigen nicht erkannten, da sie nicht tief genug in das Problem eingedrungen waren: der Frage, wie - neben und im Unterschied zu der unmittelbaren Erfahrung - eine Erkenntnis des Individuellen möglich sei. Er beantwortet diese Frage mit der Feststellung, daß eine solche Erkenntnis nicht möglich sei, und fallt in die positivistische Überzeugung zurück, daß das Allgemeine (das eigentliche Objekt der Erkenntnis) nur mit Hilfe der Naturwissenschaft oder einer anderen auf naturalistischen Prinzipien begründeten Wissenschaft erkannt werden könne. So gelingt es ihm schließlich ebensowenig, wie seiner ganzen Generation, dem Einfluß des positivistischen Denkens zu entgehen.« (184) Was an diesem Urteil wahr ist, wird angesichts der von Collingwood hier gegebenen Begründung desselben fast unkenntlich. Das Kernstück seiner systematischen Theorie der historischen Erkenntnis ist ohne Zweifel die Lehre vom Nachvollzug der Erfahrung der Vergangenheit (Re-enactment). Er steht damit in der Front derer, die gegen das ankämpfen, I>was man die positivistische Deutung oder besser Mißdeutung des Gesehichtsbegriffs nennen kann« (239). Die eigentliche Aufgabe der Historiker sei, »in das Denken der Geschichtsträger einzudringen, deren Handlungen sie erforschen{~, Es mag in deutscher Übersetzung besonders schwierig sein, was Collingwood hier mit Denken meint, richtig zu bestimmen. Offenbar ist der Begriff des ,Aktes( im Deutschen in recht andere Bezüge gerückt, als der englische Autor meint. Der Nachvollzug des Denkens der handelnden Personen (oder auch der Denker) meint bei Collingwood nicht eigentlich die realen psychischen Akte derselben, sondern ihre Gedanken, d. h. was als dasselbe im Nachdenken wieder gedacht werden kann. Auch soll der Begriff des Denkens durchaus das mitumfassen, was man den Gemeingeist (der Übersetzer sagt unglücklich )Gemeinschaftsgeist<) einer Körperschaft oder eines Zeitalters nennt (230). Aber wie seltsam eigenlebendig erscheint dieses >Denken(, wenn Collingwood etwa die Biographie deshalb als antihistorisch bezeichnet, weil sie nicht auf das >Denken( gründe, sondern auf ein Naturgeschehen. I> Dieses Fundament - das kärperhafte Leben eines Menschen mit Kindheit, Reife und Aher, mit Krankheiten und all den anderen Wechselfallen des biologischen Daseins - wird umspült und umflutet, ungeregelt und ohne Rücksicht auf seine Struktur, vom (eigenen und fremden) Denken, wie ein gestrandetes Wrack vom Meerwasser. « Wer trägt eigentlich dieses >Denken(? Was sind die Geschichtsträger, in deren Denken es einzudringen gilt? Ist es die bestimmte Absicht, die ein Mann mit seinem Handeln verfolgt? Collingwood scheint das zu meinen 36 • »Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Geschichte seiner Taten nicht möglich« (324). Ist Rekonstruieren der Absichten aber wirklich Ver36
Vgl. Gcs. Werke Bd. 1, S. 375[(
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stehen der Geschichte? Man sieht, wie sich Collingv,1Ood gegen seine Absicht in die psychologische Partikularität verstrickt. Ohne eine Theorie vom .Geschäftsträger des Weltgeistes<, d. h. ohne Hegcl, kann er nicht herausfmden. Das zu hören würde ihn nicht freuen. Dcnn alle Geschichtsmetaphysik, auch die HegeIs, erscheint ihm als ein bloßes Klassifizierungssystem (276) ohne echten historischen Wahrheitswert. Ferner ist mir nicht ganz klar geworden, wie sich seine These eines radikalen Historismus mit seiner Theorie des Re-enactmemverträgt, wenn er aufder anderen Seite sieht, und ich glaube mit Recht, daß der Historiker selbst ein Teil des geschichtlichen Ablaufs ist, den er erforscht und den er nur von dem Standpunkt beobachten kann, den er selber im Augenblick in ihm einnimmt (260). Wie will sich das mit der Verteidigung des Nachvollzugs eines überlieferten >Gedankens( reimen, die Collingwood am Beispiel von Platos Sensualismuskritik im .Theaetet' erläutert? Ich fUrchte, das Beispiel ist falsch und beweist das Gegenteil. Wenn Plato im .Theaitetos< die These au[,tellt, daß Erkenntnis ausschließlich Sinneswahrnehmung sei, so kenne ich nach Collingwood als heutiger Leser den Zusammenhang nicht, der ihn zu dieser These fUhrt. Dafür ist in meinem Geist dieser Zusammenhang ein anderer: nämlich die aus dem modemen Sensualismus envachsenc Diskussion. Da es sich um einen >Gedanken( handelt, schadet das aber nichts. Ein Gedanke könne in verschiedene Zusammenhänge gestellt werden, ohne seine Identität zu verlieren (315). Man möchte hier Col1ingwood an die Kritik an der Statement-Diskussion Oxfords in seiner eigenen >Logic of question and anSWCf< erinnern (Denken 30-43). Sollte nicht der Nachvollzug des platonischen Gedankens in Wahrheit nur dann gelingen, wenn man den wahren platonischen Zusamnlenhang erfaßt (den einer mathematischen Evidenztheorie, wie ich glaube, die sich über die intelligible Seinsart des Mathematischen noch nicht ganz im klaren ist)?37 Und wird man diesen Zusammenhang erfassen können, wenn man nicht ausdrücklich die Vorbegriffe des modernen Sensualismus suspendiert?3b Mit anderen Worten, Collingwoods Theorie des Re-enactment vermeidet zwar die Partikularität der Psychologie, aber die Dimension der hermeneutischen Vermittlung, die in allem Verstehen durchschritten wird, entgeht ihm dennoch. 37 rVgl. inzwischen meine Arbeit )Mathematik und Dialektik bei Plato( (Gekürzte Fassung) in der FS fur C. F. von Weizsäcker, München 1982, S. 229-240; Ges. WerkeBd. 7 (Vollständige Fassung)]. 38 Ich erinnere an den großen Erkenntnisfortschritt, den H. Langerbecks Studie dOS/L EflIPYLMIH (N. Ph. U. Heft 10, 1935) gebracht hat-was man über der scharfen Teilkritik E. Kapps im Gnomon (1935) nicht übersehen sollte. (Vgl. auch meine Rezension;jctzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 341 f( I
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In den Zusammenhang einer Kritik am historischen Objektivismus gehöfell vor allem auch die Arbeiten von Erieh Rothacker. Insbesondere hat er in einer seiner letzten Arbeiten )Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus(39 seine früheren Gedanken fortgefuhrt, die das hermeneutische Anliegen Diltheys (ähnlich wie Hans Freyer in der )Theorie des objektiven Geistes<) gegen allen Psychologismus festhalten. Der Begriff der dogmatischen Denkform ist ganz als ein hermeneutischer Begriff gemcint 40 • Die Dogmatik soll als eine produktive Methode geisteswissenschaftlicher Erkenntnis verteidigt werden, sofern sie den immanenten Sachzusammcnhang, der ein Sinn gebiet einheitlich bestimmt, herausarbeitet. Rothacker kann sich darauf berufen, daß der Begriff >Dogmatik< in der Theologie wie in der Jurisprudenz keineswegs nur kritischpejorativen Sinn hat. Aber im Unterschied zu diesen systematischen Disziplinen soll der llegriffDogmatik hier nicht einfach ein Synonym fur systematische Erkenntnis, also fLir Philosophie, sein, sondern eine gegenüber der historischen Fragestellung, die Entwicklungen zu erkennen sucht, zu rechtfertigende >andere Einstellunge Dann hat aber der Begriff )Dogmatik< bei ihm im Grunde innerhalb der historischen Gesamthaltung seinen Ort und empfingt von da sein relatives Recht. Es ist am Ende das, was Diltheys Begriff des Strukturzusammenhangs allgemein formuliert hatte. in spezieller Anwendung auf die historische Methodenlehre, Eine solche Dogmatik hat also erst dort, wo historisch gedacht und erkannt wird, ihre korrigierende Funktion. Eine Dogmatik des römischen Rechtes gibt es doch wohl erst, seit es eine Rechtsgeschichte gibt. Walter F. Ortos >Götter Griechenlands( waren erst möglich, nachdem die historische Forschung aus der griechischen Mythologie eine Vielfalt kultgeschichtlicher und sagengeschichtlicher Teilerkenntnisse gemacht hatte, und wenn Wölft:. lins >klassische Kunst( - im Unterschied zu den >Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen( - von Rothacker als Dogmatik bezeichnet wird, so scheint mir eine solche Charakteristik nur relativ. Der Gegensatz zur Barockästhetik, insbesondere zum Manierismus, ist von vornherein der geheime Konstruktionspunkt dieser )Dogmatik<, d. h. aber, sie ist von vornherein vveniger geglaubt und bekannt worden, als historisch gemeint gewesen. In diesem Sinnc nun ist die Dogmatik in der Tat ein Element unseres geschichtlichen Erkennens. Es ist verdienstlich, daß Rothacker dieses Element als »dic einzige Quelle unseres geistigen Wissens <1 (25) heraushebt. Einen umfassenden Sinnzusammenhang, wie ihn eine solche Dogmatik Abh. d. geistes-u. sozialwiss. Kl. d. Ak. d. Wiss. u. Lit., 6, Mainz1934. Daß R. sich über die Not\-vendigkeit, das hermeneutische Problem des Sinnes von aller psychologischer Erforschung der )Absichten< - also auch der )subjektiven Meinung< eines Textes - abzulösen, völlig im klaren ist, zeigt etwa auch sein Aufsatz: >Sinn und Geschehnis< (in Sinn und Sein, ein philosophisches Symposion, 1960). 39
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darstellt. muß lllan eben vollziehen, einleuchtend finden. Man muß es mindestens nicht ullnlöglich finden, daß er )\vahr< ist, \venn man ihn \virklich verstehen \vill, Damit ist freilich, wie Rothacker darlegt, das Problem der Mehrheit solcher dogmatischen Systeme oder Stile gestellt, und das ist das Problem des Historismus. Rothacker erweist sich als ein temperamentvoller Verteidiger desselben. Dilthey hatte die Gefahr des Historismus dadurch zu bannen gesucht, daß er die verschiedenen Weltanschauungen auf die Mehrseitigkeit des Lebens zurückführte. Rothacker folgt ihm darin, indem er von den Dogmatiken als Explikationen gelebter Weltbilder oder von Stilrichtungen spricht und dieselben auf die Anschauungsgebundenheit des handelnden Menschen und seine Perspektivität zurückführt. Dadurch gewinnen sie alle ihre perspektivistische Unwiderleglichkeit (35). In der Anwendung auf die Wissenschaft bedeutet das, daß der Relativismus nicht uferlos herrscht. sondern seine klaren Grenzen hat. Er gefahrdet nicht die immanente ,Objektivität( der Forschung. Sein Ansatzpunkt liegt in der Variabilität und Freiheit der wissenschaftlichen Fragestellungen, zu denen sich die variablen 13edeutsamkeitsrichtungen der gelebten Weltbilder ausbilden. Selbst die moderne Naturvvissenschaft \vird von da als die Dogmatik einer quantifizierenden Sichtweise (53) bezeichnet, sobald \vir nur den Gedanken zulassen, daß es eine andere Erkenntnisweise der Natur geben kann 41 • Daß die juristische Hermeneutik in den Problemzusammenhang einer allgemeinen Hermeneutik gehört, ist keines\~/egs selbstverständlich. Es handelt sich ja \virklich in ihr nicht eigentlich um eine Besinnung methodischer Art, wie das für die Philologie und für die biblische Hermeneutik gilt, sondern um ein subsidiäres Rechtsprinzip selbst. Ihre Aufgabe ist nicht, geltende Rechtssätze zu verstehen, sondern Recht zu finden, d. h. die Gesetze so auszulegen, daß die Rechtsordnung die Wirklichkeit voll durchdringt. Weil Auslegung hier eine normative Funktion hat, wird sie z.ll. durch Iletti ganz von der philologischen Auslegung abgetrennt, und selbst von solchem historischen Verstehen, dessen Gegenstand rechtlicher Natur ist (Verfassungen, Gesetze oder dgl.). Daß Gesetzesauslegung im juristischen Sinne ein rechtsschöpferisches Tun ist, läßt sich eben einfach nicht bestreiten. Die verschiedenen Prinzipien, die bei dem Tun anzu\venden sind, z. B. das Analogieprinzip oder das Prinzip der Ausfullung von Gesetzeslücken oder schließlich das in der Rechtsentscheidung selbst gelegene, also am Rechtsfall hängende produktive Prin41 Warum sich Rothacker fur die Vorgängigkeit (das Apriori) solcher Bcdeutsamkeitsrichtungen auf Heideggcrs ontologische Differenz beruft. statt auf den transzendentalen Apriorismus, den die Phänomenologie mit dem Neukantianismus teilt, ist mir nicht klarge'.vordcn.
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zip, stellen nicht bloße methodologische Probleme dar, sondern greifen tief in die Rechtsmaterie selbst ein 42 • Offenbar kann eine juristische Hermeneutik sich nicht im Ernst damit begnügen, als Auslegungskanon das subjektive Prinzip der Meinung und der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers zu gebrauchen. Sie kann vielfach nicht umhin, objektive Begriffe, z. B. den des Rechtsgedankens, der in einem Gesetz zum Ausdruck kommt, anzuwenden. Es ist anscheinend eine reine Laienvorstellung, wenn man sich die Anwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Fall als den logischen Vorgang der Subsumtion des Einzelnen unter das Al1gemeine denkt. Der Gesetzespositivismus, der die rechtliche Wirklichkeit ganz auf das gesetzte Recht und seine richtige Anwendung beschränken möchte, dürfte heute keine Anhänger mehr finden. Der Abstand zwischen der Allgemeinheit des Gesetzes und der konkreten Rechtslage im Einzelfall ist offenbar wesenhaft unaufbebbar. Es scheint nicht einmal zu genügen, daß man sichin einer idealen Dogmatik die rechtsproduktive Kraft des Einzelfalles als deduktiv vorbestimmt denkt, in dem Sinne, daß eine Dogmatik sich denken ließe, die alle überhaupt möglichen Rechtsv.'ahrheiten in einem kohärenten System wenigstens potentiell enthielte. Selbst die }Idee< einer solchen vollendeten Dogmatik scheint unsinnig, ganz abgesehen davon, daß faktisch die rechtsschöpferische Kraft des Fal1s stets neue Kodifikationen vorbereitet. Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist, daß die hermeneutische Aufgabe, den Abstand zwischen Gesetz und Fall zu überbrücken, auch dann gegeben ist, wenn gar kein Wandel der sozialen Verhältnisse oder sonstige geschichtlichen Veränderungen der Wirklichkeit das geltende Recht als veraltet oder unangemessen erscheinen lassen. Der Abstand zwischen Gesetz und Fall scheint schlechthin unauflösbar. Das hermeneutische Problenl ist insofern von der Berücksichtigung der historischen Dimension ablös bar. Es ist auch nicht bloße unvermeidliche Unvollkommenheit in der Durchftihrung rechtlicher Kodifikation, was den Spielraum ftir die Konkretion oftcnläßt, so daß man der Idee nach diesen Spielraum auf jedes beliebige Maß herabsetzen könnte. Es scheint vielmehr im Sinne der gesetzlichen Regelung selber, ja aller rechtlichen Ordnung überhaupt, zu liegen, in der Weise >elastisch< zu sein, daß sie einen solchen Spielraum läßt. 42 Wenn man etwa das fur Studenten bestimmte Lehrbuch der >Methodenlehre der Rechtswissenschaft<, das K. Larenz vorgelegt hat (Berhn 1961) , ansieht, so macht die vortreflliche historische und systematische Übersicht, die es gevv'ährt, deutlich, daß diese Methodenlehre überall zu schwebenden Rechtsfragen et"\vas zu sagen hat, mithin eine Art Hilfsdisziplin der Rechtsdogmatik ist. Darin liegt ihre Bedeutung für unseren Zusammenhang. rInzwischen ist diese ,Methodenlehre, in der 3. Auflage erschienen und enthält ausgedehnte Diskussionen zur philosphischen Hermeneutik. Vgl. auch die umfassende Monographie von G. Zaccaria, Ermeneutica e Giurisprudenza (Milano 1984), die in 2 Bänden meine theoretische Grundlegung und J. Essers juristische Anwendung darstellt. I
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Wenn ich nicht irre, hat schon Aristoteles diesen Punkt klar gesehen, indem er dem Gedanken des Naturrechts keine positiv-dogmatische, sondern lediglich eine kritische Funktion zubilligte. Man hat es immer als schockierend empfunden (wenn man es nicht geradezu durch Fehlinterpretation des aristotelischen Textes bestritt), daß Aristoteles zwar den Unterschied von konventionell und von Natur Rechtem macht, aber auch das von Natur Rechte fur veränderlich erklärt. 43 Das von Natur Rechte und das durch Satzung Gesetzte sind nicht ))gleichermaßen veränderlich«. Vielmehr wird durch den Hinblick auf vergleichbare Phänomene erläutert, daß auch das von Natur Rechte veränderlich ist, ohne deshalb aufzuhören, von dem durch bloße Satzung Gesetzten verschieden zu sein. Offenkundig sind ja z. B. Verkehrsregeln nicht in gleichem, sondern in viel höherem Maße veränderlich als solches, das von Natur als Recht gilt. Aristoteles will das nicht abschwächen, sondern erklären, wieso in der (im Unterschied zu der der Götter) unstabilen Menschenwclt das von Natur Rechte überhaupt ausgezeichnet ist. So sagt er: Es ist gleichermaßen klar und für den Unterschied zwischen von Natur Rechtem und aus Konvention Rechtem gilt-trotz ihrer beider Veränderlichkeit- dieselbe Bestimmung, wie etwa beim Unterschied von rechter Hand und linker Hand. Auch da ist von Natur die rechte die stärkere, und doch läßt sich dieser natürliche Vorrang nicht als unveränderlich bezeichnen, sofern man ihn in gewissen Grenzen durch Training der anderen Hand aufheben kann 44 • In gewissen Grenzen, d. h. in einem gewissen Spielraum. Einen solchen Spielraum offenzulasscn, hebt offenbar den Sinn rechtlicher Ordnung so wenig auf, daß es vielmehr wesentlich zur Natur der Sachverhalte gehört: "ENE 10. 1134b27ff. Die Stelle ist von L. Strauss unter Heranziehung der ihm wohl aus der jüdischen Tradition bekannten Lehre von der extremen Situation behandelt worden (Naturrecht und Geschichte, mit einem Vorwort von G. Leibholz, Suttgart 1956), und H. Kuhn (Zschr. ftir Politik. 3 NF, Heft 4, 1956, S. 289fT. Vgl. oben S. 302ff.) hat in einer kritischen Stellungnahme dagegen den aristotelischen Text im Anschluß an H. H. Joachim so zu redigieren gesucht, daß Aristoteles gar nicht uneingeschränkt die Veränderlichkeit des Naturrechts behauptet habe. In Wahrheit scheint mir der Satz 1134b 32-33 sofort in Ordnung, wenn man das strittige ~gleichermaßen, nicht auf die Veränderlichkeit des natürlichen und des konventionellen Rechts bezieht, sondern auf das folgende >offen44
kundig< (ö~.tav). Neuerdings nimmt auch W. Bröcker, Aristoteles3 S. 301 ff. zu dieser Kontroverse Stellung, verfallt aber m. E. einem Sophisma, wenn er f)im Falle eines Konfliktes von Naturrecht und positivem Recht(( die Gültigkeit des positiven Rechtes als die aristotelische Meinung verteidigt. Natürlich ist es ,gültig" aber nicht )rechtl, wenn Kreon das Naturrecht »aufhcbt((. Und das ist die Frage, ob es überhaupt einen Sinn hat, über das 'positiv( Rechtliche hinaus und angesichts seines souveränen Geltungsanspruchs eine Instanz des natürlichen Rechts anzuerkennen, vor der das ,Gültige( unrecht hat. Ich habe zu zeigen gesucht, daß eine solche Instanz besteht, aber nur als kritische.
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)}Das Gesetz ist allgemein und kann eben deswegen nicht jedem einzelnen Fall gerecht werden. «45 Die Sache hängt auch nicht etwa an der Kodifikation der Gesetze, sondern Ulngekehrt ist Kodifikation von Gesetzen überhaupt nur möglich, weil Gesetze an sich und ihrem Wesen nach allgemein sind. Vielleicht muß man sich hier die Frage vorlegen, ob der innere Zusalnmcnhang von Hermeneutik und Schriftlichkeit nicht ebenso als ein sekundärer zu beurteilen ist. 46 Nicht die Schriftlichkeit als solche ist es, die einen Gedanken auslegungs bedürftig werden läßt, sondern seine Sprachlichkeit, d. h. aber die Allgemeinheit des Sinnes, die ihrerseits schriftliche Aufzeichnung als Folge ermöglicht. lleidcs, das kodifizierte Recht wie der schriftlich überlieferte Text, weisen also auf einen tieferliegenden Zusammenhang, der das Verhältnis von Verstehen und Applizieren betrifft, \vie ich gezeigt zu haben glaube. Daß hierftir Aristoteles der oberste Zeuge ist, kann nicht venvundern. Ist doch seine Kritik an der platonischen Idee des Guten. wie ich vermuten möchte, der Keimpunkt seiner ganzen eigenen Philosophie überhaupt. Sie enthält, ohne deshalb >Nominalismus< zu sein, eine radikale Revision des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, \vie es in der platonischen Lehre von der Idee des Guten - mindestens nach der Darstellung in den platonischen Dialogen - impliziert 1st4 ;. Das schließt aber nicht aus, daß zu diesem wesenhaften Abstand des Allgemeinen und des Konkreten noch weiterhin der historische Abstand hinzutritt und eine eigene hermeneutische Produktivität entfaltet. Ich wage nicht zu entscheiden, ob das auch fur diejuristische Hermeneutik gilt, in dem Sinne, daß eine durch den Wandel der Dinge auslegungsbedürftig gewordcnc gesetzliche Ordnung (z. B. mit Hilfe des Analogieprinzips) Kulm, a.a.O. S. 299. IVgl. inZ'\viscben meine Arbeit> Untcf\\:egs zur Schrift?, in: A. Assmallll-J. Assmal1n (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Müncben 19H3, S. 10-19; Ges. Werke Bd. 7, S. 238-2601 47 VgI. auch die vortreftliche Studie über das l>Natmrccht bei Aristoteles« vonJ. Ritter (res pllblica 6. 19(1). Hier \vird in extenso gezeigt, warum es bei Aristotclcs kein dogmatisches Naturrecht gebl'll kann - . . vcil n:ünlich die N3tur die gesamte menschliche \'Xielt, :1lso auch dic rechtliche Vcrf.15Sl11lg durch und durch bestimmt. Ob Ritter meinen Textvorscblag, den ich SChOll Oktober 1960 in Hamburg vorgetragen hattc, akzeptiert. \vird nicht ganz klar (S. 28), wmal nachdem er H. H. Joacbim~ ßehandlurig des Kapitels ohne kritische Einscbränkung zitiert (Anm. 14). Aber in der Sacbe stimmt cr mit meiner Auffassung (Ges. Werke Bd. 1, S. 3:24ff) Liberein (anscheinend auch W. Bröcker, der die Stelle a.a.O. S.302 übersetzt, jedoch ohne mcincn Textvorschlag anzunehmen) und l'lltfaltet höchst lehrreich den metaphysischen Hintergrund der "politischen« ulld "praktischen « Philosophie des Aristoteles. [Was hier nur vorsichtig anklingt; habe ich inz ......·ischen ZUIll Gegenstand einer austuhrlichen Untersuchung gemacht: ,Die Ideedes Guten zwischen Plato und Aristoteles' (Sitzb. d. Heid. Ak. d. Wis~ .. Philos.-histor. Klasse. Abh. 3) Hcidelberg lSl78. Im Ergebnis bezweifle ich. daH Plato die Idee des Gutcn überhaupt so gedacht bat, wic Aristotcles sie kritisiert. Dic Abhandlung erscheint auch in Ges. Werke lid. 15
4h
7. S. 1~R-127.1
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geradezu zu einer gerechteren Rechtsanwendung überhaupt beitrüge _ nämlich zur Verfeinerung des die Auslegung leitenden Rechtsgefühls. Auf anderen Gebieten jedenfalls ist die Sache klar. Es ist außer allem Zweifel, daß die )Bedeutung, historischer Ereignisse oder der Rang von Kunstwerken im Zeitenabstand an Sichtbarkeit gewinnen.Die gegenwärtige Diskussion des hermeneutischen Problems ist wohl nirgends so lebhaft wie im Bereiche der protestantischen Theologie. Auch hier handelt es sich freilich in gewissem Sinne, wie bei der juristischen Hermeneutik, um über die Wissenschaft hinausgehende Interessen, in diesem Falle des Glaubens und seiner rechten Verkündigung. Die Folge ist, daß die hermeneutische Diskussion sich mit exegetischen und dogmatischen Fragen verflicht, zu denen der Laie keine Stellung nehmen kann. Aber wie bei der juristischen Hermeneutik ist auch hier der Vorzug dieser Lage deutlich: den >Sinn, der jeweils zu verstehenden Texte nicht auf die imaginäre Meinung ihrer Verfasser einschränken zu können. Das großartige Riesenwerk Karl Barths, seine Kirchliche Dogmatik4 !l, trägt zu dem hermeneutischen Problem nirgends ausdrücklich und indirekt überall bei. Etwas anders liegt die Sache bei Rudolf Bultmann, dem methodologische Erörterungen durchaus liegen und der in scinen )Gesammelten Abhandlungen, mehrfach ausdrücklich zum Problem der Hermeneutik Stellung genommen hat 49 • Doch ist auch in seinem Fal1e der Schwerpunkt der ganzen Frage ein immanent theologischer, nicht nur in dem Sinne, daß seine exegetische Arbeit den Erfahrungsboden und den Anwendungsbereich seiner hermeneutischen Grundsätze darstellt, sondern vor allem auch in dem Sinne, daß der große Streitgegenstand der heutigen theologischen Auseinandersetzung, die Frage der >Entmythologisierung< des Neuen Testamentes, weit mehr von dogmatischen Spannungen durchzogen ist, als der methodologischen Besinnung angemessen wäre. Nach meiner Überzeugung hat das Prinzip der Entmythologisierung einen rein hermeneutischen Aspekt. Es soll nach Bultmann mit diesem Programm nicht über dogmatische Fragen als solche vorentschieden werden, also etwa darüber, wieviel von den Inhalten der biblischen Schriften für die christliche Verkündigung und damit ftir den Glauben wesentlich ist und was etwa geopfert werden könnte, sondern es handelt sich um die Frage des Verstehens der christlichen Verkündigung selbst, um den Sinn, in dem sie verstanden werden muß, wenn sie überhaupt >verstanden< werden soll. Vielleicht, ja sogar sicher ist es möglich, im Neuen Testament )mehr, zu verstehen, als Buhmann ver48 Vgl. die Würdigung eines wichtigen Aspektes dieses Werkes durch H. Kuhn Phil. Rundseh. 2, 144-152 und 4, 182-191. 49 Vgl. Glauben und Verstehen 11. 211 ff. III, 107 ff., sowie Geschichte und Eschatologie, Kap. VIII; vgI. auch den Beitrag von H. Blumenberg, Phil. Rundseh. 2, 121-140 {und G. Bornkamms kritischen Bericht ebenda, 29 (1963), 33-141 J
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standen hat. Das kann sich aber nur herausstellen, indem Inan dies )mehr< ebenso gut, d. h. - wirklich versteht. Die historische I:libelkritik und ihre wissenschaftliche DurchfUhrung im 18. und 19. Jahrhundert haben eine Situation geschaffen, dic einen beständig neuen Ausgleich zwischen den allgemeinen Grundsätzen wissenschaftlichen Textverständnisses und den besonderen Aufgaben des Selbstverständnisses des christlichen Glaubens fordert. Es ist gut, sich zu erinnern, wie die Geschichte dieser Ausgleichsbemühungen aussieht5Ü • Am Anfang der Entwicklung des 19. Jahrhunderts steht Schleiermachers Hermeneutik, die die wesenthafte Gleichartigkeit im Auslegungsverfahren der Heiligen Schrift und aller sonstigen Texte, wie sie schon Semler im Auge hatte, systematisch begründet. Schleiermachers eigenster Beitrag war dabei die psychologische Interpretation, wonach jeder Gedanke eines Textes als ein Lebensaugenblick auf den persönlichen Lebenszusanlmenhang seines Verfassers zurückbezogen werden muß, wenn er ganz verstanden werden will. Wir haben inzwischen einen et\vas genaueren Einblick in die Entstehungsgeschichte von Schleiermachers Gedanken zur Hermeneutik, nachdem die Berliner Manuskripte, aus denen Lücke seinerzeit die Ausgabe komponiert hatte, durch die Heidelbergcr Akademie der Wissenschaften in getreuem Abdruck vorgelegt worden sind 51 • Die Ausbeute dieses Rückgriffs auf die Originalmanuskripte ist nicht revolutionär, aber doch nicht bedeutungslos. H. Kimmerlc zeigt in seiner Einleitung, wie die ersten Niederschriften die Identität von Denken und Sprechen in den Vordergrund stellen, während die spätere Ausarbeitung im Sprechen die individualisierende Äu50 Wie anders vor der Entstehung der historischen Bibelkritik das Verhältnis von Theologie und Philosophie 'war. sofern das Neue Testament unmittelbar als Dogmatik, d. h. als Inbegriff allgemeiner Glaubenswahrheiten, verstanden wurde und damit (freundlich oder feindlich) auf die systematische Beweisart und die Darstellungsform der rationalen Philosophie bezogen 'werden konnte, lehrt die Studie von H. Licbing, Zwischen Orthodoxie und Aufklärung, über den Wolffianer G. B. Bilfinger (Tübingen 1961). ßilfinger sucht die Wissenschaftlichkeit seiner Theologie auf dem Boden der modifizierten Wolfischen Metaphysik systematisch zu begründen. Daß er sich dabei der durch seine Zeitsituation und seine Einsicht gesetzten Grenzen bewußt war, ist das einzige hermeneutische Element seiner Wissenschaftslchre. das in die Zukunft hinüberweist: auf das Problem der Geschichte. Vgl. auch meine Einleitung zu F. ehr. Oetingers Inquisitio in sensum communem. Neudruck des Frommann-Verlages 1964, S. V-XXVIII. = Kleine Schriften IlI, S. 89100 rGes. Werke Bd. 4). 5J Der Abdruck der Berliner Manuskripte, deren älteste sehr schwer lesbar sind, ist von H. Kimmerle besorgt '.vorden. Vgl. den ergänzenden Nachbericht zur Ausgabe Heidelberg 1968.(Es ist das Verdienst von M. Frank (>Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und - interpretation nach Schleiermacher<, Frankfurt 1977 die Diskussion um Sehleiermacher offen zu halten. Vgl. dazu meine Entgegnung in )Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik(, oben S. 3 ff.J
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ßerung sieht. Dazu kommt das langsame Hcrvonvachsen und schließliche Dominieren des psychologischen Gesichtspunktes über die genuin sprachlichen Gesichtspunkte der >technischen< Interpretation (>StyI<). Daß auch innerhalb der Schleiermacherschen Dogmatik, die in einer schönen großen Neuausgabe durch Martin Rcdekcr (Der christliche Glaube) neu zugänglich gemacht worden ist~2, die psychologisch-subjektive Orientierung Schleiermachers zu theologischer Kritik herausfordert, ist bekannt genug. Das )Selbstbewußtsein des Glaubens< ist eine dogmatisch gefahrliehe Basis. Das Buch von Christoph Senft, das die Entwicklung von Schleiermacher bis zur liberalen Theologie Ritschls mit großer Klugheit diskutiert, gibt davon eine gute Vorstellung". Senft schreibt S. 42 über Schleiermacher: »Trotz seines Bemühens um lebendige Begriffe zur Erfassung des Geschichtlichen bleibt bei ihm die Dialektik zwischen Spekulation und Empirie eine unbewegte: die Wechselwirkung zwischen der Geschichte und dem sie Erkennenden ist eine unproblematische und krüischc, worin der nach der Geschichte Fragende vor jeder grundsätzlichen Gegenfrage sicher bleibt.« In dieser Richtung hat auch F. Ch. Baur, wie Senft zeigt, so sehr er den geschichtlichen Prozeß zum Gegenstand seiner Besinnung macht, das hermeneutische Problem nicht weitergebracht, da er die Autonomie des Selbstbewußtseins als uneingeschränkte Basis festhält. Wohl aber hat Hofmann, und das kommt in Senfts Darstellung schön heraus, in seiner Hermeneutik die Geschichtlichkcit der Offenbarung auch hermeneutisch ernst genommen. Das Lehrganze, das er entwickelt, ist \>die Explizierung des christlichen Glaubens, der im ~außer uns Gelegenen< seine Voraussetzung hat, aber nicht gesetzlich äußerlich, sondern so, daß es ihm als seine eigene Geschichte >erfahrungs mäßig< erschlossen ist«. (Senft, S. 105) Damit ist zugleich gesichert: J)Als Denkmal einer Geschichte, d. h. eines bestimmten Zusammenhangs von Ereignissen - nicht als Lehrbuch allgemeiner Lehren - ist die Bibel das Buch der Offenbarung.« Im ganzen läßt sich sagen, daß die Kritik, die die historische Bibelwissenschaft am Kanon geübt hat, indem sie die dogmatische Einheit der Bibel höchst problematisch macht und die rationalistischdogmatische Voraussetzung einer biblischen )Lehre< auflöst, die theologische Aufgabe gestellt hat, die biblische Geschichte als Geschichte anzuerkennen. Mir scheint, daß die neuere hermeneutische Debatte von hier aus ihre Richtung gewiesen bekommen hat. Der Glaube an diese Geschichte muß selber als ein geschichtliches Ereignis, als Anruf des Wortes Gottes verstan52 Berlin 1960 [Inzwischen hat M. Redeker auch die Materialien, die W. Dilthey als Vorarbeiten zum IL Bande seiner Schleiermacher-Biographie hinterlassen hat, in zwei Halbbänden zugänglich gemacht (VgL Ges. Werke 14,1 und 2) I_ 53 C. Senft, Wahrhaftigkeit und Wahrheit. Die Theologie des 19. Jh. zwischen Orthodoxie und Aufklärung, Tübingen 1956.
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den werden. Schon für das Verhältnis von Altem und Neucm Testament gilt das. Es läßt sich (etwa nach Hofmann) als das Verhältnis von Weissagung und Erfüllung verstehen. so daß sich erst aus der Erftillung die geschichtlich scheiternde Weissagung selber in ihrem Sinn bestimmte. Das geschichtliche Verständnis der alttestamentlichen Weissagungen ist aber dem Verkündigungssinn keineswegs abträglich, den sie vom Neuen Testament her empfangen. Im Gegenteil wird das Heilsereignis, das das NT verkündet, erst dann als ein wirkliches Ereignis verstanden, wenn die Vorhersagung kein bloßer »Abdruck der zukünftigen Tatsache« ist (Hofmann bei Senft 101). Vor allem gilt es aber von dem Begriff des Selbstverständnisses des Glaubens, dem Grundbegriff der Bultmannsehen Theologie, daß er einen geschichtlichen (und nicht idealistischen) Sinn hat". Selbstverständnis soll eine geschichtliche Entscheidung meinen und nicht etwa verftigbarcn Selbst besitz. So hat Bultmann immer \vieder betont. Es ist daher ganz abwegig, den Begriff des Vorverständnisses, den Bultmann gebraucht, als Befangenheit in Vorurteilen zu verstehen, als eine Art Vorwissen 55 • In Wahrheit handelt es sich um einen rein hermeneutischen Begriff. den Bultmann, durch Heideggers Analyse des hermeneutischen Zirkels und der allgemeinen Vor-Struktur des menschlichen Daseins angeregt, ausgebildet hat. Er meint die Öffnung des Fragehorizontes, in dem Verstehen allein möglich ist. aber er meint nicht, daß das eigene Vorverständnis durch die Begegnung mit dem Worte Gottes (wie übrigens mit jedem anderen Wort) nicht korrigiert werden könne. Im Gegenteil, es ist der Sinn dieses Begriffes, die Bewegung des Verstehens als solche Korrektur sichtbar zu machen. Daß diese >Korrektur< im Falle des Anrufs des Glaubens eine spezifische ist, die nur der Formalstruktur nach von hermeneutischer Allgemeinheit ist, wird zu beachten sein 56 . Der theologische Begriff des Selbstverständnisses schließt sich hier an. Auch dieser Begriff ist offenbar aus Heideggers transzendentaler Analytik 54 Vgl. meine Beiträge in der FS G. Krüger 1962, S. 71-85 und in der FS R. Bultmann 1964, S. 479-490 (~K1eine Schciften 1., S. 70-BI. [oben. S. 121-1321 und S. 82-92 [Gcs. Wecke Bd. 3J). 55 Betti in seiner >Grundlegung( a.a.O. S. 115 (Anm. 47a) scheint in dem Mißverständnis befangen, das ~ Vorverständnis( werde von Heideggcr und Bultmann gefordert, weil es das Verstehen fördere. Richtig ist vielmehr, daß ein Bewußtsein des immer im Spiele seienden Vorverständnisses zu verlangen ist. wenn man es mit der) Wissenschaftlichkeit, ernst meint. 56 L. Steiger, Die Hermeneutik als dogmatisches Problem (Gütersloh 1961) sucht in seiner tüchtigen Dissertation (aus der Schule H. Diems) die Besonderheit der theologischen Hermeneutik herauszuarbeitcn. indem er die Kontinuität des transzendentalen Ansatzes des theologischcn Verstehens von Sch1ciermacher über Ritschl und Harnack bis zu Bultmann und Gogarten verfolgt und mit der Existenzdia1cktik der christlichen Verkündigung konfrontiert.
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des Daseins heraus entwickelt worden. Das Seiende, dem es um sein Sein geht, stellt sich durch sein Seinsverständnis als Zugangs\veg zu der Frage nach dem Sein dar. Die Bnvegtheit des Seinsverstehens wird selbst als eine geschichtliche, als die Grundverfassung der Geschichtlichkeit erwiesen. Das ist fur Bultmanns Begriff des Selbstverständnisses von entscheidender Bedeutung. Dadurch unterscheidet sich dieser Begriff von dem der Selbsterkenntnis, nicht nur in dem )psychologistischen< Sinne, daß in der Selbsterkenntnis etwas Vorfindliches erkannt wird, sondern auch in dem tieferen spekulativen Sinn, der den Geistbegriff des deutschen Idealismus bestimmt, wonach das vol1endete Selbstbewußtsein im Anderssein sich selbst erkennt. Gewiß ist etwa die Entfaltung dieses Selbstbe\vußtseins in Hegcls Phänomenologie in entscheidender Weise durch die Anerkennung des anderen ermöglicht. Das Werden des sclbstbewußten Geistes ist ein Kampf um Anerkennung. Was er ist, ist, was er geworden ist. Gleichwohl handelt es sich in dem Begriff des Selbstverständnisses, "vie er dem Theologen angemessen ist, um etwas anderes 57 . Das unverfugbar Andere, das extra nos, gehört zum unaufhebbaren Wesen dieses Selbstverständnisses. Jenes Selbstverständnis, das wir in immer neuen Erfahrungen am anderen und an den anderen erwerben, bleibt, christlich gesehen, in einem \vesenhaften Sinne Unverständnis. Alles menschliche Selbstverständnis hat am Tode seine absolute Grenze. Das kann man wahrlich nicht im Ernst gegen Bultmann ins Feld fUhren (Ott 163) und einen )abschließenden< Sinn in dem Bultmannschen Begriff des Selbstverständnisses finden wollen. Als ob das Selbstverständnis des Glaubens nicht eben die Erfahrung des Scheiterns des menschlichen Selbstverständnisses wäre. Solche Erfahrung des Scheiterns braucht nicht einmal christlich verstanden zu werden. An jeder solchen Erfahrung vertieft sich menschliches Selbstverständnis. Injedem Falle ist es ein ,Geschehen. und der Begriff des Selbstverständnisses ein geschichtlicher Begriff. Aber es sol1- nach christlicher Lehre - ein )letztes( solches Scheitern geben. Der christliche Sinn der Verkündigung, die Verheißung der Auferstehung, die vom Tode erlöst, besteht geradezu darin, das immer sich wiederholcnde Mißlingen des Selbstverständnisses, sein Scheitern an Tod und Endlichkeit, im Glauben an Christus
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57 Wie sehr die in vielem [ruchbare Analyse von Ott (Geschichte und Heilsgeschehen in der Theologie R. Bultmanns, Tübingen 1955) den methodischen Gegensatz zwischen dem metaphysischen Begriff des Selbstbewußtseins und dem geschichtlichen Sinn von Selbstverständnis verfehlt, zeigt Otts Anmerkung S. 1642 . üb Hegels Denken, wie Ott zu meinen scheint, weniger sachgemäß vom Selbstbewußtsein spricht als Buhmann vom Selbstverständnis, möchte ich dahingestellt sein lassen. Aber daß es verschiedene ,Sachen< sind - so verschieden wie Metaphysik und christlicher Glaube - sollte kein )lebendiges Gespräch mit der Tradition< aus dem Auge verlieren.
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zu beenden. GC\\-Tiß bedeutet das nicht ein Heraustreten aus der eigenen Geschichtlichkeit, wohl aber dies, daß der Glaube das eschatologische Ereignis ist. Bultmann schreibt in )Gcschichte und Eschatologic(51l: »Die Paradoxie, daß die christliche Existenz gleichzeitig eine eschatologische, unweltliehe, und eine geschichtliche ist, ist gleichbedeutend mit dem lutherischen Satz: Simul iustus simul peccalor.« Es ist in diesem Sinne, daß das Selbstverständnis ein geschichtlicher Begriff ist. Die an Bultmann anknüpfende neuere hermeneutische Diskussion scheint nun in einer bestimmten Richtung über ihn hinauszudrängen. Wenn nach Bultmann der Anspruch der christlichen Verkündigung an den Menschen dahin geht, die Verfligung über sich selbst aufgeben zu müssen, so ist der Anruf dieses Anspruches gleichsam eine privative Erfahrung der menschlichen Selbstverfligung. In dieser Weise hat Bultmann Heideggers Begriff der Eigentlichkeit des Daseins theologisch interpretiert. Bei Heidegger freilich ist der Eigentlichkeit die U neigentlichkeit nicht nur in dem Sinne beigesellt, daß dem menschlichen Dasein das Verfallensein ebenso eigen ist wie die ,Entschlossenheit<, die Sünde (der Unglaube) ebenso wie der Glaube. Die Gleichursprünglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger weist vielmehr schlechthin über den Ansatz im Selbstverständnis hinaus. Sie ist die erste Form, in der sich in Heideggers Denken das Sein selbst in seiner Gegenwendigkeit von Entbergung und Verbergung zur Sprache gebracht hat. 59 Wie Bultmann sich an die existenziale Analytik des Daseins bei Heidegger anlehnte, um die eschatologische Existenz des Menschen zwischen Glaube und Unglaube zu explizieren, so läßt sich auch an diese vom späteren Hcidcgger gcnaucr explizierte Dimension der Seinsfrage theologisch anknüpfen, indem man die zentrale Bedeutung, die die Sprache in diesem Seinsgeschehen hat, für die ,Sprache des Glaubens< heranzieht. Schon in der spekulativ sehr gewandten hermeneutischen Diskussion, die Ott geführt hat, findet sich im Anschluß an den Humanismus-BriefHeideggers eine Kritik an Bultmann. Sie entspricht seiner eigenen positiven These S. 107: »Die Sprache, in welcher die Wirklichkeit ,zur Sprache kommt<, in und mit welcher somit die Reflexion über Existenz sich vollzieht, begleitet die Existenz in allen Epochen ihres Sich-Ereignens. «( Die hermeneutischen Ideen der Theologen Fuchs und Ebeling scheinen mir in ähnlicher Weise vom späten Heidegger auszugehen, indem sie den Begriff der Sprache stärker in den Vordergrund stellen. Ernst Fuchs hat eine Hermene"tik vorgelegt, die er selbst ,Sprachlehre des 58 Diese Gifford-Lcctures R. Bultmanns sind dadurch von besonderem Interesse, daß sie Bultmanns hermeneutische Position zu anderen Autoren, vor allem zu Collingwood und H.). Marrou, De la connaissance historique. 1954 (vgl. Phil. Rundschau VIII, 123) in Beziehung setzen. 59 [Vgl. auch ,Heideggers Wege<, Tübingen 1983. S. 29ff.; Ces. Werke Bd. 3].
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Glaubens( nennt6U • Er geht davon aus, daß die Sprache die Lichtung des Seins ist. )Die Sprache birgt die Entscheidung darüber, was uns als Dasein offen steht, als die Möglichkeit dessen, was aus uns werden kann, wenn wir als Menschen ansprechbar bleiben sollen. « Er knüpft also an Heidegger an, um »mit der modernen Befangenheit im Subjekt-Objekt-Schema fertigzuwerden«. Während aber Heidegger »den vom Ursprünglichen her ins Ursprüngliche zurückziehenden Zug der Sprache selbst« denkt, sucht Fuchs den inneren Zug der Sprache im Hören auf das Neue Testament als den Zug des Wortes Gottes zu erkennen. Mit solchem Hören ist das Bewußtsein verknüpft, daß wir nicht sagen können, wir wären die letzten, denen Gottes Wort gilt. Daraus folgt aber, »wir dürfen und sollen uns in unsere geschichtlichen Grenzen weisen lassen, wie sie sich in unserem geschichtlichen Weltverständnis ausprägen. Damit aber empfangen wir die gleiche Aufgabe, wie sie ftir die Selbstbesinnung des Glaubens vonjeher bestand. Diese Aufgabe teilen wir auch mit den Verfassern des Neuen Testaments«. So gewinnt Fuchs eine hermeneutische Basis, die sich aus der neutestamentlichen Wissenschaft selber legitimieren kann. Die Verkündigung von Gottes Wort in der Predigt ist ein Übersetzen der Aussagen des Neuen Testamentes, dessen Rechtfertigung die Theologie ist. Theologie wird hier nahezu zur Hermeneutik, da sie - der Entwicklung der modernen Bibelkritik folgend - nicht die Wahrheit der Offenbarung selbst, wohl aber c1ie Wahrheit der auf die Offenbarung Gottes bezogenen Aussagen oder Mitteilungen zum Gegenstand har (98), Die ausschlaggebende Kategorie ist daher die der Alitteilung. Fuchs folgt darin Bultmann, daß das hermeneutische Prinzip im Verständnis des Neuen Testamentes gegenüber dem Glauben neutral sein muß, denn seine einzige Voraussetzung ist die Frage nach uns selbst. Aber sie enthüllt sich als die Frage Gottes an uns. Eine Sprachlehre des Glaubens nluß davon handeln, wie das dem Anruf des Wortes Gottes begegnende Hören eigentlich verfahrt. »Wissen, was in dieser Begegnung geschieht, heißt noch nicht, daß man auch ohne weiteres sagen kann, was man weiß.{( (86) So ist am Ende die Aufgabe nicht nur, das Wort zu hören, sondern ebenso: das Wortzu finden, das Antwort sagt. Es geht um die Sprache des Glaubens. In einem Aufsatz ) Übersetzung und Verkündigung{( wird deut1icher, inwiefern diese hermeneutische Lehre über die existentiale Interpretation im Sinne Bultmanns hinauszukommen sucht6l . Es ist das hermeneutische Prinzip der Übersetzung, das die Richtung angibt. Unbestreitbar: I}Die Übersetzung soll denselben Raum schaffen, den ein Text schaffen wollte, als der 60 Bad Cannstatt, 1954, Erg.-Heft zur 2. Aufl. 1958. Vgl. auch: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existenziale Interpretation, Tübingen 1959 und Marburger Hermeneutik (1968). 61 Zur Frage nach dem historischenJesus, Ges. Aufs. 11, Tübingen 1960.
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Geist in ihm sprach.« (409) Das Wort aber hat gegenüber dem Text - das ist die kühne und doch unvermeidliche Konsequenz - den Primat, denn es ist Sprachereignis. Damit soll offenbar gesagt sein, daß das Verhältnis von Wort und Gedanken nicht das eines nachträglichen Errcichcns des Gedankens durch das ausdrückende Wort ist. Das Wort ist vielmehr wie ein Blitz, der trifft. Entsprechend hat Ebeling einmal formuliert: »Das hermeneutische Problem erfahrt im Vollzug der Predigt seine äußerste Verdichtung. «" Es kann hier nicht darüber berichtet vverden, wie von dieser Basis aus .. die hermeneutischen Bewegungen im Neuen Testament{~ dargestellt werden. Dabei dürfte die eigentliche Pointe darin erblickt werden, daß dic Tlieologie nach Fuchs schon im Neuen Testament l)ihrem Ansatz nach der Streit Z\vischcn einem von Anfang an drohenden Rechts- oder Ordnungsdenkcn und der Sprache selbst ist~~h]. Die Aufgabe der Verkündigung ist die Umsetzung ins Wort M . Aller heutigen Kritik am historischen Objektivismus oder Positivismus ist eines gemeinsam: die Einsicht, daß das sogenannte Subjekt der Erkenntnis von der Seins art des Objektes ist, so daß Objekt und Subjekt der gleichen geschichtlichen Bewegtheit angehören. Der Subjekt-Objekt-Gegel1satz hat zvvar dort seine Angemessenheit, wo das Objekt gegenüber der res cogitans das schlechthin andere der res extensa ist. Die geschichtliche Erkenntnis aber kann durch einen solchen Begriff von Objekt und Objektivität nicht angemessen beschrieben werden. Es kommt darauf an, mir GrafYorck zu reden, den )generischen< Unterschied von )ontisch( und lhistorisch< zu erfassen, d.li. das sog. Subjekt in der ihm zukommenden Seinsweise der Geschichtlichkeit zu erkennen. Wir hatten gesehen, daß Dilthey zur vollen Konsequenz dieser Einsicht nicht durchgedrungen ist, \venn auch in seiner Nachfolge dieselbe gezogen wurde. Indessen fehlten [ur das Problem der Über\vindung des Historismus, \vie es et"\va von Ernst Troeltsch expliziert worden ist, die begrifflichen Voraussetzungen. Wort Gottes und Hermeneutik, Ztschr. f. Theol. u. Kirche, 1959. Vgl. meinen Beitrag zur FS Bultmann a.a.Q. [,Heideggers Wege~, S. 29ff.: Ges. Wecke ßd. 31. 04 Vielleicht wird das, -..vas in den Augen von Fuchs und Ebeling die meue hermeneutische Position« heißt, an der Übertreibung am deutlichsten. H. Franz hat in einem sympathischen und ernsthaften Büchlein die Frage nach Kerygma und KUllst (Saarbrükkm, 1959) gestellt. Er bewegt sich weitgehend im Sprachstoff des späten Heidegger und sieht die Aufgabe darin, die Kunst wieder in echtes kerygmatisches Sein zurückzuführen. Aus dem ~>Ge-stell« des Kunstbetriebes soll wieder das Er-eignis werden. Der Verfasser hat wohl im besonderen die Musik im Auge und ihre wesenhafte Zugehörigkeit zu dem Raum, in dem sie erklingt. oder besser: den sie klingen macht. Aber ge\viß meint er nicht nur die Musik, nicht nur die Kunst. er meint die Kirche selbst und auch ihre Theologie. wenn er das Kerygma durch den >Betrieb< bedroht sieht. Ob aber durch die Verwandlung ins ,Ereignis! Theologie und Kirche schlechthin charaktcrisierbar sind? [Vgl. auch: J. B. Cobb/J. M. Robinson, Tbe New Hermeneutics, New York 1964]. 62 63
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Hier hat die Arbeit der phänomenologischen Schule ihre Fruchtbarkeit bewiesen. Heure, nachdem die verschiedenen Entvvicklungsphasen der husserlschen Phänomenologie überschaubar geworden sind 65 , scheint mir klar, daß Husserl als erster den radikalen Schritt in dieser Richtung tat, indem er die Seinsvveise der Subjektivität als absolute Historizität, d. h. als Zeitlichkeit erwies. Heideggers epochemachendes Werk )Sein und Zeit<, auf das man sich dafür in der Regel bezieht, hatte eine ganz andere, \veit radikalere Intention, nämlich den unangemessenen ontologischen Vorgriff aufzudekken, der das neuzeitliche Verständnis der Subjektivität bzw. des )Bewußtseins< beherrscht, und das auch noch in dessen extremer Zuspitzung ZUr Phänomenologie der Zeitliclikeit und Geschiehtliehkeit. Diese Kritik diente der positiven Aufgabe, die Frage nach dem >Sein< neu aufzurühren, auf die die Griechen als erste Antwort die der Metaphysik gegeben hatten. ,Sein und Zeit< wurde jedoch nicht in dieser seiner eigentlichen Intention verstanden, sondern in dem, vvas Heidegger mit Husserl gemeinsam hatte, wenn man darin die radikale Verfechtung der absoluten Gesehichtliehkeit des ,Daseins', wie sie schon aus Husserls Analyse der Urphänomenalität der Zeitlichkeit (»Strömen«) folgte, sah. Man argumentierte etwa so: Die Seinsweise des Daseins wird nun ontologisch positiv bestimmt. Es ist nicht Vorhandensein, sondern Zukünftigkeit. Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Wahrheit ist die mit der Geschichtlichkeit des Daseins mitgegebene Erschlosscnheit des Seins 66 • Hier war die Grundlage zu finden, von der aus die Kritik am historischen Objektivismus, die in den Wissenchaften selber geschah, ihre ontologische Rechtfertigung empfangen konnte. Es ist sozusagen ein Historismus zweiten Grades, der nicht nur die geschichtliche Relativität aller Erkenntnis dem absoluten Wahrheitsanspruch entgegenstellt, sondern ihren Grund, die Gesehichtlichkeit des erkennenden Subjektes, denkt und deshalb
6.'i Husserliana I-VIII. Vgl. die Beiträge von H. Wagner (Phil. Rundsch. L 1-23, 93123), D. Henrich (Phil. Rundseh. VI. 1-25) und L. Landgrebe (PhiL Rundseh. IX, 133). H.-G. Gadamer (Phil. Rundsch. X, 1-49). Meine dort an den Auffassungsgesichtspunkten Herbert Spiegdbergs geübte Kritik hat leider in einigen Punkten unrichtige Unterstellungen begangen. Sowohl betreffs der Parole >zu den Sachen selbst< als auch zum Reduktionsbegriff Husserls nimmt Spicgelberg durchaus im gleichen Sinne . .vie ich gegen geläufige Mißverständnisse Stellung, was ich hier ausdrücklich berichtige. [Daß mit dem Fortschreiten der Husserl-Ausgabe auch die Husserl-Intcrpretationen inzwischen angewachsen und Jüngere am Werke sind, sei ausdrücklich vermerkt.] 66 Das heißt aber nicht: IEs gibt nichts Ewiges. Alles, was ist, ist geschichtlich. ( Vielmehr ist z. B. die Seinsart dessen, was ewig oder "\vas zeitlos ist, Gott oder die Zahlen, von der >Fundamentalontologie<, welche am Dasein seinen Seinssinn erhebt, aus erst richtig bestimmbar - vgl. etwa O. Beckers Arbeit über Mathematische Existenz, Jahrbuch rur Philosophie und phänomenologische Foschung VIII (1927).
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geschichtliche Relativität nicht mehr als Einschränkung der Wahrheit ansehen kann 67 • Auch wenn das [ichtig ist, folgt daraus keineswegs, daß nun im Sinne der Diltheyschen Weltanschauungsphilosophie alle philosophische Erkenntnis nur noch den Sinn und Wert eines geschichtlichen Ausdrucks hat und insoweit mit der Kunst auf der gleichen Ebene steht, in der es um Echtheit und nicht um Wahrheit gehe. Heideggers eigene Frage ist weit davon entfernt, die Metaphysik zugunsten der Geschichte, die Frage naeh der Wahrheit zugunsten der Echtheit des Ausdrucks aufheben zu wollen. Er will vielmehr noch hinter die Fragestellung der Metaphysik denkend zurückfragen. Daß damit die Geschichte der Philosophie in einem neuen Sinne als das Innere der Weltgeschichte, nämlich als Seinsgeschichte, d. h. Geschichte der Seinsvergessenheit erscheint, bedeutet aber auch nicht, daß es sich hier um eine Geschichtsmetaphysik in dem Sinne handelt, den Löwith als eine Säkularisationsforrn des heils geschichtlichen Verständnisses des Christentums erwiesen hat6 !l und dessen konsequenteste DurchfLihrung auf dem Boden der modernen Aufklärung die hegelsche Geschichtsphilosophie ist. Ebensowenig ist Husserls historische Kritik des >Objektivismus< der neueren Philosophie, die seine )Krisis<-Abhandlung vorträgt, Geschichtsmetaphysik. >Geschichtlichkeit< ist ein transzendentaler Begriff. Gegen einen so1chen >transzendentalen< Historismus, der im Stile der husserlschen transzendentalen Reduktion in der absoluten Geschichtlichkeit der Subjektivität seinen Stand nimmt, um von ihr aus alles als seiend Geltende als eine Objektivations1cistung dieser Subjektivität zu verstehen, läßt sich sehr leicht argumentieren, wenn man den Standpunkt einer theologischen Metaphysik in Anspruch nimmt. Wenn es ein Ansichsein geben soll, das allein die universale geschichtliche Bewegtheit sich ablösender WeItentwürfe einzuschränken vermöchte, muß es offenbar das alle endlichen menschlichen Perspektiven Übertreffende sein, wie es sich einem unendlichen Geiste darstellt. Das aber ist die Schöpfungsordnung, die auf diese Weise allen menschlichen Weltentwürfen vorgeordnet bleibt. In diesem Sinne hat Gerhard Krüger schon vor Jahrzehnten den Doppelaspekt der Kantischen Philosophie, Idealismus der Erscheinung und Realismus des Dings an sich zu sein, interpreticrt69 und bis in seine neuesten Arbeiten hinein von der Basis der mythischen oder religiösen Erfahrung aus das Recht einer teleologischen Metaphysik gegen den modernen Subjektivismus zu verteidigen gesucht. 7
Vgl. etwa F. Meineckes Begriff des ldynamischen Historismus, (Entstehung des Historismus 499ff). OR Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953. Uetzt in Sämtl. Schriften 2. Stuttgart 1983, S. 7-239.] 69 Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 1931. 6
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Sehr viel schwieriger wird die Sache aber, wenn man die im christlichen Schöpfungsbericht gipfelnden Konsequenzen nicht auf sich nehmen will und dennoch den alten teleologischen Kosmos, für den ja noch immer das sog. natürliche Weltbewußtsein plädiert, dem Wandel der menschlichen Geschichte entgegenstellen möchte". Wohl ist es richtig und einleuchtend, daß das Wesen der Geschichtlichkeit erst mit der christlichen Religion und ihrer Betonung des absoluten Augenblicks det Heilstat Gottes dem mensclilichen Denken zum Bewußtsein gekommen ist und daß dennoch vordem schon die gleichen Phänomene des geschichtlichen Lebens bekannt waren, nur daß sie ))urgeschichtlich{, verstanden wurden, sei es in der Herleitung der Gegenwart aus einer mythischen Vorzeit, sei es im Verständnis derselben im Blick auf eine ideale, ewige Ordnung. Es ist wahr, daß etwa die Geschichtsschreibung eines Herodot, ja selbst diejenige eines Plutarch, das Auf und Ab der menschlichen Geschichte sehr wohl zu beschreiben weiß, als eine Fülle moralischer Exempla, ohne auf die Geschichtlichkeit der eigenen Gegenwart und die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins schlechthin zu reflektieren. Das Vorbild der kosmischen Ordnungen, in denen alles Ab\.vcichende und Normwidrige flüchtig vergeht und in den großen Ausgleich des Naturlaufs zurückgenommen wird, vermag auch den Lauf der menschlichen Dinge zu beschreiben. Die beste Ordnung der Dinge, der ideale Staat, ist in der Idee eine ebenso dauerhafte Ordnung wie das Weltall, und wenn selbst eine ideale Verwirklichung desselben nicht dauert, sondern neuer Verwirrung und Unordnung Platz macht (die \.vir Geschichte nennen), so ist das die Folge eines Rechenfehlers der das Rechte wissenden Vernunft. Die rechte Ordnung ist ohne Geschichte. Geschichte ist Verfalls geschichte und, allenfalls, Wiederherstellung der rechten Ordnung71 • Im Blick auf die tatsächliche menschliche Geschichte ist also der historische Skeptizismus - übrigens doch wohl auch nach christlich-rcformatoriVgl. Löwiths Krüger-Kritik, Phil. Rundschau. VII, 1959, S. 1-9. Anläßlich der Schrift von G. Rohr, Platons Stellung zur Geschichte, Berlin 1932, habe ich das schon vor Jahrzehnten (DLZ 1932, Sp. 1982ff.; Ges. Werke Bd. 3, S. 327-331) so formuliert: »Wo die rechte Paideia in einem Staat wirksam würde, da wäre das überhaupt nicht, was wir >Geschichte< nennen: das Wechselspiel von Entstehen und Vergehen, Wachstum und Verderb. Über die aus den Tatsachen bestätigten Ablaufsgesetze des Geschehens erhöbe sich der gewahrte Bestand. Und erst \venn man sicht, daß auch diese Dauer IGeschichtel heißen darf, zeigt sich Platos )Stellung zur Geschichte<: Im dauernden Abbild dauernden Vorbildes, in einem politischen Kosmos inmitten des Natürlichen vollendete sich das Sein der Geschichte als die Unsterblichkeit der wiederholenden Bewahrung. (Man denke an den Anfang des >Timaiosl)(I Inzwischen hat K. Gaiser, Platos ungeschriebene Lehre, 1963, das Problem erneut behandelt. [Vgl. auchmeineArbeitlPlatos Denken in Utopieni, Gymnasium 90 (1983), S. 434-453; Ges. Werke Bd. 7, S. 270- 289.] 70
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sehern Verständnis - allein vertretbar. Das Volar die Absicht und Einsicht, die hinter Löwiths Aufdeckung der theologischen, insbesondere eschatologischen Voraussetzungen der europäischen Geschichtsphilosophie in >Weltgeschichte und Heilsgeschehen, stand. Die Einheit der Weltgeschichte zu denken, ist, von Löwith her gesehen, das falsche Bedürfnis des christlichmodernistischen Geistes. Nicht der ewige Gott und nicht der Heilsplan, den er mit den Menschen verfolgt, darf na eh Löwith gedacht werden, \\'cnn man die Endlichkeit des Menschen wirklich ernst nimmt. Man müßte auf den ewigen Lauf der Natur blicken, um an ihm den Gleichmut zu lernen, der der Winzigkeit des Menschendaseins im Wcltganzen allein angemessen sei. Der »natürliche Wcltbcgriff«, den Lö"vith gegen den modernen Historismus ebensosehr wie gegen die moderne Naturwissenschaft ausspielt, ist also, wie man sieht, stoischer Prägung 72 • Kein anderer griechischer Text scheint Löwiths Absichten so gut zu illustrieren wie die pseudoaristotelische (hellenistisch-stoische) Schrift ,Von der Welt<. Kein Wunder. Offenbar ist der moderne Autor so gut wie sein hellenistischer Vorfahr am Naturlauf nur so \veit interessiert, als er das Andere zu der verzweifelten Unordnung der menschlichen Dinge ist. Wer so die Natürlichkeit dieses natürlichen Weltbildes verteidigt, geht also keineswegs von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen aus - so wenig wie Nietzsche -, sondern von der schlechthinnigen Endlichkeit des menschlichen Daseins. Seine Ablehnung der Geschichte ist eine Spiegelung des Fatalismus, d. h. der Verzweiflung an einem Sinn dieses Daseins. Sie ist keine Verneinung der Bedeutung der Geschichte, sondern ihrer Deutbarkeit überhaupt. Radikaler scheint mir die Kritik an dem Geschichtsglauben der Moderne, die Leo Strauss in einer Reihe hervorragender Bücher zur politischen Philosophie geübt hat. Er \\'ar Professor der politischen Philosophie in Chicago, und es gehört zu den ermutigenden Zügen unserer in ihrenl Freiheitsspielraum sich immer mehr verengenden Welt, daß ein so radikaler Kritiker des politischen Denkens der Moderne dort wirkt. Man kennt jene querelle des a"ciens et des modemes, die das literarische Publikum des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich in Atem hielt. Wenn es auch mehr ein literarischer Streit war, der die Verfechter der Unübertrefflichkeit der klassischen Dichter Griechenlands und Roms mit dem literarischen Selbstbewußtsein der zeitgenössischen Schriftsteller im Wettbewerb zeigt, die damals am Hofe des Sonnenkönigs eine neue klassische Periode der Literatur herauffUhrten, so hat die Spannung dieses Streites am Ende doch zu seiner schließlichen Auflösung im Sinne des geschichtlichen Bewußtseins gedrängt. Denn es galt, die schlechthinnige Vorbildlichkeit der Antike zu begrenzen. Jene 72 Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Sb. d. Hd. Ak. d. W., phil.-hist. Kl., 1960.
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querelle war gleichsam die letzte Form einer ungeschichtlichen Auseinandersetzung zwischen der Tradition und dem Zeitalter der Moderne. Es wird kein Zufall sein, daß schon eine der ersten Arbeiten von Leo Strauss, die )Die Religionskritik Spinoza" (1930) behandelt, mit dieser querelle zu tun hatte. Sein ganzes imponierendes gelehrtes Lebens\verk ist der Aufgabe gewidmet, diese querelle in einem radikaleren Sinne neu zu entfachen, d. h. dem modernen geschichtlichen Selbstbewußtsein die einleuchtende Richtigkeit der klassischen Philosophie entgegenzustellen. Wenn Plato nach dem besten Staat fragt und selbst die ausgedehnte poJitische Empirie des Aristotcles den Vorrang dieser Frage festhä1t, so Illag das mit dem Begriff der Politik \venig vereinbar sein, der seit Machiavelli das tllodernc Denken beherrscht. Und wenn Strauss in seinem auch in deutscher Übersetzung zugänglich ge\vordenen Buch >Naturrecht und Geschichte( dem Anschein nach auf die Gegenfigur der modernen historischen Weltanschauung, das Naturrecht, zurückgreift, so ist in Wahrheit der SiIlIl seines Buches, auch hier die griechischen Klassiker der Philosophie, Plato und AristoteIes, als die wahren Begründer des Naturrechts sichtbar zu machen und \veder die stoische noch die mittelalterliche Form des Naturrechts, von der des Aufklärungszeitalters ganz zu schweigen, als philosophisch richtig gelten zu lassen. Strauss is( dabei von seiner Einsicht in die Katastrophe der Moderne bewegt. Ein so elementares menschliches Anliegen wie die Unterscheidung von >recht( und >Unrecht( erhebt in sich den Anspruch, daß der Mensch sich über seine geschichtliche Bedingtheit muß erheben können. Die klassische Philosophie, die mit der Frage nach der Gerechtigkeit die Unbedingtheit dieses Unterschieds in den Vordergrund stellt, hat offenbar recht, und der radikale Historismus, der alle unbedingte Geltung geschichtlich relativiert, kann nicht recht haben. Man muß also seine Argumente inl Lichte der klassischen Philosophie prüfen. Nun kann freilich auch Strauss nicht meinen, daß er diese Aufgabe in derselben Weise in Angriff nehmen könnte, wie etwa Plato seine Kritik an der Sophistik. Er ist selber im modernen geschichtlichen Bewußtsein so\veit heimisch, daß das Recht der klassischen Philosophie von ihm nicht »naiv({ vertreten werden kann. So ist seine Argumentation gegen das, was er den Historismus nennt, zunächst einmal selbst aufhistorischem Grunde errichtet. Er beruft sich darauf (und auch Löwith wiederholt diese Berufung), daß das historische Denken selber seine historischen Bedingungen der Entstehung hat. Das gilt in der Tat sowohl rur die Form des naiven Historismus, d. h. der Ausbildung des historischen Sinnes im Studium der Überlieferung, als auch von der verfeinerten Form desselben, die die Existenz des Erkennenden selbst in ihrer Gcschichtlichkeit mitdenkt. So unbestreitbar richtig das ist, so unbestreitbar ist auch die Folgerung, daß das historische Phänomen des Historismus, so wie es seine Stunde
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erhielt, eines Tages auch vorbei sein könnte. Das gilt ganz gewiß, nicht weil der Historismus sich sonst )widerspräche<, sondern wenn er es mit sich selbst ernst meint. Man kann also nicht argumentieren: ein Historismus, der die geschichtliche Bedingtheit aller Erkenntnis schlechthin )in alle Ewigkeit, behauptet, widerspreche sich im Grunde selbst. Mit solchen Selbstwidersprüchen ist es eine eigene Sache73 , Auch hier muß man sich fragen, ob die beiden Sätze: »Alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt« und »diese Erkenntnis gilt unbedingt« auf der gleichen Ebene liegen, so daß sie einander widersprechen können. Die These ist ja nicht, daß man diesen Satz immer fLir wahr halten wird - so wenig, wie man ihn schon immer fLir wahr gehalten hat. Der Historismus, der sich ernst nimmt, \vird vielmehr damit rechnen, daß Inan seine These eines Tages nicht mehr fUr wahr hält, d. h. >unhistorisch, denkt. Aber ganz gewiß nicht deshalb, weil die unbedingte Behauptung der Bedingtheit aller Erkenntnis nicht sinnvoll sei, sondern ,logischen< Widerspruch enthalte. Indessen meint Strauss es wohl nicht im Sinne dieser Frage. Der bloße Nachweis jedenfalls, daß dic Klassiker anders, unhistorisch dachten, sagt noch nichts über die Möglichkeit, heute unhistorisch zu denken. Indessen gibt es Gründe genug, die Möglichkeit, unhistorisch zu denken, nicht als eine leere Möglichkeit anzusehen. Die treffenden ,physiognomischen( Beobachtungen, die Ernst Jünger zu dieser Frage häuft, könnten daftir sprechen, daß die Menschheit ,An der Zeitmauen angelangt ist14 . Was Strauss im Auge hat, ist jedoch innerhalb des historischen Denkens gedacht und hat den Sinn eines Korrektivs. Was er kritisiert, ist, daß das >geschichtliche< Verständnis überlieferter Gedanken beansprucht, diese Gedankenwelt der Vergangenheit besser zu verstehen, als sie selber in der Lage war75 . Wer so denke, schließe von vornherein die Möglichkeit aus, daß die überlieferten Gedanken einfach wahr sein könnten. Das sei der geradezu universelle Dogmatismus dieser Denkweise. Das Bild des Historizisten, das Strauss hier zeichnet und bekämpft, entspricht, wie mir scheint, jenem Ideal der vollendeten Aufklärung, das ich in meinen eigenen Untersuchungen zur philosophischen Hermeneutik als die Leitidee hinter dem historischen Irrationalismus Diltheys und des 19. Jahrhunderts bezeichnet habe. Ist es nicht ein utopisches Ideal von Gegenwart, in dessen Lichte sich alle Vergangenheit sozusagen ganz enthüllt? Die Anwendung der überlegenen Perspektive der Gegenwart auf alle Vergangenheit scheint mir gar nicht das wahre Wesen des historischen Denkens, sondern VgJ. Ces. Werke Bd. 1, S. 452 (Anm. 85). Vgl. auch A. Cehlens Analyse der modernen Kunst, der geradezu von der post-histoire spricht, "in die wir hineingehen/,. (vgl. meine Rezension der ,Zeitbilderl Phil. Rundschau X, 1/2. = Kleine Schriften 11, 218-226; Ges. Werke Bd. 9). 75 What i5 Political Philosophy?, Glencoe 1959, S. 68. 73
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bezeichnet die hartnäckige Positivität eines maiveni Historismus. Seine Würde und seinen Wahrheitswert hat das historische Denken in dem Eingeständnis, daß es Idie Gegenwarti gar nicht gibt, sondern stets wechselnde Horizonte von Zukunft und Vergangenheit. Es ist ganz und gar nicht ausgemacht (und nie auszumachen), daß irgendeine Perspektive, in der sich überlieferte Gedanken zeigen, die richtige sei. Das Ihistorischei Verständnis hat da keinerlei Privileg, weder das heutige noch das morgige, Es wird selbst von den wechselnden Horizonten umfaßt und mit ihnen mitbewegt. Dagegen stammt die Wendung der philologischen Hermeneutik, man müsse einen Autor besser verstehen, als er sich selber verstanden hat, wie ich nachgewiesen hahe, aus der Genie-Ästhetik, ist aber ursprünglich eine simple Formulierung des Aufklärungsideals, konfuse Vorstellungen dureh Bcgriffsanalyse aufzuklären 76 • Ihre Anwendung auf das historische Bewußtsein ist sekundär und leistet dem falschen Schein einer unübertreffbaren Überlegenheit des je gegenwärtigen Interpreten, den Strauss mit Recht kritisiert, Vorschub. Wenn aber Strauss argumentiert, selbst um besser zu verstehen, müsse man erst einmal einen Autor verstehen, wie er sich selber verstanden habe, unterschätzt er, wie ich glaube, die Sch\.vicrigkciten alles Verstehens, weil er das, was man die Dialektik der Aussage nennen könnte, ignoriert. Das zeigt er auch an anderer Stelle, wenn er das Ideal einer )Iobjektiven Interpretationii eines Textes damit verteidigt, daß jedenfalls der Autor seine Lehre nur auf eine einzige Weise verstand, »vorausgesetzt, daß er nicht konfus war<~ (67). Es wird noch zu fragen sein, ob der damit implizierte Gegensatz von Iklarl und Ikonfus( so eindeutig ist, wie Strauss als selbstverständlich annimmt. Teilt er damit nicht der Sache nach den Standpunkt der vollendeten historischen Aufklärung und überspringt das eigentliche hermeneutische Problem? Er scheint es für möglich zu halten, zu verstehen, was man nicht selber versteht, sondern was ein anderer versteht, und nur zu verstehen, wie er sich selber verstanden habe. Und er scheint zu meinen, wer etwas sagt, habe }sich< dabei notwendig und adäquat verstanden. Beides kann nicht zutreffen, meine ich. Man wird eben den inkriminierten hermeneutischen Grundsatz, einen Atuor »besser« verstehen zu sollen, als er sich selbst verstand, von der Voraussetzung einer vollendeten Aufklärung ablösen müssen, um seinen gültigen Sinn zu ermitteln. So fragen wir versuchsweise, \vie das Plädoyer fUr die klassische Philosophie, das Strauss fUhrt, sich hermeneutisch gesehen ausnimmt. Untersuchen wir es an einem BeispieL Strauss zeigt sehr schön, daß die klassische politische Philosophie die in der modernen Diskussion sogenannte Ich-DuWir-Relation unter einem ganz anderen Namen kennt, als FreundsdwJt. Er sieht richtig, daß die moderne Denkweise, die vom )Du-Problem< spricht, 76
Vgl. Ces. Werke Bd. 1, S. 197ff.
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aus der prinzipiellen Vorrangstellung des cartesischen ego coRitfl herrührt. Strauss glaubt nun einzusehen, warum der antike Begriff der Freundschaft richtig ist, und die moderne Begriffsbildung falsch. Wer zu erkennen sucht, was Staat und Gesellschaft ausmacht, der muß lcgitimerweisc über die Rolle der Freundschaft sprechen. Er kann aber nicht mit gleicher Legitimität >über das Du( sprechen. Das Du ist nichts, worüber man spricht, sondern das, zu dem man spricht. Wenn man statt der Rolle der Freundschaft die Funktion des Du zugrundclegt, verfehlt man geradezu das objektive kommunikative Wesen von Staat und Gesellschaft. Ich finde das Beispiel sehr glücklich. Die unbcstitnmte Stellung zwischen Tugend- und GüterJehre, die der Begriff der Freundschaft in der aristotelischen Ethik einnimmt, ist mir aus ganz ähnlichen Gründen seit langenl ein Ansatzpunkt, Schranken der modernen Ethik gegenüber der klassischen Ethik zu erkennen 77 • Ich stimme also dem Beispiel von Strauss voll zu, aber ich frage: Fällt einem eine solche Einsicht in den Schoß, indem man die Klassiker mit durch die historische Wissenschaft geschultem Auge lliest<, gleichsam ihr Meinen rekonstruiert und es dann auch noch rur möglich hält, sozusagen in vertrauensseliger Gesinnung, daß sie recht haben? - Oder gewahren wir in ihnen Wahrheit, weil wir immer schon selber denken, wenn wir sie zu verstehen suchen, d. h. aber, daß ihre Aussagen uns als "vahr einleuchten im Blick auf die entsprechenden modernen Theorien, die im Schv,iange sind? Verstehen wir sie überhaupt, ohne sie zugleich als richtiger zu verstehen? Wenn das so ist, frage ich weiter: Hat es nun nicht Sinn, von Aristoteles zu sagen: So konnte er sich selbst nicht verstehen, wie wir ihn verstehen. Denn wir finden, was er sagt, richtiger, als jene modernen Theorien (die er gar nicht kennen konnte)? Ähnliches ließe sich etwa über den Unterschied zwischen dem Begriff des Staates und dem der Polis zeigen, auf dem Strauss ebenfalls Init Recht besteht. Daß die Anstalt des Staates etwas sehr anderes ist als die natürliche Lebensgemeinschaft der Polis, ist nicht nur richtig - damit ist auch etwas aufgedeckt - und \vieder aus dieser Erfahrung des Unterschiedes -, das nicht nur für die lTIoderne Theorie unbegreifbar bleibt, sondern das auch in unserem Verständnis der überlieferten klassischen Texte unbegriffen bliebe, wenn \vir es nicht aus dem Gegensatz zur Moderne verstünden. Wenn man das revitalisation nennen will, Wiederbelebung, so scheint mir das eine ebenso ungenaue Redeweise wie die von Re-enactment bei Colling\vood. Das Leben des Geistes ist nicht wie das des Leibes. Es ist kein falscher Historismus, sich das einzugestehen, sondern im schönsten Einklang mit Aristote77 Vgl. meine Abhandlung) Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethib. (Kleine Schriften r, 179-191; Ges. Werke ßd. 4). [Vgl. auch meine Arbeit )Freundschaft und Selbs!erkenntnis( in der FS fur Uvo Hölschcr, Würzburg 1985; Ges. Werke Bd. 7 und meine Sammelrezcnsion zur Ethik in der Philos. Rdsch. 32 (1985), S. 1-261.
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les: epidosis eis auto. Der Sache nach glaube ich darin mit Strauss nicht ernstlich zu differieren, sofern auch er die fosion oI hisrory Ql1d philosophicat questio11S< in unserem heutigen Denken für unvermeidlich hält. Ich stimme ihm zu, daß es eine dogmatische Behauptung wäre, darin einen schlechthinnigen Vorzug der Moderne zu erblicken. Ja, wieviel Vorgreifliches uns undurchschaut beherrscht, wenn \vir in unsern durch die Tradition mannigfach versetzten Begriffen denken, und wieviel ein Rückgang auf die Väter des Denkens uns lehren kann, zeigen die genannten Beispiele - die sich aus Strauss' Schriften beliebig vermehren ließen - auf eindeutige Weise. Jedenfalls darf man sich nicht zu dem Irrtum verleiten lassen, das Problem der Hermeneutik stelle sich nur vom Standpunkte des modernen Historismus. Zugegeben, daß für die Klassiker die Meinungen ihrer Vorgänger nicht eigent1ich als geschichtlich andere, sondern gleichsam als zeitgenössisch diskutiert wurden. Aber die Aufgabe der Hermeneutik. d. h. die Aufgabe der Interpretation der überlieferten Texte, stellt sich auch dann, und wenn solche Interpretation dort immer zugleich die Wahrheitsfrage einschließt, So ist auch das vielleicht nicht so weit von unseren eigenen Erfahrungen im Umgang mit Texten, als die Methodenlehre der historisch-philologischen Wissenschaft wahrhaben will. Das Wort Hermeneutik wird bekanntlich auf die Aufgabe des Dolmetschers zurückgefUhrt, etwas Unverständliches, weil in fremder Sprache Gesprochenes - und sei es in der Göttersprache der Winke und Zeichen - zu deuten und mitzuteilen. Das solcher Aufgabe gewidmete Können ist wohl immer schon Gegenstand möglicher Besinnung und be\vußter Ausbildung gewesen. (Diese kann natürlich die Form einer mündlichen Tradition gehabt haben, wie z. B. bei der delphischen Priesterschaft.) Vollends aber ist die Aufgabe der Auslegung mit Entschiedenheit gestellt, wo Schriftliehkeit besteht. Alles in der Schrift Fixierte hat etwas Fremdes und steHt insofern die gleiche Verstehensaufgabe, wie das, was in fremder Sprache gesprochen ist. Der Ausleger von Schriftlichem 'ivie der Dolmetsch göttlicher oder menschlicher Rede hat Fremdheit aufzuheben und Aneignung zu ermöglichen. Mag sein, daß diese Aufgabe sich kompliziert, wenn der historische Abstand zwischen Text und Interpret bewußt wird. Denn das bedeutet ja zugleich, daß die Tradition, die den überlieferten Text und seinen Interpreten gemeinsam trägt, brüchig geworden ist. Aber ich glaube, daß man unter der Wucht der falschen methodischen Analogien, die die Naturwissenschaften suggerieren, die >historische< Hermeneutik viel zu weit vonjener vorhistorischen Hermeneutik abrückt. Ich habe zu zeigen gesucht, daß mindestens ein beherrschender Zug gemeinsam ist: die Struktur der Applikation". Es wäre reizvoll, den wesentlichen Zusammenhang Z\.vischen Hermeneu7ll
VgJ. Ges. Werke Bd. 1, S. 312(f.
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tik und Schriftlichkcit einmal in seinen griechischen Anfangen zu erforschen. Nicht nur, daß die Dichter-Auslegung von Sokrates wie von seinen sophistischen Gegnern betrieben wurde, wenn wir Plato glauben dürfen. Wichtiger ist, daß das Ganze der platonischen Dialektik von Plato selber ausdrücklich auf die Problematik der Schriftliehkeit bezogen wird und daß sie auch innerhalb der DialogVv'irklichkeit nicht selten ausdrücklich einen hermeneutischen Charakter annimmt, sei es, daß eine mythische Überlieferung durch Priester und Priesterinnen, eine Unterweisung durch Diotima oder auch nur die Feststellung das dialektische Gespräch einleitet, die Älteren hätten sich gar nicht um unser Verständnis bekümmert und uns deshalb wie gegenüber Märchen hilflos gelassen. Auch die Umkehrung wäre zu erwägen, wieweit nämlich bei Plato seine eigenen Mythen in den Gang der dialektischen Bemühung hineingehören und insofern selber den Charakter der Auslegung tragen. So könnte über die von Hermann Gundert gegebenen Ansätze hinaus 79 die Konstruktion einer platonischen Hermeneutik höchst lehrreich werden. Wichtiger aber noch ist Plato als Gegenstand hermeneutischer Besinnung. Steht doch das Dialogkunstwerk der platonischen Schriften eigentümlich in der Mitte zwischen der Maskenvielheit der dramatischen Dichtung und der Authentizität der Lehrschrift. Die letzten Jahrzehnte haben unS in dieser Hinsicht zu einer hohen hermeneutischen Bewußtheit verholfen. Auch Strauss überrascht in seinen Arbeiten durch manche glänzende Probe der Dechiffrierung versteckter Bedeutungs bezüge im platonischen Dialoggeschehen. Die eigentliche hermeneutische Basis ist dabei, soviel uns auch Formanalyse und andere philologische Methoden geholfen haben, unser eigenes Verhältnis zu den sachlichen Problemen, um die es bei Plato geht. Auch die platonische Künstler-Ironie versteht nur (wie alle Ironie), wer sich in der Sache mit ihm versteht. Die Folge dieser Sachlage ist, daß solche dechiffrierende Auslegungen >unsicher< bleiben. Ihre) Wahrheit{ ist nicht )objektiv{ aufweisbar, es sei denn von jenem sachlichen Einverständnis her. das uns mit dem interpretierten Text verbindet. Nun hat Strauss auf eine indirekte Weise einen "veiteren wichtigen Beitrag zur hermeneutischen Theorie gegeben, indem er ein Sonderproblem untersucht hat, nämlich die Frage, wieweit bewußte Tarnung der wahren Meinung unter der Gewalt der Verfolgungsdrohungen der Obrigkeit oder der Kirche beim Verständnis von Texten zu berücksichtigen isti!Cl. Studien zu Maimonides, Halevy und Spinoza waren es vor allem, die zu solcher Betrachtungsweise Anlaß gaben. Ich möchte die von Strauss gegebenen Deu7~ f<{)
In FS O. Regenbogen, Heidelberg 1952 und Lcxis H. Persecutioll
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tungen nicht anzweifeln - sie leuchten mir weitgehend ein -, aber ich möchte eine Gegenerwägung anstellen, die vielleicht auch in diesen Fällen, ganz sicher aber in anderen Fällen, z.13. im Falle Platos, ihr Recht hat. Ist die bewußte Verstellung, die Tarnung und das Versteck der eigenen Meinung nicht in Wahrheit der seltene Extremfall zu einer häufigen, ja zu einer allgemeinen Normalsituation? Genau wie Verfolgung (obrigkeitliche oder kirchliche, Inquisition u. dgl.) nur ein Extremfall ist, im Vergleich zu dem ungewollten oder gewollten Druck, den Gesellschaft und Öffentlichkeit auf das menschliche Denken ausüben. Nur wenn man sich des kontinuierlichen Übergangs vom einen zum anderen ganz bewußt ist, ermißt man die hermeneutische Schwierigkeit des Problems, das Strauss angepackt hat. Wie will man zu eindeutiger Feststellung von Verstel1ung kommen? So ist es m.E. keineswegs eindeutig, wenn man bei einem Schriftstel1er widersprechende Aussagen findet, die versteckte und gelegentliche - wie Strauss meint - fLir die Aussage seiner wahren Meinung zu halten. Es gibt durchaus auch einen unbewußten Konformismus des menschlichen Geistes, das, was al1gemein einleuchtet, auch wirklich für wahr zu halten. Und es gibt umgekehrt einen unbewußten Drang, extreme Möglichkeiten zu probieren, auch wenn sie sich nicht immer zu einem kohärenten Ganzen vereinigen lassen. Der experimentcHe Extremismus Nietzsches ist dafür ein unwiderlegliches Zeugnis. Widersprüchlichkeiten sind zwar ein vorzügliches Wahrheitskriterium, aber leider kein eindeutiges Kriterium beim hermeneutischen Geschäft. So ist es mir beispielsweise ganz sicher, daß der zunächst sehr einleuchtende Satz von Strauss, wenn ein Autor Widersprüche zeige, die ein heutiger Schulbube ohne weiteres durchschauen würde, dann seien dieselben beabsichtigt, ja sogar zum Durchschauen bestimmt, auf die sogenannten Argumentationsfehler des platonischen Sokrates nicht anwendbar ist. Nicht etwa deshalb, weil wir uns da in den Anfangen der Logik bewegen (wer das meint, verwechselt logisches Denken mit logischer Theorie), sondern weil es das Wesen einer auf die Sache gerichteten GesprächsfLihrung ist, Unlogik in Kauf zu nehmen81 • Die Frage hat allgemeine hermeneutische Konsequenzen. Es geht um den Begriff der Meinung des Autors. Ich sehe davon ab, welche Hilfsstellung die Jurisprudenz mit ihrer Lehre von der Gesetzesauslegung hier zu bieten vermöchte. Ich will mich nur darauf berufen, daß jedenfalls der platonisclie Dialog ein Muster beziehungsvoller Vieldeutigkeit ist, der gerade Strauss oft Wichtiges abgewinnt. Sollte die mimetische Wahrheit, die die sokratische Gesprächsftihrung bei Plato hat, so zu unterschätzen sein, daß man diese Sl Die Diskussion dieses Problems scheint mir noch immer nicht auf dem rechten Punkt, wie die an sich beachtenswerte Anzeige der Schrift von R. K. Sprague: ,Plato's Use ofFallacy, durch Kl. Oehler, Gnomon 1964, S. 335ff. m.E. zeigt.
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Vieldeutigkeit nicht in ihr selbst, ja, in Sokrates selbst, erbhckt' Weiß ein Autor wirklich so gen au und injedcm Satze, was er meint? Das wunderliche Kapitel philosophischer Selbstinterpretation - ich denke et\va an Kant, an Fichte oder an Hcidcgger - scheint mir eine deutliche Sprache zu sprechen. Wenn die von Strauss gestellte Alternative [ichtig sein sollte, daß ein philosophischer Autor entweder eine eindeutige Meinung hat oder konfus ist, dann gibt es, fUrchte ich. in vielen strittigen Auslegungsfragen nur eine hermeneutische Konsequenz: den Fall der Konfusion für gegeben zu erachten. Ich habe mich für die Struktur des hermeneutischen Vorgangs ausdrücklich auf die aristotelische Analyse der Phroncsis berufen,s2. Im Grunde habe ich damit eine Linie wciterverfolgt, die Heidegger schon in seinen frühen Freiburger Jahren eingeschlagen hat, als es ihm gegen den Neukantianismus und die Wertphilosophie (und in letzter Konsequenz wohl auch schon gegen Husserl selbst) auf eine lHermeneutik der Faktizität< ankam. Gewiß \vird für Heidegger schon in seinen frühen Versuchen die ontologische Basis des Aristoteles suspekt gewesen sein, auf der die ganze moderne Philosophie, insbesondere der Begriff der Subjektivität und der des Bewußtseins sowie die Aporien des Historismus ihren Stand haben (was dann in lSein und Zeit< »Ontologie des Vorhandenen« hieß). In einem Punkt war aber die aristotelische Philosophie damals Heidegger viel mehr als ein bloßes Gegenbild, nämlich ein wirklicher Eideshelfer fLir seine eigenen philosophischen Intentionen: in der aristotelischen Kritik am )allgemeinen Eidos< Platos und positiv in dem Aufweis der analogischen Struktur des Guten und seiner Erkenntnis, wie sie in der Situation des Handelns die Aufgabe ist. Was mich an Strauss' Verteidigung der klassischen Philosophie am meisten wundert, das ist, "vie sehr er sie als eine Einheit verstehen möchte, so daß ihm der extreme Gegensatz. der z"vischen Plato und Aristoteles durch die Art und den Sinn der Frage nach dem Guten besteht, keine Sorgen zu bereiten scheint. iU Mir sind die frühen Anregungen. die ich von Heidegger empfing, u. a. in der Weise fruchtbar geworden, daß mir die aristotelische Ethik ganz ungesucht die tiefere Durchdringung des hermeneutischen Problems erleichterte, Ich glaube zu sehen, daß das durchaus kein Mißbrauch aristotelischen Dcnkens ist, sondern eine uns allen von dort her mögliche Belehrung aufzeigt, eine Kritik des Abstrakt-Allgemeinen, wie sie, ohne im Stile Hegels dialektisch zugespitzt zu werden und damit auch ohne die unhaltbare Konsequenz, die der Begriff des absoluten Wissens darstellt, mit
rur
Vgl. Ges. Werke Bd. 1. S. 315ff. [In meiner letzten großen Plato-Arbeit ,Die Idee des Guten z\'Vischcn Plato und Aristoteles. (Abh. der Heid. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Kl.. Abh. 3). Heidelberg 1978 habe ich diesen vermeintlichen Gegensatz aufzulösen ·versucht - womit L. Strauss vermutlich recht zufrieden gewesen wäre.] ~z
HJ
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der Entstehung des historischen Bewußtseins rur die hernIeneutische Situation bestimmend gevvorden ist. In dem 1956 erschienenen Bändchen )Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins( hat Theodor Litt unter dem Titel: )Der Historismus und seine Widersacher< eine temperamentvolle Auseinandersetzung mit Krüger und Löwith (leider nicht auch mit L. Strauss) veröffentlicht, die mir an diesem Punkte zu hängen scheint<:4.Ich glaube, daß Litt recht hat, wenn er in der philsophischen Gegnerschaft gegen die Geschichte die Gefahr eines neuen Dogmatismus erblickt. Das Verlangen nach einem festen, sich gleichbleibenden Maßstab, »der dem zum Handeln Aufgerufenen die Richtung weist«, hat inlIner dann besondere Kraft, wenn Verirrungen des sittlichpolitischen Urteils zu schlimmen Folgen gcftihrt haben. Die Frage nach der Gerechtigkeit, die Frage nach dem wahren Staat, scheint ein elementares Bedürfnis des menschlichen Daseins zu sein. Indessen kommt alles darauf an, wie diese Frage gemeint und gestellt werden muß, um Klärung zu bringen. Litt zeigt, daß damit keine allgemeine Norm gemeint sein kann, unter die der zu beurteilende Fall praktisch-politischen Handelns subsumiert werden könnte~~. Ich vermisse freilich auch bei ihm, daß er sich der Hilfe bedient, die hier Aristotcles leisten kann. Denn Aristoteles hat das gleiche bereits gegen Plato eingewandt. Ich bin durchaus überzeugt, daß wir von den Klassikern ganz schlicht zu lernen haben, und ich vleiß es sehr zu schätzen, daß Strauss diese Forderung nicht nur erhebt, sondern vielfach durch die Tat zu erfüllen vermag. Ich rechne jedoch zu dem, \-vas v;.rir von ihnen zu lernen haben, auch den unaufhebbaren Gegensatz, der zwischen einer politike techne und einer politikr phronesis besteht. Ich finde, daß Strauss das nicht genügend bedenkt. Wozu uns Aristoteles helfen kann, ist in diesem Punkte jedenfalls, daß wir uns nicht in eine Apotheose der Natur und der Natürlichkeit und des natürlichen Rechtes verrennen, die nichts als eine ohnmächtig doktrinäre Kritik an der Geschichte wäre, sondern daß wir vielmehr ein angemesseneres Sachverhältnis zur geschichtlichen Überlieferung gewinnen und ein besseres Begreifen dessen, was ist. Ich halte das uns durch Aristoteles
Heidelberg 1956. ))Es ist ein hoffnungsloses Bemühen, in Aufschau zur Idee des )wahren( Staates nach Anweisung der Norm der Gerechtigkeit feststellen zu wollen, welche besondere Ordnung der gemeinsamen Dinge es nun eigentlich ist, die hic et nunc der allgemeinen Forderung zur Verwirklichung verhelfen würde.« (88) In seiner Schrift ~ Über das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis« (vom Jahre 1940) hat Litt das näher begründet. R4 f!5
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gestellte Problem keineswegs rur erledigt. Es könnte immerhin sein, daß die aristotelische Kritik - wie so manche Kritik - zwar recht hat in dem, was sie sagt, aber nicht gegen den, gegen den sie es sagt. 86 Doch das ist ein weites Feld.
86
rVgl. Anm. 83 aufS. 4221.
28. Hermeneutik 1969
Wenn die Jahre von 1955 bis 1965 als eine Einheit überschaut werden sollen, deren Spezifisches es zu beschreiben gilt, so ist dieser Zeitraum zunächst von der vorausgegangenen Dekade abzuheben, die durch eine Art Nachholbedarf bestimmt war: sie hatte die Abschnürung aufzulösen, die durch die Zäsur des zweiten Weltkrieges und seine Vorgestalten das Denken in allen Ländern von den nachbarlichen Einflüssen abgeschieden hatte. Während die Kommunikation mit der Philosophie in den Ländern des Ostblocks noch heute aus mannigfachen Gründen gestört ist, wurden nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit einer rur das Herüberwirken der Philosophie von einem Sprachraum in den anderen üblichen Zeitversetzung vor allem französische und englisch-amerikanischc Philosopheme in Mittcleuropa wirksam, und umgekehrt von Deutschland aus die phänomenologische und existentialistische Philosophie vor allem auf Frankreich, Italien usw,. dann auch auf Amerika. Sartre und Merleau-Ponty, Whitehead, Russcll und Wittgenstein, Husserl und Heidegger wurden wechselseitig rezipiert und bildeten eine Basis, von der neue Entwicklungen ihren Ausgang nehmen konnten, die in den letzten zehn Jahren sichtbar wurden. Zu ihnen gehört unstreitig die Hermeneutik. Ehedem, in der deutschen Romantik, war die Hermeneutik durch Schleiermacher an die zentralen Fragen der Philosophie einen Schritt herangeHihrt worden, sofern Schleiermacher, inspiriert durch die Philosophie des Dialogs, wie sie vor allem Friedrich Schlegel vorschwebte, von der metaphysischen Bedeutung der Individualität ausgeht ud von ihrer Hinordnung auf das Unendliche. Im Anschluß an ihn hat die Hermeneutik durch Wilhelm Dilthey ihre philosophische Prägung erfahren. Im Jahre 1966 ist erstmals in den zu einem zweiten Bande vereinigten Diltheyschen Materialien zum Leben Schleiermachers die große Hermeneutik-Studie des jungen Dilthey" veröffentlicht worden, von der wir bisher nur Teile durch die Akademieabhandlung von 1900 kannten. Sie zeigt u. a., wie die Wurzeln der philosophischen Problematik der Hermeneutik im deutschen Idealismus liegen, aber nicht nur in Schleiermachers dialektischer Umschreibung des Verste87
W. Dilthey, Leben Schleiermachers, 11, 2 (ed. M. Redeker), Berlin 1966.
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he11s als des Ineinanderwirkens von Subjektivität und Objektivität, von Individualität und .Identität, sondern vor allem in Fichtes Kritik an dem dogmatischen Begriff von Substanz und den Möglichkeiten. die Fichte bereitstellte, den Begriff der historischen Kraft zu denken, sowie in Hegels Übersteigung des >subjektiven< zum >objektiven< Geist hin. Dilthey erkannte mit Recht die bahnbrechende Bedeutung von Droysens )Historik( rur die Methodenlehre der Geisteswissenschaften, sofern Droysen das idealistische Erbe für ein angemessenes Se1bstverständnis der historischen Methode fruchtbar machte. Das Erbe dieser idealistischen Hernlcncutik ist bis heute lebendig. Wir verdanken eine ausgezeichnete systematische Darstellung derselben und ihrer neueren Fortentwicklung dem Rechtshistoriker Emilio Betti, dessen hermeneutisches }Manifest(88 in deutscher Sprache die Summe dieser Tradition zog (vgI. Bctü"<)) und in einem umfassenden Werk90 seine systematische Ausftihrung fand. Inzwischen vnr jedoch die wissenschaftstheoretische Dimension, in der von Dilthey bis Betti das idealistische Denken ftir die Hermeneutik genutzt \-vorden war, grundsätzlich überschritten worden. Schon Schleier macher hatte die innere Verschränkung von Sprechen, Verstehen und Auslegen zur Geltung gebracht und die traditionelle Bindung des hermeneutischen Geschäfts an >schriftlich fixierte Lebensäußerungcu> (Dilthey) gelöst, um dem lebendigen Gespräch seinen hernleneutischen Rang einzuräumen. Aber auch in der wissenschaftstheoretischen Verengung, welche die Hermeneutik im 19. Jahrhundert erneut erfuhr, ließen sich die inneren Schwierigkeiten nicht verbergen, die einer vOlllldealismus inspirierten allgemeinen Interpretationslehre entgegenstehen. Wie die juristische Hermeneutik, die eine rechtsschöpferische Funktion beansprucht, mit der hermeneutischen Methodik der Geistes\:>Olissenschaften zusammenhängen sollte, war ebenso dunkel wie der reproduktive Sinn von Interpretation, der in Theater und Musik eine so augenfallige Rolle spielt. Beides weist über die Fragestellung der Wissenschaftstheorie hinaus. Das gilt ferner ftir die Theologie. Denn wenn auch die theologische Hermeneutik ftir den Akt des Verstehens der Heiligen Schrift keine anderen Inspirations- oder Offenbarungsquellen in Anspruch nehmen will- das kerygmatische Geschehen der Bibelaus1cgung, wie es in Predigt oder individueller Seelsorge vor sich geht, läßt sich als hermeneutisches Phänomen doch auch nicht einfach ausklammern oder auf die wissenB8 E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschrift fLir E. Rabel, Bd. 11, Tiibingen 1954. S. 79- J 6!:!. R9 Vgl. meine Würdigung 'Emilio Bctti und das idealistische Erbe~, Quaderni Fiorentini 7 (1978), S. 5-12.
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schaftliche Problematik der Theologie zurückführen. So mußte schon das Bedürfuis, die Einheit des hermeneutischen Problems in den Griff zu bekommen, hinter die wissenschafts theoretische Dimension zurückfragen und das Phänomen des Verstehens und Auslegens in einem ursprünglicheren Sinne fassen. Dabei war aber offenbar auch noch hinter Schleiermachers universale Ausweitung der Hermeneutik und ihre Begründung in der Einheit von Denken und Sprechen zurückzugehen. Denn es galt, vor allem auch die juristische Hermeneutik mitzuumfassen, die ehedem mit der theologischen aufs engste zusammengehangen hatte, weil in beiden >Auslegung(, Applikation, d. h. die Anwendung von etwas .Normativem auf den Einzelfall, enthalten ist. Offenbar ist es nicht genug, von der theoretischen Grundlegung der Interpretation eine Dimension ihrer praktischen Anwendung zu unterscheiden. Die Hermeneutik gehört als )Kunstlehre{ in den Bereich der scientia practica, und es ist gerade die Frage, ob scientia practica bloße Anwendung von Wissenschaft auf Praxis meint - wie etwa Husserl voraussetzt, wenn er die Umdeutung der logischen Gesetze zu Kunstregeln des richtigen Denkens durch Aufweis ihres theoretischen Grundsinnes zu widerlegen wußte. Wissenschaft, die auf das Immerseiende und von sich aus Seiende geht, aber auch Kunst, deren Wissen auf das Herzustellende geht, haben nicht den spezifischen Charakter von Wissen, der fUr die scientia practica und ihren modernen Repräsentanten, die )praktische Vernunft<, bestimmend ist und deren Normcharakter weder theoretischer noch technischer Art ist. Im Bereich derjuristischen Hermeneutik zeigt sich das in der Weise, daß die Urteilsfindung nicht bloß Subsumption des Falles unter ein Allgemeines (den Paragraphen des Gesetzes) ist, sondern beim Finden der rechten )Paragraphen( auf einer eigenen rechtsschöpferischen, rechtsergänzenden oder das Recht fortbildenden Entscheidung beruht. Ähnliches dürfte ftir den kerygmatischen Auftrag des Seelsorgers gelten, daß er keineswegs durch sein theologisches Rüstzeug allein fur sein Amt versehen ist. Gleichwohl wäre es unrichtig, diese Entscheidungen, auch wenn die theoretische Wissenschaft sie etv~la dem Richter oder dem Seelsorger nicht abnimmt, irrationalen Determinationen überlassen zu glauben. Es gilt vielmehr, was in solcher Entscheidung Vernunft heißt, näher zu bestimmen. Das - und nicht ein kruder Irrationalismus - ist der Beitrag, den die sogenannte Existenzphilosophie zu leisten hatte: die Entscheidung, die Wahl oder wie immer dies Moment aller Urteilskraft benannt werden mag, als eine Weise der Vernunft zu erkennen. Jaspers91 formulierte den Vernunftcharakter dieses Wissens durch den Begriff der Existenzerhellung, die in den 91 K. Jaspers, Philosophie 3 Bde., Berlin 1932 und ders., Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen, Groningen 1933.
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Grenzsituationen einsetzt, an denen die Wissenschaft als das zwingende Wissen den Menschen allein läßt. Das war noch immer von dem Begriff des Wissens der Wissenschaft her beschrieben, und insofern war Heidegger radikaler, als er den Begriff der Grenzsituation zum Ansatzpunkt einer ontologischen Wendung nahm. Gegen den der Wissenschaft zugrundeliegenden Seinsbegriff des Vorhandenen bestimmte cr geradezu von dem der praktisch-technischen Weltbewältigung eigenen Begriff des Zuhandenen und des Sich-auf-etwas-Verstehens aus die Seinsstruktur des menschlichen Daseins als >Seinsverständnis<, d. h. aber durch die eigentliche Helligkeit der Vernunft. Damit wurde der von Dilthey übernommene Begriff der Hermeneutik, d. h. der Kunst, Sinnzusammenhänge zu verstehen, zu dem Paradox einer >Hermeneutik der Faktizität< zugespitzt. Darin steckte eine ontologische Kritik an den Normbegriffen der Tradition, insbesondere an dem Begriff des Wertes (Rickert, Schcler) und an dem )platonischen, Begriff der ideal-einen Bedeutung (Husserl). Das Ansichsein, das, in Ablehnung der psychologischen Umdeutung, der Sphäre des Normativen in Logik und Ethik zuerkannt wurde, war ontologisch gesehen bloße .vorhandenheit<, freilich eine solche von unausweisbarer Bodenlosigkeit, wenigstens, sofern nicht, wie beim frühen Scheler, eine schöpfungstheologische Grundlegung impliziert war, die CUr den Begriff des Wertes wie den der Güter und CUr den Begriff einer Ordnung der Werte und Güter tragend sein konnte. Damit war durch Heidegger die Hermeneutik aus der Grundlagenproblematik der sog. Geisteswissenschaften ins Zentrum der Philosophie selbst versetzt worden. In dem Paradox einer Hermeneutik der Faktizität lag ontologisch gesehen die Kritik an den Begriffen Bewußtsein, Gegenstand, Faktum und Wesen, Urteil und Wert. Die Radikalität dieses Einsatzes verlieh ,Sein und Zeit< seine revolutionäre Wucht. Aber die transzendentale Reflexionsform, in der sich Heidegger damals in bloßer Tieferlegung der transzendentalen Fundamente der Philosophie bewegte, konnte der eigentlichen Absicht und Aufgabe nicht genügen, die Endlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins (anstelle der Unendlichkeit eines Immerseienden) zum Leitfaden der Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein zu erheben. Es war erst in dem Zeitraum dieses Berichtes, daß die zentrale Stellung des Problems der Sprache im Denken Heideggers hervortrat. Was im Geschehen der Sprache geschieht, übergreift offenbar die transzendentalphilosophische Reflexion und hebt den Begriff einer transzendentalen Subjektivität als des Bodens aller letzten Aufweisung grundsätzlich auf. (Vgl. Heidegger"). Das begegnete sich nun mit der Wendung der angelsächsischen Sprachkritik, die von der Durchreflexion des Ideals einer logischen Kunstsprache, die
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M. Heidcggcr, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959.
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vollendete Eindeutigkeit besäße, ihren Anfang nahm. An die Stelle des zur technischen Hilfsdisziplin herabsinkenden Logikkalküls und der Axiomati_ sierung von Sprache trat die Analyse der wirklich gesprochenen Sprache (ordillary language). Dabei blieb die metaphysikkritische Absicht im Prinzip die gleiche, war aber mit der positiven Erwartung verbunden, daß die Neuorientierung an der lebendig gesprochenen Sprache nicht nur Scheinprobleme entlarven, sondern Probleme lösen lehre. Diese Wendung wurde insbesondere durch die große Nachlaßveröffentlichung von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (1953) ins Breite hinein wirksam, zumal diese Schrift eine ausdrückliche Kritik an den eigenen nominalistischen Voraussetzungen übte, die seinem Tractatus (1921) ebenso wie der Ausbildung der Wiener Schule, vor allem auch Carnap, zugrundclagen. Die Idee einer Sprachnormierung unter dem Ideal der Eindeutigkeit wurde nun durch die Lehre von den Sprachspielen ersetzt. Ein jedes solches Sprachspiel ist eine funktionale Einheit, die als solche eine Lebensform darstellt. Philosophie bleibt Metaphysik-Kritik und Sprach-Kritik, aber auf dem Boden eines von innerer Geschichtlichkeit erflillten hermeneutischen Geschehens. Hermeneutisch darf man das hier einsetzende analytische Geschäft der Philosophie insofern nennen, als hier keine künstliche Herrichtung von Informationsmitteln, auch keine Theorie der Information oder eine allgemeine Zeichenlehre den Ausgangspunkt bildet, von dem aus die Syntax der Sprache aufgebaut und ihre kommunikative Leistung dargestellt würde. Hier wird vielmehr das Lebens- und Sprachverhalten selber beschrieben, das sich seine eigenen Regeln und seine eigenen Aufbauformen verschafft. Gemessen am Gegenpol der sog. Informationstheorie stellt mithin die Hermeneutik die andere Seite der Betrachtungsweise dar, sofern sie das Sprachgeschehen nicht aus elementareren Prozessen, sondern aus seinem eigenen Lebensvollzug aufzuklären unternimmt. Dem kam von seiten der Wissenschaften mancherlei entgegen. Hermeneutik ist seit alters ein integrierender Bestandteil der Theologie. Vor allem mußte durch die Kritik, die die dialektische Theologie am Reden von Gott geübt hat, und seit die historisclie Theologie des Liberalismus sich vor die Aufgabe gestellt sah, ihren eigenen Wissenschafts anspruch mit dem kerygmatischen Sinn der Heiligen Sclirift und ihrer Auslegung in Einklang zu setzen, die hermeneutische Problematik neu aufleben. So hat Rudolf Bultmann93 , erbitterter Gegner aller Inspirationstheorie und pneumatischen Exegese und zugleich ein Meister der historischen Methode, dennoch das vorgängige Scinsverhältnis des Verstehenden zu seinem Text zur Anerkennung gebracht, indem er an dem Verhältnis zur Heiligen Schrift ein mit der 93 R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954 und ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 2 Bde. Tübingen t 933 (2. Aufl. 1952).
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menschlichen Existenz gesetztes »Vorverständnis «( in der Bewegtheit durch die Frage nach Gott lehrte. Indem Bultmann unter der Parole der Entmythologisierung den kerygmatischen Kern des Neucn Testamentes freizulegen und die Heilige Schrift dadurch vor historischer Verfremdung zu retten unternahm, trug er in ~lahrhcit einem alten hermeneutischen Grundsatz Rechnung. Denn daß der eigentliche ,Scopus< der Schriften des Neuen Testamentes ihre Heilsbotschaft ist und daß sie also auf diese hin zu lesen sind, ist klar. Schüler Bultmanns waren es, die das von Bultmann neu erweckte Thema der Hermeneutik radikalisierten: Ernst Fuchs 94 mit einem Buch, das Reflexion und Exegese in genialischer Weise durcheinandermischte, und Gcrhard Ebcling95 , der vor allem von Luthers Hermeneutik ausging. Beide reden von einem }Sprachereignis< des Glaubens und suchen dadurch jeden indifferenten Objektivismus im Sinne des Mythos oder des historischen Faktums von dem Heilssinn der biblischen Überlieferung fernzuhalten. Auch wenn es nicht an Gegenbewegungen in der modernen Theologie tchlt, so ist doch die hermeneutische Bewußtheit von diesen Anstößen her nicht nur in der protestantischen, sondern inzwischen auch in der katholischen Theologie im Steigen. % Ähnlich hat sich im Bereich der Jurisprudenz, wenigstens soweit der deutsche Sprachraum in Frage kommt, der hermeneutische Aspekt neu belebt. Als das Problem der Konkretisierung im Recht hat der hermeneutische Aspekt als eine Ergänzung zur Rechtsdogmatik von jeher seine Stelle (v gl. die besonnene Übersicht über die Diskussion durch Kurt Engisch"'). Darüber hinaus ist aber von einigen Seiten, vor allem durch Th. Viehweg YH und W, Maihofer Y9 , eine neue Besinnung auf die Eigenart des rechtlichen Wissens überhaupt in Gang gekommen und hat dafür den alten rhetorischen Begriff der Topik in Anspruch genommen. Ebenso hat das angelsächsische Case Law einen hermeneutisch interessanten Aspekt. LOO Mit größerer philosophischen Bewußtheit ist aber von philosophischer 94 E. Fuchs, Hermeneutik, Ergänzungsheft mit Registern, Bad Cannstatt 1958 und ders., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, Tübingen 1959. 95 G, Ebcling, Wort Gottes und Hermeneutik, Zeitschrift tur Theologie und Kirche 56. Tübingen 1959 und ders., Hermeneutik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, ed. K. Galling, Val. III, Tübingen 1959, 96 Vgl. auch die amerikanische Rezeption dieser Anstöße in J. M. Robinson & J. B. Cobb, The New Hermeneutics, Ne\\" York 1965 und R. W. Funk, Language, Hermeneutics, and Ward ofGod, Ne . . v. York 1966, 97 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3, AufI. , Heidelberg 1963 und ders., Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtwissenschait unserer Zeit, Abh. der Heidelberger Akad, d, Wiss., Phil,-hist. Klasse 1953. 9l; T. Vieh\.,.'eg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechts\vissenschaftlichen Grundlagenforschung, München 1953, 3. Aufl. 1965. 99 W. Maihofer, Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt 1963. 1011 Vgl. H. L. A. Hart, TheConceptofLaw, Oxfard 1961.
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Seite aus eine ähnliche Bestrebung seit langem wirksam, indem durch Chaim Perelman und seine Mitarbeiter die logische Eigenbedeutung der in Recht und Politik gepflogenen Argumentation gegen die \vissenschaftsthcoretische Logik verteidigt \vurdeJ(lJ. Hier wird zwar mit den Mitteln der logischen Analyse, aber in der Absicht, die Verfahrensweisen des überzeugenden Redens gerade gegen die Form des logisch-zwingenden Heweisens abzuheben, der ältere Anspruch der Rhetorik gegenüber dem wissenschaftlichen Positivismus geltend gemacht. Es war unausbleiblich, daß sich angesichts der Einseitigkeit der modernen Wissenschaftstheorie und Philosophy 01 Science das philosophische Interesse langsam wieder der Tradition der Rhetorik zuwendete und ihre Wiederbelebung forderte. 102 Auch dies nlußte dem Probleminteresse an der Hermeneutik zugutekommen. Denn sie hat mit der Rhetorik die Abgrenzung gegen den Wahrheits begriff det Wissenschaftstheorie und die Verteidigung ihres autonomen Rechtes gemeinsam. Dabei bleibt eine noch zu entscheidende Frage, ob die geschichtlich legitimierte Entsprechung von Rhetorik und Hermeneutik sachlich wirklich in vollem Umfange zutrifft. Gewiß stammen die meisten Begriffe der klassischen Hermeneutik seit Melanchthon aus der rhetorischen Tradition des Altertums. Auch ist das Element der Rhetorik, der Bereich der persuasive arguments, nicht auf die forensisch-publiken Gelegenheiten des kunstvollen Redcgebrauchs eingeschränkt, sondern scheint sich mit dem universalen Phänomen des Verstehens und der Verständigung mit zu weiten. Aber eine unaufhebbare Schranke besteht seit alters zwischen der Rhetorik und der Dialektik im antiken Sinne des Wortes. Der Prozeß der Verständigung setzt tiefer in der Sphäre der intersubjektiven Kommunikation ein und umfaßt z.13. auch all die Formen, in denen Einverständnis durch Sch\.veigen zustandekommt. wie M. Polanyi l01 gezeigt hat, und ebenso die außersprachlichen, mimischen Kommunikacionsphänomene wie Lachen und Weinen, deren hermeneutische Bedeutung uns H. P1essncr 1CJ4 gelehrt hat. Aber noch ein anderer Zusammenhang verdient Erwähnung, und das ist das problematische Verhältnis, in dem sich die Poetik heute gegenüber der Rhetorik findet. Auch das hat eine hermeneutische Seite. Ursprünglich, und bis auf die Tage Kants und der Entthronung der Rhetorik durch die GenieAesthetik und den Erlebnisbegriff, waren beide Disziplinen geschwisterlich lUl C. Perelman & L. Olbrechts-Tytcca, La nouvclle rhetorique. Traitl:~ de l'argumentation. Bruxelles 1958. 11.12 Vgl. den instruktiven, aufeine reiche Forschung zurückweisenden Sammelband von M. Natanson & H. W. Johnstone, Philosoph)', Rhetoric und Argumentation, University Park (Penna.) 1965. 103 M. Polanyi, Personal Knowledge, London 1958 und ders., The Tacit Dimension, New York 1966. 1M H. Plessner, Lachen und Weinen, München 1950.
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geeint, beides Künste der Sprache, d. h. Formen des kunstvoll-freien Gebrauchs der Rede. Indessen steckte darin ein Präjudiz, das inzwischen der
Auflösung verfallen ist. Die Sprache der Poesie wie die der kunstvollen Rede wurde in dieser Tradition vom ornatus her verstanden. Das bedeutet aber, daß die schmucklose Redeweise des praktischen Lebens den eigentlichen Fall der Sprache darstellt-und mindestens seit Vico, Hamann und Herder ist die
Selbstverständlichkeit dieser Problemanordnung dahin. Wenn die Poesie die Muttersprache des Menschengeschlechts ist, dann ist aus ihr über das Wesen der Sprache mehr zu lernen als aus den Wissenschaften, die die Sprachen wie Fremdsprachen in ihrer zum Kommunikations- und Informationsmittel verfremdeten Daseinsweise studieren. Nun ist freilich das Verhältnis von Poesie und Hermeneutik unter der Herrschaft des technisch-industriellen Jakohinertums selber in einen schmalen Engpaß geraten, sofern die Verständlichkeit des Dichtwerks (wie übrigens auch die des malerischen oder plastischen Werks) als ein ,klassisches< Vorurteil behandelt wird. Indessen scheint es mir die Aufgabe der Hermeneutik zu bleiben, gerade auch solchen Privationsgestalten von Verständlichkeit gerecht zu werden (vg1. die unter dem Titel }Poetik und Hermeneutik< in den letzten Jahren erschienenen Bände einer Forschungsgruppe über Hermeneutik). Das unzweideutigste Zeugnis ftir den Anspruch, auch außerhalb der modernen Wissenschaft Wahrheit anzuerkennen, liegt in der Erfahrung der Kunst. Die Forderungen der vita practica lassen sich leichter abweisen, sofern sie in unserem wissenschaftsgläubigen Zeitalter unter der Ägide des allgemeinen Expertenturns ihr Eigenrecht zugunsten der rVv'issenschafthchen< Lebensflihrung preisgegeben zu haben scheinen. Nun fehlte es auch, was die Erfahrung der Kunst betrifft, nicht an Tendenzen, die Wissenschaftsformigkeit der Kunst zu urgieren. (Vgl. GehlenW5; Bense'06). So gelingt es mit den Mitteln der modernen Informationstheorie prinzipiell weitgehend, das Arsenal der künstlerischen Invention mit den Produkten einer technischen Kombinatorik zu ftillen und die Urteilsfihigkeit des zeitgenössischen Konsumenten von Kunst bloßzustellen (die wohl nie sehr groß war). Indessen liegt in der Erfahrung der Kunst, die im Zeitgenössischen stets ihren Punkt der größten Unsicherheit hatte und in der Gleichzeitigkeit der fortlebenden Vergangenheiten der Kunst ihre eigentliche Souveränität beweist, ein Anspruch auf Wahrheit, der den Alleingeltungsanspruch der Wissenschaft einschränkt. Er stellt der philosophischen Besinnung eine Aufgabe, die nicht in Wissenschaftstheorie aufgeht. In Frankreich hat z. B. M. Dufrenne 107 , in A. Gehlen, Zeitbilder, Frankfurt 1960. M. Bense, Acsthetica, Baden-Baden 1965. 107 M. Dufrenne. in: Verhandlungen des 5. Internationalen Kongresses rur Ästbetik 1964, erschienen Paris 1968. lOS
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Italien L. Pareyson 108 die Problematik der Aesthetik von diesem Gesichtspunkt aus neu belebt. Der Unterzeichnete hat in >Wahrheit und Methode(l09 aufähnliche Weise versucht, den Wahrheitsanspruch der Philosophie von der Erfahrung der Kunst her gegen die naive Selbstinterpretation der modernen Wissenschaft abzusichern. Daß insbesondere die Poesie - aber in Wahrheit nicht nur sie, sondern alle Kunst, die uns etwas zu sagen hat - nicht erst durch die Wissenschaft von der Dichtkunst oder der Kunst überhaupt in unser menschliches Selbstverständnis integriert wird, sondern immer schon integriert ist und an unserem Selbstverständnis mitbildet, legitimiert den Anspruch der philosophischen Hermeneutik, dies Selbstverständnis in seinen formalen und inhaltlichen Bedingungen zu erfassen und auf den Begriff zu bringen. In Wahrheit ist es aber nicht nur das Erbe des äesthetischen Humanismus, das in die Fragestellung der Hermeneutik eingeht, sondern gerade auch das Erbe der alten scientia practica. Sie war nicht nur von ihrem originären Entwurf in der aristotelischen Ethik und Politik her llo gegenüber dem Wissenschafts begriff der antiken Episteme (dem von dem, was man heute Wissenschaft nennt, nur die Mathematik wahrhaft Genüge tat) als eine eigene Weise des Wissens abgehoben (al1o eidos gnoseos ll1 ). Sie ist auch gegenüber dem modernen Wissenschaftsbegriffund seiner technischen Umwendung von eigener - dem allgemeinen Bewußtsein freilich entschwundenerLegitimität. Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, auch auf die Sonderbedingungen von Wissen zu reflektieren, die hier bestimmend sind. Aristoteles hat in dem Begriff des ,Ethos< (und seiner Bildung unter der prägenden Kraft der ,Nomoi<, d. h. der gesellschaftlichen Institutionen und der Erziehung in ihnen) diese Bedingungen zusammengefaßt, die rur die vita praetica allein echtes Wissen möglich machen. Das hat auch in der Gegenwart seine Rolle gespielt, sofern es gerade diese gegen Platos Ideenlehre kritischen Momente der aristotelischen Philosophie waren, die sich einer Hermeneutik der Faktizität als Eideshelfer anboten. Sie sind aber weit darüber hinaus unzweideutige Zeugen darur, daß die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Wissens das Ideal der voraussetzungslosen Wissenschaft zu tangieren vermögen. Daher gehört es zu den Aufgaben einer radikalen hermeneutischen Besinnung, auch dieses Ideal der Voraussetzungslosigkeit zu prüfen. Dabei soll gewiß nicht vergessen werden, welchen Befreiungsimpuls das Wort von der L. Pareyson, Estetica: teoria della formativiü, Torino 1954. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 (4. Aufl. 1975) [Bd. 1 der Ges. Werke] und ders., Kleine Schriften I-IV, Tübingen 1967-n. 110 J. Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristotdes, in: Archiv für Rechts- und Sozial philosophie 52 (1966), jetzt auch in: Ders., Metaphysik und Politik Studien zu Aristote1es und Hegel, Frankfurt 1969. 111 Aristote1es, Ethica Nicomachea Z 7, 1141 b 33. 100 109
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Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft (das übrigens aus der Situation des Kulturkampfes nach 1870 stammt) zum Ausdruck bringt, cin Impuls, der der Bewegung der Aufklärung und ihrer Ausbildung zur neuzeitlichen Wissenschaft durchweg zugrundeliegt. Aber welche unreflektierte Naivität die Anwendung dieses Wortes im besonderen Bereich der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wissenschaften verrät, zeigt sich nicht nur in dem Utopismus der gesellschaftswissenschaftlichen Konsequenzen und konkreten Anwendungen, die von der Wissenschaftstheorie des) Wiener Kreises( her gezogen worden sind, sie zeigt sich auch und gerade in den grundlegenden Aporien, in die sich die neopositivistische Wissenschaftstheorie mit ihrer Lehre von den Protokollsätzen verstrickte. So fand der naive Historismus, der sich auf die Wiener Schule beruft, in der wissenschaftstheoretischen Kritik Karl Poppers ll2 seinen überlegenen Kritiker. Aufähnliche Weise haben die ideologiekritischen Arbeiten von Horkheimer l13 und Habermas l14 die ideologischen Implikationen aufgedeckt, die hinter der positivistischen Erkenntnislehre und insbesondere hinter ihrem sozial wissenschaftlichen Pathos liegen. So mußte die hermeneutische Reflexion eine Lehre von den Vorurteilen entwickeln, die, ohne den Sinn der Kritik an allen der Erkenntnis drohenden Vorurteilen zu gefihrden, dem produktiven Sinn von Vorverständnis gerecht \vird, wie er in allem Verstehen vorausgesetzt ist. Die hermeneutische Bedingtheit des Verstehens, wie sie in der Theorie der Interpretation und insbesondere in der Lehre vom hermeneutischen Zirkel formuliert ist, beschränkt sich nicht auf die geschichtlichen Wissenschaften, bei denen die Standortgebundenheit des Forschers zu den praktischen Erkenntnisbedingungen gehört. Doch hat die Hermeneutik hier insofern ihren Musterfall, als sich in der Zirkelstruktur des Verstehens zugleich die Vermittlung von Geschichte und Gegenwart abbildet, die aller historischen Abständigkeit und Verfremdung vorausliegt. Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem >Text( wie die des menschlichen Geschicks zu seiner Geschichte ist offenbar ein hermeneutisches Grundverhältnis, das durch brave Sprüche abzuschwören unwissenschaftlich, das mit Bewußtheit zu übernehmen der Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis allein angemessen ist. Indessen ist Interpretation nicht nur auf Texte beschränkt und auf das aus ihnen zu gewinnende geschichtliche Verständnis. Alle wie Texte verstandenen Sinnzusammenhänge, von der Natur (interpretatio naturae, Bacon), über 112 K. Popper, The Poverty ofHistoricism, London 1937. - Dt.: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965. 1l~ M. Horkheimer, The Ec1ipse of Reason, Ne . .v York 1947 - De: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt 1967. 114 J. Habermas. Zur Logik der Sozialwissenschaften, Phil. Rdsch. Beiheft 5, Tübingen 1967 (5. Aufl., frankfurt 1982).
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die Kunst (deren Begrifflosigkeit [Kam] sie zum Vorzugsbeispiel von Interpretation macht [Dilthey j), bis zu allen bewußten oder unbewußten Motivationen des menschlichen Handelns reicht der Anspruch der Interpretation. Sie will die nicht auf der Hand liegenden, sondern dahinterliegenden wahren Sinnbestimmtheiten des menschlichen Handelns aufweisen, mag sie das in der Weise tun, daß sich das wirkliche Scin eines jeden als das Sein seiner eigenen Geschichte enthüllt (P, Ricceur'''), und so, daß die gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen unseres Denkens uns undurchschaut bestimmen. Psychoanalyse wie Ideologiekritik, einander feindlich entgegengesetzt oder in skeptizistischer oder utopistischer Synthese verbunden (Adorno, Marcuse), müssen nochmals einer hermeneutischen Reflexion unterzogen werden. Denn was so durchschaut und verstanden wird, ist vom Standort des Interpreten nicht unabhängig. Kein Interpretationsrahmen ist beliebig und noch viel weniger objektiv gegeben. Dem Objektivismus des Historismus und der positivistischen Wissenschaftstheorie weist die hermeneutische Reflexion nach, wie in ihm unerkannte Voraussetzungen bestimmend sind. Insbesondere hat die Wissenssoziologic und die marxistischc Ideologiekritik hier ihre hermeneutische Fruchtbarkeit bewiesen. Nur durch kritische Bewußtheit und wirkungs geschichtliche Reflexion kann der Erkenntnis\vert solcher Interpretationen gesichert werden. Es spricht nicht gegen den Erkenntniswert derselben, daß sie nicht die Objektivität von science haben. Aber erst eine hermeneutisch-kritische Reflexion, die in ihnen bewußt oder unbewußt arn Werke ist, läßt ihre Wahrheit hervorkommen. Die philosophische Hermeneutik bringt sich grundsätzlich zum Bewußtsein, daß der Erkennende mit dem, was sich ihm als sinnvoll zeigt und aufschließt, auf unlösbare Weise zusammengehört. Sie leistet nicht nur eine Kritik am Objektivismus der Historie und an dem positivistischen Erkenntnisideal des Physikalismus, den die Unity aiScien" durch die Einheitsmethode der Physik zu begründen beansprucht, sondern ebensosehr eine Kritik an der Tradition der Metaphysik. Eine der Grundlehren der Metaphysik, nämlich daß Sein und Wahrsein prinzipiell dasselbe sind - fur den unendlichen Intellekt der Gottheit, deren Allgegenwart die Metaphysik als die Gegenwart von allem, was ist, denkt - wird unhaltbar. Ein solches absolutes Subjekt ist ftir die endlich-geschichtliche Seinsweise des Menschen und seiner Erkenntnismöglichkeiten nicht einmal ein approximatives Ideal. Denn es gehärt zum Sein des Erkennenden, daß es so wenig Gegenwart ist wie all das, was als Zukunft und als ihn bestimmende Vergangenheit fur ihn ist. Aus demselben Grunde verfallt die moderne Bewußtseinsphilosophie einer kritischen Destruktion. Ihre Grundlagen erweisen sich als die der 115
P. Ricoeur, De l'interpretation. Essai sur freud. Paris 1963.
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klassischen griechischen Metaphysik, und selbst die Identitäts philosophie des spekulativen Idealismus sowie Hegels ausdrückliche Aufnahme der Geschichte des Gedankens in den Inhalt des Geistes ändern nichts daran. Das absolute Wissen ist als ein absolutes Gegenwärtighaben gedacht. Auch die Grundlegung des Bewußtseinsbegriffs in einer durchgeftihrten Phänomenologie der Zeitlichkeit, wie sie Husserls Lebensarbeit als ständig umworbenes Ziel vor Augen stand, überschreitet diesen griechisch bestimmten Begriff der Präsenz nicht. Daher hat das Problem der Sprache im Denken der Tradition nicht die zentrale Stellung erlangt, die wir ihm heute zusprechen. Weder bei Hege! noch bei Husserl wird es eigens thematisch, und selbst die modernen Grundlegungen der Erkenntnis mit den Mitteln der Semantik und einer universalen Zeichenlehre nehmen ihren Stand nicht in der Mitte, welche das Sprachgeschehen als solches darstellt. Hier hat die moderne hermeneutische Diskussion das Phänomen des Gesprächs ins Zentrum gerückt, sofern Sprache im Gespräch allein da ist, in ihm sich bildet, erweitert und bewirkt. Jedenfalls ist das Phänomen des Verstehens von der Sprachlichkeit dieses Vorgangs getragen, ohne deshalb die Einseitigkeit der psychologischen Interpetationstheorie Schleiermachers zu implizieren. Vielmehr bleibt die hermeneutische Dimension gerade durch die Schriftf
29. Vorwort zur 2. Auflage 1965
Das vorliegende Buch erscheint im wesentlichen unverändert in zweiter Auflage. Es hat seine Leser und es hat seine Kritiker gefunden, und gewiß sollte die Beachtung, die es erfahren hat, den Autor verpflichten, alle beherzigenswerten Beiträge der Kritik zur Verbesserung des Ganzen zu nutzen. Indessen hat eine in langen Jahren gereifte Gedankenftihrung ihre eigene Festigkeit. So sehr man mit den Augen des Kritikers zu sehen versucht, die vielf:iltig durchgeftihrte eigene Perspektive will sich immer wieder durchsetzen. Die drei Jahre, die seit dem Erscheinen der ersten Auflage verstrichen sind, reichten nicht aus, das Ganze noch einmal in Bewegung zu bringen und das inzwischen, durch Kritik l16 und durch WeiterfLihrung der eigenen Arbeit 1l7 , Gelernte fruchtbar zu machen. 116 Ich habe dabei vor allem die folgenden Stellungnahmen im Auge, zu denen noch manche briefliche oder mündliche Äußerungen treten: 1. K.O. Apel, HegeistudienBd. 2, Bonn 1963, S. 314-322. 2. O. Becker, Die Fragwürdigkeit der Transzcndicrung der ästhetischen Dimension der Kunst (im Hinblick auf den L Teil von W. u. M.), Phil. Rundseh. 10, 1962. S. 225238. 3. E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962. 4. W. Hellebrand, Der Zeitbogen, Arch. f. Rechts- und Sozialphil., 49, 1963, S. 57-76. 5. H. Kuhn, Wahrheit und geschichtI. Verstehen, Histor. Ztschr., Heft 193/2, 1961, S. 376-389. 6. J. Möller, Tübinger Theol. Quartalsehr. , 5/1961, S. 467-471. 7. W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, Ztschr. f. TheoJ. u. Kirche 60,1963, S. 90-121, bes. 94ff. 8. O. Pöggeler, Philos. Literaturanzeiger, 16, S. 6-16. 9. A. de Waelhens, Sur une hermencutique de l'hermeneutique, Rev. philos. de Louvain, 60, 1962, S. 573-591. 10. Fr. Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, Nacht. d. Ak. d. W., Göttingen, phil.-hist. Kl., 1963, S. 1-22. 117 VgL: 1. Nachwort zu: M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960 [Ges. Werke Bd. 3]. 2. HegelunddicantikeDialektik, Hcgd-Stud. I, 1961, S. 173-199. [Ges. WerkeBd. 3].
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So sei Absicht und Anspruch des Ganzen noch einml kurz umrissen: Offenbar hat es zu Mißverständnissen geführt, daß ich den durch eine alte Tradition belasteten Ausdruck der Hermeneutik aufgriff1 18 , Eine )Kunstlehre~ des Vcrstchcns, wie es die ältere Hermeneutik sein wollte, lag nicht in tneincr Absicht. Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln, die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht \var auch nicht, die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um die gewonnenen Erkenntnisse ins Praktische zu wenden. Wenn es eine praktische Folgerung aus den hier vorgelegten Untersuchungen gibt, so jedenfalls nicht eine ftir unwissenschaftliches >Engagement<, sondern für die )wissenschaftliche< Redlichkeit, sich das in allem Verstehen wirksame Engagement einzugestehen. Mein eigentlicher Anspruch aber war und ist ein philosophischer: Nicht, was wir tun, nicht, was \vir tun sollten, sondern \vas über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage. Insofern ist von den Methoden der Geisteswissenschaften hier überhaupt nicht die Rede. Ich gehe vielmehr davon aus, daß die historischen Geisteswissenschaften, wie sie aus der deutschen Romantik hervorgingen und sich mit dem Geist der modernen Wissenschaft durchdrangen, ein humanistisches Erbe verwalten, das sie gegenüber allen anderen Arten moderner Forschung auszeichnet und in die Nähe ganz andersartiger außerwissenschaftlicher Erfahrungen, insbesondere der der Kunst, bringt. Das hat gewiß auch seine wissenssoziologische Seite. In Deutschland, das immer ein vorrevolutionäres gewesen ist, war es die Tradition des ästhetischen Humanismus, die mitten in der Entfaltung des modernen Wissenschaftsgedankens lebendig fortwirkte. In anderen Ländern mag mehr politisches Be"vußtsein
3. Zur Problematik des Selbstverständnisses, FS G. Krüger: Einsichten, Frankfurt 1902, S. 71-85. Umt oben. S. 12lff.l. 4. Dichten LInd Deuten, Jb. d. Dtsch. Ak. f. Sprache u. Dichtung, 1960 S. 13-21. [Ge5. Werke Bd. 81. 5. Hermeneutik und Historismus. Phil. Rundschau. 9,1961 Uetzt oben. S. 387fT]. 6. Die phänomenologische Bewegung, Phil. Rundseh. 11. 1963. 1 ff. [Ges. W'crkc Bd. 3, S.105-1461. 7. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Das Problem der Ordnung, Dt. Kongr. f PhiL 6. München 1960. Mciscnheim 1962. Uctzt oben S. 66ff1. 8. Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik. in: Sein und Ethos, Walberberger Stud. [. 1963, S. 11-24. rGes. Wecke Bd. 4. S. 175-1881. 9. Mensch und Sprache, FS D. Tschizewskij, München 1964. lTetzt oben. S. 14()ffl. 10. Martin Hcidcggcr und die Marburger Theologie, FS R. Bulnnann, Tiibingcn 1964. [Ges. \X!crkc Bd. 3. S. 197~2081. 11. Ästhetik und Hermeneutik, Vortrag auf dem Ästhctik-Kongreß Amsterdam 1964. [Ges. Werke Bd. R]. lIK VgI. E. Bctti a.a.O.; F. Wieacker a.a.O.
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in das eingehen, was dort die hmnanities, die leW'es, kurz, all das, \vas man ehedem die Humaniora nannte, trägt. Das schließt nicht im geringsten aus, daß die Methoden der modernen Naturwissenschaft ihre Anwendung auch auf die gesellschaftliche Welt finden. Vielleicht ist unsere Epoche sogar stärker als durch den ungeheuren Fortschritt der modernen Naturwissenschaften durch die steigende Rationalisierung der Gesellschaft und die wissenschaftliche Technik ihrer Leitung bestimmt. Der methodische Geist der Wissenschaft setzt sich überall durch. So ist es mir nicht von ferne in den Sinn gekommen, die Unerläßlichkeit methodischer Arbeit innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften zu leugnen. Meine Absicht war auch nicht, den alten Methodenstreit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu erneuern. Um einen Gegensatz der Methoden handelt es sich schwerlich. Insofern scheint mir die ehedem von Windelband und Rickert formulierte Frage nach den )Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung< schief. Nicht eine Differenz der Methoden, eine Differenz der Erkenntnisziele liegt vor. Die hier gestellte Frage will etwas aufdecken und bewußt machen, was durch jenen Methodenstreit verdeckt und verkannt \.vird, etwas, was die moderne Wissenschaft nicht so sehr begrenzt oder einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie zu ihrem Teile möglich macht. Ihr immanentes Schrittgesetz verliert dadurch nichts von seiner eigenen Entschiedenheit. Es wäre ein ohnmächtiges Unterfangen, dem menschlichen Wissenwollen und dem menschlichen Machenkönnen ins Gewissen zu reden, damit es vielleicht etwas schonsamer mit den natürlichen und gesellschaftlichen Ordnungen unserer Welt umgehen lernte. Die Rolle des Moralpredigers im Gewande des Forschers hat etwas Absurdes. Absurd ist ebenso der Anspruch des Philosophen, der aus Prinzipien deduziert, wie die )Wissenschaft< sich ändern müsse, damit sie philosophisch legitimierbar würde. So scheint es mir ein bloßes Mißverständnis, wenn man hier die berühmte kantische Unterscheidung von quaestio iuris und quaestio j(.uti einmengen will. Kant hatte wahrlich nicht die Absicht, der modernen Naturwissenschaft vorzuschreiben, wie sie sich verhalten müsse, damit sie vor dem Richterstuhl der Vernunft bestünde. Er hat eine philosophische Frage gestellt, d. h. er hat gefragt, welches die Bedingungen unserer Erkenntnis sind, durch die die moderne Wissenschaft möglich ist und wie weit sie reicht. In diesem Sinne stellt auch die vorliegende Untersuchung eine philosophische Frage. Aber sie stellt sie keineswegs nur an die so genannten Geisteswissenschaften (innerhalb derer sie dann bestimmten klassischen Disziplinen den Vorzug gäbe); sie stellt sie überhaupt nicht nur an die Wissenschaft und ihre Erfahrungsweisen - sie stellt sie an das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis. Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich? Das ist eine Frage, die allem verstehenden Verhalten der Subjekti-
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vität, auch dem methodischen der verstehenden Wissenschaften, ihren N armen und Regeln, schon vorausliegt. Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, überzeugend gezeigt, daß Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins selber ist. In diesem Sinne ist der Begriff )Hermeneutik< hier verwendet worden. Er bezeichnet die Grundbewegtheit des Daseins, die seine Endlichkeit und Geschichtlichkeit ausmacht, und umfaßt daher das Ganze seiner Welterfahrung. Es ist nicht Willkür oder konstruktive Überspannung eines einseitigen Aspekts, es liegt vielmehr in der Natur der Sache, daß die Bewegung des Verstehens eine umfassende und universale ist. Ich kann es nicht ruf richtig halten, wenn man meint, der hermeneutische Aspekt finde an außergeschichtlichen Seinsweisen, z. B. der des Mathematischen oder des Ästhetischen, seine Grenzen 119 • Gewiß ist es richtig, daß etwa die ästhetische Qualität eines Kunstwerks auf Baugesetzen und einem Gestaltungsniveau beruht, die am Ende alle Schranken geschichtlicher Herkunft und kultureller Zugehörigkeit transzendieren. Ich lasse dahingestellt, wieweit dem Kunstwerk gegenüber der }Qualitätssinn( eine unabhängige Erkenntnismäglichkeit darstellt 120 oder ob er nicht nur, wie aller Geschmack, formal entwickelt wird, sondern gebildet und geprägt wie er. Geschmack jedenfalls wird notwendig an etwas gebildet, das seinerseits vorzeichnet, woflir er gebildet ist. Insofern schließt er vielleicht immer bestimmte inhaltliche Vorzugsrichtungen (und Versperrungen) ein. Auf jeden Fall aber gilt, daß ein jeder, der die Erfahrung eines Kunstwerks macht, diese Erfahrung ganz in sich einholt, und das heißt: in das Ganze seines Selbstverständnisses, in dem sie ihm etwas bedeutet. Ich meine sogar, daß der Vollzug des Verstehens, der in dieser Weise die Erfahrung des Kunstwerks mit umgreift, allen Historismus im Gebiete der ästhetischen Erfahrung überspielt. Zwar scheint es naheliegend, zwischen dem ursprünglichen Wcltzusammenhang, den ein Kunstwerk stiftet, und seinem Fortleben in den veränderten Lebensumständen der N achv.,relt zu unterscheiden"'. Aber wo scheidet sich eigentlich Welt und Nachwelt? Wie geht das Ursprüngliche der Lebensbedeutsamkeit in die reflektierte Erfahrung der Bildungsbedeutsamkeit über? Mir scheint, daß der Begriff der ästhetischen Nichtunterscheidung, den ich in diesem Zusammenhang geprägt habe, recht gut festhält, daß es hier keine scharfen Grenzen gibt und daß die Bewegung des Verstehens sich nicht auf den Reflexionsgenuß einengen läßt,
VgL O. Becker a.a.O. K. Riczler hat ehedem in seinem ,Traktat vom Schönen, eine transzendentale Deduktion des .Qualitätssinnes, versucht. (Frankfurt 1935). 121 VgL neuerdings zur Sache: H. Kuhn, Vom Wesen des Kunstwerkes (1961). 119
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den die ästhetische Unterscheidung festlegt. l22 Es sollte zugestanden ,verden, daß etwa ein antikes Götterbild, das nicht als Kunstwerk ftir einen ästhetischen Reflexionsgenuß im Tempel seine Aufstellung fand und heute in einem modernen Museum seine Aufstellung hat, die Welt der religiösen Erfahrung, der es entstammt, so wie es heute vor uns steht, enthält, und das hat die bedeutende Folge, daß diese seine Welt auch noch zu unserer Welt gehärt. Es ist das hermeneutische Universum, das beide umfaßt l23 • Die Universalität des hermeneutischen Aspektes läßt sich auch in anderen Zusammenhängen nicht durch Willkür beschränken oder beschneiden. Es war keine bloße kompositorische Künstlichkeit, wenn ich bei der Erfahrung der Kunst einsetzte, um dem Phänomen des Verstehens die rechte Weite zu sichern. Hier hat die Genieästhetik eine wichtige Vorarbeit geleistet, sofern aus ihr folgt, daß die Erfahrung des Kunstwerks jeden subjektiven Horizont der Auslegung, den des Künstlers wie den des Aufnehmenden, grundsätzlich immer übersteigt. Die mens auctoris ist kein möglicher Maßstab für die Deutung eines Kunstwerks. Ja, auch die Rede von einem Werk an sich, abgelöst von seiner immer erneuerten Wirklichkeit des Erfahrenwerdens, behält etwas Abstraktes. Ich glaube gezeigt zu haben, warum diese Rede nur eine Intention beschreibt, aber keine dogmatische Einlösung gestattet. Der Sinn meiner Untersuchungen ist jedenfalls nicht, eine allgemeine Theorie der Interpretation und eine Differenziallehrc ihrer Methoden zu geben, wie das E. Betti vorzüglich getan hat, sondern das allen Verstehensweisen Gemeinsame aufzusuchen und zu zeigen, daß Verstehen niemals ein subjektives Verhalten zu einem gegebenen )Gegenstande( ist, sondern zur Wirkungs geschichte, und das heißt: zum Sein dessen gehört, was verstanden wird. So kann es mich nicht überzeugen, wenn mir eingewandt wird, daß die Reproduktion eines musikalischen Kunstwerks in einem anderen Sinne Interpretation sei als etwa der Verstehensvollzug im Lesen einer Dichtung oder im Betrachten eines Bildes. Alle Reproduktion ist doch zunächst Auslegung und will als solche richtig sein. In diesem Sinne ist auch sie) Verstehen(124. Die Universalität des hermeneutischen Gesichtspunktes duldet, wie ich meine, auch dort nicht eine Einengung, wo es sich um die Vielfalt historischer Interessenahmen handelt, die sich in der Geschichtswissenschaft verl22 rDas Insistieren auf der ästhetischen Erfahrung, das H. R. Jauss so urgiert, bleibt eine Verengung. VgL H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt 1979 J. 113 Die Ehrenrettung der Allegorie, die in diesem Zusammenhang steht (Ces. Werke Bd.1, S.77ff.), hat schon vor Jahrzehnten mit dem bedeutenden Buch W. Benjamins, ,Der Ursprung des deutschen Trauerspiels< (1927) eingesetzt. 124 Ich kann mich hier auf die - freilich anders akzentuierten - Darlegungen H. Sedlmayrs berufen, die jetzt unter dem Titel ,Kunst und Wahrheit< gesammelt sind. Vgl. vor allem S. 87 ff.
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eInigen. Gewiß gibt es vieledei Arten von Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung. Keine Rede davon, daß jede historische Interessenahme im bewußten Vollzuge einer wirkungsgeschichtlichen Reflexion ihren Grund hätte. Die Geschichte der nordamerikanischen Eskimostämme ist sicherlich gänzlich davon unabhängig, ob und wann diese Stämme in die )Weltgeschichte Europas< eingewirkt haben. Und doch kann man im Ernst nicht leugnen, daß die wirkungsgeschichtliche Reflexion sich auch dieser historischen Aufgabe gegenüber als machtvoll erweisen wird. Wer in 50 oder 100 Jahren die heute geschriebene Geschichte dieser Stämme \vieder liest, der ""viId diese Geschichte nicht nur veraltet finden, weil er inzwischen mehr weiß oder die Quellen richtiger interpretiert - er wird sich auch eingestehen können, daß man im Jahre 1960 die Quellen deshalb anders las, weil man von anderen Fragen, von anderen Vorurteilen und Interessen bewegt war. Es hieße die Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung auf das letztlich Gleichgültige reduzieren, wenn man sie der Kompetenz der wirkungsgeschichtlichen Retlcxion schlechthin entziehen wollte. Gerade die Universalität des hermeneutischen Problems hinterfragt alle Arten des Interesses an der Geschichte, weil sie das betrifft, \\'as jeweils der )historischen Frage( zugrunde liegt 125 • Und was ist Geschichtsforschung ohne die )historische Frage(? In der von mir gebrauchten und durch wortgeschichtliche Untersuchungen gerechtfertigten Sprache heißt das: Applikation ist ein Moment des Verstehens selber. Wenn ich in diesem Zusammenhang den Rechtshistoriker und den praktischenjuristen auf eine Stufe stellte, so sollte damit nicht geleugnet werden, daß der erstere ausschließlich eine )kontemplative<, der letztere ausschließlich eine praktische Aufgabe hat. Aber Applikation steckt in beider Tun. Wie sollte denn auch das Verstehen des Rechtssinnes eines Gesetzes bei dem einen ein anderes sein als beim anderen! Gewiß hat z. B. der Richter die praktische Aufgabe, das Urteil zu fallen, und da mögen mancherlei rechtspolitische Erwägungen mitspielen, die der Rechtshistoriker, der das gleiche Gesetz vor Augen hat, nicht anstellt. Aber ist deshalb ihr rechtliches Verständnis des Gesetzes verschieden? Die Entscheidung des Richters, die »praktisch ins Leben eingreift«, will doch eine richtige, und keineswegs willkürliche Anwendung der Gesetze sein, muß also auf ))fiehtiger« Auslegung beruhen, und das schließt notwendig Vermittlung von Geschiehe und Gegenwart im Verstehen selbst ein. Freilich, der Rechtshistoriker wird ein in diesem Sinne richtig verstandenes Gesetz obendrein )historisch< zu würdigen habe, und das bedeutet immer, daß er seine historische Bedeutung einschätzen muß, und, da geleitet von seinen eigenen historischen Vor-Meinungen und lebendigen Vor-Urteilen, >falsch<. Das heißt nichts anderes, als daß wiederum eine Vermittlung 125
Vgl. H. Kuhn, a.a.O.
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von Vergangenheit und Gegenwart vorliegt, also Applikation. Der Fortgang der Geschichte, zu der die Geschichte der Forschung gehört, pflegt das zu lehren. Offenbar heißt das aber nicht, daß der Historiker etwas getan hat, was er nicht )durfte~ oder nicht hätte tun sollen und woran man ihn durch einen hermeneutischen Kanon hätte hindern sollen oder können. Ich rede nicht von den rechtshistorischen Irrtümern, sondern von den wahren Erkenntnissen. Die Praxis des Rechtshistorikers hat - ebenso wie die des Richters - ihre )Methoden<, Irrtum zu vermeiden, darin stimme ich den Erwägungen des Rechtshistorikers 12fi durchaus zu. Das hermeneutische Interesse des Philosophen hebt aber gerade dort erst an, wo es gelungen ist, Irrtum zu vermeiden. Denn gerade dann bezeugen Historiker wie Dogmatiker eine Wahrheit, die noch über das hinausliegt, was sie erkennen, sofern ihre eigene, schwindende Gegenwart in ihrem Tun und ihren Taten erkennbar ist. Der Gegensatz von historischer und dogmatischer Methode hat unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Hermeneutik eine schlechthinnige Geltung. So drängt sich die Frage auf, wieweit der hermeneutische Gesichtspunkt selber von historischer oder dogmatischer Geltung ist 127 . Wenn das Prinzip der Wirkungsgeschichte als ein allgemeines Strukturmoment des Verstehens geltend gemacht wird, so schließt diese These gewiß keine historische Bedingtheit ein, sondern will schlechthin gelten - und doch gibt es ein hermeneutisches Bewußtsein nur unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Die Tradition, zu deren Wesen selbstverständliche Weitergabe des Überlieferten gehört, muß fragwürdig geworden sein, damit sich ein ausdrückliches Bewußtsein der hermeneutischen Aufgabe, die Tradition anzueignen, bildet. So läßt sich bei Augustin ein solches Bewußtsein dem Alten Testament gegenüber bemerken, und in der Reformation entwickelt sich die protestantische Hermeneutik aus dem Anspruch, die Heilige Schrift aus sich selbst zu verstehen (sola scriptura), gegen das Traditionsprinzip der römischen Kirche. Vollends aber seit dem Aufgang des historischen Bewußtseins, das einen grundsätzlichen Abstand der Gegenwart gegenüber aller geschichtlichen Überliefernng einschließt, ist das Verstehen eine Aufgabe und bedarf der methodischen Leitung. Die These meines Buches ist nun, daß das wirkungsgeschichtliche Moment in allem Verstehen von Überlieferung wirksam ist und wirksam bleibt, auch wo die Methodik der modernen historischen Wissenschaften Platz gegriffen hat und das geschichtlich Gewordene, geschichtlich Überlieferte zum ,Objekt< macht, das es )festzustellen< gilt wie einen experimentellen Befund- als wäre Überlieferung in dem selben Sinne fremd und, menschlich gesehen, unverständlich wie der Gegenstand der Physik. 126 127
Betti, Wieacker, Hellebrand a.a.O. Vgl. O. Apel a.a.O.
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Von da aus rechtfertigt sich eine gewisse Zv.rcideutigkeit in dem Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, wie ich ihn gebrauche. Die Zweideutigkeit desselben besteht darin, daß damit einerseits das im Gang der Geschichte erwirkte und durch die Geschichte bestimmte Bewußtsein, und andererseits ein Bewußtsein dieses Erwirkt- und Bestimmtseins selber gemeint ist. Offenbar ist es der Sinn der von mir gegebenen Nachweise, daß die wirkungsgeschichtliche Bestimmtheit auch noch das moderne, historische und wissenschaftliche Bewußtsein beherrscht - und das über jedes mögliche Wissen von diesem Beherrschtsein hinaus. Das wirkungs gcschichtliehe .Bewußtsein ist in einem so radikalen Sinne endlich, daß unser im Ganzen unsrer Geschicke gewirktes Sein sein Wissen von sich wesensmäßig überragt. Das aber ist eine grundsätzliche Einsicht, die nicht auf eine bestimmte geschichtliche Situation eingeengt werden darf, eine Einsicht freilich, die angesichts der modernen historischen Forschung und des methodischen Ideals der Objektivität der Wissenschaft einem eigenen Widetstand in der Selbstauffassung der Wissenschaft begegnet. Gewiß läßt sich aueh darüber hinaus die historische Reflexionsfrage stellen, warum gerade jetzt in diesem geschichtlichen Augenblick die grundsätzliche Einsicht in das wirkungsgeschichtliche Moment alles Verstehens möglich geworden sein soll. Meine Untersuchungen enthalten daraufindirekt eine Antwort. Denn erst im Scheitern des naiven Historismus des historischen Jahrhunderts wird sichtbar, daß der Gegensatz von unhistorisch-dogmatisch und historisch, von Tradition und historischer Wissenschaft, von antik und modern, kein schlechthinniger ist. Die berühmte querelle des anciens et des modernes hört auf, einc wirkliche Alternative zu stellen. Was hier als die Universalität des hermeneutischen Aspekts geltend gemacht wird, und insbesondere auch, was über die Sprachlichkeit als die Vollzugsform des Verstehens ausgefuhrt wird, umfaßt daher das >vorherrneneutischc< Bewußtsein ebenso gut "vie alle Weisen eines hermeneutischen Bewußtseins. Auch naive Traditionsaneignung ist} Weitersage<, wenngleich sie natürlich nicht als lHorizontverschmelzung< zu beschreiben ist (v gI. oben
S.419ff.). Und nun zu der grundsätzlichen Frage: Wieweit reicht der Aspekt des Verstehens und seiner Sprachlichkeit selber? Kann er die allgemeine philosophische Konsequcnz tragen, dic in dem Satz liegt: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« (Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 478)? Führt dieser Satz nicht angesichts der Universalität der Sprache zu der unhaltbarcn metaphysischen Folgerung, daß lalles< nur Sprache und Sprachgeschehen ist? Zwar, der naheliegende Hinweis auf das Unsagbare braucht der Universalität des Sprachlichen keinen Abbruch zu tun. Die Uncndlichkeit des Gesprächs, in dem sich Verstehen vollzieht, läßt dicjeweilige Gc1tendmachung des Unsag-
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baren selber relativ sein. Aber ist Verstehen überhaupt der alleinige und der adäquate Zugang zu der Wirklielikeit der Geschichte? Offenbar droht von diesem Aspekt her die Gefahr, die eigentliche Wirklichkeit des Geschehens, insbesondere die Absurdität und die Kontingenz desselben, abzuschwächen und in eine Form der Sinnerfahrung zu verfj.lschen. So war es zwar die Tendenz meiner eigenen Untersuchung, der Historik Droysens und Diltheys nachzuweisen, wie sie aller Opposition der historischen Schule gegen Hegels Spiritualismus zum Trotze der hermeneutische Ansatz dazu verfuhrt hat, die Geschichte als ein Buch zu lesen, d. h. aber als ein bis zum letzten Buchstaben sinnvolles. Bei allem Protest gegen eine Philosophie der Geschichte, in der die Notwendigkeit des Begriffs den Kern alles Geschehens ausmacht, kam die historische Hermeneutik Diltheys nicht daran vorbei, Geschichte in Geistesgeschichte gipfeln zu lassen. Das war meine Kritik. Dennoch: Wiederholt sich nicht diese Gefahr auch dem gegenwärtigen Versuch gegenüber? Indes, die traditionelle Begriffsbildung, insbesondere der hermeneutische Zirkel von Ganzem und Teil, von dem mein Versuch der Grundlegung der Hermeneutik ausgeht, braucht eine solche Konsequenz nicht zu haben. Der Begriff des Ganzen ist selber nur relativ zu verstehen. Das Ganze von Sinn. das es in der Geschichte oder der Überlieferung zu verstehen gilt, meint niemals den Sinn des Ganzen der Geschichte. Die Gefahr des Doketismus scheint mir dort gebannt, wo die geschichtliche Überlieferung nicht als Gegenstand eines historischen Wissens oder philosophischen Begreifens, sondern als ein Wirkungsmoment des eigenen Seins gedacht ist. Die Endlichkeit des eigenen Verstehens ist die Weise, in der sich die Realität, der Widerstand, das Absurde und Unverständliche geltend macht. Wer diese Endlichkeit ernst nimmt, muß auch die Wirklichkeit der Geschichte ernst nehmen. Es ist das gleiche Problem, das die Erfahrung des Du rur alles Selbstverständnis so entscheidend macht. In meinen Untersuchungen nimmt das Kapitel über die Erfahrung eine systematische Schlüsselstellung ein. Dort wird von der Erfahrung des Du her auch der Begriff der wirkungsgeschichtlichen Erfahrung beleuchtet. Denn auch die Erfahrung des Du zeigt die Paradoxie, daß etwas, was mir gegenüber steht, sein eigenes Recht geltend macht und zur schlechthinnigen Anerkennung nötigt - und eben damit >verstanden< wird. Aber ich glaube richtig gezeigt zu haben, daß solches Verstehen gar nicht das Du versteht, sondern das, was es uns Wahres sagt. Ich meine damit solche Wahrheit, die einem nur durch das Du sichtbar wird, und nur dadurch, daß man sich von ihm etwas sagen läßt. Genauso ist es mit der geschichtlichen Überlieferung. Sie verdiente gar nicht das Interesse, das wir ihr erweisen, wenn sie uns nicht etwas zu lehren hätte, was wir aus Eigenem nicht zu erkennen vermögen. Der Satz ) Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache
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nicht das schlechthinnige Herrsein des Verstehenden über das Sein, sondern im Gegenteil, daß Sein nicht erfahren wird, wo etwas von uns hergestellt werden kann und insofern begriffen ist, sondern dort, wo, \vas geschieht, lediglich verstanden werden kann. Von da stellt sich eine Frage der philosophischen Methodik, die ebenfalls in einer Reihe von kritischen Äußerungen zu meinem Buch aufgeworfen worden ist. Ich möchte sie das Problem der phänomenologischen Immanenz nennen. Das ist wahr, mein Buch steht methodisch auf phänomenologischem Boden. Es InJg paradox klingen, wenn anders gerade Heideggers Kritik der transzendentalen Fragestellung und sein Denken der )Kehre( der Entfaltung des universellen hermeneutischen Problems, die ich unternehme, zugrundeliegt. Ich meine aber, daß auch auf diese Wendung Heideggers, die das hermeneutische Problem erst zu sich selbst befreit, das Prinzip phänomenologischer Ausweisung angewendet werden darf. Ich habe deshalb den Begriff ,Hermeneutik<, den der junge Heidegger gebrauchte, festgehalten, aber nicht im Sinne einer Methodenlehre, sondern als eine Theorie der wirklichen Erfahrung, die das Denken ist. So muß ieh betonen, daß meine Analysen des Spiels oder der Sprache rein phänomenologisch gemeint sind''''. Spiel geht nicht im Bewußtsein des Spielenden auf und ist insofern mehr als ein subjektives Verhalten. Sprache geht nicht im Bewußtsein des Sprechenden auf und ist insofern mehr als ein subjektives Verhalten. Eben das läßt sich als eine Erfahrung des Subjekts beschreiben und hat nichts mit )Mythologie< oder )Mystifikation< zu tun 129 • Solche methodische Grundhaltung bleibt diesseits aller eigentlichen metaphysischen Folgerungen. Ich habe in inzvIo'ischen erschienenen Arbeiten, insbesondere in meinen Forschungsberichten )Hermenemik und Historismus<130 und )Die phänomenologische Bewegung( (in der Philosophischen Rundschau 10 (1963), S. 1-45 = Kl. Sehr. m, S. 150-189; Ges. Werke Bd. 3) betont, daß ich in der Tat Kants ,Kritik der reinen Vernunft< verbindlich finde und Aussagen, die nur auf dialektische Weise zu dem Endlichen das Unendliche, zu dem menschlich Erfahrenen das an sich Seiende, zu dem Zeitlichen das Ewige hinzudenken, rur bloße Grenzbestimmungen halte, aus denen sich durch die Kraft der Philosophie keine eigene Erkenntnis entwickeln läßt. Gleichwohl behält die Tradition der Metaphysik und ins be128 LU&l,vig Wittgensteins Begriff der 'Sprachspiele< kam mir daher, als ich ihn kennenlernte, ganz natürlich vor. Vgl. )Die phänomenologische Bewegung( S. 37ff [Ges. Werke 3d. 3, S. 144ff.l. 129 Vgl. mein Nachwort zu der Rec1amausgabe von Hcideggers Kunst\'v'erk-Aufsatz (5. 108ff.) und neuerdings den Aufsatz in der EA.Z. vom 26. 9. 1964, auch in: Neue Sammlung:; (1965), S. 1-9. [Kleine Schriften III 202 ff. , ,Heideggcrs Wege( S. 81 ff.; Gcs. We,ke 3d. 3, S. 186-1961. 130 Vgl. oben S. 387-424.
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sondere ihre letzte große Gestalt, die spekulative Dialektik Hegels, eme beständige Nähe. Die Aufgabe, det >unendliche Bezug<, ist geblieben. Aber die Art det Aufweisung desselben sucht sich der Umklammerung durch die synthetische Kraft der hegeIschen Dialektik, ja sogar der aus Platos Dialektik erwachsenen >Logik<, zu entziehen und in der Bewegung des Gesprächs, in dem Wort und Begriff erst werden, was sie sind, ihren Stand zu nehmen l3l . Damit bleibt die Forderung einer reflexiven Selbstbegründung unerflillt, wie sie sich von der spekulativ durchgefLihrten Transzendentalphilosophie Fichtes, Hegels, Husserls aus stellen läßt. Aber ist das Gespräch mit dem Ganzen unserer philosophischen Überlieferung, in dem wir stehen und das wir als Philosophierende sind, grundlos? Bedarf es einer Begründung dessen, was uns immer schon trägt? Damit aber wird eine letzte Frage angerührt, die weniger eine methodische als eine inhaltliche Wendung des hermeneutischen Universalismus, den ich entwickelt habe, betrifft. Bedeutet die Universalität des Verstehens nicht eine inhaltliche Einseitigkeit, sofern sie eines kritischen Prinzips gegenüber der Tradition ermangelt und gleichsam einem universalen Optimismus huldigt? Mag es immerhin zum Wesen der Tradition gehören, nur durch Aneignung zu sein, so gehört es doch gewiß auch zum Wesen des Menschen, Tradition brechen, kritisieren und auflösen zu können, und ist nicht etwas weit Ursprünglicheres in unserem Verhältnis zum Sein das, was sich in der Weise der Arbeit, des Umarbeitens des Wirklichen auf unsere Zwecke hin, vollzieht? Führt nicht insofern die ontologische Universalität des Verstehens in eine Einseitigkeit? - Verstehen meint gewiß nicht bloß die Aneignung überlieferter Meinung oder Anerkennung des durch Tradition Geheiligten. Heidegger, der den Begriff des Verstehens Zuerst als universale Bestimmtheit des Daseins ausgezeichnet hat, meint damit geradezu den Entwurfscharakter des Verstehens, d. h. aber die Zukünftigkeit des Daseins. Gleichwohl will ich nicht leugnen, daß ich innerhalb des universalen Zusammenhangs der Verstehensmomente die Richtung auf die Aneignung des Vergangenen und Überlieferten meinerseits ausgezeichnet habe. Auch Heidegger dürfte hier, wie mancher meiner Kritiker, die letzte Radikalität im Ziehen von Konsequenzen vermissen. Was bedeutet das Ende der Metaphysik als Wissenschaft? Was bedeutet ihr Enden in Wissenschaft? Wenn die Wissenschaft sich zur totalen Technokratie steigert und damit die) Weltnacht< der >Seinsvergessenheit<, den von Nietzsehe vorausgesagten Nihilismus herauffuhrt, darf man dann dem letzten Nachleuchten der untergegangenen Sonne am Abendhimmcl nach blicken - statt sich umzukehren und nach dem ersten Schimmer ihrer Wiederkehr auszuschauen? 131 o. Pöggeler hat a.a.O. S. 12f. einen interessanten HinweIS darauf gegeben, was Hegel aus dem Munde Rosenkranz' dazu sagen würde.
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Indessen, mir scheint, daß die Einseitigkeit des hermeneutischen Universalismus die Wahrheit des Korrektivs ftir sich hat. Sie klärt den modernen Blickpunkt des Machens, des Erzeugens, der Konstruktion über notwendige Voraussetzungen auf, unter denen er selber steht. Das begrenzt im besonderen die Stellung des Philosophen in der modernen Welt. Mag er immer die radikalen Konseguenzen aus a]]cm zu ziehen berufen sein, die Roll~ des Propheten, des Warnherrn, des Predigers oder auch nur des Besserwissers steht ihm schlecht. Wessen es ftir den Menschen bedarf, ist nicht allein das unbeirrte Stellen der letzten Fragen, sondern ebenso der Sinn für das Tllnlichc, das Mögliche, das Richtige hier und jetzt. Erst recht muß der Philosophierende, meine ich, sich der Spannung zwischen seinem eigenen Anspruch und der Wirklichkeit, in der er steht, bewußt sein. Das hermeneutische Bewußtsein, das es zu "vecken und wachzuhalten gilt, gesteht sich daher ein, daß im Zeitalter der Wissenschaft der Herrschaftsanspruch des philosophischen Gedankens etwas Phantomhaftes und Unwirkliches hätte. Aber es möchte dem Wollen des Menschen, das mehr denn je die Kritik des Bisherigen in ein utopisches oder eschatologisches Bewußtsein steigert, aus der Wahrheit des Erinnerns etwas entgegensetzen: das immer noch und immer wieder Wirkliche.
30. Nachwort zur 3. Auflage 1972
Als ich Ende 1959 das vorliegende Buch beendete, war icli mir darüber sehr unsicher, ob es nicht )ZU spät< käme, d. h. ob die Bilanz traditionsgcschichtliehen Denkens, die in ihm gezogen wurde, nicht schon beinahe überflüssig sei. Zeichen einer neuen Welle technologischer Geschichtsfeindlichkeit mehrten sich. Ihr entsprach die steigende Rezeption der angelsächsischen Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, und schließlich verhieß auch der neue Aufschwung, den die Sozialwissenschaften, darunter vor allem die Sozialpsychologie und die Soziolinguistik, nahmen, der humanistischen Tradition der romantischen Geisteswissenschaften keine Zukunft. Das aber war die Tradition, von der ich ausgegangen war. Sie stellte den Erfahrungsboden meiner theoretischen Arbeit dar - wenn auch keineswegs ihre Grenze oder gar ihr Ziel. Aber selbst innerhalb der klassischen geschichtlichen Geisteswissenschaften war ein Stilwandel in der Richtung auf die neuen methodischen Mittel der Statistik, der Formalisierung, war der Drang zur Wissenschaftsplanung und technischen Organisation von Forschung unverkennbar. Ein neues }positivistisches< Se1bstverständnis, das durch die Rezeption amerikaniseher und englischer Methoden und Fragestellungen befördert wurde, drängte vorwärts. Nun war es freilich ein plattes Mißverständnis, wenn man die Parole ,Wahrheit und Methode< mit der Anklage belastete, daß hier die Methodenstrenge der modernen Wissenschaft verkannt werde. Was die Hermeneutik geltend macht, ist etwas ganz anderes, das mit dem strengsten Ethos der Wissenschaft in keinerlei Spannung steht. Kein produktiver Forscher kann im Grunde darüber im Zweifel sein, daß zwar methodische Sauberkeit zur Wissenschaft unerläßlich ist, aber die bloße Anwendung gewohnter Methoden weit weniger als die Findung von neuen - und dahinter die schöpferische Phantasie des Forschers - das Wesen aller Forschung ausmacht. Das gilt nicht nur auf dem Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften. Obendrein ist die hermeneutische Reflexion, die in }Wahrheit und Methode, angestellt wird, alles andere als ein bloßes Begriffsspiel. Sie ist überall aus der konkreten Praxis der Wissenschaften hervorgewachsen, fur die Methodengesinnung, d. h. kontrollierbares Verfahren und Falsifizierbarkeit,
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selbstverständlich ist. Überdies wurde diese hermeneutische Reflexion allerorten an der Praxis der Wissenschaft zur Ausweisung gebracht. Wenn man den Ort meiner Arbeit innerhalb der Philosophie unseres Jahrhunderts charakterisieren woBte, dann müßte man geradezu davon ausgehen, daß ich versucht habe, einen zwischen der Philosophie und den Wissenschaften vermittelnden Beitrag zu leisten und insbesondere die radikalen Fragen Martin Hcidcggers, denen ich Entscheidendes verdanke, auf dem breiten Felde wissenschaftlicher Erfahrung, soweit ich es nur irgend überschaute, produktiv weiterzuführen. Das nötigte freilich dazu, den beschränkten 1ntcressenhorizont der wissenschaftstheoretischen Methodenlehre zu überschreiten. Aber kann es einer philosophischen Besinnung als Einwand entgegengehalten werden, daß sie die wissenschaftliche Forschung nicht als Selbstzweck betrachtet und mit ihrer philosophischen Fragestellung auch noch die Bedingungen und Grenzen der Wissenschaft im Ganzen des menschlichen Lebens thematisch macht? In einer Epoche, in der die Wissenschaft stärker und stärker in die gesellschaftliche Praxis eindringt, vermag die Wissenschaft ihrerseits ihre gesellschaftliche Funktion nur angemessen auszuüben, wenn sie ihre eigenen Grenzen und die Bedingtheit ihres Freiheitsraums sich nicht verbirgt. Das muß gerade seitens der Philosophie einem bis zum Aberglauben wissenschafts gläubigen Zeitalter klargemaeht werden, Eben darauf beruht, daß die Spannung von Wahrheit und Methode eine unauflösbare Aktualität besitzt. Die philosophische Hermeneutik gliedert sich auf diese Weise einer philosophischen Bewegung unseres Jahrhunderts ein, die die einseitige Orientierung am Faktum der Wissenschaft überwand, v.rie sie sowohl für den Neukantianismus wie tUr den damaligen Positivismus selbstverständlich war. Die Hermeneutik hat gleichwohl wissenschaftstheoretische Relevanz, soweit sie innerhalb der Wissenschaften durch hermeneutische Reflexion Wahrheitsbedingungen aufdeckt, die nicht in der Logik der Forschung liegen, sondern ihr vorausgehen. Das ist im besonderen Maße, wenn auch nicht ausschließlich, in den sogenannten Geisteswissenschaften der Fall, deren englisches Äquivalent »moral sciences(\ schon im Worte anzeigt, daß diese Wissenschaften etwas zum Gegenstand machen, dem der Erkennende selber notwendig zugehört. In einem letzten Aspekt mag das vielleicht sogar für die ))fichtigefl(\ sciences zutreffen. Doch scheinen mir da Unterscheidungen nötig. Wenn in der modernen Mikrophysik der Beobachter aus den Ergebnissen der Messungen nicht zu eliminieren ist und in ihren Aussagen selber vorkommen muß, so hat das einen exakt angebbaren Sinn, der sich in mathematischen Ausdrücken formulieren läßt. Wenn in der modernen Verhaltensforschung der Forscher Strukturen aufdeckt, die auch sein eigenes Verhalten aus stammesgeschichtlicher Erbbestimmtheit bestimmen, so lernt er vielleicht auch
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über sich selber etwas, aber gerade weil er sich mit anderen Augen ansieht als denen seiner >Praxis~ und seines Selbstbewußtseins und soweit er weder einem Pathos der Glorifizierung noch der Demütigung des Menschen dabei unterliegt. Wenn dagegen der eigene Standort eines jeden Historikers an seinen Erkenntnissen und Wertungen immer sichtbar wird, so ist diese Feststellung nicht ein Einwand gegen seine Wissenschaftlichkeit. Sie sagt noch nichts darü~er, ob der Historiker sich wegen seiner Standortgebundenheit geirrt hat und Überlieferung falsch verstand oder einschätzte, oder ob es ihm dank dem Vorzug seines Standortes, der ihn etwa Analoges in unmittelbarer zeitgeschichtlicher Erfahrung beobachten ließ, gelang, bisher Unbeachtetes ins richtige Licht zu setzen. Hier sind wir mitten in einer hermeneutischen Problematik. Das bedeutet aber keineswegs, daß es nicht wieder die methodischen Mittel der Wissenschaft wären, mit denen man über falsch oder richtig zu entscheiden, Irrtum auszuschalten und Erkenntnis zu gewinnen versucht. Das ist in den )moralischen~ Wissenschaften keine Spur anders als in den ~richtigen< scimces. Ein gleiches gilt für die empirischen Sozialwissenschaften. Hier ist es offenkundig, daß ein ,Vorverständnis< ihre Fragestellung leitet. Es handelt sich um eingespielte, gesellschaftliche Systeme, die ihrerseits geschichtlich gewordene, wissenschaftlich unbeweisbare Normen in Geltung halten. Sie stellen nicht nur den Gegenstand, sondern auch den Rahmen erfahrungswissenschaftlicher Rationalisierung dar, innerhalb dessen methodische Arbeit einsetzt. Die Forschung gewinnt hier ihre Probleme meist angesichts von Störungen im bestehenden gesellschaftlichen Funktionszusammenhang oder auch durch ideologiekritische Aufklärung, die bestehende Herrschaftsverhältnisse bekämpft. Unbestritten, daß auch hier wissenschaftliche Forschung zu einer entsprechenden wissenschaftlichen Beherrschung der thematisierten Teilzusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens fuhrt - aber doch wohl auch unleugbar, daß sie zur Extrapolation ihrer Ergebnisse auf komplexere Zusammenhänge verfUhrt. Solche Verftihrung liegt nur allzu nahe. So unsicher auch die tatsächlichen Grundlagen sind, von denen aus eine rationale Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens möglich werden könnte - es kommt den Sozialwissenschaften ein Glaubensbedürfnis entgegen, das sie formlich mitreißt und über ihre Grenzen weit hinausfuhrt. Wir können uns das etwa an dem klassischen Beispiel klarmachen, das J. St. Mill fUr die Anwendung der induktiven Logik auf die Sozialwissenschaften heranzieht, nämlich an der Meteorologie. Nicht nur die Tatsache, daß längerfristige und ftir größere Räume gültige Wetterprognosen durch die moderne Datenbeschaffung und Verarbeitung bisher nur wenig an Sicherheit gewonnen haben - auch wenn wir eine vollendete Beherrschung der atmosphärischen Vorgänge hätten oder besser, da es an derselben grundsätzlich nicht fehlt, eine enorm gesteigerte Datenbeschaffung und Verarbeitung
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zur Verfügung stünde und damit eine sichere Voraussage möglich geworden wäre, ,"vürden sich sogleich neue Komplikationen einstellen. Es liegt im Wesen der wissenschaftlichen Beherrschung von Abläufen, daß sie beliebigen Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Das heißt, es würde ein Problem des Wettcrmachens entstehen, der Beeinflussung des Wetters, und damit ein Kampf der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Interessen einsetzen, von dem wir beim gegenwärtigen Stand der Prognostik nur einen winzigen Vorgeschmack haben, etwa in dem gelegentlichen Versuch von Interessenten, die Wochenend voraussage zu beeinflussen. In der Übertragung auf die Sozialwissenschaften fUhrt die >Beherrschbarkcit( gesellschaftlicher Vorgänge notwendig auf ein )Bewußtsein< des Sozialingenieurs, das >wissenschaftlich< sein will und doch seine soziale Partnerschaft nie ganz verleugnen kann. Hier liegt eine besondere Komphkation, die aus der sozialen Funktion der empirischen Sozialwissenschaften entspringt. Einerseits besteht der Hang, empirisch-rationale Forschungsergebnisse auf komplexe Situationen vorschnell zu extrapolieren, nur um überhaupt zu wissenschaftlich planvollem Handeln zu gelangen - andererseits wirkt der Interessendruck beirrend, den die Sozia1partner auf die Wissenschaft ausüben, um den gesellschaftlichen Prozeß in ihrem Sinne zu beeinflussen. Tatsächlich hat die Absolutsetzung des Ideals der ,Wissenschaft< eine starke Faszination, die immer wieder dazu führt, hermeneutische Reflexion überhaupt für gegenstandslos zu halten. Die perspektivische Einengung, die der Methodengedanke mit sich fuhrt, scheint fUr den Forscher schwer durchschaubar. Er ist ja immer schon auf die Methodengerechtigkeit seines Verfahrens gerichtet. d. h. aber von der Gegenrichtung der Reflexion weggewendet. Auch wenn er sich, sobald er sein Methodenbewußtsein verteidigt, in Wahrheit reflektierend verhält, läßt er diese seine Reflexion dennoch nicht selber wieder zu thematischem Bewußtsein kommen. Eine Philosophie der Wissenschaften, die sich als Theorie der wissenschaftlichen Methodik versteht und sich auf keine Fragestellung einläßt, die sie nicht durch den Prozeß von trial and error als sinnvoll charakterisieren kann, macht sich nicht bewußt, daß sie mit dieser Charakterisierung sich selber außerhalb desselben befindet. So liegt es in der Natur der Sache, daß das philosophische Gespräch mit der Philosophie der Wissenschaften nie recht gelingen will. Die Debatte Adorno - Popper sowie Habermas - Albert zeigt das nur zu deutlich. 132 Vollends die hermeneutische Reflexion wird vom wissenschaftstheoretischen Empirismus, indem er )kritische Rationalität< zum absoluten Maß-
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132 W. Adorno (u. a. Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Nemvied 19691.
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stab der Wahrheit erhebt, konsequenterwcise als theologischer Obskurantismus angesehen I33 • Zum Glück kann in der Sache darin Übereinstimmung bestehen, daß es nur eine einzige >Logik der Forschung< gibt, aber auch, daß diese nicht alles ist, da die selektiven Gesichtspunkte, die jeweils die relevanten Fragestellungen auszeichnen und zum Forschungsthema erheben, nicht sc1ber aus der Logik der Forschung gewonnen ,"ver den können. Das Merkwürdige ist nun, daß die Wissenschaftstheorie um der Rationalität willen sich hier einelTI kompletten Irrationalismus überläßt und die Thematisierung solcher erkenntnis praktischen Gesichtspunkte durch die philosophische Reflexion rur illegitim hält, ja, der Philosophie, die das tut, geradezu vorwirft, daß sie ihre Behauptungen gegen die Erfahrung immunisiere. Sie erkennt nicht, daß sie selber einer viel verhängnisvolleren Immunisierung gegen Erfahrung, z. B. gegen die des gesunden Menschenverstandes und der Lebenserfahrung, Vorschub leistet. Das tut sie immer dann, wenn die wissenschaftliche Beherrschung von Teilzusammenhängen unkritische Anwendung nährt, z. B. die Verantwortung Hir politische Entscheidungen von den Experten erwartet. Der Streit zwischen Popper und Adorno behält auch nach der Analyse desselben durch Habermas etwas Unbefriedigendes. Zwar stimme ich Habermas zu, daß ein hermeneutisches Vorverständnis immer im Spiele ist und daher der reflexiven Aufklärung bedarf. Aber darin halte ich es doch wiederum mit der )kritischen Rationalität<, daß ich eine völlige Aufklärung für illusionär halte. Angesichts dieser Sachlage bedürfen zwei Punkte hier der Wiedererörterung: Was bedeutet die hermeneutische Reflexion rur die Methodik der Wissenschaften? Und wie steht es mit dem kritischen Auftrag des Denkens gegenüber der Traditionsbestimnltheit des Verstehens? Die Zusehärfung der Spannung von Wahrheit und Methode hatte in meinen Untersuchungen einen polemischen Sinn. Am Ende gehört es, wie selbst Descartes anerkennt, zu der besonderen Struktur des Zurechtbiegens eines verbogenen Dinges, daß man es nach der Gegenrichtung beugen muß. Verbogen aber war das Ding - nicht so sehr die Methodik der Wissenschaften als ihr reflexives Selbstbewußtsein. Das scheint mir aus der von mir geschilderten nachhegelischen Historik und Hermeneutik klar genug hervorzugehen. Es ist ein naives Mißverständnis, wenn man - immer weiter im Gefolge E. Bettis 1J4 - von der hermeneutischen Reflexion, die ich anstelle, eine Aufweichung der wissenschaftlichen Objektivität beftirchtet. Hier sind
Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 11968. Auf dessen verdienstvolle, aber durch emotionale Polemik desorientierten Arbeiten bin ich bereits in )Hermeneutik und Historismus< (oben S. 387ff.) eingegangen. 133
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Apel, Habermas 135 und die Vertreter der ,kritischen Rationahtät{ ID. E. In gleicher Weise blind. Sie verkennen alle den Reflexionsanspruch meiner Analysen und damit auch den Sinn von Applikation, die ich als ein Strukturmoment allen Verstehens aufzuzeigen gesucht habe. Sie sind so sehr im Methodologismus der Wissenschaftstheorie befangen, daß sie stets Regeln und ihre Anwendung im Auge haben, Sie erkennen nicht, daJl Reflexion über Praxis nicht Technik ist. Worauf ich reflektiert habe, ist das Verfahren der Wissenschaften selbst und der Einschränkung ihrer Objektivität, die an ihnen zu beobachten ist (und nicht etwa empfohlen wird), Den produktiven Sinn solcher Einschränkungen anzuerkennen, zum Beispiel in Gestalt der produktiven Vorurteile, scheint mir nichts anderes als ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit, rur die der Philosoph einzustehen hat, Wie kann man der Philosophie, die das zum Bewußtsein bringt, nachsagen, man ermutige dazu, in der Wissenschaft unkritisch und subjektiv zu verfahren! Das scheint mir ebenso unsinnig, wic wenn man umgekchrt etwa von der mathematischen Logik eine Förderung des logischen Dcnkcns oder von der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus, der sich }Logik der Forschung< nennt, eine Förderung der wissenschaftlichen Forschung erwarten wollte. Theoretischc Logik wie Philosophie der Wissenschaften genügen vielmchr einem philosophischen Bedürfnis von Rechtfertigung und sind gegenüber der wissenschaftlichen Praxis sekundär, Bei allen Unterschieden, die zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften bestehen, ist doch in Wahrheit die immanente Geltung der kritischen Methodik der Wissenschaften überhaupt nicht strittig. Auch der extreme kritische Rationalist wird aber nicht leugnen, daß der Anwendung wissenschaftlicher Methodik bestimmende Faktoren vorausliegen, die dic Relevanz ihrer Themenwahl und ihrer Fragestellungen betreffen, Der letzte Grund der Verwirrung, der hier auf der Seite der Methodologie der Wissenschaften herrscht, scheint mir der Verfall des Begriffes von Praxis. Dieser BegrifTist im Zeitalter der Wissenschaft und ihres Gewißheitsideals um seine Legitimität gekommen. Denn seit Wissenschaft in der isolicrenden Analyse der Kausalfaktoren des Geschehens - in Natur und Gesehichteihr Ziel sieht, kennt sie Praxis nur noch als Anwendung der Wissenschaft. Das aber ist eine }Praxis(, die kciner Rechenschaftsgabe bedürftig ist. So hat der Begriff der Technik den der Praxis, anders gesagt: die Kompetenz des Experten hat die politische Vernunft an den Rand gedrängt, Wie man sieht, ist es nicht nur die Rolle der Hermeneutik in den Wissenschaftcn, was hier in Frage steht, sondern das Selbstverständnis dcs Men135 Apcl, Habernus u. a. jetzt in dem von Habcrmas herausgegebenen Sammelband >Hermeneutik und Ideologiekritik, (1971) und auch meine Replik 283-317 [oben S. 25lff.]
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sehen im modernen Zeitalter der Wissenschaft. Eine der wichtigsten Belehrungen, die die Geschichte der Philosophie fUr dieses aktuelle Problem bereithält, besteht in der Rolle, die die Praxis und das sie erhellende und leitende Wissen, die praktische Klugheit oder Weisheit, die Aristoteles phronesis nannte, in der aristotelischen Ethik und Politik spielt. Das 6. Buch der Nikomachischen Ethik bleibt die beste EinfUhrung in diese verschüttete Problematik. Ich darf daftir auf eine neuere Arbeit verweisen, meinen Beitrag >Hermeneutik als praktische Philosophie<, der in dem von M. Riede! veranstalteten Sammelbande >Zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie< zu finden ist1Jl',. Was sich auf dem großen Hintergrunde der von Aristoteles bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts reichenden Tradition der praktischen (und politischen) Philosophie darstellt, ist, philosophisch gesehen, die Selbständigkeit des Erkenntnisbeitrages, der im Bezug auf Praxis besteht. Hier erweist sich das konkret Besondere nicht nur als der Ausgangspunkt, sondern als ein immer bestimmendes Manlent ftir den Inhalt des Allgemeinen. Wir kennen dies Problem in der Gestalt, die ihm Kant in der )Kritik der Urteilskraft< gegeben hat. Er unterscheidet dort die bestimmende Urteilskraft, die das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines subsumiert, von der reflektierenden Urteilskraft, die für ein gegebenes Besonderes einen allgemeinen Begriff sucht. Nun hat Hege!, wie ich meine, gültig gezeigt, daß die Trennung dieser beiden Funktionen der Urteilskraft eine bloße Abstraktion ist und daß Urteilskraft in Wahrheit immer beides ist. Das Allgemeine, unter das man ein Besonderes subsumiert, bestimmt sich eben dadurch selber fort. So bestimmt sich der rechtliche Sinn eines Gesetzes seinerseits durch die Judikatur und grundsätzlich die Allgemeinheit der Norm durch die Konkretion des Falles. Bekanntlich ist Aristoteles so weit gegangen, aus diesem Grunde sogar die platonische Idee des Guten für leer zu erklären, und der Sache nach gewiß mit Recht, wenn man wirklich diese Idee des Guten als ein Seiendes von höchster Allgemeinheit denken müßte 137 • Die Anlehnung an die Tradition der praktischen Philosophie hilft, uns auf diese Weise gegen das technische Selbstverständnis des neuzeitlichen Wissensehaftsbegriffs abzuschirmen. Das erschöpft aber nicht die philosophische Intention meines Versuches. In dem hermeneutischen Gespräch, >Zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie<, 1972. [Ges. Werke Bd. 41. Ich darf Hi.r diesen Zusammenhang auf meine Abhandlung IAmicus Plato magis amica veritas( im Anhang der Neuauflage von Platos dialektischer Ehtik, 1968, verweisen sowie auf die Studie >Platos ungeschriebene Dialektib in Kleine Schriften III, Idee und Sprache, 1971. Uetzt in Ges. Werke Bd. 6, S. 71-89 bzw. S. 129-153. Vgl. auch meine Akademie-Abhandlung >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<, Heidelberg 1978; Ges. Werke Bd. 71. 136 137
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in dem wir stehen, vermisse ich überhaupt, daß diese philosophische Intention befolgt wird. Der Begriff des Spiels. den ich schon vor Jahrzehnten aus der subjektiven Sphäre des )Spieltriebs< (Schiller) heraus gedreht und Zur Kritik der ~ästhetischen Unterscheidung( genutzt hatte, impliziert ein ontologisches Problem. Denn in diesem Begriff vereinigen sich das Ineinanderspiel von Geschehen und Verstehen, aber auch die sprachlichen Spiele unserer Welterfahrung überhaupt, wie sie Wittgenstcin in metaphysikkritischer Absicht thematisiert hat. Als eine }Ontologisicrung( der Sprache kann einem meine Fragestellung aber nur erscheinen, wenn man die Voraussetzungen der Instrumentalisierung der Sprache überhaupt unbefragt läßt. Es ist in Wahrheit ein Problem der Philosophie, das die hermeneutische Erfahrung uns stellt: die ontologischen Imphkationen aufzudecken, die in dem >technischen< Begriff von Wissenschaft liegen, und die hermeneutische Erfahrung zu ihrer theoretischen Anerkennung zu bringen. In dieser Richtung müßte das philosophische Gespräch vorangehen, nicht um einen Platonismus aber wohl um ein Gespräch mit Plato zu erneuern, das hinter die verfestigten Begriffe der Metaphysik und ihr unerkanntes Fortleben zurückfragt. Whiteheads }Fußnoten zu Plato< könnten da, wie Wiehl richtig erkannt hat, \vichtig werden (vgl. seine Einleitung zur deutschen Ausgabe von Whitehead }Adventures ofIdeas<). Jedenfalls war es meine Intention, die Dimension der philosophischen Hermeneutik mit der platonischen - nicht mit der hegelschen - Dialektik zusammenzuschließen. Der 3. Band meiner Kleinen Schriften zeigte schon im Titel an, worum es dabei geht: Idee und Sprache. Die moderne Sprachforschung in allen Ehren, aber das technische Selbstverständnis der neuzeitlichen Wissenschaft verschließt ihr die hermeneutische Dimension und die philosophische Aufgabe, die in ihr gelegen ist. Über die Spannweite der philosophischen Probleme, die die hermeneutische Fragestellung umschließt, gibt das mir gewidmete Sammelwerk )Hermeneutik und Dialektik< (1970) durch die breite Fächerung seiner Beiträge eine gute Vorstellung. Inzwischen ist aber auch auf den Sondergebieten hermeneutischer Methodenlehre die philosophische Hermeneutik zum beständigen Gesprächspartner geworden. Das Gespräch über die Hermeneutik hat sich vor allem auf vier Wissenschaftsgebieten ausgebreitet, in der juristischen Hermeneutik, der theologischen Hermeneutik, der Literaturtheorie, sowie in der Logik der Sozialwissenschaften. Innerhalb des langsam unübersehbar werdenden Schrifttums darf ich nur einige Arbeiten hervorheben, die auf llleinen eigenen Beitrag ausdrücklich Bezug nehmen. So in der juristischen Hermeneutik: Franz Wieacker in )Das Problem der Interpretation< (Mainzer Universitätsgespräche S. 5ff.). Fritz Ritmer in }Verstehen und Auslegen(, Freiburger Dies Universitatis 14(1967)
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JosefEsser in >Vorverständnis und Methode in der Rechtsfindung( (1970). Joachim Hruschka, )Das Verstehen von Rechtstexten<, Münchener Un1versitätsschriften, Reihe der juristischen Fakultät Bd. 22, 1972. Aus dem Bereich der theologischen Hermeneutik nenne ich außer den oben erwähnten Forschern die neuen Beiträge von: Günter Stachel >Die neue Hermeneutik( (1967). Ernst Fuchs >Marburger Hermeneutik< (1968). Eugen Biser, >Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik< (1970). Gerhard Ebeling >Einftihrung in die theologische Sprachlehre< (1971). In der Literaturtheorie ist in der Nachfolge von Betti vor allem das Buch von Hirsch )VaJidity in Interpretation1 (1967) zu nennen und eine ganze Reihe anderer Versuche, das Methodische an der Interpretationstheorie stark hervorzuheben. Vgl. etwa S. W. Schmied-Kowarzik >Geschichtswissenschaft und Geschichtlichkeit< in: Wiencr Zeitschrift rür Philosophie, Psychologie, Pädagogik 8 (1966), S. 133ff.; D. Benner >Zur Fragestellung einer Wissenschaftstheorie der Historie( in: Wiener Jahrbuch rür Philosophie 2 (1969), S. 52 ff. Eine ausgezeichnete Analyse dessen, was bei dem Verfahren der Interpretation Methode ist, finde ich soeben bei Thomas Seebohm )Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft< (1972); dem Anspruch einer philosophischen Hermeneutik entzieht er sich freilich, indem er ihr einen spekulativen Begriff von gegebener Totalität unterschiebt. Andere Beiträge: H. Robert Jauss }Literaturgeschichte als Provokation( (1970) und >Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik< (1979). Leo Pollmann >Theorie der Literatur< (1971). Harth ,Philologie und praktische Philosophie< (1970). Die Bedeutung der Hermeneutik in den Sozialwissenschaften hat vor allem J. Habermas kritisch gewürdigt. Vgl. seinen Bericht >Zur Logik der Sozialwissenschaften<, Beiheft der Philosophischen Rundschau, und den Sammelband >Hermeneutik und Ideologiekritik< in der Reihe ,Theorie< des Suhrkamp Verlags. Wichtig ist auch die Nummer von )Continuum<, in der die Frankfurter Kritische Theorie mit der Hermeneutik konfrontiert wird. Eine gute Übersicht über die allgemeine Problemlage ftir die geschichtlichen Wissenschaften gibt der Vortrag, den Karl-Friedrich Gründer vor dem Historikerkongreß 1970 gehalten hat. (Saeculum/22 (1971), 1Olff.). Doch zurück zur Wissenschaftstheorie. Das Problem der Relevanz ist durchaus nicht auf die Geisteswissenschaften zu beschränken. Was in den Naturwissenschaften Tatsachen sind, meint auch nicht alle beliebigen gemessenen Größen, sondern diejenigen Meßergebnisse, die eine Antwort auf eine Frage, eine Bestätigung oder Widerlegung einer Hypothese darstellen. Ebenso ist die Veranstaltung eines Experiments zur Messung irgenwelcher Größen nicht dadurch legitimiert, daß diese Messungen nach allen Regeln
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der Kunst aufs exakteste ausgeführt "verden. Sie gewinnt ihre Legitimation allein durch den Forschungskontext. So schließt alle Wissenschaft eine hermeneutische Komponente ein. So wenig es eine historische Frage oder eine historische Tatsache in abstrakter Isolierung geben kann, so wenig offenbar auch das Analoge im Bereich der Naturwissenschaften. Das bedeutet nicht, daß dadurch die Rationalität des Verfahrens selber eingeschränkt würde, soweit eine solche möglich ist. Das Schema >Aufstellung von Hypothesen und ihre Prüfung ( liegt in aller Forschung vor, auch in den Geschichtswissenschaften, ja sogar innerhalb der Philologie - und freilich auch immer die Gefahr, daß man die Rationalität des Verfahrens für eine ausreichende Legitimation der Bedeutung des so >Erkannten< hält. Aber gerade wenn man die Relevanzproblematik anerkennt, wird man bei der von Max Weber entwickelten Wertfreihcitsparolc kaum stehen bleiben können. Der blinde Dezisionismus betreffs der letzten Zwecke, dem Max Weber offen das Wort redete, kann nicht befriedigen. Hier endet der methodische Rationalismus in einem kruden Irrationalismus. An ihn die sogenannten Existenzphilosophie anzuschließen, verkennt die Dinge von Grund aus. Das Gegenteil ist wahr. Was Jaspers' Begriff der Existenzerhellung im Auge hatte, war vielmehr gerade, auch die letzten Entscheidungen einer rationalen Erhellung zu unterziehen - nicht umsonst galten ihm) Vernunft und Existenz( als untrennbar-, und Heidegger vollends zog die noch weit radikalere Konsequenz, die ontologische Mißlichkeit in der Unterscheidung von Wert und Tatsache aufzuklären und den dogmatischen Begriff der >Tatsache( aufzulösen. Indessen spielt in den Naturwissenschaften die Wertfrage keine Rolle. Im eigenen Zusammenhang ihrer Forschung sind sie zwar, \vie erwähnt, hermeneutisch aufklärbaren Zusammenhängen unterworfen. Aber sie überschreiten den Kreis ihrer methodischen Kompetenz dabei nicht. Höchstens in einem einzigen Punkte kommt Analoges in Frage, ob sie nämlich von dem sprachlichen Weltbild, in dem die Forscher als Forscher leben, in ihren wissenschaftlichen Fragestellungen \virklich ganz unabhängig sind, und insbesondere von dem sprachlichen Weltschema der eigenen Muttersprache 138 • Aber in einem anderen Sinne ist auch hier Hermeneutik immer im Spiel. Selbst wenn man durch eine normierte Wissenschaftssprache alle Nebentöne mutterspr,achlicher Provenienz weg filterte, bliebe noch immer das Problem der >Übersetzung< der Erkenntnisse der Wissenschaft ins Gemeinsprachliche, durch die die Naturwissenschaften erst ihre kommunikative Universalität und damit ihre soziale Relevanz empfangen. Das aber beträfe dann nicht mehr die Forschung als solche, sondern zeigte nur an, daß dieselbe nicht )autonom< ist, sondern in einem gesellschaftlichen Kontext steht. Das gilt für alle Wissenschaft. Indessen, man braucht gar nicht den 138
Auf diese Frage hat vor allem Werner Heisenberg immer ".... ieder hingewiesen.
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>verstehenden( Wissenschaften eine besondere Autonomie reservieren zu wollen und kann doch daran nicht vorbeisehen, daß in ihnen das vorwissenschaftliehe Wissen eine viel größere Rolle spielt. Gewiß kann man sich das Vergnügen bereiten, an diesen Wissenschaften all das, das von solcher Art ist, >unwissenschaftlich(, rational ungeprüft usw. zu schelten l39 . Aber daß dies die Verfassung dieser Wissenschaften ist, erkennt man eben damit gerade an. Man muß sich dann auch der Einrede stellen, daß das vorwissenschaftliche Wissen, das man als einen traurigen Rest von Unwissenschaftlichkeit an diesen Wissenschaften gewahrt, gerade ihre Eigenart ausmacht und jedenfalls das praktische und gesellschaftliche Leben der Menschen, einschließlich der Bedingungen ftir das Betreiben von Wissenschaft überhaupt, \-veit stärker bestimmt als das, was man durch steigende Rationalisierung menschlicher Lebenszusammenhänge erreichen, ja wollen kann. Denn kann man wirklich wollen, daß ein jeder sich fUr die entscheidenden Fragen des gesellschaftlichen und politischen wie des privaten und persönlichen Lebens einem Fachmann anvertraut? Für die konkrete Anwendung seiner Wissenschaft würde ja auch der Fachmann nicht seine Wissenschaft, sondern seine praktische Vernunft einsetzen. Und warum soll diese beim Fachmann, und wäre er selbst jener ideale Sozialingenieur, größer sein als bei andern Leuten? Insofern scheint es mir recht verräterisch, wenn man den hermeneutischen Wissenschaften mit überlegenem Hohne nachsagt, daß sie das qualitative Weltbild des Aristotcles restaurativ erneuerten 14U • Ich sehe davon ab, daß auch die moderne Wissenschaft nicht überall quantitative Verfahren anwendet, zum Beispiel in den morphologischen Disziplinen. Ich darf mich aber darauf berufen, daß das Vonvissen, das aus unserer sprachlichen Weltorientierung uns zuwächst (und das tatsächlich der sogenannten >Wissenschaft, des Aristoteles zugrunde lag), überall mitspielt, wo Lebenserfahrung verarbeitet wird, wo sprachliche Überlieferung verstanden wird und wo gesellschaftliches Leben im Gange ist. Solches Vorwissen ist gewiß keine kritische Instanz gegen die Wissenschaft und ist selber jeder kritischen Einrede seitens der Wissenschaft ausgesetzt - aber es ist und bleibt das tragende Medium alles Verstehens. Dahcr prägt es die methodische Sonderart der verstehenden Wissenschaften. In ihnen stellt sich offenbar die Aufgabe, die Ausbildung fachsprachlicher Terminologien begrenzt zu halten und statt Sondersprachen aufzubauen, >gemeinsprachliche{ Sprechweisen zu pflegen 141 • Hier darf ich vielleicht einfUgen, daß auch die von Kamlah und Lorcnzen 139 VgL etwa den konsequenten Aufsatz von V. Kraft, Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft, jetzt in )Logik der Sozialwissenschaften(, hrsg. von E. Topitsch, 72-82. 140 So H. Albert, Traktat a.a.O., S. 138. 141 Das hat D. Harth, DVJs, Sept. 1971, in einer gediegenen Studie richtig betont.
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vorgelegte )Logische Propädeutik<142, die vom Philosophen die methodische )Einftihrung< aller rur eine wissenschaftlich überprüfbare Aussage legitimen Begriffe verlangt, selber von dem hermeneutischen Zirkel eines vorausgesetzten sprachlichen Vorwissens und eines kritisch zu reinigenden Sprachgebrauchs eingeholt wird. Nichts gegen das Ideal eines solchen Autbaus einer wissenschaftlichen Sprache, das ohne Frage in vielen Bereichen, insbesondere der Logik und der Wissenschaftstheorie, wichtige Klärungen bringt und dem als Erziehung zu verantwortlichem Sprechcn auch im Felde der Philosophie keine Grenzen gesetzt werden sollten. Was Hcge]s Logik unter dem Leitgedanken einer alle Wissenschaft umspannenden Philosophie unternahm, das sucht Lorenzen in der Reflexion auf )Forschung< und zu ihrer logischen Rechtfertigung neu zu leisten. Das ist gewiß eine legitime Aufgabe. Aber ich möchte verteidigen, daß die Quelle von Wissen und Vorwissen, die aus der sprachlich sedimentierten Weltauslegung fließt, auch dann ihre Legititnität behielte, wenn man sich die ideale Wissenschaftssprache vollendet dächte - und das gilt gcrade auch fUr die ,Philosophie<. Die begriffsgeschichtliche Aufklärung, der ich selber in meinem Buche das Wort rede und die ich so gut ich kann praktiziere, wird von Kamlah und Lorenzen mit dem Einwand abgetan, daß das Forum der Tradition kein sicheres und eindeutiges Urteil sprechen könne. In der Tat nicht. Aber sich vor diesem Forum verantworten zu können, und das bedeutet: eine neuen Einsichten angemessene Sprache nicht zu erfinden, sondern aus der lebendigen Sprache herauszuholen, scheint mir eine legitime Forderung. Sie ist für die Sprache der Philosophie nur erfUllbar, wenn cs ihr gelingt, den Weg vom Wort zum Begriff und vom Begriff zum Wort nach bei den Seiten offenzuhalten. Das scheint mir eine auch bei Kamlah und Lorenzen als Sprachgebrauch oft berücksichtigte Instanz für ihr eigenes Vorgehen zu sein. Sie ergibt freilich keinen methodischen Aufbau einer Sprache durch schrittweise Einführung von Begriffen. Aber auch das ist >Methode<, die in Begriffswärtern liegenden Implikationen bewußt zu machen, und, wie ich meine, eine der Sache der Philosopliie angemessenc. Denn die Sache der Philosophie beschränkt sicli niclit auf die reflexive Erhellung des Verfahrens der Wissenschaften. Sie besteht auch nicht darin, die )Summe< aus der Vielfalt unseres modernen Wissens zu ziehen und diesselbe zum Ganzen einer )Weltanschauung< abzurunden. Wohl hat sie es mit dem Ganzen unserer Wclt- und Lebenserfahrung zu tun - wie keine andere Wissenschaft, sondern wie es eben nur unsere sich in der Sprache artikulierende Lebens- und Welterfahrung selber tut. Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, daß das Wissen um diese Totalität eine
142 W. Kamlah, P. lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redem (1967).
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wirklich gesicherte Erkenntnis darstellt und nicht vielmehr mit immer neuer Kritik denkend anzugehen ist. Aber ignorieren kann man solches) Wissen( nicht, in welcher Form auch immer es sich Ausdruck gibt - in religiöser oder Spruchweisheit, in Werken der Kunst oder des philosophischen Gedankens. Sogar die Dialektik Hegels - ich meine nicht ihre Schematisierung zu einer Methode des philosophischen Beweisens, sondern die ihr zugrunde liegende Erfahrung von dem >Umschlag< von Begriffen, die das Ganze zu erfassen beanspruchen, in ihr Gegenteip43 - gehört zu diesen Formen der inneren Selbstaufklärung und intersubjektiven Darstellung unserer tuenschlichen Erfahrung. In meinem Buch habe ich von diesem vagen Vorbild Hegcls selber einen recht vagen Gebrauch genlacht und darf jetzt auf eine kleine Neuerscheinung verweisen: Hegels Dialektik, Fünf hermeneutische Studien, Tübingen 1971 [Ges. Werke Bd. 3], die eine genauere Darlegung, aber auch eine gewisse Rechtfertigung ftir diese Vagheit enthält. Man hat gegen meine Untersuchungen öfters den Vorwurf geäußert, daß ihre Sprache zu ungenau sei. Ich kann darin nicht nur die Aufdeckung eines Mangels sehen - der es oft genug sein mag. Vielmehr scheint es mir der Aufgabe der philosophischen Begriffssprache angemessen, auch auf Kosten der genauen Umgrenzung von Begriffen die Verwobenheit in das Ganze sprachlichen Weltwissens gelten zu lassen und damit den Bezug auf das Ganze lebendig zu halten. Das ist die positive Implikation der >Sprachnot<, die der Philosophie von Anbeginn eingeboren ist. In sehr besonderen Augenblicken und unter sehr besonderen Bedingungen, die man nicht bei Plato oder Aristotcles, nicht bei Meister Eckhart oder Nicolaus Cusanus, nicht bei Fichte und Hegcl finden wird, wohl aber vielleicht bei Thomas, bei Hume und bei Kant, bleibt diese Sprachnot unter einer ausgeglichenen begrifflichen Systematik verborgen und ,"vird erst im Mitdenken mit der Bewegung des Gedankens - dann aber notwendig auch dort - neu aufbrechen. Ich verweise dafür auf meinen Düsseldorfer Vortrag >Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie<''''. Die Worte, die man in philosophischer Sprache benutzt und zu begrifflicher Präzision zuschärft, implizieren stets >objektsprachliche( Bedeutungsmomente und behalten insofern etwas Unangemessenes. Aber der Bedeutungszusammenhang, der in jedem Wort der lebendigen Sprache anklingt, geht zugleich in das Bedeutungspotential des Begriffswortes ein. Das ist bei keiner Verwendung gemeinsprachlicher Aus-
W Popper stellt sich dieser Erfahrung überhaupt nicht und übt daher seine Kritik an einem Begriff von ,Methode(, der nicht einmal fur Hegel zutrifft: Was ist Dialektik? in: )Logik der Sozialwissenschaften" hrsg. von E. Topitsch, 262-290. 144 In: Arbeitsgemeinschaft fur Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 170, (1971) [Kl. Sehr. IV. S. 1-16; Ges. Werke Bd. 4. S. 78-94).
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drücke fUr Begriffe auszuschalten. Aber es ist fUr die Begriffsbildung in den Naturwissenschaften insofern ohne Belang, als in ihnen der Erfahrungsbezug allen Begriffsgebrauch kontrolliert und damit auf ein Ideal der Eindeutigkeit verpflichtet und den logischen Gehalt der Aussagen rein herauspräpariert.
Anders liegt die Sache im Bereiche der Philosophie und überhaupt überall dort, wo Prämissen des vorwissenschaftlichen Sprachwissens in die Erkenntnis eingehen. Dort hat Sprache noch eine andere Funktion als die der möglichst eindeutigen Bezeichnung von Gegebenem - sie ist >selbstgebend( und bringt solche Selbstgabe in die Kommunikation ein. In den hermeneutischen Wissenschaften wird durch die sprachliche Formulierung nicht einfach auf einen Sachverhalt gewiesen, den man auf andere Weise durch Nachprüfung zur Erkenntnis bringen kann. Es wird vielmehr ein Sachverhalt im Wie seiner Bcdcutsamkeit sichtbar gemacht. Das macht die besondere Forderung an sprachlichen Ausdruck und Begriffsbildung aus, daß hier der Verständniszusammenhang mit bezeichnet werden muß, in dem der Sachverhalt etwas bedeutet. Die Konnotationen, die ein Ausdruck hat, trüben also nicht seine Verständlichkeit (weil sie das Gemeinte nicht eindeutig bezeichnen), sondern sie steigern sie, sofern der gemeinte Zusammenhang als ganzer an Verständlichkeit gewinnt. Es ist ein Ganzes, das hier in Worten aufgebaut wird und nur in Worten zur Gegebenheit kommt. Traditionellerweise sieht man darin eine bloße Frage des Stils und verweist diese Phänomene in den Bereich der Rhetorik, wo es auf Überredung mit Hilfe der Erregung von Affekten ankomme. Oder man denkt von modernen ästhetischen Begriffen aus. Dann erscheint die >Selbstgebung< als eine ästhetische Qualität, die in dem metaphorischen Charakter der Sprache entspringt. Man möchte nicht zugeben, daß darin ein Erkenntnismoment gelegen ist. Mir scheint aber gerade der Gegensatz von >logisch( und >ästhetisch< dort zweifelhaft, wo es sich um wirkliches Sprechen handelt und nicht um den kunstvollen logischen Aufbau einer Orthosprache, wie sie Lorenzen vorschwebt. Es scheint mir eine nicht minder logische Aufgabe, die Interferenz zwischen allen sondersprachlichen Elementen, Kunstausdrücken usw. und der gewöhnlichen Sprache wahrzuhaben. Das ist die hermeneutische Aufgabe, sozusagen der andere Pol ftir die Bestimmung der Angemessenhcit von Worten. Das fUhrt mich auf die Geschichte der Hermeneutik. In meinem eigenen Versuch hatte ihre Behandlung im wesentlichen eine vorbereitende und hintergrund bildende Aufgabe. Die Folge davon war, daß meine Darstellungen eine gewisse Einseitigkeit zeigen. Das gilt bereits rur Schleiermacher. Seine Hermeneutik-Vorlesung, wie wir sie in der Ausgabe von Lücke in den Werken lesen, aber auch die originalen Materialien, die H. Kimmerle in den Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ediert (und
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inzwischen durch einen sorgfiltigen kritischen Nachtrag 145 ergänzt) hat, auch die Akademie-Vorträge Schleiermachers, die den zufalligen polemischen Bezug auf Wolf und Ast nehmen, lassen sich an theoretischem Gewicht fur eine philosophische Hermeneutik nicht mit dem vergleichen, was Schleiermachers Dialektik-Vorlesung, insbesondere auch der dort erörterte Zusammenhang von Denken und Sprechen, enthält 146 . Immerhin besitzen wir inzwischen neue Materialien aus der Feder Diltheys, der die Philosophie Schleiermachers darstellt und insbesondere ihren zeitgenössischen Hintergrund, Fichte, Novalis, Schlegel, in meisterhafter Weise ausmalt. Es ist das Verdienst von M. Redeker, daß er aus den Manuskripten des Nachlasses in sorgfaltiger kritischer Edition einen zweiten Band von Diltheys >Leben Schleiermachers< komponiert hat'''. Diltheys berühmte und bisher unbekannt gebliebene Darstellung der Vorgeschichte der Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert, von der die bekannte Akademieabhandlung von 1900 nur eine Zusammenfassung gab, ist darin erstlnals publiziert. Sie stellt an Gründlichkeit der Quellenstudien, an allgemeinem historischem Horizont und an detaillierter Darstellung alles andere in den Schatten, nicht nur die bescheidenen Beiträge, die ich mir selber mühsam erarbeitet hatte 148 , sondern auch das bekannte Standardwerk von Joachim Wach. 149 Über die ältere Geschichte der Hermeneutik kann man sich inzwischen auch noch auf andere Weise gut unterrichten, seit Lutz Gcldsetzer eine Reihe von hermeneutischen Neudrucken ins Leben gerufen hat 150 • Neben Meier ist es vor allem ein wichtiger theoretischer Abschnitt aus Flacius und der elegante Thibaut, die nun auf bequeme Weise zugänglich sind, anderes, z. B. der von mir stark beachtete Chladenius, ist inzwischen auch da. Gc1dsetzer hat diesen Neuausgaben sehr sorgfältige, mit erstaunlicher Gelehrsamkeit erarbeitete Einleitungen beigegeben. Freilich sind die Akzentsetzungen sowohl bei Dilthey als auch in den Einftihrungen Geldsetzers sehr von dem 145 H. Kimmerle, Nachbericht zur Ausgabe F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik. Mit einem Anhang: Zur Datierung, Textberichtigungen, Nachweise, Heidelberg 1968. 146 Unglücklicherweise haben wir aber von Schleiermachers Dialektik trotz Halpern und Odebrecht noch immer keine befriedigende Ausgabe. So ist die Ausgabe vonJonas in den Werken noch weiterhin unentbehrlich. Es wäre dringend zu wünschen, daß diese Lücke bald geschlossen würde, zumal die editorische Seite der Sache durch ihre Analogie zu den noch ausstehenden kritischen Ausgaben von Hegels Vorlesungen von grundsätzlichem Interesse wäre. 147 Dilthey, Das Leben Schleiermachers 11 1 und 2, Berlin 1966. t4R [Vgl. inzwischen H.-G. Gadamer I G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik. Frankfurt 19761. 149 O. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, 3 Bde. Tübingen 1926. Reprint Hildesheim 1966]. 1:50 Instrumenta philosophica. Series hermeneutica I ~ IV, Düsseldorf1965 ff.
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verschieden, was ich selber anhand von wichtigen Beispielen, insbesondere an Spinoza und ehladenius, iu den Vordergrund gestellt habe. Ähnliches gilt von neueren Arbeiten über Schlcicrmachcr, insbesondere den Beiträgen von H. Kimmerle, H. Patsch 151 und von dem Buch von G. Vattimo 152 • Es mag sein, daß ich Schleiermachers Tendenz auf die psychologische (technische) Interpretation gegenüber der grammatisch-sprachliclien allzu stark unterstrichen habe l53 • Immerhin liegt darin sein eigenster Beitrag, und so war es denn auch die psychologische Interpretation, die Schule gemacht hat. Das konnte ich am Beispiele Heymann Steinthais und an Diltheys Schleiermaeher-Nachfolge über allen Zweifel erheben. Die wichtige Stellung, die Wilhelm Dilthey im Problemzusammenhang meiner Untersuchung einnahm, und die energische Akzentuierung seiner ambivalenten Haltung gegenüber der induktiven Logik des Jahrhunderts auf der einen Seite und dem romantisch-idealistischen Erbe auf der anderen Seite, das beim späten Dilthey über Schleiermacher hinaus auch denjungen Hegel einbezog, war von der theoretischen Absicht meiner eigenen Fragestellung bestimmt. Hier sind neuere Akzentsetzungen bemerkenswert. Peter Krausser154 ist in umgekehrter Absicht den ausgebreiteten wissenchaftliehen Interessen Diltheys nachgegangen und hat dieselben zum Teil aus dem Nachlaßmaterial illustriert. Die Emphase, mit der er diese Interessen Diltheys darstellt, kann freilich nur eine Generation aufbriugen, die Dilthey von vornherein aus seiner späten Aktualität in den Z"\vanziger Jahren unseres Jahrhunderts kennen gelernt hat. Für diejenigen, die an Dilthey das Interesse für Geschichtlichkeit und fUr die Grundlegung der Geisteswissenschaften in eigener theoretischer Absicht erstmals thematisiert hatten, z. B. rur Misch, Groethuysen, Spranger, aber auch Jaspers und Heidegger, war es stets selbstverständlich, daß Dilthey an den Naturwissenschaften seiner Zeit, insbesondere aber an ihrer anthropologischen und psychologischen Sparte intensiv teilhatte. Krausser entwickelt nun die Strukturtheorie Diltheys mit den Mitteln einer fast kybernetischen Analyse, so daß die Grundlegung der Geisteswissenschaften ganz und gar dem naturwissenschaftlichen Modell folgt, freilich auf einer Grundlage von so vagen Daten, daß sich jeder Kybernetiker bekreuzigen würde. M. Riedel bleibt ebenfalls mehr an Diltheys Kritik der historischen Vernunft, wie sie insbesondere aus der Breslauer Zeit dokumentierbar ist, interessiert als an dem späteren Dilthey, obwohl er in seinem Neudruck des >Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften( das späte H. Patsch in Zeitsehr. f. Theologie und Kirche 1966, S. 434-472. G. Vattimo, Schleiermacher filosofo dell'Interpretazione, Milano 1968. 153 [Vgl. dazu die Arbeit von M. frank >Das individuelle Al1gemeine~. Textstrukturierung und -interpretation nach Schlciermacher. Frankfurt 1977]. 154 Diltheys Kritik der endlichen Vernunft (1970). 151
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Werk Diltheys vorlegt 155 • Er gibt dem geisteswissenschaftlichen Interesse Diltheys einen interessanten gesellschaftskritischen Akzent und sieht Oiltheys echte Relevanz so sehr in seiner wissenschaftstheoretischen Fragestellung, daß ihm der Irrationalismus, den man Dilthey als Verfechter der Lebensphilosophie vorwarf, als ein bloßes Mißverständnis erscheint. Hier wird also die von mir herausgearbeitete Ambivalenz in Diltheys Position, seine Unentschiedenheit zwischen Wissenschaftstheorie und Lebensphilosophie, genau im entgegengesetzten Sinne artikuliert: Die emanzipatori_ sche Aufklärung bleibt in den Augen dieser Autoren nicht nur der tiefste und der stärkste, sondern seltsamerweise auch der produktivste Antrieb in Dilthey 156. _ Doch der gewichtigste Einwand gegen meinen Grundriß einer philosophischen Hermeneutik ist der, daß ich angeblich aus der Sprach gebundenheit alles Verstehens und aller Verständigung die grundlegende Bedeutung des Einverständnisses folgere und damit ein gesellschaftliches Vorurteil zugunsten der bestehenden Verhältnisse legitimiere. Nun ist es in der Tat richtig und bleibt in meinen Augen eine wirkliche Einsicht, daß Verständigung nur auf dem Boden eines ursprünglichen Einverständnisse gelingen kann und daß die Aufgabe des Verstehens und der Auslegung nicht so beschrieben werden darf, als hätte Hermeneutik die blanke Unverständlichkeit eines überlieferten Textes zu überwinden oder gar primär die Beirrung durch Mißverstand. Weder im Sinne der okkasionellen Hermeneutik der Frühzeit, die auf ihre sonstigen Voraussetzungen nicht reflektierte, noch im Sinne Schleiermachers und des romantischen Traditionsbruches. für den in allem Verstehen Mißverständnis das erste ist, scheint mir das richtig. Alle sprachliche Verständigung setzt nicht nur ein Einverständnis über die Wortbedeutungen und die Regeln der gesprochenen Sprache voraus. Vielmehr bleibt auch im Hinblick auf die }Sachen< in allem, was sinnvoll diskutiert werden kann, vieles unumstritten. Mein Bestehen auf diesem Punkte soll nun eine konservative Tendenz bezeugen und der hermeneutischen Reflexion ihre eigentliche, die kritisch-emanzipatorische Aufgabe vorenthalten. Es geht hier sicher um einen wesentlichen Punkt. Die Diskussion darüber ist vor allem zwischen Habermas als dem Fortbildner der >kritischen Theorie< und auf der anderen Seite von mir geführt worden 157. Von beiden Seiten wohl so, daß letzte, kaum kontrollierte Voraussetzungen dabei ins Spiel kommen - auf der einen Seite, bei Habermas und vielen, die der alten Parole der Aufklärung folgen, durch Denken und Reflexion obsolete Vorurteile aufzulösen und gesellschaftliche Privilegien aufzuheben, der Glaube an den Suhrkamp Verlag (1970). [Zur neueren Diltheyforschung vgI. meine Arbeiten in Ges. Werke Bd. 41. 157 [Vgl. den Sammelband lHermeneucik und Ideologiekritik( und meine >Weiterentwicklungen( in diesem Band der Ges. Werke unter IV.]. 155 156
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~zwangsfreien Dialog<, Habcrmas macht hier die grundlegende Voraussetzung des fkontrafaktischen Einverständnisses<. Auf meiner Seite steht demgegenüber die tiefe Skepsis, die ich gegen die phantastische Selbstüberschätzung hege, welche sich das philosophische Denken rur seine Rolle in der gesellschaftlichen Wirklichkeit anmaßt - oder anders gesagt: gegen die unwirkliche Überschätzung der Vernunft im Vergleich zu den emotionalen Motivationen des menschlichen Gemüts. Es war kein literarischer Zufall, sondern die \vohlüberlegtc Unueißung eines thematischen Ganzen, wenn ich die Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik nicht ohne die gewaltige Rolle denken kann, die die Rhetorik spielt. Marx, Mao und Marcuse - die man heute an manchen Mauerinschriften vereinigt finden kann - haben ihre Popularität gewiß nicht dem ,rationalen zwangsfreien Gespräch< zu verdanken. Es unterscheidet die hermeneutische Praxis und ihre Disziplinierung von der Erlernbarkeit einer bloßen Technik, ob dieselbe nun Sozialtechnik oder kritische Methode heißen mag, daß in ihr stets ein wirkungsgeschichtlicher Faktor das Bewußtsein des Verstehenden mitdeterminiert. Darin liegt als wesentliche Umkehrung, daß das Verstandene immer eine gewisse Überzeugungskraft entwickelt, die an der Bildung neuer Überzeugungen mit\virkt. Ich leugne gar nicht, daß, wenn man verstehen will, man bestrebt sein muß, sich von den eigenen Sachmeinungen Abstand zu verschaffen. Wer verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen. Und doch meine ich, daß uns die hermeneutische Erfahrung lehrt, daß kritische Anstrengung immer nur in begrenztem Umfang wirksam "vird. Das, was man versteht, spricht stets auch ftir sich selbst. Daraufberuht der ganze Reichtum des hermeneutischen Universums, das allem Verständlichen geöffnet ist. Indem es sich in seiner ganzen Spielweite ins Spiel bringt, zwingt es den Verstehenden, seine eigenen Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Das sind Reflexionsgewinne, die aus Praxis und allein aus Praxis einem zuwachsen. Die Erfahrungswelt des Philologen und dessen >Sein zum Texte(, die ich in den Vordergrund rückte, ist in Wahrheit nur ein Ausschnitt und ein methodisches Illustrationsfeld rur die hermeneutische Erfahrung, die in das Ganze der menschlichen Praxis venvoben ist. Innerhalb derselben ist zwar das Verstehen von Geschriebenem besonders wichtig, aber es ist doch nur ein spätes und daher sekundäres Phänomen. Die hermeneutische Erfahrung reicht in Wahrheit so weit, wie die Gesprächsbereitschaft vernünftiger Wesen überhaupt reicht. Ich vermisse die Anerkennung der Tatsache, daß dies der Bereich ist, den Hermeneutik mit Rhetorik teilt: der Bereich der überzeugenden Argumente (und nicht der logisch zwingenden). Es ist der Bereich der Praxis und der Humanität überhaupt, die eben nicht dort ihre Aufgabe hat, "va Gewalt des >eisenharten Schließens< gilt, der man sich diskussionslos zu unterwerfen
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hat, aber auch nicht dort, wo die emanzipatorische Reflexion ihres }kontrafaktische~ Einverständnisses~ sich gewiß ist, sondern wo durch vernünftige Überlegung strittige Punkte zur Entscheidung kommen sollen. Hier ist die Redekunst und Argumentationskunst (und ihr schweigendes Gegenbild der nachdenklichen Beratung mit sich selbst) zu Hause. Wenn die Redekunst auch, wie es seit alters klar ist, die Affekte anspricht, so fallt sie doch damit keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus. Vico macht mit Recht einen eigenen Wert derselben geltend: die copia, den Reichtum an Gesichtspunkten. Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermasder Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unterschätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar. Gerade die Wissenschaftskultur unserer Epoche vermag das zu illustrieren. Sie hat der Praxis menschlicher Verständigung die immer mehr wachsende Riesenaufgabe gestellt, denjeweils partikularen Bereich wissenschaftlicher Sachbeherrschung in die Praxis gesellschaftlicher Vernunft zu integrieren: die modernen Massenmedien treten hier ein. Es ist ein verkürzter Sinn von Rhetorik, der in ihr eine bloße Technik und gar ein bloßes Instrument gesellschaftlicher Manipulation sieht. In Wahrheit ist sie die eine wesentliche Seite allen vernünftigen Verhaltens. SchonAristoteies nennt die Rhetorik nicht eine Techne, sondern eine Dynamis, so sehr gehört sie zur allgemeinen Bestimmung des Menschen, ein vernünftiges Wesen zu sein. Die institutionalisierte öffentliche Meinungsbildung, die unsere Industriegesellschaft entwickelt hat, mag einen noch so großen Wirkungsbereich haben und die Bezeichnung Manipulation noch so weitgehend verdienen - sie erschöpft keineswegs den Bereich vernünftiger Argumentation und kritischer Reflexion, den die gesellschaftliche Praxis besetzt 158 • Die Anerkennung dieser Sachlage setzt freilich die Einsicht voraus, daß der Begriff der emanzipatorischen Reflexion von allzu vager Unbestimmtheit ist. Es geht um ein schlichtes Sachproblem, d. h. um die angemessene Auslegung unserer Erfahrung. Welche Rolle spielt die Vernunft im Zusammenhang unserer menschlichen Praxis? Auf alle Fälle hat sie die allgemeine Vollzugsform der Reflexion. Das will heißen, daß sie nicht einfach nur die 158 Die Arbeiten von C. Perelman und seiner Schüler empfinde ich von hier aus als einen wertvollen Beitrag zur philosophischen Hermeneutik. (Insbesondere seinen >Traite de J'argumentation( (gemeinsam mit L. Olbrechts-Tyteca), und neuerdings >Le Champ de l'argumentation' (beides bei Presses Universitaires de Bruxelles) [und das neue Buch von C. Perelman, The New Rhetonc and thc Humanities: Essays on Rhetoric and its Applications, Dordrecht, Boston, London 1979).
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Anwendung vernünftiger Mittel zur Erreichung vorgegebener Zwecke und Ziele betreibt. Sie ist nicht auf den Bereich der Zweckrationalität beschränkt. In diesem Punkte ist die Hermeneutik nüt der Ideologiekritik gegen die) Wissenschaftstheorie< einig, soweit dieselbe ihre immanente Logik und die Anwendung der Ergebnisse von Forschung bereits für das Prinzip gesellschaftlicher Praxis hält. Die hermeneutische Reflexion hebt vielmehr gerade auch die Zwecke ins Bewußtsein, und zwar nicht im Sinne einer vorgängigen Erkenntnis und Fixierung gesetzter und höchster Zwckke, denen dann die Reflexion über die Zweckgerechtigkeit von Mitteln nur nachfolgt. Das ist vielmehr die Verftihrung, die aus dem Vorgehen der technischen Vernunft in ihren Bereichen entspringt, nur auf die rechte Mittelwahl bedacht zu sein und die Zweckfragen fur vorentschieden zu halten. In einem letzten formalen Sinne ist nun gewiß fur alle menschliche Praxis envas vorentschieden, nämlich daß der Einzelne wie die Gesellschaft auf das )Glück< gerichtet ist. Das scheint eine natürhche Aussage von evidenter Vernünftigkeit. Nur müssen wir Kant zugestehen, daß das Glück, dieses Ideal der Einbildungskraft, jeder verbindlichen Bestimmtheit entbehrt. Unser praktisches Vernunft bedürfnis verlangt jedoch, daß wir unsere Zwecke mit ebensolcher Bestimmtheit denken wie die ihnen entsprechenden Mittel, d. h. daß wir in unserem Handeln imstande sind, eine Möglichkeit des Handelns einer anderen bewußt vorzuziehen, und zuletzt einen Zweck einem anderen unterzuordnen. Weit entfernt davon, gegebene Ordnungen des sozialen Lebens einfach vorauszusetzen und in einem solchen gegebenen Rahmen die Einformung unserer praktischen Wahlüberlegungen zu betreiben, stehen wir vielmehr mit jeder Entscheidung, die wir treffen, unter einer Konsequenz ganz eigener Art. An Konsequenz gebunden zu sein, gehört zu jeder Art von Vernünftigkeit, auch zu der technischen, die stets begrenzte Zwecke rationell zu verfolgen unternimmt. Aber erst recht spielt sie außerhalb technisch beherrschbarer Zweckrationalität in der praktischen Erfahrung ihre Rolle. Hier ist Konsequenz nicht mehr die selbstverständliche Rationalität der Mittelwahl, fur deren Einhaltung sich Max Weber in dem emotionell so verzerrten Felde des sozialpolitischen Handelns kraftvoll eingesetzt hat. Es handelt sich vielmehr um die Konsequenz des Wollenkönnens selber. Wer sich in echten Wahlsituationen befindet, bedarf eines Maßstabs des Vorzüglichen, unter dessen Herrschaft er seine auf den Entschluß gerichtete Reflexion durchfuhrt. Ihr Ergebnis ist dann stets mehr als nur die rechte Unterordnung unter den orientierenden Maßstab. Was einem als das Rechte gilt, determiniert den Maßstab selber, und zwar nicht nur so, daß kommende Entschließungen dadurch vorentschieden werden, sondern auch so, daß sich dadurch die Entschlossenheit zu bestimmten Handlungszielen selber ausbildet. Hier be-
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deutet Konsequenz am Ende Kontinuität, die allein erst die Identität mit sich selber inhaltsvoll macht. Das ist die Wahrheit, dic Kants moralphilosophische Reflexion als den formalen Charakter des Sittengesetzes gegen alle utilitaristisch-technische Berechnung geltend gemacht hat. Aber man kann von dieser Bestimmung des >Rechten< auch mit Aristoteles und einer bis heute reichenden Tradition ein Bild des rechten Lebens ableiten, und man wird Aristotcles zustimmen müssen, daß dies Leitbild, gesellschaftlich präformiert wie es ist, sich beständig weiter bestimmt, wenn wir >kritische< Entscheidungen treffen - bis zu einer solchen Bestimmtheit, daß wir bewußt gar nicht mehr anders wollen können, d. h., daß unser >Ethos( uns zur zweiten >Natur< geworden ist 159 • So bildet sich das Leitbild des einzelnen wie der Gesellschaft, und das gewiß so und gerade so, daß sich die Ideale einer jüngeren Generation gegenüber denen der älteren verändert haben, um sich ihrerseits wieder durch die konkrete Praxis ihres Verhaltens in ihrem eigenen Spie1raum und Zielraum weiterzubestimmen, und das heißt festzumachen. Wo ist hier die emanzipatorische Reflexion \virksam? Ich würde sagen: überall, freilich so, daß sie, indem sie alte Zielvorstellungen auflöst, sich selber wieder zu neuen konkretisiert. Sie gehorcht damit nur dem Schrittgesetz des geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebens selbst. Sie würde, meine ich, leer und undialektisch, wenn sie die Idee einer vollendeten Reflexion denken wollte, in der sich die Gesellschaft aus dcm beständigen Emanzipationsprozeß, in dem sie sich aus traditionellen Bindungen löst und neue verbindliche Gültigkeiten aufbaut, zu einem endgültigen, freien und rationalen Selbst besitz erhöbe. Wenn man also von Emanzipation als Auflösung von Zwängen durch Bewußtmachung spricht, so ist dies eine sehr relative Aussage. Ihr Inhalt hängt davon ab, um welche Zwänge es sich handelt. Ocr individualpsychologische Sozialisierungsprozeß ist, wie man weiß, mit Triebverdrängung und Lustverzicht notwendig verknüpft. Das soziale und politische Zusammenleben der Menschen seinerseits ist durch gesellschaftliche Ordnungen verfaßt, die einen beherrschenden Einfluß auf das, was als recht gilt, ausüben. Im individualpsychologischen Bereich kann es nun gewiß neurotische Verzerrungen geben, die die eigene gesellschaftliche Kommunikationsfahigkeit unmöglich machen. Hier kann man versuchen, durch Aufklärung und Bewußtwerdung den Zwangscharakter kommunikativer Störungen aufzulösen. Das bewirkt in Wahrheit nichts anderes als die WiedereinfUhrung des Gestörten in die Normenwelt der Gesellschaft. IS9 Vgl. meine Arbeit >Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, ind Kleine Schriften I 179fT. [und inzwischen >Gibt es auf Erden ein Maß?, I und 11 in PhiJos. Rdsch. 31 (1984), S. 161-177 und 32 (1985), S. 1-26].
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Nun gibt es im gesellschaftlich-geschichtlichen Leben Vergleichbares. Da können Formen der Herrschaft als Zv.,rang erfahren werden, und gewiß bedeutet ihre Bcwußtmachung, daß ein Bedürfnis nach einer neuenIdentität mit dem Allgemeinen erwacht. Hegels Kritik der Positivität - des Christentums, der deutschen Reichsverfassung, des überlebten Feudalismus - ist daftir ein großartiges Beispiel. Aber gerade ein solches Beispiel vermag meines Erachtcns nicht zu bestätigen, was meine Kritiker postulieren, daß die Bewußtmachung bestehender Herrschaftsverhältnisse stets eine emanzipatorische Funktion ausübt. Bewußtmachung vermag auch die Verwandlung autoritativ eingeprägter Verhaltensweisen in Leitbilder zu bewirken, die das eigene freie Verhalten bestimmen. Auch dafür ist Hegcl ein großartiges Beispiel, das nur einem voreingenommenen Engagement gegenüber restaurativ erscheint_ In Wahrheit beruht Tradition, die nicht die Verteidigung des Herkömmlichen, sondern die Fortgestaltung des sittlich-sozialen Lebens überhaupt ist, stets aufBevvußtmachung, die in Freiheit übernimmt. Was der Reflexion untenverfbar ist, ist stets begrenzt gegenüber dem, was durch vorgängige Prägung bestimmt ist. Es ist lllindheit gegenüber diesem Tatbestand der menschlichen Endlichkeit, die zu der abstrakten Parole der Aufklärung und der Verketzerung aller Autorität fUhrt - und es ist ein schwerwiegendes Mißverständnis, daß aus der Anerkennung dieses Tatbestandes bereits eine politische Stellungnahme im Sinne der Verteidigung des Bestehenden folgen soll. In Wahrheit wäre die Rede von Fortschritt oder von Revolution - wie die von Bewahrung - nicht mehr als bloß,e Deklamation, wenn sie ein abstraktes vorgängiges Heilswissen beanspruchte. Mag sein, daß in revolutionären Umständen das Auftreten der Robespierres, der abstrakten Moralisten, die die Welt nach ihrer Vernunft neu einrichten wollen, Beifall findet. Aber es ist ebenso gewiß, daß ihnen ihre Stunde schlägt. Ich kann es nur fur eine verhängnisvolle Verwirrung der Geister halten, wenn man den dialektischen Charakter aller Reflexion, ihren Bezug aufVorgegebenes, an das Ideal einer totalen Aufgeklärtheit bindet. Das scheint mir ebenso irrig wie das Ideal einer völligen rationalen Selbstklärung des Individuums, das seinen Antrieben und Motivationen in Kontrolliertheit und Bewußtheit lebte. Hier ist offenbar der Sinnbegriff der idealistischen Identitätsphilosophie verhängnisvoll. Er verengt die hermeneutische Reflexionskompetenz auf die sogenannte )kulturelle Überlieferung<, gleichsam in der Fortsetzung Vicos, der allein das von Menschen Gemachte menschlich verständlich fand. Die hermeneutische Reflexion, die meiner ganzen Untersuchung ihre Pointe gibt, sucht aber gerade zu erweisen, daß ein solcher Begriff von SinnVerstehen irrig ist, und ich habe in dieser Hinsicht auch Vicos berühmte Bestimmung einschränken müssen_ 160 Sowohl Apel wie Habennas scheinen 160
[Vgl. Ges. WerkeBd. 1, S.24ff.].
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mir an diesem idealistischen Sinn von Sinn-Verstehen festzuhalten, der dem ganzen Duktus meiner Analyse nicht entspricht. Es war nicht von ungefahr, daß ich meine Untersuchung an der Erfahrung der Kunst orientierte, deren >Sinn< [ur das begriffliche Verstehen nicht ausschöpfbar ist. Daß ich die Fragestellung einer universalen philosophischen Hermeneutik an der Kritik des ästhetischen Bewußtseins und an der Reflexion über die Kunst entwikkelte - und nicht sogleich an den sogenannten Geisteswissenschaften -, bedeutete durchaus nicht ein Ausweichen vor der Methodenforderung der Wissenschaft. Es bedeutet vielmehr eine erste Ausmessung der Reichweite, die die hermeneutische Frage besitzt und die nicht so sehr gewisse Wissenschaften als hermeneutische auszeichnet, als eine allem Methodengebrauch der Wissenschaft vorgeordnete Dimension ins Licht rückt. Dafür war die Erfahrung der Kunst in mehrfachem Sinne wichtig. Was hat es mit der Zeitüberlegenheit auf sich, die die Kunst als Inhalt unseres ästhetischen Bildungsbewußtseins in Anspruch nimmt? Erhebt sich hier nicht der Zweifel, ob dieses ästhetische Bewußtsein, das >Kunst< meint - wie der ins Pseudoreligiöse gesteigerte Begriff >Kunst( selber-, eine ebensolche Verkürzung unserer Erfahrung am Kunstwerk ist, wie das historische Bewußtsein und der Historismus eine Verkürzung der geschichtlichen Erfahrung sind? Und ebenso unsachgemäß' Das Problem konkretisiert sich an Kierkegaards Begriff der >Gleichzeitigkeit<, der gerade nicht Allgegenwart im Sinne der historischen Vergegenwärtigung meint, sondern eine Aufgabe stellt, die ich später die der Applikation genannt habe. Daß die von mir getroffene Unterscheidung von Gleichzeitigkeit und ästhetischer Simultaneität im Sinne Kierkegaards ist, wenn auch natürlich in einer anderen Anwendung der Begriffe, möchte ich gegen die Einrede von Bormanns 161 verteidigen. Wenn dieser sich auf eine Tagebuchnotiz bezieht: )Die Lage der Gleichzeitigkeit wird zuwege gebracht«, so sage ich dasselbe, wenn ich dafur }>total vermittelt« sage, d. h. bis zum unmittelbaren Zugleichsein. Natürlich klingt das rur den, der den Sprachgebrauch Kierkegaards bei seiner Polemik gegen die )Mediation< im Ohr hat, wie ein Rückfall in Hege!. Man stößt hier auf typische Schwierigkeiten, die die Geschlossenheit der hegelschen Systematik jedem Versuche bereitet, gegenüber ihrem begriffiichen Zwang Abstand zu bewahren. Sie treffen ebenso Kierkegaard wie meinen eigenen Versuch, mit Hilfe eines Kierkegaardschen Begriffs meinen Abstand gegen Hegel zu formulieren. So hielt ich mich zunächst an Hegel, um gegenüber der naiven Begriffslosigkeit der historischen Anschauung die hermeneutische Dimension der Vermittlung von damals und heute einzuschärfen. In diesem Sinne habe ich Hegel mit
161
Jetzt in }Hermeneutik und Ideologiekritik(, hrsg. von]. Habermas, S. 88ff.
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Schleiermacher konfrontiert 1fi2 • In Wahrheit folge ich aber noch einen Schritt weiter der Hegclschen Einsicht in die Gcschichtlichkeit des Geistes. Hegels Begriff der »Kunstreligioll« bezeichnet gcnau das, was meine hernlcneutischen Zweifel am ästhetischen Bewußtsein bewegt: Kunst ist nicht als Kunst, sondern als Religion, als Gegenwart des Göttlichen, die liöchste Möglichkeit ihrer selbst. Wenn nun aber von Hegel alle Kunst ftir etwas Vergangencs erklärt wird, wird sie gleichsam vom geschichtlich erinnernden Bnvußtscin aufgesogen, und als die vergangcne gewinnt sie ästhetische Simultaneität. Einsicht in diesen Zusammenhang stellte mir die hermeneutisclie Aufgabe, die wirkliche Erfahrung der Kunst- die nicht Kunst als Kunst erfahrt - durch den Begriff der ästhetischen Nichtunterscheidung vom ästhetischen Bewußtsein abzusetzen. Das scheint mir ein legitimes Problem, das sich nicht aus Anbetung der Geschichte ergibt, sondern in unserer Erfahrung von Kunst unübersehbar ist. Es ist eine falsche Alternative, ~Kunst( ursprünglich-zeitgenössisch - geschichtslos - oder als geschichtliches Bildungserlebnis anzusehen'''. Hegcl hat recht. Ich kann daher auch heute noch Oskar Beckers Kritik l64 nicht folgen, sowenig wie irgendeinem historischen Objektivismus, der gewiß in Grenzen gültig ist: die hermeneutische Integrationsaufgabe bleibt bestehen. Man kann sagen, daß das mehr dem ethischen als dem religiösen Stadium Kierkegaards entspricht. Darin dürfte von Barmann recht haben. Aber behält nicht das ethische Stadium auch bei Kierkegaard eine gewisse begriffiiche Vorherrschaft und wird zwar religiös transzendiert, aber doch nicht anders als >aufmerksam machend(?Hegels Ästhetik wird heute wieder sehr beachtet. Mit Recht: Für den Konflikt zwischen dem überzeitlichen Anspruch des Ästhetischen und der geschichtlichen Einmaligkeit von Werk und Welt stellt sie bis heute die einzige wirkliche Auflösung dar, indem sie beides zusammen denkt und damit Kunst als ganze )eritll1erlich< macht. Offenbar gehören hier zwei Dinge zusammen: Daß die Kunst seit dem Auftreten des Christentums nicht mehr die höchste Weise der Wahrheit, nicht mehr Offenbarkeit des Göttlichen ist und daher Reflexionskunst geworden ist - und die andere Seite, daß das, wozu der Geist fortgeschritten ist, Vorstellung und Begriff, Offenbarungsreligion und Philosophie, gerade dazu fUhren, Kunst nunmehr als '" [Vgl. Ges. WerkeBd.l. S.17lff.]. H. Kuhn, Wesen und Wirken des Kunstwerks (1960) scheint mir hier von dieser abstrakten Alternative von Religion und Kunst gehemmt. Umgekehrt scheint mir W. Benjamin Z"\var den grundsätzlichen Vergangenheitscharakter der Kunst anzuerkennen, wenn ervon der )Aura, des Kunstwerks spricht. Doch proklamiert er für das Kunsewerkim Zeitalter seiner technischen Reproduzicrbarkeit eine neue politische Funktion, die den Sinn von Kunst ganz umprägt und gegen die Theodor Adorno in seiner ,Ästhetischen Theorie, treffende Ein'\vendungen erhebt. 164 Philos. Rundschau 10, S. 225-37. 163
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nichts als Kunst zu begreifen. Der Übergang von der Reflexionskunst zur Kunstreflexion, das Ineinanderfließen beider, scheint mir nicht eine Verschleifung von Verschiedenem (Wieh1) 165, sondern macht den sachlich ausweis baren Gehalt von Hegels Einsicht aus. Die Reflexionskunst ist eben nicht nur eine Spätphase des Zeitalers der Kunst, sondern ist schon der Übergang in das Wissen, rur das Kunst erst zu Kunst wird. Hier schließt sich die spezielle Frage an, die im allgemeinen bisher vernachlässigt worden ist, ob es nicht die sprachlichen Künste innerhalb der Hierarchie der Kunstgattungen auszeichnet, daß sie diesen Übergang zum Ausweis bringen. 166 R. Wiehl hat überzeugend herausgearbeitet, daß im Begriff der Handlung, der das Zentrum der dramatischen Kunstform bildet, das Bindeglied zur Dramaturgie des dialektischen Denkens zu finden ist. In der Tat ist das eine jener tiefsinnigen Einsichten Hegels, die durch die begriffliche Systematisierung seiner Ästhetik hindurchschimmern. Nicht minder bedeutsam scheint mir, daß dieser Übergang dort schon angelegt ist, wo die Sprachlichkcit als solche erstmals heraustritt, und das ist der Fall der Lyrik_ In ihr wird zwar nicht Handlung dargestellt, und an dem, was man heute >sprachliche Handlung< nennt, die gewiß auch rur die Lyrik gilt, drängt sich der Handlungscharakter nicht auf. Das macht ja in allen sprachlichen Künsten die rätselhafte Mühelosigkeit des Wortes aus, im Vergleich zu der Widerständigkeit des Materials, in dem sich die bildenden Künste verwirklichen müssen, daß man überhaupt nicht daran denkt, daß auch solches Sprechen Handlung ist. Wiehl sagt mit Recht: »Lyrik ist Darstellung einer reinen Sprachhandlung, nicht Darstellung einer Handlung in der Form einer Sprachhandlung« (wie es das Drama ist)_ Das heißt aber: hier tritt Sprache als Sprache in den Blick_ Damit kommt eine Beziehung von Wort und Begriffins Spiel, die der von Wiehl herausgearbeiteten Beziehung von Drama und Dialektik noch VOfausliegt. 167 Es ist das lyrische Gedicht, in dem die Sprache in ihrem reinen Wesen erscheint, so daß in ihm alle Möglichkeiten von Sprache, auch die des Begriffs, gleichsam eingehüllt schon da sind_ Hege! hat das Grundsätzliche schon gesehen, wenn er erkennt, daß Sprachlichkeit im Unterschied zu dem }Stoff< der anderen Künste Totalität bedeutet. Das ist eine Einsicht, die schon Aristoteles veranlaßte, dem Hören - trotz allem Vorrang, den das Sehen innerhalb der Sinne von Natur besitzt - gleichwohl einen eigenen Vorrang 165 R. Wiehl, Ober den HandlungsbegritT als Kategorie der Hege1scben Aesthetik. Hegelstudien 6, insbes. S. 138. In(, rVgl. meine Arbeiten) Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach Wahrheit< (Kl. Sehr. IV, S.21R-227: Ces. Werke Bd. R) und )Philosophie und Poesie( (ebd. S. 241-248; Ces. Werke Bd. 8) und neuerdings ,Die Stellung der Poesie im System der He~elschel1 Ästhetik<, Hege1-Studien 21 (1986): Ges. Werke Bd. 8J. 11>' [Vgl. Zum folgenden ,Text und Interpretation<, oben S. 330ff.1.
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zuzusprechen, weil Hören die Sprache aufnimmt und damit alles, nicht nur
das Sichtbare. Hege! hat freilich ftir diesen Vorrang der Sprachlichkeit die Lyrik nicht besonders ausgezeichnet. Dafur stand er zu schr unter dem Ideal von Natürlichkeit, das Goethe ftir sein Zeitalter repräsentierte, und sah deshalb das lyrische Gedicht nur als subjektiven Ausdruck der Innerlichkeit. In Wahrheit aber ist das lyrische Wort in einem ausgezeichneten Sinne Sprache. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß das lyrische Wort sich zum reinen Ideal der
poesie pure erheben ließ. Das läßt zwar nicht an die ausgebildete Form der Dialektik denken - wie das das Drama tut-, aber wohl an das aller Dialektik zugrunde liegende Spekulative. In der Sprach bewegung des spekulativen Gedankens wie in der Sprachbewegung des )reinen< Gedichtes erfuHt sich die gleiche Selbstpräsenz des Geistes. Auch Adorno hat die Affinität zwischen der lyrischen Aussage und der spekulativ-dialektischen mit Recht beachtetund vor allem: Mallarme selbst. Es gibt noch einen anderen Hinweis, der in die gleiche Richtung deutet, und das ist die Abstufung der Übersetzbarkeit, die den verschiedenen Dichtungsarten zukommt. Der Maßstab der >Handlung<, den Wiehl aus Hegel selbst entnommen hat, ist diesem Maßstab gegenüber fast das Gegenteil. Jedenfalls ist unstrittig, daß Lyrik desto \veniger übersetzbar ist,je mehr sie
sich dem Ideal der poesie pure nähert: Offenkundig ist die Verflechtung von Klang und Bedeutung hier bis zur Unauflöslichkeit gesteigert. In dieser Richtung habe ich seither weitergearbeitet. Gewiß nicht als einziger. Die bei Wellek-Warren benutzte Unterscheidung von )denotativ und konnotativ< fordert ja zu genauerer Analyse geradezu heraus. Ich bin bei der Analyse der verschiedenen Weisen von Sprachlichkeit vor allem der
Bedeutung nachgegangen, die die Schriftlichkcit ftir die Idealität des Sprachlichen besitzt. Paul Ricoeur ist neuerdings in ähnlichen Überlegungen zu
dem gleichen Resultat gekommen, daß die Schriftlichkeit die Identität des Sinnes bestätigt und die Ablösung von der psychologischen Seite des Sprechens bezeugt. So klärt sich - nebenbei bemerkt - von der Sache her auf, "varum die Schleiernlacher folgende Hermeneutik, vor allem Dilthey, trotz
aller psychologischen Präokkupation die romantische Grundlegung der Hermeneutik im lebendigen Dialog nicht übernahm, sondern zu den )schriftlich fixierten Lebensäußerungeo< der älteren Hermeneutik zurück-
kehrte. Es entspricht dem, daß Dilthey in der Dichtungsauslegung den Triumph der Hermeneutik sah. Demgegenüber habe ich als die Struktur sprachlicher Verständigung das )Gespräch< ausgezeichnet und durch die Dialektik von Frage und Antwort charakterisiert. Das bewährt sich duchaus auch fur unser »Sein ZUlll Texte«. Die Fragen, die ein Text uns bei der Interpretation aufgibt, lassen sich selber erst verstehen, wenn der Text seinerseits als Antwort auf eine Frage verstanden wird.
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Das sprachliche Kunstwerk steht nicht ohne Grund dabei im Vordergrund. Es ~st - ganz unabhängig von der historischen Frage der oral poetryin einem prinzipielleren Sinne Sprachkunst als Literatur. Ich nenne Texte solcher Art >eminente( Texte. Was mich nun seitjahren beschäftigt und was ich in verschiedenen, noch unveröffentlichten Vorträgen (,Bild und Wort<, )Das Sein des Gedichteten<, Non der Wahrheit des WorteS<, ,Philosophieal, poctical, religious speakingNegativität( nennt). seine Bedeutung, d. h. die Art, wie es rur uns sprechend ist, mitbestimmt. Das war ja die Pointe des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, Werk und Wirkung als Einheit eines Sinnes zu denken. Was ich als Horizontverschmclzung beschrieb, war die Vollzugsform dieser Einheit, die dem Interpreten von einem ursprünglichen Sinne eines Werkes zu sprechen nicht erlaubt, ohne daß in das Verständnis desselben der eigene Sinn des Interpreten immer schon mit eingegangen wäre. Man verkennt diese hermeneutische Grundstruktur, wenn man etwa meint, man könne den Zirkel des Verstehens durch historisch-kritische Methode )brechen< (so neuerdings Kimmerle 1(9). Was Kimmerle so beschreibt, ist gar nichts anderes, als was Heidegger nannte: »In der rechten Weise in den Zirkel hineinkommen«, d. h. nicht in anachronistischer Aktualisierung oder unkritischer Zurechtbiegung auf die eigenen Vor-Meinungen hin. Die Ausarbeitung des historischen Horizonts eines Textes ist immer schon Horizontverschmelzung. Der historische Horizont kann nicht erst rur sich bereitgestellt werden. Das ist in der neueren Hermeneutik als die Problematik des Vorverständnisses bekannt. Nun spielt aber im Falle des eminenten Textes noch anderes hinein, das hermeneutische Reflexion verlangt. Der >Ausfall< des unmittelbaren Wirklichkeitsbezugs, rur den die englische, nominalistisch strukturierte Denkund Sprachgesinnung den bezeichnenden Ausdruck fiction hat, ist in Wahrheit keine Ausfallserscheinung, keine Abschwächung der Unmittelbarkeit einer Sprachhandlung, sondern ganz im Gegenteil ihre >eminente< Verwirk16B H. R Jauss, ,Literaturgeschichte als Provokation( 1970 [und )Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneucik(, Frankfurt 1979]. 169 H. Kimmerle, Die Bedeutung der Geisteswissenschaft fur die Gesellschaft, 1971, S. 71 ff.
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liehung. Bei aller Literatur gilt das ebenso fur die in ihr enthaltene }Adressc<, die nicht den Empfinger einer Mitteilung meint, sondern den Empfanglichen von heute und morgen. Schon klassische Tragödien, auch wenn sie rur eine feste und festliche Szene gedichtet waren und gewiß in eine gesellschaftliche Gegenwart hineinsprachen, waren nicht wie Theaterrequisiten rur eine einmalige Verwendung bestimmt oder blieben für neue Vcn;vendung einstweilen im Magazin. Daß sie \viederaufgefUhrt \,,-'erden konnten und sehr bald auch als Texte gelesen wurden, geschah gewißlich nicht aus historischem Interesse, sondern weil sie sprechend blieben. Es war kein bestimmter inhaltlicher Kanon von Klassizität, der mich veranlaßte, das Klassische als die wirkungsgeschichtliche Kategorie schlechthin auszuzeichnen. Ich wollte damit vielmehr die Besonderheit des Kunstwerks und vor allem jedes eminenten Textes gegenüber anderer verstehbarer und auszulegender Überlieferung auszeichnen. Die Dialektik von Frage und Antwort, die ich entfaltet hatte, wird hier nicht ungültig, aber sie modifiziert sich: Die ursprüngliche Frage, auf die ein Text als Antwort verstanden werden muß, hat hier, wie oben angedeutet, von ihrem Ursprung her Ursprungsüberlegenheit und -freiheit an sich. Das heißt wahrlich nicht, daß das >klassische Werkt nur noch in hoffungsloser Konventionalität zugänglich wäre und einen harmonisch beruhigten Begriff des >Allgemeinmenschlichen( verlangte. >Sprechend I ist es vielmehr immer nur dann, wenn es mrsprünglich< spricht, d. h. >als wäre es mir selbst gesagte Das bedeutet durchaus nicht, daß was so spricht, an einem außergeschichtlichenNormbegriff gemessen würde. Es ist umgekehrt: was so spricht, setzt dadurch ein Maß. Hier liegt das Problem. Die ursprüngliche Frage, auf die der Text als Antwort verstanden wird, nimmt in solchem Falle eine Sinnidentität in Anspruch, die immer schon den Abstand zwischen Ursprung und Gegenwart vermittelt hat. Die hermeneutischen Differenzierungen, die ftir solche Texte nötig sind, habe ich in meinem Züricher Vortrag von 1969 »Das Sein des Gedichteten« angedeutet 170. Der hermeneutische Aspekt scheint mir aber auch sonst ftir die ästhetische Diskussion unserer Tage unentbehrlich. Gerade nachdem )Antikunst( zur gesellschaftlichen Parole wurde, und ebenso Pop Art und Happening, und auch bei traditionellem Gebaren Kunstformen versucht werden. die sich gegen die traditionellen Vorstellungen von Werk und Werkeinheit kehren und aller Eindeutigkeit der Verstehbarkeit ein Schnippchen schlagen möchten, muß die hermeneutische Reflexion fragen, was es mit solchen Prätentionen auf sich hat. Die Antwort wird sein, daß der hermeneutische Begriff des Werks seine Erfüllung behält, solange in einer solchen Produktion überhaupt Identifizierbarkeit, Wiederholung und Wiederholungs würdig170
Vgl. jetzt auch >Wahrheit und Dichtung, in Zeitwende 6 (1'971) [Ges. Werke Bd.
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keit eingeschlossen ist. Solange eine solche Produktion als die, die sie sein will, dem hermeneutischen Grundverhalt gehorcht. etwas als etwas zu verstehen, ist die Auffassungsform für sie keineswegs eine radikal neue. Solche f>Kunst« unterscheidet sich in Wahrheit gar nicht von gewissen, seit alters anerkannten Kunstformen transitorischer Art, z. B. dem Kunst-Tanz. Dessen Rang und Qualitätsanspruch ist ja auch von der Art, daß selbst noch die Improvisation, die nie wiederholt wird, >gut< sein will, und das heißt bereits: idealiter wiederholbar und in der Wiederholung sich als Kunst bestätigend. Hier besteht eine scharf zu ziehende Grenze zum bloßen Trick oder zum Taschenspielerkunststück. Auch an solchem ist etwas zu verstehen. Es kann begriffen, es kann nachgemacht werden. Es \vil1 sogar auch gekonnt und gut sein. Aber seine Wiederholung wird, mit Hegcl zu reden, f>schal wie ein eingesehenes Taschenspielerkunststück«. Die Übergänge vom Kunstwerk zum Kunststück mögen noch so fließend scheinen und die Zeitgenossen mögen oft nicht wissen, ob der Reiz einer Produktion der der Verblüffung oder der einer künstlerischen Bereicherung ist. Auch begegnen künstlerische Mittel oft genug als Mittel in bloßen Handlungszusammenhängen, z. B. in der Plakatkunst und in anderen Formen geschäftlicher und politischer Werbung. Von solchen Funktionen künstlerischer Mittel bleibt das, was wir ein Kunstwerk nennen, wohl unterschieden. Auch wenn etwa die Götterstatue, das Chorlied, die attische Tragödie und Komödie innerhalb von Kultordnungen begegnen, und überhaupt einjedes >Werk< einem Lebenszusammenhang ursprünglich zugehört, der inzwischen vergangen ist, so meint doch die Lehre von der ästhetischen Nicht-Unterscheidung, daß solcher vergangener Bezug in dem Werk selber sozusagen einbehalten ist. Auch in seinem Ursprung hatte es ja seine> Welt< in sich versammelt und war deshalb als es selbst, als die Statue des Phidias, die Tragödie des Aischylos, die Motette Bachs >gemeint<. Die hermeneutische Konstitution der Werkeinheit des Kunstwerks ist gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen des Kunstbetriebes invariant. Das gilt auch noch gegenüber der Emporsteigerung der Kunst zur Bildungsreligion, die ftir das bürgerliche Zeitalter bezeichnend wurde. Auch eine marxistische Literaturbetrachtung muß solche Invarianz beherzigen, wie etwa Lucien Goldmann mit Recht betont hat l7i _ Die Kunst ist nicht einfach ein Werkzeug gesellschaftspolitischen Wollenswenn sie wirklich Kunst ist und nicht, wenn sie als Werkzeug gewollt ist, dokumentiert sie eine gesellschaftliche Wirklichkeit. Um über den Begriff des Ästhetischen, der der bürgerlichen Bildungsrcligion entspricht, hinauszukommen und nicht um klassizistische Ideale zu verteidigen, habe ich in meinen Untersuchungen >klassische< Begriffe wie m L. Goldmann, Dialektische Untersuchungen, 1968.
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>Mimesis< oder >Repräsentation< ins Spiel gebracht. Man hat das als eine Art Rückfall in einen von der modernen Kunstauffassung endgültig überholten Platonismus verstanden. Auch das scheint mir nicht so einfach. Die Lehre von der Wiedererkennung, auf der alle mimetische Darstellung beruht, stellt nur einen ersten Wink dar, den Seinsanspruch künstlerischer Darstellung richtig zu fassen. Derselbe Aristotclcs, der aus der Freude der Erkenntnis die Kunst der Mimesis ableitet, sicht doch den Dichter gegenüber dem Historiker dadurch ausgezeichnet, daß er die Dinge nicht so darstelle, wie sie geschehen seien, sondern wie sie geschehen könnten. Er spricht damit der Poesie eine Allgemeinheit zu, die nichts mit der substantialistischen Metaphysik einer klassizistischen Nachahmungsästhetik zu tun hat. Es ist vielmehr die Dimension des Möglichen - und damit auch die der Kritik an der Wirklichkeit (von der uns wahrlich die antike Komödie einen kräftigen Geschmack gibt), in dic die aristotelische Begriffsbildung hineinweist und deren hermeneutische Legitimität mir unangefochten scheint - wenn sich auch noch so viel klassizistische Nachahmungstheorie an Aristoteles angeschlossen hat. Doch ich breche ab. Das Gespräch, das im Gange ist, entzieht sich der Festlegung. Ein schlechter Hermeneutiker, der sich einbildet, er könnte oder er müßte das letzte Wort behalten.
31. Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer
* 11. 2. 1900 (abgeschlossen 1975)
Als ich im Jahre 1918 mit dem Reifezeugnis das Gymnasium zum Heiligen Geist in Breslau verließ und, noch im letzten Jahre des Ersten Weltkrieges, mich an der Breslauer Universität umzusehen begann, war es keineswegs entschieden, daß ich im akademischen fach der Philosophie meinen Weg gehen würde. Mein Vater war Naturforscher und allem Bücherwissen abhold, obwohl er seinen Horaz trefflich gelernt hatte. Er hatte daher während meiner Kindheit auf mannigfache Weise versucht, mich ftif die N aturwissenschaftcn zu interessieren, und war über seinen Mißerfolg recht enttäuscht. Denn daß ich es mit den }Schwätzprofessorcll< halten würde, waI vom Beginn meines Studiums an klar. Er ließ mich zwar gewähren, aber war zeit seines Lebens recht unzufrieden mit mir. Studium damals war wie der Beginn einer langen Odyssee. Vieles zog einen an, von vielem kostete man etwas, und ,venn am Ende nicht meine literaturwissenschaftlichen, historischen und kunstgeschichtlichen Neigungen die Oberhand behielten, sondern das philosophische Interesse, so war das weniger eine Abkehr von dem einen und eine Hinwendung zu dem anderen, als der Weg eines langsamen Eindringens in disziplinierte Arbeit überhaupt. In der Verwirrung, die der Erste Weltkrieg und sein Ende über die deutsche Szene gebracht hatte, war die fraglose Einformung in eine fortbestehende Tradition nicht mehr möglich. So wurde allein schon die Ratlosigkeit ein Antrieb zu philosophischen Fragen. Auch im Bereich der Philosophie war freilich ein bloßes Fortsetzen dessen, was die ältere Generation geschaffen hatte, rur uns Jüngere nicht mehr angängig. Der Neukantianismus, der bis dahin eine echte, wenn auch umstrittene Weltgeltung besaß, war in den Materialschlachten des Stellungskrieges ebenso zugrunde gegangen wie das stolze Ku1turbewußtsein des liberalen Zeitalters und sein auf Wissenschaft gegründeter Fortschrittsglaube. Wir, die wir damals jung waren, suchten eine neue Orientierung in einer
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desorientierten Welt. Dabei V,laren wir praktisch auf die innerdeutsche Szene beschränkt, in der Verbitterung und Neuerungssucht, Armut und Hoffnungslosigkeit und der ungebrochene Lebensv,rille der Jugend miteinander im Streite lagen. Ihr kultureller Ausdruck war eindeutig. Ocr Expressionismus in Leben und Kunst wurde die beherrschende Macht. Während die Naturwissenschaften ihren Aufschwung fortsetzten, der insbesondere in der Gestalt der Einsteinsehen Relativitätstheorie von sich reden machte, war es in den weltanschaulich bedingten Gebieten des Schrifttums und der Wissenschaft eine wahre Katastrophenstimmung, die um sich griff und den Bruch mit den alten Traditionen betrieb. Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus (so hieß ein damals oft zitiertes Buch von Paul Ernst) war nur die eine, die akademische Seite des neuen Zeitgeftihls. Die andere weit umfassendere fand ihren Ausdruck in dem sensationellen Erfolg von Osv.;ald Spenglers ))Untergang des Abendlandes«, dieser Romanze aus Wissenschaft und welthistorischer Phantasie, »bewundert viel und viel gescholten« -und am Ende ebensosehr der Niederschlag einer v.relthistorischcn Stimmung \vie ein eigener Antrieb zur InfragesteJ1ung des neuzeitlichen Fortschrittsglaubens und seiner stolzen Leistungsidealc. In dieser Lage tat auf mich eine ganz zweitrangige Schrift eine geradezu revolutionäre Wirkung. Es war das Buch von Theodor Lessing (der in späterer, noch mehr verwirrter Zeit einem Attentat von nationalistischer Seite zum Opfer fallen sollte) ))Europa und Asien«, das das gesamte europäische Leistungsdenken von der Weisheit des Ostens her in Frage stellte. Erstmals relativierte sich mir damals der allumfassende Horizont, in den ich durch Herkunft, Erziehung, Schule und mich umgehende Welt hineingewachsen war. So etwas wie Denken begann. Bedeutende Schriftsteller stellten eine gewisse erste Anleitung dar. Ich erinnere mich des gewaltigen Eindrucks, den Thomas Manns »)Betrachtungen eines Unpolitischen({ schon auf den Primaner gemacht hatten. Die sch\värmerische Entgegensetzung von Kunst und Leben, die aus Tonio Kröger sprach, rührte mich an und der schwermütige Klang in Hermann Hesses frühen Romanen bezauberte mich. Eine erste Einftihrung in die Kunst des begrifflichen Denkens empfing ich von Richard Hönigswald, dessen wohlziselierte Dialektik mit Eleganz, wenn auch nicht ohne eine gewisse Eintönigkeit die transzendental-idealistische Position des Neukantianismus gegen allen Psychologismus verteidigte. Seine Vorlesung über »)Grundfragen der Erkenntnistheorie« stenographierte ich mit und übertrug sie dann. Die beiden Hefte überließ ich inzwischen dem von Hans Wagner ins Leben gerufenen Hönigswald-Archiv. Sie waren eine gute Einftihrung in die Transzendentalphilosophie. So kam ich schon mit einer gewissen Vorbereitung im Jahre 1919 nach Marburg. Dort sah ich mich bald mit neuen Studienerfahrungen konfrontiert. Denn anders als die Universitäten in den Großstädten ftihrten die >kleinen( Univer-
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sitäten damals noch ein wirkliches akademisches Leben, ein fLeben in Ideen\ in Humboldts Sinne, und in der philosophischen Fakultät gab es überall, in jedem Fach, bei jedem Professor, einen )Kreis<, so daß man in vielseitige Interessen hineingezogen wurde. Damals begann in Marburg die Kritik an der historischen Theologie, die im Anschluß an Barths Römerbrief-Kom_ mentar durch die sogenannte dialektische Theologie vorgetragen wurde. Damals wurde mehr und mehr unter den jungen Leuten am Mcthodologismus der neukantianischen Schulen Kritik geübt und demgegenüber Husserls phänomenologische Deskriptionskunst gepriesen. Vor allem aber durchdrang die Lebensphilosophie, hinter der das europäische Ereignis Friedrich Nietzsehe stand, unser ganzes Weltgeftihl, und in Verbindung damit beschäftigte das Problem des historischen Relativismus, wie es im Hinblick auf Wilhelm Dilthey und Ernst Troeltsch diskutiert wurde, die jungen Gemüter. Dazu kam im besonderen, daß damals der Kreis um den Dichter Stefan George in die akademische Welt einzudringen begann. Es waren vor allem die höchst wirksamen und faszinierenden Bücher Friedrich Gundolfs, die eine neue kunstvolle Sinnlichkeit in den wissenschaftlichen Umgang mit Dichtung brachten. Überhaupt war alles, was aus diesem Kreise kam, Gundolfs Bücher so gut wie das Nietzsche-Buch VOn Ernst Bertraln, Wolters' pamphletkundige Rhetorik, Salins kristallinische Feinheit und mit besonderer Ausdrücklichkeit der deklamatorische Angriff Erich von Kahlers auf Max Webers berühmte Rede über » Wissenschaft als Beruf«(, eine einzige große Provokation. Es waren Stimmen einer entschlossenen Kulturkritik. Aber anders als ähnliche Klänge von anderen Seiten, die angesichts der typischen Unbefriedigung studentischer Anfänger, wie ich einer war, ein gewisses Gehör fanden, hatte man hier das GefUhl, daß etwas daran war. Eine Macht stand hinter den oft monotonen Deklamationen. Daß ein Dichter wie George mit dem magischen Klang seiner Verse und der Wucht seiner Person eine so gewaltige Formungswirkung auf Menschen ausübte, blieb dem nachdenklichen Gemüt eine bleibende Frage und stellte ftir das Begriffsspiel des philosophischen Studiums ein nie ganz vergessenes Korrektiv dar. Überhaupt konnte ich mich dem nicht verschließen, daß die Erfahrung der Kunst die Philosophie etwas angeht. Daß die Kunst das wahre Organon der Philosophie sei, wenn nicht gar ihr überlegener Widerpart, das war eine Wahrheit, die der Philosophie der deutschen Romantik bis ans Ende der idealistischen Ära ihre umfassende Aufgabe gestellt hatte. Die Universitätsphilosophie der nachhegelschen Epoche hatte die Verkennung dieser Wahrheit mit ihrer eigenen Verödung zu bezahlen. Das galt und gilt rur den Neukantianismus so gut wie für den neuen Positivismus bis heute. Diese Wahrheit wiederzugewinnen, wies uns unser geschichtliches Erbe an.
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Gewiß war es keine befriedigende Auskunft, sich gegen die Zweifel des historischen Relativismus, die den begrifflichen Wahrheits anspruch der Philosophie grundsätzlich in Frage stellten, auf die Wahrheit der Kunst zu berufen. Dies Zeugnis ist einerseits zu stark. Denn niemand wird den Fortschrittsglauben der Wissenschaft überhaupt je auf die Gipfel der Kunst ausdehnen wollen und etwa in Shakespeare einen Fortschritt über Sophokles oder in Michelangelo einen Fortschritt über Phidias sehen. Andererseits ist das Zeugnis der Kunst aber auch zu schwach, sofern das Kunstwerk die Wahrheit, die es verkörpert, dem Begriff vorenthält, In jedem Falle war die Bildungsgestalt des ästhetischen Bewußtseins ebensosehr im Verblassen wie die des historischen Bewußtseins und seines Denkens in )Weltanschauungen<. Das hieß aber nicht, daß die Kunst, auch nicht, daß die Begegnung mit geschichtlichen Denktraditionen ihre Faszination verlor. Im Gegenteil, die Aussage der Kunst wie die der großen Philosophen erhob nun erst recht einen verwirrenden, unabweisbaren Anspruch auf Wahrheit, der sich durch keine >Problemgeschichte< neutralisieren und unter die Gesetze strenger Wissenschaftlichkeit und methodischen Fortschritts beugen ließ. Unter dem Einfluß einer neuen Kierkegaard-Rezeption nannte sich das damals in Deutschland >existenziell<. Es ging um Wahrheit, die nicht so sehr in allgemeinen Aussagen oder Erkenntnissen als in der Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens und in der Unvertretbarkeit der eigenen Existenz ihren Ausweis haben sollte. Dostojewskij vor allem schien uns davon zu wissen. Die roten Piper-Bändc der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreibtisch. Die Briefe van Goghs, Kierkegaards )Entweder-Oder<, das er Hegd entgegenhielt, zogen uns an, und hinter all den Kühnheiten und Gewagtheiten unseres existenziellen Engagements stand - eine noch kaum sichtbare Bedrohung des romantischen Traditionalismus unserer Bildungskultur - die Riesengestalt Frieclrich Nietzsches mit seiner ekstatischen Kritik an allen, aber auch an allen Illusionen des Selbstbewußtseins, Wo war der Denker, dessen philosophische Kraft diesen Anstößen gewachsen war? Auch in der Marburger Schule brach sich das neue Zeitgeftihl Bahn. Der musische Enthusiasmus, mit dem der scharfe Methodologe der Marburger Schule, Paul Natorp, auf seine alten Tage in die mystische Unsagbarkcit des Urkonkreten einzudringen suchte und außer Plato und Dostojewskij, Beethoven und Rabindranath Tagore, die mystische Tradition von Plotin und Meister Eckhart- bis zu den Quäkern - beschwor, hinterließ seine Eindrükke, und nicht minder die wilde Dämonie, mit der Max Scheler - als Vortragsgast in Marburg - seine durchdringende phänomenologische Begabung demonstrierte, die er auf immer neuen, unerwarteten Feldern bewies. Dazu kam der kühle Scharfsinn, mit dem Nicolai Hartmann seine eigene idealistische Vergangenheit durch kritische Argumentation abzustreifen suchte, ein Denker und Lehrer von imponierender Beharrlichkeit. Als ich
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meine Plato-Dissertation schrieb und 1922 promoviert wurde, viel zujung, stand ich vorwiegend unter dem Einfluß Nicolai Hartmanns, der zu Natorps Systematik idealistischen Stils in Opposition getreten war. Was in uns lebte, war die Erwartung einer philosophischen Neuorientierung, die sich insbesondere an das dunkle Zauberwort ,Phänomenologie, knüpfte. Aber nachdem selbst Husserl, der mit all seinem analytischen Genie und seiner unermüdlichen deskriptiven Geduld stets aufletzte Evidenz drang, keine bessere philosophische Anlehnung gefunden hatte als die beim transzendentalen Idealismus neukantischer Prägung - von woher sollte Denkhilfe kommen? Heidegger brachte sie. Andere begriffen von ihm aus, was Marx, andere, was Freud, wir alle am Ende, was Nietzsehe war. Mir selbst ging an Heidegger auf, daß wir jetzt erst das Philosophieren der Griechen )wiederholen< konnten, jetzt, nachdem die von Hegel geschriebene, von der Problemgeschichte des Neukantianismus ausgeschriebene Geschichte der Philosophie ihr fimdatnentutn inconcussum, das Selbst bewußtsein, eingebüßt hatte. Von nun an hatte ich eine Ahnung von dem, was ich wollte - freilich ging es nicht um einen neuen, allumfassenden System gedanken. Kierkegaards Hegel-Kritik war nicht vergessen. Einen ersten Niederschlag fand die neue Reduktion der Philosophie auf tragende Grunderfahrungen der menschlichen Existenz, die es jenseits allen Historismus aufzuklären galt, in meinem Aufsatz in der Festschrift zu Paul Natorps 70. Geburtstag ,Zur Systemidee in der Philosophie, (1924). Eine Art Dokument meiner Unreife, war es auch ein Zeugnis meines neuen Engagements und der Inspiration, die mir an Heidegger geworden war. Gelegentlich hat man diesen Aufsatz als eine Antizipation der heideggerschen Wendung gegen den transzendentalen Idealismus gedeutet - im historischen Sinne ganz zu unrecht. Das Körnchen Wahrheit darin war höchstens, daß die paar Monate, die ich im Sommer 1923 in Freiburg bei Heidegger gewesen war, kaum zu solcher )Inspiration( geflihrt hätten, wenn nicht schon allerhand daflir bereitlag. Jedenfalls war es die Anlehnung an Heidegger, die mir gegenüber den Marburger Lehrern, Natorps umfassenden Systemkonstruktionen und dem naiven Objektivismus der Harttnannschen Kategorialforschung, Abstand zu gewinnen erlaubte. Aber der Aufsatz war recht vorlautes Zeug. Ich habe erst, als ich mehr wußte, schweigen gelernt. Bei meiner Habilitation 1928 hatte ich außer dem genannten Aufsatz nur noch einen ebenso vorlauten Logos-Aufsatz von 1923 über Hartmanns ,Metaphysik der Erkenntnis< als philosophische Publikation vorzulegen. Allerdings hatte ich inzwischen klassische Philologie studiert, und meine Aufnahmearbeit in das philologische Seminar Paul Friedländers >Der aristotelische Protreptikos und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik, habe ich später zu einem Aufsatz ausgebaut, den Richard Heinze ftir den
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,Hermes< angenommen hatte - eine Jacger-Kritik, deren später Erfolg mir schließlicli im Kreise der Philologen Anerkennung verschaffte - und das, obwohl ich mich als Schüler Heideggers bekannte. Was war es, was mich und andere an Heidegger so anzog? Natürlich wußte ich das damals nicht zu sagen. Heute stellt es sich mir so dar: Hier wurden die Gedankenbildungen der philosophischen Tradition lebendig, weil sie als Antworten auf wirkliche Fragen verstanden wurden. Die Aufdeckung ihrer Motivationsgeschichte verlieh diesen Fragen etwas Unaus\veichlichcs. Verstandene Fragen können nicht einfach zur Kenntnis genommen werden. Sie werden zu eigenen Fragen. Es war zwar auch der Anspruch der neukantianischen Problemgeschichte gewesen, in den Problemen die eigenen Fragen wiederzuerkennen. Aber der Anspruch dieser überzeitlichen, >ewigen< Probleme, sich in immer neuen systematischen Zusammenhängen zu wiederholen, war unausgewiesen, und in Wahrheit waren diese }identischen< Probleme mit voller Naivität aus dem Baumaterial der idealistischen und neukantianischen Philosophie entwendet. Gegen solche angebliche Überzeitlichkeit war der Einwand der historisch-relativistischen Skepsis überzeugend und ließ sich nicht abwehren. Erst als ich an Heidegger lernte, das historische Denken in die Wiedergev·.rinnung der Fragestellungen der Tradition einzubringen, machte das die alten Fragen so verständlich und lebendig, daß sie zu den eigenen wurden. Was ich damit beschreibe, ist die hermeneutische Grunderfahrung, wie ich das heute nennen würde. Vor allem schlug uns die Intensität in ihren Bann, mit der Heidegger die griechische Philosophie beschwor. Daß sie mehr ein Gegenbild als ein Vorbild seines eigenen Fragens sein sollte, wurde uns kaum bewußt. Heideggers Destruktion der Metaphysik galt jedoch nicht nur dem Bewußtseinsidealismus der Neuzeit, sondern ebenso seinen Ursprüngen in der griechischen Metaphysik. Seine radikale Kritik stellte die Christlichkeit der Theologie wie die Wissenschaftlichkeit der Philosophie in Frage. Gegenüber der Blutlosigkeit akademischen Philosophierens, das sich in einer entfremdeten kantischen oder hegelschen Sprache bewegte und immer aufs neue den transzendentalen Idealismus zu vol1enden oder zu überwinden strebte, erschienen Plato und Aristotcles mit einem Male als Eideshelfer des Philosophierens ftir jeden, dem die System spiele der akademischen Philosophie unglaubwürdig geworden waren - unglaubwürdig auch in der Form jenes offenen Systems der Probleme, Kategorien, Werte, auf das hin phänomenologische Wesenforschung oder problemgeschichtlich begründete Kategorialanalyse sich verstanden. An den Griechen ließ es sich lernen, daß das Denken der Philosophie nicht dem systematischen Leitgedanken einer Letztbegründung in einem obersten Grundsatz folgen muß, um Rechenschaft geben zu können, sondern immer schon unter einer Leitung steht: es
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hat im Weiterdenken ursprünglicher Welterfahrung die Begriffs- und Anschauungskraft der Sprache, in der wir leben, zu Ende zu denken. Das zu lehren, schien mir das Geheimnis des platonischen Dialogs. Unter den deutschen Platoforschern war es damals vor al1em Julius Stenzel, dessen Arbeiten in ähnliche Richtung wiesen, zumal, da er angesichts der Aporien des Selbstbewußtseins, in die sich der Idealismus und seine Kritiker in gleicher Weise verstrickt sahen, an den Griechen die )Abdämpfung der Subjektivität< beobachtete. Mir erschien dies gleichfalls, und selbst schon, bevor Heidcggcr mich zu belehren begann, als die rätselhafte Überlegenheit der Griechen, daß sie aus se1bstvergessener Hingabe an das Denken sich der Bewegung des Gedankens in maßloser Unschuld überließen. Schon früh hatte ich - aus dem gleichen Grunde - an Hegel Interesse gefaßt, soweit ich ihn verstand, und gerade weil ich ihn nur so weit verstand. Vor al1em seine >Logik< hatte rur mich wirklich et\:vas von griechischer Unschuld, und bot mir - ineins mit den genialen, nur leider miserabel edierten Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie - die Brücke zu einem nichthistoristischen, sondern wahrhaft spekulativen Verständnis des platonischen und aristotelischen Denkens. Das Wichtigste aber lernte ich von Heidegger. Da \"lar vor allem das erste Seminar, an dem ich teilnahm. 1923, noch in Freiburg, über das sechste Buch der Nikomachischen Ethik. Damals wurde ftir mich die ,PhronesiS<, die Arete der )praktischen Vernunft<, eines allo eidos gnoseos, einer )anderen Art von Einsicht<, ein wahres Zauberwort. Zwar forderte es einen unmittc1bar heraus, als Heidegger eines Tages die Abgrenzung von Technc und Phronesis analysierte und bei dem Satz: phroneseos de ouk esti lahel (in der Vernünftigkeit gibt es keine Vcrgeßlichkeit) erklärte: »Das ist das Gewissen. « Aber diese pädagogisch spontane Übertreibung visierte den entscheidenden Punkt an, von dem aus auch Heidegger selber später in >Sein und Zeit< die neue Stellung der Seins frage vorbereitet hat. Man denke an Wendungen wie >Gewissen-Habenwollenc Mir war damals keineswegs klar, daß man Heideggers Bemerkung noch in ganz anderer Weise verstehen konnte, nämlich im Sinne einer geheimen Kritik an den Griechen. Dann hieß dieses Wort: nur als eine von keinem Vergessen bedrohte Wissens-Gewißheit vermochte das griechische Denken das ursprünglich menschliche Phänomen des Gewissens zu denken. - Mir war durch Heideggers provokative Bemerkung jedenfalls ein Weg gezeigt worden, fremde Fragen zu eigenen werden zu lassen und sich zugleich die Vorgreiflichkcit von Begriffen bewußt zu machen. Der zweite wesentliche Punkt der Belehrung war, daß Heidegger mir bei Aristoteles (in einigen privaten Zusammenkünften) am Text demonstrierte, 1
[Vgl. IPraktisches Wissen(, Ges. Werke Bd. 5, S. 230-2481.
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wie haltlos der angebliche )Realismus( des Aristote1cs war und daß Aristote!es auf dem gleichen Boden des Logos stand, den Plato mit seiner Sokratesnachfolge bereitet hatte, Jahre später hat uns Heidegger- im Anschluß an ein von mir gehaltenes Seminar-Referat - auseinandergesetzt, daß dieser Plato und Aristotelcs gemeinsame neue Boden des dialektischen Philosophierens nicht nur die Kategorienlehre des Aristoteles trägt, sondern auch seine Begriffe von Dynamis und Energeia aufzuschlüsseln vermöge (was Walter Bröcker in seinem Aristoteles-Buch später durchgeführt hat), So sah meine erstc praktische Einftihrung in die Universalität der Hermeneutik aus, Daß es das war, wurde mir freilich nicht sogleich klar. Erst langsam wuchs die Einsicht, daß der uns auf den Leib gerückte Aristotcles, dessen begriffliche Präzision auf ungeahnte Weise mit Anschauung, Erfahrung, Wirklichkeits nähe bis an den Rand geftillt war, nicht einfach das neue Denken selber aussprach. Heidegger folgte vielmehr dem Prinzip des platonischen )Sophistes(, den Gegner stärker zu machen, so gut, daß er uns fast wie ein Aristoteles redit'ivu5 erschien, der durch Kraft der Anschauung und Kühnheit eigener originaler Begriffsbildung alles in seinen Bann schlug. Immerhin war diese Identifikation, zu der Heideggers Interpretationen uns verführten, für mich eine gewaltige Herausforderung. Ich wurde dessen inne, daß meine bisherigen Studien, die mich durch viele Gebiete, insbesondere Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte geführt hatten, selbst auf dem Felde der antiken Philosophie nichts taugten, auf dem ich meine Dissertation geschrieben hatte. So begann ich ein neues planmäßiges Studium der klassischen Philologie (unter der Leitung Paul Friedländers), bei dem mich neben den griechischen Philosophen vor allem der durch den damals neu zugänglich gewordenen Hölderlin angestrahlte Pindar anzog - und die Rhetorik, deren zur Philosophie komplementäre Funktion mir damals aufging und die mich bis in die Ausarbeitung meiner philosophischen Hermeneutik begleitet hat. Alles in allem verdanke ich diesen Studien, daß ich mir die kraftvolle Identifikation, zu der einen Heideggers Denken einlud, meinerseits immer schwerer machte. Im Innewerden der Andersheit der Griechen gleichwohl zu ihnen zu stehen, in ihrem Anderssein Wahrheiten zu entdecken, die vielleicht verschüttet, vielleicht aber heute noch in unbewältigter Weise wirksam waren, wurde das mir mehr oder minder bewußte Leitmotiv aller meiner Studien. Denn in Heideggers Deutung der Griechen lag ein Problem, das mich insbesondere nach )Sein und Zeit< nicht mehr losließ. Gewiß war es für Heideggers Absicht damals möglich, dem existenzialen Begriff von )Dasein< die pure Vorhandenheit als Gegenbegriff und äußerstes Derivat zuzuordnen, ohne Z\vischen dem griechischen Seins verständnis und dem )Gegenstand der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung( zu differenzieren. Aber es lag darin eine Provokation, und ich folgte ihr so
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weit, daß ich mich aufHeidcggers Anregung hin in die aristotelische Phvsik und die Entstehung der modernen Wissenschaft, vor allem in Galilei, ~er tiefte. Teile eines unvollendeten Physik-Kommentars werden vielleicht noch einmal pub1iziert werden. Die hermeneutische Situation, von der ich ausging, war durch das Scheitern des idealistisch-romantischen Restaurationsversuchs gegeben. Der Anspruch,in die Einheit der philosophischen Wissenschaften auch die empirischen Wissenschaften der Neuzeit zu integrieren, der in dem Begriff einer lspekulativen Physik< (im Titel einer Zeitschrift!) seinen Ausdruck fand, war unerftillbar. Es konnte nicht um eine Wiederholung dieses Versuchs gehen. Aber die Gründe dieser Unmöglichkeit klarer zu erkennen, lllußte sowohl dem Wissenschaftsverständnis der Neuzeit ein schärferes Profil geben als auch dem gt;iechischen Begriff von >Wissenschaft<, den der deutsche Idea1ismus noch einmal zu erneuern unternommen hatte. Daß Kants >Kritik der Urteilskraft<, insbesondere die der lteleologischen Urteilskraft<, in diesem Problcmzusammenhang bedeutsam wurde, versteht sich von selbst, und manche meiner Schüler haben später von da aus weitergearbeitet. für die griechische Wissenschaftsgeschichte gilt ja offenbar anderes als für die Geschichte der modernen Wissenschaft. Damals ist in platonischer Zeit der Versuch gelungen, den Weg der Aufklärung, der Forschung und der Welterklärung in die Traditionswelt griechischer Religion und griechischer Lebensanschauung zurückzubinden. Plato und Aristoteles, und nicht Demokrit, haben die Wissenschafts geschichte des späteren Altertums beherrscht, und diese war keineswegs die Geschichte eines wissenschaftlichen Niedergangs. Die hellenistische Fachwissenschaft, wie man das heute nennt, hat sich nicht gegen die >Philosophie< und ihre Voreingenommenheit wehren müssen, sondern hat eben durch die griechische Philosophie, durch den ,TimaioS< und die aristotelische Physik, ihre Freigabe erfahren, wie ich 1973 in einer Arbeit unter dem Titel >Gibt es die Materie?< zu zeigen versucht habe. 2 In Wahrheit ist auch noch der Gegenentwurf der Galilci-Newtonschen Physik von dort her bestimmt. Eine Studie über )Antike Atomtheorie< (1934) war das einzige Stück aus diesem Studienkreis, das ich damals publiziert habe. 3 Sie sollte die kindliche Voreingenommenheit korrigieren, die die moderne Wissenschaft für Demokrir, den großen Unbekannten, besitzt. Der Größe Demokrits geschieht damit nicht der geringste Abbruch. Aber im Zentrum meiner Studien blieb Plato. Mein erstes Plato-Buch >Platos dialektische Ethik<, aus meiner Habilitationsschrift hervorgegangen, war eigentlich ein steckengebliebenes Aristoteles-Buch. Mein Ausgangs2
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Uetzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 263-279]. Uetzt in Gcs. Werke Bd. 6, S. 201-217].
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punkt war die Dublette der beiden aristotelischen Abhandlungen über die ,Lust< (Eth. Nie. H 10--13 und K 1-5). Unter genetischen Gesichtspunkten kaum lösbar, sollte das Problem auf phänomenologische Weise gefördert \"rerclen, das heißt, ich wollte dieses Nebeneinander, wenn auch nicht historisch-genetisch >erklären<, so doch, womöglich, in seiner Berechtigung erweisen. Das konnte nicht geschehen, ohne beide Abhandlungen auf den platonischen ,Philebos< zu beziehen, und in dieser Absicht ging ich an eine phänomenologische Interpretation dieses Dialogs. Ich war damals noch nicht imstande, die universale Bedeutung des ~Philcbos( rür die platonische Zahlenlehre und überhaupt fur das Problem des Verhältnisses von Idee und >Wirklichkeit< zu würdigen. 4 Mir lag zweierlei am Herzen, beides unter dem gleichen methodischen Vorzeichen: die Funktion der platonischen Dialektik von der Phänomenologie des Dialogs aus und die Lehre von der Lust und ihren Erscheinungsformen durch eine phänomenologische Analyse der wirklichen Lebensphänomene aufzuklären. Die phänomenologische Deskriptionskunst, die ich an Husserl (in Freiburg 1923) und an Heidegger zu lernen versucht hatte, sollte einer )an den Sachen sclbsti orientierten Interpretation antiker Texte zugute kommen. Das ist ganz leidlich gelungen und fand Anerkennung, freilich nicht bei dem bloßen Historiker, derja immerin dem Wahn lebt, es sei trivial zu verstehen, was dasteht. Es gelte zu erforschen, was dahinter ist. So konnte Hans Leisegang in seinem Bericht über die Platoforschung der Gegenwart (Archiv rur Geschichte der Philosophie 1932) meinen Beitrag verächtlich beiseite schieben, indem er aus meinem eigenen Vorwort zu meiner Arbeit zitierte: »Ihr Verhältnis zur historischen Kritik ist schon dann ein positives, wenn diese - in der Meinung, keine Förderung durch sie zu finden - das, was sie sagt, ftir selbseverständlich befindet. " In Wahrheit war ich inzwischen ein Stück klassischer Philologe geworden, schloß dieses Studium mit dem Staatsexamen ab (1927) und habilitierte mich bald darauf (1928/29). Worum es sich hier handelt, ist ein methodischer Gegensatz, den ich später in meinen hermeneutischen Analysen zu klären unternahm - freilich bei a11 denen ohne Erfolg, die zu Reflexionsarbeir nicht bereit sind, sondern nur das )positive< Forschung nennen, wobei etwas Neues herauskommt (auch \venn es ebenso unverstanden bleibt wie das Alte). Immerhin war der Start gelungen. Als Lehrer der Philosophie lernte ich jedes Semester Neues, damals noch unter den kargen Bedingungen eines Stipendiaten oder Lehrbeauftragten, aber mein lehren \\'ar dafür immerhin den eigenen Forschungsplänen ganz angepaßt. So \'lar es vor allem Plaro, in 4 [Vgl. inzwischen meine Akademie-Abhandlung >Idee und Wirklichkeit in Platos Timaios(, Ges. Werke Bd. 6, S. 242-270].
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den ich tiefer eindrang, wobei mich insbesondere die Zusammenarbeit mit). Klein in Richtung auf das Mathematische und Zahlentheoretische fOrderte. Kleins klassische Abhandlung >Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra. (1936) ist damals entstanden. Man wird nicht gerade sagen können, daß diese Studien, die sich über ein Jahrzehnt hinzogen, das Schauerspicl der Zeitereignisse bedeutungsvoll spiegeln. Höchstens indirekt, sofern ich nach 1933 eine größere Studie über sophistische und platonische Staatslehre vorsichtshalber abbrach, aus der ich nur zwei Teilaspekte publizierte: ,Plato und die Dichter. (1934) und )Platos Staat der Erziehung. (1942). Beides hatte seine Geschichte. Die erste kleine Schrift entwickelte die noch heute von mir für allein richtig gehaltene Deutung, daß der platonische Idealstaat eine bewußte Utopie darstellt, die mehr mit Swift als mit ,politischer Wissenschaft< zu tun hat. s Die Veröffentlichung dokumentierte zugleich meine Stellung zum Nationalsozialismus durch das vorangestellte Motto: »Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht einig.« Das war zwar wohlgetarnt, als ein Goethezitat, das mit Goethes Charakterisierung der platonischen Schriften fortfuhr. Aber ,"venn man sich schon nicht zum Märtyrer machen oder freiwillig in die Emigration gehen wollte, stellte ein solches Motto für den verständigen Leser im Zeitalter der )Gleichschaltung< immerhin eine Betonung der eigenen Identität dar - ähnlich wie Karl Reinhardts bekannte Unterzeichnung der Vorrede seines Sophokles-Buches: »Im Januar und September 1933«. Daß man die politisch relevanten Themen im übrigen fortan eifrig vermied (und überhaupt die Publikation außerhalb von Fachzeitschriften), entsprach dem gleichen Gesetz der Selbsterhaltung. Es bleibt bis zum heutigen Tage wahr, daß ein Staat, der in philosophischen Fragen von Staats wegen eine )Lehre~ als die >richtige< auszeichnet, wissen muß, daß seine besten Leute in andere Felder ausweichen, wo sie nicht von Politikern - und das heißt von Laien zensuriert werden. Ob schwarz, ob rot, daran ändert kein Geschrei etwas.So arbeitete ich unbemerkt weiter und fand begabte Schüler, von denen ich hier nur Walter Sehulz, Volkmann-Schluck und Arthur Henkel nenne. Zum Glück milderte damals die nationalsozialistische Politik - in der Vorbereitung des Krieges im Osten - den Druck auf die Universitäten, und meine akademischen Chancen, die jahrelang gleich Null waren, besserten sich. Ich erhielt - nach zehnjähriger Dozententätigkeit - endlich den längst beantragten ProfcssortiteL Ein Lehrstuhl rur klassische Philologie in Halle winkte mir, und schließlich erhielt ich 1938 eine Berufung auf das philosophische Ordinariat in Leipzig, das mich vor neue Aufgaben stellte. 5 rDies habe ich inzwischen "vieder aufgenommen in )Platos Denken in Utopiew, Gymnasium 90 (1983), S. 434-455: Ges. Werke Bd. 7, s. 270-289J.
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Das zweite Stück >Platos Staat der Erziehung( war auch eine Art Alibi. Es \var schon während des Krieges. Ein Professor der technischen Hochschule Hannover namens Osenberg hatte Hitler von der kriegsentscheidenden Rolle der Wissenschaft überzeugt und dadurch Vollmachten zur Schonung und Pflege der Naturwissenschaften und insbesondere ihres Nachwuchses erwirkt. Diese sogenannte Osenberg-Aktion hat vielen jungen Forschern das Leben gerettet. Sie erregte natürlich den Neid der Geisteswissenschaften, bis schließlich ein findiger PG auf die schöne Idee einer ,Parallelaktion, kam, die Musils Erfindung Ehre machte. Es war >der Einsatz der Gcistesv.lissenschaften fur den Krieg<. Daß es sich in Wahrheit um den Einsatz des Krieges für die Gcistes\vissenschaftcn - und um nichts anderes - handelte, war nicht zu verkennen. Um nun einer Mitarbeit im philosophischen Sektor zu entgehen, wo so schöne Themen wie >Die Juden und die Philosophie< oder }Das Deutsche in der Philosophie< auftauchten, wanderte ich in den Sektor der klassischen Philologie aus. Dort ging alles manierlich zu, und unter dem Schutz von Helmut Berve entstand ein interessantes Sammelwerk }Das Erbe der Antike<, das nach dem Kriege eine unveränderte zweite Auflage finden konnte. Mein Beitrag, ,Platos Staat der Erziehung<, führte die Studie über )Plato und die Dichter( weiter und wies immerhin auf die Richtung meiner neueren Studien hin, wenn seine letzten Worte )die Zahl und das Sein< waren. Eine einzige Monographie habe ich in der ganzen Zeit des Dritten Reiches veröffentlicht, ,Volk und Geschichte im Denken Hcrders< (1942). In dieser Studie arbeitete ich vor allem die Rolle des Kraftbegriffs in Herders Geschichtsdenken heraus. Sie vermied jede Aktualität. Trotzdem erregte sie Anstoß, vor allem bei denen, die sich damals über ähnliche Themen hatten vernehmen lassen und geglaubt hauen, etv.ras mehr >Gleichschaltung< nicht vermeiden zu können. Mir war diese Arbeit aus einem bestimmten Grunde lieb. Ich hatte dieses Thema erstmals 1941 in einem Kriegsgefangenenlager französischer Offiziere in einem französischen Vortrag behandelt. In der Diskussion hatte sich eine Situation ergeben, in der ich sagte, ein Imperium, das sich über die Maßen ausdehne, sei )aUpfeS de sa chute<. Die französischen Offiziere sahen sich bedeutsam an und verstanden. (Ob ich in dieser makabren und irrealen Situation auf anonyme Weise dem einen oder anderen meiner späteren französischen Kollegen begegnet bin, von denenja manche dabei gewesen sein könnten') Der politische Funktionär, der mich begleitet hatte, war über diese Bemerkung seinerseits ganz begeistert. Solche geistige Klarheit und rückhaltlose Unbefangenheit spiegele unsere Siegesgewißheit besonders wirksam. (Ob er das glaubte oder ob er nur mitspielte, vermochte ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls nahm er keinen Anstoß, und ich mußte meinen Vortrag sogar in Paris wiederholen.) Im ganzeil war es klüger, sich unauffjJlig zu verhalten. Die Resultate
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meiner Studien teilte ich nur in Vorlesungen mit. Da konnte man sich ungehindert und unbefangen bewegen. Selbst über Husscrl habe ich in Leipzig ungestört Übungen abgehalten. Manches, was ich erarbeitet hatte, trat zuerst in Arbeiten meiner Schüler in die Öffentlichkeit, insbesondere in Volkmann-Schlucks ausgezeichneter Dissertation >Platin als Interpret der Platonischen Ontologie( (1940). Seit ieh Professor in Leipzig war und dort - nach Thcodor Litts Rücktrittder einzige Fachvertreter, konnte ich meinen Unterricht nicht mehr so gut den eigenen Forschungsplänen anpassen. Ich hatte neben den Griechen und ihrem spätesten und größten Nachfahren, Hegel, die ganze klassische Tradition, von Augustin und Thomas bis Nietzsche, Husserl und Heidegger, Zu vermitteln - freilich, als der halbe Philologe, der ich war, jeweils am Text. Daneben behandelte ich in Seminaren auch schwierige poetische Texte VOn Hölderlin, Goethe, Rilke vor allem. Letzterenvar, dank demhochgezüchteten Manierismus seiner Sprache, damals der wahre Dichter der akademischen Resistance. Wer wie Rilke redete oder wie Heidegger, der Hölderlin auslegte, stand abseits und zog die Abseitsstehenden an. Die letzten Kriegsjahre waren natürlich sehr gefahrlich. Doch hatten die zahlreichen Bombenangriffe, die man zu überstehen hatte und die die Stadt Leipzig wie die Arbeitsmittel der Universität in Trümmer legten, auch ihr Gutes: der Parteiterror wurde durch die entstehenden Notstandssituationen anderweitig gebunden. Der Unterricht an der Universität, von einem Notraum in den andern wechselnd, wurde bis kurz vor Kriegsende fortgesetzt. Als die Amerikaner Leipzig besetzten, studierte ich gerade die neu erschienenen Bände 2 und 3 von Werner Jaegers }Paideia< - auch ein seltsames Faktum, daß dieses Werk eines >Emigranten< in deutscher Sprache, in einem de'utschen Verlag, in den Jahren höchster Kriegsnot erscheinen konnte. Totaler Krieg? Nach Kriegsende mußte ich - als Rektor der Universität Leipzig - andere Dinge tun. An Fortftihrung philosophischer Arbeit war jahrelang nicht zu denken. Jedoch entstand an den freien Wochenenden der Großteil der Dichtungsinterpretationen, die heute den zweiten Band meiner Kleinen Schriften bilden. Mir kam vor, ich hätte niemals so leicht gearbeitet und geschrieben wie in diesen karg zugemessenen Stunden, gewiß ein Ausdruck dessen, daß während der unproduktiven, politischen und administrativen Alltagsarbeit sich etwas anstaute, das sich so entlud. Sonst .blieb mir das Schreiben auf lange hinaus eine rechte Qual. Immer hatte ich das verdammte Geftihl, Heidegger gucke mir dabei über die Schulter. Herbst 1947, nach zweijähriger Rektoratstätigkeit, folgte ich einem Ruf nach Frankfurt am Main und kehrte damit voll und ganz in mein akademisches Lehramt und in die Forschungsarbeit zurück - so gut es die Arbeitsverhältnisse zuließen. In den zwei Jahren, die ich in Frankfurt tätig war, suchte
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ich der Notlage der Studenten Rechnung zu tragen, nicht nur durch intensiven Unterricht, sondern auch durch einige Publikationen, so von Aristotclcs Metaphysik XII (griechisch und deutsch) und von Diltheys Grundriß einer Geschichte der Philosophie, die beide der Klostermann- Verlag damals rasch herausbrachte. Wichtig war auch der große Kongreß in Mendoza (Argen tinien) in1 Februar 1949, bei dem wir einerseits mit altenjüdischen Freunden, andererseits mit den Philosophen anderer Länder (Italien, Frankreich, Spanien, Südamerika) zu erstem Kontakt gelangten. Daß ich 1949 den Ruf auf die Nachfolge von Kar! Jaspers annahm, bedeutete den ncucn Beginn einer }akademischen< Tätigkeit in einer akademischen )Wcltc Wie ich zwanzig Jahre in Marburg Student und Dozent gewesen war, sollte ich von nun an über ein Vierteljahrhundert in Heidelberg tätig sein, und trotz der Vielfalt der Aufgaben des Wiederaufbaus, die uns alle in Anspruch nahmen, war es mir möglich, mich erneut von der Politik und Hochschulpolitik weitgehend zu entlasten und mich auf die eigenen Arbeitspläne zu konzentrieren, die endlich 1960 in ,Wahrheit und Methode< zu einem ersten Abschluß gelangten. Daß ich überhaupt, bei meinem passionierten Engagement als Lehrer, zu der Abfassung eines größeren Buches kam, verdankte ich dem natürlichen Bedürfnis, darüber nachzudenken, wie sich all die verschiedenen Wege des Philosophierens, denen man im Unterricht zu folgen hatte, von der philosophischen Situation der Gegenwart aus zu wirklicher Aktualität erheben ließen. Die Einordnung in einen apriori konstruierten Geschichtsgang (Hegel) schien mir ebenso unbefriedigend wie die relativistische Neutralität des Historismus. Ich hielt es mit Leibniz, der von sich gesagt hat, er billige fast alles, was er lese. Aber anders als dieser große Denker empfand ich in dieser Erfahrung nicht einen Stimulus zum Entwurf einer großen Synthese. Vielmehr begann ich mich zu fragen, ob Philosophie sich unter solche synthetische Aufgabe überhaupt noch stellen dürfe und sich nieht vielmehr ftir den Fortgang hermeneutischer Erfahrung auf radikale Weise offen halten müsse, eingenommen von dem je Einleuchtenden und sich aller Wiederverdunkelung des Eingesehenen nach Kräften widersetzend ... Philosophie ist Aufklärung, aber gerade auch Aufklärung gegen den Dogmatismus ihrer selbst. Tatsächlich ist die Entstehung meiner >hermeneutischen Philosophie( im Grunde nichts anderes als der Versuch, über den Stil meiner Studien und meines Unterrichts theoretisch Rechenschaft zu geben. Die Praxis war das erste. Vonjeher "var ich fast ängstlich bemüht, nur nicht zu viel zu sagen und mich nicht in theoretische Konstruktionen zu versteigen, die nicht voll von der Erfahrung eingelöst würden. Da ich fortfuhr, als Lehrer mein Eigentliches zu geben und insbesondere mit meinen engeren Schülern intensiven Kontakt zu pflegen, blieben fUr die Arbeit an dem Buch nur die Ferien. Fast 10 Jahre nahm diese Arbeit in Anspruch, und in dieser Zeit vernlied ich
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möglichst jede Ablenkung. Als das Buch erschien - erst während des Drukkes war mir der Titel >Wahrheit und Methode< dazu eingefallen -, war ich mir gar nicht sicher, ob es nicht zu spät kam und eigendich überflüssig war. Denn daß eine neue Generation heranrückte, die teils technologischen Erwartungen, teils ideologiekritischen Affekten verfallen war, konnte man bereits ahnen. Die Sache mit dem Titel des Buches war schwierig genug. Meine Fachgenossen im In- und Ausland erwarteten es als eine philosophische Hermeneutik. Aber als ich dies als Titel vorschlug, fragte der Verleger zurück: Was ist das? In der Tat vnr es besser, damals das noch fremde Wort in den Untertitel zu verbannen. Im übrigen trug die beharrlich fortgesetzte akademische Lehrtätigkeit zunehmend mehr ihre Früchte. Mein alter Freund Karl Löwith kehrte aus der Fremde zurück und lehrte neben mir in Heidclberg, eine gesunde Spannung schaffend. Einigejahre höchst fruchtbarer Wechselwirkung gab es mit Jürgen Habermas, den wir als jungen Extraordinarius zu uns beriefen, nachdem ich erfahren hatte, daß es zwischen Horkheimer und Adorno seinetwegen zu einem Gegensatz gekommen sei. Wer Max und Teddy auch nur ein wenig in ihrer geistigen Waffenbrüderschaft auseinanderzubringen vermocht hatte, mußte schon etwas sein, und in der Tat bestätigte das eingeforderte Manuskript das Talent des jungen Forschers, das mir schon längst aufgefallen war. - Aber es fanden sich auch leidenschaftlich der Philosophie ergebene Schüler, von denen ich hier nur einige nenne, die itn akademischen Fach der Philosophie inzwischen als Lehrer tätig sind. Von Frankfurt hatte ich eine große Gruppe von Studenten mitgebracht, zu denen Dietcr Hcnrich gehörte, der vom Marburger Erzkantianismus Ebbinghaus' und Klaus Reichs seine erste Prägung erfahren hatte. In Heidelberg fanden sich manche andere dazu. Ich nenne wieder nur diejenigen, die als Forscher oder Lehrer im Fach der Philosophie tätig geworden sind: Wolfgang Bartuschat, Rüdiger Bubner, Theo Ebert, Heinz Kimmerle, Wolfgang Künne, Ruprecht Pflaumer, J. H. Trede, Wolfgang Wieland. Einige kamen später erneut von Frankfurt, wo Wolfgang Cramer- abseits von der spektakulären Frankfurter Schule - eine intensive Wirkung übte, so Konrad Cramer, Friedrich Fulda, Reiner Wieh!. Mehr und mehr kamen auch Ausländer und fugten sich in den Kreis meiner Schüler ein, insbesondere aus Italien Valcrio Verra und G. Vattimo, aus Spanien E. Lledo, und eine größere Zahl von Amerikanern, von denen ich manchem bei Amerikareisen in den letzten Jahren in Amt und Würden wiederbegegnet bin. Eine besondere Genugtuung hat es mir bereitet, daß aus meinem engsten Schülerkreis mancher hervorgegangen ist, der sich in anderen Fächern bewährt hat - eine Bewährungsprobe fur die Idee der Hermeneutik selber. Was ich lehrte, war vor allem hermeneutische Praxis. Hermeneutik ist vor
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allem eine Praxis, die Kunst des Verstehens und des Verständlichmachcns. Sie ist die Seele allen Unterrichts, der Philosophieren lehren will. Was es dabei vor allem zu üben gilt, ist das Ohr, die Sensibilität rur die in Begriffen liegenden Vorbestimmtheiten, Vorgreifliehkeiten, Vorprägungen, So galt ein gut Stück meiner Bemühungen der Begriffsgeschichte. Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich eine Reihe begriffsgeschichtlicher Kolloquien veranstaltet und darüber auch berichtet, die inzwischen vielfache ähnliche Bestrebungen ausgelöst haben. Die Gewissenhaftigkeit im Gebrauch von Begriffen verlangt begriffsgeschichtliche Bewußtheit, damit man nicht der Willkür des Definiercns anheimfallt oder der Illusion, man könne verbindliches philosophisches Sprechen normieren. Begriffsgeschichtliche Bewußtheit wird zur kritischen Pflicht. Auf andere Weise suchte ich diesen Aufgaben zu dienen, indem ich eine ganz der Kritik gewidmete Zeitschrift, die ))Philosophische Rundschau(( ins Leben rief, gemeinsam mit Helmut Kuhn, dessen kritisches Talent ich schon früh, vor 1933, an den letzten Jahrgängen der alten Kantstudien bewundern gelernt hatte. Unter der straffen Führung von Frau Käte Gadamer-Lekebusch sind dreiundzwanzig Jahrgänge dieser Zeitschrift herausgekommen, bis wir sie neuerdings jüngeren Händen anvertrauten. Aber im Mittelpunkt meiner Tatigkeit stand nach wie vor der akademische Unterricht in Heidelberg. Erst nach meiner Emeritierung (1968) habe ich in größerem Umfang meine Ideen zur Hermeneutik, die auf breites Interesse stießen, auch im Ausland zu vertreten versucht, mittlerweile vor allem auch in Amerika. Hermeneutik und griechische Philosophie blieben die beiden Schwerpunkte meiner Arbeit. Ich darf den inneren Zusammenhang, der meine Gedanken bewegt, kurz zur Darstellung bringen. Da war zunächst die in i) Wahrheit und Methode« el1t\vickc1te Hermeneutik. Was war diese philosophische Hermeneutik? Wie unterschied sie sich von der romantischen Tradition, die mit Schleiermacher, der eine alte theologische Disziplin vertiefte, anhob, in Diltheys geisteswissenschaftlicher Hermeneutik gipfelte und als eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften gemeint war? Mit \\'eIchem Recht konnte mein eigener Versuch eine )philosophische< Hermeneutik heißen? Es ist leider nicht überflüssig, auf diese Frage einzugehen. Denn viele sahen und sehen in dieser hermeneutischen Philosophie eine Absage an methodische Rationalität. Viele andere, insbesondere seit Hermeneutik ein Modewort geworden ist und einejegliche iInterpretatiou< sich Hermeneutik nennen möchte, mißbrauchen das Wort und die Sache, fur die ich das Wort ergriffen hatte, umgekehrt derart, daß sie darin eine neue Methodenlehre sehen, mit der sie in Wahrheit methodische Unklarheit oder ideologische
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Bemäntelung legitimieren. Wieder andere, die dem Lager der Ideologiekritik angehören, erkennen darin zwar Wahrheit, aber nur die halbe Wahrheit. Es sei gut und schön, daß Tradition in ihrer vorgreiflichen Bedeutung erkannt werde, aber es fehle das Entscheidende dabei, die kritische und emanzipatorische Reflexion, die von ihr befreie. Vielleicht hilft es der Klärung, \venn ich die Motivation meiner Fragestellung so darlege, wie sie mir tatsächlich erwachsen ist. Es könnte dadurch deutlich werden, daß es die Methodcnfanatiker so gut wie die radikalen Idologiekritiker sind, die in Wahrheit nicht genug reflektieren. Die einen behandeln die - unbestrittene - Rationalität von trial and error wie die ultima ratio menschlicher Vernünftigkeit, die anderen erkennen zwar die ideologische Voreingenommenheit solcher Rationalität, geben aber über die eigenen ideologischen Implikationen ihrer Ideologiekritik nicht genügend Rechenschaft. Wenn ich eine philosophische Hermeneutik versuchte, so ergab es sich aus der Vorgeschichte der Hermeneutik von selbst, daß die »verstehenden« Wissenschaften den Ausgangspunkt bildeten. Aber zu ihnen trat noch eine bisher unbeachtet gebliebene Ergänzung. Ich meine die Erfahrung der Kunst. Denn beides, die Kunst wie die geschichtlichen Wissenschaften, sind Erfahrungsweisen, in denen unser eigenes Daseinsverständnis unmittelbar ins Spiel kommt. Die begriffliche Hilfe rur die so in die rechte Weite gestellte Problematik des> Verstehens< bot sich in Heideggers Entfaltung der existentialen Struktur des Verstehens, die er ehedem >Hermeneutik der Faktizität<, Selbstauslegung des faktischen, das heißt, des sich vorfindlichen menschlichen Daseins genannt hatte. Mein Ausgangspunkt war also die Kritik des Idealismus und seiner romantischen Traditionen. Es war mir klar, daß die Bewußtseinsgestalten unserer ererbten und erworbenen geschichtlichen Bildung, das ästhetische Bewußtsein und das historische Bewußtsein, entfremdete Gestalten unseres wahren geschichtlichen Seins darstellen und daß die ursprünglichen Erfahrungen, die durch Kunst und Geschichte vermittelt werden, nicht von da aus zu begreifen sind. Die beruhigte Distanz, in der ein bürgerliches Bildungsbewußtsein seinen Bildungsbesitz genoß, verkannte, wie sehr wir dabei selber im Spiele sind und auf dem Spiele stehen. So versuchte ich vom Begriff des Spieles aus die Illusionen des Selbstbewußtseins und die Vorurteile des Bewußtseinsidealismus zu überwinden. Spiel ist ja niemals ein bloßes Objekt, sondern hat sein Dasein rur den, der es mitspielt, und sei es auch nur in der Weise des Zuschauers. Die Unangemessenheit der Begriffe Subjekt und Objekt, die Heidegger schon in seiner Exposition der Seins frage in )Sein und Zeit( erwiesen hatte, ließ sich hier in Concreto demonstrieren. Was Hcidegger in seinem Denken dann zur )Kchre( geführt hat, versuchte ich meinerseits als eine Grenzerfahrung unseres Selbstverständnisses zu beschreiben, als das wirkungsgeschichtliche Bewußt-
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sem, das mehr Sein als Bewußtsein ist. Was ich damit formulierte, \var weniger eine Aufgabe für die methodische Praxis der Kunst- und Geschichtswissenschaft, ja es galt auch nicht in erster Linie dem Methodenbewußtsein dieser Wissenschaften, sondern ausschließlich oder vorrangig dem philosophischen Gedanken der Rechenschaftsgabe. Wie weit ist Methode ein Garant ftir Wahrheit' Die Philosophie muß von Wissenschaft und Methode fordern, daß sie ihre Partikularität im Ganzen der menschlichen Existenz und ihrer Vernünftigkeit erkennen. Am Ende war das Unternehmen selbstverständlich selber wirkungsgeschichtlich bedingt und wurzelte in einer ganz bestimmten deutschen philosophischen und kulturellen Überlieferung. Die sogenannten Geisteswissenschaften hatten wohl nirgends so stark wie in Deutschland wissenschaftliche und weltanschauliche Funktionen in sich vereint - oder besser: sich die "veltanschauliche, ideologische Bestimmtheit ihrer Interessenahme so konsequent hinter dem Methodenbewußtsein ihres wissenschaftlichen Verfahrens verborgen. Die unauflösliche Einheit aller menschlichen Selbsterkenntnis drückte sich anderswo klarer aus, in Frankreich in dem weiten Begriffder ,lettres<, im Englischen in dem neu eingebürgerten Begriff der ,humanities<. Mit der Anerkennung des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins war daher vor allem eine Berichtigung der Selbstauffassung der historischen Geisteswissenschaften, die auch die Kunstwissenschaften einschließen, impliziert. Die Problemdimension ist damit aber keineswegs voll ausgemessen. Auch in den Naturwissenschaften gibt es so etwas wie eine hermeneutische Problematik. Auch ihr Weg ist nicht einfach der des methodischen Fortschritts, wie inzwischen etwa durch Thomas Kuhn gezeigt worden ist und was in Wahrheit zu den Einsichten zusammenstimmt, die vor allem Heidegger in >Die Zeit des Weltbildes< und in seiner Interpretation der aristotelischen Physik (Phys. B 1) impliziert hatte. Das ,Paradigma' ist ftif den Einsatz wie fur die Deutung methodischer Forschung entscheidend und ist offenkundig nicht selbst das einfache Resultat einer solchen. Alente concipio hatte schon Galilei gesagt. 6 Dahinter tut sich indes eine noch weitere Dimension auf, die in der prinzipiellen Sprachlichkeit oder Sprachbezogenheit gelegen ist. In aller Welterkenntnis und Weltorientierung ist das Moment des Verstehens herauszuarbeiten - und damit die Universalität der Hermeneutik zu erweisen. Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen vollzöge. Allzu bekannt sind all jene vorsprachlichen und übersprachlichen Innewerdungen, Stummheiten, Schweigsamkeiten, in denen sich unmittel6 [Vgl. meinen Vortrag in Lund >Hermeneutik und Natunvissenscbaft, von 1984 in: A. Werner (Hrsg.), Philosophie und Kultur, Bd. 3, S. 39-70; Ges. Werke Bd. 7.J.
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bare Welrbetroffenheit ausdrückt - und wer "\vird leugnen, daß es reale Bedingungen menschlichen Lebens, daß es Hunger und Liebe, Arbeit und Herrschaft gibt, die nicht selber Rede und Sprache sind, sondern ihrerseits den Raunl bemessen, innerhalb dessen Miteinander-Reden und Aufeinander-Hören statthaben kann. Das ist so wenig strittig, daß es vielmehr gerade solche Vorgeformtheitcn menschlichen Meinens und Redcns sind, die die hermeneutische Reflexion erforderlich machen. Einer am sokratischen Gespräch orientierten Hermeneutik muß nicht erst entgegengehalten werden, daß Doxa nicht Wissen, daß das scheinhafte Einverständnis, in dem man so daher1cbt und daherredet, kein \virkliches Einverständnis ist. Aber selbst noch die Aufdeckung des Scheinhaften, \",ie sie das sokratische Gespräch leistet, vollzieht sich im Element der Sprachlichkeit. Das Gespräch läßt uns sogar im Scheitern der Verständigung, im Mißverständnis und in dem berühmten Eingeständnis des Nichtwissens möglichen Einverständnisses gewiß sein. Die Gemeinsamkeit, die wir menschlich nennen, beruht auf der sprachlichen Verfaßtheit unserer Lebenswelt. Noch jeder Versuch, Verzerrungen z\vischenmenschlicher Verständigung durch kritische Reflexion und Argumentation einzuklagen, bestätigt diese Gemeinsamkeit_ Der hermeneutische Aspekt kann also nicht auf die hermeneutischen Wissenschaften von Kunst und Geschichte, nicht auf den Umgang ntit )Texten<, aber auch nicht, in Erweiterung, auf die Erfahrung der Kunst selbst beschränkt bleiben. Die Universalität des hermeneutischen Problems, die schon Schleiermacher erkannt hatte, geht auf das All des Vernünftigen, das heißt auf a11 das, worüber man sich zu verständigen suchen kann. Wo Verständigung unmöglich scheint, weil man )verschiedene Sprachen spricht<, ist die Herllleneutik nicht etwa am Ende. Dort stellt sich die hermeneutische Aufgabe vielmehr gerade in ihrem vollen Ernst, nämlich als die Aufgabe, die gemeinsame Sprache zu finden. Die gemeinsame Sprache ist aber nie schon eine teste Gegebenheit. Sie ist zwischen Sprechenden spielende Sprache, die sich so einspielen muß, daß Verständigung beginnen kann, und das selbst da, wo verschiedene )Ansichten( sich unversöhnbar entgegenstehen_ Die Verständigungmöglichkeit kann zwischen vernünftigen Wesen nie verneint \vcrden. Selbst der Relativismus, der in der Vielfalt menschlicher Sprachen zu liegen scheint, ist keine Schranke ftir die Vernunft, deren Wort allen gemeinsam ist, wie schon Heraklit gewußt hat. Das Lernen fremder Sprachen und ebenso das Sprechenlernen des Kindes bedeutet eben nicht allein die Aneignung von Verständigungs mitteln_ Dieses Lernen stellt vielmehr eine Art Vorschematisierung möglicher Erfahrung und ihren ersten Erwerb dar. Das Hineinwachsen in eine Sprache ist ein Weg der Welterkenntnis. Nicht nur solches >Lernen< - alle Erfahrung vollzieht sich in beständiger kommunikativer Fortbildung unserer Weltkenntnis. In einem viel tieferen und allgemeineren Sinne, als die von August Boeckh fur
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das Geschäft des Philologen geprägte Formel es meinte, ist Erfahrung immer >Erkenntnis von Erkanntem<. Wir leben in Überlieferungen, und diese sind nicht ein Teilbereich unserer Welterfahrung, nicht eine sogenannte kulturelle Überlieferung, die allein aus Texten und Denkmälern bestünde und einen sprachlich verfaßten und geschichtlich dokumentierten Sinn weitervermiuelte. Vielmehr ist es die Welt selbst, die kommunikativ erfahren und als eine ins Unendliche offene Aufgabe uns beständig übergeben wird (traditur). Sie ist nie die Welt eines ersten Tages, sondern immer schon uns überkommen. Überall da, wo etwas erfahren, wo Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, vollzieht sich der hermeneutische Prazeß der Einbringung in das Wort und in das gemeinsame Bewußtsein. Selbst die lllonologische Sprache der modernen Wissenschaft gewinnt gesellschaftliche Realität nur auf diesem Wege. Hier scheint mir die Universalität der Hermeneutik, die etwa Habermas so entschieden bestreitet, wohlbegründet. Habermas ist, so meine ich, nie über ein idealistisches Verständnis des hermeneutischen Problems hinausgekommen und engt mich zu Unrecht auf )kulturelle Überlieferung< im Sinne Theodor Litts ein. Die ausgedehnte Diskussion dieser Frage hat in dem Suhrkampband )Hermeneutik und Ideologiekritik( ihre Dokumentation gefunden. Unserer philosophischen Tradition gegenüber haben wir es mit der gleichen hermeneutischen Aufgabe zu tun. Philosophieren fangt nicht mit Null an, sondern hat die Sprache, die wir sprechen, weiterzudenken und weiterzusprechen, und wie in den Tagen der antiken Sophistik heißt das auch heute, die ihrem ursprünglichen Sagesinn entfremdete Sprache der Philosophie auf das Sagen des Gemeinten und auf die unser Sprechen tragenden Gemeinsamkeiten zurückzufuhren. Wir sind durch die moderne Wissenschaft und ihre philosophische Generalisierung fUr diese Aufgabe mehr oder minder blind geworden. Im platonischen ,Phaidon( stellt Sokrates die Forderung auf, er möchte den Weltenbau und das Naturgeschehen so verstehen, wie er verstehe, warum er hier im Gefjngnis sitze und nicht das ihm gemachte Fluchtangebot angenommen habe -, nämlich weil er es fur gut hielt, auch einen ungerechten Urteilsspruch auf sich zu nehmen. Die Natur so zu verstehen, wie Sokrates sich hier selbst versteht, ist eine Forderung, die durch die aristotelische Physik auf ihre Weise erfUllt worden ist. Mit dem, was Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert ist und was erst wirklich Wissenschaft von der Natur und wissenschaftlich gegründete Beherrschung der Natur ermöglicht hat, ist diese Forderung aber nicht mehr vereinbar. Genau das ist der Grund, warum die Hermeneutik und ihre methodischen Konsequenzen aus der Theorie der modernen Wissenschaft nicht so viel zu lernen haben wie aus älteren Traditionen, an die es sich zu erinnern gilt. Die eine ist die Tradition der Rhetorik, wie sie als letzter Vico mit
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methodischer Bewußtheit gegen die moderne Wissenschaft, die er critica nannte, verteidigt hat. Schon in meinen klassischen Studien hatte ich die Rhetorik, die Redekunst wie ihre Theorie, besonders bevorzugt. Zumal die Rhetorik in einer noch lange nicht genug beachteten Weise auch der Träger der älteren Tradition der ästhetischen Begriffe gewesen ist, wie noch an Baumgartens Bestimmung der Ästhetik deutlich wird. Man muß es heute mit Nachdruck sagen: Die Rationalität der rhetorischen Argumentationsweise, die zwar ~Affekte( ins Spiel zu bringen sucht, aber grundsätzlich Argumente geltend macht und mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet, ist und bleibt ein weitaus stärkerer gesellschaftlicher Bestimmungsfaktor als die Gewißheit der Wissenschaft. So habe ich mich in ,Wahrheit und Methode< ausdrücklich auf die Rhetorik bezogen und von mancher Seite, insbesondere in den Arbeiten von eh. Perelman, der von der Rechtspraxis ausgeht, dafUr Bestätigung gefunden. Es heißt nicht die Bedeutung der modernen Wissenschaft und ihrer Anwendung für die technische Zivilisation von heute verkennen, wenn man darauf besteht. Im Gegenteil. Es sind gewiß ganz neue Probleme der Vermittlung, die die moderne Zivilisation aufwirft. Aber die Lage hat sich dadurch nicht im Prinzip verändert. Die ~hermeneutische( Aufgabe der Integration der Monologik der Wissenschaften in das kommunikative Bewußtsein, und das schließt ein die Aufgabe, praktisch, sozial, politisch Vernünftigkeit zu üben, ist dadurch nur um so dringlicher geworden. In Wahrheit ist es ein altes Problem, das wir seit Plato kennen. Sokrates hat alle, die sich auf ihr Wissen beriefen, Staatsmänner, Dichter, aber auch die wirklichen Könner ihrer handwerklichen Kunst, dessen überfUhrt, daß sie das >Gute< nicht wissen. Aristotcles hat den strukturellen Unterschied, der hier vorliegt, durch die Scheidung von Techne und Phronesis bestimmt. Das läßt sich nicht wegdiskutieren. Auch wenn sich diese Unterscheidung mißbrauchen läßt und etwa die Berufung auf das ,Gewissen( oft undurchschaute ideologische Abhängigkeiten verschleiern mag, ist es doch ein Mißverständnis dessen, was Vernunft und Vernünftigkeit sind, wenn man sie nur in der anonymen Wissenschaft und als Wissenschaft anerkennen will. So ist es mir fur meine eigene hermeneutische Theorienbildung überzeugend geworden, daß wir dieses sokratische Vermächtnis einer )menschlichen Weisheit<, die gemessen an der göttergleichen Unfehlbarkeit des von der Wissenschaft Gewußten Unwissenheit ist, wieder aufnehmen müssen. Daftir kann uns die von Aristotelcs entwickelte >praktische Philosophie( als Modell gelten. Das ist die zweite Traditionslinie, die es zu erneuern gilt. Das aristotelische Programm einer praktischen Wissenschaft scheint mir das einzige wissenschaftstheoretische Vorbild darzustellen, nach dem die )verstehenden< Wissenschaften gedacht werden können. In der hermeneutischen Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens kommt heraus, daß
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dessen Möglichkeiten sich in einer sich sprachlich formulierenden, nie mit Null anfangenden, nie mit Unendlich endenden Besinnung artikulieren. Aristotclcs zeigt, daß praktische Vernunft und praktische Einsicht nicht die Lehrbarkcit von Wissenschaft besitzen, sondern selber in Praxis, und das heißt in der inneren Bindung an Ethos, ihre Möglichkeit gewinnen. Daran gilt es sich zu erinnern. Das Vorbild der praktischen Philosophie muß an die Stelle jener >Theoria< treten, deren ontologische Legitimation allein in einem intellectus inJif"litus gefunden werden könnte, von dem unsere auf keine Offenbarung gestützte Daseinserfahrung nichts weiß. Dies Vorbild muß auch a11 denen entgegengehalten \verden, die menschliche Vernünftigkeit unter den Methodengedanken der >anonymCI1( Wissenschaft beugen. Der Perfektionierung des logischen Selbstverständnisses der Wissenschaft gegenüber scheint mir dies als die eigentliche Aufgabe der Philosophie, auch und gerade angesichts der praktischen Bedeutung der Wissenschaft ftir unser Leben und Überleben. Die >praktische Philosophie< bedeutet aber noch mehr als ein bloßes methodisches Vorbild rur die )hermeneutischen~ Wissenschaften. Sie ist auch so et\:vas wie ihre sachliche Grundlage. Die methodische Sonderart der praktischen Philosophie ist nur die Folge der durch AristoteIes in ihrer begritllichen Eigenart herausgearbeiteten }praktischen Vernünftigkeit(. Deren Struktur läßt sich vom modernen Wissenschafts begriff aus überhaupt nicht fassen. Selbst die dialektische Verflüssigung, die den traditionellen Begriffen durch Hegel abgewonnen ""vorden ist und die manche Wahrheiten der ;praktischen< Philosophie erneuert hat, droht einen neuen undurchschauten Dogmatismus der Reflexion. Der Reflexionsbegriff, der der Ideologiekritik zugrunde liegt, impliziert nämlich einen abstrakten Begriff von nvangsfreiem Diskurs, der die eigentlichen Bedingungen menschlicher Praxis aus dem Auge verliert. Ich mußte das als eine illegitime Übertragung der therapeutischen Situation der Psychoanalyse zurückweisen. Es gibt im Felde der praktischen Vernunft keine Analogie für den >wissenden< Analysten, der die produktive Reflexionsleistung des Analysanden leitet. In der Frage der Reflexion scheint mir Brentanos aufAristotelcs zurückgehende Unterscheidung des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion denl Erbe des deutschen Idealismus überlegen. Das gilt in meinen Augen selbst noch gegenüber der transzendentalen Reflexionsforderung, die von Apel und anderen an die Hermeneutik gerichtet worden ist. Das alles ist in dem vielgelesenen Band >Hermeneutik und Ideologiekritik< (Suhrkamp) wohl dokumentiert. So haben mich mehr als die großen Denker des deutschen Idealismus die platonischen Dialoge geprägt, indem sie nüch ständig begleiteten. Sie sind ein einzigartiger Ulngang. Wenn immer sonst wir, durch Nictzsche, durch Heidegger belehrt, die Vorgreiflichkeit der griechischen Bcgrifflichkeit, von
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Aristoteles bis Hegel und bis zur nlodernen Logik, als eine Grenze empfinden mögen, jenseits derer unsere eigenen Fragen ohne Ant\vort und unsere Intentionen unbefriedigt bleiben - Platos Dialogkunst ist auch noch dieser Scheinüberlegenheit, die wir als Erben der judäo-christlichen Überlieferung zu besitzen meinen, zuvorgekommen. Gewiß hat gerade er, mit der Ideenlehre, mit der Dialektik der Ideen, mit der Mathematisierung der Physik und mit der Intellektuierung dessen, '\vas wir ,Ethik< nennen \"lürden, den Grund zu der metaphysischen Begrifflichkeit unserer Tradition gelegt. Aber er hat zugleich al1e seine Aussagen mimetisch begrenzt, und wie Sokrates es mit seiner gewohnten Ironie bei seinen Gesprächspartnern zu erreichen wußte, so beraubt auch P1ato durch seine Kunst der Dialogdichtung seinen Leser seiner vermeintlichen Überlegenheit. Mit Plato philosophieren, nicht: Plato kritisieren, ist die Aufgabe. Plato kritisieren ist vielleicht ebenso einfaltig, wie Sophokles vorzuhalten, daß er nicht Shakespeare ist. Das klingt paradox, aber nur ftir den, der gegen die philosophische Relevanz der poetischen Imagination Platos blind ist. Freilich muß man es erst lernen, Plato wirklich mimetisch zu lesen. In unserm Jahrhundert ist dafür einiges geschehen, insbesondere durch Paul Friedländer, aber auch durch manche inspirierte, wenn auch nicht so gründlich fundierte Bücher aus dem Kreis des Dichters Stefan George (Friedemann, Singer, Hildebrandt) sowie durch die Arbeiten von Leo Strauss und seinen Freunden und Schülern. Die Aufgabe ist noch weit von ihrer Lösung. Sie besteht darin, die begriffiichen Aussagen, die im Gespräch begegnen. mit Genauigkeit auf die dialogische Wirklichkeit zu beziehen, aus der sie erwachsen. Da gibt es eine )dorische Harmonie< von Tat und Rede, Ergon und Logos) von der bei Plato nicht nur mit Worten die Rede ist. Sie ist vielmehr das eigentliche Lebensgesetz der sokratischen Dialoge. Sie sind im wörtlichen Sinne )hinführende Redenc Erst von ihr her schließt sich auf, was die oft sophistisch wirkende und tatsächlich oft die schlimmste Verwirrung betreibende Widerlcgungskunst des Sokrates in Walirlieit intendiert. Ja, wenn menschliche Weisheit so wäre, daß sie von einem zu dem anderen übergehen könnte, wie Wasser von einem Gefaß zum anderen an einem Wollfadon herübergeleitet werden kann ... (Symp. 175 d) Aber so ist menschliche Weisheit nicht. Sie ist das Wissen des Nichtwissens. An ihr wird der andere, mit dem Sokrates das Gespräch fUhrt, seines eigenen Nichtwissens überfuhrt -, und das bedeutet: es geht ihm etwas über sich selbst aufund sein Leben in Vermeintlichkciten. Oder, um es mit einer kühnen Wendung aus Platos 7. Brief zu sagen: Nicht seine These allein, sondern seine Seele wird widerlegt. Das gilt sowohl von den Knaben, die sich Freunde glauben und doch noch gar nicht wissen, was Freundschaft ist (Lysis), wie von den berühmten Feldherren. die glauben. die Tugend des Soldaten in sich zu verkörpern (Laches), oder von den ehrgeizigen Staatsmännern, die ein allem
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anderen Wissen überlegenes Wissen zu besitzen meinen (Charmides), - es gilt ebenso von a11 denen, die den professionellen Lehrern der Weisheit folgen, und am Ende gilt es von dem einfachsten Bürger selbst, der von sich glauben muß und glauben machen muß, daß cr )gerecht( ist, als Kaufmann, Händler, Bankier so gut \\'ie als Handwerker usw. Offenkundig ist es nicht Fach-Wissen, auf das es dabei ankommt, sondern eine andere Art von Wissen, jenseits aller speziellen Ansprüche und Kompetenzen wissender Überlegenheit, jenseits aller sonst bekannten Technai und Epistcmai. Dies andere Wissen meint die )Wendung zur Idee<, die hinter allen Bloßstellungen der vermeintlich Wissenden liegt. Aber auch das heißt nicht, daß Plato am Ende eine Lehre hat, die man von ihm lernen kann: die >Ideenlehre<. Und wenn er diese >Lehre< in seinem Parmenidesdialog kritisiert, heißt das erst recht nicht, daß er damals an ihr irre geworden ist. Es heißt vielmehr, daß die Annahme von >Ideen< nicht so sehr eine >Lehre< \\'ar, sondern eine Fragerichtung bezeichnet, deren Irnplikationen zu ent\vickeln und zu diskutieren die Aufgabe der Philosophie, das heißt der platonischen Dialektik, war. Dialektik ist die Kunst, ein Gespräch zu fUhren, und das schließt die Kunst ein, dies Gespräch mit sich selbst zu fUhren und der Verständigung mit sich selbst nachzugehen. Sie ist die Kunst des Denkens. Das aber bedeutet die Kunst, nach dem zu fragen, was man eigentlich mit dem meint, was man denkt und sagt. Man begibt sich damit auf einen Weg. Besser: man ist damit auf einern Wege. Denn es gibt so etwas wie eine >Naturanlage des Menschen zur Philosophie<. Unser Denken bleibt nicht stehen bei dem, \vas einer mit diesem oder mit jenem meint. Denken weist stets über sich hinaus. Das platonische Dialogwerk hat dafür seinen Ausdruck - es weist auf das Eine, das Sein, das >Gute<, das sich in der Ordnung der Seele, der Stadtverfassung wie des Weltenbaues darstellt. Wenn Heideggcr die Annahme der Ideen als den Anfang der Seinsvergessenheit interpretiert, die in der bloßen Vorgestelltheit und der Objektivierung gipfelt, in die die technologische Ära des universal gewordenen Willens zur Macht ausläuft, und wenn er konsequent genug ist, auch das früheste griechische Seinsdenken als die Vorbereitung dieser in der Metaphysik sich ereignenden Seinsvergessenheit zu verstehen, so bedeutet demgegenüber die eigentliche Dimension der platonischen Dialektik der Ideen im Grunde ehvas anderes. Der ihr zugrunde liegende Überschritt auf das Jenseits alles Seienden hin ist ein Schritt über die >einHütige< Annahme der Ideen hinaus und in letzter Konsequenz eine Gegenbewegung gegen die metaphysische Auslegung des Seins als des Seins des Seienden. Tatsächlich ließe sich die Geschichte der Metaphysik auch als eine Geschichte des Platonismus schreiben. Ihre Stationen wären etwa Plotin und Augustin, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, Leibniz, Kant und Hegel, das heißt aber: alle jene Denkanstrengungen des Abendlandes, die
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hinter das substantiale Sein der Idee und überhaupt hinter die Substanzlehre der metaphysischen Tradition zurückfragen. Der erste Platoniker in dieser Reihe aber wäre kein anderer als Aristoteles selbst. Das glaubhaft zu machen, und zwar sowohl gegen die Instanz der aristotelischen Kritik an der Ideenlehre als auch gegen die Substanzmetaphysik der abendländischen Tradition, wäre das Ziel meiner Studien auf diesem Felde. Ich stünde damit übrigens nicht ganz allein. Es hat Hegel gegeben.' Es wäre auch kein bloß )historisches< Unternehmen. Denn dahinter stünde durchaus nicht die Absicht, die von Heidegger entworfene Geschichte der wachsenden Seinsvergessenheit durch eine Geschichte der Seinserinnerung zu ergänzen. Das wäre nicht sinnvoll. Wohl ist es angemessen, von wachsender Vergessenheit zu sprechen. So bestand Heidcggers große Leistung in meinen Augen gerade darin, uns aus einer geradezu 'Völligen Vergessenheit aufzurütteln, indem er uns lehrte, im Ernste zu fragen: Was ist das, das >Sein Ich erinnere mich, wie im Jahre 1924 Heidegger in einem Seminar über Cajetans >De nominum analogia< eine Diskussion mit der Frage beendete: Was ist das, das Sein? und wie wir uns über der Absurdität dieser Frage kopfschüttelnd ansahen. Inzwischen sind wir alle in gewissem Sinne an die Seinsfrage erinnert worden. Auch die Verteidiger der traditionellen metaphysischen Tradition, die Kritiker Heideggers sein wollen, sind nicht mehr in der Selbstverständlichkeit befangen, mit der das in der metaphysischen Tradition begründete Verständnis von Sein fraglos galt. Sie verteidigen vielmehr die klassische Antwort als eine Antwort, das heißt aber, sie haben die Frage als Frage wiedergewonnen. Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht in dieser Weise Seins-Erinnerung. Trotzdem gibt es, wir mir scheint, keine Geschichte der Seinserinnerung. Erinnerung hat keine Geschichte. Es gibt nicht in derselben Weise, wie es wachsende Vergessenheit gibt, eine wachsende Erinnerung. Erinnerung ist immer das, was einem kommt, was über einen kommt, so daß ein Wiedervergegenwärtigtes dem Vergehen und Vergessen eine Weile Halt gebietet. Seinserinnerung aber ist obendrein nicht Erinnenmg an etwas vordem Gewußtes und jetzt Vergegenwärtigtes, sondern Erinnerung an vordem Gefragtes, ist Erinnerung an eine verschollene Frage. Alle Frage aber, die als Frage gefragt wird, ist nicht länger erinnerte. Als Erinnerung an das damals Gefragte ist sie das jetzt Gefragte. So hebt das Fragen die Geschichtlichkeit unseres Denkens und Erkennens auf. Philosophie hat keine Geschichte. Der erste, der eine Ge-
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7 [Vgl. inzwischen meine Arbeit ~Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles< (Abh. d. Heidelberger Ak. d. Wiss., Philos.-histor. Kl.Jg. 1978, 3. Abh.) Heidelberg 1978; Ges. Werke Bd. 7].
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schichte der Philosophie schrieb, die wirklich eine solche \\,ar, war auch der letzte: Hege!. In ihm hob sich Geschichte in die Gegenwart des absoluten Geistes auf. Aber ist das unsere Gegenwart? Ist auch nur Hegel ftif uns diese Gegenwart? Gcv.riß soll man Hege1 nicht dogmatisch einengen. Wenn er vom Ende der Geschichte sprach, die mit der Freiheit aller erreicht sei, so hieß das, daß die Geschichte nur in dem Sinne zu Ende sei, daß kein höheres Prinzip als die Freiheit aller aufgestellt werden könne. Die steigenden Unfreiheit aller, die sich als das vielleicht unausweichliche Schicksal der Weltzivilisation abzuzeichnen begonnen hat, wäre in scinen Augen kein Einwand gegen das Prinzip. Es wäre nur »schlimm rur die Tatsachen(L Gleich\vohl fragen wir gegen Hegel: Ist das Prinzip, das erste und letzte, worin der philosophische Gedanke des Seins endet, ,Geist,' Dagegen hat die Kritik der Junghegelianer sich polemisch orientiert, und nach meiner Überzeugung ist Heidegger es gewesen, der als erster eine positive Möglichkeit freilegt, die über die bloße dialektische Umkehrung hinausging. Denn das ist sein Punkt: ,Wahrheit, ist nicht die volle Unverborgenheit, deren ideale Erftillung am Ende die Selbstgegenwart des absoluten Geistes bliebe. Er lehrte uns vielmehr, Wahrheit als Entbergung und Verbergung zugleich zu denken, Die großen Denkversuche der Tradition, in denen wir uns immer wieder ,"vie mitausgesprochen wissen, stehen aBe in dieser Spannung. Was ausgesagt ist. ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann. Das scheint mir von zwingender Richtigkeit. Die Begriffe, in denen sich Denken formuliert, stehen gleichsam gegen eine Wand von Dunkelheiten. Sie wirken einseitig, festlegend, vorurteilsvoll. Man denke etwa an den griechischen Intellektualismus oder an die Willensmetaphysik des deutschen Idealismus oder an den Methodologismus der Neukantianer und Neupositivisten. Sie sagen sich auf ihre Weise aus, aber nicht ohne sich fur sich selbst dabei unkenntlich zu werden. Sie sind in der Vorgreiflichkeit ihrer Begriffe befangen. Aus diesem Grunde ist jeder Dialog mit dem Denken eines Denkers, den \:vir zu [uhren suchen, indem wir ihn zu verstehen trachten, ein in sich unendliches Gespräch. Ein wirkliches Gespräch, in dem wir )unsere( Sprache zu finden suchen - a1s die gemeinsame. Die historische Abstandnahnle, und gar die Placierung des Partners in einem historisch überschaubar gemachten Ablauf, bleiben untergeordnete MOlllente unseres Verständigungsversuchs und sind in Wahrheit Formen der Se1bstvergcwisserung, mit denen ,"vir uns gegen den Partner verschließen. Im Gespräch dagegen versuchen wir uns fur ihn zu öffnen, das heißt die gemeinsame Sache festzuhalten, iI; der wir zusammenstehen. Wenn das so ist, dann steht es freilich schlecht mit einer eigenen Position Bedeutet solche dialogische Unendlichkeit nicht in letzter Radikalität einet
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völligen Relativismus? Aber wäre das nicht se1bst wieder eine solche Position und obendrein eine, die sich in bekannter Weise in Selbstwiderspruch verstrickte? Am Ende ist es so wie beim Erwerb von Lebenserfahrung auch: Eine Fülle von Erfahrungen, Begegnungen, Belehrungen, Enttäuschungen mündet nicht darin, daß man am Ende alles weiß, sondern daß man Bescheid weiß und Bescheidenheit gelernt hat. In einem zentralen Kapitel meines Buches ,Wahrheit und Methode< habe ich diesen 'personalen< Begriff von Erfahrung gegen die Verdeckung verteidigt, die er durch den institutionalisierten Prozeß der Erfahrungswissenschaften erlitten hat, und empfinde mich darin M. Polanyi verwandt. Die )hermeneutischc< Philosophie versteht sich von da aus nicht als eine >absolute< Position, sondern als ein Weg der Erfahrung. Sie besteht darauf, daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich dem Gespräch offenzuhalten. Das aber heißt stets, das mögliche Recht, ja die Üblerlegenheit dcs Gesprächspartners im voraus anzuerkennen. Ist das zu wenig? Es scheint mir die Art Redlichkeit, die man von einem Professor der Philosophie allein verlangen kann -, die man aber auch verlangen sollte. Es scheint mir evident, daß der Rückgang auf die ursprüngliche Dialogik menschlicher Welthabenicht hintergehbarist. Das gilt auch dann, wenn letzte Rechenschaftsgabe, ,Letztbegründung< gefordert oder ,Selbstverwirklichung des Geistes< gelehrt wird. So mußte vor allem Hegels Denkweg erneut befragt werden. Heidegger hat die griechischen Hintergründe der Tradition der Metaphysik aufgedeckt und in Hegels dialektischer Auflösung der traditionellen Begrifflichkeit in seiner ,Wissenschaft der Logik< die radikalste Gefolgschaft gegenüber den Griechen erkannt. Aber seine Destruktion der Metaphysik hat dieselbe nicht ihres Sinnes beraubt. Insbesondere machte sich Hegels kunstvolle spekulative Überschreitung der Subjektivität des subjektiven Geistes geltend und bot sich als ein eigener Lösungsweg gegenüber dem neuzeitlichen Subjektivismus an. War hier die Intention nicht die gleiche wie in Heideggers Abkehr von der transzendentalen Selbstauffassung im Denken der ,Kehre,? War nicht auch Hegels Intention, die Orientierung am Selbstbewußtsein und an der Subjekt-Objekt-Spaltung der Bewußtseinsphilosophie hinter sich zu lassen? 0 der sind da noch Unterschiede? Bedeutet die Orientierung an der Universalität der ,Sprache" das Bestehen auf der Sprachlichkeit unseres Weltzuganges, das wir mit Heidegger teilen, gar einen Schritt über Hegel hinaus, einen Schritt hinter Hegel zurück? Zu einer ersten Ortsbestimmung meines eigenen Denkversuches könnte ich in der Tat sagen, daß ich die Ehrenrettung der >schlechten Unendlichkeit, auf mich genommen habe. Freilich mit einer in meinen Augen entscheidenden Modifikation. Denn der unendliche Dialog der Seele mit sich selber, der das Denken ist, ist nicht zu charakterisieren als eine endlose Fortbestimmung der zu erkennenden Gegenstandswelt, weder im neukantianischen Sinne der unendlichen Aufgabe noch im dialektischen Sinne des denkenden Hinaus-
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Seins über jede jeweilige Grenze. Hier hat rur mich Heideggcr einen neuen Weg gcvvicsen, indem er die Kritik an der metaphysischen Tradition in die Vorbereitung wendete, die Frage nach dem Sein auf neue Weise zu stellen, und sich dabei >unterwegs zur Sprache< fand. Es ist der Weg der Sprache, die nicht in der Urteilsaussage und ihrem gegenständlichen Geltungsanspruch aufgeht. sondern die sich stets an das Ganze des Seins hält. Totalität ist nicht eine zu bestimmende Gegenständlichkeit. Kants Kritik an den Antinomien der reinen Vernunft scheint mir insofern gegen Hegel recht zu behalten. Totalität ist nicht Gegenstand, sondern der Welthorizont, der uns umschließt und in den wir hineinleben. Ich brauchte nicht erst Heidegger zu folgen. der Hölderlin gegen Hege! aufbaute und das Werk der Kunst als ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen deutete, um im dichterischen Werk ein Korrektiv ftir das Ideal objektiver Bestimmtheit und für die Hybris der Begriffe anzuerkennen. Das war mir vielmehr von meinen allerersten eigenen Denkversuchen her gc\viß. Es soHte meiner eigenen hermeneutischen Orientierung beständig zu denken ge ben. Der hermcneutische Versuch, Sprache vom Dialog aus zu denken ein ftir einen lebenslangen Schüler Platos unausweichlicher Versuch -, bedeutete letzten Endes die Überholbarkeit jeder Fixierung durch den Fortgang des Gesprächs. So wird die terminologische Fixierung, die im konstruktiven Bereich der modernen Wissenschaft und ihrer Verfügbarmachung des Wissens fur jedermann ganz angemessen ist, im Felde der Bewegung des philosophischen Gedankens eigentümlich verdächtig. Die großen griechischen Denker \vahrten sich die Beweglichkeit der eigenen Sprache auch dort, wo sie - in thematischer Analyse - gelegentlich begriffliche Fixierungen vornahmen. Es gibt aber Scholastik, antike, mittelalterliche, neue und neuestc. Sie begleitet die Philosophie wie ihr Schatten. Daher wird der Rang eines Denkens fast dadurch bestimmbar, ""vie weit es die Versteinerungen aufzubrechen vermag, die der überlieferte philosophische Sprachgebrauch darstellt. Hegcls programmatischer Versuch, den er als seine dialektische Methode handhabte, hat im Grunde viele Vorgänger. Selbst ein so zeremoniell gesinnter Denker wie Kant, der die lateinische Schulsprache stets mit im Sinne hatte, fand seine )eigene\ Sprache, die zwar Neubildungen vermied, aber den traditionellen Begriffen viele neue Wendungen abgewann. Auch Husserls Rang bestimmt sich gegenüber dem zeitgenössischen und älteren Neukantianismus gerade dadurch, daß seine geistige Anschauungskraft überlieferte Kunstausdrücke und die deskriptive Geschmeidigkeit seines sprachlichen Vokabulars zur Einheit eines Stils verschmolz. Heidegger vollends berief sich geradezu auf das Vorbild Platos und Aristoteles', um die Neuartigkeit seines Sprachgebarens zu rechtfertigen, und man ist ihm dabei weit mehr gefolgt, als die erste provokatorische Wirkung und Verblüffung erwarten ließ. Die Philosophie befindet sich eben, im Unterschied zu
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den Wissenschaften und der Lebenspraxis, in einer eigentümlichen Schwierigkeit. Die Sprache, die wir sprechen, ist nicht fur die Absichten des Philosophierens geschaffen. Philosophie verstrickt sich in einer konstitutiven Sprachnot, und diese Sprachnot wird um so fUhlbarer, je kühner ein Philosophierender voraus denkt. Im allgemeinen ist es das Kennzeichen des Dilettanten, daß er willkürlich Begriffe ,bildet< und eifrig seine Begriffe ,definiert<. Der Philosoph weckt die Anschauungskraft der Sprache, und jede sprachliche Kühnheit und Gewaltsamkeit kann am Platze sein, wenn sie es nur erreicht, daß sie in die Sprache derer eingeht, die mitdenken und weiterdenken, und das heißt, wenn sie nur den Horizont der Verständigung fortbewegt, ausdehnt, lichtet. Es ist unvermeidlich, daß die Sprache der Philosophie, die ihren Gegenstand niemals vorfindet, sondern selbst erst aufbaut, sich nicht in Satzsystemen bewegt, deren logische Formalisierung und kritische Überprüfung auf Schlüssigkeit und Eindeutigkeit hin die Einsichten der Philosophie vertiefen könnte. Diese Tatsache wird keine )Revolutioni, auch nicht die durch die Analysis of ordinary language proklamierte, aus der Welt schaffen. Um es am Beispiel zu illustrieren: Es kann einen Gewinn an Klarheit bringen, wenn man die in einem Platonischen Dialog begegnenden Argumentationen mit logischen Mitteln analysiert, Inkohärenzen aufweist, Sprünge ausfUllt, Fehlschlüsse entlarvt usw. Aber lernt man so Plato lesen? Seine Fragen zu den eigenen zu machen? Gelingt es, an ihm zu lernen, statt sich eigene Überlegenheit zu bestätigen' Was für Plato gilt, gilt aber mutatis mutandis fUr alle Philosophie. Plato hat das in seinem 7. Brief, wie mir scheint, ein fUr allemal richtig beschrieben: Die Mittel des Philosophierens sind nicht es selbst. Plane logische Schlüssigkeit ist noch nicht alles. Nicht als ob die Logik nicht ihre evidente Gültigkeit hätte. Aber die Thematisierung des Logischen beschränkt den Fragehorizont auf formale Überprüfbarkeit und verstellt damit die Weltöffnung, die in unserer sprachlich ausgelegten Welterfahrung geschieht. Das ist eine hermeneutische Feststellung, bei der ich am Ende mit dem späten Wittgenstein eine gewisse Konvergenz zu bemerken meine. Er revidierte dort die nominalistischen Vorurteile seines }Traktats< zugunsten einer Zurückftihrung alles Sprechens auf Zusammenhänge der Lebenspraxis. Freilich blieb ihm der Ertrag dieser Reduktion auch weiterhin negativ. Er bestand fur ihn in der Abweisung der unausweisbaren Fragen der Metaphysik und nicht darin, die unabweisbaren Fragen der Metaphysik - so unausweisbar sie sein mögen - wiederzugewinnen, indem man sie aus der Sprachverfaßtheit unseres In-der-Wclt-Seins heraushört. Hierftir ist weit mehr als Von Wittgenstein von dem Worte der Dichter zu lernen. Da ist es genau so und niemand bestreitet es dort, daß es so ist: die begriffiiche Explikation vermag den Gehalt eines dichterischen Gebildes nicht auszuschöpfen. Das ist mindestens seit Kant anerkannt, wenn nicht gar
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schon seit Baumgartens Entdeckung der ästhetischen Wahrheit (cognitio sensitiva). Aber unter hermeneutischem Aspekt muß das besonders interessieren. Der Dichtung gegenüber genügt nicht die bloße Scheidung des Ästhetischen vom Theoretischen und seine Befreiung vom Druck der Regeln oder des Begriffes. Auch Dichtung bleibt noch eine Gestalt der Rede, in der Begriffe zueinander in Beziehung treten. So besteht die hermeneutische Aufgabe darin, den besonderen Ort der Dichtung im Zusammenhang der Verbindlichkeit der Sprache, in der immer Begriffliches im Spiele ist, bestimmen zu lernen. Auf welche Weise wird Sprache zur Kunst? Diese Frage stellt sich hier nicht nur, weil es sich bei der Kunst der Interpretation immer um Formen von Rede und Text handelt und weil es sich bei der Dichtung auch um sprachliche Gebilde, um Texte handelt. Dichterische Gebilde sind in einem neuartigen Sinne >Gebilde<, sie sind in eminenter Weise )Texte<, Sprache tritt hier in ihrer vollendeten Autonomie heraus. Sie steht sich und bringt sich zum Stehen, während sonst Worte durch die Intentionsrichtung der Rede überholt werden, die sie hinter sich läßt. Hier steckt ein hermeneutisches Problem von eigener Schwierigkeit. Es ist eine besondere Art von Kommunikation, die bei Dichtungen vor sich geht. Mit wem findet sie statt? Mit dem Leser? Mit welchem Leser? Hier gevv"innt die Dialektik von Frage und Antwort, die dem hermeneutischen Prozeß immer zugrunde liegt und dem Grundschema des Dialogischen entspringt, eine besondere Modifikation. Aufnahme und Interpretation von Dichtung scheint ein dialogisches Verhältnis eigener Art zu implizieren. Das tritt besonders hervor, wenn man die verschiedenen Weisen des Sprechens in ihrer Sonderart studiert. Es ist nicht nur das dichterische Wort, das eine reiche Skala von Differenzierungen aufweist, z. B. episch, dramatisch, lyrisch. Es gibt offenbar auch andere Weisen des Sprechens, in denen sich das hermeneutische Grundverhältnis von Frage und Antwort eigentümlich modifiziert. Ich denke an die verschiedenen Formen des religiösen Sprechens, wie Verkündigung, Gebet, Predigt, Segnung. Ich nenne die mythische >Sage{, den Rechtstext, und eben auch die mehr oder minder stammelnde Sprache der Philosophie. Sie bilden eine hermeneutische Anwendungsproblematik, der ich mich seit dem Erscheinen von >Wahrheit und Methode, zunehmend mehr gewidmet habe. Von zwei Seiten aus glaube ich der Sache nähergekommen zu sein, einmal von meinen Studien zu Hegel her, in denen ich die Rolle des Sprachlichen in seinem Zusammenhang mit dem Logischen verfolge, und sodann von moderner hermetischer Dichtung her, wie ich sie in einem Kommentar zu Pau} Celans >Atemkristall{ zum Gegenstand gemacht habe. Das Verhältnis von Philosophie und Poesie steht im Zentrum dieser Untersuchungen. Das Nachdenken darüber dient mir dazu, und kann uns allen dazu dienen, sich beständig daran zu erinnern, daß Plato kein Platoniker war und Philosophie nicht Scholastik ist.
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Bibliographische Nachweise
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2. Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie. Vortrag entstanden 1943 (damals unveröffentlicht); Erstdruck in Kleine Schriften I, S.l-lO. VgL auch den Kongreß-Vortrag in Mendoza (Argentinien, 1948) unter dem Titel lDie Grenzen der historischen Vernunft" abgedruckt in den Akten des Kongresses.
3. Wahrheit in den Geisteswissenschaften. Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bremen 1953. Erstdruck in: Deutsche Universitätszeitung 9 (1954), S. 6-8, wiederabgedruckt in Kleine Schriften I, S. 39-45.
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6. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge. Vortrag gehalten in München 1960 auf dem VI. Deutschen Kongreß ftif Philosophie, gedruckt in den Kongreßakten IDas Problem der Ordnung<, Meisenheim 1962, S. 26-36, wiederabgedruckt in Kleine Schriften I, S. 59-69.
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Bibliographische :r--;ach'weise
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10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz. Vortrag gehalten auf den Hochschultagen 1965 der Evangelischen Studentengemeinde Tübingen. Erstdruck unter dem Titel )Geschichte - Element der Zukunft< zusammen mit Vorträgen von R. Wittram und]. Moltmann, Tübingen 1965, S. 3349. Wiederabdruck unter dem auch hier gewählten Titel in Kleine Schriften I, S.149-160.
11. Mensch und Sprache. Vorabdruck in: Muttersprache 65 (1965), S. 257 - 262, veröffentlicht in: Orbis Scriptus. D. Tschizewskij zum 70. Gcburtstag. München 1966. S.237-243, auch in Kleine Schriften I, 5.93-100.
12. über die Planung der Zukunft. Erstdruck in: Daedalus95 (1966), S. 572-587 unter dem Titel IPlanning of thc Future" dcutsch in Kleine Schriften I, S. 161-178.
13. Semantik und Hermeneutik. Vortrag gehaltcn beim XlV. Internationalen Kongreß fur Philosophie in Wicn 1968. Erstdruck in Kleine Schriften III, S. 251- 260.
14. Sprache und Verstehen. Erstdruck in: Zeitwcnde Die neue Furche 41 (1970), S. 364-377, wiederabgedruckt in Kleine Schriften IV, S. 94-108.
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16. Die Unfahigkeit zum Gespräch. Rundfunkvortrag rur das Studio Heidclberg des SDR. Erstdruck in: Universitas 26 (1971), S. 1295-1304, wiederabgedruckt in Kleine Schriften IV, S. 109-117.
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Sachen Abbildung (s. Bild, Abbild) I 142f., 412f. Abenteuer I 75 Abhebung I 273f., 306, 310f., 331,380 Abschattung I 451; II 69 Absolutes (unendliches) Wissen (s. Geist, Vernunft) 120, 104, 173f., 233f., 248, 306, 347 ff., 464f. Abstand (zum Anderen, Zeiten-A.) s. Distanz Abstraktion 118,258, 432ff., 479; II 186 Adressat I 339f., 399; 11 287, 343f., bes. 476 Aequitas s. Billigkeit Affikte 11 284, 385 Affirmation (tragische) 1137; 11 141 Akademie I 26, 433 f. Aletheia 1461, 486ff.; 11 46f., 364 Allegorie I 77 ff., 157, 178; 11 94f., 283 Allgemeinheit s. a. Urteilskraft, Induktion usw. I 18f., 22f., 26f., 36ff., 46f., 74, 83,90,317,322 u.ö.; 11 31,73, 86f., 200f. . - konkrete, abstrakte I 26; 11 422f. Subsumtion unter A. 127, 36f., u. Ö. - der Erfahrung I 356 f.; 11 328 Altertumswissenschafi I 290; 11 55 Analogie I 81, 434f.; 11 12, 422 Analytik 11 293, 298 Analysis notionum 1420 Anamnesis I 21 f., 119; 11 237 f., 369f., 478 Andenken I 158, 395 Andere, Andersheit, Anderssein s. a. Gespräch I 273, 304f., 366f.; 11 9, 18f., 64, 116, 210ff., 335 u. Ö. Anerkennung I 349, 364; 11 244,336 Anfang I 476f.; 11 363 Anrede 11 53, 64 Anschauung, intellektuelle I 246f. Ansichsein I 349f., 451 f., 480f. Anspruch I 131, 365 Anticipatio I 354; 11 277 Antwort s. Frage Anwendung s. Applicatio
Anwesenheit (Vorhandenheit) s. a. Parousie I 128, 261; II 15, 46ff., 356 u. Ö., 428, 435f. Applicatio I 35f., 188, 312ff., 320ff., 335ff., 338f., 344f., 407; II 106ff., 260ff., 303f., 310ff., 419, 427, 471 Arabeskeniisthetik I 51 f., 98 Arbeit I 18, 218; 11 203, 242f. Arche (Prinzip, Erstes) II 303, 315, 325, 327f. Architektur s. Baukunst Arete s. a. Tugend I 18, 317 ff.; 11 303 Ars s. Techne Ars inveniendi I 26, 420 Assimilation I 256f. Asthetik I 45ff., 61ff., 85ff., 103f., 196f.; 11 472ff. Asthetisches Bewußtsein s. a. Ästhetische Unterscheidung I 46f., 87ff., 94ff., 102, 12f., 132, 140u. ö.; 11 220, 223f. Asthetischer Gegenstand s. Kunstwerk Asthetisches Interesse (Interesselosigkeit) 54f., 492 Asthetische (Nicht-) Unterscheidung I 91 ff. , 120f., 132, 144, 154, 158,403,479; 11 14, 440f., 472, 477 Asthetische Unmittelbarkeit 1139,404 Auffiihrung 1121, 139, 152, 172; 11 310 Auffiihrungstradition I 124 Aujkliirung I 36, 181f., 242f., 274ff.; 11 39, 42, 58, 83ff., 126ff., 183, 263, 304, 416f.,492 - historische 11 32 f., 36 Aufiragskunst 193, 140 Augenblick I 208; 11 135, 140ff., 371,413 Ausdruck s. a. Darstellung I 53f., 69, 77, 121,200, 216ff., 221, 228f., 233ff., 240, 265, 341 f., 399, 471 f.; 11 346, 384ff. Auslegen, Auslegung s. a. Hermeneutik I 188ff., 216ff., 312ff., 333ff., 389ff., 401 ff., 475 f. ; 11 55 f., 285 ff., 290, 309 ff. , 340f.
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Sachen
- grammatische I 190 - psychologische I 190ff., 217f., 302ff.; II 14f., 19, 57, 99, 104f., 123, 223, 284, 298, 313f., 383, 393ff. - kognitive, normative, reproduktiveI 315ff., 402ff.; II 17ff., 93ff., 98, 236, 278, 310, 399, 426f. - VOll Dichtung I 234; II 420, 508 - und Verstehen I 186f., 393ff., 40lff., 474; II 59ff., 264, 290, 345f., 351, 419,465 - Sprachlichkeit der! 402 ff.; II 79, 229f. - Selbstaujhebung der I 402, 469, 477; II 350f. Aussage I 457, 471ff.; II 46ff., 179, 192ff., 288,293 Äußerung s. Ausdruck - der Kraft I 209, 217 f.; II 177 Authentizitä't II 345 f., 352 Autobiographie I 228,281; II 105, 134, 322f., 388 Autor (Urheber) I 116, 184f., 187, 296f.; II 18f., 58, 104ff., 272, 284,441 Autoritä't I 11, 13, 276f., 281 ff.; II 39f., 225, 243f. Axiom I 354; II 47 Barock I 15, 85f. Bauaufgabe I 161 Baudenkmä'ler I 161 ff. Baukunst I 93, 161 ff. Bedeutung I 72 f., 96 f., 229 f., 248 f., 414 ff., 436f.,476f.;II174f.,196f.,395 Befehl I 339f.; II 47, 179,345 Begehung I 128 f. Begierde I 19, 257 Begriff, Begriffigeschichte, BegriJjlichkeit I 4, 400,407; II 11f., 77ff., 90, 292ff., 366, 375ff., 460, 494 Begriffibildung I 356ff., 432ff.; II 77 u. ö., 149f.,462 Begründung I 28f., 261, 275; II 484,505 Behammgskraft des Geistes I 286, 453 Beispiel s. Exempel, Vorbild I 44f., 48, 211 Beratung (= Euboulia) II 168ff., 315,467 Beredsamkeit s. Rhetorik BerufI 19 Besonnenheit s. Phronesis Beurteilung (sittliche, ä'sthetische) I 328; II 224,378 Beweis I 29,436, 47lf.; II 45,49,331,367
Bewußtsein I 72f., 229, 248f., 347ff., 360f.; II 1Of., 60f., 64, 84, 125f., 339 - Kritik II 362f., 435f. Bibel 1155, 177ff., 187, 190,200,282,330, 335ff.; II 94ff., 127, 132, 281, 283ff., 296f., 308f., 31lf. Bibelkritik I 24, 184f., 276; II 122, 277, 404f. Bild I 16f., 83f., 97, 120ff., 139ff., 156ff., 412ff., 417ff., 491 - Geschichte des I 140f. - Seinsvalenz des I 144 ff. - Spiegeldbild 1143 - religiöses I 147f., 154f. - Sinnbild I 82f. Bildende Kunst I 139ff. Bildung I 15ff., 22f., 87ff., 367; II 6,235, 280 - ä'sthetischeI 23 ff., 87 ff. - historische I 12f., 22f. Bildungsgesellschaft I 41, 92f.; II 221 Bildungsreligion I 15, 85 Billigkeit (Aequitas, Epieikeia) I 323f.; 11 106, 310f. Biographie I 67 ff., 227 f. Biologie I 455ff., 463; II 168 Boheme I 93 Causa II 69 Characteristica universalis I 420f. Christentum I 24, 45, 79, 84f., 136, 145, 178f., 213, 243, 292; 11 28,45,55, 138f., 403ff. Christologie 1145,432 Common sense I 24ff., 37; 11 236, 330 Complicatio 1439 Concinnitas 1140 Coniectura I 441 Copia II 273, 467 Critica I 26; II 111,254,313,497 Dabeisein s. Teilhabe Darstellung I 50, 58, 80f., 113ff., 142ff., 156ff., 414f., 488f.; II 375f. Dasein I 258 ff.; II 29 ff., 33 f., 54, 102, 331, 335 Deinos I 329 Dekonstmktion II 11, 114, 333, 361 ff. Dekoration I 43, SOff., 162ff.; II 377f.
Sachen
Denken I 267f., 335ff.; 11 200, 210, 294, 298,336,372,396,502 - Dialog der Seele 11 110, 152, 184, 200, 505 Destruktion 11 366 ff., 435 f., 484, 505 Dialektik I 189f., 192, 346ff., 368ff., 396, 412, 426f., 469ff.; 11 52, 306ff., 332,354, 366ff.,502 Dialog s. Denken/Gespräch Dianoia (Diskursivität) 1411 f., 426f. Dichter (-Historiker) I 215f.; 11 141 - (- Philosoph) 1279 Dichtung I 122f., 165ff., 192f., 453, 473f.; 11 198, 351ff., 508 Differenz, ontologische I 261 f., 460f.; 11 368, 372 - di.fference 11 371 Ding I 459f. Diskontinuität 11 136ff. Diskursivität s. Dianoia Distanz I 12f., 135, 137, 301 f., 448, 457; 11 8f., 22, 32, 63,143,221,351,476 Divination 1193,215; 11 14f., 61 Docta ignorantia I 26, 368 f.; 11 501 Dogmatik, historische,juristische I 332ff. - wissenschaftliche 11 506 Dolmetscher s. Interpretation I 313, 387f.; 11 153f., 264, 294f., 350f., 419 Doxa I 371 f.; 11 497 Duree I 74 Dynamis (Potenz) 127, 34,210, 428; 11 274, 467, 486 Eigenbedeutsamkeit I 95 Eikos, Verisimile (das Einleuchtende) I 26f., 488f.; 11 111, 234f., 280, 499 Einbildungskraft (produktive) I 52, 58f. Einfachheit (des Lebens) I 34 Einfall I 24, 271, 372, 468; 11 206 Einfiihlung I 47, 254; 11 57, 223, 284 Einheit (= Identität) 11 7f., 16f., 86, 174f. - Zwei-Einheit, spekulative 11 370 Einheit und Vielfalt I 430f., 461 ff.; 11 80 - der Weltgeschichte I 211 f. - von Denken und Sprechen I 406 Einsicht I 328, 362 Einzelfall (Produktivität dess.) s. Urteilskraft Eleos I 135 f. Eloquentia I 25,27 Emanation I 145 f., 427, 438 f.; 11 384ff.
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Emanzipation I 241, 243, 249 f., 257, 270 ff., 469 Empeiria s. Erfahrung Empirismus 112, 14,216,222 Endlichkeit (des Menschen, der geschichtlichen Eifahnmg) I 105,125,137, 236ff., 280f., 363, 428ff., 461, 475f., 483f.; 11 28f., 40ff., 54, 331, 333, 470 - und Sprachlichkeit I 460ff. Energeia, Energie I 116, 118, 218, 230, 236, 247,444,463;11308,486 Entfremdung, Verfremdung s. Fremdheit Enthusiasmus I 130f. Entscheidung, sittliche I 322f.; 11 135, 168, 303, 324, 427f.,468f. Entwurfl 266ff.; 11 59fu. ö., 168 Enumeratio simplex I 354 Epagoge (Induktion) I 354ff., 436; 11 149, 200, 228f. Epieikeia s. Billigkeit Episteme I 319; 11 78 Epoche 11 136 f., 252 f. Erfahrung I 1Of., 105f., 320f., 352ff., 421, 463f., 469; 11 69, 79f., 149f., 200 - geschichtliche I 225f., 244f.; 11 29ff., 112, 136ff., 332f., 418, 471 - hermeneutische I 353 ff., 363 f., 387 ff., 432, 469; 11 115 ff., 224 f., 238, 466, 484, 492 - dialektischer Prozeß der 1359 ff., 271 - des Du I 364ff.; 11 35, 104, 210f., 223, 445f.,504f. - und Wort I 421 - der Dialektik I 468 f.; 11 270 f. Erhabene I 57 Erinnerung I 21, 72 f., 173; 11 145 Erkenntnistheorie I 71 f., 224 ff., 254, 258; 11 28ff., 69f., 387f., 397 Erlebnis - Wortgeschichte I 66 ff. - Begriff I 70 ff., 100 f., 227, 236, 239 f. , 254, 281; 11 30ff. - ästhetisches I 75f., 100f. Eriebniskunstl 76ff., 85f., 93; 11 379 Erscheinung I 348f., 486f. Eruditio I 23 Erziehung I 26, 237; 11 172, 305, 308, 326, 433 - ästhetische 188 Eschatologie I 211 f., 431; 11 407f.
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Sachen
Ethik/Ethos s. a. Phronesis, Praxis I 45, 317f.; 11 308, 315f., 325f., 433, 469, 500 Euboulia s. Beratung Exemplum s. a. Beispiel, Vorbild I211 Existenz I 258ff.; 11 54,103,369, 427f. - ästhetische I 101 f. Existenzideal I 267 f. Experiment I 220 f., 354; 11 457 f. Experte, Expertentum s. a. Techne 11 159ff. , 182,251f.,256f.,316,324,454 Faktizität I 259f., 268f.; 11323, 331f., 335, 428,433 Fest I 128f. Form I 16 f., 83 f., 97 f. - innere I 137, 444 Forma,formatio I 16f., 427f., 441,491 Forschung I 219; 11 38 ff., 52 ff., 225 ff. , 248 Frage! 304ff., 368ff., 374ff.; 116, 52ff., 64, 82ff., 153, 179, 193,205,503 Freiheit r 10,14, 87f., 209ff., 218ff.; 1139, 41f., 44, 81ff., 187 - Umweltfreiheit r 448 Fremdheit s. a. Andere, Andersheit r 19 f., 183, 195, 300; 11 35, 55, 61 ff., 122 f., 143, 183,187,235,264,285,313,419,436 - Entfremdung, Verfremdung I 19, 90, 168f., 172, 390f.; 11 181, 219 u. Ö. Freundschaft I 30; 11 211,312,315, 417f. Fundamentalontologie I 223, 261 f.; 11362 f. Fürsorge r 366 Ganzes (Teil), Ganzheit r 76, 179f., 194f., 202, 227f., 296, 463; 11 31,57,287,307, 462 Gattungen (literarische) I 294 Gattungslogik r 432ff.; 11 87, 366 Gebilde! 116ff., 138; 11177, 357ff., 508 Gedächtnis (Mneme) I 21,355; 11 149 Gefiihl (Sentiment) I 34, 38, 46, 49, 90ff., 194 - Qualitätsgefiihl I 194, 215, 257 Gegebenes I 71 f., 231, 246 f., 248 f.; 11 339 f. Geist I 19,104,214, 231ff., 247f., 349u. Ö., 354 u. Ö., 397, 441, 461; 11 71 f., 105,262, 270f.,435f. - objektiver! 233ff.; 1132,362,367 Geisteswissenschaften I 9-15, 28ff., 46f., 90, 104f., 170f., 222ff., 238ff., 263,
286ff., 479; 11 3,28 u. Ö, 37ff., 50 u. Ö., 98 u. Ö., 238, 260 u. Ö., 387 u. Ö., 438 u. Ö., 497 u. Ö. Gelehrtenlatein I 440 Genie, Genialität s. a. Kongenialität I 59ff., 61ff., 70, 98ff., 193, 196;1175,417 Geschehen I 105, 314, 379, 423, 430f., 476, 488, 491f.; 11 63, 130, 135ff., 240f., 322f., 332f., 378 - Überlieftrungsgeschehen r 295, 314 u. ö.; 11 62 ff., 445 f. - Sprachgeschehen I 465, 474f. Geschichte s. a. Historie, Historik usw. I 200 ff., 208 ff., 226 ff. u. ö; 11 27 ff., 31 f. , 36, 48f., 59, 133ff., 413f., 445 - der Philosophie 11 504 Geschichtlichkeit s. Historisches Bewußtsem Geschmack I 32,37, 40ff., 45ff., 61ff., 87, 90ff.; 11 375, 440 - und Genie I 59ff. - Idee der Vollendung des I 62f. Gesellschaft I 10, 36, 41, 45, 90ff.; 11 239, 269,274,317,320 Gesetz r 10ff., 44, 246, 313f., 323f., 330ff., 365; 11278, 285, 400ff. Gesetzespositivismus I 323; 11392, 400 Gespräch (Dialog, Sprechen) I 189, 192, 383 f.; 11 6ff., 58 ff., 112ff., 151 ff., 200, 207ff., 332 u. Ö., 500ff. - ~ermeneutisches r 373 ff., 391, 465 ff.; 11 238 Gestalt I 234; 11 358 f. Gewissen r 217, 220f., 349; 11 485 Gewißheit I 243; 11 45, 48, 300 Geworfenheit I 266f.; 11 9f., 124f. Glaube I 132, 267, 335ff.; 11 102, 121 ff. , 285,312,406,430 Gleichzeitigkeit s. Simultaneität Gott, Gottheit, Göttliche I 34, 215 f., 324, 336, 363, 422ff., 442, 489f.; 11 28, 71, 129ff., 202, 220 Glück 11468 Grammatik r 418, 436; 11 73, 84, 202, 233, 338,342 Gusto s. Geschmack Gutes (Idee des Guten, agathon) I 27f., 317, 482 ff.; 11 266, 275, 291, 304 u. Ö., 422, 455
Sachen
Harmonie, dorische 11 501 Hellenismus I 292; 11 366 Hermeneutik I 169ff., 177ff. u. ö., 300ff., 312ff., 330ff., 346ff.; 11 5ff. u. ö., 57ff., 110ff., 178 ff., 219ff. u. ö., 297, 301 ff. u. ö., 419ff., 438ff., 493ff. - romantische I 177 ff., 201 ff., 227 f., 245, 301 f., 392; II 97 ff., 121 f., 222 f. - reformatorische I 177 ff. ; II 94 f., 277, 311 f. - theologische I 177, 312 ff., 335 ff.; 11 93 ff. , 101 ff., 125 ff., 281 ff., 391 f., 403ff. - juristische I 44, 314ff., 330ff.; 11 67f., 106f., 278, 310f., 392f., 430 - Universalität d. H. 11 110f. u. ö., 186 u.ö., 201ff., 219ff., 242 u.ö., 255ff., 312ff. u. ö., 439ff. Herrschaft - Knechtschaft I 365 f.; 11 68, 203, 242,250,336 Herrschaftswissen I 316,455 Herstellung I 99 f.; 11 252, 303, 308 Hexis I 27, 317ff. Historie I 28f., 91, 172f. u. ö.; 11 27ff., 33, 221,321 Historik I 47, 181, 201ff., 216f., 226ff., 340ff.; 11 20f., 441 f. Historisches Bewußtsein = Wissen um die eigene Geschichtlichkeit I 4, 173f., 233 u. ö., 300ff., 399ff. u. ö.; 11 27 u. ö., 64f., 100 u. Ö, 124f., 134 u. Ö., 221 u. Ö., 240, 262f., 299f., 410ff. - Historisches Wissen, Bildung, Verstehen I 12, 19f., 91f., 172, 332f., 344f., 366ff., 399ff. u. Ö. - Selbstvergessenheit des H. B. I 174 u. Ö. Historismus I 20tff., 222 ff., 275, 278, 305ff. u.ö.; 11 38,63, 99f., 221ff., 240, 389ff., 414ff. Hoffnung I 355 Hören I 367, 466 f.; 11 213 f., 350, 352 f., 357ff., 371, 473f. Horizont I 249f., 307ff., 375, 379ff., 398; 11 30,38,53, 55f., 76, 369,417,506 Horizontverschmelzung I 311 f., 380 f., 401; 1114,55,109,351,436,475 Humaniora s. Geisteswissenschaften Humanismus I 14 ff., 23 f., 178, 198, 206, 291,343; 1199,122,279,284, 288f., 292, 296,383,433 Humanitas I 30; II 214 HumourI30 Hyle s. Materie
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Ich-Du- Verhältnis I 254, 364ff.; II 35, 54, 211 Idealismus I 252 f., 451 f.; II 9 f., 69 f., 125, 245 - deutscher (spekulativer) I 11, 65, 105, 221 f., 246f., 255ff. u. Ö., 464; II 32, 71, 126,241 f., 264, 366f. Idee I 53ff., 58, 83f., 87, 205, 219, 317, 484 ff. u. ö.; II 35, 73, 235, 370, 402, 488, 501 ff. Identität s. Einheit Identitätsphilosophie I 256; II 362,388, 470f. Ideologiekritik II 114f., 18tff., 201, 241, 258, 349,434,465f., 500 Idiota I 26, 441 f.; II 38, 50, 172, 306 Idola I 355; II 79 Illuminatio 1489 Immanenz II 335, 446 Individualität I 10, 183f., 193ff., 211, 217f., 229ff., 347, 443f.; II 15, 21, 63, 98, 173f., 21Of., 221, 313f., 330,426 Individuum, weltgeschichtliches I 208, 376 f.; II 105 Induktion s. a. Epagoge I 9ff., 354f., 421, 433; II 112 Industrialisierung II 199,231,260 Inkarnation I 145 ff. , 422ff., 432f.; II 247 Innerlichkeit I 210, 217 - des Wortes I 425 ff. Innesein I 71,227, 239f., 257f.; II 251,387 Instinkt I 34 Instrumentalistische Zeichentheorie I 408 ff., 420f., 436ff., 450f. Integration I 169 ff. Intellectus agens s. a. Verstand I 487 - archetypus II 246 - purus II 266 - infinitus I 214, 489 f.; II 412, 435, 500 Intentionalitiit 172, 229, 247 ff. - anonyme I 249; 11 16, 245 Interesse, Interesselosigkeit I 55 ff., 492 Interpretation s. a. Auslegung I 124f., 216f., 340ff.; II 14ff., 36,103,283, 285f., 310, 339ff., 434f. Intersubjektivität I 252ff. Intuition I 35; II 168 Ironie I 300; II 347 f., 420, 501 Judicium s. Urteilskraft Jurisprudenz I 44; II 311
518
Sachen
Kairos II 32, 307 Kalon (das Schöne) I 481 ff. Katharsis I 135 Kerygma s. Verkündigung Kirche! 155f.; II 289,292,296, 311f. Klassisch I 204f., 290ff.; II 223f., 476 Koinonoemosyne (sensus communis) 130 Kommunikation II 114ff., 144, 189, 208ff., 256f., 265f., 274, 296, 344ff. - verzerrte II 257,266, 349f. Kommunion I 129, 137, 156; 11 431 Kompetenz, kommunikative II 265ff. Kongenialität I 192ff., 221, 237f., 245, 295, 315f.; II 105,124,395 Konstitutionstheorie, phänomenolog. I 252ff.; II 371 Kontinuität des Daseins I 74ff., 101f., 125f., 133, 138, 249f.; 11 134,469 - der Geschichte I 212f., 218f., 288f.; II 135ff. Konvention s. a Übereinkommen II 203f., 401 Konventionalismus, juristischer I 324f. - sprach theoretischer, sprachlicher I 409 ff.; II 176,190,365 Korrelatiol1sforschung I 248 ff. Korrespondenz I 374f. Kosmos I 56f., 484; II 28,381,413 Kraft I 209ff., 217ff., 230ff.; II 31f., 177, 426, 490 Krise I 208 Kult I 114f., 121, 132f. Kultivierung 117, 56 Kultur! 16, 38f., 49f.; 11224,226,237,322 - Kulturkritik II 159f., 171,251 Künste, transitorische I 142f., 152; II 477 - reproduktive 1152 Kunst I 55ff., 61ff., 88ff., 101ff., 233ff., 239f., 302f., 480ff.; II 5, 220f., 472ff., 481 - des Fragens, des Gesprächs I 371 ff. - des VerstehensI 169f., 192 - des Schreibens 1167,397 - Eifahrung der K. II 7, 14, 17, 108, 332, 378, 432f., 471f., 495 Kunstlehre s. Techne Kiinstler, kiinstlerisch I 94f., 116, 123, 192f.; II 220 Kunstwerk I 90ff., 99ff., 113f.; II 75, 313 u. ö., 476 u. ö.
Lebensphilosophie I 223, 235 ff.; 11 465 Leben I 34ff., 69, 72ff., 190, 215, 226ff., 231 f., 236 f., 239 ff., 263; II 30 ff., 45, 102 f., 140 f., 377 LebensweltI251f., 353f.; 11323,361 Lektiire, Leser I 153, 165 f., 195, 273, 339, 394ff.; II 21,351 - ursprünglicher I 397JJ.; II 343 LesenI94f., 124A , 153 A , 165ff., 254, 345f.; II 17ff., 61, 205, 233, 279ff. u. ö., 356ff. - Lesbarkeit 11 341 f., 353 Literatur I 165ff., 395; II 4,17,180,209, 284, 350ff. Locus s. Topos Logik (Syllogistik) 1247, 371, 432f.; II 47, 49f., 1~3,280,294f., 338,421 Logikkalkül I 419; II 192 Logos I 224f., 317ff., 356, 373ff., 409, 415ff., 423ff., 433f., 460; II 43, 46ff., 146, 148, 333, 336 Lüge II 180 Maieutik I 373f. Manier II 375 f. Materie II 87 Meinung s. Doxa - Vormeinung ( Vorverständnis) I 272 ff., 299ff.; II 52f., 59ff. Mens auctoris s. Autor Menschenkenntnis I 364 II 162,315 MesotesI45f., 317ff.; 11 315f. Metapher, Metaphorik I 81, 108, 433ff.; II 176, 355 f., 462 Metaphysik I 260ff., 462ff.; II 10 u. ö., 202 u.ö. - dogmatische 1471; 11 187 - Übenvil1dung der M. II 333ff., 368ff., 502f. Metasprache I 418; II 50 Methexis s. Teilhabe MethodeI11, 13f., 29, 177f., 182, 185u.ö., 254,287, 354f., 364f., 463ff.; II 38,45 u. ö., 186, 226 u. ö., 248, 394, 438 u. ö. Mimesis (Nachahmung) I 118ff., 139 u. ö., 414; 11 501 Mißverständnis/Mißverstand I 188ff., 273 u. ö.; 11 222ff., 237, 313,343 Mitleid 1133, 135ff. Mittel- Zweck I 326f., 364,463 Mneme s. Gedächtnis
Sachen
Mode 1 42f.; 11 51,228 Modell 1 320; 11 307, 323, 328 MO/101og 11 207,211 u. ö., 256, 370, 498f. Monument 1154 Moral, provisorische 1 283f. Moralphilosophie 1 30f., 36, 38f., 285, 317ff.; 11 187, 304f., 308, 327 Moral science 1 9, 318f.; 11 320,327,450 Motiv 198 Motivation 1 382f., 475 Museum 1 92f., 139f. Mündlichkeit s. a. Schriftlichkeit Text 1 11, 192, 201 ff. , 221 u.ö., 263, 328; 11 236, 342,346,419 Musik, absolute 1 97, 152f., 169; 11 31, 90, 340,358,385 - Hausmusik 1 115f. Mythologie 1 82f., 93; 11 390f. Mythos 1 85ff., 114, 138, 278 u. ö., 351 u. ö.; 11 33, 36, 101 f., 126ff., 380 Nachahmung s. Mimesis Nachsicht 1 328f. Nachfolge (Imitatio) s. a. Vorbild 1 48, 286, 343;1199,122,279,296,300 Name, Onoma s. a. Wort 1 409ff., 433f., 441 f.; 11 73 Natur 1 16ff., 34, 354f.; 11 27f., 381, 413f. - schönheit 157 ff., 63 - recht 112, 28, 30, 275, 324f.; 11 401 f., 415 - wissenschafteIl 1 10 ff., 24 f. u. ö., 46 u. ö., 130, 223ff., 244, 263, 288, 455ff., 463; 11 3,37 u. ö., 251 u. ö., 337 u. ö., 439f., 496 Naturrecht s. Natur Naturwiichsige Gesellschaft 1 279; 11 246 Negativität der Eifahntng 1 359 f. Neugierde 1131; 11 224f., 325 Nihilismus 11 38 Nominalismus 1 11ff., 121,439; 11 49f., 71, 101 Nomos s. a. Gesetz 1 285 f., 435 f.; 11 433 Notwendigkeit i/1 der Geschichte s. a. Freiheit 1 210f.,217f. Nous 1 34, 129, 327, 458 u. ö.; 11 362 Objektivismus, Objektivierbarkeit 1 248ff., 260 u. ö., 457, 480; 11 40, 48f., 64, 69ff., 124,221,240,323,356, 388f., 410, 435, 443f. Offenbarung 1 336f.
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Offenheitll05, 273, 304 u. ö.; 11 8, 32, 63 f., 152f., 259, 380 - der Eifahntl1g 1 104f., 361 f. u. ö., 450f. u.ö.;11201,230, 271, 505 - der FrageI 368ff., 380f. - des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins I 346, 367 f.; 11 498 Okkasionalität - des Kunstwerks 1 149ff.; 11 379ff. - der Auslegung 1 186f., 301 f. - der Sprache 1 462; 11 178, 195 f. Olloma s. Name, Wort Ol1totheologie 11 12 Ordl1u/1g s. a. Kosmos I 57, 104, 110; II 139, 155Jj., 287 (Allordnung), 381, 4131 Orexis 1 317ff. Ornamel1t 1 50f., 163f. Ornatus 11 432 Pädagogik 1 12f., 186f. Paideia 1 23ff., 481 Pantheismus 1 202, 214f., 222 Parusie (Anwesenheit, Gegemvärtigkeit) 1 . 128f., 133, 485ff. Patristik 1 85, 145, 423ff. Peifektiol1ismus 115,20, 278ff. Peitho s. Überzeugung Phänome/1ologie 1 89, 246ff., 258ff.; 11 52, 67,69, 338, 411f., 446 PhilologieI28u.ö., 177u.ö., 195ff., 201f., 287 ff., 340 ff.; 11 20 f., 55, 383, 488 Phobos (Bangigkeit, Furcht) 1 135f. Phol1oze/1trismus 11 371 Phronesis (prudentia, Vernünftigkeit) 1 25ff., 318ff.; 11 162,239,251 ff., 311, 315 u. ö., 324 u. ö., 422, 485 Physik 1 427ff., 435; 11 48,303 Physis 117,318; 11 363f. Poesie pure 11 474 Poetik 11 431 f. Politik 11 160ff., 235, 252f., 267, 314, 318, 327 Porträt 1 150ff. Positivismus 1 287 ff.; 11 71 f., 254, 434 Praxis (prakt. Philosophie) 1 25ff., 318ff.; 11 22f., 117, 252ff., 275, 289, 302 u. ö., 427 u. ö., 454f., 468 u. ö. Predigt 1 132f., 336ff.; 11 97, 132,312 Presence s. Anwesenheit Problem, Problemgeschichte 1 381ff.; 11 81ff., 113,482,484
520
Sachen
Produktion (Produktivität) 1 63ff u. ö., 98ff, 192f, 196ff, 301; 11 63,236 Profanität 1 155f Projektion 1 258 Pseudos (Täuschung, Trug, Falschheit) 1 412ff; 11 50f, 235 Psychologie 173f, 228ff, 341 f; 11 134,254, 388 Psychophysik 1 74 Pulchrum s. Kalon, Schön Quelle 1 427; 11 34, 383f Querelle des anciens et des modernes 1 26, 166, 181; 11 263,299, 414f, 444 Rat 1 328; 11 315f Ratio, Rationalismus 1 34, 49, 198, 275f, 419ff, 482f; 11 276f Recht, Rechtshistorie, Rechtsdogmatik 1 44ff, 330ff; 11 311,441 ff - Rechtsschöpfung 11 310f, 346, 399f, 426f Reduktion, phänomenologische 1 250f, 260; 11 412 Rejlexion (Bewußtmachung) 1 71, 94, 239 ff., 258, 366ff, 430, 486; 11 32, 121 u. Ö., 239 u. Ö., 270 u. Ö., 302, 317, 469f, 500 - ästhetische! 123, 351 - transzendentale 1 249; 11 246 f, 332, 428 - äußere 1 468ff Rejlexionsphilosophie 1 240 f, 346 ff, 452 u. ö.; 11 8,86 Reformation 1 177 f., 282; 11 279, 282ff, 308f,312 Regeneration 1 34 Regisseur 1152; 11 263f Rekonstruktion 1 171 ff, 192, 196 Relativismus 140,46, 240f., 252, 350, 451; 11 30,38,40,201,230,262,299,399 Repräsentation 1 74f, 146f, 153f, 156f, 164, 21Of; 11 12, 72 Reproduktion s. a. Darstellung 1 82f, 122ff, 165, 191u.ö., 315f,403f;II17, 109,263f,377f,441 Respublica litteraria 11 279, 295, 298f Restauration 1 171 f, 278; 11 263 Rhetorik 125ff, 77, 179,382, 488f; 11 95f, 111,234 u. Ö., 273f, 276 u. Ö., 292 u. Ö., 320f, 431, 466f., 486, 498ff. R~ythmus 11 74f
Richtungssinn s. Sinn Roman 1166 Romantik s. a. romantische Hermeneutik 1 56, 93, 200 u. Ö., 277 ff; 11 122 u. Ö., 222, 232,251,330 Sache, Sachlichkeit 1 265, 449, 457ff, 467f, 489; 11 6, 56ff, 66 u. Ö. Sachlichkeit der Sprache 1 449, 457f; 11 6,56 Sage s. a. Sprache 1 94, 138, 300; 11 63, 498 Sakralität 1 154f Schauspiel 1114, 122f, 133ff Schein, ästhetischer 1 89ff, 484f; 11 359f Schicksal I 19, 135f; 11 32,36, 138f, 202f Schmuck s. Dekoration Schön, Schönheit - freie, anhängende 1 SOff - Natur- und Kunstschönheit 1 50, 55 f, 64, 483f - Metaphysik des Schönen 1 481 ff; 11 359f Schöpfung, Schöpfer 1420, 438f, 483; 11 71 Schottische Philosophie 1 30 Schrift, Schriftlichkeit, Schreiben 1 165ff, 276f, 393ff; 11 204f, 236, 283, 296, 308ff, 344ff, 419f, 474f Schuldtheorie, tragische 1 137 Scopus (Gesichtspunkt) 1 164, 186; 11 35; 255, 259,282,286,296,309,317,430 Seele 1462; 11 43,71, 74f, 234f, 255, 287, 298,315,370,501 Sein 1 105, 145, 261, 459; 11 85f, 333f, 366ff - Seinsverständnis 11 125, 428f - Seinserinnerung 11 503 - Seinsvergessenheit 1 262; 11 333, 368, 372, 447,502f Selbstauslöschung 1 215, 219, 239, 274; 11 60f, 221 f Selbstbewußtsein 118,74, 214f, 233f u. Ö., 257ff;119,32,84,300,338,363,484f Selbsterhaltung 1 257 Selbsterkenntnis 11 40f, 336, 407 Selbstvergessenheit 1 131, 133; 11 73, 126ff, 150f, 178, 198,372,485 - des historischen Bewußtseins 11 174 u. Ö. Selbstverständnis (Bewußtmachung) 1 103, 463ff; 11 75f., 121 ff., 255, 406ff Sensus communis 1 24ff, 37f, 39f, 49; 11 111 Sensualismus 1 38; 11 80
Sachen Sentiment s. Gefühl Simultaneität (Gleichzeitigkeit) I 91 ff., 126 ff., 395; II 33, 55, 220, 321, 432, 471 f. Sinn s. a. Bedeutung I 71 f., 297ff., 339, 368ff, 477; II 5,57 u. ö., 178 u. ö., 264f., 352ff, 368ff., 470 u. ö. - Richtungssinn I 368; II 369 Sinn, Sinne (sensus) I 23ff., 30ff., 37f.; II 210 Sitte, Sittlichkeit I 27f., 44, 56f., 285, 317ff; II 39,138,158,250, 315f. Situation I 45f, 307, 317 u. ö., 339, 476; II 51, 53f., 164,275,315 Skulptur! 141 ,., Solidarität I 30, 37; II 80, 269f., 347 Solipsismus II 84 Sophia I 25 u. ö. Sozialingenieur II 452, 459 Sozialwissenschaften s. a. Gesellschaftsw. I 10, 364f.; II 21f., 114ff., 238ff., 248f., 451ff Spekulativ, Spekulation 1223 u. ö., 469ff.; II 52,370,474 Spiegel, Spiegelung I 143f., 429, 469f; II 73, 148,222, 242f., 354 Spiel s.a. Sprache I 107ff, 491ff.; II 5f., 60, 90, 128ff, 151ff., 259, 379f., 446, 495 Sprache, Sprechen s. a. Gespräch I 200, 272f., 383ff., 433f u. ö., 459ff, 467ff.; II 5ff., 54ff. u. ö., 109ff., 125ff, 146ff u.ö., 197f, 207u.ö., 231, 243u.ö., 332 u. ö., 506ff. - des Glaubens II 408 ff. - der Natur 157, 478f.; II 233, 434 - der Überlieftrung I 339ff. u. ö. - und Logos I 409ff, 460 u. ö. - und Verbum I 422ff, 487; II 80, 384 - Privatsprache II 176 - Sprache der Metaphysik II 332f, 356, 361ff,366 - Sprachspiel II 239, 245 u. ö., 429 - Sprachvergessenheit II 343, 361 - Ursprache I 430,448; II 74, 147, 192,365 - Virtualität der Sprache II 204, 364, 370 Sprachlichkeit des Verstehens II 64f, 73, 112, 143ff, 184ff, 232ff, 436, 444, 465, 496f Sprachnot, Sprachfindung II 10, 83, 85f., 332,367,461,507
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Sprachphilosophie I 406f. u. ö., 443; II 5f., 72ff., 147ff., 338, 361,429 Sprachregelung II 169 f., 190 Sprachunbewußtheit 1272, 383, 407 f., 409; II 148 Spur, Linie II 371 Staat 1155 f. - idealer II 413 - vs. Polis II 418 Standpunkt der Kunst I 62ff Statistik I 306; II 226 Stiftung I 159f. Stil I 7, 43f., 293f.; II 352, 375ff. Struktur! 227f., 235f.; II 31,57,358,398 Subjekt, Subjektivität I 228, 250ff., 282 u. ö.; II 84, 410ff, 446, 505 Subjektivierung - der Ästhetik I 48ff., 87, 98ff - als Methode I 73ff - des Schicksals I 136f. Subjektivismus 1101,105,148, 261f. u.ö., 464;1170,75,124,331f. Subordinationismus I 424 Substanz I 20, 286; II 251 f., 363, 366, 502 f Subtilitas I 188, 312; II 97 Symbol, Symbolik 115, 78ff., 158f., 408; II 72 Sympathie I 30,217,219, 236f. Synesis I 328; II 314 Syntheke s. Übereinkommen Systembegriff1 179; II 484 Takt 111 f., 20f u. ö., 34, 45; II 40 Tathandlung II 367 TatsacheII3f., 321f., 339, 388, 457f Tatsächlichkeit II 325, 327 Täuschung II 40f. Techne (ars) I 320,357; II 23, 160ff., 252f., 304 u. ö. - Kunstlehre I 182, 270; II 92 u. ö., 254, 312ff. Technik II 23,48, 194,203,219,225,368 Teilhabe I 129ff, 156, 215, 297, 395, 462, 485; II 58, 259, 323 Teleologie 160, 71, 207, 463f; II 228ff - der Geschichte I 203 ff.; II 412 ff Terminus, Terminologie I 419; II 83f., 113, 176f., 191f., 196, 365f. Text s. a. Schriftlichkeit I 168, 265, 383; II 17 u. ö., 233 u. ö., 337ff., 434 u. ö., 474 u.ö.
522
Sachen
- eminenter II 348, 350ff., 475f., 508 Theologie s. a. theol. Hermeneutik 1 127, 177ff., 422ff.; II 101f., 277f., 282ff., 409 - liberale II 391,429 - der Geschichte 1 204 f.; II 124 Theorie, theoretisch 119,27, 129f., 458f.; II 233, 321 f., 324f. Tod II 141f. Topica 1 26; II 282 f., 430 Topos, Locus 1 437; II 282f. Totalität II 174, 176, 198, 460, 473, 506 Tradition 1 177 f., 282, 285 ff., 300 ff., 364; II 263,268,470 Tragödie, tragisch 1 133ff., 362f.; II 140f. Trinität I 422ff., 461 Tugend (Arete) I 27, 30f., 317ff., 453; II 290f., 315 Tyche 1 321; II 160, 352 Typologie II 100 ff., 283, 389 Übereinkommen (Syntheke) 1 435 f., 449; II 16,74,146,326 Überhellung I 389,404; II 63,382 Überlieferung s. a. Tradition 1 165ff. u. Ö., 280 u.ö., 341ff., 363ff., 366, 393ff., 400, 445, 467; II 20, 39 ff., 62, 76, 143 ff., 237,241f.,370, 383, 443,447 Übersetzung I 387ff., 450; II 92, 153, 183, 197, 205 f., 229 f., 342 348, 436 Überzeugung (Peitho) II 236, 273 f., 308, 431,466,499 Unabgeschlossenheit s. Offenheit Universalgeschichte 1201, 203ff., 235; II 31, 34,75,240,246 Universalität s. Hermeneutik Universum, hermeneutisches II 441,466 Unmittelbarkeit s. a. Ästhet. Unmittelbarkeit I 101, 214f, 404 - des Verstehens 1221 - der Gesprächssituation II 344 Unterscheidung, ästhet. s. Ästh. Unterscheidung Urbild s. Bild Urkunde, Kunde s. a. Schriftlichkeit II 344ff. Ursprache s. Sprache Urteil s. Aussage und Logos Urteilskraft Uudicium) 127,31 f., 36ff.; II 97, 278,307,310,328,455
- ästhetische I 43 ff., 60 f. - reflektierende I 37, 44f., 61; II 400,427 Vandalismus I 156 Veränderung I 116, 286; II 268 Verbalismus I 355, 463 Verblendung 1 137, 327 Verbum s. Wort Verfremdung (Entftemdung) s. Fremdheit Vergessen s. a. Selbst-, Seinsvergessen I 21; II 145, 485 Vergleichung als Methode I 237 f., 406 Verhör II 346 Verifikation II 48, 50, 185 Verisimile s. Eikos Verkündigung 1 336 ff.; Ir 127 ff., 138 f., 286, 312, 345f., 407, 426f., 430 Vermittlung - totale I 115ff., 123ff., 132; II 362,471 - geschichtliche I 162, 174, 221 f., 295 ff., 333f., 346 u. ö.; Ir 441 ff. - absolute 1 347 ff. Vernehmen (noein) 1416 Vernunft I 33, 277, 283f., 349, 405, 425, 471;1122,47,52,183,187,191,204,215, 255,267, 269f., 274f., 327,497 - historische II 28, 32ff., 36, 387 - praktische II 427 f., 467 ff., 499 f. Vernünftigkeit s. Phronesis Verschlüsselung/Entschlüsselung 1 300; II 284ff.,349 Versetzung 1 193, 195, 308ff., 328f., 339, 389f. u. Ö., 398; Ir 61 Verstand s. a. Intellectus 1 52, 59, 80, 187, 276,471 f. Verständigung, Einverständnis (Konsensus) I 183, 297f.; II 16ff., 116, 183 u. ö., 225 u. ö., 266 u. ö., 342 ff., 497 Verständnis (sittliches) 1328; II 314ff. Verstehen s. a. Sprache, Sprachlichkeit I 183ff., 215, 219ff., 263ff.; II 6ff., 30ff. u.ö., 52ff., 57ff., 103, 116f., 121ff., 222ff. u. Ö., 330 u. Ö. Verwandlung I 116ff. Verweilen s. a. Zeitlosigkeit des Kunstwerks Ir 359, 369 Vieldeutigkeit, produktive II 380, 421 f. Vollendung - der Bildung 1 20 - des Geschmacks 1 62f.
Sachen
523
- des historischen Bewußtseins I 233ff., 244; 11 32,35,42 - des hermeneutischen Bewußtseins 1367f Vollkommenheit s. Vorgriff der Vollkommenheit Vorbild (s. Nachfolge) I 48, 198, 290ff, 342ff;1189,330,499 Vorgriff der Vollkommenheit I 229f; 11 61 ff, 265 Vorhandenheit s. Anwesenheit Vorurteil (praejudicium) I 275f; 11 60ff, 181f - konservative 11 270f - produktive 11 261 f, 434, 454 - Vorurteilslogikeit 11 34, 433f Vorverständnis I 272ff, 299ff; 11 61, 240, 247, 277ff, 406
u. Ö., 142f, 228ff, 239ff, 247, 441 u. Ö., 475f., 495 Wirkungszusammenhang (Bedeutungs-, Sinn-) 11 31, 134, 358, 461 Wissen - dist. Eifahrung 11 271, 306ff., 314ff - des Allgemeinen 11 149, 168, 200f. ~ Wissenschaft s. a. Naturw., Geistesw., Historie! 241 ff, 338 ff., 457 ff.; 11 37 ff., 78 u. Ö., 155 u. Ö., 172, 181 f., 186 u. Ö., 225 u.ö., 280, 319u.ö., 449u.ö. Witl30 Wort (Onoma, Verbum) 1366 u. Ö., 409, 420, 422ff., 438ff., 487 u. ö.; 11 80 u. Ö., 192 u.ö., 29~ 370f., 460 - Selbstpräsentation des 11 352ff. - Wortspiel 11 354
Wahrheit I lff, 47, 103ff., 118, 174, 490f; 11 37 u. Ö., 50 ff., 71 u. Ö., 103, 220, 232, 411,432,482,504 Wahrnehmung 11 339 Wahrscheinlich s. Eikos Welt, Umwelt I 428, 446ff., 460; 1134, 73f., 112, 149ff, 183,202 Weltanschauung 1 103 f, 279 f., 447; 11 78, 100 Wert, Wertung I 46,63,225, 243; 11 29f, 33, 38f., 133f., 163,203,221,32~334 - Wertphilosophie 11 388f., 428, 458 Wesen s. a. Anwesenheit 11 369,372 Wesenserkenntnis 1 120f., 434f. Widersprüchlichkeit I 452; 11 416, 421 Wiedererkenntnis I 119ff., 381; 11 149f, 200f,229f Wiederholung 11 353,477 Wille zur Macht I 365; 11 103, 333f, 336, 372, 502 - zur Dauer I 286ff., 395, 399 Wirklichkeit s. a. Faktizität I 88f., 121, 347; 11 245, 380, 488 Wirkungsgeschichte, wirkungsgesch. Bewußtsein I 305 ff., 346, 348, 351 f , 367 f. , 392f., 476f.; 11 5, 10f., 31 u. Ö., 64f, 106
ZahI1416,420,438 Zeichen 1 157ff., 416ff.; 11 16,50, 71f., 174, 178,385 Zeigen 1120,400,402,404; 11 47,334 Zeit, Zeitlichkeit I 126ff, 231, 261 f.; 11 16, 124, 135 ff., 356 u. Ö. Zeitenabstand 1195, 296ff, 302f., 316 u. ö.; 11 8f, 63,109,264,403 Zeitgenossenschaft I 303 f., 399 Zirkel, hermeneutischer I 179, 194, 270ff., 296ff.; 11 34, 57ff., 224f., 331, 335, 357f.,406 Zugehörigkeit! 114,129,131, 134ff, 165f., 171, 266u.ö., 295, 319, 335, 420, 462f.; 11 62ff., 379, 434, 450 Zuschauer! 114f., 129f., 133ff Zweck, Zweckmäßigkeit s. a. Teleologie I 28, 56 u. Ö., 99f., 326f., 463; 11 158ff., 168ff,194 Zweckrationalität 11 163, 194, 272, 326, 467f. Zweideutigkeit 1 492; 11 234 ff., 271, 301 ff., 334,380,444 Zweifel I 24lf., 275; 11 45f., 103,320 Zwischen, hermeneutisches I 300; 11 63,338
Namen Adorno, Th. W. 153,279; 11 435,452,472 474, 493 Aischylos 1 134, 355, 357, 362; 11 477 D'Alembert 1 28 Algarotti 180 Ammonios Hermeiou 11 294 Anaxagoras 1 357 Anaximander 1 128f.; 11 363f. Anz, W. 11 11 Apel, K.-O. 1271, 452; 11 109f., 260, 263f., 265f.,272,437,443,454,470,501 Aristophanes 11 235 Aristoteles 127, 45f., 88, 95f., 107, 116, 121, 128f., 134f., 141,210,285, 317ff., 356f.,370f.,373,382,431,435f.,449f., 458, 466, 472f.; 11 12f., 22, 47, 74, 78, 81, 84, 87f., 93, 106, 112, 135, 146, 149, 154, 162, 164, 193, 207, 228f., 234f., 244f., 252f., 272, 274f., 276, 280f. u. ö., 287, 289ff., 293f., 298, 302ff., 314ff., 319,324, 326f., 328f., 338, 357, 361ff., 381,385, 401f., 415, 418f., 422ff., 433, 455,459,461,467,469,473,478,484ff., 499 f., 503, 506 Aristotelismus 11 88, 282, 289, 293f., 298, 305 Arnim 1 437 Assmann, A. u. J. 11 402 Ast, F. 1182,189, 193f., 297; 11 58f., 463 Augustin 121, 177,297, 424ff., 487; 11 58, 93ff., 111, 123, 130, 135, 288f., 295, 298,300,371,443,491,502 Austin, J. 1. 11 110, 195f. A venarius, R. 1 250 Aischylos 11 128 Baader, F. 1126 Bach, J. S. 11 477 Bachofen, J. J. 115; 11 390 Bacon, F. 1 13, 185, 354f., 457; 11 67, 79, 112,434 Baeumler, A. 143; 11 390
Barth, K. 1148; 11 101 f., 125,391,403,481 Bartuschat, W. 11 493 Bauch, K. 1 143 Baumgarten, A. 1 36f., 79; 11 499,508 Baur, F. eh. 11 405 Becker, O. 1 101 f., 247, 260; 11 14, 411, 437,440,472 Beethoven 11 89, 482 Beierwaltes, W. 1 120 BenjamIn, W. 11 441,472 Benner, D. 11 457 Bense, M. 11 432 Bentley 1 183 Benveniste, S. 11 92, 295 Bergson 1 31, 69, 74, 247 Berenson, B. 1 97 Bernstein 11 270 Berve, H. 11 490 Betti, E. 1 264, 315, 331, 333; 11 17, 100, 104, 106, 108, 260, 299, 318, 330, 389, 392ff., 399, 406, 426, 437f., 441, 443, 453, 457 Biser, E. 11 106, 457 Bilfinger, G. B. 11 404 Blumenberg, H. 1487; 11 391,403 Boeckh, A. 1190, 197; 11 99, 112, 121, 242, 318,393, 497f. Böckmann, P. 1 77 Boeder, H. 11 86 Boehm, G. 1 139, 377; 11 17, 463 Böhme, J. 11 367 BolInow, O. F. 1126,197,223,230,267; 11 100, 395 Bormann, C. v. 11 256, 266f., 271, 315, 471f. Bornkamm, G. 1199; 11 102,403 Brentano, F. 11 245, 500 Bröcker, W. 11 262, 401 f., 486 Brunner, O. 1 15 Bruns, J. 1151 Buber, M. 11 10, 104, 173, 211 Bubner, R. 193; 11 203, 270, 493
Namen Buckle 1 216f. Buddha 11 208 Budeus 11 311 Buffier 1 31 Bultmann, R. 1 267, 336ff.; 11 101f., 121ff., 135,297,391,403, 406ff., 429f. Burckhardt, J. 1214 Burke, E. 1277; 11 243 Burnet, J. 11 317 Buytendijk, F. J. 1108 Cajetan 11 503 Carnap, R. 11 254, 429 Carneades 11 273 Cartesianismus 1 30, 242ff., 263 Cartesius 1 71f., 242f., 275, 282ff., 420; 11 48, 84, 103, 115f., 148, 161, 237, 267, 410,418,453 Cassian 11 94 Cassiodor 11 311 Cassirer, E. 186, 408, 440; 11 72, 111, 338, 362 Castiglione 1 29,41 Celan, P. 11 355, 508 Chartres, Schule von 1 490 Chladenius 1 186f., 301; 11 95,267, 463f. Chomsky, N. 11 112, 265 Chrysipp 1 79 Cicero 1 29; 11 236, 279 f. Ciceronianismus 11 284, 288 Cobb, J. B. 11 410,430 Cohen, H. 11 85 Collingwood, R. G. 1277, 375 ff.; 11 6, 105, 110,273,395ff.,408,418 Collins 1 282 Connan, F. 11 311 Conte, A. 11 295 Conze, W. 17 Coreth 11 106 Cramer, K. 166; 11 203, 493 Cramer, W. 11 493 Creuzer, F. 183f. Croce, B. I 86, 376, 474; 11 105, 110, 112, 392 f., 395 f. Curtius, E. R. 177,185 Cusanus, N. 1 26, 146, 438 ff., 482, 490; 11 12,271,298,367,384,461,502 Dannhauer, J. 11 93, 279, 282, 284, 287f., 292ff.
525
Darwinismus 11 159 Davidson, D. 1300 Demokrit 11 487 Derrida,] 114,7,11, 13u. Ö., 114,333,335, 368ff.,382 Descartes, R. s. Cartesius Dessoir, M. 199 Diem, H. 11 406 Dilthey, W. 1 12f., 66ff., 156, 170, 177ff., 200, 202, 215, 222ff., 246ff.; 11 8, 15, 28ff., 52, 54, 56, 99ff., 113, 124, 133ff., 219, 232, 264, 277ff., 292f., 296f., 298f., 313f., 318, 322,327, 330ff., 335, 358, 362, 387f., 395f., 405, 412, 416, 425f., 428, 435, 445, 463f., 474, 481, 492,494 Dionys von Halikarnass 11 96 Dockhorn, K. 11 111, 234, 236 Dörrie, H. I 362 Dostojewskij 11 482 Droysen,J. G. 112,202, 216ff. u. Ö., 391; II 99f., 123f., 187,240,264,387,395,426, 445 Dubos I 80 Dufrenne, M. II 432 Duhem, P. I 11, 224 Ebbinghaus, H. 1229; 11 493 Ebeling, G. I 177f., 180, 336; II 94, 109, 391,408,410,430,457 Ebert, Th. II 493 Meister Eckhart 11 367,461,482,502 Ebner, F. 110; II 104, 151,211 Eggebrecht, H. H. 11 385 Einstein, A. 11 480 Engberg-Pedersen, T. 1327 Eleatismus 1 416, 468 Engisch, K. 1335; 11 107, 392,430 Ernesti 1180, 188; 11 97 Ernst, P. 11 480 Esser, J. 11 392, 400,457 Eruschka, J. 11 457 Euklid 11 123 Faber, K.-G. 1289; 11 390 Fechner 11 99 Fenelon 133 Feuerbach, L. 1148,349 Fichte,J. G. 165, 69, 87,102,199,230,246, 346, 397; 11 12, 97ff., 187, 366f., 422, 426,447,461,463
526
Namen
Fink, E. 189, 131,252 Finkeldei, J. 1376 Flacius, M. 1 276; II 95f, 277f, 281[, 284ff,292, 296,299,463 Fleury 1 33 Forget, Ph. II 355, 377 Forsthoff, E. 1 332 Francke, A. H. II 97, 105,284,298 Frank, E. 1 276 Frank, M. 1190; II 11, 13ff, 370, 404,464 Franz, H. II 278,410 Freud, S. 11116, 249, 338,483 Frey, D. 1141, 157 Freyer, H. II 100, 398 Friedemann II 501 Friedländer, P. II 483,486,501 Fuchs, E. 1336; II 109,391, 408f, 430,457 Fulda, F. II 493 Gadamer-Lekebusch, K. II 494 Gaiser, K. II 413 Galilei II 88,186,319,337,487,496 Galling, K. II 430 Gauthier, Th. 1321 Gehlen, A. 1284,448; II 416,432 Geldsetzer, L. II 95, 278, 463 Gellert II 385 Gentile II 112, 392 George, St. 169; II 159, 390, 481,501 Georgiades, T. 197; II 18 Gerigk, H.-J. II 106 Gethmann-Siefert, A. 1 64 Giegel II 258f, 263,265,267, 269f, 273 Goethe 1 67f, 76, 81ff, 99, 167, 204f., 463;11177,192,210,300,357,376,489, 491 Gogarten, F. II 10, 104,211,406 Gogh, V. v. II 482 Goldmann, L. II 477 Görres II 390 Götze, A. 1104 Gottsched 1 37 Gouhier, H. II 237 Grabmann, M. 1482 Gracian, B. 140ff. Griesebach, E. II 104 Grimm, H. 1 68, 305 Grimm, J. und W. II 362 Groethuysen, B. II 100, 464 Gründer, K.-F. II 457
Guardini, R. 1376, 492 Gundert, H. II 235, 420 Gundolf, F. 168,305; II 481 Gutzkow, K. 166 Habermas, J. 1284, 350; II 4,21, 110, 114, 203, 234, 238ff, 254f, 256ff, 269f, 272ff, 349, 434, 452, 454, 457, 465f, 467,470f,493,498 Haecker, Th. II 104 Haering, Th. 1232 Halevy II 421 Halpern II 463 Hamann, J. G. II 130 Hamann, R. 1 94f, 134; II 432 Harder, R. II 383 f Harnack, A. v. II 406 Hart, H. L. A. II 430 Harth, D. II 457,459 Hartmann, N. 1 46, 382; II 70, 81, 112, 482f Haug, W. 182 Hebbel, F. 1134, 136 Hebel, J. P. II 297,301 Heer, Fr. 141,155 Hege! 1 16ff, 45, 54ff, 64ff, 69, 84ff, 103f, 171, 172ff, 202 u.ö., 209ff, 215 u.ö., 231ff, 238, 256ff, 291, 322, 346ff, 359ff, 377, 395, 417, 467ff; II 8, 12,28,32,48,67,70,72,78,80,85,88, 98, 100, 105, 108, 110ff, 130, 187,210, 220,241,246,254,264,270f,278,322, 328, 333f., 336, 354, 360f, 366ff, 385, 389,395,397,407,423,426,433,436f, 447, 453, 455f, 460f., 464, 470, 472f, 477, 482ff, 491f, 500, 502ff., 505f, 508 Hehn, V. II 148 Heidegger, M. 174,102, 105ff, 109, 129, 156, 247, 258ff, 267ff, 270ff, 298, 360,433, 459f; II 8ff, 15ff, 22, 33f, 46,48, 52u.ö., 59ff., 145, 173,203,212, 219,224,245, 254,279,297ff,300,323, 328, 331 ff, 338f, 359f, 361 ff, 381 f, 388f, 391, 399, 406ff, 422, 425, 428, 437, 446f, 464, 483ff, 500, 504ff Heinze, R. II 483 Heisenberg, W. II 458 Hellebrand, W. II 437,443 Hellingrath II 385
Namen Helmholtz, H. I 11ff., 47, 90; II 39,228 Henkel, A. 11 489 Henrich, D. I 100; II 62, 101, 411,493 Heraklit I 409; II 46, 354, 363 f., 497 Herbart 11 99 HerderI 14,32,84,198, 204ff, 291f., 406, 442; 11 72,111,142,147,177,192,328, 335,361,433,490 Hermes II 92, 294 f Herodot I 148; II 413 Hesiod I 148 Hesse, H. 11 480 Hetzer, Th. I 140 Hildebrandt II 501 Hinrichs, C. I 205, 213 Hirsch, D. 1188; II 106 Hitler, A. 11 490 Hitzig II 297 Hofer, W. II 390 Hofmann, H. I 146 Hofmann, W. I 337; II 405 f Hölderlin, F. I93, 149,474; II 10,75, 140f, 367,385,486,491,506 Holl, G. I178 Holl, K. II 94 Hölscher, U. II 211 Homer I 78, 148, 279; II 46, 92, 94 Hönigswald, R. I 73,408; II 74,111, 480 Horaz I 151 Horkheimer, M. I 279; II 434, 493 Hotho I 64, 70 Huizinga I 109; II 129 Humboldt, W. v. I 16, 204, 206, 217, 347f, 406, 419, 442ff; II 72, 99, 147, 187,201,338,362,393,481 Hume, D. I 9,30,281, 364f; II 461 Husserl, E. I 71f, 156, 229f, 246ff, 307, 353, 451f; II 12, 15f, 69, 71, 100, 102ff, 110f, 125, 197, 212, 245, 279, 297, 300, 323, 328, 334f, 361ff., 386, 388,411,422,425, 427f., 436, 447, 481, 483,488,491,506 I:Iutcheson I 30 Imdahl, M. 11 17 Immermann, K. I 94, 278; II 175 Ingarden, R. I 124, 166; 11 18 Iser, W. I 100; II 106 Isokrates I 23; II 235, 307
527
Jacobi I 346, 471; II 130 Jaeger, H. II 279, 287f., 292ff. Jaeger, W. I25, 291; 11 261, 307, 484, 491 Jaensch II 101 James, W. I250 Jamme, C. I93 Japp, U. II 355 Jaspers, K. I 284, 307; II 54, 101, 104, 135, 164,211,427,458,464,492 Jauss, H. R. I53, 125; II 7, 13f., 62, 106, 223,299,441,457,475 Jesus II 44, 208 Joachim, H. H. II 401 ff. Joel, K. II 261 Johannes Damascenus I 145 Johannesevangelium I 423ff.; II 44, 135, 192 Johnstone Gr.), H. W. II 111, 431 Jonas II 463 Jünger, E. II 416 Jünger, F. G. I 112 Junghegelianer I250, 349; II 504 Jungius, J. II 276 Justi, C. I 154 Kahler, E. v. II 481 Kallen, G. I146 Kallimachos I 293 Kamlah, W. I 155; II 459f. Kant I 14, 16, 36ff., 48ff., 80f., 103f., 163f., 197ff., 248, 276, 346, 348, 382, 452;II22,28,32,67,69, 78,81,89, 97f., 122, 133, 137, 161, 167, 187, 304, 307, 326ff.,331,361,384,387,394,412,422, 431,435,439,446,455,461, 468f., 484, 487,502,506 Kapp, E. I 371; II 307,397 Kassner, R. Il14f. Kaufmann, F. I 266 Keckermann II 294 Kerenyi, K. I 128; II 390f. Kierkegaard I 101, 132, 134, 137,259,349; II 9f., 22, 55, 103, 142, 210f., 271, 362, 368, 471f, 482f. Kimmerle, H. I 190; II 15, 404, 462f., 464, 475,493 Klages, L. I 433; II 390 Klein, J. II 489 Kleist, H. v. II 205 Kleon II 263
528
Namen
Klibansky, R. 1490 Klopstock 115,81,84 Knoll, R. II 130 Koch,]. 1438,441,490 Koebner, R. 1127 Koehler, W. 1 96 Koller 1118 KommereIl, M. 1135[ Konfuzius II 208 Körte, A. 1291 Koschacker, P. II 106, 311 Koselleck, R. 115; II 390 Kraft, V. II 459 Krauss, W. 140 Krausser, P. II 464 Kretschmer II 101 Krüger, G. 1 130, 276, 284, 484; II 70, 125[,406,412[,423 Kuhn, H. 1 88, 120, 285, 324, 327; II 401 [, 403,437,440,442,472,494 Kuhn, Th. 1288; II 114,496 Künne, W. II 493 Kunz, H. II 257 Lacan, J. II 114, 249 Lagus, J. II 276 Landgrebe, L. II 411 Lang, H. II 249 Langerbeck, H. Ir 397 Larenz, K. Ir 392, 400 Lebreton 1 423 Leibholz, G. II 401 Leibniz 1 33, 146, 209, 230, 419f.; II 210, 276,492,502 Leisegang, H. II 488 Leonardo da Vinci 1 11, 98 Lersch II 101 Lessing, G. E. 153[,80; II 267 Lessing, Th. Ir 480 Liebing, H. Ir 404 Lipps, H. 1431,462; II 54,110,195,338 Litt, Th. 1432; II 100[, 328, 390, 423, 491, 498 LIedo, E. II 383, 493 Lohmann, J. 1407,418,437; II 228[,233, 245 Loof, H. 181 Loos, E. 129 Lorenzen, P. II 459f., 462 Lorenzer, A. II 258f.
Löwith, K. 1212,214,365,433; II 70, 102, 104,139,381[,412f.,415,423,493 Lübbe, H. 1250 LückeI115,101,404,462 Lukacs, G. v. 1101,279 Luther, M. 1 132, 177f[, 198[, 237; II 94[,277,282,284, 286, 292, 296, 336, 430 Mach, E. 171 Machiavelli II 415 Mahnke, D. 1146 Maihofer, W. II 430 Maimonides, M. II 421 Malebranche 1 146 Mallarme II 355, 474 Malraux, A. 193 Mann, Th. II 363, 480 Mao-Tse-Tung II 466 Marcuse, H. 1232; II 435, 466 Marc Aurel 1 30 Marquard, O. 233 Marrou, H. J. II 408 Marx, K. 1279; II 116, 246, 466, 483 Marxismus 1337, 327; II 263 Masur, G. 1207 Meier, G. F. 1277; II 463 Meinecke, F. II 390,411 Melanchthon 1180, 324[; II 96, 277, 281, 282f[,286,296,305,308,431 Menzer, P. 137,48 Merleau-Ponty II 425 Mesnard, P. 1 80 Michelangelo II 482 Mill, J. St. 19, 12, 14; II 99,320,451 Misch, G. 222, 239, 242; II 100,102[,388, 464 Moliere360 Möller, J. II 437 Mollowitz, G. 198 Mommsen, Th. 289; II 222, 394 Monan, J. D. II 253 Mörike, E. II 359[ Moritz, K. Ph. 1 81 f., 101 Morris, eh. II 174 Morus 135; II 297,301 Müller, C. 181 Müller, M. 1488 Musil, R. II 490
Namen Napoleon II 322 Natanson, M. II 111,431 Natorp, P. 173,224,247,459; II 482f. N eitzel, H. I 363 Neukantianismus I 65f., 225, 250, 258, 381; II 29f., 69ff., 81f., 89, 133f., 164, 210f., 322, 328, 331, 334, 338, 362,368, 388,399,422,479ff.,505f. Neuplatonismus 179, 145,205, 427f., 438, 487f.;1194,293,298,383,384f.,386 Newton, 1. II 167, 177, 228, 487 Nietzsche I 21, 69, 73, 130, 165, 247, 262, 267, 307, 309f., 421; II 11, 27, 31, 38, 45f., 103, 114, 116,202,221, 333f., 336, 338ff., 363f., 368, 372, 381f., 414, 421, 447, 481 ff. , 491, 500 N ovalis II 463 Odebrecht, R. I 55, 98; II 463 Oehler, K. II 421 Oelmüller, W. 186 Oetinger, F. ehr. I 32ff., 489; II 177, 386, 404 Olbrechts-Tyteca II 431,467 Origenes II 94 Ortega y Gasset II 29 Osenberg II 490 Ott II 391, 407f. Otto, W. F. 1128; II 390f., 398 Overbeck, F. II 209 Oxfordschule 1376
529
Piaget, J. II 112, 204, 256 Pietismus I 32f., 313f.; II 97,284,298 Pindar I 151; II 128,486 Pinder II 101 Plato. 123,27,100, 117ff., 128f., 131, 150, 210, 276, 279, 320, 350f., 368ff., 381, 396, 409ff., 426f., 433f., 461f., 482, 484; II 12, 22, 42f., 73, 80, 82, 85f., 90, 92f., 110, 126, 152, 160ff., 184, 200, 209f., 212, 225, 234f., 237, 255, 275, 281,287, 293f., 302, 305ff., 317f., 329, 332f., 344, 369f., 379, 397, 402, 413. 415, 420, 422f., 428, 433, 455f., 461, 482, 484 ff., 500 ff., 506 ff. Platonismus II 7,12, 16,223,227,364,456, 478,503 Plessner, H. 204, 257, 431 Plotin II 298, 383, 482, 502 Plutarch I 78; II 321,413 Pöggeler, O. II 437,447 Polanyi, M. 257, 431, 505 Pollmann, L. II 457 Pontius Pilatus II 44f. Popper, K. R. 1359; II 4, 434, 452 Portmann, A. 1113 Port-Royal I 24 Pragmatismus, amerikanischer II 53 Protagoras II 235 Pseudodionys I 79,482 Pythagoreer II 319 Quintilian I 95; II 236, 280
Paatz, W. 1141 Pannenberg, W. II 246f., 437 Panofsky, E. II 375 Pareyson, L. I 66; II 433 Parmenides I 128f., 465; II 85ff., 363f. Parry 1165 Pascal I 35 Patsch, H. II 464 Patzer, H. 1343 Paul, J. II 259 Paulus II 336 Peirce, eh. S. II 262 Perelman, eh. II 111,317,431,467,499 Perikles II 263 Perrault, M. II 299 Pflaumer, R. II 493 Phidias II 477, 482 Philo v. Alex. II 383
Rabeau, G. 1432 Rabel, E. II 392, 426 Rad, G. v. II 106 Rahner, K. II 390 Rambach, J. J. 135, 188, 312f.; II 97, 105, 284, 298 Ranke, L. 1202, 206ff., 221, 227f. u. ö.; II 21,99,187,221f.,240,390 Rastier II 355 Raumer II 263 Redeker, M. 1198;11277,405, 425, 463 Reich, K. II 493 Reid, Th. I 30 Reinhardt, K. II 261,489 Ripanti, G. 297 Rothacker, E. 1185 Ricco bini II 385
530
Namen
Rickert, H. I 225, 350; II 328, 388, 428, 439 Ricoeur, P. II 114, 116, 350, 435, 474 Riedel, M. I 32; II 117, 455, 464 Riezler, K. I 108; II 440 RilkeI 110, 397; II 128, 210, 491 Ritschl, O. I 179; II 405 f. Ritter, J I 15; II 117, 298, 384, 402,433 Rittner, F. II 456 Robinson, J M. II 410,430 Rohr, G. II 139, 413 Rose, H. I 400 Rosenkranz, K. I 65; II 447 Rosenzweig, F. I 93; II 10, 211 Rossi, P. 21 Rothacker, E. I 69, 238, 307; II 100, 107, 340,378,386,389,398 Rousseau I 56, 68, 279, 484; II 22,69,304, 327 Royce II 262 Runge I 93 Russell, B. II 338,425 Salin, E. II 481 Salmasius I 30 Santinello, G. I482 Sartre, J-P. II 259, 369,425 Savigny I 190, 332; II 311 Schaarschmidt, 1. I 7 Schadewaldt, W. I 135, 390 Schasler, M. I65 Scheler, M. I 96, 134, 237, 287, 316, 448, 453ff.; II 69f., 339, 361, 428, 482 Schelling I 64, 83, 93, 200, 464, 469; II 28, 98f., 103,334,376 Scherer, W. I12 Schiller, F. I56, 61, 63, 69, 81ff., 397; II 99, 151,300,456 Schlegel, F. I 64f., 82, 85, 93, 111, 199f., 295,367,400; II 97f u. ö., 209, 338, 362, 425,463 SchleiermacherI 63, 69, 75, 171 ff., 182ff., 188ff. u. Ö., 283 u. ö., 296ff., 347; II 14f., 19, 54, 57ff. u. Ö., 95, 97ff., 123, 209, 222, 236, 254, 277, 279, 284, 290, 29~ 298f., 301, 312f., 318, 322, 330f., 335, 362, 393, 404ff., 425ff, 436, 462ff.,472,474,494,497 Schlick, M. II 3f., 321, 339, 434 Schmidt, E. II 253 Schmied-Kowarzik, S. W. II 457
Schmitt, C. II 379f. Schneider, H. I93 Schöne, W. I140 Schopenhauer, A. I 65, 84, 464; II 297 Schrade, H. I 145 Schuler, A. II 390 Schulz, W. II 489 Schupp, F. II 390 Schütz, A. I255 Sedlmayr, H. I 98, 101, 126; II 108, 377, 441 Seeberg I 377 Seebohm, Th. II 11, 106,457 Semler I 180, 188; II 97,404 Senft, ehr. II 405 Seume, H. II 297, 301 Sextus Empiricus II 320 Shaftesbury I 16, 29f. Shakespeare I 62; II 357, 379, 482, 501 Siep, L. I18 Simmel, G. I 69,228,247 Simon, R. II 96, 284 Sinclair II 385 Singer, S. II 501 Sinn, D. I 254 f. Snell, B. I 294 Sokrates I 26, 320 u. Ö., 368 ff., 468; II 23, 43,90,208,210,227,235,252,255,306, 325,332,336,344, 369f., 420, 422,486, 497 f., 501 f. Solger I 79, 83 Sophistik I, 23, 25, 276, 350ff., 357, 396, 410 u. ö.; II 43, 94, 160, 227 f., 234f., 252,289,305,415 Sophokles II 482, 501 Spengler, O. II 480 Speusipp I 434ff. Spiegelberg, H. II 411 Spinoza I 184f., 189, 275, 277; II 96f., 122f., 267,299, 385, 415,421,464 Spitzer, L. II 360 Sprague, R. K. II 421 Spranger, E. II 100f., 107,464 Stachel, G. II 106, 457 Staiger, E. I 134, 271; II 108, 359 Stegmüller, W. I271 Steiger, L. II 406 Steinthai, H. I 190,197,410; II 15,99,464 Stenzel, J I 434, 477,485 Stoa I 423, 437, 486; II 94,308,414
Namen Strauß, E. 196 Strauss, L. 129, 275, 300, 324; II 299, 334, 401, 414f., 501 Stroux, J. 1291 Sturm, J. II 2~3, 289 Sulzer 1 54; II ~85 Sybel II 222 Swift II 489 Tacitus 1 293; II 290 Tagore, R. II 482 Tate, A. II 94 Taylor, Ch. II 114 Tetens 1 28, 36 Themistius 1 357,421; II 112 Thibaut, A. F. J. II 107, 278,463 Thomas v. Aquin 1 28, 426ff., 491; II 111,461,491 Thomasius, Chr. 1 276 Thukydides 1 237; II 190,321 Thurneysen II 101 Tieck, L. 1 66 Tolstoi 1 377 Tonelli II 384 Topitsch, E. II 459 Trede,J. ff. 11493 Treitschke II 222 Trier, J. 1109 Troeltsch, E. 1241; 11 31,100,389,410,481 Tugendhat, E. II 254 Tumarkin 1 120 U exkuell, J. v. 1 455 Ulrich v. Straßburg 1482 Unamuno II 104 Valery, P. 1 98ff. Vasoli, C. 122 Vattimo, G. II 464, 493 Velazquez, D. 1154 VergillI 362 Verra, V. II 493 Vico 1 24ff., 226, 281, 379; II 111, 192, 273, 280,311,432,467,498 Viehweg, Th. II 430 Vischer, Fr. Th. 1 85 f. Volhard, E. 186 Volkmann-Schluck, K.-ff. 1438,489,491
531
Vorsokratiker II 363 Vossler, K. 1474 Vossler, O. 1267; II 221 Vries, ff. II 390 Vries, J. de II 390f. ~ach,J.
1186;11100, 277,463 F. II 389 ~agner, ff. II 411,480 ~alch, C. F. II 106 ~aelhens, A. de 1258; II 437 ~agner, Chr. 1427 ~alch 1 183, 276, 282 ~arburg, M. II 355 ~atson, L. C. II 9 ~atson-Franke, M.-B. II 9 ~eber, M. II 101, 159, 163, 165,310,322, 326, 378,388f., 458m, 468,481 ~eidle, M. 192 ~einsheimer, J. c. II 4, 339 ~eischedel, ~. 1141 ~eizsäcker, C. F. v. II 397 ~eizsäcker, V. v. 1255; 11 10, 104, 129 ~ellek-~arren II 474 ~hitehead 11 425, 456 ~ieacker, F. 125,332,335; II 108,390,392, 437 f., 443, 456 ~iehl, R. II 203,456,473,493 ~ieland, ~. II 493 ~ilamowitz 1 342 ~inch, P. II 239 ~inckelmann 1 77 f., 84, 204, 291 ~indelband, ~. II 388, 396, 439 ~ittgenstein, L. II 4f., 71 f., 110,239,254, 338,425,429,456,507 ~ittram, R. II 390 ~olf, F. A. 1182; II 463 ~olff, Chr. 180, 183; II 95,404 ~ölfflin II 398 ~olters II 481 ~olzogen, C. 1 253 ~agner,
Yorck, Graf! 238, 255ff.; II 100,124,135, 386,389,410 Zabarella II 281, 295 Zaccaria, G. II 400 Zenon 1 468; II 87
Stellen Aristoteles Analytica Posteriora B 19 I S. 421; B 19, 99bff. I S. 356; B 19, 99b 35ff. 11 S.149; B 19, 100a 3ff. 11 S.200,229 Deanima 425a 14ff. I S. 27; 425a 25 I S. 96; 431b 21 I S. 462 Ethica Nicomachea AllS. 116;A41 S. 317;A 71S. 303; A 1, 1094a 1 ff. 11 S.316; Al 1094a 27 11 S.318; Al, 1095a 3ff. 11 S.326; A4, 1096b 20 11 S.275; A 7, 1098b 2ff. 11 S. 325; AB, 1102a 28ff. 11 S. 315; B 5, 1106b 6 I S.486; E 10, 1134b 27ff. 11 S. 401; E 10, 1134b 27ff. 11 s. 401; E 10 1134b 32-33 11 S. 401; 14 I S. 323; Z 4, 1140a 19 11 S. 160; Z 5, 1140b 13 I S. 327; Z8 I S.323; Z81141b 15 I S.327; Z9 1141b 33 I S. 27,321; 11 S. 162, 433,485; Z 9 1142a 25ff. I S. 327; Z 9, 1142a 30 I S. 321; 11 S. 162; Z 10, 1142b 33 I S. 327; Z 11 I S. 328; 11 S. 308; Z 13, 1144a 23ff. I S.329;Hl, 1145a15IS.328;K6, 1176b 33 I S. 107; KlO I S. 285; KlO, 1179b 24f. 11 S. 317; KlO, 1180a 14f. 11 S. 317 Ethica Eudemia B 1 I S. 116; e 2, 1246b 36 I S. 321 Magna Moralia A 33, 1194bff. I S. 324 De interpretatione 11 S. 93, 293; 4, 16b 31 ff. 11 S. 74 Metaphysik All S. 458; Al, 980b 23-25 I S. 466r 1 11 S. 78; r 1, 1004b 25 I S. 373; .1 11 S. 89; E 1 I1S. 291, 303;K7IIS. 303;A 71S. 129; M4, 1078a3-6IS.482;M4, 1078b25ff. I S. 370 Politik A 2, 1253a 9ff. I S. 435, 449; 11 S. 146; H 1, 1337a 14ff. 11 S. 308; H3, 1337b 39 I S.l07
Poetik 4, 1448b 1Of. I S.119; 4, 1448b 16 I S. 119; 9, 1451b 6 I S. 120; 13, 1453a 29 I S. 134; 22, 1459a 8 I S. 435; 23, 1459a 20 11 S. 287 Physik r6, 206a 20 I S. 128f.; .14, 211b 14ff. I S.437 Rhetorik A 2, 1355b 11 S.274; A 2, 1356a 26 11 S. 308; B 13, 1389b 32 I S. 135 De sensu 473a 3 I S. 466 Topik A 11 I S. 435; A 18, 108b 7-31 I S. 435
Heraklit VS 12 B 54 I S. 179
Plato Apologie 22d I S. 320 Charmides 169a I S. 210 Epinomis 975cIIS.93,294,295;991eIS.179 Gorgias 11 S. 305; 456a 11 S. 235 Hippias I 293eI S. 150 Ion 534e 11 S. 93 Kratylos 384d I S. 410; 385 I S. 413; 387c I S. 413; 388c I S.410; 429bc I S.414; 430a I S. 414; 430d 5 I S. 415; 432aff. I S. 413; 436e I S. 413; 438d-439b I S. 411 Menon 80dff. I S. 351 Parmenides 131b I S. 128f.
533
Stellen
Phaidon II S. 498; 72 1 S. 462; 73ff. 1 S. 119; 96 1 S. 357; 9ge 1 S. 433; 11 S. 73 Phaidros 1 S. 131; 11 S. 305, 308, 317; 245c II S. 383; 250d 7 1 S.485; 262c 1 S.281; 264c 1 S. 287; 268aff. 1 S. 307; 269b 1 S.306; 272a 6 1 S. 307; 275 1 S. 396; 280b 1 S. 307 Protagoras 314a II S.225; 314ab II S.43; 335ff. 1 S.368 Philebos II S. 307; 50b 1 S. 117; 51d 1 S. 486; 64e 5 1 S.484 Politikos 260d II S. 92; 294ff. 1 S. 324; 305e 11 S. 86 Nomoi 907d 11 S. 93 VII. Brief 11 S.507; 341c 1 S. 396; 342ff. 1 S.411;
434a 7 11 S.255; 343cd I S. 350; 344b I S.382;344cIS.396 Sophistes II S. 486; 263e 1 S. 411, 426; 264a 1 S. 411 Staat 508d1S. 487;601cIS. 100;617e4IIS.82 Symposion 175d II S. 501; 204a 1 1 S. 490; 210d 1 S.482 Timaios 11 S. 86
Sextus Empiricus Adv. math. VIII, 2751 S. 423
Stoa StVfr. II 24, 36, 36, 9 1 S. 486; 168, 11 pass. 1 S. 179
»Auch )Wahrheit und Methode< ist zum Lehrbuch geworden, nach strenger Betrachtung vielleicht zu dem einzigen dauerhaften, zu dem es die philosophische Literatur in Deutschland seit den zwanziger Jahren gebracht hat.« FAZ 12.2.85