Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke Band 7
Hans-Georg Gadamer
Griechische Philosophic HI Plato im Dialog
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Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke Band 7
Hans-Georg Gadamer
Griechische Philosophic HI Plato im Dialog
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Ji 1-8 . o-
J. C. B. M o h r (Paul Siebeck) Tubingen 1991
Die Deutsche Biklwthek- CiP-Finhciisaujiuikme Gatiamer, Hans-Gvoiv: Gesanimelte Werke / Hans-Georg Gadamcr. - T u b i n g e n : Mohr. NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung] Bd. 7. Griechische Philosophic. - 3. Plato 1111 Dialog. - 1991 ISBN 3-16-145652-1 brosch. ISBN 3-16-145578-9 Gewebe
© 1991 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tiibingen. Das Werk eiuschlieRlich aller seiner Teile ist urheberrechrlich geschutzt. jede Verwertung aulierhalb der engen Grenzcn des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfalrigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbettung in elektronischen System en. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tubingen aus der Bcmbo-Antiqua gesetzt, die B rosch utau s gab e auf saurcfreies Wcrkdruekpapier der Papierfabrik Nietcrn, die Leinenausgabe auf alterungsbestandiges Werkd ruck papier der Papierfabnk Buh! in Ettlingen gedruckt und von der GroBbuchbinderei Hcuir. Koch in Tubingen gebunden.
Vorwort Band 5 und 6 meiner Gesammelten Werke enthalten einc Saminlung meiiier Arbeiten zur gricchisclicn Philosophic. Auch der 7. Band, der hier vorliegt, gehort dazu. Wie in den alteren Banden finden wir hier wicderuni Plato im Mittelpunkt. Das kann niemand verwundern. GewiB beginnt die griechische Philosophic bereits weit fraher. Doch auch die altgewohnte Bezcichnung, die fur diesen fruhen Anfang (iblich ist, »Vorsokratikcr«, deutet darauf hin, daB Sokrates und der platonischc Sokrates die eigentliche Wende darstellt, von der aus sich die Anfange, die reife Entfaltung und eine lange Nachgeschichte des gricchisclicn Denkens bestinimen. Ja, es ist ja in Wahrheit die griechische Philosophie, die, wie das Wort schon verrat, den besondercn griechischcn Klang ausmacht, wenn wir heute etwas Philosophie nennen. Als ich am Endc der sechziger Jahre aus nieinein Heidelberger Lehraint ausschied, plante ich ursprunglich, alle bereits vorliegenden und alle schon angefangenen Studien iiber griechische Philosophic zu cincm groBcren Plato-Buch auszuarbeitcn. Dazu bin ich nicht mehr gekommen. Andere Aufgaben haben sich u n m e t wieder dazwischcngcschobcn, nicht zuletzt dank meiner cigcncn Weiterarbeit an den Vorsokratikern, am Plato und an Aristoteles, iiber die ich bei viclcn Gelcgenheiten zu berichten hatte. So konntc ich bald nicht mchr daran denken, alles noch cinmal zusammenzufassen, was zum Teil an sehr ve'rschicdcnen Orten veroffentlicht worden war. In den achtzigcr Jahrcn geriet ich n u n auf den Ausweg, meine Arbeiten zur griechischen Philosophie, wie sie damals vorlagcn, zu sammcln. Dank dem Entgeg e n k o m m e n des Mohr-Verlagcs cntstand der Plan der Ausgabe meiner Gesammelten Werke. Die ersten erschicncnen Bande der inzwischen fortgeschrittencn Ausgabe bildeten die Arbeiten zur griechischcn Philosophie, die Bande 5 u n d 6. Den 7. Band schob ich damals noch hinaus. Ich hofftc, noch allcrhand zu vollcnden. In der Tat cnthalt der n u n crscheinende Band 7, der den 3. Band meiner griechischcn Studien bildet, durchweg lieuere und zum Teil noch nicht veroffentlichtc Arbeiten, die im lctztcnJahrzehnt entstanden sind. In manchen Fallen schheBt sich der Inhalt des 7. Bandcs eng an die Arbeiten des 6. Bandcs an u n d fuhrt die Dinge weiter. So finden sich hier seit
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Vorwort
langem vorbereitete Studien zu den Vorsokratikcrn und auf dcr anderen Seite auch zu Aristoteles und zur Spatantike. In der Mitte aber stcht Plato. Die Anordmrag der Beitrage t'olgt der Chronologie des griechischen Denkcns. Alle Arbeiten sind neu durchgesehen. Selbsrverstandlich mufiten sie die neueste Forschung mcist unberucksichtigt lassen, der ich nicht mchr zu folgen vermag. Bei allem philologischhistorischen Beiwerk gcht es mir in mcinen Studien um die Sachfragen selbst. Das schlieBt ein, dafi es im ganzen weniger auf die Unterschiede als auf die Gemcuisamkeitcn a n k o m m t , durch die die griechische Philosophie im ganzen fur den Weg des Dcnkcns bestimmend geworden ist. Fur mancherlei habe ich zu dauken, dem Verlag M o h r u n d seinem Leiter, Herrn Georg Siebeck, fur Hilfsbcreitschaft u n d Gcduld, sowie dem philosophischcn Seminar der Universitat Heidelberg und seinen Mitarbcitern fur viele Hilfe bei Vorbereitungsarbciten, Herrn Christoph Q u a r c h und vor allem Hcrrn Josef Merz, der auch die groBe Last der Korrekturen ink Prazision und Ausdauer getragen hat, und schlieBhch Frau Christa H o r nung, meiner bewahrten Sekretarin. HGG
Inhalt
I. Auf dem Wege zu Plato
1. Parmenides odcr das Diesseits des Scins
3
2. Hegel und Heraklit
32
3. Heraklit-Studien
43
4. Sokrates'Frommigkeit des Nichtwisscns
83
II. Sokratischer
Dialog und Platonische
Dialektik
5. >PlatosdialektischeEthik<-beim W o r t g e n o m m e n
121
6. Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles
128
7. Plato als Portratist
228
8. U n t c r w e g s z u r S c h r i f t ?
258
9. Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Phiiologen
270
10. Mathematik und Dialektikbci Plato
290
11. Der platonische >Parmcnidcs< u n d seine N a c h w i r k u n g
313
12. Z u r platonischcn >Erkenntnistheorie<
328
13. Dialcktik ist nicht Sophistik. Theatet lernt das mi >Sophistes<. . . .
338
III. Im Zeichen
Plates
14. Die sokratischeFrage und Aristoteles
373
15. Aristoteles und dieimperativischc Ethik
381
16. Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik
396
17. Denken alsErlosung. Plotin zwischcn Plato und Augustin
407
18. N a t u r und Welt. Die hermeneutischc Dimension in N a t u r e r kenntnisundNaturwissenschaft
418
Bibliographischc Nachweisc
443
Register Sachen
447
Namen
462
Stellen
467
I. Auf dem Wege zu Plato
1. Parmenides oder das Diesseits des Scins (1988)
DaB am Anfang dcr philosophischcn Erforschung und Aneignung der Vorsokratiker Hegel und Schlciermacher stehen, ist keine Frage. Beide sind darin einig, daB m a n die geschichtliche Dimension in die Arbeit des philosophischen Gedankens aufnehmen muB. Bcide haben auf die spatere geschichtliche Forschung einen bestitmnenden EinfluB ausgciibt, Hegel nicht so sehr vorn historisch-philologischen Standpunkt aus. In dicser Richtung hat die Schulc Schleiermachcrs besonders viel gcleistet. Unter philosophischem Interesse verdient dcnnoch Hegel die erste Stelle. Das wird keineswegs durch die bekannten Gewaltsamkeiten eingeschrankt, die in der A n w e n d u n g des dialektischen Schemas auf die Geschichte und auf die Geschichte der Pliilosophie liegen. Die Philosophic der Vorsokrariker spielt bei Hegel eine bestimmende Rolle. Er hat in seiner Logik als erster die Vorsokratiker in die Transzendentalphilosophie cinbezogen. Er hat hinter die Tradition der Katcgorienlehre zuruckgefragt, die fur alle Folgezeit von Aristoteles gepragt ist. In ihr hatte die Substanzkategorie den unbcstrittcnen ersten Platz innc. N o c h in den friihen Entwiirfen Hegels war es so, daB das Was-Sein, d. h. die Kategorie dcr Substanz, die Aristoteles aus der sokratisch-platonischen Fragestellung entwickelthat, den Vorrang besitzt. Seit der Abfassung seiner Logik k o m m t aber bei Hegel ctwas Neues ins Spiel. Das erste Kapitel, der Anfang dcr >Wissenschafr der Logik<, beginnt init den groBcn Einfachhciten von Sein, Nichts und Werden. Da erkennt man sofort Parmenides u n d Heraklit. In Wahrheit liest sich das ganze erste Buch der Hegelschen Logik als eine dialektische Durchglicderung u n d Durchmessung des ganzen Feldes der vorsokratischen Pliilosophie. An die Vorsokratik schlieBt sich dann erst, irn zweiten Bande seiner Logik, die des Wesens an, die die Philosophic Platos und Aristoteles' verarbeitet. Leider sind die Bande uher Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophic in rccht ungliickhchcr Weise rcdigiert und ediert worden. Gleichwohl stellen sic noch immer den besten K o m m c n t a r sowohl zu Hegels >Logik< als auch 2ur >Phanomenologie des Geistes<, dcr >Geschichtc des
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Auf clem Weg zu Plato
crscheinenden Geistes; dar. Gablers bekanntes Buch 1 bczeugt das durch ausfuhrlichc Ilhistration der Dialektik des BcwuBtseins aus den antiken Quell en, wie auch das neuere Buch von Wilhelm Purpus 2 , das damals im Zeitalter des Neukantianisinus das Hegelverstandnis ncu belebte. Es gehorte die gcwalttatige Abstraktionskraft Hegels dazu, in seiner >Logik< die Mctaphysik und in der >Phanomenologie des Geistes< lhrc Geschichte so ineinander zu spiegeln, daB die historisch-philosophische Forschung der Folgczeit standig beide Spiegelschriften zu entziffern b e m u h t geblieben ist. Dabei kam der Forschung der U m s t a n d zu Hilfe, daB Friedrich Schleiermacher, bei aller Nahc zu Fichte und zum deutschen Idealismus, iiber ungewohnliches philologisches Konnen und echten historischen Sinn verfiigte. So w u r d e Schleiermachcr nach beiden Richtungen hin produktiv. Es war scin Verdienst, das historische Denken gegeniiber der dogmatischen >doxographischen< Verfahrensweise des IB. Jahrhunderts zum Siege zu fiihren. Auf der anderen Seite hat er aber auch den schematischen Dogmatismus der Hcgelschen Dialektik aufgelockert. Es ist nicht von ungefahr, daB sich Dilthey, der eigentliche Begriinder der Geistesgeschichte, besonders an Schleiermacher angeschlossen hat. Im iibrigen blicb die philosophische Prasenz der Vorsokratiker in Deutschland weitgehend im Rahmen der sogenannten Problcmgeschichte, jencr durch die Spatform des deutschen Idealismus hindurchgegangenen Wiederaufnahme Kants, die man den Neukantianismus nennt u n d die in die Wirkungsgeschichte Hegels gehort. Aus dem Steinbruch der Hegelschcn Logik hat die Folgezeit all das abgebaut, was sie brauchcn konnte. Erst mit der Wende, die das Zeitalter des Liberalismus unter d e m Donner der Materialschlachten des Ersten Weltkrieges zu Endc gehen lieB, begann eine neue Prasenz der Vorsokratik, unter dem Vorzeichen des Lcbensbegriffs und im Geiste des historischen Dcnkens, das insbesondere von Wilhelm Dilthey gefordert wurde. Auf die Dauer war es die Wirkung Nietzsches. Z w a r blieben Nictzschcs eigene crste Schriften, >Die Geburt der Tragodic<, aber auch das NachlaBwcrk >Die Philosophie im tragischcn Zeitalter der Gricchen< im Banne der Schopenhauerschen Spatromantik. Doch wurde mit Nietzsche die Philosophic des Lebens der Grundtenor des zwanzigsten Jahrhunderts, u n d so begann der spate Nietzsche seine weltweitc Wirkung auszuiiben. N i c h t nur die klassischc Philologie w u r d e davon erreicht. Es w a r im besonderen Heideggers Erneuerung der Seinsfrage im
1 G E O R G A N D R E A S G A B L E R , Kritik des Bewul'tsems Eiiie Vorschulc zu Hegels Wissenschaft der Logik, Erlangen 1827. Neuausg. Leiden 1901. 2 W. PURPTJS, Zur Dialektik des Bewufitseins nach Hegel. Ein Beitrag zur Wurdigung der Phanomeiiologic des Geistes. Berlin 1908.
Parmenides oder das Diesseits des Scins 12
Horizont der Zeit, diehinter die Metaphysik zuruck und auf die griechischen Anfange hmlcnkte. Wie das aussah, wird ctwa in Heideggers Studien iiber Anaximander, Hcraklit und Parmenides deutlich. Auch in der ParmemdesForschung wirkt Nietzsches AnstoB bei Karl Reinhardt, bei Kurt Riezler, U v o Holscher - und bei Heidegger - fort. Die Uberlieferungslage erfordcrt insbesondere bei Heraklit, aber auch bei Parmenides den ganzen Einsatz historischen Denkens, und zwar nicht nur uin der Gewinnung zuverlassigerTextgrundlagen willcn, die niemals nur in den Zitaten bestehen, sondern vor allem auch fur die w o r t - und begriffsgeschichtliche Achtsamkeit, die notig isc, wenn man die anachronistischen Einwirkungen der aristotehschen und traditionellen Begriffssprache iiberwinden will. Die Vorsokratiker-Forschung, die vor allem H e r m a n n Diels dank seiner Editionstatigkeit Entscheidendes verdankt, reprasennert zugleich einc bcstiiumte Epoche der Forschung. Es ist der Einflufi der religionsgeschichtlichen Schule, die bis heute in der Anlage der Fraginente der Vorsokratiker nachwirkt. Auch die noch immer hochst lehrreiche Originalausgabe des Lehrgedichts des Parmenides von Diels 3 , init lhrem grofiartig gelehrtcn K o m m e n t a r , sucht uberall zunachst die Einwirkung der religiosen Dichtungen, die mit dem N a m e n des Epimemdes verbunden sind und die offenbar alle in der Nachfolge Hesiods stehen. Abcr diese Dichtungen hatten wohl auch schamanistische Pragungen und waren init den orphischen Seelenvvanderungsmvthen vertraut. Das bleibt eine grofie Unbekannte, deren Nachwirkung ebenso unbestreitbar wie nicht idcmifizierbar ist. So ftihrtc m a n etwa das P r o o m i u m und seine Schilderung, die Parmenides von seiner Fahrt iiber alle Stadte hinweg gibt, auf solche Vorbilder zuruck. Doch konnre selbst Diels sich nicht vcrbcrgen, »\vas ihn von allem diesem orphischen, pythagoreischen, ekstatischen We sen trennt, das ist sein Rationalisrnus, der nur noch die aufiere Form . . . der Mystik auf sich wirken laBt« 4 . Das ist im ganzen gut beschrieben, obwohl sonst in der damaligen Magna Graecia eine echte religiose G r u n d s t i m m u n g gut bezeugt ist. Freilich wissen wir allzuwenig, u m ermessen zu konnen, welche Rolle diese religiosen Bewegungen neben den offiziellen Kulten der olympischen Cotter spielten. jedenfalls wird m a n aber sagen durfen, daB die bei Parmenides zu fmdende Sprache die der homerischen u n d hesiodischen Verskunst ist und die eher wie bei H o m e r eine apollinische T o n u n g tragt. Wic die wissenschaftliche Prosa des 7. und 6. Jahrhunderts aussah, wissen wir freilich nicht.
3 H E R M A N N D I E L S , Pirmci-iides' Lehrgedicht, griechiseh und deutsch. Berlin 1 8 9 7 . Frag men tnunimer und Verszahl I M folgentlen nach der Ausgabe von D I F I . S / K K A N Z , Die Fragmente der Vorsokratiker (VS). 4 D I E L S , K o m m . S. 21.
Auf clem Weg zu Plato
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D a v o n ist nichts erhalten. Abcr wir besitzen von Anaximander einen feierlichen Satz, der dem Theophrast offenbar als ungewohnlich auffiel (VS 12 A 9). So darf m a n auf einen niichternen Stil der Lchrschrift des Anaximander schlieBen. Auch in dem Lehrgedicht des Parmenides ist wenig von rcligioscr Bewegung zu spiiren. Man kann nur mit Vorsicht die ungewissen Nachrichten iiber die orphischc B e w e g u n g nutzen und ebenso die Bezugnahme auf den Schamanismus. Immerhin hat inzwischen der religionsgeschichtliche Hintergrund der Kosmogonien des Orients seit D o d d s und U v o H o k c h e r an Substanz gewonnen 5 , und selbst von Pythagoras aus konnten Faden z u m Iran hiniiberlaufen, wie van der Waerden verniutet hat 6 . Jedoch, unser wirkliches Wissen a m die Gcsch.ich.te der griechischen Philosophie hangt ganz an Aristoteles. M a n fangt zwar im allgemeinen mit Thalc:-; an. Aber gerade darin folgt man auch nur Aristoteles. Er hatThales von Milet den ersten Philosophcn genannt, und gewiB mul:ite eine philosophisch motivierte Forschung die ionische Schule von Milet insgesamt was man im schulmeisterlichen Riickblick spater >SchuIei zu nennen pflegt als ein erstes Kapitel behandeln, vvenn wir nur mehr von ihr wufiten. In Wahrheit ist die originale Oberlicfcrung der friihenjahrhunderte, des 7. u n d des 6., auf wenige zerstreute Zitate und die aristotclischen Bcrichtc beschrankt. Die Berichte, die Aristoteles, vor allcni in der Einleitung zu seiner >Physik< und seiner >Metaphysik<, gegeben hat, sind von besonderem Gewicht, stellen aber freilich keine unmittclbarc aurhcntische Uberlieferung dar. Aristoteles hatte niemals historische Objektivitat im Auge und zog seine Vorganger im griechischen Denken i m m c r nur heran, u m in scin eigenes Denken einzufiihren. Da waren n u n die >Physiologen< der ionischen Schule fur ihn eine besondere Sache. Er sah sich als Gegenspieler gegenuber den pythagoreisch-mathematischen Tendenzen Piatos und muBte sich als Begrundcr der >Physik< in den ionischen Anfangen des griechischen D e n kens mehr als in alleni Spateren wiedererkennen. Das hatte seme schwerwiegende Folge. Wir konnen die Berichte, die Aristoteles gibt, nur mit aul3eriter Schwierigkeit von d e m unterscheiden, was in den originalen Intentionen der lonier tatsachlich gemeint gewesen war. Mit dem beginnenden 5. Jahrhundert wird die Sache aber anders. Da bildet sich die pythagoreische Tradition und macht sich gcltcnd. Sie nahm die Mathematik, die Zahlenverhaltnisse in den Himmelsbewegungen u n d in den theoretischen Grundlagen der Musik, zur Orientierung. Das entsprach
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E . R . D o n n s , T h e Greeks and the Irrational. Berkeley 1951. U v o HOI.SCHER, Anfangliches Fragen. Studien zur f'riihen griechischen Philosophie. Gottingen 1968. 6 B. L. VAN DEfi W A F R D E N , Erwachende Wissenschaft. Basel/Stuttgart 1956. D E K S . , Die Pythagoreer. Ziirich/Miinchen 1979. Vgl. dazu nieine Rezension in Ges. Werke Bd. 6, S. 312-318.
Parmenides oder das Diesseits des Scins
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nicht dem, was Aristoteles lm Begriff der Physis als den zuverlassigen Boden seines Philosophiercns festgelcgt hattc. Auch noch fur die fuhrenden Denkcr des beginnenden 5. Jahrhunderts neben Pythagoras, also vor all em fur Parmenides und Heraklit, gilt das gleichc. So konnten diesc Denker und ihre Lehrcn fur ihn nur am Rande auftauchen. Dcnn beidc, Parmenides und Heraklit, erfullcn nicht die Grundvoraussctzungen, die des Aristoteles cigene Frage lciten. Sie licgen im Begriff dcr >Physis<. U n t e r diesem Begrifl hat offenbar Aristoteles die ionischen Anfange wiedererkannt und gegen den Pythagorcismus Platos zur G e h u n g gcbracht. Dagegen lagen lhm Heraklits Ratsclspriiche und seine Lehre von dem Seclenfeuer («iyi tppovtpov) auch nicht gerade als BeittAg zur Phvsik nahe. Vor allem hat abcr die platonisehakademische A u f n a h m e und Wciterfuhrung des Parmenides, von dcr die Eleatendialoge Platos Zeugnis ablegen, den Aristoteles veranlaBt, das T h e 111a >Parmenidcs< trotz alletn in die Einleitung seiner Physikvorlesung aufzuliehmen. Es wurdc in Wahrheit lediglich eine hochzcremonielle Hinrichtung. Doch verdanken wir dcr A u f n a h m e der Parmenides-Kritik in die >Physik< des Aristoteles. da8 die Stcllungnahmen des Alexander wic des Simplicius erhalteu sind, die dcr Kommcncierung der aristotelischcn >Physik< folgcn. Insbesondere w a r e s dergliickliche Umstand, daB Simplicius bei dcr Auflosung der Akadennc ein altes Exemplar des Lehrgedichts des Parmenides vorfand und in Erkenntnis der Seltenheit des Textes ausfuhrliche Exzerpte anfertigte. Damit ist ein fur die gesamte Vorsokratik einmaliger Fall gegeben. Wir sind nicht allein auf Berichte, sci es kritische odcr rnehr biographische, angewiesen und auch nicht rtur auf vereinzeltc Zitate, sondern besitzen von dem ersten Teil des Lehrgedichts des Parmenides den Text fast ganz. Es 1st bedeutsam, daB es sich dabei u m Hexameter im Stile H o m e r s und Hcsiods handelt und iiberhaupt u m Verse, wie wir solcfie sonst nur noch von dem annahernden Zeitgcnossen Xenophanes besitzen. Von ihm hicB es, er sei dcr Lehrer des Parmenides gewesen. Das klingt freilich einigermaBcn phantastisch. Denn er war, wie die erhaltenen Stiicke aus seincn Elegicn zeigen, ein dichtcrisch nicht unbegabtcr Rhapsode, abcr gewiB nicht derBegriindcr der eleatischen Philosopliie. Das zu behaupten ist wohl nur dadurch zustande g e k o m m e n , daB Plato in seiner summarischen und hochst konstruktiven Obersicht im )Sophistes< (242c ff.) die eleatische Schule auf (Xenophanes und noch fruher< zuriickfiihrt. Wenn Xenophanes in irgend etwas Lehrer des Parmenides gewesen sein kann, so gewiBlich nicht wegen seiner Philosophic, sondern in seiner Kunst, Verse zu machen. Dann war er nicht einmal ein schlechter Lehrer. Wir erkennen heutc die Verse des Lehrgedichces des Parmenides als dichterisch gute Verse an. Auch dient uns Xenophanes als ein wichtiges Zeugnis u n d als eine Bestatigung, daB man an den H o f e n und in den Stadten des damaligen GroBgriechenlan-
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Auf clem Weg zu Plato
des fur die neue Wissenschaft Interessc hatte, die sich in Milet entwickclt hatte, u n d das so sehr, daB m a n sich sogar poetische Berichte iiber das Universum und iiber die N a t u r bci ihrcn Festgelagen durch Rhapsoden wie Xenophanes vortragcn lieB. Es ist strittig, o b Xenophanes wirklich ein Lehrgedicht >Ober die Natur< (natiirlich nicht unter diesem Titel) geschricbcn hat. Es ist nicht unmoglicli. GcwiB war das aber auch cine durchaus unselbstandige rhapsodische Vermittlung, wie sie im E e r u f soldier Sanger lag, die im allgemeincn sonst nur m y t h o l o g i s c h e T h e m e n u n d Heldensagen vortrugen. Jedenfalls steht fest, daB die spatcre Lehrschrift >Uber X e n o p h a nes . . .<, die durch Aristoteles hindurchgcgangen ist, erst aus weit spaterer Zeit stammt. I m m e r h m ist es ganz plausibel, daB Xenophanes, wenn er das Universum schilderte, Pradikationen hymnischen Stils v o r g e n o m m e n hat, die man in anstotelischer Zeit als philosophische Argumentation lesen konnte. Aus solchen hymnischen Prcisungen lieBen sich ganz gut dialektischeThesen eleatischcn Stiles tnachen. Das Lehrgedicht des Parmenides steht dagegen auf gesichertem Boden. N u r ist es etwas Ungewohnliches, daB die ncue ionische Wissenschaft damals durch die Rhapsodenkunst mitgeteilt und bis nach ltalien und Sizilien weitergetragen worden ist. Das muB man sich klarmachen. M a n versteht so iiberhaupt erst, w a r u m Parmenides, statt in der Prosa einer Lehrschrift zu schreiben, ein solches Lehrgcdicht vcrfaBt hat. Z w a r sind das auBere Umstandc, aber selbst dicse auBeren Uinstande haben tiefere Bedeutung. Es driickt sich darin erne Uberschichtung mythisch-heroischer Sagcnwelten durch die Weltneugicr der neuen Wissenschaft aus. Das will also etwa heiBen, daB sich im Falle des Parmenides mythische Formen u n d kosinologische Inhalte mit logischer Rationalitat zu neuer Wirkungseinhcit verschmelzen konnten. Man beachte, daB hier Gottinnen cingcfiihrt werden und man sich an Hesiods Einweihung durch die Musen erinnert sieht. Hier ist es eine Gottin, die das Ganze vortragt, freilich cine namenlosc Gottin. Aber das ist ja die Muse bei H o m e r auch. Die inspirierende Gottheit ist eben immer etwas ganz andercs als em Gott, der im kultischen Leben mit allcm seinem mythischen Hintergrund begegnet. Im Parmenides-Text erscheinen dann manche andere Gotternamen, vor allcm >Eros<, der nach dem Vorbild Hesiods cine alles durchwaltendc Macht darstellt. Andere vergottlichtc Machte, die bei Parmenides v o r k o m m e n , sind >Dike<, >Moira<, >Ananke< und vielleicht sogar >Aletheia<. In solchen Gotternamen scheint Begriffsbildung und Mythentradition ununterscheidbar ineinanderzuflie/3en. A m ehesten k o n n t e man noch bei dem P r o o m i u m des Lehrgedichtes religiose Hintergriitide vermuten, bei der packenden Schildcrung der Auffahrt des Dichters zu dem gottlichen Palast, in d e m i h m die voile Wahrheit iiber das Sein verkundet werden wird. Das sind mysterienahnliche Ziigc. Aber frcilich miiBte dann als gottliche Botschaft cine Heilslehre und etwas
Parmenides Oder das Diesseits des Seins
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wie eine O f f c n b a r u n g folgen. Indessen, mit einer Hadesfahrt, wie sie zur O r p h i k passer) wiirde, hat diese Himmelsreise wiederum nichts zu tun. Vor allem muB man den Kontrast empfmden, der zwischen der Vcrsform, der Sprachc des Epos u n d dem feierlichen Zeremoniell der Wagenfahrt, der A n k u n f t und des Empfangs durch die Gottin besteht, und auf der andern Seite der niichternen, logisch-abstrakten Ankiindigung ihrer Botschaft. Gottliche Potenzen finden sich zwar im Laufe des Tcxtes hin und wieder erwahnt, aber sie fugen sich vollig ohne Bruch in die Sprache der A r g u m e n tation, die das Ganze bcherrscht. Es geht in der Botschaft der Gottin nicht u m religiose O f f e n b a r a n g , sondern urn logische Konsequenz. Freilich ist es eine Konsequenz von besonderer Art u n d von so paradoxer Strenge, dafl man g e m glaubt, ohne gottliche Autorisierung ware kein Sterblichcr lmstande, eine solche Konsequenz festzuhalten. Das ist ein Punkt, der mir in der bisherigen Forschung und philosophischen Auslegung des Lehrgedichtes noch nicht zu seinem Rechte g e k o m m e n schemt. Die verkiindende Gottin ist offenbar einsichtig genug, der Vernunft der Sterblichen Rechnung zu tragen, und das ist fur das Verstandnis des Ganzen von entscheidender Bedeutung. Das uns erhaltene Stuck des Lehrgedichtcs, das die Lehre v o m Sein vortragt, ist jedenfalls nur der kleinere Teil des ganzen Gedichtes gewesen. Das lassen die wenigen erhaltenen Bruchstiicke aus den spateren Teilen des Gedichtes erschlieBen. Im Grunde miissen wir sogar sagen, dafi die Wirkungsgeschichte des Lehrgedichtes, die in Wahrheit durch die ganze Geschichte der Philosophic hindurchgeht, die Grundtatsache geradezu verdunkelt hat, daB der Inhale des Lehrgedichts in seinen weit groBeren Teilen sich im Rahmen der ionischen Physik irgendwie weiterbcwegt. Freilich k o m m t es auf dieses >Wie< entscheidend an. Da ist eine Gottin die Sprecherin, und zwar fur alles weitere, die auf die Sterblichen Riicksicht n i m m t u n d sich ihrcn Ansichtcn zuwendct. Das bedeutet keineswegs, daB in der breitausgefuhiten Schilderung der Weltordnung die eigentliche Botschaft der Gottin, auf der sie eingangs mit fcicrlicher Entschiedenheit bestanden hatte, die Vermeidung des >Nichts<, preisgegeben wiirde. Das Weltbiid der Sterblichen, das die Gottin darstellt, grcindet sich ausdrucklich auf die Ansichten der Sterblichen (ihre tiotai). Dcnnoch bleibt die Gottin in ihrer Darstellung auf dem Wege der "Wahrheit. Sie verkiindet eindeutig, dafi es nur einen Weg gibt, der wirklich zur Aletheia fiihrt (Fr. R,l)So stellt sich bei der Schilderung des Weltbildes der Sterblichen, wenn in ihr Wahrheit sein soil, die Aufgabe, den Ungedanken des Nichts zu vermeiden, auch wenn die Sterblichen sich im iibrigen von d e m Augenschein leiten lassen, der ihoen ihre Ansichtcn von der wirklich erfahrbaren Welt bietet, Wenn die Gottin da bei der Schilderung des Weltbildes Gegensatze zugrunde legt, folgt sic im gewissen Sinne dem, was schon Anaximander wuBte, namheh dafi die Physis darin besteht, daB die Gegensatze sich bestandig
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Auf clem Weg zu Plato
miteinander ausgleichen und die Weltordnung erhalten. Wenn jetzt die Gottin ihrerseits von Gegensatzen spricht, so ist das noch i m m e r mit dem Anspruch, Wahrheit zu vcrkiinden, namheh dem Auserwahlten die Ansichten der Sterblichen so zu iibermitteln, daB ernicht auf den A b w c g des Nichts gerat. Die starrc Wahrheit des Seins und das auf den Augcnschein gegriindete "Weltbild, in dem sich Licht und Nacht bestandig ausgleichen, miissen in einem gewissen Smnc beide als wahr geltcn. Sie halten bcide an der Konscquenz der Vernunft fest, das Nichts als ganz undenkbar u n d unsagbar auszuschlicBen 7 . Aus all dem gcht hcrvor, daB die ausfuhrliche Schilderung des Weltbiides der Sterblichen nicht etwa ein Nachtrag ist, eine Modifikation oder nachtragliche Anpassung an die Erfahrung der Menschen. M a n versteht kaum, wie man iminer wieder versuchen konnte, den Z u s a m m e n h a n g der beiden Telle des Lchrgcdichtes aus eincr biographischen E n t w i c k l u n g des Dcnkers zu deuten - und damit den klaren Wortlaut zu ignoriercn —, u n d daB man uberhaupt nicht ernst nahm, daB hier cine Gottin zu einem Sterblichen iiber die Ansichten der Sterblichen spricht. Es klingt zwar angemessen, wenn Aristoteles sagt, Parmenides habe sich durch die Wucht der Tatsachen genotigt gesehen 8 . seine Lehrc von der starren Seinskugel durch erne Anpassung an die Wirklichkcit der B e w e g u n g zu modifizieren. Bei allem handclt es sich jedoch u m die Lehre der Gflttin, und wenn es cine Anpassung ist, dann ist es cine Anpassung der Gottin an die Einsichtsfahigkcit der Menschen, die man nicht umgehen kann. Man kann das auch so ausdriicken, daB der Autor Parmenides cinsicht, daB gesunde Vernunft sich mit dem Aberwitz der Leugnung aller B e w e g u n g nicht abfinden kann. Jedenfalls gcht es in beider Hinsicht, f u r den ersten Tcil des Gedichts wie fur den groBercn zwciten Tcil, u m die Konsistenz der Vernunft mit sich selbst, f u r die die Gottin einstcht. Scit Karl Remhardt hat die neuere Forschung den O b e r g a n g zwischen beiden Tcilen des Lehrgedichtcs ins Z e n t r u m gestellt. Die entscheidenden Verse des Obergangs (Fr. 8,50ff.) sind glucklicherweise ohne LCicke erhalten. Doch scheint cs schwierig, den Text genau zu verstehen. Nach mciner Mcinung verschwinden die Schwicngkeiten aber, wenn m a n stets darauf achtet, daB cs eine gottliche Unterweisung ist, die d e m bevorzugten E m p fanger znteil wird. Jedenfalls handclt es sich bei dicser Z u s a m m e n g e h o r i g keit von Alctheia u n d mcnschlichen Oofjn nicht u m eine damonischc Verstrickung in Scin und Schcin, die die Menschen verwirrt, wie etwa Rcin-
7 WShrend der Drucklegung bemerke ich, daf? W. R. C H A L M E R S (Phronesis 5 [I960], S. 5-22) in t m n kritischen Obersicht liber die damalige Forschung si age in dicsem Punkte zum gleichen Ergcbnis gekomnien ist.
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Met. yl 5, 986b3i: av
Parmenides oder das Diesseits des Scins
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hardr die Tragodie des Konigs Odipus faszimerend entschlusselt hat. Es ist auch nicht das Problem des sophistischen Scheins, das den platonischen Sokrates hcrausgcfordert hat. Es ist vielmehr eine doppelte Wendung gottlichen Wissens. Die Gottin wciB das Wahre, abcr sie bcgrcift, daB die M e n schen auf den Augenschcin verwiescn sind. So schildcn sie das Weltbild, das sich auf dicser Voraussetzung in den Augen der Gottin als haltbar erweist. Von da aus ist der Obcrgang v o m ersten Teil z u m zwciten Teil zu verstehen. Der entscheidcnde Vers 8,54 (r&v ]riav ov ewv iaitv - t:v zoi nsnXavript-voi eioiv) ist bcsonders u m s t n t t e n . Schon Diels hatte scinerzeit erkannt, dafi sich hier die gottliche Verkiindcrin auf die sterblichen Mcinungen eingclassen habe, die zwar fiir die Gottin kerne Wahrheit flatten, die sic aber zu ihrcr groBtmoglichen Konsistcnz erhebt. Bei der Ankiindigung der Darstellung der sterblichen Ansichten (Fr. 1,32) und immer vvicder taucht da das griechische Wort \p>j\ auf. Das heifit nicht so sehr >es ist notwendig< als vielmehr »es ist als notwcndig anzusehen<, es ist in O r d n u n g und richtig, so wie die Sterblichen nun cinmal sind 9 . Sie sind nicht irnstande, gegcn den Augenschcin auf dcr starren Unbewegtheit des Scins zu bestehen. Mit dem gleichen Wort xpijv hcifit esjetzt, und mit dem gleichcn Wort sollen doch wohl die Meinungcn der Stcrblichen von der Gottin charaktcrisiert werden. Dunn heifit der Vers 8,54: nach sterblicher Ansicht sei cs nicht ertorderlich, cine Einhcit u n d ein Eines anzunehmcti, das hinter der Zweiheit dcr beiden gegensatzlichen Gestalten von Licht und Nacht als das eine und wahre Sein lage. Die beiden Gegensatze sind vielmehr das, was ist und was die Welt fiir unseren Augcnschein profiliert. Schwabl hat mit Recht darauf bestanden 1 0 , in Wicderaufnahme der Meinung von Diels, daB der strittige Vers nicht rneinen konnc, es sei wirklich falsch gewesen, den cinen der beiden Gegensatze. also die Nacht, als seiend zu benennen, weil sie doch bloBes Nfichtsein ware. Das miilitc mi Gricchischen andcrs heiBen, nicht pta\\ sondern hepav. In Wahrheit spricht aber die Gottin aus kritischeni Abstand gegeniiber dem, was die Sterblichen denken. Das tritt in Vers 8,54 dadurch heraus, daB die kntische Bcmerkung dcr Gottin eine richtige Unterbrcchung ist. Die Gottin kann hier die kntische Bemerkung nicht untcrdrucken, daB die Sterblichen nicht das Eine in allem Sein zu denken vermochten. Das war ja eben v o n ihnen berichtet worden, dafi sie eine Zweiheit von gegensatzlichen Gestalten a n g e n o m m e n haben, die einander entgegenstehen u n d sich miteinander vermischen. N u n sind das
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Vgl. H. F R A N K E L , Wege und Formen fruhgriech. Denkcns. Miinchen 1955, S . 188. ubersetzt geradezu >richrig< - u n d tut gut daran, 10 H A N S S C H W A B L , Sein und Doxa bei Parmenides. In: Wiener Studien 6 6 ( 1 9 5 3 ) , S. 50-75. Wicdcrabdr. in: H.-G. G A D A M E R (Hrsg.), U m die Bcgriffswelt der Vorsokrariker. Darmstadt 1968, S. 391-422. Hier S. 393 ff. HOLSCHER
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A u f clem Weg zu Plato
allerdings nicht die Gegensatzpaare, von denen die ionischen Physiologen redeten. Die Gottin zcigt, daB es sich u m eincn einzigen Gegensatz handelt, den von Licht und Nacht, und dieser ist in Wahrheit fur die Sterblichen der eine Gegensatz, der die Welt des Augenscheins artikuliert. Die wahre Welt des Seins sieht anders aus. Die Gottin hatte in ihrer Belehrung das i m m e r wieder eingescharft, daB es nur das Sein gibt, das eine Sein, in dem kein Nichts ist. Das ist fur die Sterblichen eine ubermenschliche Wahrheit. DaB sie nicht imstande sind, an der Konsequenz der Wahrheit des Seins gegen den Augenschein festzuhalten, bedeutet also in den Augen der Gottin eine gewisse Abweichung von der Wahrheit. Sie wird den Sterblichen v o m Augenschein abgenotigt. Es bleibt also cin Zuriickwcichen vor der letzten Konsequenz des Gedankens des Seins, wenn die Sterblichen zwei gegensatzliche Machte annehmen und die Vielfalt dessen, was sich im Lichte zeigt und in der Nacht verschwindet, mit Sein und Nichtsein verbinden. So denken Sterbliche und sind zu einer groBeren Konsequenz nicht fahig. ja, sie wiiBten vielleicht nicht einmal zu leben, wenn sie sich nicht auf diese Weise an der Vielfalt der Dinge orientierten. So sehr das im allgemeinen fur die Sterblichen gelten mag, die Gottin traut dem Denker zu, daB er sich belehren laBt, trotz der unvermeidlichen Angleichung an den Augenschein, soweit konscquent zu bleiben und den Ungedanken des Nichts zu vermeiden. Daher ist es in Wahrheit etwas ganz Neues, was die Gottin als das glaubhafte Weltbild der Sterblichen unter dem Gegensatz von Tag und Nacht verkiindct. In diesem Augenschein ist Wahrheit. N i e m a n d e m ist damit zugemutet, das Nichts fur Sein zu halten. Die Gottin sagt auch nicht etwa, daB dem iiberhaupt nichts entspricht. Es sind Ansichten, die sich uns bieten, die dem Augenschein entsprechen u n d die wir entsprechend benennen. Die Sterblichen konnen eben nicht auf der unveranderlichen Wahrheit des einen Seins bestehen. Aber sie konnen zu einem in sich schliissigen Weltbild gleichwohl gelangen, auch w e n n sie dem Augenschein folgen. Es geht nicht etwa darum, weil Licht und Dunkel, Tag und Nacht wirklich dasselbe sind. Vielmehr sind es fur die Welterfahrung des Menschen g r u n d verschiedene Aspekte der Welt, die sich in ihrer Herrschaft ablosen u n d emander vertreiben. GcwiB, Heraklit tadelt die anderen, daB sie so unwissend sind, nicht zu wissen, daB Tag u n d Nacht als bloBc Wirkungen des Sonnenlaufes dasselbe sind (VS 22 B57). Heraklit verspottet die mythische Rede, wenn er Hesiod nennt, das Gegensatzdenken der Milesier (Hekataios) fiir ihre Vielwisserci, und ebenso Pythagoras und Xenophanes (B40). Er tut gut daran, nicht auch Parmenides zu nennen, den er vielleicht gar nicht kannte. DaB Heraklit Xenophanes nennt, besagt nichts dagegen. Das war ein Rhapsode, der dort, an der ionischen Kiiste, schon tatig gewesen war, bevor er nach Sizilien ging. Dagegen hatte Heraklit den Parmenides in diesem
Parmenides oder das Diesscits des Seins
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Z u s a m m e n h a n g kaum nennen konnen, der so nachdriicklich auf dem cinen Sein bestand. Bei der Schilderung der bcidcn Weltaspekte von Tag und Nacht wird das Insichstehen der beiden Aspekte, ihre Gegensatzlichkcit, mit auffalligem Nachdruck betont. M a n mcint ein geheimcs Lacheln der Gottin zu bernerken, wenn sie die Sterblichen so einfaltig sein lafit, nicht zu wissen, daB Tag und Nacht in Wahrheit dasselbe sind. Oder lachelt Parmenides ctwa selbst, wenn er so vieles heranziehen mufi wic das »lastende Dunkel<, nur um die Nacht ja nicht als ein Nichts, als das Nichts des Tages zu denken und um damit die Inkonsistenz des Seins des Nichts zu vermeiden? Die Gottin betont ausdrucklich, daB das athcrische Feuer >ganz fur sich ist< und mcht mit dem anderen ldcntisch ist, und ebenso gilt fur die Nacht, sie sei >an sich< etwas Dichtes und Festes, eine schwere und lastende Masse und nicht ctwa Nichts. M a n versteht, w a r u m Licht u n d Nacht von den Menschcn so unterschieden werden und gerade in ihrcr standigen Mischung das Wahre darstcllcn. So sieht das Sein fur uns aus. Darin liegt die Ubcrlcgcnheit der gottlichen Belehrung iiber das >Scin< gegeniiber den ionischen Denkcrn, die in Gegensatzpaarcn denken. Unsichtbarwerden ist eben nicht Zu-Nichts-Werden. Licht und Nacht sind bcide allgegenwartig und d u r c h d n n g e n alles (Fr. 1,32: Sia navToq naviri nepSivia). In ihrer Vermischung gibt es keine leeren Stellcn, kein Nichts. Gleichwohl sind sie fur den Augenschein ein AuBerstes von Gegensatz. Sie sind der eine Urgcgcnsatz, von dem alles Sichtbarc abhangt. So heiBt es: aus diesen Zweien Eines zu machcn, das eine eov, sei etwas, wozu die Sterblichen sich nicht verstehen konnen und was die Gottin dem Denker erst klar machen muB. Das Wcltbild der Sterblichen ist von d e m Gegensatz von Licht und Dunkel beherrscht, in dessen wcchsclndem Scheine sich die Vielfalt der Dinge zeigt. So k o m m t am Ende eine in sich glaubhafte Weltordnung hcraus, cin >Diakosmos<, in dem alles voll ist von Sein, und nirgends ist nichts. So fahrt das Gedicht in der Folge mit cincr kosmogonischen Schilderung fort, die die Gestirnwelt beschreibt. Das ist durchaus crnsthaft gemeint. Man kann nicht zweifeln, daB die Darstellungsform des ganzen Folgenden die der K o s m o gonie war. Gleichwohl ist es ganz anders, als wenn Anaximandcr seine Weltbildung schildert, so schr auch bei ihm, wie in aller Kosmogonic, die bleibende O r d n u n g der Welt als das schlieBliche Resultat beschrieben ist. Die Botschaft der Gottin will cben dem Dichter Parmenides eine wirkliche Oberlegenhcit gegeniiber der ionischen Wissenschaft vers chaffen. So mag in dicser Kosmogonie der Sichtbarkeit und des Augenscheins eine A b w e h r der Kosmogonie der lonier liegen. Insbesondcre des Anaximander Lehre von der Ausscheidung von Welten aus d e m Grcnzenlosen und von der Neubildung von Welten mufi sich in den Ungedanken des Nichts verstricken und in solchem Weltenwerden das Nichts, als ob es das gabe, mitdenken. Die vielumstrittene Stelle Fragment 8 V. 54 kann hier nicht in alien
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Euizelhciten diskutiert werden. Ich weise nur noch darauf hin. daB in den Versen nacheinander an betontcr Stelle erst von >zwei< die Rede war (/lopiffK t>vo) und dann von >einem< (itl'V jitav). Da schcmt mir die betonte Gcgcnstellung von zwci und ems nahezulcgen, daB cben >aus den Zwci £ins< verstanden werden miiBte, und das ware dann das Eine, die Kugcl des Seins 11 . So zu dcnken ware die Lehre, die die Menschen eben nicht anzunehmen vermogen und was dem Horer des Gedichtes immcr wieder eingehammcrt wird. (So hat Simplicius in Phys. 31,7 verstanden!) Die Gottin hat alien Grund, diese Abweichung von der Wahrheit zu unterstreichen, die die Sterblichen offenbar nicht unterlasscn konnen, auch wenn sie sonst konsequent zu denken vermogen. Deshalb unterbricht sie ihren Bericht: >darin sind sie in die Irrc gegangen<. Das hcilk auch positiv, daB sie, wohl belchrt, den Nonscns, den Ungedanken des Nichts, immerhin zu vermeiden wissen. Sowcit konnten sie auf dem Wege der Wahrheit blciben, wenn sie auch dem Augenschein folgcn. Wenn ich auf die mythische Redcweise solches Gewicht lege, die das Lchrgedicht t'iihrt, derzufolge aus gottlichem Munde iiber die Sterblichen und ihre besseren und schlechteren Ansichten Auskunft crgeht, so geschicht das nicht, um es mir in der Begriffssprachc Platos und Aristoteles' odcr gar Kants, die dieser Botschaft auf ihre Wcise Folge leisten und das >noetische< Sein auszeichnen, nun wohlsein zu lassen. Ich stelle vielmehr die Frage, ob man diesem anfanglichen Dcnken damit gerecht wird und dam it auch uns selbst gerecht wird, wenn wir sic nur im Lichte ihrer Wirkungsgeschichte sehen, die mit Plato und Aristoteles beginnt, und nicht vielmehr auch im Lichtc von Mciglichkeiten, die nicht zur Wirkung g c k o m m e n sind. GcwiB gehort die Wirkungsgeschichte z u m Bedeutungskreis des Gedankens, und das ist gerade bei Parmenides besondcrs aufschluBreich. Da sehen w i r j a , wie die Wirkungslinien nach zwei so verschiedenen Richtungen ausgegangen sind wie zu der Korpuskular-Theorie des 5. Jahrhunderts u n d der gleichzeitig aufkommenden Logos-Philosophie des ausgehenden 4. jahrhunderts, diein der Dialektik Platos und Aristoteles' zur Entfaltung k o m m e n . Beides muB man wohl im Augc behaltcn. So sehen wir, wie die elcatisclic Frage in der Tat die Tradition der Metaphysik eroffnet, u n d wir finden bei den antiken Kommentatoren, die in dieser Tradition scehen, das Lchrgedicht ganz selbstverstandlich durch die Unterscheidung des >noetischen< und des >aisthetischen< Seins rezipiert, der intelligiblcn und sensiblen Welt, u m mit Plotin oder Kant zu sprechcn. Wir fragen uns jedoch mit dem umgekehrten Interesse, ob etwa das Lehrgedicht der Sachc des Denkens nahcr ist, als die metaphysische Tradition aufnehmen konnte. Etwas noch nicht unterschieden zu haben, kann 11
So haben dem Sinn nach auch J.
CUOISSANT
und
MANSFF.LD
verstanden.
Parmenides oder das Diesseits des Scins
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auch heillen, Zusammengehoriges besser sehen. Es istjcdcnfalls kem Z w e i fcl, der Unterschied von >Noesis< und >Aisthesis< ist erst eine platonische Pragung. Das ist die wichtigste Voraussetzung z u m Verstandnis des Parmenides, daB es den Gegensatz von Nocsis und Aisthesis hier noch nicht gibt. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daB in einem spatercn Z u s a m mcnhang (Fr. 7,4) das Sehen, das Horcn und die Z u n g e ausdrucklich verworfen werden und gegen sie der Logos aufgeboten wird. Die Stellc bcweist das Gcgcnteil. Die Ausdriicke zeigen, hier gibt es gerade keinen gemeinsam e n B e g r i f f , wie >Aisthesis<. Zu ihm wiirde wahrlich nicht die Zunge, die sprechende, gehoren 1 2 . Ich folgehier in meinen eigenen Plato-Studien der bei alien ihren anfatigerhaften Mangcln bahnbrechenden Arbeit von H e r m a n n Langerbeck 1 3 liber den >Theatet<. In diesem Dialog iSI't sich der entscheidcnde Punkt schr genau erkenncn, an dem die Bcwcgungslehre des friihen gricchischen Denkcns dem Protagoras in den M u n d gelegt wird. Wie diese Lehre scheicert, offnet sie den ncuen Horizont der >Psyche< und der platomschcn und aristotelischcn Orientierung an den Logoi. Es ist die A u f n a h m e der eleatischen Frage im >Sophistcs< und im Parmcnidcs-Dialog, die das klarmacht 1 4 . M a n sieht bei Aristoteles, daB seine Eleaten-Kritik, die er am Anfang der >Physik< bringt, cigcntlich gar nicht Parmenides meint. Die beiden Kapitel im ersten Buch der >Physik<, die diese Kritik enthalten, stehen zu der Thematik der Physik ganz quer. Des zweiten Tcils des Lehrgcdichts, das immerhin eine Kosmologic war, wird hier nicht einmal E r w a h n u n g getan. Im G r u n d e meint Aristoteles, scheint mit, Plato. Ihm wird die Vielfalt der Bcdcutung von >Scin< entgegcngchahcn, und gcgen lhn wird die Katcgorienlehre des Aristoteles aufgeboten. Er meint also die platonische A u f n a h m e der Lehre des Parmenides durch den ;Sophistes<. Plato hat dort eine wenigcr cindeutige Richtungnahmc im Auge. Er deutet an, daB in der Lehre des alten Parmenides uns vielleicht noch nicht zugiingliche und noch nicht erfaBtc Einsichten licgen konnten. Offenbar ist cs in Platos Augcn, itn Lchrgedicht wie fur ihn selbst, keineswegs ausgemacht, daB die aristotehsche Unterschcidung der Substanz von den iibrigen Kategorien das letzte Wort sein darf. So mufi man an das Lchrgedicht selbst die Fragc richtcn, warum seine Lehre wie eine O f f e n b a r u n g aus d e m M u n d e der Gottin 12
y.Wna hat hier, in diesem Zusammenhang, kognitiven Sinn wie rh-arj und oy>u;, die seit Hesiod selbst vers tandlich nur die sprechende und nicht die schmeckende Zunge meinen soli. 13 H . LANCHRBtCK, AOI1Z EFltP) ±1X11/1 Studien zu Demokrits Ethik und Erkenntnislehre. Berlin 1935 (Neue Philol. Untersuehungen H. 10). Vgl. mcine Rezension in Bd. 5 der Ges. Werke. S. 341 ff. 14 H E I D E C C E K S >Theatet<-Vorlesung v o n 1931 (jetzt in der Gesamtausgabe Band 34) war mir bei Abfassung meiner Arbeit noch nicht zuganglich.
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eingeftihrt wird. Das soil >Sein< und die Wahrheit sein, was allcm A u g c n schein derart entgegensteht, daB es iiberhaupt keinc B c w e g u n g gibt u n d nicht einmal Vieles! Wenn Heidegger nach dem Wahrheit sraum zuruckfragt, inncrhalb dessen sich iiberhaupt erst so etwas wie die Metaphysik entwickeln konnte, so muB ihn Parmenides und sein Bestehen darauf, daB >Sein ist<, immer wicder herausfordern. DaB es dabei zugleich um den Ungedanken des Nichts ging, war mir schon friih aus Heideggers Antrittsvorlesung fur die Nachbarschaft von Sein und Nichts wegweisend. Die Eliminierung des Ungedankens des Nichts heiBtumgekehrt: >Sein< meint den Gedanken des >Da<. Hier brauchcn wir uns nicht von Carnaps bekannter Einrcde 1 5 gegen Heideggers Sprechen v o m Nichts beirren zu lassen, daB m a n so etwas nicht in den ubhehen Symbolen an die Tafel schreibcn kann. In Wahrheit zeigt sich Carnap hier eigentlich als ein guter Eleat. Parmenides driickt sich freilich etwas anders aus, und ihn interessiert nicht die logische Struktur der Aussagesatze. So ist es ja ganz unzweifelhaft, daB h m im Lehrgedicht kautn j e die Bedeutung der Kopula und daB pi) eov nicht die Bedeutung der Verncinung hat. Daher hindert es den Parmenides nicht, trotz der Abweisung des >Nichts< standig negative Aussagen zu machcn. Die Redeform des Lehrgcdichtes ist nicht die des Aussagesatzes, der nur Subjekt und Pradikat verbindet. 'Eon und meistens auch id eov tragt die ganze schwere Bedcutungslast von Wahrsein und Wirklichsein. Daher meinen die Wcgzeichen, die auf dem Wege der Wahrheit des Seins aufgezahlt werden, daB das Nichts bcim Denken des Seins ausgeschlossen bleiben muB. Vor dicscr Abirrung sollen die Wegzeidien schiitzen. So ist es bezeichnend, daB die Argumentation mit nyt'vijrov und avioXedpov (Fr. 8,3) beginnt und daB dicscr Punkt besonders ausfuhrlich durchgefiihrt wird. In beidem ist ja notwendigerweise das Nichts gedacht. Das leuchtet jedem ein. Nicht ganz so evident ist die Ausdehnung auf Ausdrucke wie >den O r t wechselrx. Das heiBt >einen Platz leer lassen<. Aber ware er >leer<, ware das Nichts da. Ebenso ist es mit der Farbe, die vergeht, wie wir im Deutschen sagen konnen. Auch hier verweist der Ausdruck >glanzcndc Farbe< indirekt auf das Nichts im Vergchen der Farbe und vielleicht nicht nur der Farbe. Oder warum horcn dieToten die Stille? 16 Man solltc beachteri, daB hier die ziisammcnt'asscnde Aufzahlung dessen, was abgewiesen wird, unter dem Stichwort des N a m e n s (ovoyiu) und des Nennens steht. Es ist ja nicht ein Nichts, was mit diesen Ausdruck en gemeint ist, und doch stoBt das Denken ins Leere, wenn es das Entstchen denken soil. Was ist das, aus dem es entsteht oder in das es vergeht, oder was LS R U D O L F C A R N A P , O b e r w m d u n g der Metaphysik. durch logische Analyse der Sprache. In: Erkeiintnis 2 (1931), S. 219-241. Hier S. 229ff. 16 Vgl. Thcophrast, De sensu (VS 28 A 46).
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ist das Leere, das man zuriicklafit oder neu besetzt usw. ? Man denke auch an die >Benennung< des Nichts, von dem es heifit (Fr. 8,17), unnennbar zu sein (avuvvjiov). Die anderen Ausdriicke sind zwar bloflc N a m e n , aber nicht leer. Sie meinen etwas, abcr sie decken nicht alles, was damit gemeint ist. Das Nichts bleibt verdeckt, und wenn m a n das Benannte priift, stofit m a n ins Leere: ». . . Katinst du, bei den Gottern, d a v o n j e verstehen, was da gemeint ist?« (Plato, Soph. 243b). So ist es ein ungenauer Gebrauch solcher N a m e n . Aber solche ungenauen Vorstellungen lassen sich durch cin genaueres Denken ersctzen, und das lehrt die Gottin auch. Es ist die Lehre von Licht und Nacht. Sie sind >Namen<, abcr das mit ihnen jcweils mitgedachte Gegenteil ist selbst seiend u n d ist nicht Nichts. So klart sich positiv, was in dem Lehrgedicht vne.iv heifit. Ganz gewifi nicht >Dcnken< oder gar Denken im Unterschied zum Sehen des tleibhaft Gegebenen* (um mit Husserl zu reden). Es geht nicht um das, was man denken kann. Eine blofle Denkbarkcit kann im Lehrgedicht nicht gemeint sein. Besser ist es schon, weil es die Intentionen des Parmenides nicht so vollig verdeckt, vocivals >Erkennen< wiederzugeben. Darin liegt wenigstens i m m e r das Sein des Erkannten, sein Wirkhch- und Wahrsein. N u n haben wir inzwischen durch die sorgfaltigen w o r t - und begriffsgeschichtlichen Untcrsuchungcn von Kurt von Fritz gelernt, was der ursprungliche Anwendungsbereich und das Bedeutungsfeld von voe.lv eigentlich ist 1 7 . Dem urspriinglichcn Wortgcbrauch nach schcint voeiv ctwa so etwas zu sein wie das Wittern des Rehes, das etwas >ausmacht<, im Sinne von >da ist etwas<. Das ist die Weise, wie das Wild Gefahr ortet und damit gewifi nicht, was es ist, erkennt und doch spiirt, daB da etwas >ist<, und es ist cin schr empfindliches Vernehmen, so dafi es anderen ganz verborgen ist. So kann etwa Demokrit das Wort fur die Erkenntnis der A t o m e gebrauchen oder Plato das Wort fiir die mathematische Intuition und Abstraktion, und Aristoteles vollends betont in seinen so gern auf den urspriinglichen Sprachgebrauch zuriickgehenden Begriffsanalyscn, dafi dcr >Nous< im fhyyavnv, in der Unmittelbarkeit des etwas Treffens u n d Anriihrens besteht, anders als wenn iiber etwas eine Aussage gcmacht wird. - Man sollte auch noch Anaxagoras in diese Reihe einfiigen u n d damit das bcgriffsgcschichtliche Resultat der von Fritzschen Untersuchungen fur die Begriffsbildung der Philosophie fruchtbar machen. Der N o u s wird ja bekanntlich, wie gerade die Kritik Platos im >Phaidon< lehrt, von Anaxagoras wie cin feinster, iiberall hin dringender, alles durchdringendcr Stoff gedacht. Er wittert sozusagen alles, weil er m allem gegenwiirtig ist, ohne je mit ihm vcrmischt zu sein. Auf alle Fallc lehrt diese Begriffsgeschichte, wie nahe es fur das anfangliche Denken sein mufite, wenn es die Denkentscheidung zwischen Scinsdenken 17
Jetzt in: U m die Begriffswelt der Vorsokratiker, a.a.O., S. 246-363.
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und Nichts denken zu treffen hatte, sich das Sein als diese in sich voile homogene unverandcrhche Kugel des Seins vorzustellen, auf das m a n rnimer trifft, wenn man auf etwas trifft. Wir sind hier noch nicht im Bereich abstrakter Begriffsbildungen, sondern in emem anschauungskraftigen Den ken, in dem Worte der gelebten Sprache mit einem ncuen Denkgehalt aufgeladen werden. Es ist mythischc Rede, nicht nur wegen ihrer Versform, sondern wegen ihrer Bindung an Anschauung. Es ist fast so, wie wir es bei Plato als das Nebeneinandcr und Zueinander von Logos und Mythos kennen. Was in der Lime des eigenen Dcnkens und damit seiner rechenschaftsfahigen Aussage gelegcn ist und was sie dann doch ubersteigt, wird sozusagen in das Jenseits einer nur durch >Mythos<, durch >Erzahlungi, heraufgerufenen und verge gen ward g ten Welt hinausgesprochen und hinausgehoben. So ist das >Denken des Seins* als die h o m o g e n e Kugel wie cine Herausstellung der unsagbaren Einsicht, daB das Nichts nicht ist. Der ganze. wie es scheint, liickenlos erhaltene Text, in dem die These des Seins als Extrapolation des Gedankens in eine beschrcibbare Wirklichkeit vollzogen wird. cmpfangt von da cm klares Prmzip der K o m position. Es sind allcs Zeichen, oi'flimti, die auf dem Wege zur Wahrheit abgesteckt sind. Man kann das schwerlich durch die an sich hubsche Parallele, die W. Brocker 1 8 beigebracht hat, verdriingen wollen. Eine mit Spriichen ausgestattete heilige StraBe - dafiir spricht im Lehrgedicht nichts, wohl aber, daB es schwer ist, den Weg einzuhalten und mcht unversehens ins Ungangbare abzuirren. Dafiir bedurfte der Verkchr in der damaligen Welt eben solcher Wegzeichen, wie wir sie im winterhchen Skigelande kennen. Das 6. und 7. Fragment zeigen es deutlich, daB die Sterblichen standig davon bedroht sind, von dem Wege der Wahrheit abzuweichen. Man mochte nun gern die Reihenfolgc der Zeichen priifen, die diesen Weg zur Aletheia sichcr markicren. Man fragt sich, ob es da cine vernunftige O r d n u n g gibt oder mehr eine rhapsodische Aufzahlung. N u n leuchtet ein, daB die starkste Verfiihrung zum Denken des Nichts darin liegt, wenn man die Frage des Entstehens stcllt. Wo k o m m t es her, wie ist es geworden, und wieso ist cs jetzt nicht mehr? Der Beginn mit diesem A r g u m e n t bestatige also, wie sich das Nichts in die Gedankeiifuhrung des Seins inimer einschleichen will und deshalb der ausfuhrlichsten Argumentation bedarf. Bei der Folge der iibrigen Zeichen, die sich daran anschliefien, wird m a n kaum von einer klaren Disposition sprechen wollcn. Wie die crstc Widerlegung des Entstehens sich in der Argumentation wiederholt, hat das Prinzip der Wicderholung in dieser rhapsodischcn Literatur iibcrhaupt cine wesentliche Funktion 1 9 . So werden wir auch hicr daran denken miissen. Die 18
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W . BROCKER,
Vgl. S. 44 f.
Die Geschichte der philosophic vor Sokrates. Frankfurt 1 9 6 5 , S , 6 0 . K o m m . S. 23fF. und meine Rctraktationen in Bd. 6 der Ges. Werke,
H . DIHLS,
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SchluBwendung des ganzen Fragmentes 8. von Vers 42 bis 49, wirkt cntschieden wie eine A u f n a h m e der bereits in Vers 26 bis 33 beschriebenen Zcichen. So ist das einzigc kompositorische Prinzip, das ich fur die Fortsctzung entdecken kann, daB die einandcr entsprechenden Stiickc eine einrahniende Funktion ausiiben. Was sic einrahmen, fordert besonderes Nachdenken. Es ist das Argument des >Noein< und des Seins. Aucb ragt dieses >Zeichen< dadurch heraus, daB es wie ein zusammenfassender SchluB (8,38 ff.) klingt, der viclcs zusammenfaBt, nicht wie bei >ungewordcn< und >unbewegt< (H,21). Darauf wird noch zuriickzukommen sein. Konnen uns die sonstigen Zitate aus dicscm Text weiterhelfcnr Kaum. Die uns crhaltcncn Bruchstiikke sind nur dort wirklich zuverlassig in ihrer Folge, wo sie das sorgfaltigc Exzerpt des Siniplicius darstellen. Dagegen ist der Platz, den die Fragmente 4 und 5 in unserer Zahlung gewonnen haben, recht ungewiB. Fragment 4 ist ein Zitat von Clemens. Mit der Ubereilung cines auf Dokumentation bedachten Kirchcnvaters sieht er in d e m ersten Vers das Wescn des Glaubens gcschildert. Das gibt uns gar keinen Anhalt, wohin das Ganze des Zitatcs gehort. So hat U v o Holscher in einer gehaltvollen Ncubchandlung 2 " des Lehrgedichtes das Fragment iiberhaupt aus dctn ersten Teil des Lehrgcdichtes herausnehmcn wollen und sieht darin den SchluB des Gcsaintwerkes. N u n handclt es sich bei dem Fragment u m ein aufforderndes Wort, das man mehr am Anfang crwartet. Es kann auch nicht iiberzeugend wcrden, wenn sich Holschcr auf die Parallele aus Einpedokles (VS 31 B 110) beruft, wo am SchluB der Horer sozusagen nochmals aufgefordert wird, das Gelcrntc zu beherzigen. Aber der Zusamnienhang mit Fragment 2 ist doch im Grunde nur sehr lose verstiindlich. Beidcs sind Aufforderungcn. GewiB ist es richtig, daB das Parm en ides-Fragment, das nach Siniplicius (Ft. 19) zum SchluB des Ganzen gehort, nicht wie ein SchluB klingt. Man rnuB aber beachten, daB das Zitat nicht aus dem Physikkommentar, der vor ihm lag. sondern aus 'De caelo< statnmt. Es ist doch u m vieles wahrscheinlicher, daB Siniplicius den tatsachlichen SchluB, der gewiB noch folgen mochte, nicht mitzitiert hat. Jedenfalls mochte ich das Fragment 4 lieber ungefahr an der Stelle las sen, an der es jetzt gezahlt wird. Dagegen ist mir das Fragment 3 iiberhaupt recht zweifelhaft geworden. D e r Satz ist schwer konstmierbar: To yap amb VOCH' imiv IL KUI shot »es ist dassclbe: tan voetv u n d eon elvai, dafi man v e r m m m t und daB da wirklich etwas ist, das man v c m i m m t . « Durch das if mi sind hier votiv und eivai aufs engste vcrbunden und diese Vcrbundenheit wird durch das zd amo ausgedriickt. 20 Parmenides, Voni Wcsen des Seienden. Die Fragmente, griechisch und deutsch. Herausgegeben, ubersetzt und erlautert von U v o H O L S C H E R . Frankfurt 1%9.
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N u n ist die Bezcugung dieses Textcs iiberhaupt nicht sehr gut. Es ist wieder der gelehrte Clemens, dem in diesem Falle Plotin und Proklos folgen. Aber bcide zitieren eigcntlich nur wegen des Unterschiedes von >Aisthesis< und >Noein<. Das ist alles. So leuchtet mir der Vorschlag von A. Marsoncr 2 1 ein, der die Echtheit dieses Textes bezweifelt. Der Vers ist ja ohnehin kein vollstandigcr Vers u n d klingt ehcr wie eine sehr pragnante Zusammenfassung der Lehre des Parmenides, die dem Clemens vorlag und die in Wahrheit nur aus dem Fragment 34ff. entwickelt worden ist. Jedenfalls ist es ein ganz anders bezeugtcr Zusamtnenhang, der die Fragmente 6, 7 und 8 zusammenschlicBt. Das stellt eine verniinftige K o m p o s i tion dar. Kurz vor dem Ende des einleitenden Teils ware das wichtigste aller Zeichen sozusagen eingerahmt durch zwei andere Aussagen. Das Eingerahmte ist das ausgezeichnete Zeichen fiir das Sein. Sein ist nur, w o imiv auf etwas stoflt, o b man es nun mit Vernchmen oder Annchmen oder An-etwasRuhren wiedergibt. Jedenfalls ist deuthch, daB das Nichts nicht so v e r n o m men werden kann und daB, wo etwas v e r n o m m e n wird, etwas da ist, Sein und nicht Nichts. Fast mochte man sagen, daB dann Sein >gesetzt< ist, etwa wie in der stoischcn ai>yKaiathoKMan druckt sich unwillkurlich so aus, wie man nicht darf oder wie m a n sich allenfalls am U b e r g a n g zu dem zweiten Teil des Lehrgedichts ausdriikken kann. D o r t hat >Serzen< den guten Sinn von Festsctzung eincr N a m e n s konvention. Da kann man von >Setzen< reden. Aber bei einem Zeichen fur das Sein, das das Nichts ausschlieBt, zu folgern, daB hier ein Setzen von Sein stattfindet, ist die Sprache des deutschen Idealismus, die nicht hierher gehort. So hat man auch den Grundsatz >dasselbe ist Denken und Sein<, das wir als Fragment 3 zahlen, wie ein Siegel scitens der Identitatsphilosophie des deutschen Idealismus angenommen, und in der spateren Rezeption ist dieser Grundsatz der Identitat als ein solchcr itnmer in den Vordcrgrund gestellt worden. Das vermuthchc Vorbild fur das Fragment 3 sind die Verse des Fragment 8,34fF. Das hat auch seine Schwicrigkeiten, aber der Sinn ist klar. Tavibv frioii voeiv ie nai OVVF.KEV 'ion vorijia: »Beides ist dasselbe: cs ist, so daB man vcrnimmt, und es ist, daB das ist, was m a n da vernimmt.« Da wird also die Identitat von Vernehmen und Sein ausgesagt und nicht etwa das Wcsen der Identitat. Das laBt sich meines Erachtens nicht bestreiten. Die philologische Forschung hat sich mit diesem Satz und den folgenden Versen recht schwer gctan. Ich bin der Debatte nicht vollig gcfolgt, und ich will mich da mcht einmischen, meine aber, daB m a n dicse Hexameter vor allem horcn muB, wenn man sie verstehen will, und immer daran denken 21 La struttura del proemio di Parmenide. In: Annali dell'Istituto Italiano per gli Studi Storiti, V, 1976/1978 (Napoli 1980), S. 175 A. 290.
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inuIk daB dieser Weg der Wahrheit ein Weg dcr >ubcrzeugcnden Rede< genannt wird, die fiir die iibcrzeugende Suggestion neben dem Recht der Logik ihren Platz behauptet. Hier k o m m e n vor allcm philosophische Gesichtspunkte ins Spiel. Sie liegen insofern vor, als uberhaupt im Lehrgedicht aus sachlichcn Griinden die Begriffsbildung besonders beachtet werden muB. So habe ich die Leistung der Wortbildung no wv( als eine begriffsbildendc Tat ausgczeich.net. Wenn ich aber n u n genotigt werde, w ainn in ahnlichem Lichte zu sehen, wie neuerdings wieder Holscher und offenbar ihm folgend Jiirgcn Wiesner 2 2 mir zumutet, bin ich als Philologe doch erstaunt. Naturlich ist es richtig - wer wiirde ihm darin nicht folgen? - die A u f n a h m e des Lehrgedichts durch Mehssos als K o m m e n t a r heranzuziehen. Aber wofiir? Fiir diesen Wortgebrauch von >Identitat<, cin Wort, das ich als Begriff vor Plato nicht kenne? Das kann man doch nicht aus der K o m m e n tierung des Melissos folgern. Gewifi hat Wiesner Recht, wenn er die Verse 8,34 ff. vor d e m Hintcrgrund der Melissos-Texte sieht (VS30 B 8). Abcr wofiir? GewiB wird dort das elcatischc Sem gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Erkennbarkcit des Seins kommentiert. Aber es ist doch bemcrkenswert, daB im Text des Melissos das angeblich thematische TO aim uberhaupt nicht v o r k o m m t , o b w o h l der Sache nach es in der Abwcisung der Veranderung (ezepovoDm) wahrhaft nahclage. Es ist merkwiirdig, wie sich der Reflexionsbegriff der Identitat hier uberall in die Erklarung eindrangt, den wir doch erst aus dem platonischen >Sophistes< kenncn. Im Lehrgedicht n i m m t m a n Bezug auf Vers 8,29, weil auch dort am Versanfang lamov T' ev RAVRD'T das unvcrandcrliche Bleiben des Seins beschrcibt. Das soli stutzen, was m a n in Vers 8,34 finden mochte? D o r t ist es aber ein K e n n w o r t von ganz anderer Art, um das es geht, um das voeiv als Zcichen des Seins. GewiB konncn wir die dort betonte Untrennbarkeit des voeiv v o m Sein als Identitat beschreiben. Aber nun darin einen Verwcis auf Vers 8,29 zu sehen, verwechselt scmantischc Einheiten mit grammatischen u n d bedeutungsmafiigen Funktionszusammenhangen. Wir sind uns alle einig, und das ist seit langem, eben seit Plato, in dcr Bezugnahme auf die Eleaten iiblich, den Begriff der Identitat als ein iDenkgesetz< hier zu erkennen. Da bleiben jedoch die Heranziehungen des Sprachgebrauches v o n to avio fiir das Verstandnis der Texte des Lehrgedichtcs cin schlechter Zeuge, zu mind est wenn man Melissos zitiert. Nicht nur, daB das Wort dort gar nicht v o r k o m m t , sondern auch, w a r u m es nicht v o r k o m m t . Melissos konnte das Wort offenbar nicht der Reihe der Zeichen fur das Sein anreihen - ebensowenig wie das voeiv, das auch als Wort nicht v o r k o m m t ! 22 J. W I E S N E R , Uberlegungen zu Parmenides sur Parmcnide, II. Paris 1987, S. 170-190.
B8,34.
In:
P. AUBENQUF
(Hrsg.), Etudes
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Fur einen Zeitgenossen des Anaxagoras, der Melissos war, ist das doch vielsagend. Sichcrlich ist daran nicht Simplicius schuld, daB er hicr etwas ausgelassen hatte. Auch Heidegger will sdbstverstandhch nicht das >Denkgesetz< der Identitat hier wiederfinden. Er redet von der Zwiefalt des Seins und konimt seinen eigenen Intuitionen dadurch nahcr, daB bei Parmenides unter den Zeichcn des Seins das >Noein< auftritt. Wenn man Melissos und Zenon ins Auge faBt, so wird der Unterschied sofort deutlich. Da geht es auf eimnal u m das Eine und das Viele. GewiB ist das eov emes und wird in Fragment 8,6 so genannt, aber in Gcscllschaft mit avvexic.! Das hat mit der Dialektik von dem Einen u n d dem Vielen nichts zu tun, die bei Zenon zum Thema wird und in der pythagoreischen Tradition vollends bei Plato den Begriff der Dialektik definiert. Melissos dagegen vermeidet es offenbar, vom voriv zu sprechen. Das einzige Zeichcn des Seins, das bei Parmenides so besonders ausgezeichnet ist, scheint nicht zu cxistieren. In diesem Argument ist ihm wohl noch zuvicl Zweiheit impliziert. So intercssiert lhn an dem ganzen Argument von Fragment 8,24ff. das voriv iiberhaupt nicht, sondern nur, daB es neben dem iov etwas andcres geben soli (aXXv napei, iov iovrot;). Es k o m m t ihm nur auf das Einssein des Seins an. Er wird wohl deshalb von Aristoteles als xpapriKOf; gescholten, weil er damit der Physik iiberliaitpt krin Recht liifit und sogar den Sinnen nachsagt, daB sie nicht richtig sehen und horen (was Parmenides im Lehrgedicht so nicht sagt). Die Untrennbarkeit von vt>m: und fivr/i, die in Wahrheit das Argument ausmacht, bestatigt sich auchim Fortgang: »Nicht ohne das Sciende wirst du das >Noein< finden.« Offenbar soli das ein Zeichen fur das Seicnde sein. Sein ist immcr, w o wirkliches Vernehmen sein kann u n d nicht etwa dieses hohle Nichts da sein soli. Die Konstruktion des Arguments blcibt schwicrig. Jedenfalls ist nicht das voelv das eigentlich Gesuchte. Auch hier geht es u m das ion und das iov. So scheint es mir recht kiinstlich, wenn die Erklarer fast alle Cibersetzen: >>Nicht ohne das Seiende wirst du das Denken finden, in dem es ausgesprochen ist.« Das Denken soil das Ausgesprochene sein? 1st nicht das Sein ausgesprochen, wenn gedacht wird - und in der Vemeinung (Fr. 2,7) das Nichtsein erkannt und ausgesprochen ware? Ist das nicht das notwendige Argument? Vollends, wenn m a n den Versbau ansieht. Da zeigt der Vers 8,35 durchaus nicht an, daB es einen Vorgriff auf Vers 8,36 geben wird. So versteht der Horer dieses wohlgebauten Hexameters unvermeidlich, daB das Seiti das Ausgesprochene ist. Der Horer wird das >in dem< (iv a) in ein em unbesrimmt temp oral en Sinne vcrstehen, das im Griechischcn ganz gcwohnlich ist, fast im Sinne von >wahrcnd< oder auch wie bei uns: >indem< w iov ausgesprochen ist, d. h. da
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ist. Der Sinn ist also, w o >Noein< ist, ist Scin da. Insofern sind >Noein< und Sein dasselbe, d. h. untrcnnbar. DaB Sein da ist, das ist es, w o r a u f e s bei alien dicseii Wcgzeichen a n k o m m t . Dazu pafit der ausdriickliche Fortgang mit TO vov. Davon wird gcsprochen und nicht etwa von votiv. Es geht u m das mit Hilfc des votiv gefundene, unveranderliche, anwcsende Sein. So sieht man sichja auch deswegen genotigt, u m Sinn in das Ganze zu bringen, vor.iv nicht mit >Denken< zu iibersetzcn, sondern mit >Erkennen<, und ich cmpfahl sogar >Auf-es-StoBen< oder )Es-Ausniachcn< oder auch >Vernehmen<. Wo Vernehmen ist, da ist Scin >wahrgenommen<. Wenn man von andcren Formen des Redens aus sichdaran gewohnthat, von Scin und Nichtsein, Ortswechsel und vergehender Farbe zu reden, ist es kein Vernehmcn von >Scin<. Wir sahen schon, daB all das den Charakter des bloBcn >Onoma< hat, weil das Genannte nicht wirklich v c r n o m m c n , nicht als Sein genommen werden kann. Denn Entstehcn und Vergehen usw. ftihren den Ungcdanken des Nichts n o t w e n dig mit sich u n d ebcnso das durch is ml Verbundene shm re nai ov\i. Dagegen wird m a n sich klarmachen miissen, daB das Setzen von N a m c n , mit dem der weitere Fortgang des zweiten Tcils des Lehrgedichtes seinen langen Lauf beginnt, etwas anderes ist als solche Benennungen, in dencn der Ungedanke des Nichts mitgetneint, wenn auch in gedankenloser Weise mit da ist. Die Bcgcgnung von Licht und Nacht ist kein Irrcn zwischen Scin und Nichts, sondern ist das Erscheinen von Scin, wie der Augenschein es zeigt, den man nicht verleugncn kann. Das Sein ist das Da, und >Da< hciBt die Erscheinung der Erscheinungen. Das klingt schon beinahe wie die voile Seinskugel, als die die Gottin das wahre Scin bcschrieben hat. Freilich, in den Ansichten der Sterblichen erscheint dieses Sein nicht. Diese Seinskugel ist nur die Extrapolation von An wesenheit iiberhaupt. DaB etwas >da< ist, ist die einzigc Erscheinung des Seins. Sie ist fiir die Sterblichen in der Vielheit der Erscheinungen und ihrer wechselhaften Gestalt durch Licht und Dunkel, Tag und Nacht differenziert, aber das meint durchaus nicht ein bestimmtes Etwas und nicht ein anderes, sondern daB iiberhaupt etwas ist. Was da durch Licht u n d Dunkel zur Erscheinung gcbracht ist, ist nicht eincs gegen das andere u n d ist nicht abgetrennt von ihm und ist auch, wenn es nicht mehr da ist (Fr. 4). Was da im Lichtc stcht, ist >Scin<. Da fallt einem der sokratische Vorschlag am Anfang des platonischen Parmcnidcs-Dialogs ein, die Idee sei wic der Tag eincs und zuglcich in viclen, und nicht geteilt und nicht von sich selbst getrennt. Hier weist often bar der platonische Dialog auf das Lchrgedicht zuriick, und der Leser merkt, daB der sokratische Vorschlag einen guten Sinn hatte, den Parmenides im Gesprach absichtsvoll verwirrt (Parm. 131 b) und den Plato ahnen laBt. Warum er ihn verwirrt? N u n , das zeigt der Fortgang: well der j u n g e Sokrates noch zu lemen hat, daB Logos nicht eine S a m m h m g von Seienden in demselben Eidos ist, sondern das Zusammen von verschiedenen Idccn in ciner Aussage.
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Folgt m a n in dicscr Weise der gottlichen Botschaft u n d halt m a n daran fest, daB in dem zweitcn Teil des Lehrgedichtes dem Denkcr Parmenides eine Oberlegenhcit iiber alle andcren Sterblichen - u n d nicht nur iiber irgendwelche Vorlaufer - verschafft werden soil, dann verschwiiiden viele Probleme. Man darf eben nicht vergessen, daB es die Gottin ist, die hier spricht und die i m m e r wiedcr die Menschen als die fipowi ausdrucklich bezeichnet. Dieser Gcsichtspunkt scheint mir fur die Erklarung des gesamten Lehrgedichtes fundamental. GewLB kann man es fiir eine literarische Fikdon ansehen, daB Parmenides der Gottin in den M u n d legt, was er selber zu sagen hat. Aber w a r u m tut er das? Das hat doch offenbar seincn Grund. Wenn er es nicht zu sagen imstande ist, weil ihm die Begriffe fehlen, dann ist es wohl wciser anztmehmen, daB die Gottin ihm etwas in den M u n d legt, was sie als Wahrheit und Weg der Wahrheit verkiindet. Denn das von sich aus zu begrcifen, ist doch wirklich von einem Sterblichen zuviel verlangt! Welcher Mensch ist denn in der Lage, diese Lehre von dem einen unveranderlichen, unbewcglichen, in sich geschlossenen, homogenen Sein gegen alien Augenschein festzuhalten? Das ist kein Weg, den einer finden und festhalten kann. So verstcht man, wenn cine Gottin diese ihre Botschaft iiber den Weg der Wahrheit wie eine Offenbarung verkiindet und den Weg des >Nichtst und des pq iov f u r iiberhaupt unbeschreitbar erklart. Sieht man mit den Augen der Gottin, und das sollte ein Leser dieses Textcs des Gedichtes eigentlich tun, gibt es nur einen einzigen Weg zur Wahrheit (Fr. 8,1), auf den die Gottin den Dichter weist und der ihn vor dem Weg ins Nichts bewahrt. Da muB man sich doch fragen, welchen Weg die Menschen denn nun wirklich gehen. Doch offenbar einen Weg, der zur Aletheia fuhren soli, aber einen nicht zum Zicle bringt, sondern immer wieder in die Irre fuhrt. Auf diesem Wege ist offenbar auch der Dichterdcnker gegangen und hat es >erfahrenc auf dem Weg iiber alle Stadte hinweg, bis ihn diese Fahrt zu d e m Palast der Gottin fiihrte und ihm das Tor zur Aletheia offnete. Und nun soil in der gottlichen Belehrung kein anderes Wort iiber den Weg gesagt worden sein, den alle gehen, die nicht von der Gottin Belehrung erhalten und deren Wege, wie die Gottin sagt, fernabvomVerkehrderMenschensind?(Fr. 1,27). N u n ist es freilich cine offene Frage, die in der Forschung noch immer nicht klar entschieden ist, ob nicht etwa das Fragment 6 eben die zu erwartende Schilderung des Weges des Irrcns enthalt. Zunachst war j a vor dem unbetretbaren Weg iiber das Nichts gewarnt w o r d e n (Fr. 6,2f.). In der Tat ist die ganze Vorkehrung des Lehrgedichtes in seinem ersten Teil der A u f g a be gewidmet, den Menschen vor der Abirrung v o n dem rechten Wege zur Aletheia zu bewahrcn. Ober den Weg des Nichts ist dabei kein Wort zu verlieren. Da ist nichts zu schildern (navantvOea aiapnov Fr. 2,6). Das ist kein Weg, den ein Mensch gehen kann, der zu einem Ziele
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k o m m e n will. D c r cinzigc Weg zur Aletheia, den die Gottin lehrt, ist aber so, dafi fiir ihn die Sterblichen einer besonderen Hilfc bediirfen. So gibt die Gottin eine ausflihrhche Beschreibung des Weges und fuhrt die Wegzeichen auf, die das Abirren v o m rechten Wege verhindern sollen. Das bedeutet doch, daB es fiir die iibrigcn Sterblichen nur so sein kann, daB man i m m c r wieder aufs ncue v o m Wege a b k o m m t und sich verirrt. N u n will m a n diesen von den Sterblichen standig gegangenen Weg, der ein Weg zur Aletheia sein soli, abcr me dahin fuhrt, in der Beschreibung des 6. Fragmentes nicht wiedererkennen. Es war dcr Vorschlag von Jacob Bernays 2 3 , dcr hier eine Polemik gegen Heraklit annahm. Er ist mit dieser A n n a h m e weitgehend durchgedrungcn. Er bcricf sich dabei auf einen Anklang des hier Gesagten an die heraklitischen Spriiche uber die Einheit der Gegensatze. Schlagendc Gegenbeweise sind freilich gegen diese Annahme nicht leicht zu erbringen. Wenn dort von den Sterblichen gesagt wird, daB ihncn, diesen Doppelkopfen, Sein und Nichtsein als dasselbe gilt und als nicht dasselbe, dann kann m a n darunter auch den Kern der Lehrc des Heraklit vcrstchcn wollcn, der gcrade im Gegensatz die wahre Einheit sieht. Allerdings scheint es mir eine Verkennung des Stils. Die angefuhrtc Stellc fuhrt cine abundierende Rede. Darin driickt sich bereits sprachlich aus, daB es nicht eine einheitliche Lehrmeinung ist, die Lehre von der Einheit der Gegensatze. Vielmehr wird durch diese Verse em Verhalten charakterisiert, das ein H i n und Herschwanken beschreibt. Zwischen der gedankenlosen Widerspruchlichkeit eines Verhaltens und auf dcr anderen Seite dem Gedanken der Einheit dcr Widerspriiche und Gegensatze besteht ein groBer Unterschied. Wer in der Gegensatzlichkeit und als ihren tiefercn Grund das Eine und Wahre, das ooyov, crkennt und wie Heraklit mit fast prophetischem Pathos behauptet, hat etwas ganz anderes im Auge. Es ist ein handgreiflich anderer Stil zwischen der epigram matischcn Knappheit hcraklitischer Satze und diesem Vers (6,8f.}: w iiefoiv ie KM OVK rival laviov vevvfiunai KOV laviov. Doch es ist nicht meine Absicht, die gesamte Kontroverse tiber den Bezug des Parmenides auf Heraklit neu aufzurollen. Mcin eigener Bcitrag ist ganz auf die Sachlogik gcgriindet, sowohl in dem besonderen Fall der in Fragment 6 iiberlieferten Verse wie auch fiir das allgemeine Problem der Sachbeziehung zwischen dem einen Sein und den vielen Ansichten dcr Stcrblichcn. N u n stcht das strittige Fragment 6 dcr Oberlieferung nach nicht allein. Es hat einen bestimmten Ort, der ebenso wie das folgende Fragment 7 dcr Abschrift des Simplicius e n t n o m m e n ist und einen cinheitlichen Z u s a m menhang darstellt. Dieser Oberlieferungstatsache mochte ich ein neues Gcwicht geben. » In: Rhcin. M a s . N . F. 7 (1850), S. 90-116.
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Die nicht der Abschrift des Simplicius e n t n o m m e n e n Stiicke sind in einem ganz andcren Grade fragmcntarisch, und wenn wir von dem P r o o m i u m absehen, ist ihre A n o r d n u n g und Eingliederung in den urspriinglichenText cine zweifelhafte Sache. N u n ist es aber mit der Stellung des Fragmentes 6 in dem Z u s a m m e n h a n g des Ganzen eine andere Sache. Da ist der sachliche Fortgang in der Abschrift des Simplicius w o h ] bezeugt. Z w a r ist die Lesung des Ein gangs verses von Fragment 7 selber kontrovers 2 4 . Erst der zweite Vers und seine Fortsetzung im dritten Vers sollte uns aufmerksam machen. Da heiBt es: »Du aber halte den Gedanken von diesem Weg des Suchens fern, und laB die Gewohnheit der vielen Erfahrung dich nicht auf diesen Weg notigen.« Es scheint mir unuberhorbar, daB in Fragment 6 der dritte und vierte Vers ganz ahnlich beschaffen ist. Da heiBt es: »Denn das ist der erste Weg des Suchens, von dem ich dich abhalte, und dann auch von dem, worauf die Sterblichen, die Nichtswissenden, einherwandeln.« Es ist der Stil der Wiederholung, den wir auch sonst beobachtet haben u n d der die Eindringlichkeit der Lehre ausmacht. Wenn wir nun auf den Fortgang sehen, der im einen und andcrcn Falle auf diese Ermahnung zu finden ist, dann muB man doch ebenfalls eine Entsprechung aimehmen. Es handelt sich hier also nicht u m cine sogenannte Parallele, vor deren Mifibrauch Peter Szondi 2 5 mit Recht g e w a m t hat, sondern u m ein viclfach nachweisbares stilistisches Kunstmittcl, eben die Wiederholung, woftir ich schon auf Diels in seinem alten K o m m e n t a r (S. 23ff.) hingewiesen habc, w o er Richtiges beobachtet hat. N u n ist uns in diesem besonderen Falle durch Platos >Sophistes< (237a) bezeugt, daB Parmenides immer wiedcr die Mahnung und die Warnung vor dem Weg des Nichts wiederholt habe. O b das nun auf die Wiederholungcn im Text des Lehrgedichts zuriickgcht oder einer mundlichen Uberlieferung, die dem cntspricht, tut nichts zur Sache. Jedenfalls muB es immer wicdcr AnlaB gegeben haben, vor der A n n a h m e des Nichts sich zu hiiten, ob die Warming nun ausdriicklich war oder nur implizitc ins Spiel kam. Wiesieht nun aber die zu crwartende Wiederholung in Fragment 7 aus? Da heiBt es, man solle nicht das ziellose Auge w a k e n lassen und das hallende Gehor und die Zunge. Vielmchr solle m a n mit dem Denken den noXvoiyni; EUyjoc beurteilen 2 6 . In diesem Z u s a m m e n h a n g meint das ganz gcwiB nicht 24
Wemi man beachtet, dafi Platos Text ovSirfttj bringt und durchaus nicht das heute im Text gangige Sapij, so mufi man zugleich sehen, daG es bei Plato kein Schreibfehler oder Gedacbtnisfehler war. Plato fiigt namlich das ihm fehlende Verbum. durchaus gegen den Vers, von sich aus ein: ipqot'r, >er sagtc. Immerbin k o m m t es zum Gliick auf die Lesart nicht an. 25 Z. 13. in: P. S Z O N D I , Schriften I. Frankfurt 1 9 7 8 , S. 280f, 26 Hier mufi ich die sonst treffliche Obersetzung H O L S C O T R S korrigieren. Die Wen-
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irgend eine philosophischc Lchrc eines anderen, sondcrn meint die Beirrung, die aus der G e w o h n u n g und Erfahrung fiir das Auge und das O h r und die Zunge, die redende, bcrcitct wird. Da scheint es schlagend, dafi davor gewarnt wird und i m m e r wieder die Anstrengung darauf geht, sich nicht durch den Augenschein beirren zu lassen. Es ist eben eine den Sterblichen als solchen standig drohende Beirrung. In beiden Fallen der nacheinander uberlieferten Passagen von Fragment 6 und Fragment 7 wird vor dem Weg des Nichts gerade deshalb i m m e r wieder gewarnt, weil die Sterblichen, ohne cs zu wollen, auf die Abirrung geraten, ohne es zunachst zu bemerken, daB ihr Weg nicht zum Ziele fuhrt, sondern nakivipuniK ist. So werden wir auf verschiedenen Wegen immer wieder auf das gleiche zuriickgefiihrt. Der Weg der Sterblichen ist ein gefahrdetcr. Die Gottin weist dem Denker den rechten Weg, tragt dem aber auch Rechnung, daB die Sterblichen d e m Augenschein folgen miissen, wenn sie nur ihr Denken dadurch nicht in ihrer Konsequenz bceintrachtigen wurden. Wir versuchen nun die Implikationen der sogenannten Begriffsbildung, die wir beobachtet haben, auf ihre philosophische Konsequenz zu bringcn. Dabei geht es heute vor allem um die Frage Heideggers, die er >den Schritt zurtick< nannte 2 7 . Er verstand darunter den Schritt hinter die Differenz von Sein u n d Seiendem und in der Richtung auf den urspriinglichen Sinn von Aletheia, d. h. von Unverborgenheit. N u n lehrt uns der Text, und darin sind alle Interprcten cinig, daB im Lehrgedicht das Sein als ein Seiendes geschildert wird. Von einer ontologischen Differenz, die etwa bei Aristoteles immerhin in Gestalt des ont.p ov f Phys. A3) artikuliert ist, findet sich nichts. Aber was bedeutet das fiir den Sinn von Aletheia? Eine solche D e n k k o n struktion auf semamischer Basis kann gewiBlich nicht in dem Gebrauch dieser Worte und in ihretn Textzusammenhang Bestatigung finden. Es istja gerade die semantische Isolicrung, mit deren Hilfe Heidegger den ahnungsvollen ftiickgriff auf eine U r e r f a h r u n g unternimmt, die aller sprachlichen Ubcrlieferung von Schrift u n d Text weit vorausliegt. Im besten Falle, der zuweilen eintritt, kann der sprachliche Z u s a m m e n h a n g wohl eine Bestatigung sein, u n d diese bcwirkt dami ein vertieftes Verstandnis des Textes. In solchen Fallen lernen wir Entscheidendes fiir das Verstandnis des griechischen Denkens. Gelegentlich kann auch die Etymologie in ahnlicher Weise dung kann nicht meinen >hart bestreitcnde Wider!egung<, es mufi vielmehr heifien ider immer wieder Streit erregende Streitpunkt«. Das Wort iwXiibrjpK kennen wir sonst nicht. Aber der Zusammenhang lafit nicht daran zweifeln, dalj es sieh auch hier wieder um das Wiederholte, d. h. u m die immer wieder erforderliche Widerleguug handeln mufi. Es ist eine immer wieder auftretende Gefahr, sich zu verirren. 27 Die einschlagigen Arbeiten H E I D E G C E H S sind vor alien Dingen dieTexte aus den 50er Jahren: in den Holzwegen >Der Spruth des Anaximanden, sowie in Vortrage und Aufsatze >Logos (Heraklit)< u n d >Moira (Parmenides)<.
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hnlfreich werdcn, die j a erst recht von allem Sprachgebrauch abgeschnitten ist. Aber Etymologic wird i m m e r nur eine Wegweisung u n d nie so etwas wie ein Beweis sein konnen. Obendrcin weckt die Etymologic, eben weil sie den lebendigen Sprachgebrauch mit Kiihnheit hinter sich laBt, i m m e r den Widerstand voin iiberlieferten Sprachgcbrauch her, es sei denn, man lerne schlieClich den archaischen Unterton des Wortes in dem gebrauchten Begriff zu horen. So wird heute jedermann gegen den verungliicktcn Versuch Paul Friedlanders, in aXr\bnia den privativen Sinn zu bezweifeln, mit Heidegger densclben immer mithoren 2 8 . Auch im Begriff des Logos habc ich die Bedcutung des Zusammcnlesens, die Heidegger geltend gemacht hat, langsam tnitzuhoren gelernt. Das wird besondcrs zu beherzigen sein, wenn wir auf dasjenige Zeichen fur das Sein, das das Lehrgedicht besonders auszekhnet, das >Noein<, in seiner argumentativen Rolle nochmals zuriickkommcn. Noein ist i m m e r mit Sein, mit dem tow Deswegen ist man, wenn man das Noein als Wcgzcichen im Auge behalt, sicher, daB wir die Abirrung in den Ungcdanken des Nichts vermeiden. Hier wird nun an entschcidender Stelle deutlich gemacht, wie das Wort, wenn es bloBcs lOnomai ist, gegen das wahre Vernehmen des Seins abfallt, das immer cin Xeyeiv if xai voeiv (Verlautbaren [ovopa] und Vernehmen des >Seins<) ist (Fr. 6,1). Das Wort ist als O n o m a von der unzertrennlichen Einheit von Sein und Noein abgelost und wird als >gesetztes< Zeichen fur bloftc Aspekte des Seins gcbraucht. So ist der ganze zwcite Teil des Lehrgedichts auf einen solchcn Begriff des O n o m a gestutzt, der den Augcnschein bezeichncn und nicht das wahre Sein vernehmen soil. Ebcnso ist im ersten Teil der Begriff ovojia als Leer-Form sprachlichcr Bezeichnung allem nachgesagt, dem die Seinshaftigkeit des Noein abgeht. Das gilt dann, wie wir sahen, fur die konventionelle Rede von Werden und Entstchen, von >Sein und Nichtsein<, und all dem anderen, was bald so, bald so, bald da, bald nicht da ist. All das weicht von der Alethcia ab. Hier hat die Parmenides-Kritik des platonischcn >Sophistes< eingesetzt. Sic hat mit Entschiedenheit darauf bestanden, daB im O n o m a selbst, im N a m e n , immer schon die Zweiheit von Nennendem und Bcnanntem, und ebenso im rwiv, dem Vernehmen, die Zweiheit von Vemehnien und von Sein aufbricht. Dagegen ist das Lehrgedicht auf der Selbigkeit aufgebaiit, auf jencr Zwiefalt, die Sein und Vernehmen zu eincr unzertrennlichen Einheit eihebt. Parmenides richtet dabei den Blick lediglich auf die Wahrheit des Seins. Das Denken dessen, was ist, soil nur nicht in den leeren Ungedanken des Nichts verfallen. Nosiv heifit im Griechischen >im Sein aufgehcn<, nichts fur sich zu sein als nur die Offenheit fur das, was ist. Atxnxdv mi' t 'ioaiK ' e Der ja auch schon von worden war!
W I L H E L M VON H U M B O L D T
und v o n
T L I C H M C L I FR
betont
Parmenides oder das Diesseits des Scins
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formuliert Aristoteles treffend in seiner klassisclien Analyse des voeiv in >Dc anima< ( f 4, 429a l s ). N u n ist es wahr, daB m a n i n j e d e m wirklichen Vernehnien und Wahrnehmen immcr schon untcrscheidet, das oder jencs vern i m m t und andcres nicht. Das hat sich Parmenides in der Aussage seines Grundgedankens nicht bewuBt gcmacht, so wenig wie Zenon, wenn er im platonischen 'Parmenides. in seiner wiederaufgetauchten Schrift vierzig Beweise dafiir gibt, daB es kein Vieles gibt, sondern nur Eines. Plato aber dcutet auf mannigfache Weise darauf hin, daB man den Schritt zu der impliziten Vielheit des Logos ausdriicklich machen muB, gerade auch in der Situation, die der Dialog >Parmer)ides< schildert. Parmenides und Zenon sind sich des Mifibrauches des dialektischcn Konncns, das mit den Eleaten anhob, wohl bewuBt, und doch bleiben sie d e m j u n g e n Sokratcs durchaus gewogen und ermuntern ihn. Dcr Frcmde aus Elea im >Sophistes< betont, dafi er kein Vatermorder sein wolle, wenn er auch dem Nichtscin - in Gestalt des hepov - Sein zuerkennt. Im Lehrgedicht des Parmenides wird der Schritt des Denkens, den Plato im >Sophistes< tut, nicht gctan. Aber wenn man mit Heidegger diesen Schritt zuruck geht, von Plato auf das Lehrgedicht, k o m m t m a n dem Anfang nahe, den Heidegger vom Ende her sucht. Der >Sophistcs< lehrt, dafi Plato selber an der Wahrheit des Parmenides festhalt. Das ist der Grund, w a r u m er den Fremden aus Elea sagen lafit, er wolle kein Vatermorder sein. U n d in der Tat, in Absetzung gegen die AnmaBung des Alleswissens, in der sich dcr Sophist vcrliert, bleibt das echte philosophische Gesprach dem Sein nahe, auch wenn es weifi, daB Denken und Vernehmen immcr auch Untcrschciden ist. In der Zwiefalt von Sein u n d >Noein< ist am Ende das >Da< des Seins gemeint und nicht diese oder jene Richtigkeit gedacht, und damit ist die ontologische Anerkennung des Augenschcins, von dem auch die Gottin Wahrcs wci/i, das Sein des Vielen bereits angelegt. Das hat Plato mit der besonderen Wiirdigung sagen wollcn, die Parmenides in seinen spaten Dialogen gcnicfit. Im Einen liegt schon das Viele, aber so, dafi alles Viele id kov ist. Die Dialektik k o m m t zu ihrcr Wahrheit in der Dihairesis, der inneren Logik des Dialogs. Das ist die Lehre des >Sophistes<. N u n verkenne ich nicht, dafi es ein gewaltigcr Schritt des Denkens war, als Parmenides von lb eov zu sprechen begann. Was dieser Schritt bedeutet, glaubc ich inzwischcn, nachdem die Arbeiten Heideggers zu Anaximander, zu Heraklit und zu Parmenides aus den fiinfzigcr Jahrcn vorliegen u n d die philologische Forschung unseren >historischen Sinn< geschiirft hat, deutlicher sagen zu konnen. Heidegger hat schon im Anaximander-Aufsatz, dcr zur Zeit mciner ersten Arbeiten zu den Vorsokratikern noch nicht vorlag 2 9 , fur die Dcutung v o n iov und von rtv/a den homerischen Sprachgebrauch
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Vgl. Bd. 6 meiner Ges. Werke, Stell en register.
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herangezogen. Er hat die Charakteristik des wissenden Sehcrs zitiert, von dem es heifit, er wufite das Sciende, das Seinwerdcnde und das Gewesene. All das begegnet dort im epischen Sprachgebrauch fur die Viclzahl der viclcn seienden Dinge. Heidegger hat nun die tcmporale Dimension nicht nur aus dieser Charakteristik des Schers herausgehort, sondern auch aus der Sprachform des Partizipium, und hat den Zcitcharakter dessen, was wir das Zeitw o r t (Verbum) nennen, hcrvorgchoben. So gclang es ihm, die Bedeutung von Sein als Anwesenheit des Anwesendcn wiederzucrkennen. Das tritt vollcnds deutlich heraus, wenn nun Parmenides in diesem Zusammenhang den Singular zo tov einfiihrt. So etwas begegnet gewifi nicht in irgendeinem Texte der Pocsie und des Epos, und iiberhaupt nicht im Sprachgebrauch des auf der Himmelsfahrt iiber alle Stadtc vieles erfahrenden Manncs. Dazu b e d a T f es vielmehr der Wcisung durch die Gottin, die N a h e des Zeitwortes, das fur die Sterblichen Sein und das Wahre ist, machtvoll heraustrctcn zu lassen. Heidegger hat etwas davon bereits aus dem einzigartigen Anaximander-Zitat herausgelesen und es in kiihner Weise als >die Weile< extrapolicrt. Im Lehrgedicht des Parmenides steht es im Text. Dagegen sind die Denkperspektivcn, die Heidegger an aXtjdaa und b/lhj, Entbergung, Verbergung und Bergung gekniipft hat, durch den Text des Lehrgedichtes nicht zu belcgen. Heidegger hat daraus den SchluB gezogen, daB dieser Sinn von Aletheia, den er als >das Ercignis< gekennzeichnct hat, von den Griechen nie gedacht worden ist. Ich fiige hinzu: Auch der Gebrauch von TO avid ist bei Parmenides immer pradikativ. Wenn Heidegger darin die >Zwiefalt< des Seins erkennt, so licgt dies nicht an dem Ausdruck fur Selbigkcit, sondern in dem, was hier dasselbe ist: r.ivm und voelv. To tov ist, eben weil diese Wendung nie in wirklicher Rede begegnet, ein Schritt zum Begriff und laflt >Scin< als die Anwesenheit des Anwesenden herauskommen. Daher umfaBt sie als >Sein< auch die Anwesenheit des Abwcsenden. Genau diese Extrapolation lesen wir nun wirklich im Parmenides-Text als Fragment 4, wo wir >Abwesendcs< als gegenwartig vcrnchmen sollcn, so daB das Sciende v o m Seienden untrennbar und in der Weile der Zeit so gut wic in der Ausdchnung bis an alle Grenzen anwesend ist. (>Bis an alle Grenzen<, das ist Parmenides, >bis ins Grenzenlose<, das ist Mehssos. Beides meint dasselbe, wenn auch Aristoteles das als einen Lehruntcrschicd ansieht.) To eov, das Seicnde, ist nicht cin Sciendes, sondern als das Seiende das >Wesende< (wie uns unsere Sprache zufliistert). Es kennt kein Nic und kein Nirgends. U m das Denken des Parmenides in seiner Anfanglichkeit bcwuBt zu erfassen, sahen wir uns zum Ruckgang auf die Wirkungsgeschichte seines Denkens verwiesen. Das bedcutete nicht cine kiinstliche Verfrenidung des Eigenen oder gar einen gewaltsamen Ausbruch und Flucht ins Fremde. Es verspricht vielmehr eine neue N a h e zum K o m m e n d e n . Was Heidegger
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>Oberwindung< oder >Verwindung< der Metaphysik oder gar das Ende der Philosophic genannt hat, vollzieht sich in Wahrheit ganz in solcher Nahe. GewiB ruckt in solcher Nahe viclcs zusammen, was das historische D c n ken der Modcrne wie eine groBe epische Geschichtserzahlung auseinanderzieht. Da ist der Anfang des Fragens, der in Thales cine erste >Lichtung< brachtc, da ist Parmenides' kiihnes Beharrcn auf deni, was allcin seiend ist und als Sein gelten kann. Ihm folgt Platos dialektische A u f n a h m e und Ausarbcitung dieser Frage, die hinter dem Metapherngestobcr von Idee und Teilhabe, von »Mimesis< und >Methexis<, von Mischung und Verflechtung, von Anwesenheit und Gcmcinsamkeit bin und her treibt — und daran schliefit sich die begriffliche Lehre des Aristoteles an, seine Lehre von der crstcn und zwciten Substanz, und schlieSlich stcht in derselbcn Linie von Wirkungen das Welt- und Seelendrama des Platonismus eines Plotin und des christlichen Platonismus Augustins, der das Zeitaltcr des christlichcn D e n kens einlautet und bis zu Hegels weltgeschichtlicher Synthese hinuberschallt. All das ist in der eleatischcn Urweisheit von der Aletheia des Seins und der Aletheia des Erschemens, wie in der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem, in die alles endlichc Denken eingclassen ist, zwischen den Teilen des Lehrgedichtes angetont. Das Jenseits des Seins, das Plato als >das Gute< proklamicrt und aus dem sich in der neuplatonischen Aufnahme Platos der Begriff der Transzendenz entwickelt hat, bedeutet in Wahrheit das Diesseits des Seins, das Plato und Aristoteles gedacht haben 1 ".
30 Dazu vgl. die Plato-Studien iSokrates" Frommigkeir des Nicht wissens<. >Plato als Portratist<, •Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristotelcsi und die Studien zu den eleatischen Dialogcri Platos. (A!l das in diesem Band.)
2. Hegel und Heraklit (1990)
Heraklit - der Anfang, Hegel - die Vollendiing: so hat Hegel selbst die B e d e u t u n g des Dunklen (o oKorrmk), wie Heraklit schon i m Altertum hiefl, gesehen. »Von ihm ist der Anfang der Existcnz der Philosophie zu datieren, - es ist die bleibende Idee, welche in aller Philosophie bis auf den hcutigen Tag diesclbe ist, wie sie die Idee des Plato und Aristoteles gewesen ist. M a n licst einen sblchen Satz mit eincr Art Ergriffenheit. Das ist n o c h etwas anderes als die gelchrte und feinfuhlige Rekonstruktion, die Schleiermachcr als erstcr der Philosophie Heraklits des Dunklen hat angedeihen lassen. Es ist wie ein P r o g r a m m der eige/ien Philosophie H eg els, ja der Philosophie iiberhaupt. Wie mit einem Schlagc enthiillt sich darin die Vision einer innercn Kontinuitat des philosophischen Gcdankens iiber die Bruche und Risse, N i e d c r g a n g e und Rcnaissanccn hinweg, die der Philosophie im abendlandischen Sinne des Wortes ihr Gepriige gegeben haben. Was Hegel hier u n t e r n i m m t , ist keine kiinstlich-gelchrte Riickschau, die sein eigenes System der philosophischen Wissenschaften nur beglcitct, dicsen letztcn groBen Versuch, das geschichtlichc Erbe des H u m a n i s m u s mit dem gewaltigen A u f b r u c h der Neuzeit d u r c h die Kraft des Gedankcns zu vcrsohncn, mit dieser neuen Zeit der Erfahrungswissenschaften und der U m a r b e i t u n g der N a t u r in cine emzige groRe Produktionsstattc, in der menschlicher Erfindungsgeist und mcnschliche Arbeitskraft sich bewahreu - es ist m e h r als das. »Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommenfl, hat Hegel bckannt. Das ist es, was uns an diesem Bekenntnis nicht nur ergreift, sondern geradczu besturzt: das soil das Ziel sein, dem alles zustrebt, die Hegelschc Logik, diese Voilendung des LogosGedankcns, der erstmals in Heraklit seine ebenso dunkle wie vicldeutige Aussage gefunden hat? Was ist dieser Logos, »dcr i m m e r ist und dem die Menschen i m m e r verstandnislos gcgeniibcrstehen, sowohl bevor sic dies 1
Wcin i nicht anders angegeben, sind die Hegelzitate aus dem Heraklit-Kapitel der >Vorlesungen iiber die Geschichte der Philosophie* entnommen; Heraklitfragmente naeh der Zahlang von D I E L S / K R A N Z , D I E Fragmente der Vorsokrariker (VS).
Hegel u n d Heraklit
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Wort zu horcn bekamen als auch nachdem sic es gchort haben« (Fr. 1)? Von j e h c r h a t m a n sich bei diesem ersten Satz der Schrift des Heraklit gefragt, was hier >immer< ist, das Wort in seiner immergultigen Wahrheit oder das immerwahrende Unvcrstiindnis der Menschen. Aristoteles, der den Satz deshalb ziticrt, sah darin ein Problem der Interpunktion: vor dem Wort >immer< oder nach ihm, >immer giiltig< oder >inimer ohne Vcrstandnis<. Abcr wcr will hier trennen durch cin blofies K o m m a , was untrennbar zusammengehort, Wahrheit und Unwahrheit, Vernunft und Unvcrnunft? Auch das O h r des Horcnden vermag nicht zu trennen. Anders freilich ist es mit dem Leser, der die ungegliederten Zeichen der Schrift artikulicren muB, ohne dabei wirklich zu >horcn<, wenn er licst. Genau das war aber der Fall des grofien Lesers Aristoteles, wie m a n ihn unter seinen Zeitgenosscn genannt hat. GewiB hat cr, wie alle antiken Menschen, laut gelesen, aber er war ein Mann, d e m die klare Unterschiedenheit der Gcdanken allein gait und nicht die schwcbendc Vicldcutigkeit klangvoller Ratselsatze, wie sie Heraklit gemeiBelt hat. Auch Hegel war, wie Aristoteles, ein Leser, und so trennt auch cr, und fiir ihn ist es klar, daB es der Logos ist, der immer ist. Mit seiner einmaligen Abstraktionskraft und mit seincm ans Wahnsinnige grenzenden Vcrnunftglauben hat cr i m m e r und iiberall -das Logische< am Werke gesehen, nicht nur wie die Griechen in dem ordnenden Logos, dcr das All durchwaltct, sondern cbcnso in den chaotischen menschlichen Dingen, mit ihrem Auf und Ab von Gliick und Ungliick. Die Gricchcn haben zwar auch die kosmische O r d n u n g als Vorbild des Menschen wohl festgehalten, aber immcr als cin uncrrcichbares. Hegel dagegen hat die Logik der Geschichte, den Glauben an die Vernunft in der Geschichte, dem wahrhch wohlbcgriindetcn Skeptizismus dcr Moralisten aller Zeiten entschiossen entgegengestellt und hat sich in der Einlcitung dcr >Rechtsphilosophie< bis zu der Provokation des Satzes verstiegen: »Was vernunftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernunftig.« N u r ein sehr hoher Begriff von Vernunft, nicht der der i m m e r beschrankten mcnschlichen Vcrniinftigkcit, die sich gegen die Gewalt unseres Wollens und Wimschens nur miihsam zu bewahren vermag, lafit mit dicscm Satz iiberhaupt einen Sinn verbinden. Dann freilich ist er vielleicht wahr, aber eben sub specie aeternitatis, nicht fiir uns und in den Mafien unscrcr Zcitlichkeit. So miissen wir uns fragen: Reden wir nicht von vcrgangenen Gestalten des Geistcs, von einem Hegel, den man bewundern mag, abcr dem man nicht tolgen kann, und von seinem ersten Initiantcn, Heraklit, den niemand verstand und niemand versteht? Oder finden wir in seinem Denken noch immer, und auch fiir uns, wic Hegel in seinen Vorlesungen gesagt hat, »die blcibendc Idee, wclchc in aller Philosophic bis auf den heutigen Tag dicsclbe ist«? Tatsachc isc, daB zwei grofie Denker nach Hegel, die beide Hegel be-
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Auf dem We g zu Plato
k a m p f t e n , ohne sich je ganz von ihm frei zu machen, daB Nietzsche und daB Heidegger sich mit besonderer Entschiedenheit zu Heraklit bckannt habcn. D e r j u n g e Nietzsche sah Heraklit unter jcnen plastischen, aus Stein gehauenen Denkern im tragischen Zeitaker der Griechen als denjemgen, der die Rechtfertigung alles Werdens lehrte. Das war eine dem j u n g e n Nietzsche selbst damals noch verhiillte Antizipation seiner eigcncn Lehre von der Unschuld des Werdens und dem amor fati. Zugleich sah er in Heraklit, und das bereits in scinen eigenen Anfangen, das Ideal eines Einsamcn und U n a b hangigen, wie er selbst einer war. - U n d Heidegger: Uber dem Tursturz von Heideggers Hutte im Schwarzwald stand in eine Borkc gcritzt Heraklits Spruch »Alles steucrt der Blitz« - und das hieB: nicht das ewige Feuer, nicht der oberste Gott, der vom O l y m p herabdonnert, wenn etwas nicht nach seinem Willen getan werden mochte, vielmehr der Blitz, der einen Augenblick lang das uns ringsumgebende Dunkel aufreiBt, bevor es sich wieder zu einem um so tieferen Dunkel um uns schlieBt. Sind wir hier nicht, bei dem Wahrsager des europaischen Nihilismus, dieses unheimlichsten aller Gaste, wie bei dem Denker der Seinsvergessenheit, der im Nichts den uns gebliebcnen Schlcier des Seins und der die Verborgenheit des Gottlichen denkt, in der auBersten Feme von Hegels Idealismus des absoluten Geistes, eines Geistes, der geradezu verspricht, »das Vernichtigen des Nichtigen« 2 in sich selbst zu vollbringcii? Wer also war Heraklit? Und wer war Hegel, daB er in Heraklit den wahren A n f a n g der Philosophic sehen konnte? U n d wer sind wir, daB wir dicsen A n f a n g , wie ihn Hegel von der Vollendung aus zu dcnken u n t e m a h m , nicht g e n u g finden, sondem ein Urspriinglicheres und Anfanglicheres denken m o c h t e n , in dem sich noch anderes birgt als jenes Ende >des Logischcn< in der absoluten Idee? Befragen wir Hegels eigene Bezugnahme auf Heraklit. Sie hat eine doppelte Bezeugung, in seinen >Vorlesungen iiber die Geschichte der Philosophie< und in seiner >Wissenschaft der Logikt. Doch ist diese Bezeugung in Wahrheit eine einzige. Hegels Aneignung der Geschichte der Philosophie ist ja nicht eine bloBe historische Abschwcifung, sondern vielm e h r die Durchdringung der sich in der Zeit entfaltenden Wahrheit selber. »Es ist dem Begriffedes Geistes gcmaB, daB die Entwicklung der Geschichte in die Zeit fallt« 3 - und die Geschichte der Philosophie ist »das Innerste der Weltgeschichte«. Hegels Behandlung Heraklits in seiner Geschichte der Philosophic bringt ein neues M o m e n t ein. Die seit Plato ubliche, Platos eigene Einsicht in Wahrheit nicht voll aussprcchende Gegeniiberstcllung der eleatischcn Ein2
Enzyklopadie, §386. Vorlesungen uber die Philosophie der Weltgeschichte Bd. I, hrsg. v. ). H a m b u r g 1955, S. 153. 3
HOFFMEISTFB.
Hegel und Heraklit
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heitslehre und der Lehre Heraklits v o m standigen FlicBen aller Dinge ist von Hegel formlich utngckehrt worden, und zwar nicht aus Griindcn historischer Chronologie, sondern aus logischen Griinden. Die Wahrheit des Werdens ist f u r Hegel eben nicht ein niedcrcr Aspekt, der durch den tiefen Einblick, den Parmenides in die Wahrheit des Seins tat, und durch das platonischc Denken, das im mm'c or der Ideen in seine Wahrheit gclangt, iibcrwunden wurde. Die Wahrheit des Werdens ist in Hegels Augcn vielmehr die hohcre Wahrheit gegeniiber der abstrakten Identitat des werdeloscn Seins, das das Nichts ganz von sich ausschlicBt. So zitiert denn auch Hegel Heraklit dort als einen Zeugen, wo er am Anfang seiner Logik den paradoxen Satz verteidigt, daB Sein und Nichts dasselbe sind. Dieser Satz ist in Wahrheit die grofitdenkbare Herausforderung des gesunden Menschen verstandes und eben deshalb die scharfste Profilierung der vom philosophischen Denken vcrlangten lAnstrengung des B eg riffs >. Sein ist nicht etwas, was ist, und Nichts ist nicht etwas, was nicht ist. Beidc meinen nicht >etwas<. Es handelt sich bei beidcnum>leereGedankcndinge<. So heiBt es bei Hegel selbst. Siebildenden Anfang der Hegclschen Logik eben deshalb, weil sic bcide noch gar nichts sagen. Wer nur Sein denkt, denkt noch gar nichts Bestimtntes und sagt noch nichts. Dieser Anfang der Logik wird von Hegel, sehr gegen seinen eigenen Grundsatz, alle auBcrc Reflexion auszuschaltcn und >der Sachc sclbst< in der ihr eigenen Dialektik zu folgen, in vicr langen Antnerkungen verteidigt, die alle bereits in der ersten Auflagc der Logik von 1812 stehen. Das ist bczeichnend. Dieser groBc A u f w a n d dient dem Ziele, dem Werden den Rang der ersten Wahrheit zuzuerkennen, eincr Wahrheit, die sich als Entstehen wic als V e r g e h e n - u n d i m m e r als beides-bewahrhcitct. Man darf geradczu vermutcn, daB Heraklit (und niemand anderer) hinter der U m f o r m u n g steht, die Hegel seiner als >Logik< cntwickelten Kategorienlchre gegeben hat, indem er sic mit Sein, Nichts u n d Werden einleitete. Der Anfang der Logik mit dem Sein u n d dem Nichts statt mit dem Etwas (= Dasein) istjedenfalls nicht ohne Blick auf das Denken Heraklits entstanden. Hegel geht dabei v o n der aristotelischen Formulierung des hcraklitischen Prinzipes aus: »Das Sein ist nicht mehr als das Nichtsein« oder "Sein und Nichts sind dasselbe«. Er halt das fur originalc heraklitische Satzc. Fiir das Baugcsetz heraklitischcr Scntcnzen hatte er keinen wirklichcn Smn. Z w a r fiihrt er seine Dunkelheit nicht wie Cicero auf Absicht zuriick, doch folgt er immerhin dem Aristoteles unci seiner eigenen Abneigung gegen die Dunkelheit in Heraklit, wenn er Mangel darm sieht und von Heraklit sagt: »Scine Dunkelheit ist wohl mehr Folgc von vernachlassigter Wortfuhrung und der unausgcbildctcn Sprache.« U n s lagc cs nahcr, die cinzigartige Kunst heraklitischer Wortfiigung u n d den Tiefsinn von Heraklits Metaphorik zu b e w u n d e m , wic cs iibngens das ganze spatere Altertum tat.
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A u f dem Wcg zu Plato
Indes, das ist bei Hegel kein zufalliges Verkcnnen oder die Folgc dessen, daB die philologische Fors chung gewiB erst in unserem Jahrhundert des Forinaspektes solcher Texte voll gewahr geworden ist. Es zeigt sich darin vi el mehr Hegels eigene zwiespaltige Stellung zwischen Selbstsein und SelbstbewnBtsein, Leben und Denken. Auf dem Grande des SelbstbewuBtseins sucht er das Selbstsein des Lcbendigen auszumachen, und gleichwohl will er den Fortgang vom objektiv Logischcn zum subjektiv Logischen durch die dialektischc Zuspitzung zu Widcrspriichen >beweisen<. Sein spekulatives Genie laBtihn in H e r a k l i t - w i e spater in Plato und selbst in Aristoteles - den tiefsten spekulativen Gehalt wiedererkenncn. So hat er als erster die spaten platonischen Dialoge und ihre Nachbarschaft zu der universalen Begriffskunst des Aristoteles wieder zu Ehren gcbracht und hat damit eine von der klassischen PhiloJogie trotz allcr ihrer sonstigen Fortschritte nie erreichte Marke gesctzt. In Ubereinstimmung damit bctont er indes in seiner Logik geradc an dieser Stelle, daB die Form des Satzes nicht gcschickt sei, spckulative Wahrhciten auszudriicken. Der spekulativc Satz ist, so fuhrt er aus, in Wahrheit gar kein wirklicher Urteilssatz. Das Denken setzt kein gegebenes Subjekt und legt dcmselben Pradikate bei, sondern ist selbst das Subjekt, das sich selbst im Pradikat wiederfindet und sich in sich selbst fortbestimmt. So zerstort sich die Form des Satzes im Denken sclber. Auf der anderen Seite erkennt nun Hegel das Recht des nicht spekulativen Denkens insoweit an, als »die entgegengesetzte Bewegung« auch ausgesprochen, der dialektischc Widerspruch, das Zuriickgchcn des Begriffes in sich, dargestellt, ins >Dai gestellt werden muB. Das Ausdriicklichmachen der implizitcn Dialektik des Spekulativen ist in seinen Augcn gcradczu die Form des philosophischen Beweiscs. Der Satz »Sein und Nichts sind dasseJbe« mill) durch den Satz erganzt werden »Sein und Nichts ist nicht dassclbc«. N u r so wird das Resultat, das Werden, in Satzen erkennbar ausgedriickt. So erklart sich wohl, w a r u m Hegel der Sprachkunst Heraklits kcinc Aufmerksamkeit widmet. Der spckulative Sinn dieser Gedanken entgeht ihm durchaus nicht. Er will im Grunde nichts anderes als die implizite Dialektik, die er in Heraklits Satzen wahrnimmt, ausdriicklich machen. Mit Recht begreift er die Einheit der Gegensatze, die Heraklit in zahlloscn Variationen aufspiirt, als die U n t r c n n barkeit des Gegensatzlichen u n d erkennt darin die dialektische Struktur von Bewegung, Werden, ProzeB. Das Eine Heraklits ist cin spekulatives Prinzip. Das Eine, das die Gegensatze vercint, »ist nicht das Abstraktc, sondern die Tatigkeit, sich zu dirimieren; das tote Unendliche (sc. Anaximanders) ist eine schlechtc Abstraktion gegen diese Tiefc, die wir bei Heraklit sehen«. Heraklit erkennt als erster die Dialektik des Ganzen und der Tcile, die Einheit des Ganzen mit alien seinen Teilen, die eben deshalb nicht so sehr Bestandtcilc sind (ju'py) als vielmehr Glieder ( j i f f y ) . Seit Heraklit ist dies ein
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Kcrnstiick aller Dialcktik des Begriffs, bei Plato und Aristoteles so gut wie bei Kant oder Hegel. N o c h bei Plato begegnct wie eine Formcl plpi} « wn ptArj4. Auch das Feuer Hcraklits kann daher nicht als toter Bestandteil oder uberhaupt als Erstes verstandcn wcrdcn. Hegels Abstraktionskraft befreit die Fcucrlehre des Heraklit von der aristotelischen Auffassungsform des Feuers als cincs Elements. »Heraklit konnte nicht mchr in der Weise eines Ersten, woraus das Andere auch hervorgehe, Wasser oder Luft als absolutes Wesen aussprcchcn, indem er Sein als dasselbe mit Nichtsein dachte«, und das heifit als den »Proze8«. Das — und nicht ein erstes Sein — ist fur ihn das Feuer, »diese absolute Unrulie, absolutes Aufldscn von Bestehen - das Vergehen von anderen, aber auch seiner selbst; es ist nicht bleibend«. Im konscqucntcn Festhalten an dieser Einsicht erkcnnt Hegel vor aller quellenkritischen Technik, die erst die moderne Philologie entwickelt hat, daB der Wcltcnbrand, dcr seit Aristoteles und vor allem von den Stoikern aus Heraklits Sentenzen herausgelesen w u r d e und der das besonderc Licbhngskind dcr christh'chen Vater werden sollte, uberhaupt keine heraklitische Lehre sein kann. Alles in allem begreift man, was Heraklit fiir Hegel so anziehend machte. Hier ist alles spekulativ, eine Dialektik, die nicht der auBeren Reflexion verdankt wird, welche unter verschiedenen Gcsichtspunktcn von auBen her an cine Sache herantritt u n d ihre Widerspriiche aufzeigt - es ist die Bewcgung der Sache selbst, ihre Lcbcndigkcit, ihre >Reflexion in sich<, die sich entfaltet. GewiB schlieBt diese auch die denkende Reflexion als aufierc ein, aber die B e w e g u n g der Sache selbst ist >objektiv<. Sie stellt sich ebensosehr als das In-sich-Sein der Substanz wie als das Fiir-sich-Sein des SelbstbewuBtseins dar, Hegel nennt diese logische Struktur den >Begriff<, sofern eben der Begriff alles in sich begreift, dcr Inbcgriff von alletn ist. Die hochste Erfullung, die der Begriff darstellt, befaBt und begreift nun nach Hegel selbst noch das Mysterium der Trinitat in sich. Wie mit einem einzigen Sprunge setzt Hegel iiber dieZeitenwende hinweg, wenn er Hcraklits tiefe Einsicht in das Eine, das sich in seine Gegensatze auseinanderlegt, mit den letztcn Gcheimnissen dcr christhchen Botschaft verbindet. »DaG Gott die Welt geschaffen, sich selbst dirimiert, seinen Sohn crzcugt hat usw., alles dies Konkrete ist in dieser Bcstimmung enthalten.« Wenn m a n das liest, fragt m a n sich, o b Hegel damit das Wesen der Inkarnation nicht verkennt und den Akt der Gnade u n d des Glaubens, in dem sie erfahrcn wird, und ob er nicht das Christliche ins Antik-Heraklitische umdeutet. Der Weg v o m hcraklitischen Feuer bis zu soldier kulinen Synthese von Christentum und Pliilosophie ist lang und nicht nur lang, sondern in seiner Zielangabe fiir uns k a u m langer verbindlich. Weder die 4
Z. B. Phileb. 14e.
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christlichen Kirchcn erkennen sich in Hegels universaler Vermittlung, noch sehen sich andere religiose Bckenntnisse und religiose Erfahrungen darin begriffen, und erst recht nicht die Gottsucher auf der Spitze der Modermtat: Nietzsche, der die Illusionen des SelbstbewuBt seins durch eine radikale Hinterfragung der Welt als Willc u n d Vorstellung aufgedeckt hat, und Heidegger, der die Frage nach dem Sein dadurch neu frcizulegen untern a h m , dafi er Substanz und Subjekt im Horizont der Zeit dachtc und als derivierte Modi v o n Sein erwies. Wie sicht Heraklits Anfang fiir diese Gottsucher aus? Welche unbegangenen Wege sind von diesem Anfang aus denkbar? Es mufi uns heute verwundern, daB Hegels spekulatives Genie, das sich an Heraklit wahrlich in seiner ganzen Kraft des Wiedererkennens bewahrt, gleichwohl an dem so offenkundig unangemcssenen aristotelischcn Schema der Naturphilosophie im Prinzip festgehalten hat und daB er die tiefsinnigsten Sentenzen Heraklits, die fiber Traum und Schlafund Wachen, iiber T o d und Leben, uber Dunkel und Helle, nicht mit dem ewig flackcrnden Feuer Heraklits zusammen geschen hat. Gerade dieseTiefendimension in Heraklit ist es, die uns heute so faszinicrt, daB wir kaum glaubcn konnen, daB er von der Philosophiegeschichte iiberhaupt einmal in die Reihe der ionischen Naturphilosophen eingereiht w u r d e und von vieien noch heute eingereiht wird. Gar zu offenkundig weint dieser Philosoph uber die Menschen und ihren Unverstand und denkt selbstvergessen uber das menschliche Leben nach, das, zwischen Schlaf und Wachen, Tod und Leben, Traum und der alien gemeinsamen Vernunft des Tages ausgespannt, sich selbst zutiefst unverstandlich ist - so wahr es dem Jahen des Wechsels und dem Ratsel des Nichtseins ausgesetzt ist. So spricht kern Moralist im Stile jencr politischcn Mahner und Warner vom Schlage eines Theogms oder Simonides, die zu seiner Zeit nicht selten waren, aber noch weniger ein Polyhistor oder ein Heilsverkiindcr im Stile seiner ionischcn Landsieute, eines Anaximander oder eines Pythagoras. A m ehesten noch mit seinem grofien Antipoden Parmenides verwandt, zeugt er von der Offenheit und Versprechlichkeit, die alles Anfanglichc selbst dem Vollendeten gegeniiber voraus hat. Nietzsche hat da von etwas geahnt, wenn er das klassische Griechenbild des neuen H u m a n i s m u s , das Bild von der apollinischen Heiterkeit der olympischen Gotterwclt, durch die Gegcnmacht des Dionysischen begrenzte, ja am E n d e in Dionysos, dem Gott des Schaffens und Zerstorens, den wahren Kern aller Wirklichkeit pries. Er hatte manches von diesen Einsichten auch in Heraklit wicdcrfinden konnen. Heidegger vollends hat Heraklit vor An gen, seit er mit uncrmiidlicher Beharrlichkcit dem Begriffszwang der Metaphysik zu widerstchen und das Sein als Ereignis, das Denken als das sich crcigncnde Sein zu dcuten versuchte. Da wird Heraklit plotzlich sprechend. Der Flul3 und das Feuer sym bolisieren dann nicht nur das spekulative
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Prinzip der Prozcssualitat, das Hegels dialektischc O b e r h o h u n g der auBcrcn Reflexion des >Verstandcsdenkens< darm gesehen hatte. Das Sein, das lin Logos gesammcke Eine, das die Menschen nic verstehen, weil sie ihren wachcn Traumen der Begierde, des Intcresses, der Illusion von Herrschaft und Gewinn nachjagen, ist in sich selbst Zwiespalt u n d Streit. Es gibt sich und cs entzicht sich, und es ist nicht cine Einschrankung seines Seins als U n verb org enheit oder Entbcrgung, daB es sich auch verbirgt, sondern es zeigt sich als sciend gerade dadurch, daB es sich zugleich zuriickhalt. & V O K xpvincodm f iXci (Fr. 123) ist wie eine Formel der nachhegelschen Einsicht, die als erstcr Schelling als den Gegenhalt des nie erhellten Grundes allcr Realitat geahnt hat. Heidegger hat geradezu von der Obcrflachlichkeit der Griechen gesprochen, weil sie, die Spateren, Plato und Aristotelcs, das Sein als das Ausgesagte, als den Logos verstanden und damit die Oberflache und die AuBerung fur das Wahre nahmen. Dagegen sucht Heidegger die Anfanglichkeit Heraklits zu denken, indem er von der urspriinglichen Erfahrung von Entbergung, die zugleich Verbergung einschlieBt, ausgeht - so wie das Aufgehen der wachsendcn Pflanze zugleich die Wurzcln in die dunkle Erde treibt. Streit und Wider streit von Kricg und Frieden, Mangel und ObcrfluB, ja von Streit und Recht sind cin und dasselbe. Der >Kricg< ist der Vater von allem: Heidegger deutet dies als einen Ausdruck oder Nachhall urgricchischer Seins erfahrung von Entbcrgung und Verbergung. So ist Heidegger dem Tiefsinn Heraklits einen Schritt weit niiher gekommen, indem er ihn zum Zcugcn einer fernen Vorzeit und Vorgeschichte ernennt, auf die kaum seine Satze, vielmehr nur die Wurzeln der Worte Riickschlusse erlauben. Er erkennt in den Worten >Urworte(, die Urartikulation einer Wekerfahrung wiedcr, wie sie im >Wortschatz< einer Sprache aufgehauft ist. Heraklit selber freilich war wohl cher ein spater Denker, in einer uberreifen, iiberreichcn Handcls- und Hafenstadt im bliihenden Wohlstande griechischer Kolomalzcit zu Hause u n d hat weit mehr die Menschen gemeint und lhre lllusionen und das Ratsel, das wir als die sterblichen und glcichwohl denken den Wcscn uns sind, als daB er diese ursprachliche Artikulation des Seins in sein Denken heraufhob. Machen wir die Probe, indem wir em Ratselwort Heraklits zum AbschluB vor uns hinstellcn. Es lautet (in der Bereinigung, die ich daran vornehmen zu mussen glaube): »Der Mensch ziindct in der Nacht ein Licht an fur sich selbst, wenn das Augenlicht geloscht ist: lebend riihrt cr an den Toten, erwacht riihrt er an den Schlafenden.« (Fr. 26). Wir fragen uns, was in diesen riitselhaftcn Antithescn und Analogien gesagt ist. Da ist alles incinander verflochten, Lcben und Tod, Wachcn und Schlaf, Nacht und Tag, Licht und Dunkel, Anziinden und Ausloschcn der Lichter. Alles ist mehrdeutig, cntspricht sich und entspricht sich nicht. Wird da ein Licht angcziindct oder geht es von selber an? Wird da ein Licht ausgeloscht oder geht es von selber
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aus? Was geht da aus? Augenlicht, das erhscht? Wie hangt das mit dem A m Leben-sein und mit dem Wachsein zusammen? Alles ist dunkel und bczichungsvoll. N u r ems scheint klar: Wie hier das Sich-selber-Anziinden von Licht mit dem Bei-sich-Sein zusatnmengedacht ist, blitzt fur einen Augcnblick >Sein< als >Da< auf. Es ist etwas von Bezug auf sich selbst in allem darin. So ist Hegel frcilich nicht so fern, sein Ansichsein und scin Fiirsichsein, und vollends Plato nicht. Im >Charmides< (169a) wiinscht sich Sokratcs einen wunderbaren Mann herbei, der mi Wcscn der >Dynamis< solchcn Selbstbezug zu denken vermochte 5 . Es ist cine Welt griechischen Selbstseins, die sich hier offnet. Selbstbewegung des Lebcndigen, das nicht gcschoben und gestoBen wird, sondern von sich aus sich bewegen kann, in der Warme, die plotzlich wie von sclber zur Flammc aufschlagt, wenn das Holzscheit im Kamin Feuer fangt, in der Sclbstempfindung, die von alien unseren E m p f i n dungen und Wahrnchmungen unabtrennbar ist und ihnen als ihre Moglichkeit vorausliegt, und am Ende im Wissen, das so ist, daB es immer zugleich scin eigenes Wissendsciti weiB. Allerdings steht hier nichts von jenem neuen Primat des SelbstbewuBtseins gegeniiber dem WeltbewuBtscin im Blick, nichts von jener U m k c h m n g und Verkehrung von WeltbewuBtscin und SelbstbewuBtscin, die das modernc Denken auszeichnet und die erst mit dem modcrnen Wisscnschafrs gcdanken und semtm Primat der Mcthode, mit dem Primat der GewiBheit gegeniiber der Wahrheit zur Herrschaft gelangt ist. Gerade deshalb erkennt sich Hegel darin, der iiber den >subjcktiven Idealismus< hinausdrangt, und Heidegger, der iiber alles >BcwuBtsein< hinaus in der Differenz das Sein sucht. Auch wenn Heraklit von den Grenzcn der Seele spricht, die m a n nic bis zum Ende zu durchschreiten vermoge (Fr. 45), ist das gewiB ein grofier Schritt in cine uns vertraute Richtung, und doch offnen sich dem denkenden Blick auch hier nicht so schr die Labyrinthe der Seele oder die weitcn Reiche der Inncrlichkeit, die Schatzhauser des Gedachtnisscs, von den en die gottsuchende Seele eines Augustin so suggestiv zu sprechen weiB. Die Seele bei Heraklit steigt aus dem Feuchtcn auf wie Dunst und vcrliert sich in der Hellc wie der Glast im Blau des sudhchcn Himmels. Er sagt von sich selbst: »Ich habe mich selbst gesucht« (Fr. 101) - aber man darf wohl hinzunehmen, daB er sich auf dieser Suchc im UnermeBlichen verlor. Denn was ist dies UnfaBliche, Unermefiliche, bei dem es Grenzen nicht zu geben scheint? Auch wir wissen es nicht zu sagen, was dieses Beisichsein ist, das das wache mcnschliche Leben auszeichnet. Es tragt sein standiges Hinausdenken, das keine Grcnze kennt und fur das daher das Ende, der Tod, etwas zutiefst U n v e r standliches bleibt. 5
Vgl. dazu meinen Aufsatz >Vorgestalten der ReflexioiK, in Bd. 6 der Gcs. Werke, S. 116-128.
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Eine letzte Grenze nicht so sehr griechischen Lebensgefuhls als alien menschlichen, rationalcn Wissenkonncns scheint sich hier abzuzeichncn. In alle die ratsclhaften Entsprechnngen, die bei Heraklit begegnen, ragt wie ein lctztes, unlosbares, sich selbst auflosendcs Ratsel der Bezug des Lebens auf den Tod hinein, und zwar so, als ob es einen Ruck w e g v o m Tod in das Leben gabc wie v o m Schlafin das Wachsein und wic v o m Wahn d e r T r a u m e in die Wahrheit des Tages. Der Tod, davortoc, das hell aufklingcndc Wort fur Tod und Vollcndung, soil wie ein bloBer PoS im pulsenden R h y t h m u s des Lebens begegnen? N u r die eine Richtung, die auf das Totsein hin, ist doch die (iberzeugende Lebenslinie unserer Zeitlichkcit. Bei Heraklit klingt cs anders. Auch in Platos >Phaidon<, dem der Unstcrblichkeit gewidmeten Gesprach, das Sokrates mit seinen Freunden am Tage seiner Hinrichtung fiihrt, wird dcr Kreislauf der Natur wie ein taugliches Argument behandelt, die Unsterblichkeit der Sccle zu beweisen. GewiB wird es noch vielfach erganzt. Abcr selbst auf dem Hohepunkc seiner A r g u mentation bekennt Sokrates, daB seine tiefste GcwiBheit nicht die dieser Argumente ist, sondern seine Bindung an das Gute. Das klingt in Sokrates' Haltung und Verhalten vielfach an. Wahres Leben ist das Zugehcn auf den Tod. Lebcnd zu ihm hinlangen ist wic das Erringen ewiger Dauer, ob es nun in der Unsterblichkeit des Ruhmes oder der Helle des Gcistcs oder in der mythischcn Gegenwart des kultisch vcrehrtcn Heroendaseins erreicht wird. Das ist uns nicht unvcrstandlich. Spricht sich nicht das gleiche von jeher in der Auszeichnung des Menschen aus, daB er seine Toten begrabt? D e n T o t e n festhalten, in Grabmal und Kult und Gcdachtms, erscheint wie eine Verleugn u n g des Todes. Die Verwandlung des dem Todc Zugchcnden in den Todlosen klingt von da aus wie eine hochstc Wcisheit. Gut, aber wie soil cs den Riickweg geben? Ist es Heraklit damit crnst, oder hat Heraklit iiber die Grenze der Transzendenzcrfahrung der Griechen hinaus gedacht? Da ist ein anderes Ratselwort Heraklits, in einer anderen Sprachc kaum wiederzugeben: »Unsterbliche Sterblichc, stcrbliche U n sterbliche, lebend jener Sterben, jener Lcbcn gestorben.« (Fr. 62). Was immer die Losung dieses Ratselwortes ist, sie muB doch wohl die Untrcnnbarkeit von Leben und Tod wie die von Schlaf und Wachen im A u g e haben. So fragt m a n sich: Dieadavazoi, die Unsterblichen, sind sie uberhaupt Lebende? Leben wir Menschen viclleicht deshalb jener Tod, weil das, dem kein Todc bevorstcht, nicht Leben ist u n d insofern Totsein? U n d sind wir vor dem Leben jener wic Tote, weil wir zwar lcbcn und als Lebende den Tod sogar verleugnen und doch wissen, daB wir sterben mussen? In Heraklit m a g die eigentiimliche Grenze der religiosen Erfahrung, die den Gricchcn eigen ist, durchaus sichtbar sein, aber wenn wir ihn so verstehen diirfc-n, ist dies cine Erfahrung der Grenze selbst, die er ausspricht, und nicht nur ihre A u f h c bung u n d Verdeckung im Kreisgang des Naturlebens. Diese Grenze bleibt
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unserem Denken wie Heraklits Denken ein Ratsel. Aber es gibt Ratsel, die ihre Losung verweigcrn u n d dennoch nicht zweifeln lassen, dafi sic eine Losung haben. Man denke etwa an die Werke der Kunst, die solche Ratsel sind und vielleicht sogar viele Auflosungen zulassen, ohne doch die Einhcit ihrer Aussage dariiber zu verlieren. So durfen wir mit Hegel sagen, daB Heraklit >bis auf den heutigen Tag! uns selbst ausspricht, indem er uns solche Ratsel aufgibt. Freilich werden wir auch dem Urteil des Sokratcs zustimmen, das er iiber die Schrift des Heraklit abgegeben haben soli 6 : »Was ich verstanden habe, ist vortrefflich, ich bin iiberzeugt, daB auch das, was ich nicht verstanden habe, ebenso vortrefflich ist. Allerdings bedarf es eines meistcrhaften Tauchers, um aus der Tiefe das Kostbarc an den Tag zu bringen.«
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VS 22 A 4.
3. Heraklit-Studien (1990)
Heraklit blcibt fur jeden Denkenden eine bestandige Herausforderung. Manner wie Hegel, Nietzsche und Heidegger sind ihr in grundverschiedencr Weise begegnet. Unzahlige K o m m e n t a r e von philologischer Seite sind geleistet worden. Was fiir das Altcrtum gait, scheint jedoch immer noch giiltig. Er ist der Dunklc geblieben. Es fehlt an einer verlafilichen G r u n d orientierung, die es erlaubt, die zwischen Moralistik und Metaphysik schillerndc Figur zu fassen. Indessen scheint mir, dafi zwei Punkte nicht geniigend beachtet worden sind, die Weise, wie Plato auf Heraklit Bczug n i m m t , und der Stil, in d e m Heraklit seine Satze baut. Ich darfzunachst die philosophische Bedeutung schildern, die mit jcder Heraklit-Interpretation verkniipft ist, und dann auf die hermeneutischen Probleme, oft philologischer Art, eingehen. Was wir von Heraklit besitzen, sind ausschliefilich Zitate spaterer Autorcn, angcfangen mit Plato, die das ganze spatere Altertum durchziehen. Es handelt sich bei Heraklit obendrein u m sentenzenahnliche Satze, die schon im Altertum wegen ihrer Dunkclheit und ihres Tiefsinns bcriihmt waren. Sokratcs soil gesagt haben, was er davon verstanden habe, sei vortrefflich. Er vertraue darauf, daB auch das Viele, das er nicht verstanden habe, cbenso sci. Freilich bediirfe es eines delischcn Tauchers — eines Meistertauchers - , den Schatz aus der Tiefe ans Licht zu bringen 1 . Aber noch cine andcrc, enormc Schwierigkcit gibt es, die uns bei allem philosophischen Verstandnis des griechischen Denkens standig beirrt und sich auch im Falle Heraklits auswirkt. Es ist die Fortwirkung der Entstehung der modernen Wissenschaft, deren Pioniertat die Galileische Physik war, die all unsere Denkgewohnheiten beherrscht. Seitdem gilt der Begriff der Methode als konstitutiv fiir das, was Wissenschaft hciBen kann. Damit
1 VS22 A4. Die Angabe der Frag men mummer bei Heraklit-Zitaten im Text h jilt sich an die Zahlung von D I E L S / K H A N Z , Die Fragments der Vorsokratiker (VS). Doch ist stcts I . B v W A T E R (Heracliti Ephesii Reliquiae. Oxford 1877) und C H A R L E S H. K A H M (The Art and Thought of Heraelitus. Cambridge 1979) zu vergleiehen.
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hangt zusammen, da/5 die Philosophie der Neuzeit lhrc philosophische Selbstbegriindung auf dem Begriff des SelbstbewuBtseins errichtet hat. In der Regcl beruft man sich fur diese Wendung, die mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften einsctzte, auf die beruhmte Zweifelsbetrachtung des Descartes. D o r t w u r d e das >cogito ergo sum< als die unzweifelhafte Realitat dessen, der denkt und zweifelt, und als das sicherste und unerschutterliche Fundament aller GewiBheit ausgezcichnet. Das war zwar noch nicht Reflexionsphilosophie im vollen Sinne des Wortes, die im Begriff der Subjektivitat griindet und von der aus sich der Sinn von Objektivitat neu definiert. Aber seit Kant diese cartesianische Auszeichnung der >res cogitans< in die kritischc Beweisfiihrung fur seine Transzen dental philosophie aufgen o m m e n und die Rcchtfcrtigung der Verstandesbegriffe auf die Synthesis der Apperzeption, auf dieTatsache, daB das »ich denke« alle meine Vorstellungen muB begleiten konnen, gegriindet hat, war der Begriff der Subjektivitat zu einer zentralen Stellung erhoben. Die Nachfolgcr Kants, vor allem Fichte, entwickelten es als P r o g r a m m , aus dem Prinzip des SelbstbewuBtseins alle Wahrheitsrechtfertigung, alle Geltungsbcgriindung iiberhaupt abzuleiten. So wurde der Primat des SelbstbewuBtseins gegeniiber dem >BewuBtsein von etwasi zum Stigma des modernen Dcnkens. Selbst Husserls anspruchsvoller Versuch, Philosophie als strenge Wissenschaft crstmals wirklich durchzufiihren, bleibt noch auf diesem Boden, von dem sich erst die kiihnen Denkversuchc von Heidegger und Wittgenstein zu losen suchten. Tatsachlich hatte der deutsche Idealismus damals etwas formuliert, was die neue Stellung des Menschen in der Welt, die angriffige Haltung der modernen Wissenschaft gegeniiber der uns umgebenden Natur, philosophisch angemessen charakterisiert. Als Transzendentalphilosophic hat die Subjektivitat den Siegeszug der modernen Wissenschaft begleitet. Inzwischen haben die Zweifel an der GewiBheit des SelbstbewuBtscins das m o d c r ne Denken erfaBt und halten cs in Atem, Unser Jahrhundert ist davon zutiefst bestimmt. Mit Nietzsche begann es. Der Psychologe in Nietzsche hat angesichts der Zweifelsbetrachtung Descartes' die Forderung gestellt: »Es muB grundlicher gczweifelt werden.« Das erfullte sich in radikalen Erschutterungen der naiven SelbstgewiBhcit und fiihrte zu solchen Zweifeln an den Aussagen des SelbstbewuBtseins, wie wir sie in den vcrschiedensten Aspekten, im Historismus, in der Ideologiekritik oder in der Psychoanalyse vor uns haben. Seitdem ist es eine unausweichliche Aufgabe geworden, die Problematik i m m e r neu zu durchdenken, die fiir die Philosophie in der Zentralstellung des SelbstbewuBtseins liegt. In dieser Frage kann uns die phanomcnologische Evidenz leiten, die zuerst Franz Brentano wiederhergcstcllt hat und die Aristoteles in seiner A n t h r o pologic* (De an. r ) u n d sogar in seiner Begriindung der >Ersten Philosophie< auf den sich selbst denkenden N o u s durchaus nicht verkannt hatte. Gegen-
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iiber der Intentionalitat des BewuBtseins, das immer BewuBtsein von etwas ist, besitzt die Reflexivitat des SelbstbewuBtseins sekundaren Charakter. Der Primat des SelbstbewuBtseins kann nur geltend gemacht werden, wenn m a n dem Ideal der GewiBheit, besser noch, dem Ideal einer methodischen Vergewisserung der Realitatsgcltung mathematischer Konstruktion, wie sie scit Galilei das Wcsen der neuzeitlichen Naturwissenschaft ausmacht, einen absoluten Vorrang zuerkennt. Der Gott der aristotelischen Ontotheologie, so sehr er als das iprimum movens< und als bestandigc Sclbstgegenwartigkeit das hochste Seicnde ist, hat keincswcgs die Funktion, die menschliche Erkenntnis zu begriinden oder zu sichern. Die Struktur der Selbstheit weist in andere Z u s a m m e n h a n ge als a u f j e n e s >fundamentum inconcussum*, als welches das SelbstbewuBtsein gegen alle Skepsis standhalt. Wenn etwas unserem modernen Nachdenken iiber die Ratsel des SelbstbewuBtseins wahrhaft zu Hilfe k o m m e n kann, ist es doch wohl die Tatsachc, daB die Gricchcn weder einen Ausdruck fur das Subjekt oder die Subjektivitat noch einen Ausdruck fur das BewuBtsein u n d den Begriff des Ich besesscn haben. So sehr sie im offenen Blick auf das sich Zeigende am Ende das Wunder des Denkens selber mit in den Blick nahmen - cinc Zentralstcllung des SelbstbewuBtseins ist von ihnen nicht, auch nicht von Aristoteles, behauptet worden. U m sich von dicscn modernistischen Perspektiven zu befreien, sieht man sich in die geschichtliche Dimension zuriickgcwicsen, die von Descartes auf Augustin, von Augustin auf Plato fiihrt. N u n mochte ich zeigen, daB sie von Plato noch welter zuriickvcrfolgt werden muB, namlich auf Heraklit. Es stellt sich die Frage, ob man Heraklit iiberhaupt von diesem Problemzusammenhang des SelbstbewuBtseins aus sehen darf oder ob scin Denken nicht eher auf einen anderen Weg weist, die Stellung des Menschen in der Welt zu denken. Heraklit genieBt einen besonderen Ruhm. Er vcrdankt das nicht n u r seiner schon crwahnten sprichwortlichen Dunkelheit und nicht nur dem Gebrauch, den bereits Plato von seinem N a m c n gcmacht hat, nicht zuletzt auch seiner Prasenz in Hegel, der am Ende des ganzen Gedankenweges der abendlandischen Metaphysik sagte, es gebe keinen Satz des Heraklit, den er mcht in seine Logik aufnehmen konnte. Auf Nietzsches radikalen Extremismus wie auf Heidcggers Einsicht in das Ende und in den Anfang der Metaphysik iibte Heraklits Denken vollends eine besondere Anziehung aus. Wer einmal in Heidcggers H u t t e in Todtnauberg, oben im Schwarzwald, gewesen ist, sah dort iiber der Eingangstiir auf eine Borke geritzt den Hcraklit-Satz » Alles steuert der Blitz« 2 , ein seltsamer, tiefanriihrender Satz - und cin offensichtliches Paradox. Anstelle der ruhigen Hand,
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Fr. 64: w Se navia oiaxUct Kipmn-oc.
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die das Schiff durch die Wogcn steuert, tritt der Blitz, dcr plotzlich aufzuckt und verlischt. M a n kann iiber den Sinn dieses Satzes riitseln. aber die bis heutc herrschende Deutung, den Blitz als das Attribut der alles steuernden Gottheit anzusehen, hort an dem Paradox vorbei, das bei Heraklit gcwiB nicht uberhort werden darf. Die besondere Faszination, die von Heraklit ausgeht, hangt nicht zuletzt an dcr paradoxen und dialektischen Struktur solcher Siitze. Die spekulative Gespanntheit seines Denkens fuhrt ihn immer wiedcr zu auBerst zugespitzten Formulierungen. Sic alle sind wie der eine Satz von dem ewig flieBendcn FluB, in den man nie wie in den glcichen hineinsteigen kann - und aus dem die Scclen aufdampfen (Fr. 12). N u n konncn wir uns freilich als zu bistorischer Kritik erzogenc m o d e r a e Forschcr nicht unmittelbar auf cine naive Idcntifikation mit der Sagkraft solcher Satze cinlassen. Wir miissen uns auf die j e weil igen Bedingungen der Obcrlieferung konzentrieren, die uns die Zugangc zu denTexten, die wir als Bruchstiickclesen, offnen. Wir wissen inzwischen allzu gut, was Zitatcsind, was man mit Zitaten machen kann, wic man Zitatc miBbrauchcn, ihren Sinn bis zur Unauffindbarkcit vcrstecken kann. So ist Heraklit-Forschung cine hermeneutischc Aufgabe von besondcrer Art. M a n muB sich bestandig fragen: wie deckt man auf, wie tragt man ab, was uns durch die zitierenden Autoren an Vorverstandnis suggcricrt wird, und mit welchcn Mitteln k o n ncn wir zu cinem historisch angemessenen und dennoch philosophisch aussagekraftigen Verstandnis Hcraklits und seiner Siitzc gclangcn? Einen gewissen Vorrang sollte nun, meine ich, von vornherein unser altester Zeuge beanspruchcn konncn, und das ist Plato. Seine Schriften sind dcr erste philosophischeText uberhaupt, den wir vollstandig besitzen. Alles fruhere sind Fragmente, das hciBt Zitatc oder Sammlungen von Zitaten aus spateren Schriftstellern, die zwar Heraklits >Buch< noch kannten, aber es cben zu ihren Zwecken heranzogen. Das hat natiirlich auch Plato gctan, daB er mit seinen Bczugnahmen auf Heraklit sein eigenes Denken instrumentierte. Abcr er bleibt unser altester Zeuge. Die platonischcn Dialoge ergeben nun ein eigentumhch zwiespaltiges Bild von Heraklit. Auf der einen Seite wird Heraklit hier als der Urhebcr und als Symbol einer Wcltsicht gebraucht, die von der bleibenden Selbigkeit des Wesens d c r D i n g e , v o m >Eidos<, nichts weiB, sondern alles im Wandcl, alles im FluB sieht. In einer bekanntcn Konstruktion hat Plato im >Theatet< alle bisherigen Denker, von H o m e r bis Protagoras (mit dereinzigen Ausnahme des Parmenides), als Heraklitccr bczcichnet (Theat. 152e). Fur jemanden, der die platonische Art kennt, heiBt das, daB Heraklit hier zu cinem T y p u s stilisiert ist, der nicht notwendig mit dem iibercinstimmt, was Plato selber in Heraklit gesehen hat - oder gar, was Heraklit wirklich gesagr und gcwollt hat. Was alles Plato da als Herakliteer zusammenfaBt! Heraklit stcllt hier lediglich eine Arc von Gegentypus dar. Was unter seinen N a m e n gcstellt ist,
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soil mit Nachdruck auf den Ausnahmefall hinzeigcn, den in Platos Augen der groBe Eleat als Vorliiufcr seines eigenen Eidos-Denkens reprascntiert. Wenn wir im platonischen Werk die anderen Hinweise auf Heraklit ins Auge fassen, sieht die Sache aber auf einmal ganz anders aus. Da wird an einer beruhmten Stelle des >Sophistes(, in der wir die Wurzel all unserer gclehrtcn Kenntnis von den vorsokratischen Lehren erblicken miisscn (Soph. 242cff.), iiber die Fruheren gesagt, daB die einen so und so Vieles als das wahrc Seiende gelehrt hatten, andere dagegen nur Eines. Die ionischen und die sizilischcn Musen aber hatten es fiir kliiger gehalten, das Eine und das Viclc zusammenzuflechten. — Mit den >ionischcn Musen< ist ohne Zwcifel Heraklit gemeint. Von diesen ionischen Musen, die aus Heraklit sprechcn, hciBt es nun, sic hatten scharfer gedacht als die sizilischen, indem sic nicht nur das Nacheinander von Vielheit und Einheit, von Wcltperioden der Zerstreuung u n d solchen des Wiederzusammengehcns in die Einheit gelehrt hatten, wie das Lehrgedicht des Etnpedokles in den Augen Platos getan hat. Die scharferc These ist das Zuglcich des Einen und des Viclen, das Zugleich des Sich-Zerstreucns und des Sich-Vereinigens. Das wird hier Heraklit zugeschrieben, daB das Eine u n d das Viclc nicht nacheinander, sondern in eincm die ganze Wahrheit des Seins seien. Dazu laBt Plato den Fremdcn aus Elea einen Satz des Heraklit zitieren. Er begegnet bei Plato noch einmal und wird dort von dem Arzt Eryximachos zitiert (Symp. 187a). Die gcnauc Formulierung des Satzes ist ungewiB, wie bei den meisten griechischen Zitaten, Es gehorte ja zur Eleganz des Schrcibens, daB man moglichst nicht ein wortliches Zitat brachte, sondern es in den eigenen Gedankcngang einbaute — cine der Hauptschwierigkeiten, die uns die griechischen Texte bcrciten, zu erratcn, w o wirklich ein Zitat beginnt und wieweit eine Anpassung an den eigenen Gedankengang vorliegc 1 . Der durch Plato lcgirimierte Satz hciBt: fiiayepdjisvov art avjiyspeiai (Soph. 242e). Ihm etitspricht: w ev yap yi/ot otayfpd/t-rvov avid avw ovpyipiubai iionrp (tppoviav IO&V u mi Xvpac; (Symp. 187a; vgl. Fr. 51 und Fr. 8). Das hieBc auf deutsch: »das Eine, das sich in sich selbst auseinanderstellt, fiigt sich i m m e r mit sich selbst zusammen.« Eine hochst paradoxe dialektischc Formulierung. Heraklit liebt es, fur solche Paradoxe Beispiele zu geben. So fahrt er hier im >Symposion< fort: »wie die Harmonie des Bogens und der Lcier.« Ahnlich ist etwa: »Der Gerstentrank, den man nicht umriihrt, zersetzt sich.« 4 Heraklit hat seine eigentliche Weisheit, sein oofdv, in vielen solchen Beispielen illustriert. Die gleiche Wendung, die im >Sophistes< begegnet (242e), wird im >Symposion< (187a) dem Arzt Eryximachos in den M u n d gelegt, und das ist bedeutsam. 1 4
Die Stoiker naimten diese Anpassung ovwtKetvvv. Fr. 125: xai <> I T O T O tirimaim (firi) win'r^voi,.
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Sein U n v e r s t a n d n i s f u r die spckulativc Einheit des Entgegengesetzten w i r d durch die A r t karikiert, wie der Arzt an Heraklit hochmiitigc Kritik iibt. Die >Sophistes<-Stellc zeigt unzweideutig, dafi Plato selber sehr w o h l verstanden hat, dafi Heraklit nicht wie E r y x i m a c h o s die Einheit als das schlieBlich h e r a u s k o m m e n d e Resultat gcmcint hat ('ent.aa voupov ofioXo\t(oaviicv S y m p . 187b]). Im Gegenteil. Gerade auf das Zugleich k o m m t es an (vgl. Fr. 8: id ctvitf;ovv ovjiyrpov). So haben w i r hier einen gesichcrtcn A u s g a n g s p u n k t , der obendrcin durch zahlreiche Variationen des Gleichen bestatigt wird. Die Frage ist, wie wir das z u s a m m e n b r i n g e n , den Hcraklitismus der standig i m FluB seienden D i n g e und die gespannte dialektische Einheit, die in solche Satzc glcichsam zusammengepreBt ist. Gehen wir von den P h a n o m e n e n aus, die Heraklit v o r A u g c n sind. Da ist der FluB, in dem alles im standigen Wechsel dahinflieBt. A b e r es ist der gleiche FluB 5 . A u c h der FluB ist also a m E n d e ein Beispiel f u r die Einheit der Gegensatze, von der Heraklit in unzahligen Wendungen spricht: Krieg u n d Frieden, H u n g e r u n d Sattheit, Sterbiichc u n d Unsterbliche, G o t t e r u n d Menschen usw. - eine Fulle von c x t r e m e n Gegcnsatzen. Von d e m alien behauptet er, sie seien Eines. Da schlieBt sich das Beispiel des Flusses bestens an, als die Einheit des FluBlaufes und die Ruhelosigkcit seines Flieficns. Das geheimnisvolle P r o b l e m , das sich hinter all diesen Gegensatzen zeigt, ist offenbar, daB dasselbe sich iibergangslos als ein andcres zeigt. In all diesen Beispielen licgt das vor, was die Griechen >Metabole< (pizapoh'j} nannten, U m s c h l a g . Ihn zeichnet j a h e Plotzlichkeit aus. Die hier zugrundeliegende D e n k e r f a h r u n g scheint die der esscntiellen Unzuvcrlassigkeit alles dessen. was sich bald so u n d bald anders zeigt. Im nachsten Augenblick k a n n es sich wieder anders und nicht m e h r so darstellen. Die Einsicht in die Unzuverlassigkeit aller Dinge, die doch w o h l bereits dem eleatischen D e n k e n z u g r u n d c liegt, hat o h n c Zweifel auch Platos E i d o s - D e n k e n inspiriert. Die ironische Kiinstlichkeit, mit der im >Theatet< die Herakliteer eingefuhrt werden, spricht dafur, daB Plato iiberhaupt erst die G e g c n k o n s t r u k t i o n des universalen FlieBens, wic ich meine, errichtet hat, u m sein D e n k e n des dSoc zu profilieren. Viclleicht w a r er auch in Kratylos oder anderen >echtcn< Heraklit e e m der Lehre selbst schon begegnet. Das scheint m i r indirekt aus der A r t hervorzugehen, wie i m >Theatet< das cleatische T h c m a aufgeschoben wird. Da wird nicht n u r s p a n n u n g s w e e k e n d auf das eleatische D e n k e n u n d liisbcsondere auf den >Sophistes< vorverwicsen. N o c h dcutlicher spricht, meine ich, die Begriindung, w a r u m Sokrates die Lehre des Parmenides hier beiseite laBt: »weil sonst das, u m dessen willen wir in unserer U n t e r r e d u n g u n t c r -
5
Plato, Krat. 402a:
idv avrov...\ und mit ofTenkundigem Nachdruck Heraklit,
Fr. 12: uvuqioim lotoiv avrolo iv k^tfimmmiv in pa xv/i hepa vSaia crii/ipci.. .
Herakiic-Studien
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wegs sind, das Wesen der Erkenntnis, ununtersucht bleiben w u r d c « 6 - a l s ob ohne das eleatische Denken Erkenntnis uberhaupt verstandlich ware. O f f e n knndig ist das doch gerade die Lehre, die Theatet aus dem Gcsprach mit Sokrates zu ziehen hat, und deshalb geht die Gcsprachsfiihrung am nachsten Tagc in die Hand des Fremden aus Elea iiber. Erst in diesem Gesprach iiber den Sophistcn wird Theatet lernen, was Erkenntnis ist: nicht unmittelbare Evidenz, sondern XoytK. Aber ob Heraklit selber das auch erst zu lernen gehabt hatte? Die ProzeBtheoric, die Sokrates im > Theatet' aus der Flufilehre entwickelt, hat ihre starkste Stutze in Heraklits Satz von den immer neuen Wassern, die durch die gleichen Strome flicficn. Abcr das scheint ganz woandcrs hin zu zielen: » Auch die Seelen damp fen aus dem Feuchten auf« (Fr. 12) - und cbcn dcren Logos scheint unergriindlich (Fr. 45). Das schcint Heraklits tiefsinnige Ahnung zu sein, und eben das ist es, was das Fnteresse der Neuzcit besonders auf sich zieht. Hier schcint die Struktur des SclbstbcwuBtseins impliziert - und in Wahrheit ist der Logos als Weltprinzip gedacht. Hegel ante diem. Wie paBt das aber zu dcr sonstigen Oberlieferung? N u n ist diese bekanntlich von Aristoteles entscheidend gepragt. Er ist die Hauptqucllc fiir unser Wissen iiber die Vorsokratiker uberhaupt. Abcr bei Aristoteles sieht die Sache, was Heraklit betrifft, ganz schlimm aus. Aristoteles crzahlt uns, offenkundig wegen dcr paradoxen Formulierungcn Hcraklits werde von manchen behauptet, er habc das Grundprinzip aller Erkenntnis, den Satz des Widerspmchs, nicht fiir giiltig gehalten (Met. r 3, l(l05bi 4 ). Das konntc in den Augen des Aristoteles keine Empfehlung sein, auch wenn er diese polemische Behauptung offenbar selber nicht ganz ernst m m m t . Schwerer wiegt, daB sein cigcntliches Hauptanliegcn mit Heraklit auBerordentlich schlccht verbindbar ist, die Physik. Das wird noch sehr zu bedenken sein. Die leitendc Perspektive des Aristoteles, die er in der D u r c h m u s t c r u n g der Vorsokratiker bestatigt sieht und die er gegen den Pythagoreismus Platos geltend macht, ist nicht so sehr das in Zahlen u n d Proportionen geordnete Gefuge des Alls als die Seinsverfassung von >Natur< (yvoic), sich von sich aus zu bewegen: Die Anschauung von der N a t u r des All lehrt, daB es sich selbst halt, sich selbst bewegt und ordnet, in sich selbst im Gleichgcwicht ist. So entwickelt sich in seinen Augen die griechische Kosmologie als die Wahrheit, die den ursprunglich rcligiosen und mehr und mchr durch wissenschaftliche Beobachtung gestiitzten Kosmogonien der Sites ten Dcnkcr zugrunde liegt. Die Welt bedarf keincs Atlas, der sie tragt. Sie halt sich selbst und halt sich selbst in O r d n u n g . (So noch im >Phaidon<, vgl. 99b c.)
6 Theat. 184ajf.: vai aoKenrm' yAv/wi.
TO
^Uyioun, ov ir.rr.xu 6 -\6yo<
APFIRFTM,
hnon'jjitj^ nipt ri noz' eoztv,
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Was wir von Heraklit wissen, paBt dazu nicht gerade gut. DaB das Sciende im Grande Fcuer sei, ist nicht sehr geeignct, die stabile O r d n u n g des Weltalls oder seine Entstehungsgeschichte verstandhch zu machen. Das alles fressendc Feucr kann offenbar durch keine Bcgrcnzung gehindert werden, alles zu ergreifen. Mit den anderen >Elcmenten< will es sich nicht recht vertragen. Platos >Timaios< schildert uns, wie mit Hilfe der Rechenkunst und der Proportionenlchre bei der O r d n u n g des Universums nicht nur Erdc und Feucr, sondern durch die Luft auch Wasser und Feuer kunstvoll voneinander getrennt gehahen werden (Tim. 31bff.). Wenn Anaximander, einer der groBen ionischen Forschcr vor Heraklit, die Rolle der Himtnelskorper u n d ihrc Gestalt erklarcn soil, schcint er in groBer Verlcgenheit. Sonne, M o n d (falls man nicht weiB, daB er nur geborgtes Licht hat) und die Sterne sind wohl Feucr. Aber wie kann Fcuer eine so klare Gestalt und UmriB haben und immer in der gleichen Wcise leuchten? Anaximander k o m m t hier auf die Idee mit den Lochcrn, den Diisen in dem groBen Hinnnclsrade, durch die fur uns das dahinter wiitende Feuer wie ein ruhiges Leuchten erscheint. So wenigstens erzahlt uns die Doxographie (VS 12 A 11). N u n gibt es gewiB einen anderen Weg, das geheimmsvoile Wesen des Feuers als kosmisches Prinzip zu denken, und das ist seine Prasenz in allem, das warm ist. DaB der Ursprung des Lcbens an der Warme hangt, hat etwas Einleuchtendes, und man braucht nur an die Doxographie iiber Anaximander zu denken (12 A 30), u m sich das zu illustricren. Aber eine stoffliche D e u t u n g des Feuers als Element der Dinge ist damit nicht gegeben. Die Zeugnissc dafiir sind nicht gerade giinstig. Zwar crwahnt Plato im >Kratylos< (413C3) die Deutung des Feuers als >das Warme selbst* (avid m fkpfjov), das in dem Feuer darin ist, aber in einem Zusammenhang, der nicht nur auBerst spiclcrisch ist, sondern der auch ganz und gar nicht zu kosmogonischen Perspektiven paBt. Der >Kratylos< (413b 4 , Cj) spiclt vielmehr auf Heraklits Vorstellung von der Sonne an, die sich stets neu entziindet {vzoq Fr. 6), bzw. von der Sonne, die nie untergeht (TO pij (KTOV now Fr. 16). Auch die Anspiclung auf die Sonne Heraklits in der >Politeia< (Rep. VI, 498a) dokumentiert, daB diese Lehre Heraklits zwar bekannt, aber nicht gerade wegen ihrcr kosmologischen Fortschrittlichkeit beriihtnt war. An anderen Stellen, w o Feuer u n d Warme bei Plato selber fast als dassclbe erscheinen 7 , klingt jedenfalls nichts nach Heraklit. Aristoteles ervvahnt Heraklit in seiner Einleitung in die >Physik< u n d in die >Metaphysik< kaum. Simplicius (in Phys. 24,1 ff.) tragt eine reine Konstruktion vor, die offensichtlich von Theophrast stammt, und sieht ihrc MiBlichkcit selber recht gut ein s . 7
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Z . B . Phaid. 103d f.; Phileb. 29b f.
Er sagt (in Phys. 203, 24-25 Diels): xai Stxivdm /nmiti uv/j fitvov ov ntyvxe. luirrovSi a'inov to Spatmxdv rival ;(dllm avid xrri t'ibtt avakoyeiv, a.U' oi'xi vXtj. Wcder der aristotelisclie
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Auch wenn wir Feuer in allem, was w a r m ist, u n d damit in allem, was lebendig ist, annehmen, wie wir es etwa aufgrund von Plato diirfen 9 , bleibt das kosmologische Problem des Feuers schwierig. Es will sich nicht recht als Element, als Bcstandteil verstehen lassen. Aristoteles kann damit nichts Rechtes anfangen. Es ist in dcr Tat nicht leicht zu sehen, wie m a n auf der Basis des U r p h a n o m e n s des Feuers eine Kosmologie aufbaucn will. O b Heraklit uberhaupt eine Kosmologie aufgcstellt hat? Wir haben Griindc, daran zu zweifcln. D a ist zunachst eine antike Gberliefcrung, die man, wie ich meinc, nicht geniigend ernstgenommen hat. O f fenbar w a r der Druck des Aristoteles u n d des Theophrast so stark, daB man im allgemeinen alle Vorsokratiker als Kosmologen gesehen bat. In ciceronianischer Zeit hat uns nun ein Stoiker, Diodotos, der Hcraklits Schrift noch kannte, iiberlicfert, die Schrift des Heraklit habe gar nicht von dcr N a t u r gehandclt, sondern v o n der >Politcia<, v o m Staat. Was darin iiber die N a t u r gesagt werde, sei nur zu beispiclhafter Illustration gesagt 1 0 . - Man muB sich doch w o hi fragen, o b das wirklich nur eine moralistische stoische U m d e u tung war, wie ohne Zweifel dcr angeblichc Titel (>Gcnauer KompaB fiir die Richtung des Lebens* 11 ), oder ob daran etwas Wahres ist. Wenn wir die Masse der Heraklit-Zitate durchmustcrn, finden wir jedenfalls eine sehr groBe Anzahl offenkundig politischer und moralistischer Satze von appellierendcr Kraft. Da ist z. B. i m m c r wieder eine bittere Kritik an der politischen Blindheit und an dem Leichtsinn seiner Landsleutc. Wir haben auch andere Sentenzcn, die alle der moralisch-politischen Dimension angchoren. Scmantische Tatsachen weisen in die gleichc Richtung. Das Wort >Ph rones is < ist im gricchischen Sprachgebrauch vorwiegend >praktiscbe Vernunftigkeit(, meint also nicht so sehr den theoretischcn Gebrauch von Vernunft 1 2 . So gibt es eine ganze Rcihc v o n Indizicn, die anraten, die zitierte AuBerung des Stoikcrs ernst zu nehmen 1 1 . M a n muB sich fragen, ob Heraklit uberhaupt ein Rivalc der ionischen Kosmologen gewesen ist und nicht vicl cher einer ihrcr Kritiker - wic ohne Zweifel auch Parmenides als ein solcher gcwirkt hat. Begriff der Hylc noch der empedokleisdie Begriff des Elements pal3t fur das >Tatige< (u't
ftfMOTiKOV). 9 10
Z . B . P h i l e b . 29c oder Tim. 79d. V S 2 2 A 1 (DK I 142.ii): . . . (!)c) ov (rp/oi) jttpi p w w civat in ovyypappa,
«.UCI
noXiirAac, T(t (i£ nepi ipvacwt; ir Kupaiinyy-fiToc / KEioftai. 11 VS22 A 1 (DK I 142,a): aKpt/trxrikiKWfia npbc madjjrivpitjv. 12 So hat WERNERJAEGF.R (DieTheologie der friihen griechischcn Denker, S. 121 ff. und die A n m e r k u n g dazu) iiberzeugend hervorgehoben, dali im Unterscliied zu Parmenides das griechische Wort, das Heraklit fiir > D e n k e n * gebraucht, nicht voeiv und vuik ist, sondern ypovrh- und xfptivqmc;. 13 K A I I N , S. 21 tut das inzwischen, wie ich bemerke. Ich stimmc ihm ganz zu, daB das nicht bedeutet, da(i Heraklit ohne die ionische Kosmologie denkbar ware. Sie ist gegenwartig und stehrim Bliek, abcr so, daB die Kritik an der m>.\iyi
wpi
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Wie soli man eine solche Frage entscheiden, wenn einen die Oberheferung nicht nur im Stich laBt, sondern sogar mit grofiem Eifcr in die Irrc fiihrt? Es ist nicht nur das Intercsse des Meta-Physikers Aristoteles, das in diese Richtung lenkt. Auch die moralistische Ausdeutung der angeblichen Kosmologie durch die spateren Stoiker und Kirchenvater tragt etwas Fremdes hinein, den Weltenbrand. Das war fiir die Kirchenvater be greiflicher weise das Hollenfeuer. Sie konnten unterstcllcn, daB schon Heraklit davon etwas wuBte. So verstanden sie seine Lehre v o m Feuer. Auch war ihnen bckannt, daB die Stoiker den Weltenbrand, die hmvpwa-ic;, gelehrt hatten. Der Weltenbrand wird bei den christlichen Theologen zum Wcltgericht. Aber sagt der heraklitische Satz, auf den alles zuruckzugehen scheint, wirklich, daB alles in Feuer aufgehen wird? Es ist das Fragment 66: nana yap, Tprjoi, id nvp £ru:.\8dv Kpivei mi Kaiah'ppnm. Was ist da die richtige Obersetzung? In der Regel versteht man die beiden griechischen Verbcn als >vcrurteilen< und als >ergreifen< bzw. >in Haft nehmen<. Es sind Worte, die in der Tat als RechtsausdrCicke bekannt sind u n d insoweit zur Vorstellung des Lctzten Gcrichts passen. So zitiert denn auch Hippolytos den Satz voller Begeisterung. Kptvetv heifit aber auch vor allem >scheiden, unterschcidcn, trcnncn<. Der Satz kann also sehr w o h l meinen, das Feuer trennt alles 14 . Alles verbrennt in der Glut des Feuers, bis es in Asche zerfallt. Ebenso heiBt KaiaXapfiuvtiv bei weitem nicht immer >in Haft nehment, sondern zunachst heiBt es einfach >ergreifen, erfassen*. Das ist in der Tat das Feuer, daB es alles in Glut setzen kann, so daB selbst Steinc (die Kohlen) feurig werden, wenn sie in der Flamme gluhen — ein schones anschauliches Beispiel dafiir, daB auch Erde >Feuer wird< 15 . In der Tat ist das M a g m a des Vulkans dafur eine gute Veranschaulichung. So konnte der fur die iKuvpwav; aufgebotene Satz bei Heraklit eine ganz andere Bedeutung gehabt haben, als ihm in der Regel auferlegt wird. Aber wer weiB? DaB der Satz zunachst den hier aufgezeigten Sinn hat - und hochstens den >moralischen< Hintersinn anklingen lassen sollte, miiBte i m m e r h i n erwogen werden. Das ist natiirlich nur eine Hypothese, die keine selbstandige Instanz darstellen kann. I m m e r h m gibt es auch fiir diesen Satz und seine Interpretation einige stiitzende Indizien, vor allem die etymologischen Spiele im >Kratylos< (412df.). Da wird das Feuer als >das Warme selbst', das im Feuer darin ist (413c3), neben Helios und dem anaxagoreisehen N o u s als etwas genannt, das alle Erscheinungen durchdringt, und wird mit dem Gerechten
14
So heifit es bei Empedokles (VS31 B 62): xpimjumv nvp. Wenn das ein ungewohnlieher Gebrauch von Kpfoeiv sein sollte, ist es ein Heraklit-Zitat! 15 B Y W A T E R zitiert zur Stelle >Aetna<, v. 536: quod si quis lapidis miratur fusile robur, cogitet obscuri verissima dicta libelli, Heracliti, tui, nihil insuperabile ab igni, omnia quo rerum naturae semina iacta.
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(dem SiKaiov) in Beziehung gesetzt. Das ist in der Tat sowcit >hcraklitisch< im Sinne des >Kratylos<, als dieses Schnellste und Feinstc (rajicrov mi Xemmaiov 412ds) durch seine relative Geschwindigkeit alles andere als seiend erschcinen laBt (ume xprjodm iionep eoium wiq «.U«c 412d 7 ) - ganz wie die B e w e gungstheorie im >Theatet< (156c ff.) das >Sein< deutet. Die >Kratylos<-Scherze spiegeln jedenfalls bestens, wic das Recht, das SVKCOOV, durch das Feuer, das alles durchdringend ist, gleichsam mit Stofflichkcit aufgefullt wird 1 6 . Fragen wir uns bei der UngewiBheit, die uns bei dieser Uberlieferutigslage bcfallt, wie wir iiberhaupt weiterkommen konnen. Nach meiner Meinung gibt cs nur einen mcthodischen Zugang: den morphologischen. Wir konnen die Struktur unzweifelhafter Satze, die nur Heraklits sein konnen, weil sie sich alle so ahnlich sind wie Familienmitglieder, herausarbciten. Das beansprucht nicht, da8 wir in j e d e m einzelnen Falle die N a c h a h m u n g oder die umdeutende Interpretation von echtcn Heraklit-Worten sichcr unterscheiden konntcn. Auch Familienahnlichkeit hat ja kein Urbild, an dem sich die Ahnlichen messen lasscn (das hat Wittgensteins Metapher fur die Kritik an den nominalistischen Vorurteilcn geeignet gemacht). Es spricht also keincswegs gegen den Lcitgcdanken einer morphologischen Untersuchung, daB sie kein strcnges Kriterium liefert. Auch w o N a c h a h m u n g vorliegt, darf tiberdies die Denkstruktur, die nachgeahmt wird, auch nicht ganz unkenntlich werden, und wenn das so ist, stellt die N a c h a h m u n g eine Anlcitung dar. Z u m Beispiel habe ich auf dem Wege iiber morphologisch geleitete Reduktion ein Fragment wiedergewonnen, das bishcr in den Satnmlungcn fehlte, obwohl es an zuverlassigster Stcllc, in der Liste der Hippolytos-Zitate ausdrucklich als heraklitisch iibcrhefert wird 1 7 . Wic cs bei Hippolytos steht, ist es aber so ins Christlich-Trinitarischc vcrfremdet, daB man cs fur eine blofle Falschung hielt. Es liefi sich auf morphologischem Wege rekonstruieren. Das Ergebnis lautete dann: »Der Vater ist Sohn seiner selbst.« Das will heiBen: Wenn der Vater einen Sohn crzeugt, macht er sich selber zum Vater. Mir scheint das ein echter Hcrakht-Satz, im knappen Stil des Paradoxes, aufgrund dessen die spateren Stilkritikcr sagtcn, er sei ein Melancholiker gewesen und habe seine Satze i m m e r nur halb gesagt. Das ist immerhin eine Anweisung fur uns, ein verniinftiger Leitsatz: Wo es knapp, konzentricrt, paradox zugeht, da sind wir bei Heraklit. Es paBt dazu, daB eines der Kunstmittel, die bei Heraklit eine hervorragende Rolle spielen, solchem Stil des Paradoxes wohl entspricht: das Wortspiel. Ein Wortspiel beruht auf dem plotzlichen Umschlagen einer schon eingeschlagenen Bedcutungs- u n d Verstehensrichtung in eine ganz andere. 16
Vgl. Krat. 412dff. und 413b ff. (fiovX6ju:vm r'mtuiifiidt'mri fie) die Reihe: ij,\io<;— niifi — ftty^iov — vov(. 17
Vgl. >Vom Anfang bei Herakli«, in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 236 ff.
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D a f u r gibt cs bei Heraklit ein bckanntes Beispiel: »Der N a m e des Bogens ist Leben, sein T u n Tod.« 1 8 Es beruht auf dem Gleichklang des Wortes >Bios< fur Leben und fur den Bogcn. Im Worte schon ist die Einheit der Gegensatze darin. Das ist gewiB der Grund, w a r u m Heraklit Wortspiele besonders liebt. Sie crlaubcn ihm, seine eigenc Wahrheit im Wortlaut einzufangen und den eingeebneten, gedankenlosen Urngang mit der Sprachegleichsam aufzustoren. Ein anderes Beispiel, das so mit dem Wortc spielt, u m die darin verhullte Wahrheit zu bekraftigen, ist das Fragment 114 19 , w o der Gleichklang von >gemcinsam< (fi>v6v) u n d >mit Vernunft< (fi'v v&?) das Wortspiel ausmacht, und damit wird etwas gesagt. Die Vernunft ist nicht nur alien gemeinsam, sondem auf Vernunft beruht alles, was gemeinsam ist. Anderes mag fur uns unkenntlich sein. So vcrmute ich aufgrund der Zitatc bei Aristoteles 2 0 und der /yv^c-Spiclcreien des Pausanias und Eryximachos im )Symposion< - und auf dem Hintergrund des hesiodischen Vorbildcs (Op. 20ff.) - , daB Heraklit ahnlich mit ipicK u n d tpic, gespielt hat - im Blick auf den >licbcnden Streit<, auf den mir Aristoteles anzuspielen scheint 2 1 . DaB auch andere Kunstmittcl in die gleiche Richtung weiscn, so die paradoxe Sentenz, so das Gleichnis, so die Proportion, so auch die nichtsymmetrischc Analogie, ist von viclcn Forschern, insbesonderc v o n H e r m a n n Fraenkel, gezeigt worden. Es gilt also, vom Morphologischen her die paradoxen Einsichten Heraklits aufzuschheBen. Ich darf mit einem bekannten Satz anfangen, der mir Gelegenheit gibt, die MiBlichkeit der durch die Zitierweisen imphzierten Vorverstandnissc darzulegen. Der Satz ist u. a. bei Plotin uberliefert, und das ist wiederum fur die Interpretation wertvoll. Der kaiscrzcitlichc Platoniker ist einer, dem sich bereits die ncucn Dimensionen der Innerlichkeit aufgetan haben. So ist es fur uns selbstverstandlich, daB sein Vcrstandnis des heraklitisehen Buchcs, das er noch kannte, ganz andere Richtungen einschlug, als wir fur Heraklit selber annehmen konnen, und auch wiedcr ganz andere als die zuletzt auf der aristotelisch-theophrastischen Tradition beruhenden Lchrbiicher und ihre Benutzer. Der Satz, den ich meinc, ist einer der einfachsten Satze, die m a n sich denken kann: »Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe« (oder auch: »Der Weg hin und zuriick ist ein und derselbe«) 22 . Man hat das vielfach, schon in der Antike, in der Perspektive der aristotelisch gepragten
,8 Fr. 48: ia ovv mtif, ii\(rpa /tint;,'rpyovSi bavrntK. " Fr. 114: vw .Wynvrat inpiptiroOai w (t>v& mhwv, bcuonep vojia noXu., xai no\v
i'Jpy.JOTi/JfiX'. . . EN O 1, 1155b4; EE H 1, 1235a, s .
21 EN 0 1, 11551v,: itfhia xai' Hptv ytvzodai. Vgl. dazu Heraklit Fr. 80: ... Kai pvii^u vn ndvza xai' spiv xai J/JIILT. 32 Fr. 60: oddc a\\\< k&uc )iia xai iviTj.
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K o s m o l o g i e verstanden u n d darin eine Schilderung des Kreislaufs der Elem e n t e gesehen, wie sie von unten nach oben u n d v o n oben nach unten, votn Himvn els feuer zum Wasser, zur Luft, w e n n nicht u m g e k e h r t , u n d v o n da zur Erde den groficn Kreislauf der Elemente beschreiben 2 3 . Aber der Text, bei Plotin und auch s o n s t w o , dcutet in nichts auf dicsen Z u s a m m e n h a n g . Erst spatcre W i e d e r a u f n a h m e n deuten kosmologisch. Bei Plotin ist es die L e b e n s s t i n n n u n g der Transzendcnz, die S t i m m u n g der friihchristlichcn Jahrhundcrte, die den Verstandnishorizont des A u t o r s w e i t g e h e n d bes t i m m t . So versteht er den Satz v o n der Seelc, die in den K o r p e r hinabgeht, u n d v o n ihrer Riickkehr, d e m Aufstieg z u m Einen u n d Wahren. Das ist fiir Plotin das Hinauf u n d Hinab, das Heraklit gemeint haben soli. GewiB wird niemand heute dieser Interpretation der Sentenz des Heraklit folgen. Man wird dessen vollends sicher sein, w e n n m a n bei Plotin licst, wie er Heraklit deswegen besonders r u h m t , weil er uns gelehrt habe, nach unsercr Seele, nach unserem w a h r e n Selbst zu forschen. Indessen, die Satze Heraklits, auf die sich Plotin in dieser Richtung bezieht, haben f u r uns noch i m m e r etwas Verfuhrcrisches. Da lesen wir zutn Beispiel; »Ich h a b e r n i c h selbst gesuclit. « 24 Fiir die antike Biographik bedeutet das, daB er keinen Lehrer gehabt, sondern alles selber g e f u n d e n habe. Fiir uns klingt es wie ein Vorklang der christlichen Innerlichkeit, wie sie in der sokratischen Frage z u m ersten Mai zu h o r e n ist. O d e r gar, w e n n wir lesen: »Die Grenzen der Seele k a n n m a n nicht ausmessen, so weit man auch schreitet, so t i e f l i e g t ihr G r u n d . « 2S Wieder klingt es nach Sokrates, wieder klingt es nach Plato, diese >anima naturalitcr christiana<, die im Innern des Silenschreins die w a h r e Schonheit erkannte und u b e r h a u p t in die christliche Z u k u n f t weist 2 6 . U n d doch sollte man auch hier gegen die U b e r r e s o n a n z unserer eigenen Seel en geschichte mifitramsch sein. Jcdenfalls, was unseren Satz »Der Weg hinauf u n d hinab ist ein u n d derselbe« betrifft, so ist es sicher richtiger, eine ganz einfachc B e o b a c h t u n g darin zu erkennen. Es ist der gleiche Weg, der bei d e m Aufstieg so schwer u n d der beim Abstieg so leicht scheint (oder auch: der einem im H i n w e g so lang, im Riickweg so kurz v o r k o m m t ) . Es ist, mcine ich, ein einfachcs Beispiel, wie ein u n d dasselbe ganz verschiedcn, j a entgegengesetzt aussieht. Ein g a n z c r T y p u s von Satzen ist unter Heraklits N a m e n iiberliefert, die in ahnlicher Weise sagen, wie etwas scincn Aspekt vollig wechseln kann.
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Vgl. B Y W A T E R , S. 28. Clemens versteht so auch Fr. 31. (Damber unten S. 72 ff.) Fr. 101: £8ityat'ip.7iv ifiewiov.
Fr. 45: Vvjfj^ ntipaia (vr trinefiriifvpoio, naaav imnopevS/tevot; dSov' ovzafladirvioyov
26 Symp. 221 d-222a: Alkibiades vergleicht Sokrates mit einem zu offnenden Siknstandbild, in dessen Innerem sich Gotterbilder befinden.
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Offenbar entsprechen sich die Struktur des Gedankcns und die Formstruktur solcher Satze. Was Heraklit sagen will, ist offenbar, daB wir gegen unsere eigene Erfahrung, die eins v o m anderen unterscheidet, ems dem andercn entgegensetzt, ein sehen sollen, daB, was sich so verschieden darstellen mag, eine Art Identitat im Gegensatz selber birgt. Heraklit blickt durch die Scheinbarkeit der Unterschiede und Gegensatze hindurch und entdeckt iiberall das Eine. Das braucht nicht auszuschlieBen, daB bei der Sentenz iiber den "Weg noch andere moralisch-appellative Anwendungen anklingen soliten, die gcrade die eigentliche Absicht waren. Aber sein Logos ist Einer. Er gewahrt ihn an so verschiedenen Phanomcncn wie dem Fliefien der Dinge, dem jahen Umschlagen von Fcuer in Wasser und v o m Schlaf zum Wachen und entdeckt in allem das gleiche Ratsel, in der Flamme, die sich verzehrt und erlischt, in der Bewegung, die von selbst anhebt und von selbst aufhort. Uberall sieht er das Wunder des Lebens, das Ratsel des bei BewuBtsein Seins (des Wachseins) und das Geheimnis des Todes. Es wird sich zeigen, daB das einer der Punkte ist, in dem Plato das Erbc des heraklitischen Dcnkens positiv iibcrnimmt. Auf alle Falle lchrt Plotins Zitatgebrauch, wie wenig Verbindlichkeit in der kosmologischen Verwcndung der Sentenz lag. U m g e k e h r t laBt sich die Berechtigung fur unser schlichtes Verstandnis des Satzes iiber den Weg aus Heraklit selbst rechtfertigen, und zwar am Anfang der Schrift 2 7 . Er ist durch einen gliicklichen Zufall gut iiberliefert. Aristotelcs bemerkt namlich zu dem ersten Satz der Schrift des Heraklit, daB wir hier ein Interpunktionsprobleni vor uns haben. »Dieser Logos, der i m m e r ist, dem gegeniiber bleiben die Mcnschcn immer ohne Verstandnis. « 2 8 Wo das >immer< hingehort, fragt sich Aristoteles. Auch die modernen Philologen sind daruber uneinig. Ist dieser Logos immer oder bleiben sie immer ohne Verstandnis? Vermutlich ist das ein wahrcr Fall dessen, was die Grammatikcr das and KOIVOV nenncn. An sich eine ganz lederne Schulmeisterausrede, gewinnt diese Kategorie im Horen eincs solchen Satzes dennoch Leben. M a n muB sich daran erinncrn, daB Aristoteles bereits ein Leser war (wenn auch natiirlich einer, der laut las). Dicscr Text war aber sicher fur den Vortrag bestimmt. Dann konnte der Sprecher so artikulieren, daB das Wort >immen nach beiden Seiten ausstrahlen u n d die Nachbarworte farben konnte 2 9 . Doch ich gehe auf diesen vielbehandclten 27
Vgl. >Hegel und Heraklit., m diesem Band, S. 32f. Fr. 1: 7UV OT- AO)OT IOVs' L'6V7IK TUI A^VVI TOI yhovtm avdpunm . . . 29 Es scheint mir dagegen nicht moglich, wie vielfach geltend gemaclit worden ist, das jimmeri nur auf den Logos zu beziehen in dem Sinne des 'Logos, der wahr ist' (fil'-v Aoyoc). Eine solche Moglichkeit verbietet sich angesichts der Stellung dieses ijviuc hinter dem einheitlich-monolithischenioyot). Aristoteles tat gut daran, es unentschicden zu lassen, w o nichts zu entscheiden notigt. DaB er es iiberhaupt als ein Problem empfindet, schcint fur uns den Obergang zur primaren Lesehaltung zu illustrieren, die an Interpunktion als 28
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Satz, der sich an Paradoxicn iiberbietet, hier nur ein, um ein Paradox hcrvorzuheben, das mir bisher nicht recht bcachtct scheint und das eine Art Leitlinic fiir die Gesamt-Intcrpretation darstellen sollte. Heraklit beschrcibt hier sein Vorhaben in fol gender Weise: Kcaa fi><siv Simpeitv 'imotov mi xppa&v o j c e y c D a s klingt hochst konvcntionell, wie eine Ansage im Stile umfassendcr iuzophj. Heraklit verspncht, »alles auseinandcrzusetzcn, wic es sich verhalt«. Wie sieht abcr dieses Auscinandersetzen in Wahrheit aus? Der Leser des Buches sieht es, der Horer des Logos hort cs. Es ist gcrade nicht Unterscheiden, sondern in allem Unterschiedenen das Eine Gewahren: Das ist die heraklitische Botschaft. Was die anderen fiir verschieden halten, wie Hesiod Tag u n d Nacht, ist in Tat u n d Wahrheit eins und dasselbe. Die heraklitische Lehre wird standig in dieser Weise formulicrt: tv u) ooyvv30. Ich halte das fur den eigcntlichen und urspriinglichen Satz, der von Heraklit in seinem Buchc anscheinend mehrfach wiederholt worden ist. Es kann nach dieser Formel ev id ooifov verschieden weitergehen: »es will und will nicht mit dem N a m e n des Zeus genannt werden« (Fr. 32), oder: »das ist die Einsicht" (yvdftti Fr. 41). Auch in Fragment 50 steckt irgendwie unsere Formel >Eins ist das Wcise<31. Es ist ein sehr viclsagcndcs N c u t r u m , das hier als >das Weise< erscheint. Dcr Besitz des N e u t r u m stellt einen der genialen Vorziigc des Griechischcn fur die Abstraktion des Denkens dar. Das haben Reinhardt und Snell uns sehen gclehrt. Wir kennen solchen Gebrauch des N e u t r u m in ahnlichcr Weise aus der deutschen Dichtung, vor allem seit Goethe und Holderlin, die >das Gottliche< oder >das Rcttcndc< im Gedicht gebrauchen. Wenn dergleichen in cinem Gedicht begegnet, wird es nicht als ein bestimintes Seiendes vers tan den 3 2 . Von solchetn N e u t r u m gcht vielmehr eine Seinsgegenwart aus, die den ganzen Raum crfullt. >Das LInheimliche<, wie >das Rettendc<, >das Gottlichei oder >das Heilige<, oder was immer es ist, ist vollste Gegenwart, ohne daB ein bestimmtes Seiendes damit benannt ware. So ist auch »das Weise« nicht von der Art, daB es etwas neben vielem anderen ist - cs ist »gctrcnnt« von allem (navzwv Kcj^wpiopJ-vov Fr. 108). Gegeniibcr dem A n -
Verstan dm s hil fe interessiert ist. In Wahrheit ist die Interpunktion i n n e r als die kLingende Stimmc, dieim psalmierenden Vortrag durehaus doppelwendig vcrstanden wcrdenkann. Ahniich KAHN, S. 93 f., nur dafi ich vvi.ot; ari nicht als >for ever true< verstehe, sondern als >ever prescnt< (und damit >true0 - >prcsent<, und doch 'ignored:. N k h t nur fiir Heraklit gilt, was uns K A H N in seiner griindlichen Studie iiber die Bedeutungen von >Seiin gezeigt hat, aber auch, daB sich hier nkht trennen laiit: >Present< und t r u e , v o m Xoyoi; gesagt, sind Eines, auch wenn es immer (dei) verkannt bleibt. 30 Vgl. Fr. 41: eivai yap £v w ovipov, inimrw'dai yvi-ftt^r, oiefl Kifiepvtitm ntivia SKI nOYILIV. Fr. 32: iv ih Doifbt fiovtox XeyeaOat ovx fMXi:i xrit t&f.Xe.i Zrjvoq iivofia. 31 Fr. 50: ovx CPOV, aU
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schein der wechselnden Unterschiede ist es das, was eigentlich ist. So hat Heraklit offenbar seinen Logos gemeint, cine Wahrheit, die aus allem spricht und die doch niemand wahrhaben will. Jedenfalls scheint mir die hermeneutischc Aufgabe bei dem Verstandnis dieses Einleitungssatzes zu sein, ihn nicht von vornherein von der spateren Lehre her auszulcgen. Die Ankundigung soil vielmehr Erwartung weeken und lehnt sich wohl an den Stil der ioiophj an - aber diese Ankundigung bricht die E r w a r t u n g auf hochst paradoxe Weise standig u m 3 3 . Das Proo m i u m kiindigt im ubrigen nicht an, daB der Vcrfasser eine Lehre hat, die besser ist als die Lehren anderer. Heraklit ist weit anspruchsvoller. Sie soli besser sein als alle Ansichten, die iiberhaupt die anderen Menschcn haben. Heraklit ist so radikal wie Parmenides, wenn dort die Gottin, die ihn einfiihrt, von den Meinungen der Sterblichen spricht (Fragmente 1,30 und 6). D o r t solltc sich endlich durchsetzen, daB das keine Bezeichnung fur Kollegen ist. Leidcr wird nicht cbenso sicher beachtet, daB diese >Ansichten< (fio^ai) der Sterblichen immer im Plural erscheinen und durchaus nicht im platonischen Singular 3 4 . Ich halte fest: Das Proomium erzahlt uns nichts von dem Inhalt der Lehre. Immerhin gibt es gleich in seincm Beginn einen echt heraklitischen Vergleich, der einen ersten Wink darstellt fur das, was Heraklit im ganzen sagen will. Das Thema bleibt auch hier der Gegensatz des einen Wissenden und der vielen, die nicht wissen: »Den Menschen bleibt verborgen, was sie im Wachen tun, genau wie sie vergesscn, was sie im Schlafen tun.w 35 Damit ist offenbar gemeint, daB sie aus der Fiille ihrer Erfahrungen nichts lemen 3 6 .
" A. M O U R E L A T O S (Heraciitus, Parmenides, and the Naive Metaphysics of Things. In: Exegesis and Argument. FS Gregory Vlastos. Assen 1973, S. 38 A. 60) mochte bei diesem Text der Trivialirat dadurch entgehen, daB er das onat; eyci als das pragnante iZusammenhaltcn< versteht, das tatsachlich Heraklits Weisheit ist. In meinen Augen spricht dagegen, daft wir es hier mit dem ersten Satz des Buches zu tun haben. Diese Ankundigung ist noch nicht die Lehre. Als Ankundigung von etwas, was in Wahrheit in ganz anderem Sinne Erfullung finder, scheint mir dagegen die Konventionalitat dieser Satze hochst paradox. Das werde ich zu 2eigen versuchen. 34
Vgl. zu dieser Parmenides-Stelle meine Studie in diesem Band, S. 24 f. Fr. 1: wi/i; . .. av&p&novc Xav&avet dxvoa t'yvpftzvzr.t; notovotv Siawii/) Anooa evSovttt cmXfrvdaxvviui. 36 K A R L R E I N H A K O T S (Kosmos nnd Sympathie, S. 1 9 5 ) von Holscher akzeptiertes Verstandnis des letzten Satzes (HOLSCHER, Anfanglicbcs Fragen, S. 157) kann mich nicht uberzeugen. M a n e r w a r t e t , daB das rimipown' — mifMjt.'t OK das vorangeht, illustriert wird. (So auch KAHN, S. 99.) Der Satz ist in wohlpointierter Symmetrie. Die Feinheit in der Parallele zwischen \avda\ri und imXavbavwim liegt in der Variation: Die Menschcn leben trotz ihrem Wachsein in permanentcr VergeBlichkeit dahin (Xavbavei), so wie sie ihre Traume (das, was sic im Schlafc taten) nachher t/ni) vergessen u n d unbeachcet lassen (ttiiXavfti'rvovim). Die gleiche Variation in der Parallele begegnet Fr. 21, w o man iwmiov erwartet und I'MOC cine ganze Dauer, findet. - Auch B O L L A C K kann ich hier nicht folgen, 35
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Das ist cs, was unser Tun im Schlafe auszeichnet. Wenn wir crwacht sind, vergessen wir es. Aus d e n T r a u m e r f a h r u n g e n , die wir machen, nehnrcn wir nichts in unsere gelebte Wirklichkcit hiniiber, Des Traumen den Tun ist folgenlos. Weder vermag einer, zur Wachheit des Tages erweckt, das Spiel seines Traumcs weiter zu spielen, noch fugt es sich in seine Erfahrung ein. Das will der Einleitungssatz sagen. Daher geht es hier nicht darum, wieweit T r a u m e im antiken Leben auf ihre Vorbedeutung hin verstanden wurden. Heraklit sieht mit kaltem und klarem Auge darauf, daB das Traumen eben nicht Wachsein ist. Die Menschen machen Erfahrungen, ohne weise zu werden, das heiBt, sic leben wie Traumer. Hire Erfahrungen haben keine Folgen. U n d so heiBt es wortlich: amipowiv eoiKaoiv nFApvpr.vai, »sie gleichen Unerfahrenen trotz allcr Erfahrung*. Der Anfang des Buches gibt so eine Leitlinie, nicht nur um die Verdichtung des heraklitischen Stiles zu erfassen, sondern auch, um das Eine, das >Weise< hinter der alltaglichsten Erfahrung zu suchen. Die Metapher in diesem gcwaltigen Einleitungssatz ist spannungsvoll genug. Das Unvcrstandnis, das die Menschen der Wahrheit gegeniiber haben, soli nicht einfach als unabanderliche Tatsachc hingestellt sein. Man k a n n j e m a n d e n aus dem Schlafe erweckcn. Darauf beruht die appcllierende Wucht dieses ersten Satzes. Aber er ist mehr, er ist doch zugleich eine Aussage, die auf sich selbst sozusagen zuriickkommt. Es ist ein wahres Paradox, was sich hier als die Lehre des Heraklit anmeldet. Diese Lehre geht den Weg zur Einsicht und lchrt zugleich die Kluft, die zwischen der einen Wahrheit und der Unfahigkeit zu lernen fur die in die Vielfalt mcnschlichen Wahnens und Traumens Verstrickten besteht. Das Gleichms von Wachen u n d Schlaf ist nicht nur appellierend gebraucht, sondern gehort zugleich zum Inhalt von Heraklits Lehre. Wir begegnen ihm daher wiederholt (wenn auch vielleicht nicht immer im heraklitischen Wortlaut, wenn der Gcbrauch des Wortes >Kosmos< fur >Welti dabei erscheint). Der Traum ist fiir Heraklit ein Symbol fur den allgemeinen Unvcrstand. Ein Satz wie »Ftir die Erwachten gibt es nur cine und eine gemeinsame Welt, wahrend die Schlafenden sich jeder in seine eigene abwenden« 3 7 gehort hierher. In diesem Sinne nennt Fragment 75 die Schlafenden wegen ihres Traumens ipyaxac, (Wcrker: Erbauer einer ganzen Eigenwelt) 3 8 . I m m e r richtct sich der Blick auf die Menschen, die sich im
weil er die klare Evidenz vernachlassigt, mit der auf das Vergessen von Traumen angespielt wird. 37 Fr. 89: roi<; eypriyopoon tva mi KOIVOV xoofiov fivat, j i t Si Koip-uyf'vvv hatuwv rA<, i'&«r finuoipiijigodai. 38 Fr. 75: zoic xabrvoavjac... epyaiacehat... Ka'i ovvfpyovt; tH-V h up xoojiz: yimptvvv. Hier hat B R O C K E R (Hie Geschichte der Philosophie vor Sokrates, S. 3 5 F . ) m. E. mit Recht den
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Wachen so verhaltcn wie Schlafendc. Fragment 73 spricht das geradezu aus: »Man soil nicht wie die Schlafenden handcln und reden« 3 9 . Diese Formulierung ist allerdings so banal, daB man wohl mit Kirk 4 0 annehmen muB, daB Marc Aurel hier nur cine moralische Quintcssenz aus dem SchluB-Satz von Fragment 1 formuliert, Wiederholt begegnet eine Proportion, die zwischcn Wachen und Schlaf auf der einen Seite und Leben und Totsein auf der anderen Seite gebildet wird. DaB Verglciche, Analogien, Proportioncn ein archaisches Denkmittel waren, hat vor allcm H e r m a n n Fraenkel 4 1 gezeigt. Der heraklitischc Gebrauch dieses Denkmittels hat allerdings seine Eigenheit. Wir konnen beobachten, wie Heraklit solche Proportionen und Vergleichc nicht cinfach konstruicrt, sondern auf paradoxc Weise auszufullen liebt, so daB die Satze provokatorisch-paranetische Scharfe gewinnen. So lesen wir in Fragment 21 nicht, wic wir erwartcn wurden, eine Entsprcchung zwischen Schlaf und Traumgesichten auf der einen Seite, Wachsein und Wachwelt (Leben) auf der anderen Seite. Vielmehr heiBt cs iiberraschcrid u n d provozierend: »Tod ist, was wir wachend sehen (und nicht Leben), was wir als Schlummerndc sehen, Schlaf. « 42 Die Feinheit dieser iiberraschcnden Proportion liegt darin, daB das Endglied der Proportion i'mvo<; und nicht hvuviov, >Schlaf< und nicht >Traum< heiBt. Es wird damit der gesamre Zustand des Schlafes, in dem Traumgesichte begegnen, dem Schlafenden als das zugeordnet, was er sieht. Die Genauigkcit dieses wahrhaft gehammerten Satzes k o m m t auf diese Weise deutlich heraus. Die beiden Eckwcrte sind durch Tod und Schlaf gebildet, deren Entsprechung fur sich spricht. Das Provokatorischc des Vergleichcs liegt darin, daB er iibcrraschend einsetzt. Im ersten Glicd wiirde >Leben< zum Fortgang passcn, und dort heiBt es >Tod<. Das im Wachsein Gesehcne wird so als Ganzes, mit seinem schcinbaren Wachsein, selber nicht der Lebendigkeit, sondern dem Totsein zugerechnet 4 3 . Die Familienahnlichkeit heraklitischer Satze notigt zu sehr sorgfaltiger rhythmischer Analyse der Uberlieferung. Hier finde ich inzwischen in Charles Kahns K o m m e n t a r sehr feme Beobachtungen. Manchmal mochte ich, indem ich in die gleiche Richtung blicke, noch weiter gehen und aus nicht ganz so wohlgeschmiedeten Satzen durch Emendation und Kondensation den originalen heraklitisehen Satz herstellen. Gerade in den bestgestoischen Zusatz Ktii mnepyovc; aus dem v o n Mare Aurel zitierten heraklitischen Satz ausgeschieden. 39 Fr. 73: ov St i woiif.p xabtvumirn: livii iv xai Xiy^iv... 40 G. S. KIRX, Heraclitus. The Cosmic Fragments. Cambridge 1954, S. 44F. 41 H . FRAENKEL, Wege u n d Formen, S. 258ff. 42 Fr. 21: Sovazoc, turn oxooa iyeptievux bpeopiv, dxdoa Si rvSvvtix u/ivoc. 43 KAHN, S. 213 spiirt wohl die Asymmetrie in der heraklitischen Sentenz, sucht sic aber meines Erachtens an der falschen Stelle.
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schmiedeten Satzcn Heraklits meine ich eine wahre Familienahnlichkcit zu erkennen. So mochte ich zuKahns Analyse der Klangstruktur von Fragment 25 4 4 die Frage stcllen, ob am Ende Xayxavovoi (>sie erlangcn<) nicht entbehrlich ist. Es wird vielleicht dem antiken Zitierstil verdankt, in dem man zugleich expliziert. Der Satz konnte cinfach geheiBen haben: popm /«'/v/\ jrf'Covfx pcnpai (oder: ptXuvac. poipac). Das klare Wortspiel spricht fur sich selbst und zwingt zum Nachdenken. U m g e k e h r t fiihlt m a n sich sicher, den richtigen Wortlaut zu haben, wenn cin Satz klare Eckwerte aufweist wie Fragment 21 in der Entsprechung von 4s DAVCTTOI; und VTIVTod< und »Schlaf(). Auch Fragment 20 zeigt solchc Eckwerte mit yrvopfvoi und yeveoBm. Im lctzteren Falle frage ich mich, ob die Bindung durch die Eckwertc bei einem so langen Satze nicht wirksamer wurde, wenn man sie noch erweitcrte und popov< i' r\rtv mit pop tux ysveodai konfrontierte. Z w a r ist das klar, dafi das ideXovoi nicht ganzlich von seinem O b j e k t & a v getrennt werden darf; cs ist ja durch if — nai gefestigt. Aber warum soil Heraklit nur bei dem Einleitungssatz der doppelwendigen Gravitation von Worten gefolgt sein utid nicht auch sonst ihren Doppelbezug genutzt haben? Auch hier wiirde das edeXovoi sich im Horen von selbst vcrdoppeln, genau wie in Fragment 1 das >immcr<: ytvoptvoi tedeXovot popatK zs fyeiv Ka>! Kmahinovai] popoi'C yeveaSm. Das ist der Stil, den ich zu erkennen glaube, der und yrvrnhm konfrontiert 4 6 . In der gleichcn Weise scheint mir das von mir rekonstruierte Fragment naiyp vibi; iavrov schlagend, und manches andere auch. Im Fragment 21 s t e h e n T r a u m und Schlaf fur die Verblendung, die darin besteht, dafi man nicht imstande ist, in all dem Verschiedcncn, das uns begegnet, ein und dasselbe Wesen zu erkennen. Heraklit wird nicht iniidc, in unzahligen Variationen die Untrennbarkeit der Gegensatzc zu lehren, die ihre Einheit bedeutet. Auch der oben besprochene Einleitungssatz gehort hierher. Wenn in ihm eine Vielhcit angekiindigt wird, die >Worte und Tatcn<, wie sie alien begegnen, durchzugehen, mufi man in Wahrheit dabei gerade das Eine, das das all ein Wahre ist, im Augc bchalten. Der Satz zeigt die Menschen alle im gleichen Irrtum, Gegensatzliches fur getrenntes Scicndes zu halten, statt die wahre Einheit zu erkennen. Das ist die Paradoxic, daB er dieses Eins-Scin >auscinandersetzen< will, u n d das ist der Logos, den es zu horen gilt. Er meint nicht allein, was alle wisscn, das Nachcinander, die notwendige Ablosung des einen durch das andere, wie bei Tag und Nacht, Somraer und Winter, Jugend und Alter, sondern dariiber hinaus jcncs Incinander, das Plato an der
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K A H N , S. 2 3 1 ff.
Fr. 20: ytvoptvtn fan (dt'Ximn fto/iovc i' ' p a X X o v St- avanaveoden, nai nai8a<; xanaXcinovm popovt; ycveoDm. 46 Zur Tilgung des ;/aUrn> ii\,mi/r; i>D(n vgl. REINHARDT. Hermes 1942, S. 4.
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Stelle im >Sophistes< betont, von der wir ausgingen. Die Gespanntheit dieser ionischen Musen besteht offenkundig darin, da/? es dasselbe is:, das sich im Auseinandertreten mit sich selbst zusammenhalt (Fr. 51), wie der Mischtrank, der sich zersetzen wiirde, wenn man ihn nicht umriihrtc (Fr. 125), oder wie das Fragment 10 mit seincm avvaSov — otaSov (/zusammenklingcnd auseinanderklingend<) oder das Fragment 8 mit seinem avrikovx — ovpifdpov (>widerstrebend - beitragend<). Bei Aristoteles wird es vollig deutlich, wie das zu verstehen ist; der hohe und der tiefc Ton mtisscn beide da sein, wenn es Harmonie geben soil 47 . Das Auseinandertreten in Gegensatze ist also nicht das Rcsultat eines Prozesses der i'xKpwK, wie Aristoteles von Ana Kirn and er behauptet (VS 12 A 16) und wie es wohl wirklich hinter der vertieften Gegensatzlehre steht, die dem Parmenides seine Gottin enthiillt. Aristoteles hat eben nirgends ein spekulatives Verstandnis fur die kontradiktorischen Aussagen Heraklits 4 8 . Es fallt geradezu auf, daB er an einer Stelle der >Physik< (A 4, 187a2off-) auBer Anaximander nur Empedokles und Anaxagoras, und zwar in ahnlicher Unterscheidung v o n >periodisch< und >einmalig<, unter denen erwahnt, die das Eine und Viele gleichzeitig annehmen, Hier wird von der em/nou,: gesprochen, offenbar ohne daB dabei Heraklit erwahnt wird, o b w o h l die Anlehnung an die >Sophistes<-Stelle 242b das hatte erwarten lassen. Ebenso ist in der >Metaphysik< (A 8, 9 8 9 a u ) Heraklit nicht genannt, w e n n Aristoteles das Mittlcre zwischen Feuer und Luft, v o n dem er in der >Physik< (187an) spricht, durch das Mittlere zwischen Luft und Wasser ersetzt. Statt Heraklits Feuerlehre hier als einen Fall von sxxpwic; cinzustufen und dem Prinzip seiner Elementenlehre cinzufugen, iibergeht er ihn. O f f e n kundig ist das mit dem heraklitischen Text in seinen Augen nicht vereinbar gewesen. So muB man jedcnfalls urteilen, wenn man die platonische A b h e b u n g der heraklitischen ionischen Musen gegen die sizilischen Musen des E m p e d o kles fur bare Miinze n i m m t . Dafiir gibt es aber cine Reihe unzwcifelhafter Heraklit-Spruche, die das unterstutzen: das Bild des Flusses, die H a r m o n i e im Zusammenhang mit Bogen und Leier, die H a r m o n i e als solche, der Gerstentrank. In all diesen Fallen ist von Einheit aufgrund bloBer zeitlicher Sukzession oder aufgrund bloBer Plotzlichkeit des Ubergangs nicht mehr die Rede. (Allenfalls, wenn Plotzlichkeit des Ubergangs mi Blick steht, konnte man die Beispiele ohne das Zugleich der spekulativen Einheit der Zeitfolge subsumiercn.)
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EE H 1 , 1235a 25 ; E N & 1, 1155b4- Siehe oben S. 54. Das zeigt deutlich Met. / 3, i005b 2 ;(ff.: u5vvam\- yap dvmvvv ravivv vnoXapflavnv t h v i xai efvat, xadtmt.p ttvi<; o'iovzat Aeyriv 'HpaxXtnow Sowie I 7, 1012a24ff.: Iowa: $' <> pit 'HpaxXzirov Aoyoc, .1eya-v naviu i:iv/n xtii fa] tivm, anavta (tXififf rujitiv. 48
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Wie sehen n u n die starker bcgrifflichen Aussagen aus? Fragment 10 49 fiihrt zwar auf vorherige Getrenntheit hin, meint aber doch klarlich das Zugleicli, da das platonische ovpytpofievov — diaptpopfvov in der Reihe auftaucht. Ebenso kann man o,\a mi oi'x oXa nur als die logische Untrennbarkeit von Ganzem und Teilen verstehen, und ebenso ist es ja mit der Konsonanz und Dissonanz, die durch die Analogie der Harmonie gcsichert ist ('ovvr/Sav — (5iq§, so kann man bei manchcn wohl schwanken, ob sic cchtc spekulative Einheit illustriercn. Immerhin hat meine oben zitierte Analyse der VaterSohn-Paradoxic den Aussagcwert der Zitatenreihe verstarkt, und so wird man wohl iiberall, w o Hippolytos ausdrucklich cchte Gegensatze anfiihrt, wie in Fragment 67 s 1 , das Eine mi platonischen Sinn nehmcn miissen. Im Falle von Tag und Nacht bestatigt das die Hesiod-Polemik in Fragment 57. Ebenso ist der T o d (MVOTOQ) und sein Gegcnsatz zum Leben durch Fragment 76 gcsichert, das auf Fragment 62 s 2 zuriickgeht. Dagegen scheinen andere Aussagen nur den Wechsel als solchen auszusagen und nicht die spekulative Einheit, die im Wechsel liegt. Das gilt etwa von der Fortsetzung von Fragment 67 53 , w o die verschicdenen Aspektc des Gottes oder des Feuers durch die Beimengung von verschiedenem Rauchcrwerk zustande k o m men. Immerhin steht hier fur das Eine auch >der Gott<. Fragment 88 54 , dessen Lcsung unsicher genug ist, legt zwar den Nachdruck ohne Zweifel auf den Wechsel, auf das Nacheinander, das aber immerhin als Umschlag beschrieben wird (peiantnovm). Jeder Wechscl impliziert eben in Heraklits Augcn ein Zugleicli. Das scheint mir auch fur die Kosmologie von Fragment 31 zu gelten, von dem spiiter die Rede sein wird. Das Auscinandertreten in Gegensatze bckundet mi thin ubcrall das einheitliche Wesen der Dingc u n d lhr wahrcs Sein. Sie sind nicht ohne einandcr, ob es nun so ist, daB sienotwendig aufeinander tolgcn, oder so, daB sic geradezu
Fr. 10 (= Ps.-Arise., De m u n d o 5, 396b 2( , f.): awayies (oder avL\ay>u:c)
Fr. 67 (Forts.): ... alXoiovrai Si oxv-omp nvp, dnmav ci'fijtiyft dvvfj.amv, itvopriifiat Kail' TlSoYtjy iKCtOTOV. 54 Fr. 88: urino t' evt tati udvqKOi, xai iyptftopds Kai itadevdov xai viov rrji yriptndv' yap /uiamnovia cut'ivd ion xaxeiva IUIXIV [/TIONT {>
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zusammenklingenund die Einheit der melodischen Fiigung bilden. I n j e d e m Falle muB m a n zu der Einsicht gelangen, dafi das andere schon i m m e r mit da ist. Dafiir ist die beste Aufweisung eben dies, daB das Entgegcngesetzte plotzlich und unvermittelt hervorbricht. Mit einem Schlage wechselt das, was ist, seinen Anblick ganz und gar, u n d das Gcgenteil tritt heraus. Das beweist, daB es schon vorher da war. So, meinc ich, will Heraklit im Grundc fiir alles, was ist, das gleiche, das Eins-Sein des Verschiedenen, behaupten, und das ist der Grund, w a r u m er das Eine »von allem getrennt« nennt. Die Gegensatze, die er ausdriicklich nennt, stehen offenbar unter dem Auswahlgesichtspunkt, daB es anscheinend einandcr vollig ausschlicBende sind, die sich gleichwohl als eines und als dasselbe erkenncn lassen. U n t e r diesen Gegensatzen, von denen Fragment 67 spricht, erscheint dcr von Mangel und Sattheit von besonders klarer Evidenz. Unabhangig von alien kosmologischen A n w e n d u n g e n und Ausdeutungcn kennen wir alle diese Erfahrung. Das Verlockende von Speise setzt H u n g e r bzw. Appetit voraus und schwindet mit uberraschender Plotzlichkeit, wenn m a n satt ist. Der Gegensatz von Krieg und Fricden leuchtet ebenso ein. Was das eine ist, ist das ganzliche Nichtscin des anderen. Der Ausbruch des Krieges ist eine vollige Verwandlung von allem. Auch Wachen und Schlaf gehort ganz in diese Reihe. Was an den Gegensatzen von Wachsein und Schlaf so frappiert, ist ja ebenfalls die Plotzlichkeit, mit der der Gesamtzustand ein anderer ist. Wer in Schlaf verfallt oder versinkt, schcint ganz ein anderer und ist doch derselbe, wie sich im Erwachen zeigt. Soweit waren die Gegensatzpaare nach dem Muster von Wachen und Schlaf (Fr. 88) einfach zu verstehen. N u n begegnct in Fragment 88 unter den Gegensatzen freilich auch >lcbendig und tot«, und ferncr j u n g und alt*. Was soli da die Wechselscitigkeit des Umschlages bcdcuten? Fiir j u n g und alt< laBt sich das vielleicht noch cinigermaBen als Perspcktivcnwechsel erklarcn, sofern die unmittelbare menschliche Erfahrung uns bestatigt, daB >alt< u n d >jung< etwas sehr Relatives sind. Es karm einer plotzlich j u n g sein, und das heiBt nicht nur, daB er sich verjiingt fiihlt. Er wirkt tatsachlich jung. Ebenso kann einer plotzlich ganz alt aussehen. Auf diese Weise trafe die platonische Formel, daB es dasselbe ist, das zugleich das eine und das andere ist, vollcndet zu. Es ist beides in ihm. N u r der Aspckt des Seienden wechselt. A u c h i m platonischen >Parmenides< (141af., 152af.) begegnen iibrigens die dialcktischen Spiele von j u n g u n d alt< in dcr Reihe der Relationen. Die groBte Schwierigkeit, die in diesen Zeugnissen fur unser Verstandnis bcstcht, stcllt dcr Gegensatz von Leben und Tod dar. GewiB bedeutet es etwas, daB dieser Gegensatz bei Heraklit hier nicht als etwas Besonderes begegnet, sondern in einer langen Reihe von ahnlichen Gegensatzpaarcn. Das erinnert einen daran, daB die Stellung des Todes und das ihm entsprcchende Todesverstandnis in dem chrisdichcn Kulrurkreis, d e m wir angcho-
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ren, cine ganz ungewohnlichc u n d auBerordentliche ist. Diese auBcrordentliche Stellung wirkt bis heute fort, auch wenn die religiosen Hintergrunde in der modernen Welt wcitgehend verblaBt sind und der Osterglaube, also die Uber win dung des To des durch die Auferstehung, das allgemeine KulturbewuBtscin zunehmend weniger tragt. Auch wenn m a n den T o d in seiner ganzen Unwiderruflichkeit und unbegreiflichen Furchtbarkcit nicht mehr im Lichtc dcr Erlosungstat des stellvertretenden Erlcidens des Kreuzestodes durch Jesus u n d im Ganzen dcr christlichen Botschaft als Glaubcnder annimmt, ist es doch nicht so leicht, sich der besonderen Stellung des Todcs in unserer europaischcn Kultur u n d ihrer Seelcngeschichte geniigend bewuBt zu sein, und so auch, wenn man auf die Heraklit-Zcugnisse blickt. M a n kann es als ein klassisches Bcispiel fur das anschcn, was ich im Problemzusammenhang der Hcrmeneutik >wirkungsgeschichtliches Bcwufitsein< genannt habe. Unsere eigenc Vorpragung sitzt so ticf, daB sie im Verstandnis anderer Kulturen und Geschichtsweltcn uns behindert. U m zu besserem Verstandnis zu gelangen, muB man sich seiner eigenen Vorpragung bewuBt zu werden versuchcn. Das ist im Fallc Heraklits schwierig genug, weil die spatantikc und fruhchristlichc Einwirkung auf die HcraklitUberlieferung vor allem bei Hippolytos und Clemens uns geradezu unsere eigenc Vorpragung aufdrangt und uns insofcrn irreleitet. Auf der anderen Seite mussen wir uns unserer eigenen Vorpragung bewuBt bleiben, auch wenn wir uns hiiten miisscn, vorschnelle [dentifikationen zu vollzichen. GroBere Schwierigkeiten tun sich natiirlich auf, w o wir es noch mit ganz anderen Kulturkreisen u n d Traditionen zu tun haben. Man denke etwa an die Vcrformung der Vcdanta durch den Kantiancr Schopenhauer. N u n hat menschliche Besinnung iiberall der Erfahrung des Todes eine iiberragende Bedeutung zugemessen. Das gilt gcwiB auch fiir die gricchische Volksreligion, etwa fiir die Vorstellung v o m Hades, fiir den Strom des Vergessens, dcr die Lebenden von den Toten scheidet, wie die Homerischen Epen sie schildern. Ebenso zeigt das Gotterdrama, das Aischylos in seiner N e u d e u t u n g des Prometheus-Mythos auf die Biihne brachtc, daB der Tod eine Art Lebensfrage dcr Mcnschheit ist. Im G r u n d e sind alle Religioncn Antworten auf das Ratsel des Todes, o b die A n t w o r t im Totenkult oder im Ahncnkult oder in anderen Formen des Seelenglaubens oder Unsterblichkeitsglaubens erfolgt. Auch die Hades vorstellung blcibt eine A n t w o r t auf das unbegreifliche Ratsel des Todes. Manchc Mythen, die etwa nut den N a m e n Orpheus und Eurydike oder Alkestis oder in gcwissem Sinne auch mit der Figur des BiiBcrs Sisyphos verkniipft sind, scheinen zwar die Unwiderruflichkeit des Todcs abzuschwachcn. Aber auch diese Mythen c r z a h l e n j a gerade, wie diese U b c r w i n d u n g des Todes zum Scheitern gelangt. GewiB, die gricchischc Volksreligion, mit ihrer Vorstellung des Hades und der Inscl der Seligen, hat die f o r t d a u e m d e Gegcnwart dcr Abgc-
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schiedenen und 111 der Nckyia sogar die Wiedcrbegegnung mit ihnen im Sinne. U n d doch riihrt uns auch heute noch die atembeklemmcnde Traurigkcit auf den griechischcn Grabdenkmalern an. Plato selbst laOt im >Phaidon< von dem Kind im Manne reden, desscn Angst vor dem Todc sich nic ganz bcschwichtigen laflt. Indessen, bei Heraklit geht es u m etwas anderes, u m den Umschlag v o m Tod zum Leben, der dem Umschlag vom Leben zum Tode zugcordnet ware. Derartiges ist im Hadesglauben nicht gelegcn. Wohl konnte man an den orphischen und pythagoreischcn Glauben an die Scclenwanderung und die Wiedercinkorperung der Seel en von Verstorbencn in neuen Lebenslosen denken, die eine Art Wcchselverhaltnis von T o d und Leben verstandlich machen wiirden. Aber das hangt doch am Ende ausschhefilich an der Frage, ob der so neu Eingekorperte Wicdererinnerung an sein Vorleben gewinnt. Das mag den Eingeweihten in einem solchen Kult verheiBen sein, aber cine U b e r w i n d u n g des Todes, wie cr im cbristlichen Glauben an Tod u n d Auferstehung Jesu Christi gelegen ist, hat in solchen religiosen Bewcgungen, so wenig wic bei H o m e r , auch im spateren Gricchentum kcine wirklichc Entsprechung. Man muB im ganzen den griechischen Totenkult, wie den anderer Religionen, als eine Art des Festhaltens am Leben verstehen. Die Besonderheit dcr christlichcn Religion besteht darin, daB durch sie die Schrecken des Todes nicht abgeschwacht werden sollen, sondern im Glauben an die Auferstehung als die Erlosung v o m Tode durch das stellvcrtretende Leiden Jesu ganz angenommen werden. »Chnstus ist mem Leben, und Sterben mein Gcwmn.« Insofcrn hat die vorchristlichc Welt, und so auch die griechischc Welt im ganzen, am C h n s t e n t u m eine uniiberstcigbare Grenze, die etwa Novalis in seinen >Hymnen an die Nacht< bcschrieben hat. Man wird sich dcr Andersheit der christlichcn Glaub ens erfahrung des Todes auch bei Plato bewuBt, wenn m a n etwa den ersten Beweis fiir die Unsterblichkeit der Seele liest 55 , den Plato im >Phaidon< dem Sokrates in den M u n d legt (70dff.). Da ist es fiir den modcrnen Leser schwer verstandlich, daB man aus dem allgememen Krcislauf des Naturlebens die Glcichgewichtigkeit von Tod und Leben, von Sterben und Wiedcrkehr uberhaupt soil folgern konnen. Dcr R h y t h m u s des Naturlebens scheint der Seclengeschichte des Menschen schlechthin unangemessen. Auch im >Phaidon< deutet Plato das an, wenn Kcbes nur zogernd dem Wechscl v o m Tod z u m Leben zustimmt (ymvtuji 71e). Vollends hat es fiir uns etwas Vcrbliiffendes, wenn aus dieser Beweisfuhrung des >Phaidon< folgen soli, dafi die Seelen der Gestorbenen nicht nur weiter cxistieren (eivat 72c), sondern, wie es im Text heiBt,
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Vgl. dazu auch meine Suidie iiber die Unsterblichkeitsbeweise in Platos iPhaidoin, Ges. Werkc Bd. 6, S. 187-200.
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Heraklit-Studien
daB die Gutcn, die gestorben sind, eine besscrc Existenz haben werden als die Schlechten (72e). Das zn folgern ist so absurd, daB die moderne Philologie diese zusiitzliche B e s t i m m u n g als unecht gestrichen hat, obwohl der Text einheitlich so iiberliefert ist. In der Tat, wie soli man vcrstehen, daB das aus dem R h y t h m u s des Naturlebens folgen soil? Da begreift man eher, daB im >Phaidon< ein weiterer Beweis folgt, durch den der Periodik des Naturgeschehens das bekannte sokratischc A r g u m e n t der Anamnesis angefiigt wird. Aber auch da fragt man sich, wie soil dieser Beweis eine Erganzung des ersten sein? Die Seele ist doch im ersten A r g u m e n t etwas ganz andercs als die sich wiedererinnernde Seele. M a n mag hier allenfalls bei Plato, insbesondcre in dem Gesprach des Sokrates mit zwei Pythagoreern, an den vertnittelnden Gcsamthorizont der Scelenwanderung denken, der auch wciterlnn bei Plato anklingt. Es ist aber von entschcidender Bedeutung, sich klar zu machen, daB das nichts mit Heraklit zu tun hat. Von Scelenwanderung kann bei Heraklit keme Rede sein, wahrend sich der dem Naturlcben und den denkenden Wesen gemeinsamc Seelenraum der Gricchen bei Plato erkennen laBt. Dagegen zielt Heraklit mit scinen kuhnen Gegensatzpaaren ganz auf das Paradox des Utnschlags. Der Gedanke Heraklits ist also weit radikaler. Da gibt es nicht, wie es bei Plato schemen will, ein bestimmtes Seicndcs, die Seele, die sich als das Unveranderlichc auch bei sich andernder Erscheinungsweise und lhrern vcranderten Aufenthalt im Leibe oder im Hades erhalt. A n dieser Stelle kann die Erinnerung an eine bedeutsame kleine Szenc im platonischen >Phaidon< hilfreich sein. Dort unterbricht (103af.) ein U n b e k a n n t e r - wahrlich ein Hinweis, auf den damit ein auBerordentlicher Nachdruck fallt - die sokratische Gcdankenfiihrung, die den AusschluB der Gegensatze des Lcbens und des Todes zum Beweis der Unsterblichkeit der Seele eingetuhrt hat. Der Unbekannte erinnert daran, daB doch gerade der Obergang v o m einen zum andercn, der Gegensatze incinander, an friiherer Stelle des Gespraches (niimlich 70df.) behauptet wurde. Sokrates benutzt die Gelegenheit, auch seincm Freunde Kcbes deutlich zu machen, daB das Dcnken von Gegcnsatzen hier einen anderen Sinn hat, wenn man die Gegensatze als solche denkt und in ihrer gegenseitigen AusschlicBung im Augc hat, als wenn m a n von irgendeiner Sache, einem npayjia, etwa der Seele, sagt, daB etwas sich von einem Gegensatz zum anderen hinbewegt. Das setzt in Wahrheit das rein Gedachte, die Gegcnsatzlichkeit als solche, ihr Ideescin, voraus. Es bedeutet, daB die Gegensatze von d e m unterschieden werden, woran sie auftreten. Bei Aristoteles wird das spater das vnuKtipi'vov heiBcn, dessen sich das friihe Gegensatz dcnken der Ionier wie der Pythagoreer noch gar nicht begrifflich bewuBt war. Das lllustnert Plato spater als den Mangel der Friiheren, indem er im >Philcbos< (23d, 26d) die drittc Gattung, die des Gemessenen, ausdriicklich einfiihrt (neben der des MaBes).
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Die Erinnerung an Plato kann uns indessen hclfen, die eigentliche Frage Heraklits zu erahnen, Weder die anstotclischc Analyse der Bewegthcit der N a t u r , noch gar die durch H o m e r , Hesiod und die durch den Heroenkult oder den Mysterienglaubcn verrnittcltcn Vorstellungcn entsprechcn der wahren Intention Heraklits. Fur ilm geht es um die Paradoxic des Umschlages und damit um das Einssein des Seins. Was ist Leben und was ist Tod, was ist Entstehcn und Erloschen des Lcbens? Das ist das Ratsel, dem Heraklit nachsinnt. Er sucht in alien Gcgensatzlichkciten das Eine, und er findct in dem Einen das Gegcnsatzliche, im Feuer dieFlamme, im Logos der Seele, im Einen, das Wahre (rv id uofov), Plato wird den groBcn Parmenides schildern, der dem verbliifften jungen Sokrates in kiihnen Spielen vorfuhrt, daB das Eine in Allem ist und daB auch die Ideen, selbst die gegensatzlichen, ineinandcr ubergehen und Eines sind. So kann Plato Heraklit aufnehmen. Ich k o m m c also zu dem SchluB, man soil hier nicht auf besondere Vorstellungswcisen Bezug nehmen. Es k o m m t fur die Identitatsthesc auf etwas anderes an, auf die Plotzlichkeit, mit der sich der Anblick der Dinge verandert. Das stellt der Gegensatz von Tod und Leben in Wahrheit vor Augen. Man muB die ganze Lehre auf diesen Punkt hin interpretieren. Jede Abschwachung der Gegensatzlichkcit, etwa von Tod u n d Leben, stiinde im Widerspruch zu dem ganzen Tenor der Gcgensatzlehrc. D e r Gedankc ist weit radikaler. Nicht ein bestimmtes Seiendes, ctwra die Seele, liegt bei allem, was Leben hat, als das IJnveranderliche hinter dem sich andernden Anblick. Es ist das Geheimnis der N a t u r des Seins selber, das Eine Weise, das wahre Gottliche, was sich noch im jahen Wechsel von Tod und Leben manifestiert. Selbst der Tod ist wic ein plotzlicher Umschlag in der Erscheinung des Seins. So sollte man vcrsuchen, wiederum dem P r o g r a m m des P r o o m i u m s zu folgen und in bekannten Erfahrungen die unbemerkte Wahrheit zu erkennen. Wenn in Fragment 62 davon die Rede ist, daB die Gotter »unsercn Tod lebcn«, konnte das heifien, daB ihr Sein erst durch unseren T o d herauskomrnt. Ihr Sein artikuliert sich als das, was es ist, angesichts unserer Endlichkcit (und sicherlich nicht, weil sie sich dabei als Zuschaucr verbal ten, wie Fink meinte 5 6 ). Entsprechend konnte m a n verstehen, daB wir im Leben dcren Tod sterben, das heiBt, daB die Unsterblichcn als das, was sie sind, fur uns nicht herauskommen, solange uns die LebensgewiBheit und Lcbenssicherheit im Banne halt. Die Wahrheit ware abermals, daB durch ihre Wechselhaftigkeit bcidc Aspekte ihre Nichtigkeit beweiscn u n d das Eine, das allein Weise, als das Wahre bestatigen. Damit tritt die Identitat der zahlrcichen Aussagen iiber den wechselndcn Aspekt der D m g e ins Licht, deren Dcutung nicht strittig ist. Da heiBt es zum S6
Vgl.
MARTIN HEIDEGGER/EUOEN FINK,
Heraklit. Frankfurt 1970, S. 158f.
Heraklit-Studieti
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Beispiel: »DicEscl ziehen Spreu d e m G o l d e vor« (Fr. 9). Oder: »Meerwasser ist fur die Fische trinkbar und fiir ihr Leben notwcndig, fiir die Menschen ist es ungeniefibar und todbringend« (Fr. 61). O d e r : »Dcr schonste Affe ist hafilich im Vergleich zum Menschengesch)echt« (Fr. 82). O d e r : »Der Weiscste der Menschen n i m m t sich im Vergleich mit dem Gott wie ein Affe aus « (Fr. 83). Selbst Satze wie Fragment 84a und 84b, »Abwechslung erholt« oder »Immer v o m selben gefordert und bedriickt zu warden ist ermudend«, sollte man von alien unbefriedigenden mythischen A n w e n d u n g e n , wie sie Plotin vornimmt, ablosen. Sic verdienen keinen Glaubcn. Er sagt selber ausdriicklich: i'ifi-FA>jnfK oazffi >ijiiv notijom rbv Aoyw 57 . All das sind negative Entsprechungen zur Identitat des Verschiedenen und lassen in der Verschiedcnheit das Identische crkennen. Ahnlich lassen sich auch die Fragmente 24, 25 und 27 deuten. Sie mcinen schwerlich irgendeine heraklitische Sonderlehre iiber die Toten und ihr kiinftiges Schicksal oder gar cine Mysterienweishcit, die dem Uneingewcihtcn verschlossen ware und die Heraklit in Wahrheit mit alien Mitcingeweihten zu teilen hatte. Vielmehr handelt es sich auch hier um etwas offen Daliegendes, alien Bckanntes, das doch kciner in seiner wahren Bcdcutung erkennt. Ein Beispiel fur ein Allbckanntes ist die Erhohung des im Kriege, »auf dem Felde der Ehre« Gefallenen (aprpfifoix Fr. 24). Er ist wie ein plotzlich Verwandelter. Alle ehren ihn, alle sehen ihn anders, vorbildhaft, verklart. Das ist die Einsicht Heraklits und besagt durchaus keineTeilnahme an dem Heroenkult. Das ware fur ihn hochstens ein kultisch ausgestattetes Beispiel fiir die Plotzlichkeit solchen Umschlags gewesen. Ahnlich diirfte im Fragment 27 nicht eine geheimnistuerische Ankiindigung unerwartctcr Jenseitserfahrungen liegen. Vielmehr wird eben das gemeint sein, dafi die Menschcn nach ihrem Todc so anders dastehen, so crhoht, wie man es bei Lebzeiten nicht fiir moglich gehaltcn hatte 5 8 . Die gleiche Erfahrung aus der Menschcnwelt scheint Fragment 18 auszusprechcn, »wenn man nicht hofft, wird man auch nicht das U n v e r h o f f t e finden« M . Es ist dank dem Hoffen, dafi das, was eintritt, gerade weil es unvorhersehbar war und unerreichbar schien, sich ganz anders darstellt, als man es erwarten konnte. Da kann es Oberraschung, m a g es Erfullung sein. N u r dem Hoffenden kann Unverhofftcs zuteil werden. Dafi solche Interpretation auf Aspektwechsel hin den Sinn der heraklitischen Aussagen trifft, wird etwa auch durch Fragment 53 mindestens bestatigt. Da heiBt es namlich ausdriicklich von dern Kricg, dem Vater aller Dingc, »er erweist die einen als Gotter, die anderen als Menschen«. O h n macht und Macht des Menschen k o m m e n heraus. Von den einen k o m m t " 58 59
Enn. IV 8 [6] 1, 15-16. Fr. 27: avdp&novt; pivci 6rto»(n6viac aooa oiix e'Xnovrai ovSe tioxeovotv. Fr. 18: arv jiqcXmizat, uvtXiuowv ovk >:t/?vf/?it>f.i.
Auf dem We g zu Plato
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heraus, daB sie feige Knechte sind, von den anderen, daB sie wahrhaft Frcie sind 6 0 . Wieder heiBt das: Was in einemjeden schon liegt, k o m m t nur heraus. Der Krieg, der wahre Gott, liegt nicht nur den auBersten Gegensatzen zugrundc, sondern er lost selber den Aspektwcchsel aus. Er ist das in allem Zwist Gemcinsame, der eigentliche Logos hinter den Unterschieden, in denen sich die Dinge scheinhaft zeigen. So sagt es Fragment 80, daB der Krieg in dcr Tat das alien Gemeinsamc ist, dem sich keiner entziehen kann und alien zu glcichen Tcilen z u k o m m t 6 1 . So kann es bei Heraklit hciBen: >Dike<, die alien glcich Verteilende, und >Eris<, der Streit, sind eines (mi SiKijv KCti epiv mochtc ich lesen). Die Gemeinsamkeit des Rechtcs u n d die Gemeinsamkeit des Streites umfaBt alles. Was alien gemeinsam ist, ist in Wahrheit eines und dasselbe. D e m entspricht die von Diels doch wohl richtig hergestcllte Fortsetzung 6 2 . Auch die Unstcrblichen sind in dieser Weise eine Besonderung, die nicht ohne die Sterblichen ist (Fr. 62). Offensichtlich meint Heraklit mit den Unstcrblichen nicht den Gott von Fragment 67, den Einen in der Vielfalt seiner Erschcinungen. Es sieht vielmehr so aus, als ob Heraklit in kulmcm Aufklarungsdenkcn, Plato vorwegnehmend, die traditionelle Gottcrwelt mit der menschlichen Weltcrfahrung in cin Wechsclverhaltnis setzt. Wic der Krieg Macht und O h n m a c h t des Menschen offenbart, so k o m m t auch die Macht der Gotter im Scheitcrn der Menschen heraus und dcren O h n m a c h t im eigenen Wohlergchen. Fast noch paradoxer ist es, daB die Unsterblichkeit, die der Gcfallene erwirbt, ihm durch den Tod zukommt! Von hier aus mochte ich die allgemeine Frage stellen, ob nicht alle die Satze iiber R u h m und Unsterblichkeit, wic Fragment 24, 25 und vielleicht sogar 27, die Verwandlung der Toten meinen. Auch Fragment 29 schcint mir wie eine Bestatigung: »Die Edlen wahlen Eines statt allem anderen.« Das soil doch wohl sagen, daB es gerade ihren Adel ausmacht, dafi sie in ihrem Leben wirklich dem folgen, was nach Heraklit das Eine Wahre ist. M o g e n manche dieser Ausdeutungen im einzclnen fraglich bleiben und mogen immcrhin Anklangc an konventionelle religiose Vorstellungen hineinspielen - der Versuch, der ehedem allgemein akzeptiert war, Heraklit wegen seines mystischen Tones zum logischcn Interprctcn von Mysterien60 Fr. 53: fl6Xtpo<, itar/MV ptv nmrjp ion, navmr Si /fcwtlrfc, xai iui>cjdv fltoiK eSttir. wi'c Si avdp&novs,reiVfu-\- 5uvXi>v( fnoiqnr mix; Si iXtvdcpovt,. 61
Fr. SO: eiSevai Si x/jij -ibv noXr.pov eovra {IJVOV, rari Sita/i- rpiv... KAHN, S. 205 f. bat sehr schon gezeigt, wie Heraklit die homerisehe und archilochische Aussage iiber den Krieg iiberbietet. Er hort aach richtig den Anklang an den Einleitungssatz des Ganzen heraus. Dagegen sehe ich den Anklang an den uns nur zufallig bckannten Satz des Anaximander nicht. D o r t k o m m t ja nicht, wie bei Anaximander, Dike als Strafgewalt vor, sondern wie der Streit als das Gemeinsame (furor) ins Spiel. Das ist das, was die Ahntingslosen (am:t/iowir) immer wieder verkennen. 62
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weisheit zu machcn, scheitcrt daran, daB Heraklit den Anspruch erhebt, das Eine zu denken, und damit Weisheit nicht Eingeweihten, sondern alien Menschen zumutet. Wie vertragt sich aber all das mit der Feuerkosmologie? M a n mufi bei dieser Frage nicht nur Heraklits Stil u n d Platos Heraklit-Charakteristik 1111 Auge behaltcn, sondern auch polemischc Bezugnahmen auf die milesischen Lehren in Rechnung stellen. Z w a r w a r der Anspruch auf paradoxe Aufklarung, den das P r o o m i u m erhebt, stets auf das Verhalten der Menschen im ganzen bezogen, Aber es sieht doch so aus, daB die Sache hier eine besondcre Wcndung n i m m t . Auch diese neue Wissenschaft wird konsequentcrweise einer Art Aufklarung unterzogcn werden miissen. Wenn wir bisher die all gem eine Anweisung des P r o o m i u m s befolgten und nichts voraussetzten, was nicht die alltagliche Erfahrung die Menschcn lehren sollte und in Wahrheit doch nicht lehrt, miissen wir uns jetzt fragen, wie Heraklit die neue Aufklarung insgesamt, welche die Milesier, aber auch die Pythagoreer und Manner wie Xenophanes verbreiteten, kntisiert und scinen Einsichten einpaBt. Das bedcutet kein Vcrlassen unseres Grundsatzes. Denn cs sind nicht besondere Erkenntnisse, die er z u m T h e m a macht, sondern die neue Weise, die Welt zu sehen, Aoyv denkend. Der mctcorologische ProzcB liegt aller Beobachtung offen zutage. Auch muB sich jedermann fragen, wieweit die Entmythologisicrung des mythischen Weltbildcs und die Rezeption des kosmogonischen Schcmas solche Fragen unausweichlich macht wie die nach dem Anfang und ob nicht solche Prozesse der Weltwerdung immer wieder und uberall in Gang k o m m c n konnen. Die spatere Korpuskulartheorie und vollcnds die Atomistik haben so gedacht und im G r u n d c f u r j e d e s denkende BewuBtsein vcrstandlich gedacht. Ich meine also, dafi Heraklit durchaus nicht als ein Fortsetzer der ionischen Kosmogonie gesehen werden darf und diese in Kosmologie iiberfuhrt. Dafiir macht er doch ofters zu naive Beobachtungcn oder A n w e n d u n g c n , die nur bedeuten konnen, daB die Bezugnahme auf die kosmologischen Dinge fur ihn von sekundarer Bedeutung sind. Wenn Heraklit auf die kosmogonische Erkenntnis seiner ionischen Nachbarn Bezug n i m m t , scheint seine Absicht nicht zu sein, mit den grofien Forschcrn und Encdeckern aus Milet in Wettbewerb zu treten. Was cr beansprucht, ist iiberhaupt nicht, neue Kunde von uberall herbeizuzichen, sondern die in allem Augenscheinlichen oder sonst wie Bekanntcn verborgene Wahrheit ans Licht zu bringen. Das ging aus dem Einleitungssatz hcrvor, der geradezu mit dem Paradox einer alien sichtbaren, doch uberall verkanntcn Wahrheit spiclt. So werden wir schon aus diesem Grundc mit der Deutung der Feuerkosmologie als einer >Kosmologie< nicht allzuwcit k o m men. Die gequaltcn Versuche der spatcren Doxographen, die iibcrlieferten Satze Heraklits dem kosmologischen Schema oder gar der von Empedokles
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eingefiihrten und von Plato oder Aristoteles ausgearbeiteten Elcmentenlehre einzupassen, konnen einen nicht ermutigen. £ s handelt sich u m einige wenige kosmologische Satze von hochst paradoxer Gestalt. Da ist Fragment 30 s 3 , das in der gesamtcn fruhen Uberlieferung kosmologischen Denkens ohnehin cinzig zu sein scheint. Ich glaube nicht, daB man darin eine Zuriickweisung ionischer Kosmogonie sehen darf, wie neuerdings vcrsucht worden ist. Als ob die lonicr mit lhrer Kosmogonie etwas anderes gelehrt hatten als eben dies, daB kein Gott und kein Mensch diese Weltordnung eingerichtet hat. Heraklits Satz klingt in seinem ersten Teil eher wie eine positive Bczugnahme auf die lonisclic Physislehre. Etwas anderes an diesem Satz klingt aber sofort heraklitisch, und das ist die Bctonung, daB diese O r d n u n g diesclbe fur alle (oder von allem) ist. Wenn dieser Textteil echt ist, laBt er einen an die warnenden Aussagen iiber die U n vernunft der Menschen denken, die wie Traumendc ein jedcr sich seine eigene Welt aufbaucn (vgl. Fr. 89). Das Wesentliche an dem Satz ist offenbar, daB die Erwartung einer unveranderlichen Weltordnung ausgerechnet dem unruhigsten allcr Elementc, dem Feucr, zugeschrieben werden soil. D e m ewig Lebendcn, und das heiBt dem immer ruhelosen Feuer, wird das aufgebiirdet, was sonst das groBe Gleichgewicht der Wcltvision des Anaximander von sich aus cmhielt, namlich MaB zu ha ken bzw. MaB immer wieder herzustellen. Dies MaB wird hier als Sich-Entziinden und Verloschen des Feuers geschildert - ein scltsames Gegeneinander von maBhaft Geordnetem und explosiv Plotzlichem. Dabei ist offenkundig, daB Entziindcn und Verloschen cben das Plotzliche symbolisicren, durch das Heraklits Weltvision inspiriert war. U n d doch ist ebensowenig zweifelhaft, daB Heraklit die MaBhaftigkcit alles Geschehens ebenfalls voraussetzt u n d dieselbe nur neu intcrpretieren will. Insofern geht es nicht darum, die angebliche Kosmologie in bloBe Symbolik aufzulosen. Es geht vielmehr darum, in Heraklit cine neue A n t w o r t auf die E r f a h r u n g des Seins des Ganzen zu entdecken. Das scheint mir das in Fragment 30 aufgegebene Ratscl zu meinen. Wenden wir uns nun dem weiteren Tcxte von Clemens zu, so kann m a n doch k a u m bezweifeln, daB der Folgesatz, also Fragment 31 6 4 , unmittelbar an unseren Satz anschliefit (»Feuers Wandlungen. . .«). Dann diirfte aber diese Wendung nvpbc, ipoitai denselben unuberhorbaren Ton des Paradoxes tragen, der den ersten Satz als ein Paradox erscheinen licB. Alles sind Ausschlage unruhigen Feuers. Es ist also nichts mit dem ionischen vollto-
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Fr. 30: xriopuv uivdr, xdv arfijov anovimv, oiki: HI; Httiv ovzt avd/xinav inotrjoer, ffAA'^v £rr? xai fiw» xai loitn nip actfaw, iua&fitvov phpo *«» inooptwifttvOM psipa. 64 Fr. 31: nvptK ipuiiai nparov BuXaoaa, DaXaoo7/c; Si io ju:v rjfitav yip zS Si rfpiov itfiijozijp ...
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nenden Ausgleichsgeschehen, in dem alle Gegensatzc fur ihr Vorwiegen jeweils Strafe u n d BuBe zahlen. GewiB konnten auch die Wendepunkte des Sonnenlaufs mitklingcn, sofern alle Wechsel - auch die des Jalireslaufs der Sonne - und alle U m k e h r etwas Plotzliches an sich haben, wie das in dem griechischen Ausdruck zponai gelegen ist. Aber es bleibt doch der Zusammenhang mit d e m vorangegangenen Satz bestimmend. Daher muB der Fortgang von dort her vcrstanden werden: Was geschieht im Entziinden und im Erloschcn? Kahn hat richtig bemerkt, daB im folgcndcn die Atmosphare, die Luft, fehlt 6 5 , das heiBt das, was der ionischen kosmischen Weisheit offenbar gerade das Wesentliche war und die Anschauungsgrundlage bot (Thales, Anaximenes). Ebenso scheint er mir recht zu haben, daB hier z u m Feuer sein auBerster Gegensatz, das Meer, als sein anderes genannt wird. Z u m Himmelsfeuer trite das Weltcnmcer als sein auBerster Gegenspieler. Das timmer Lebendige< ( I J O W O V Fr. 30) gehort offenbar mit Entflammen und Verloschen zusammen. Das mufi den Leitfaden der Interpretation bilden. Selbst wenn man alle spateren Unterscheidungen von Feuer und Licht und Warme fernh'alt, die sich vielleicht schon dem Unterschied von Sinnlichcm und Geistigem nahern und ihn iibcrspielen, wird schon aus obigem Satz klar, daB das Feuer nicht ein sichtbares Element ist, sondern im Gcgenteil das gegeniiber allem Bestand sicli bestandig Wandelnde. Das gerade ist seine Lebendigkeit, daB cs gleichwohl Bins ist - wie alles Lebendige. Auch das Feuer ist nach MaBen aufflammend und nach MaBen verloschend - wie ctwa auch der Lebens rhythm us von Wachen und Schlaf. So stellt das Feuer die universale Struktur alles Seins dar. Das crklart bestens das Fragment 90 66 : »Alles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles«, heiBt es i m Vcrglcich des Feuers mit dem Gold. U n d ahnlich wie Fragment 88: Alles wandelt sich wie Feuer; es schlagt aus wie die Flamme und sinkt zusammen im Verloschen. Feuer wandelt sich auch, wenn es mit Rauchcrwerk vcrmengt wird« (Fr. 67). Der Ton liegt stets auf dem Einen, das das Wahre u n d Weise ist, hinter all den vermeintlichen Unterschicdcn, ob diese n u n die Gegensatze und ihre Verwandlung ineinander oder die Relativitat u n d der Umschlag der Aspekte sind. Das Wandelbare selbst ist das Eine. So crklart sich, meine ich, am leichtesten das kosmologische Zeugnis iiber die Wandlungen. die i/mnm. Vielleicht heiBt das hier nicht >Wendepunkte<, sondern wirklich tWandlungen<. Es k o m m t nicht darauf an, ob das Feuer ist, sondern umgekehrt, daB
139ff. Fr. 90: nvpos re avrct}wif}il to ndvio xai rivp (inavwex oxTcantp xpvowXf>VtiaT<< xai xptjpaitiyv
K A H N , S. s6
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Feuer allem sich Wandelndcn zugrunde liegt - wie die Sonne. Die Einschiibe des Clemens verstehen darunter den Logos und Gott! 6 7 So scheint mir der Einsatz der Wandlungen mit dem Meer (upurov daXaoaa) nur verstandlich, wenn man darin nicht eine crste Verwandlung des Feuers in Wasser sicht, sondern einfach eine Aussage iiber den Anfang, wie sie die ionische K o s m o logie getroffen hat. Die Erlautcrang des Clemens mit oiwppa ifjc ouiKoojtr/oihK, die er anfiigt, ist insofern gar nicht so falsch. Auch im weiteren ProzeG erscheint das Feuer selbst gerade nicht als eine Phase. N u r wenn man sich dazu entschlicBt, das Fragment so zu interpretieren, meine ich, vermag erstmals der Fortgang verstandlich zu werden. Offenbar isi nur gesagt, daB Feuer zugrunde liegt, und nicht, daB Feuer sich in Erdc verwandelt und so zur Halfte Erde h e r a u s k o m m t oder daB zur Halfte Feuer zu Wind wird, wenn hciBer Wind hochstcigt. Es wird also nicht gesagt, daB das Meer zur Halfte Erdc u n d zur Halfte hciBer Wind wird, sondern daB mit dem Austrocknen von Land (sozusagen >zur Halfte*) der heiBe Wind entsteht. Das ist eine Erfahrung, die wir doch alle kennen. Wenn iiber dem Land Hitze briitct, bleibt es am Mcere kiihler. Dazu paBt dann miihclos der iiberlicferte Fortgang, daB am Ende das Meer wieder alles iiberflutet, wie cs am Anfang da war. Wenn Clemens diese Riickbildung als hnvphotc: dcuten will, mufi man feststcllen, daB da von nichts im Text steht. Der Text sagt nur, daB das Meer am Ende wieder alles iiberschwcmmt. Soli man glauben, daB Clemens wirklich im Text fand, daB am Ende wieder alles Feuer wird? U n d das hatte er dann aus Verschen nicht mehr zitiert? Wir trauen dem Wort des Kirchenvaters doch allzusehr, wenn wir hier an eine Liicke im Text glauben, weil Clemens sagt: OAFIX OIU TOVTWV OR/XOI. Das einzige, was im iibcrlieferten Heraklit-Text nach dieser Richtung weisen kcinnte, ware die avafhpiaoK, die Aufdunstung. Die Doxographie erzahlt uns da phantastischc Dinge. Da gibt es helle u n d dunkle Wolken uber Land und Meer. Aus den hcllcn Wolken fiillen sich die Flammenbecken der Gestime. Der Untcrschied von Tag und Nacht, sogar die Sonnenfinstemis soil durch diescn ProzeB crklarbar sein. Das ist alles recht trube. Offenbar hat die Quelle des Diogenes darin keinc klaren Vorstellungcn gefunden. Es scheint ehcr, daB die avadvpiaou; fiir diese miihsamen Konstruktionen das einzige wirkliche Fundament gewesen ist. Jedenfalls hat das nichts mit dem angcblichcn Weltenbrand, der >Ekpyrosis<, zu tun. Clemens hat offenbar nichts aus dem Texte fur seine D e u t u n g heranziehen konnen - sonst hatte er es gctan.
67 Clem., Strom. V. 14, 104, 4: St>Wipa yapMyti, on •m. iti'p vno tov faoixofmvt;Xdyov xai dtov la ai'fuHivii/ St' (dpiKipiinf/iai ci( vypbv "> uxon£p)ia 1 ijc Hiaxooprjcre zM;, o aiX f:i SaXauoav, t-K 8i• n/vtov nidtf ytverm yrj nai ovpavbc xai la epntpu^iificva. onw St ufiXtv ara\apf)(n£ cat xai ixnvpomm, aaipix lovmv S^Xt/i...
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Die Anschauung, die dem ganzen Text zugrunde liegt, ist am ehesten durch des Simplicius' Begriff des fipamiK&v (des >Aktiven<) beschriebcn 6 8 eine Art Generalantwort dcr aristotelischen Physik auf die lonicr. Das erste, was darauf hindcuten kann, ist die ewige Bewegthcit. Sie begegnet sowohl im ruheloscn Feuer wie im ruheloscn Urmeer. DaB von da aus das Entstehen von Land wie >Tod' erschcint, laBt sich vcrstehen. D e m ruhelosen Leben des Ozeans gegeniiber ist das feste Land wie etwas Totes. So scheint mir, daB Heraklit mit seiner Fcucrlchre die ionische Kosmogonie gleichsam hintcrfragt hat. Nicht Wandlungen des Wassers (Thalcs) oder der Luft (Anaxiniencs), sondern Feuers Wandlungen sind es, was diese beschreibt. Das wird sozusagen mit provokatorischcr Emphasc in diesem iiberliefcrtcn Text gesagt. Wenn wir nun bedenken, wic ddXaooa in dieser Zeit fast ein Sarnmclw o r t fiir das Fiussige, FlieBendc, Stromendc, Ruhelose ist (a KaXt:i ddXaoom', sagt Clemens), so schlicBt sich die ganze FluBlehre ohne Z w a n g an. Von hier aus ist nun ein letzter Schritt zu tun. Es ist gewiB cine schwierige Frage, wie sich der kosmische Aspekt der Feuerlehrc - mag sie auch noch so metaphorisch verstanden sein - mit den hcraklitischen Aussagcn iiber die Seele verkniipft. Auch ist darauf hinzuweisen, daB das Grundzeugnis dcr FluBlehre von Eusebios allcin wegen des Bczuges auf die y » x j zitiert wird, die molhinKij avadvftiaoK sei (Fr. 12). Die stoischc Interpretation, die die FluBlehre mit der Seelcnlchrc aufgrund dcr eigenen Pneumalehrc zusammenschlieBt, schcint eine allzu unsichere Basis. Daher mochte ich vorziehen, auch hier von Texten auszugchen, in denen unmittelbar Beobachtungen zu Wort k o m m e n , die cs erlauben, die Fcucrlchre Heraklits in einen Sachzusammenhang zu riicken, der in sich selber eindetitig auf >Psychisches< gcht. Das war mimerhin ein Rcsultat unserer Skcpsis gegen das kosmologische Schema der Doxographie, daB das Feuer fiir Heraklit weniger die Erfahrung s welt verstandlich machcn undbeschreiben soli, wie etwas aus anderem wird. Es geht vielmehr u m das eigentliche Ratsel des Denkens, das im Feuer liegt. Die Entstehung von Feuer wie das Erloschen von Feuer sind >ontologisch< gleich ratselhaft. Wo k o m m t es her, w o geht es hin? Mag das Verloschen n o c h - i n Glut und Asche - sichtbar versinken, abcr w o k o m m t es her? Was ist dieses plotzliche Aufflammen? Ich meinc, Heraklit suchte nicht so sehr eine Erkliirung dafur, als daB cr darin das ganze Geheimnis des aetfaov erkannte. Das Feuer als ein Element neben die >andercn< Elemente zu stellen, ist uberhaupt ein absurdes Paradox. Es ist die Lebendigkeit selbst, die sich als ruhelose Sclbstbewegung manifestiert. Das eigentliche Ratsel des Seins ist nicht, wie sich im Wcchscl des Geschehens die gleiche O r d n u n g des Ganzen erhalt, sondern daB dieses Wechsclsein selber statthat. Das hat Heraklit als das Eine in alien Gegensatzen crkannt, die Einheit des in Gegensatzen 68
S. oben A n m . 8.
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Gespannten. Das bestatigt die unzweideutige Aussage Platos, mit der er die >gespannten ionischen* Muscn gegen die >sizilischcn< abhebt. Das beschrcibt zugleich das Baugesctz jener Satze, die wir aufgrund ihrer Familienahnlichkeit Heraklit zuordnen mochten, Nicht, wie das Eine in das Andere iibergeht, sondern daB cs auch ohne U b e r g a n g das Andere ist, ist die >eine Weisheitt Heraklits. O h n e Ubergang, plotzlich wic der Blitz - das ratselhafte kt,riiipvqc, in Platos >Parmenidcs< (156d) k o m m t einem in den Sinn 6 9 , das in den eleatischen Antithesen keinen rcchten Platz findet, sowie das jieianeoovia (Fr. 88). Der raumliche Ausdruck solchcr iibergangslosen Andersheit ist das A n einanderriihren ('anisndm) — das Schliissclwort des tiefsinnigen Fragments 26: »Der Mensch in der Nacht ziindet sich ein Licht an, wenn die Augen erloschen sind. Lebend riihrt er an den Totcn, erwacht riihrt er an den Schlafenden. « 70 Der Satz gibt vielc Ratsel auf. DaB zwischen den beiden Bedeutungen von anuiv, >anziinden< und >anriihren<, eine enge semantische Beziehung besteht, weiB jeder, der cinmal die Kerzen am Wcihnachtsbaum angeziindet hat. Wenn man auch um ein ganz klcin wenig mit der anziindenden Kerze danebenhalt, ziindet es nicht. >Anziinden< heiBt >anriihren<. Wieweit diese beiden Bedeutungen hier ineinanderspiclen, ist freilich die F r a g e jedenfalls so sehr, daB von einem Wortspiel gar nicht die Rede sein kann, auch wenn das Medium nnwim im allgemeinen nicht transitiv gebraucht wird. Die Oberlieferung bei Clemens gibt immerhin einen klaren Hinweis. Es geht um die Entsprechung von Schlaf und Tod. Er spricht von der imooiaoic, T?}(; y't^v/c, die im Tod groBer sei als im Schlaf. Geht m a n hiervon aus, dann versteht man leicht: »Lebend riihrt er an d e n T o t e n . Erwacht riihrt er an den Schlafenden.« Solltefv&w (>wcnn er schlaft<) etwa v o n Heraklit fur schlcchte Ratselloser als Auflosung beigegeben w o r d e n sein? Der Stil der Polaritaten ware ohne diese Beigabe perfekt und die Losung - von dem letzten Wort ausgehend - leicht genug. Man versteht. Wachen und Schlaf, Leben und Tod riihren unmittelbar ancinander. Erwachen ist eine fi-tiafloXr), u m einen Begriff anzuwenden, den ich noch nicht bei Plato nachwciscn kann, auch wenn cr im Griechischcn umgangssprachlich ganz gcbrauchlich ist, z. B. f u r das Wetter (wie >Umschlag< bei uns). Es gibt da keinen O b e r g a n g zwischcn Schlafen und Wachen. Entwederist m a n >da< oder m a n ist nicht >da<, d. h. bei BewuBtsein. Die Phanomene, die Heraklit hier im Auge hat, sind solche >totalen< Gcgensatze, die sich eben durch die Plotzlichkeit des Umschlags 69 Vgl. JMU >Der platonische >Parmenidcs< und seine Nachwirkung<, in diesem Band, S. 322 ff. 70 Fr. 26: avdp&mrx iv £vrpp6v>i ipaoi; (inniai imrtii [anoOavuv] aiwofcodtit; otpetc,' i,iiv Si: anuitn u ih^iujt; rvtivi' lanoaficofli ii; iiyi (<,/, i'yptjyopi,K anzmoi i vfiormc.
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v o m cincn in den anderen als Ernes erweisen. D e r Wachc und der Schlafende sind ein und derselbe, der, der »am Leben ist«. Dabei ist er, wenn er schlaft, auf ratselhaftc Weise anders, nicht >da<, ist wie ein Totcr, und wir sagen auch von einem fest Schlafenden, dafi er >wic cin Toter< schlaft. Es ist etwas Geheimnisvolles in der Plotzlichkeit dieses Umschlags, wenn der Einschlafende mit einem Schlage >\veg< ist. Auch fur den Bcginn des >Todcsschlafs< gilt das, wenngleich das ein endgiiltiger Umschlag ist. Soweit scheint mir der cpigrammatisch verkiirzte Text nicht nur heraklitisch zu klingen, sondern auch Heraklits wiirdig zu scin. An etwas, was jeder jederzeit beobachten kann, ohne sich etwas dabei zu denken (anripmrnv iowatn acyidyujvai), an Wachsein und Schlaf bcgrcift cr das Eine Weise (cv aotpov) von Tod und Leben. Was aber will der erste Satz des Fragments sagen (avftpwnoc; anreiai.. J? GewiB, daB der Mensch das Feuer »beherrscht« und sich selber Licht macht, ist eine alteste Erfahrung der Menschheit, die im Prometheus-Mythos ihren Niederschlag gefunden hat. GewiB auch, daB das Anziinden oder Anbrennen etwas Wunderahnliches bleibt. Auch versteht man, das Anziinden der Kerze oder der Ollampc bcwcist die Selbigkeit des Brennenden und Brennbarcn, so daB alles Feuer ist. Aber ist das alles, cine Entsprechung zwischen dem naturhaften Erloschen und Sichcntziinden mit Schlaf und Wachen, Tod und Leben und der >Kunst< des Feuergebrauchs? Clemens zitiert das Ganze u m des Erwachens und Erwcckens willcn u n d hat iiberhaupt v o m christlichcn Glaubcn an die Auferstehung aus die christliche Verhcifiung im Blick. Dafiir muBte der offenbar authentisch ziticrtc Satz des Heraklit etwas umgemodelt werden, so daB der Satz avdpzcnoqsv svippovj] ipaoc, anuim cavii) entweder im stoischen Sinne zu verstehen ist oder durch Clemens mit Hilfe des offenbaren Einschubs auodavwv in chnstlichen Bezug geriickt wird. Das erlaubt dem christlichcn Autor, in emppovq (der >Wohlgesinnten<) nicht nur eine Art semantischer Bezcugung der Teilhabe an zpp6vrp)i<; (der >Besinnung<), sondern geradezu eine Art semantischer Bezeugung des Auferstehungsglaubcns zu crkennen. Aber wie war bei Heraklit selbst der Fortgang, die Analogic von Leben u n d Tod, Wachen und Schlaf, an den ersten Satz angeschlossen? DaB >der Mensch< sich selber ein Licht in der Nacht anziindct, weist doch auf cincn sehr besonderen Gcbrauch des Feuers: >Licht zu machern. Das paBt nicht zu der Situation des Schlafers. Auch scheint es mir abwegig, cine solche allgemeine Aussage iiber >den Menschcn* auf das Traumleben zu beziehen, wie vicle Interprctcn hier im Hinblick auf das anoo/teotkk dtpeit, annehmen. Als o b wir unscrc Traume so bcherrschten wie das Feuer, das wir anziinden, und dann wiirde der Nachdruck des »sich selber« (iavzw) unverstandlich! Z w a r setzt Heraklit die Traumwclt und Wahnwelt oft der gemeinsamen Welt des
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Tages und dcr Vernunft cntgegen. Aber falls der Zusatz anoofteadek ofiK wirklich zu haltcn ist - und er wcist ixnmerhin durch semantischen Kontrast zu >ausloschen< auf das >Anziindem hin - , muB er cine besondcre Pointe haben. Die erloschencn Augen - wenn das wirklich im Satz des Heraklit stand - geben der Nacht not wen dig einen nietaphorischcn Sinn. Die Nacht, in der wir dank dem Licht, das wir uns anziinden, nicht traumen, sondern sehen - das ist, was wir alle tun, wenn >der Mensch* crwacht! Nicht das Traumen, sondern das Aufgehen dieses inncren Lichts, das wir Denken oder BewuBtsein nennen, ist >des Menschcn< wirkliche Besonderheit (vgl. etwa Fr. 11671). O b der Zusatz anonf)ioi)(K %'t'K nun hcraklitisch ist oder von einem guten Rater des herakhtischen Riitsels als Aufldsungshilfe bcigegebcn worden ist - er trifft den Sinn 7 2 . So empfangen wir von hier eine unerwartcte Verstarkung, das Entflammen, die Selbstbewegung und die >Seelc< zusammenzudenken. Was auch immer yn>x>] mi friihen griechischen Denken gewesen sein mag, die Reihe der Aussagen, die bei Heraklit iiber die »Sccle< gemacht werden, zwingt uns, in lyvyrj nicht nur das belcbende Etwas zu sehen, das mit dem letzten Atemzug entweicht. Die sokratisch-platonischen Anklangc sind uniiberhorbar, wenngleich Pythagoras und der aus dem Rad dcr Geburten rettendc Weg der Anamnesis schon dort mitgespiclt haben mag. Geht man davon aus, daB nicht das Licht des Traumcs, sondern die Helligkcit, die wir >BewuBtsein< nennen, hier gemeint ist - und sie ist ja wirklich, wie das schlagartige Erwachen aus dem Schlaf, ein >Zu-sichKommen< (iaviu!), D a n n gewinnt der heraklitische Logos erst seine voile Aussagekraft: Das nvp fpovipov, das da aufflammt, wenn einer >zu sich* k o m m t (bei manchcn Schlafern dauert das cine Weilc!), ist nicht Vereinzclung, wenn einer aus der Nacht auftaucht, sondern der Weg zurTeilhabe am gemeinsamen Tage und der gemeinsamen Welt. Sie wird im tfpovnx u n d im \oyo<; erworben und wird freilich auch im Wahn vcrfehlt. So schlieBt sich das Ganze dcr heraklitisehen Lchre an den Tiefsinn dieser Analogien und Proportionen an, in denen Feuer u n d Sccle, Wasser und T o d so eigentiimlich verschrankt sind, und doch durchbrechen diese Aussagen zugleich die Schrankcn dieser Verschrankungcn u n d nchmen dadurch einen appellierenden Charakter an u n d mahncn zur Einsicht. Freilich scheinen manche dieser Mahnsatzc kaum den morphologischen Kriterien fiir cchten Heraklit-Stil zu entsprechen, von dem ich ausgehe.
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Fr. 116: Mp&mmn nam fihemt yiv&naiv hcvtovc. xai owppovttv. (Anfangliches Frigen, S . 1 5 6 - 1 6 0 ) blickt der Sache nach in die gleiche Richtung, nimmt mir abcr diese >Physik der Seele< noch immer zu wortlich - und auch wieder nicht wortlich genug, wenn er von anmv den wortlichen Sinn v o n ianriihrein ganz ausscheidet, der in dem einleitenden Satz unentbehrlich ist. 72
HOLSCKER
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A b e r o b das nicht vielleicht oftcrs an der triviahsierenden Zitierung liegt? Ich gebc ein Beispiel, an dem sich die Abtragung solcher Trivialisicrnng in zwci Schritten vorfuhren laBt. Es ist das Fragment 46: vjv it ohjow ispav vooov i:.\t )t Kcti z7/v bpuaiv i/ifvdiodat, »das Wahnen nannte er Fallsucht und das Sehen triigerisch«. DaB man die Aussage iiber die oh}ot<; aus d e m erkenntnisthcoretischcn Zusammenhang, in dem sic hier erschcint, herauslosen muB, ist hcute anerkannt. M a n mufi dem Wort scincn ursprtinghchen moralischen Sinn zuruckgeben, der nichts mit Platos tio^u zu tun hat 7 3 , DaB der erkenntnistheoretische Gcbrauch des Wortes bei Plato (Phaid. 92a, Phaidr. 244c) nicht der urspriingliche ist (vgl. Eur. Fr. 643), schcint mir keincs Beweises bediirftig. Dagcgen legt die pragmatischc Bedeutung von aiapai =>voraussehen< bei H o m e r nahe, oiquix, als >Wahn(, wahnhafte Selbstsicherhcit, blinden O p t i m i s m u s zu verstehen. Von da ergibr sich als das bevorzugte Objekt wahnhaftcr Selbstsichcrheit das eigene Selbst. So versteht sich o'iipnc; als Selbstcinschatzung. Will nun Heraklit wirklich den frostigen Scherz mit der Fallsucht machen, wenn er oh/OK mit ihr vergleicht? Gerade wenn man den >tcchnisch< gewordenen Ausdruck fur die Epilcpsie, die hcilige Krankhcit zu sein, im Auge behalt, sollte man nicht zuviel Gewicht auf das >Fallen< als solches legen. Die iheilige Krankheit< der Fallsucht enthalt vielmehr die Konnotation, daB ihr gegeniiber f r o m m e Scheu und Schonung des von ihr Hcungesuchten geboten ist. Einen von ihr zu Fall Gebrachtcn zu berauben oder sonstwie zu schadigen ware gcradezu cin Sakralvergchen. N u n denke ich, Heraklit will hier etwas Wichtiges sagen. Das M o m e n t von Scheu und Schonung k o m m t auch der Meinung zu, die alle Mcnschen von sich selbst haben. Ein M o m e n t des Wahns, der blinden Selbstschonung, liegt i n j e d e m Mcnschen. Man mag es eine Krankheit nennen. Mit Selbstkritik und Vernunft, mit Hilfc der alien gemeinsamen Vernunft dariiber hinw e g z u k o m m e n wiirde zu einer richtigeren, gesunden Sclbstcinschatzung fiihren, rriimcrliin verlangt diese >Krankhcit< - sowcit sie eine ist - eine gewisse Schonung. O h n e eine (noch so bescheidene) Meinung von sich selber zu haben, kann niemand aushalten. Joseph Conrad hat in 'Lord Jim< die Lebenstragodic einesjungen Mannes beschriebcn, der schuldhaft diese Meinung von sich selbst ganz cingebiiBt hat. Der paradoxe Satz will gewiB nicht zur Schonung von Illusionen iiber sich selbst aufrufen. Aber Heraklit sieht die Macht der Illusionen, die cm jeder " So begegnet in Fragment 131 das Wort in dem hier zu erwartenden Verstandnis: (rXcyt: lip;) vh(Oi\ nfjoKoiiJ^ echtester Gnomenstil ubrigens. Auch sonst ist es als >alt< bezeugt: Joh. Damaso., Sacra par. 693e (vgl. M O N D O L P O / T A F A N , Eraclito. Tesdmonianze e Imitazioni. Firenze 1972, S. 221 f ) , etwa auch bei Euripides Fr. 270: SdkijOK, ahnlich wie Heraklit Fr. 17 HOKEOVUI. Natiirlich belegt das nicht den Wortgebrauch von OHJ<JK (und C o r p . Hipp. IX, 230 Littre ist auch kein wirkliches Zeugnis).
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iiber sich selbst hat, rich tig - so wie er rich tig sieht, dafi das mcnschliche Schicksal nicht durch die gottliche Fiihrung eines >Daimon* gepragt wird, sondern durch die eigenc Fiihrung des Lcbens (>Ethos<); auch das sagt das Fragment 119: T^O^MPWRNP SAIPICV. Sollte nicht beides bei Heraklit gestanden haben, das Unhcil des Wahns u n d das Gebot der Schonung? Es konnte da gestanden haben (Fr. 43 und daran anschlieBend Fr. 46): uppiv xp>>l ojkwvvai jiaMov rj nvpKartjv' z//i'tieo'iqoiv iepav vooov ehyf ... Vielleicht ist es so. Das, wie so vielcs andere, entsprachc gewiB dem tiefen Blick des Seelenkenners Heraklit. Es ist unverkennbar, dafi sein Dcnkstil weit mehr der Pragnanz u n d Scharfc gnomischer Spruchweisheit nahesteht als ionischer Wissenschaft. Die kritische Konfrontation mit dieser, die in der Fcuerlehre ihren Ausdruck hat, lafit crstaunliche Aussagen iiber die >Psychc* und ihren >Logos< zustandc k o m m e n . DaB der Logos der Seele »sich selbst vermehrt** 74 , muB - meine ich - mit all den Aussagen zusammengesehen werden, die cine verborgene Einheit hinter dem Gegensatzlichen als das >Einc Weise< auszeichnen. Man darf hier nicht im post-cartcsischen Stile die >substanzielle< Unterscheidung des AuBeren und eincs Inneren voraussetzen - man muB die schlichteste Beobachtung darin erkennen, daB yvyjl > Leben* ist und daB das Lebendigc im Unterschied zu allem S u m m e ist, das deshalb mehr wird, weil etwas dazugekommen ist, >sich< vermchrt, >sich< entfaltet, >sich* bewegt und am Ende >sich< sucht. Dieses >sich<, das in allem >Umschlag< eines und desselben steckt, setzt Heraklit dem milcsischen Gegensatzdenken entgegen. Das Sich-Entzunden des Feuers, das Sich-Bewcgen des Lebendigen, das Zu-sich-Kommen des Erwachenden und das SichDenken des Denkcns sind Manifestationen des einen Logos, der i m m e r ist. Das geheimnisvolle >sich< ist cs, dem der ganze Tiefsinn Heraklits gilt. In unnachahmlicher Weise halt er da die einzige Mitte, die der Reflexivitat des SelbstbewuBtseins im neuzeitlichcn Denken verlorengegangen ist: amrtat cuviit. Ist cs anziindend - >fiir sich selbst*? - oder ist cs >von selber* entflammend wie das Scheit Holz im Kamin? Das nicht zu wissen, ist das »allein Weise**. Man versteht von da aus, wie die platonische Frage nach dem Einen u n d Vielen sich in den >gespannten< Musen Ioniens wicdererkennen konnte. Heraklits Vision schautc, wie es scheint, Lebendigkeit, BewuBtsein und Sein zusammen. - Es war eben diese Aufgabe, das so Getrennte zusammen zu denken, vor die sich Plato gestellt sah. D e r >Phaidon* erzahlt anschaulich diese Geschichte, die mit dem Naturprinzip der > Seele* anfangt, daB das >Leben* doch nicht ohne die R u n d u n g zum Kreislauf scin kann. Deshalb erneuert die Natur in rhythmischer Wiederkehr i m m e r wieder das Leben, so daB kein Tod fur es ist. Aber das ist nur em Aspekt von Leben und Sccle. Da 7A
Fr. 115: yvx>!<.t<>"X6yoc,eavidvfrfi^wv.
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ist auch das Leben, fiir das der Tod etwas ist, weil ein Mensch etwas anderes ist als nur ein Glied in der Kette des rhythmisch rollcnden Lebcns. Das Leben hat Gedachtnis, so daB es mehr wird im >Erfahren<, >sich< mehrt im D u r c h fahren des kreisenden Laufes des Lebcns. Das ist die Denkhandlung des >Phaidon<. Sokrates zcigt den Frcunden, wie das Prinzip des Lebens und dieses andcrc Prinzip des >Denkens< und der >Anamnesis< Eines sind und cbenso untrennbar wie das Werden und das Sein. (Anaxagoras wuBte das nicht zu vcreinigen.) Die gleiche Einsicht verkorpert der Mythos des >Phaidros< von der Auffahrt der Seele und lhrem Sturz. Hier macht ein wahrcr Mcister der poctischen Rede und der spekulativen Irome, zu dem Plato seinen Sokrates stilisicrt und inspinert, seinem jungen Freunde bewuBt, der dem rhetorischen Virtuosentum gedankenlos gefolgt war, daB Eros etwas anderes ist als jene Kalkulation v o n Gewinn und GenuB, die das Redekunststiick des Lysias vorstellte. Aber bevor der Strom mythischcr Imagination seinen alles mitreiBenden L a u f b c g i n n t , schickt Sokrates wie einen Beweis voraus: >>AUe Seele ist unsterblich.« U n d : »Alles, was Seele ist, bekimimcrt sich um das Unbeseelte. w75 Siehc da, plotzlich wird >Seele< zum Prinzip der Selbstbewegung! Die Geschichte, die dann erzahlt wird, berichtet, daB dieses Prinzip, das das ganze All durchwaltct und durch das der Himniel seine O r d n u n g cinhalt, auch in der Seele des einzelnen seinen O r t hat, und zwar in der Einheit von diebeni und >lernen<. Sofcrn >Lerncn< Erinnerung an das Wahre, >Anamncsis« ist, hat ein jeder am Wahren teil. Das ist offenbar die groBe Einsicht, auf die Plato hier hinzeigt - das nennt er hier (htoSafyc; (245c 4 ). Die Selbstbewegung ist ein wahres Wunder. Wahrend sonst alle Bewegung von etwas bewegt wird und nur so lange in Bewegung ist, wie es bewegt wird, ist das Lebendige, das Seele hat, aus eigencm Antricb in Bewegung, und ist immer in Bewegung, solangc es am Leben ist. Das hat seine eigene Evidenz. Diese Evidenz ist stark genug, daraus nochmals einen Beweis fiir die U n stcrblichkeit der Seele abzuleiten. Die Welt, dieses groBe Ordnungsgefiige aus astrischen und irdischen Bewegungen, laBt sich mit dem Gedanken eines Stillstandes iiberhaupt nicht verbinden. Daraus schlieBt Sokrates: Also muB das auch immer da sein, was Ursache solcher Selbstbewegung ist, die Seele. Es sieht so aus, als ob Plato hier eine Erwartung erftillt, die, wie es im >Charmides< (169a) heiBt, »nur ein schr weiscr Mann« erfullen konnte, namlich zu zeigen, daB es cine tivvapic gibt, die auf sich selbst geht und nicht auf anderes 7 6 . Er wiirde sich damit zugleich als der delische Taucher erweisen, der aus den dunklen Tiefen Heraklits etwas Kostbares ans Licht brachte. 75
Phaidr. 245c 5 : "&O
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Auf diese Weise deutet Plato das Sein des Menschen 1111 groBen Rahmen des kosmischen Geschehens, indem cr die beiden Aspektc dcr Sclbstbewegting und des >Logos< in rnythischen Metaphern vcrcmigt. Aristoteles suchte diese Vereinigung in seiner Begriffsbildung (xi'v/jinc;, roqni^ hi-pytu') zu vollziehen 77 , und Hegel, der grofie Aristoteliker dcr Neuzeit, folgte ihm. Aber hat nicht auch Heidegger recht, wenn cr hinter die Metaphysik zuriickfragend Heraklit entdeckt, in dem alles noch ineinanderspielt? Hatte er mcht auch Platos Dialektik entdecken konncn, in der das Spiel dieses Gedankens weitergcspielt wird?
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Da fur bczieht auch er sich auf Heraklit: Dean. A 2, 405a 25 _ 2e : to Si Ktvofyttrov Kivuvficrv ynmixrodai. Aber auch in 405a 3 ist Heraklit mit gemeint (not nip).
4. Sokrates' Frommigkeit des Nichtwissens (1990)
Von dem platonischen Sokratesbild, das Platos Schriften zeichnen, soil hier die Rede sein, und nur von diesem, nicht von dem, was die andere Oberlicfcrung, etwa Aristophanes, X e n o p h o n oder auch Aristoteles und die sonstigcn Zeugnisse tiber Sokrates sagen. Auch wer nur das platonische Zeugnis ins Auge faBt, wird sich der bestimmenden Rolle bewuBt, die die Figut des Sokrates fur die religiose Tradition Athens spielt. Sie ist so beherrschend, daB nicht nur die auf den AsebieprozeB ausdriicklich Bczug nehmenden Schriften, wie der >Euthyphron<, die >Apologie< und der >Kriton<, sondern daB auch die groBen Werke der Reifezeit Platos, der >Phaidon<, das >Symposiom, die >Politeia< und der >Phaidros<, einem bestandig in den Sinn kornliien, ganz zu schweigcn von d e m Altersvermachtnis, das das zehntc Buch der >Nomoi( darstellt. Indessen, es ist fur den heutigen Menschen, der ebensosehr von der christlichen Oberlicferung wie von der tnodernen Aufklarung seine Pragung empfangen hat, nicht ganz leicht zu vcrstchcn, wie sich die sokratische Forderung der Rechenschaftsgabc mit der religiosen Tradition Athens vcrtrug, die der gesamten Rechtsordnung als Grundlagc diente. DaB es hier Spannungen gab, versteht sich. Aber deren Bedeutung zu erniessen, verlangt eine allgemcine Erortcrung des Verhaltnisses von Religion und A u f klarung im Ganzen der griechischen Geschichte. Das ist eine Aufgabe, bei der sich der philosophische Interpret nicht als Forscher zu Worte mcldcn kann. Seine Aufgabe kann nur sein, das, was er aus der Forschung aufgenomnien hat, unter die Gesichtspunktc seiner Fragestellung zu riicken. Diese Fragestellung bietet d e m Ganzen der vorangehenden wie der folgcnden Studien zur gricchischcn Philosophie den hermencutisch.cn Lcitfaden. U m uns die Schwierigkeit der Aufgabe, die auch dann noch dem Philosophen bleibt, klar zu machen, mochte ich als erstes die Ausdriickc untersuchcn, die unscr T h e m a bezeichnen. "Was bedeutet auf gricchisch >Religiositat<, und was bedeutet >Rehgion Eine wirklichc Riickubcrsetzung dieser Ausdriicke aus dem Latemischen ins Griechischc kann cs eigentlich nicht in angemcssener Form geben. Wir diirfen das, was im Falle des Sokrates
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Religion bedeuten kann, nicht von unserem Religionsbcgriff her verstehen wollen. >Religion< ist iiberhaupt kcin griechisches Wort, und was gricchische Religion wirklich war, ist fur jeden im christlichcn Abcndland erzogenen Gelehrten und Denker geheimnisvoll-frcmd u n d von den spateren Begriffen vonTheologic und Metaphysik aus unfaBbar. - Etwas anders ist es mit dem Ausdruck >Religiositat<. Das ist ein romischer Ausdruck, fiir den es im Griechischen Aquivalcnte gibt, die das gesamte Bedeutungsfeld abdekken. Hier ist die Schwierigkeit eher die umgekehrte, daB es im Griechischen eine Reihe von Ausdriickcn gibt, die dem Wort >Religiositat< oder, wie wir jetzt dafiir sagen wollen, >Fr6mmigkcit< nahestehen u n d seinen Sinn u m schreiben. Es ist im besonderen der lateinische Begriff der >pietas<, der den Leitfaden bildet. Man muB mindestens drei griechische Ausdriicke in den Blick nehmen, die einander nahe verwandt sind und ungefahr das meinen, was wir mit Religiositat und Frommigkcit im Augc haben. Da ist einmal das omov, das Ehrfurcht und Vcrchrung verlangt, sodann gvof/kia, die schcuc Ehrfurcht selber, und schlieBlich muB man sogar an aiSa-c mitdenken, an die ehrfurchtsvolle Scheu, ein Wort, das freilich nicht notwendig mit dem Verhalten dem Gottlichen gegeniiber vcrbunden sein muB, aber doch oft einen leichten Beiklang von Ehrfurcht und Verehrung des Hoheren besitzt. Die Z u g c h o n g k e i t dieser griechischen Ausdriicke zur sokratischen Frage und dem sokratischen Niehtwissen wird sich bei der Interpretation des platonischen Sokratesbildes als wichtig erweisen. Auch das Wort a-iSaK weist - wenn auch nur indirekt - auf das Religiose, denn es bezieht sich stets auf etwas, das von hoherem Seinsrang ist und dem gegeniiber die iiberlegene Haltung dessen, der weifi und Wissen beansprucht, unangemessen ist. Jedenfalls meinen alle diese Ausdriicke etwas, w o m i t auch wir in unserer aufgeklarten Welt nicht ganz unvcrtraut sind. Was Religion bei den Griechen war, das ist freilich cine ganz andere schwicrige Frage. Von >homcrischer Religion* zu sprechen, konnen wir kaum noch wagen. Man mag die Gotterwelt der Griechen, die H o m e r schildert, mit dem christlichcn Ausdruck >heidnisch< nennen. Aber das lateinische Aquivalent zu heidnisch, >pagan<, klingt mehr romisch. Es ist von der >urbs< aus gedacht und meint eigentlich die Religion der stadtfernen Gaue. Das ist das Pagane. Spater ist dann fur das deutschc Wort >Heide< im lateinischen christlichen Mittelalter das Wort >gentes< eingetreten, d. h. die Volker, die nicht Christen sind. Die Worteomov, evofffcit;undtvof/hjc, jasogarfltrwz^cundcvaifina, crscheinen bei Plato fast vertauschbar. Doch tritt im griechischen Sprachgebranch platonischer Zeit der Ausdruck ouiov m e h r und m e h r gegeniiber dem Ausdruck rvotjkw und ivoc.ftijc zuruck. Offenbar ist in der Sache selber ein Doppelaspekt gelegcn, der sich auch im Deutschen in der N a h e der Ausdriicke des Heiligcn u n d des F r o m m e n anzeigt. Letzteres ist eine Haltung des
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Menschen, ersteres charakterisiert all das, w o z u m a n sich so verhalt, die Gotter, die gottlichen Dinge u n d alles das, was in den Kultbereich gehort und was die Griechen id dtia nannten. Im allgemeinen zogen die griechischen D c n k e r e s vor, im philosophischcn Z u s a m m e n h a n g den Singular des N e u t r u m zu gebrauchen, doch spricht m a n sonst auch g e m im Plural des N e u t r u m von id deia. Das hat stets die Bedeutung eines Hinweises auf einen ganzen umfassenden Bereich, wie in anderen kollektiven Ausdriicken, wieTOnnvm, lit Suva, id ay aba. und so ftihlt sich etwa ein Seller, wie wir sehen werden, als ein Experte in den gottlichen Dingen, und spricht von id detov1. Der Ausdruck if) deiov, >das Gottliche<, bezeichnet offenbar etwas, was in einer menschlichen Grunderfahrung auf unbestimmte Weise mit der Gegenwart von etwas verkniipft ist, das durch seine Machtigkeit den U m k r e i s unserer alitaglichen Erfahrung iibersteigt. £ s ist die unbestimmte Gegenwart einer unheimlichen Daseinsmacht, die durch den Gebrauch des grammatischen N e u t r u m s zu starkem Ausdruck k o m m t . Wenn Sokrates gegeniiber d e m Gottlichen, deru thiov, seine wissende Unwissenheit betont, so hat das hier im >Euthyphron< einen besonderen Akzent. Es ist nicht die ublichc Weise, in der sich Sokrates als Unwissender einfiihrt, Es ist eine betonte Unwissenheit. So klingt es, wenn es sich hier u m das Gottliche handelt, nicht so ironisch wie sonst. Es ist wirklich schwierig, sich ernsthaft vorzustellen, dafi j e m a n d iiber das Heilige Bescheid weifi. So ist es bezeichncnd, dafi Sokrates sein eigenes Nichtwissen gcradczu als unser Nichtwissen bezeichnct (Euthyphr. 6b). GewiB, das meint hier den Kontrast zu dem angeblichcn Experten in den gottlichen Dingen, mit dem er cs zu tun hat. D o c h klingt es im hcichstcn Mafie erstaunlich und unglaubhaft fiir Sokrates, daB E u t h y p h r o n in bezug auf das Gottliche den Anspruch von Wissen erheben kann, und dann klingt es freilich ironisch, wenn Sokrates ganz im Ernst von einer Wissenschaft iiber das F r o m m e und das U n f r o m m e spricht, die er von dem Schcr E u t h y p h r o n zu lernen gchofft habe und die er n u n beim Auscinandergehen nicht habe lernen konnen. So habe er Sorge, nicht in der Lage zu sein, in seinem ProzcB den Anklager Meletos davon zu iiberzeugen, daB er selber iiber das F r o m m e u n d das U n f r o m m e richtig denke. Was heiBt denn iiber die gottlichen Dinge richtig denken? Das Negative ist klar. So zcigt etwa die Dichterkritik der >Politeia<, wie man in den Augen
1 Der Schritt zum Singular id fteiuv impliziert im Grunde schon einen Schritt zum Begriff. Der Plural des N e u t r u m s umfaBt eine unbestimmte Vielheit, wahrend der Singular das Eine, alien Gemeinsame zum Ausdruck bringt. So finden wir das etwa bei dem Plural LA ayada und dem Singular 10 iiyttHnv, und vollends klingt TO di itiv im Unterschiedc zu IRT dria, den jgottlichen Dingeix, geheimnisvoll u n d ungreifbar, und doch wie etwas v o n ausgezeichneter Bestimmtheit, die sich heraushebt wie t i n t blcibende Hinsicht, cine lota.
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des platonischen Sokrates fiber die gottlichen D i n g e nicht denken darf u n d daft man nicht glaubcn darf, daB Streit und Feindschaft zwischen den G o t tern bestehc. Die Vorstellung cines Sachvcrstandigen in gottlichen Dingen, welche Sokrates in scinem AsebieprozeB helfen konnte, ist von abgriindiger Ironic u n d ist keineswegs eine nur sokratischc Ironic. Erst recht wird es deutlich bei j e n e m Punkt, der in dem AsebieprozeB dann eine verhangnisvolle Rolle spielen sollte, namlich daB Sokrates neue Gottcr cinfiihre, wenn er sich auf sein >Daimomon< berief. Schon die vorsichtige Redewcise eines N e u t r u m s , d. h. >ctwas Damonischen<, schlicBt die Vorstellung aus, daB cs sich hier u m die E i n f u h r u n g eincs neuen gottlichen Wesens handclte. DaB einer sich auf die gottlichen D i n g e versteht so wie ein H a n d w e r k e r , der sich auf seme Sache versteht und sich zu verhalten weiB, klingt geradezu absurd. Wenn E u t h y p h r o n sofort crrat, daB vielleicht das Oaij-ioviov bei der Asebicanklage eine Rolle spicle, so beleuchtet das nur nochmals, wie fern v o n den eigentlichen Fragen religioscr E r f a h r u n g die ganze Prozcdur dieser Anklagc sich befand. Aber nicht minder fern ist der Anspruch des i h m wohlgcsinnten Experten E u t h y p h r o n - und das k o m m t w i c d e r u m in dem Gcsprach heraus - , w e n n Sokrates das Wissen von den gottlichen D i n g e n gar mit dem Wissen u m die Zahlcn und dem mathematischcn Wissen verglcicht, bei dem es in der Tat niemals Streit geben wird, weil man Fchler durch Nachrechnen kontrollicren kann. Mit allem Heiligen ist cs doch w o h l etwas anderes und cbenso auch mit dem Guten. Dieses hochste MaB an Wissenswertcm, was man da lcrnen sollte, dieses pi-yWTov /ii/fhjjin, kann wahrlich nicht nach dem Vorbild mathematischen Wissens gedacht werden. Das leuchtet in dem Gcsprach mit E u t h y p h r o n nicht ein, und ich meine, das soli auch nicht einleuchten 2 . Ich bin d c r E v i d e n z dieser Sachlage gefolgt, wenn ich den Unterschied der mathematischen >Episteme< von der Dialektik sehr betonte und das Wissen u m das Gutc bis in die aristotelischen U n t e r s c h e i d u n g c n hinein vertolgte, die sich bereits bei Plato anbahncn, insbesondcre, wenn im Dialog v o m Staatsmann zweierlei MaBbcgriffe untcrschieden w e r d e n (Polit. 283ff.). Es war ein erstaunliches MiBverstandnis, wenn Werner Jaeger sich fur seine entwicklungsgeschichtliche K o n s t r u k t i o n ausgerechnct auf den >Politikos< berief und auf den Begriff des Gcnauen selbst (ainb to anpifieQ), den Plato dort einfuhrt (Polit. 284d 2 ). Gerade hier bcfindet sich das platonischc Denken sichthch auf d e m Wege zu der U n t e r s c h e i d u n g des mathcmatisch Gcnauen von jener Genauigkeit, die man a m ehesten in dem aristotelischen Begrift der yp6v?}oi<; formulicrt findet. Das habe ich in meiner Arbeit >Dic Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles< 3 zu zeigen vcrsucht. Wir werden 2 3
Vgl. Eurhyphr. 7d, 12d, und zum >Guten< Rep. VI, 5(J5a. Siehe in diesem Band, S. 197.
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noch Gelegenheit haben, diesen Punkt zu iibcrpriifen, wiewcit nicht auch die Idee des Gutcn etwas von dem besonderen Charaktcr der Gegenwartigkcit hat, den das N e u t r u m mit sich fiihrt. Bei d e m Gotdichcn kann man daran jedenfalis nicht zweifeln. Was heiBt hier >WissenDas Gottliche* ist nicht ein bestimnites untcr den gottlichen Dingen, iiber die man meint Bescheid wissen zu konnen, etwa ob dies etwas Gutcs oder jenes etwas Schlcchtes ist, ob dies ein uns wohlgesinnter Gott ist oder ein uns feindlicher. >Das Gottliche< ist etwas anderes, eine Gegebenheit, die m a n nicht fassen kann und deren Dasein man als all gegen wartig weiB, in eben dem Sinne unbestinitnter Gcgcnwart, den das N e u t r u m zu evozieren weiB. Diese gramniatischc Form findet sich dahcr mit Vorliebe auch im Deutschen in der Sprache des lyrischen Gedichtes, in dem wenig oder nichts Bestimnites crzahlt wird, sondern vielmehr so etwas wie Stimmungskraft alles durchstimmt. Eben das gilt fur die griechische Erfahrung des Gottlichen, und zwar von friih an. Man darf sich hier auf die ausgczcichnete B e m e r k u n g des groBen Philologen Wilamovvitz bcrufen, der gesagt hat, deo^, >Gott<, sei iiberhaupt nicht ein Subjekt, sondern ein Pradikat 4 . Das heiBt, es ist damit nicht ein Etwas angesprochen, das als ein Bestimnites vorliegt und dem man Eigcnschaften zuspricht. Auch in den Schilderungcn Homers fallt es auf, wie die Menschcn von den Gottern und zu den Gottern reden. N u r mit vorsichtigcr Scheu wagen sic die Gotter mit N a m e n zu nenncn, u m deren Hilfc sie flehen, wie bcreits seit langem an H o m e r beobachtet worden ist. Auch sonst begegnet man itn menschlichen U m g a n g der Griechcn mit dem Gottlichen einer Vorsicht und Scheu, die die cigenc Bcschranktheit und Unwissenheit der Sterblichen bekennt. Glcichwohl hat das religiose Leben der Griechen cine crstaunliche Viclgcstaltigkeit cntfaltet und in der Mannigfaltigkeit lokaler u n d regionaler Kultiibungen eine reiche Sagenfiillc zu Icbendigster A u s f o r m u n g gebracht. Das andert nichts daran, daB das BewuBtsein des Mcnschen gegeniiber dem Gottlichen eine fast unbegreifliche Distanz und Feme einhiilt. N o c h mehr als der Vorrang des N e u t r u m s , ist cs ein anderer Vorbegriff, der fur uns gegeniiber der Erfahrung v o m Gottlichen selbstverstandlich ist, der Begriff des Glaubens, der im Christentum entscheidende Bedeutung hat. Schon das Wort, das im Neuen Testament fur >Glaube< eintritt, numc, hat dort einen ganz anderen Klang von personlicher VerlaBlichkeit und Ver4
In seinem beriihmten Altcrswcrk mit dem Titel >Der Glaube der Hellenen. (Hd. I, Berlin 1931, S. 17f.).
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trauthcit - was in dieser Wcisc auf das Verhaltnis des Griechen zu seinen Gottern kaum j e A n w e n d u n g fin den kann. Selbst wenn man sich als Liebling oder gar als Verwandtcr einer Gottheit weiB, an die m a n sich wendct, blcibt ein Abstand. Der Begriff nimu; dagegen, dcr im Neucn Testament zu entscheidender Bedeutung aufsteigt, ist auf das personliche Verhaltnis zu dem einen Gott gegriindet. Im klassischen griechischcn Denken bedeutet mans dagegen nur eine Erkcnntnisform, und zwar eine mindere Form von Wisscn, das zwar glaubwiirdige Bezeugung meinen kann, aber nicht bcweisbare GewiBheit in Anspruch n i m m t . Das ist also eine theoretische Nuance, die in dem altcn griechischcn Sinn von niimt; liegt, die das Verhaltnis zum Gottlichen oder gar den Rang des Gottlichen nicht wirklich zum Ausdruck bringen kann. Wir werden spatcr sehen, dafi die Gotter nicht eigentlich Pcrsonen sind, und das hat Konsequenzen, die in diesem fun damental en Unterschied liegen. Als ich als j u n g e r Professor in M a r b u r g an dem Seminar des beriihmten Neutestamentlers Rudolf Bultmann tcilnahm, dcr cin verehrtcr Freund von mir war, erinncrc ich mich, daB er an die Studenten die Frage stellte, wie denn »Der Glaube der Hellenen« eigcntlich auf gricchisch wiedcrgcgcben werden miissc. Die Antwort, auf die er wartete, war offenbar evaifkta. Alle anderen Antworten dcr Studenten gcficlcn ihm nicht. Da schlug ich vor: »Die Gotter Griechenlands«. Das fand keine Z u s t i m m u n g . Ich halte es noch heute fiir die einzig angemessene Antwort. Damit wolltc ich sagen, daB es fur die Griechen beim Denken des Gottlichen in erster Linie nicht urn das menschliche Verhalten zum Gottlichen geht oder gar um die inncrlichc GewiBhcit des glaubigen BewuBtseins. Sie lebten vollstandig nach auBen und waren ganz davon erfiillt, daB die sie umgebendc Wirklichkcit von der Gegenwart des Gottlichen belebt ist. »Alles ist voll von Gtittern«, hat angeblich Thales gesagt, wie wir aus Aristoteles 5 wissen. Mein cigcner Vorschlag, statt »Der Glaube der Hellenen« »Die Gotter Griechenlands« zu sagen, w a r obendrein eine Anspielung auf ein andercs bcruhmtes Buch, von Walter F. Otto, der auch einmal Schiiler von Wilamowitz gewesen war. In diesem Buch suchte O t t o zu zeigen, daB die griechischcn Gotter die Erscheinungsweisen der Welt selber sind, Aspekte der Wirklichkeit, die dem M c n schen in ihrer iiberwaltigendeti GroBc anschaulich und iibcrmachtig vor Augen traten. D a geht es nicht in erster Linie u m die innere Verfassung dessen, der diese religiose Erfahrung macht, und nicht u m Glauben — als ob man an Wirklich em zweifeln konnte. Selbst die an sich einleucht ende Einsetzung v o n evoefista, die Bultmann im Auge gehabt hat, fur das, was wir etwa Frommigkeit nennen konntcn, trifft den eigentlichen Charakter der griechi-
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D e a n . A 5, 41la fi .
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sehen rcligiosen Erfahrung offenbar weniger als der Begriff des daiov, des >Heiligen<. DaB das so ist, hat seine deutlichstc Bekundung in dem sakralrechtlichen Ausdruck, der fiir das Verhalten zum Gottlichen im Gebrauch ist. Der griechische Ausdruck ist natnlich vojiHeiv. >Nornos<, das ist aber vor allem der Brauch, das, was in offcntlicher Geltung steht und Anerkennung fordert. So weist das Wort vojiiieiv ganz in die Sphare der Offentlichkeit. Es geht nicht um die innere GcwiBhcit cines Fiir-wahr-Haltcns dessen, was man nicht sieht, oder um die Intimitat des personlichen Gottesvcrhaltmsscs, sondern um das feststellbare Verhalten in der Offentlichkeit. So tneint voju^Eiv vor alien Dingen die Befolgung der kultischen Brauche, und nur in zweiter Linic, daB man auch die Existenz des Gottlichen anerkennt, das man so verehrt. GewiB kann man diese beiden Dinge nicht vollig voneinandcr trennen, und die Teilnahme am Kult schlieBt immer die Anerkennung des kultisch Verchrtcn cin, so wie auch in der katholischen Lehre der Vorrang des Gebetes eben auf diesem Z u s a m m e n h a n g bcruht. Wir kennen das wahrlich aus den todesmutigen Verweigerungen friiher Christen, die liebcr in den T o d gingen als auch nur die Ritcn des romischen Kaiserkults zu befolgen. So cng war in der antiken Welt mit der Oberzeugtheit der Mcnschen die offentliche Darstellung ihrer Ubcrzcugungen verkniipft. Was war dann also das Wissen vom Gottlichen, wenn man so dem Kulte gehorelite? Wenn wir so fragen, miissen wir uns klar sein, wie sich die Oberlieferung iiber das Gottliche und iiber die griechischen Gotter im damaligcn Griechenland vollzogen hat. Es gab ja keme Religion des Buches. Die >Theologen< unter den Gricchcn, und so werden sie von Aristoteles genannt, waren die Dichter. Das bedeutet etwas. Das ist nicht Theologie in unserem Sinne des Wortcs. Wenn man im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der groBen Homerforschung, >die homcnschcTheologie< dargestellt hat, so war das gewiB nicht die griechische Religion. Diese homcrische Schilderung der olympischen Gotterfamilie, in der sich Zeus, als der Vater der Gotter und Mcnschen, in einer absoluten Herrscherrollc befand und die Macht hatte, alle Gotter, wenn sie ihm nicht gehorchten, an einer Kette aus dem O l y m p herauszuhangen, bis sie angstvoll klcin bcigaben und seine hoheHerrlichkeit wieder anerkaimten. Was ist das iiberhaupt mit der olympischen GStterfamilie? Man mochtc sich fragen, ob das nicht weit mehr eine poetische Deutung der Einheit und der Vielheit ist, in der das Gottliche in Griechenland Verehrung fand. So hat doch offenbar der beriihmte Satz des Herodot scincn Sinn, daB H o m e r und Hesiod den Gnechen ihre Gotter gegeben hatten. Das will gewiB nicht sagen, was ja auch unsinnig ware, daB Dichter so etwas konnten, den Menschen Gotter zu geben. H o m e r hat den Gnechen nicht ihre Gotter geben konnen. Was Herodot sagen will, ist vielmehr, daB die zahlreichen und
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verstreuten Formen religioscn Kultes und Brauches und Sagengutes unter den Griechen z u m ersten Male v o n H o m e r und Hesiod zu einer Einheit zusammengefaBt worden sind. Insofern kann man, wie Aristoteles tut 6 , sie mit Recht die ersten deoXoyqamifc nennen, die ersten, die v o n den Gottern in einem sie alle umfassenden berichtendcn Sinne redeten und K u n d e gaben. Das war gewiB eine sehr bedeutende Leistung, die zu der Z u s a m m e n g e h o rigkeit und Einheit der griechischen Kultur in h o h e m Grade beitrug, und vollends, wenn man an die hinzutrctenden Einrichtungcn der Orakel denkt und besonders an die dominierende Stellung des Delphischen Orakcls, das durch die Jahrhunderte von der groBten politischen Bedeutung war. Aber selbst die Rolle, welche H o m e r und Hesiod in der Erziehung der griechischen Jugend spielten, kann durchaus nicht mit dem Bestand einer T h e o l o gie, einer Lehre und eines Wissens v o m Gottlichen verglichen werden. Auch Euthyphron mit seinem Wissen um die gottlichen Dinge meint durchaus nicht nur all die Geschichten, die von den Gottern erzahlt werden, und Sokrates ist nicht, weil er ein besonders aufgekliirter Mann war, im hochsten MaBe crstaunt, daB sich der Seher E u t h y p h r o n im Ernst auf diese Geschichten, die bei Hesiod erzahlt werden, beruft 7 . Was die Griechen unter \wjii'(en verstehen, hat jedcnfalls mit dieser Art Fiir-wahr-Haltens nicht viel zu tun. Es meint die Einhaltung und Erfiillung kultischer O r d n u n g e n , - und das j e nach der Stadt, in der man lebt, Natiirlich ist dann die Verehrung der Gotter immer mit all dem verkniipft, was man uber sie wuBte. Das war aber bekanntlich selber wieder ein wahrer Wildgartcn mythischer Phantasie. In der altertumswissenschaftlichen Forschung hat daher langere Zeit nur die Kultwirklichkeit religionsgcschichtliche Bedeutung bcscssen. Da lieB sich das methodische Ideal geschichtlicher Objcktivitat an den Kultstatten, an den Kultdenkmalern, an den Kultmschriften usw. cinigermaBen erfullen, aber gewiB nicht an der freien Beweglichkcit der zahllosen Mythen u n d Sagcngeschichten. Wenn inzwischen der Strukturalismus einen weiteren Schritt in der Rationalisierung getan hat und die Logik der griechischen Mythenerzahlung und der mythcnbildenden Phantasie z u m Gegenstand der Wissenschaft gemacht hat, so konnte das gewiB nicht eine Art Deutung des M y t h o s und seiner Bedeutung fiir die Kultur sein, in der diese Mythen die Menschen begleiteten. Gerade dies entzicht sich den Wissenschaftsidealen der modernen Wissenschaft. So hat man in der mythischen Oberlieferung etwas Unverbindliches und Sekundares geschen. N u n ist es sicher richtig, daB die Gotter zu verchren etwas anderes ist, als von den Gottern zu erzahlen oder dem iiber die Gotter Erzahlten zuzuhoren. Trennbar ist das eine v o m anderen schwerlich. Was " Met. A 3, 983b-v, vgl. auch B 4, 1000a<s. 7 Euthyphr. 6a ff.
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heiBt im Grunde >Mythos In Wahrheit nichts anderes als Erzahlung. Freilich, ein Erzahlen von so Machtvollem wie den Gottern und ein so machtvolles Heraufrufen dcrsclben vor d e m Geist der Zuhorer, wie es eben jede wirklich gutc Erzahlung tut. Die Frage k o m m t daher gar nicht mehr auf: Ist das wirklich so, oder war das wirklich so? Die uberwaltigende Gegenwart der durch die Erzahlung heraufgerufenen Geschichten laBt solche Fragcn iiberhaupt nicht zu 8 . Hier stellt sich nicht die Frage der Wahrheit. Selbstverstandlich will das, was H o m e r oder Hesiod iiber die Gotter berichten, >wahr scin<. Es sind die Taten der Gotter und der Herocn, das heiBt jcner M e n schen, die noch im personlichen U m g a n g mit den Gottern standen. Aber was heiBt hier >wahr Es ist ein wcitcs Feld der Phantasie, der Einbildungskraft und der i m m e r neuen Erfindung. Jedenfalls darf man das Walten dieser mythischen Phantasie und ihres schopfcrisch.cn Rcichtums nicht als Zeugnis eines Niedergangs griechischer Religion ansehen, wie etwa vom christlichen Standpunkt des Lutheraners Wilamowitz geschehcn ist. Das Spiel, das die dichterische Einbildungskraft mit den gottlichen Dingen spielte, enthalt keinen Widerspruch zwischen dem Ernst des Kultus und dem Unernst der mythischen Erfindungsgabc. So konnte es nur aussehen, wenn man vom Begriff moderner christlicher Gottesvorstellung und thcologischer >Rechtglaubigkeit< an die antikc Obcrlieferung herantrat, und so mochte es zu dem Fehlurteil k o m m e n , daB die Mythen ein Schwinden des rcligioscn Ernstes im griechischen Leben bedeuten, wahrend der Kult weiter streng gewahrt blicb. Hier hat Walter F. Ottos Interpretation der homerischen Gotterwelt berichtigcnd gewirkt. N u n m a g man ja auch hier wiederum fragen, angesichts dieser von Schelling inspirierten Deutung griechischer Mythologie, wessen Auffassung hier eigentlich rekonstruiert wird, die der homerischen Zeitgenossen oder die der aufgeklarten Athener des nachpcrikleischen Zcitalters, die in den dichtcrischen Gcstaltungcn des mythischen Geistes die eigene seelische Wirklichkeit wiedererkannten, wie wir noch heute in der homerischcn Dichtung? Oder spricht seine Interpretation gar nur die Auffassungsweise eines neuheidnisehen Christen des 20. Jahrhunderts aus, der mit Schelling im Christentum das zurechtgestellte Heidentum sah und damit die Gottlichkeit der griechischen Gotter ncu ernst zu nehmen wuBte? Insofern hat Walter F. Ottos eindrucksvolleTheologie der Gotter Griechenlands keinen unmittelbaren historischen AufschluBwert. Aber sic hat das Verdienst, die religiose Uberlicfcrang der Griechen nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eincs mehr oder minder lebendigen Gottesglaubcns mit wissenschaftlicher Objcktivitat erforscht zu haben, sondern in ihr die ekstatische AuBerlichkeit crhohter Lebensaugenblicke und Welteinblicke wirklich 8
Vgl. hierzu meine Arbeit -Mythos und Philosophie< in Band 8 der Ges. Werke.
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wiedcrerkannt zu haben. M a n kann also auch nicht, wic ich meinc, zwischen der mythischen Setzung und der dichterischen Darstcllung mythischer Oberliefcrung einen grundsatzlichcn Schnitt Ziehen9. Aller Mythos ist E r zahlung von Gottlichcm u n d hat an der Freiheit der Phantasic ebenso teil wie an dcr hohen Oberzeugungskraft, die in aller wahren Erziihlung, das heilk in aller lebendigen Erzahlung wirksam ist. Die Arbeit am Mythos hat immer schon bcgonncn und k o m m t nie zu Ende. Das hat, wie mir schcint, Hans Blumcnberg in seinem Buch > Arbeit am Mythosi mit groBer ausgebreiteter Gelehrsamkeit richtig beschrieben. Bei dieser Sachlage wird sich der Interpret nicht an die ringsherum flutenden Triimmcr mythischcr Sagenrcichtiimer halten wollen, deren Sagenviclfah die Vorwelt im Spiegel mcnschlicher Geschicke in riesigen VergroBerungen uns zuspielt. Statt dessen wird man sich an die groBen Schriftstellcr und Sanger wic H o m e r und Hcsiod haJten. Wenn iiberhaupt jeinand, verdienen sie in der Tat den N a m e n der ersten >Theologen>, weil sic Dichter waren. Damit wird gewiB die Fragestcllung durch die literarischen Ubcrlieferungstatsachen und deren Fortleben im Zeitalter der griechischcn Aufklarung begrenzt. So fragen wir nicht, was die orphische Bewegung, was die Gehcimkulte, was der Dionysoskult in der griechischcn religiosen Erfahrung war. GewiB hat auch das vielfachc Spuren, etwa bei Plato, hinterlassen. Aber den Gegcnstand wirklicher Auseinandcrsetzung bilden auch bei Plato H o m e r und Hesiod, die die Gotterwclt der offenthchen Kultordnung und die Jugenderzichung bcherrschten. Ich weiB daher nichts dariiber, wie eigentlich die Vorgeschichte - gewLB eine lange - ausgesehen hat, die den dichterischen Erzahlungen H o m e r s und Hesiods voranging, u n d nicht einmal, ob noch vor dieser eine magisch-animistische Urphase religioser Erfahrung vorauszusetzen ist, wie von vielen Forschcm angenommen wird. Fiir uns ist, gerade wenn es um Sokrates und u m die beginnendc platonische Philosophic geht, dcr wesentlichc Vorgang, den uns Griechenland vor Augen fuhrt, daB das Ganze cine B e w e g u n g von Aufklarung ist. Es ist eine einheitliche Bewegung, die einerseits in der epischen Dichtung und ihren Erzahlungen v o n Gottern und Helden ihre erste Gcstaltung fand, und andererseits in der K u n d e von der Welt, v o m H i m m e l und von dcr Natur. So wird nicht im ProzeB der Aufklarung die Strenge einer kultisch gebundenen Welt und ihrer mythischen Grundlagen durch die Freiheit einer denkenden Beobachtung u n d Erforschung der Wirklichkcit abgelost. GewiB steht die epische Dichtung am Anfang, u n d es ist weit spater, daB die Prosa des Gedankens oder die mclir oder minder unbehilflichcn Verse 9
So hat es W A I TFR B K Q C K E H in seiner Schrift >DieThcologie der Ilias< (Frankfurt 1975) versutht, abcr hat das, wie ich meine, nicht aus der Art der Gbcrlieferung selber begrunden konnen.
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sogenannter Philosophen neben sie treten. Es ist fiir das Griechische von entschcidender Bedeutung, daB bcides, sowohl die epische Dichtung und ihre Nachfolger als auch die Prosa und die didaktische Poesie derer, die wir spater Philosophen nennen, Deutungsweisen des Gottlichen sind. So bleibt in der ganzen Geschichte der griechischen Aufklarung die Dichtung u n d die philosophischc Theoriebildung in einer nalaia 5uupopau\ in einem altcn Gegensatz, gerade weil sie dasselbe meinen. Wir miissen uns von dem Schema >voin M y t h o s z u m Logos* frciinachcn, wenn wir die Griechen verstehen wollen. Im Grunde gilt fur beide, fur die Dichtung wie fur die Philosophie, das gleiche. Sie suchen die Erfahrung des ObergroBen zu bcwaltigen und sagbar zu machen, ob sie dazu nun in der Welt der Gdtterund Hcldensagen schweiften oder in die Weite der Sternenwelt und des Naturgeschehens hinausschautcn - sie sprachen die gleiche Sprache, die iibrigens alle ihren honierischen U r s p r u n g nicht vcrleugnen. Jcdenfalls ist auch die epische Poesie der Griechen, H o m e r und Hesiod, D e u t u n g von mythisch O b e r k o m m e n e m und von Erfahrenem. Priifen wir an beiden, wie sich ihr Deutungswille bekundet. Wendcn wir uns zunachst H o m e r zu, so ist uns in diesem Falle die Fragestellung hilfreich, die B r u n o Snell in seinem >Das Handeln im Drama* 1 1 eingefiihrt hat. Sie zeigt gerade auch, wic es bei H o m e r aussieht. Wie dort die Gotter in das dramatische Geschehen des Trojanischen Krieges eingreifen, wie sic die Entschliisse derhandclnden Menschen durch ihr Eingreifen hcrbcifuhren, so daB dieselbcn wie Werkzeuge in hoherer Hand crscheinen, all das ist zugleich von einer tiefen menschlichen Verstandlichkeit. So mag man sich i'tber das Ineinander einer mythischcn u n d menschlichen Kausalitat im Grunde nicht verwundern. N o c h der aufgeklartestc Mensch versteht diese homerischcn Erzahlungen v o m Handeln der Gotter, und sie vermittcln ihm tiefere Einsicht in die Menschlichkeit des Menschen. Athene erscheint dem vor Zorn die Selbstkontrolle verlicrenden Achill und wendet sich an ihn in einem Gesprach, das man wie die innere Kampfszene des Hclden selber versteht, der u m seine Selbstbehcrrschung ringt. Achill stofit das Schwert in die Scheide zuruck, ob er n u n Athene gehorcht oder sich selbst 12 . O d e r man denke an den ersten Gcsang der Odyssce. Wieder erscheint Athene dem jungen Telemach in Gestalt zweier Manner, des Mentes und dann des Mentor, und erweckt ihn zur Reife seiner mannlichen Sclbstandigkcit. Das sind wie ins Mythisch e ausgezogene Linien eines Selbstgespraches, das der
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Plato, Rep. X, 607b s . B. SNF.IX, Aischvlos und das Handeln im Drama. Leipzig 1928 (Philologus Suppl. X X I ) . 12 llias 1, 195 fT. 11
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zu sich selbst erwachende j u n g c M a n n mit sich selbst f u h r t " . Wenn einer fragen wollte, was m a n hier glaubcn soil oder was m a n ctwa nicht glauben kann - so versteht man die Frage iiberhaupt nicht mehr. Werfen wir im gleichen Z u s a m m e n h a n g einen kurzen Blick auf Hesiod, so wird man in anderer Gestalt ahnliches finden. Z w a r crzahlt dieser landliche Sanger von ganz anderen mythischen Fabelgcschichten grausiger Art, die wie aus alterer finsterer Vcrgangenhcit auftauchen und in ihm ihren dichterischen Sprecher finden. Verschlossene menschliche Urerfahrungen mogen hier die Stimine einer alteren religioscn E r f a h r u n g gewinnen. Aber auch Hesiod bedient sich des gleichcn Hexameters wie H o m e r . Ja, ihn erfullt vollends das Bewufitsein seines dichterischen Auftragcs, und er ist sogar der erste, der ein ausdriickliches BewuBtsein seiner dichterischen Aufgabe und seiner gottlichen Erwahlung in dichtcrischen Wortcn gestaltet hat. Die Musen, die ihm erscheinen, sagen von sich; »Wir wissen vicl Falsches zu sagen, was dem Wahren glciclisieht. Wir wissen aber auch, wenn wir es wollen, Wahres zu vcrkiinden. Was ich auch sagen wcrde, ist wahr. Aber naturlich ist es cbenso klar, wic das Volk sagtc, daB die Dichter liigen. Ich will nicht etwa wiedcrholen, was in einem doku men tans chen Sinne wahr ist.< Wenn man das so versteht, versteht m a n die Verse der Musen erst wirklich. Sie sind eine dichterische Sclbstinterpretation, die gleich den Anfang des groficn Gedichtes der >Theogonie< einlcitet, und daB cs die Musen sind, die den Sanger inspirieren, ist wahr. DaB man hier uberall auf die Unlosbarkeit von Wahrem und Falschem, von verbindlicher Richtigkeit und frcier dichterischer Variation sehen muB, geht schon aus der Form dieser Verse hervor u n d bestatigt sich aus dem ganzen dichterischen Werk Hesiods. Solche parallel gebauten Satze sagen, wie wir wissen 14 , durch die polare und eben damit umfassende Aussageform, die auch sonst in der Ankiiiidigung der Musen nicht fehlt und die fiir 13 14
Odyssee 1, 158ff.; 2, 270ff. Thcog. 27 ff.
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alle menschlichen Geschicke, die die Moira uns zuweist, giiltig ist, »den sterblichen Menschen Gutes wie Schlcchtcs" l s . GewiB sind die rnodernen Begriftc von historischer Wahrheit und dichterischer Freiheit von Grund auf der inneren Verwachsung mythischer Erzahlung und in ihr sich v e r k o r p e m der Wahrheit unangemessen. Das gilt fiir die >Theogonie< als Dichtung im ganzen. Sie ist ein wahrcr Uberschwang ausschwcifender Phantasie, reich an Erfindung und an Ereignisfolgen, und schwelgt formlich in einer geradezu wuchernden Genealogic. Gleichwohl verliert sich Hesiod nicht orienticrungslos in dieser Fiille und diesem Reichtum erzahlfreudiger Ausschweifungen. Hesiod schrcckt zwar nicht vor Ausmalung barbarischet Grausamkeiten zuriick, etwa bei der Schilderung des abscheulichen Vcrhaltens der gottlichen Figureti der Urzeit zueinandcr, die in List und Hinterlist mitcinander wcttcifcrn. Trotzdem scheint cine Art religioser Grundidcc durch, die der Horer oder Leser in Wahrheit schon akzeptiert hat. Wie in der Zeitalterlehre der >Erga<, der >Werke u n d T a g c , fehlt es auch hier am Ende nicht an einem Ausblick und einer O f f m m g , die zwar nicht das Heroenzeitalter zuriickrufen kann, doch so etwas wie einen Festpunkt gewahrt, auf dem sich die wahre Wertewelt und die Mahnreden des Folgendcn grunden konnen. So ist es wohl auch gemeint, wenn cingangs der >Theogonie< die drei Gencrationen der Gottergcschlcchter vorgefiihrt werden, die lhre blutigen Herrschaftskampfc ausfechten. Das Ganzc zielt auf die Herrschaft des Zeus. Unangefochten steht er am Ende da, auBerhalb der Folge von Untaten, die die beiden anderen Ahnengottheiten in ihren Machtkampfen begehen. Das Gedicht fiihrt glcichsam einen Legitimadonsnachweis fiir Zeus und fiir die L e g i t i m i s t seiner dauerhaftcn Herrschaft, die die cndgiiltige Einsetzung einer Lebensordnung bedeutet, in der sich Recht und Gesetz durchsctzen sollen. Zeus erscheint als der alien iiberlegene Schutzgeist der Herrschaft von Recht und Gcsctz, der auch nach dem A u f r u h r der Titanen siegreich dasteht. So liegt in Wahrheit sogar den Furchtbarkeiten dieser Gottergescliichten eine religiose Wahrheit zugrunde, die zuglcich eine menschliche Wahrheit bleibt. Man konnte es mit modcrncn Ausdriicken die Urgeschichte v o m Tricbvcrzicht nennen, der allein Vergesellschaftung der Menschen moglich macht. So konnte m a n fortfahrcn, von hier aus die ganze Vorgeschichtc und Geschichte der griechischen Arbeit am Mythos zu durchlaufcn, bis sie zu der gesellschaftspolitischen Knsis tuhrte, die zwischen wissenschaftlicher Aufklarung und religioscr Oberlieferung Spannungen hcrvorricf und einem Sokrates z u m Schicksal wurde. Wir befinden uns beim Epos H o m e r s und Hesiods sozusagen bei den ersten literarisch greifbaren Schritten auf einem langen Geschichtswege, der wcit vor H o m e r bcreits nnt der rcichen M y 1S
Theog. 906.
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thcniiberliefcrung der griechischcn Friihgeschichte besetzt w a r und der zu all den folgenden litcrarischen Schopfungen, den Gattuiigen der Chorlyrik, der Lyrik, der attischen Tragodic, dcr K o m o d i e gefuhrt hat. Die Geschichte hat ihren Lauf bis in die sokratisch-platonischc Zcit genomrnen, und cs war immer diesclbe Geschichtc einer N e u d e u t u n g der mythischen Uberlieferung, die zugleich in ihrer religiosen Wiirdc unantastbar blieb. In dieser bestandig ncuen Deutung bewegen sich zuerst die Dichtcr und spater, von Anbeginn an, die Welterklarer, die wir Philosophcn nennen. H o m e r s Kunst hat es verstanden, die Wildheit und die Schrecklichkeit des gottlichen und menschlichen Geschchcns, das in Mythos und Heldensagc auf ihn g c k o m m e n war, in eine menschliche Geschichtc zu vcrweben, die nicht nur fur die gesamte griechische Kultur, sondern am Ende fiir das gesamte christliche Abendland so etwas wie eine erste Mcnschenkunde bercitgestellt hat. Hesiods primitivcrc Kunst kann sich als eine ahnliche Grundkonzeption verstehen lassen, und wenn wir an das PrometheusDrama des Aischylos denken, so finden wir dort eine fast programmatische Auscinandersetzung mit der neuen Gotteserfahrung der Zeusreligion. Hier kann man so recht studieren, was fiir die Griechen M y t h o s ist, in den Geschichten von Prometheus. In alien ist er der Bringer des Feuers. Aber wie andcrs begegnet er bei Hesiod, w o cr sich die Feindschaft des Zeus durch seinen Opferbetrug zugunstcn dcr Menschen zuzieht, wie anders bei Aischylos, auf den wir unser Augenmerk einen Augenblick richten wollen, wie anders im Mythos des platonischen >Protagoras< und anders im >Philebos< mit den sokratischen Anspielungen auf einen zweiten Prometheus, den Bringer der Zahlen. Das ist nicht die Einheit einer Gestalt, und es ist vergebliche Miihe und irrefiihrend, wenn man die anderen Geschichten von Prometheus irgendwie zusammenordnen will, so dafi sich ein Bild des Ganzen dieser gottlichen oder gegengottlichcn Gestalt ergibt. Es sind griechische Mythcngcstalten, nicht wie Menschen mit einem fiitK, einer Lcbensgeschichte, die sie in ihre Zeit einschlicfk. Sic haben keine Zeit und daher keinejugend und kein Alter. Das Prometheus-Drama des Aischylos versetzt uns in die Friihgeschichte der Zcusherrschaft, die fur den griechischcn Zuschauer und Leser dieser Tragodie eine unbestimmte Vergangenheit bedeutete. In der tragischen Gestaltung des Aischylos wird das erbittcrte Ringen zwischen dem ubermachtigen Zeus u n d dem unbeugsamcn Titanen vorgefuhrt - u m am Ende gewifi zu einer Versohnung zu finden, die ihrcrseits eine neue Festigung der bestehenden O r d n u n g bedcutct u n d wohl auch die A u f n a h m e lokaler Kulte in den offcntlichen Kult Athens einschlofi. Das uns alien erhaltene D r a m a von dem gefesselten Prometheus war ohne Zweifel nur ein Teil des Gesamtgeschehens, das in Form einer Trilogie mit der Wiederaufnahme des Prometheus in den O l y m p schlofi. Es geht durch die ganze dichterische Produkcion dcr Gricchen, wie eine Figur wie P r o m c -
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theus zeigen kann, dafi ihre Dichter sich in der Interpretation des Gottlichen die grofite Freiheit erlauben und gerade damit die geltenden religiosen O r d n u n g c n des offcntlichen Lcbens nicht ctwa in Frage stellen, sondern zu fcierlicher Prasenz und politischer Aktualitat erheben, Wie Christian Meier in seinen Studien sehr schon zeigt 16 , war das Theater cine wcscntlichc Form des demokratischen Lebens in Athcn. Wenden wir uns nun zu den Philosophen, d. h. zu der langen Reihejener Manner, die gegeniiber der mythischcn Tradition Erklarung und Erforschung der Welt, also ein ganz anderes, rationales, erfahrungsgesattigtes, theoretisches Interessc pflcgcn. Indesscn sollte m a n sich das Verhaltnis der ncuen Welterkiarung zu der mythischen Uberlieferung nicht als ein rein antagonistisches vorstellen. Jcne ionischen Forscher, deren kiihne Weltneugier und deren entschiedene Rationalitat die Erscheinungen der Natur, den Bau des Himmels, die Formationen der Erdc und das Leben auf der Erde zu ihrcm Gegcnstand machten und die, was an Wissen und Erkenntnis der Orient schon vor ihnen erworben hatte, dabei aufnahmcn, warcn selber in groficm U m f a n g e Vermittler. Sie stellen im allgemeinen nicht nur Forscher im modernen Sinne dar. Wenn diese Manner iiber das Ganzc des U m v c r sums, dem sic ihre wifibegierige Leidenschaft und ihre scharfe Beobachtungskraft widmeten, Aussagen zu tnachcn hatten, dann war cs fiir sic ganz naturlich, dieses Universum lunsterblich und unverganglich< zu nennen, d . h . mit den Pradikaten des Gottlichen zu zieren, die sic dem Vokabular Homers entnahmen. Sic mcintcn cs auch im Ernst. Nicht umsonst spricht Plato, wie wir schon erwahnten, von dem uralten Zwist zwischen den Dichtern u n d den Philosophen. Damit charakterisicrt cr eben den Wettkampf zwischen den dichterischen Weltdeutungen der mythischen Oberlieferung und den rationalen Erklarungsweisen, die sich von Milet bis Athcn als Philosophic cntwickelten. Plato hat diesen Wettkampf als Erbe des Sokrates mit BewuBtsein bestanden. Dank seiner reichen mythischen und dichtcrischen Phantasie hat er Logos und Mythos mitcinandcr verwebt. Beides steht fur dasselbe. Fiir den Z u s a m m e n h a n g und den U b e r g a n g zwischen der epischen Dichtung u n d den neuen theoretisch-philosophischen Interessen stellt uns X e n o phanes cinc ausgczeichnete Illustration dar. Er war ein Rhapsode, tier das Aufierordentliche vollbrachtc, mit dichtcrischer Intensitat im homerischcn Stile und mit homerischen Worten, auch im homerischen Versmafi, an die Stelle der groBen Gotter- und Heldensagen, die wie die Ilias und Odyssee beliebte Rhapsodenthemen waren, die neue Weltschau der Ionier zu setzen. So veremigte er mit der ncuen >Wissenschaft< in sich die fiir alle dichterischen 16
C H R . MEIER,
Miinchen 1988.
Theater in Athen. Die politische Kunst der griechischen Tragodie.
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Aussagen der Griechen mogliche nnd vielfach geiibte Kritik an den Schilderungen der homerischcn Gotter, ihrcm Gczank und ihrcn Partcilichkeiten. Was m a n bei Xenophanes wie Gotterkntik lesen kann, kann man auch fast wie eine neue religiose Konzcption ansehen und gcradezu cine >Theologie der friihen Griechen* nennen. Da lesen wir etwa: »Es ist ein einziger Gott, unter den Gottern und Menschen der groBte, weder an Gestalt den Sterblichen ahnlich noch an Geist.« O d e r es heifit: »Er ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr«, und ausdriicklich: »Aber ganz ohne M u h c crschiittert er alles mit der Kraft des Geistes«, oder: »Stets am selben O r t e verharrt er, bewegt sich nicht, denn es gezicmt sich fiir das Gottliche nicht, hin und her zu eilen, bald hierhin bald dorthin«. Das sind in der Dielsschen Samtnlung die Fragmente 23, 24, 25, 26. Solche Preisungcn des Gottlichen, wie in diesen Gcsangen des Xenophanes, sind nicht, wie das sonst bei den Dichtern der Fall war, eine bloBe Reinigung der Vorstellungen, die die epische Uberliefcrung von den Menschen und den Gottern gezeichnet hatte und die ihnen in der hornerischen Tradition allzu menschlich erschienen. Hier, bei Xenophanes, ist es nicht nur dieses kritische Moti v. Es ist ein anderes, neues Gottliches, u m das es geht. Es ist nicht mehr der O l y m p der homerischcn Gotter, der besungen werden soil, es ist die Gottlichkeit der Welt selbst, dies auch Ubergewaltige, das sich vor dem schauenden und denkenden Blick der neuen ionischen Wissenschaft aufgetan hatte. Das ist es, was solche Preisreden meinen. Insofern ist Xenophanes ein kostbarer Zeuge dafiir, wie die neue Welterkenntnis sich neben der homerisch-epischen Welt Raum geschaffen hat. Es ist nicht nur, daB das Vokabular des M y t h o s in den Lehren der ionischen Wissenschaft weitergebraucht wird - diese neue Weltsicht ist selber wie ein neuer Mythos. In diesem Sinne ist es mcht ganz unrichtig, selbst bei X e n o phanes, diesem Rhapsodcn, der an den sizilischen Hofen ein adeliges Publik u m unterhalten sollte, von einer Theologie zu sprechen, wie es Werner Jaeger in der gclchrtcsten Weise in seinen bedeutehden >Gifford-Lectures< 17 getan hat. Es bestatigt sich eben der alte Zwist zwischen Poesie und Philosophie, von dem Plato spricht. Er hat seinen Grund. M a n streitet nur um etwas, worauf beide Anspruch erheben. Als Spannung geht das durch die ganze griechische Friihzeit. Die Dichter sowohl wie die ersten Prosaschriftsteller, die wir Philosophen nennen, und die Dichterphilosophen, die sich selber dichtcrisch ausdriickten, sind alle Deuter des Gottlichen. Man muB sich allerdings vor der Versuchung huten, die Philosophic von daher als eine Vorbereitung des christlichen Monotheismus zu verstehen. Das hat Werner Jaeger in seinem erwahntcn Buch zu schr nahcgelcgt 1 8 . Von 17 W. J A E G E R , The theology of the early greek philosophers. Oxford 1 9 4 7 . Dt.: Die Theologie der friihen griechischen Denker. Stuttgart 1953. 18 Vgi. die kntischen Ausfuhrungen von W A L T E R B R O C K E R im Anhang zu seinem Aristotelesbuch, 4. Aufl. Frankfurt 1974, S. 279f.
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einer Vorbereitung des christlichen Monotheismus kann m a n in Wahrheit erst in der Epoche der Zeitenwende sprechcn, als Transzendenz den Weltralimcn des Denken s zu sprengen begann, wie es Karl Reinhardt in >Kosmos und Sympathie* in einem schonen Vorblick von Poscidonios aus geschildcrt hat: »Noch steht der alte Kosmos, aber einen Schritt weiter, und die Krafte, die er hier noch in sich bindet, werden iiber ihn Herr; sie losen lhr Gehcimnis nicht mehr in ihm auf, er selbst lost sich in ihr Geheimnis auf, er wird hindeutend, er wird zur Erscheinung, z u m Symbol, und aus den Kraften werden Gcistcr, Encrgien, Ketten, Quellen, U r f o r m e n und Ausfliisse des Unaussprechlichen, des Urgeheimmsses der Existcnz. « 19 Es ist aber ebenso irrig, wenn m a n sich fiir das Ganze der griechischen Bewegung des Dichtens u n d Denkens dem bekannten Aufkl a rungs schema •Vom Mythos zum Logos* anvertraut. Auch das ware eine modernistische Auffassung, die nur verdeckt, wie die Verehrung des Hoheren sowohl in der Erzahlung von Gotter- und Hcldcngcschichten als auch in der Erkundung der Welt und des Weltenbaues fortlebt. Beides entspringt dem gleichcn Bediirfnis des Geistcs. Das laBt sich durch die ganze griechische Friihzeit hindurch verfolgen, und zwar bis in den Stil und die Sprechweise hincin. Z w a r waren die friihen Schriftcn cities Anaximander und anderer vermutlich eine hochst niichterne, > wis sen s ch a ftlich klingende Prosa. Das konnen wir gerade aus dem einzig uns crhaltcnen Satz des Anaximander schliefien, weil Theophrast ihn wegen des feierlichen Stiles, den er da antrifft, zitiert 20 . Offenbar hebt Theophrast etwas heraus, was gerade nicht fiir den Stil des Ganzen charaktcristisch war. Indcsscn, es bedeutet doch etwas, daB sich selbst niichterner Prosastil zu solchen fast sakralen H o h e n erheben konnte. O h n e Frage hat viel sprachlich Vorgcformtcs bereits in miindlicher Oberliefetung vorgelegen, gnomische Prosa, moralische Sentenzen, wic sie von den Sicben Weiscti iiberliefert sind; und die sentenzenhafte Form der Orakelspriiche. Vielleicht spiclt auch der hymnische Stil der Prcisung hinein, in der m a n polare Ausdrucksweisen liebt und aut diese Weise den dialektischen Stil des gricchischen Denkens und Sprechens vorbcrcitet hat 2 1 . Noch deutlicher ist der umnittelbarc E111fluB des homerischen Vorbilds bei den lehrhaftcn Dichtcrn, wie bei Parmenides und Empcdoklcs, die ja bis ins Versmafi und in den Sprachschatz vom Vorbild Homers bestimmt sind, auch wenn sie argumentieren. Es k o m m t
19 K. R E I N H A S D I , Kosmos arid Sympathie. N e u e Untersuchungen fiber Poseidonios. Miinchen 1926, S. 249. 20 VS 12 A 9. 21 K A R L D E I C H G R A B E R (Rhein. Mus. 8 7 [ 1 9 3 8 ] , S . 1 - 3 1 ) hat gerade am Vorbild, das Xenophaties war, auf diese Affinitat zwischen der hymnischen Sprechweise und der dialektischen Ausdrucksweise hingewiesen und von da aus die spatere XenophanesCTbcrlieferuiig und ihre >elearisdien< Anklange abgeleitet.
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mir aber darauf an zu sagen, dafi solcher Stileinflufi keine blofie AuBerlichkeit ist, sondern auf die Gemeinsamkeit der Sache hindeutet. Eben das lehrt uns Xenophanes, wie sich das neue Wunderbarc der neuen Wissenschaft nebcn der Gotter- und Hel den sage durchsetzen konnte und auch die Welt als ein neucs Ehrfurchtgebietendes u n d Gewaltiges gepriescn wurde. Ebenso ist cs fur Heraklit, der noch radikaler als Xenophanes nicht nur das cpischc Weltbild, sondern auch die ionische Aufklarung als Verfehlung des Wahren zuruckweist und das >Einc Weise<, das ooyov, dagegen ausspiclt. Es klingt auch hier fast wie eine religiose Botschaft, was den Stil seiner Satze formt. Doch darf man nicht, wic das eine Zeitlang ubhch war, Ciberall dort, w o sakrale Feicrlichkeit, etwa bei Heraklit, begegnet, mit der er das eine Allein-Weise riihmt, sofort Mysterienweisheit oder orphische Gchcimlehren heraushoren wollen. Vollends gilt das zum Bcispiel fiir einen so niichternen Forscher und Denkcr wic Anaxagoras. Er hat die Sonne fiir einen gliihenden Stein erklart, und das wurde einer der Punkte der Anklagein dem AsebicprozeB, dem er ausgesetzt wurde. Darin lag gewiB keine rehgionskritischeTendenz. Es war die Frucht echter Beobachtung u n d der Schliisse, die cr aus dem Fall eines Mctcoritcn gezogen hatte. Seine Welterklarung aus einem kosmogonischen Wirbel vertrug sich durchaus mit chrfurchtsvoller Bewunderung des Univcrsum, wie es einen M a n n erfiillen muBte, der es fur das hochste Gliick erklarte, den Sternenhimmel anzuschauen. Wenn er als den U r s p r u n g zur Weltbildung einen win; cin >gcistiges Sein<, oder wie m a n es nennen mag, angenommen hat und dieses mit Pradikaten ausstattete, die der Charakterisierung eines gottlichen Weltenherrschers nahekommcn, zeigt sich abermals, wic nahe sich die Dinge da sind. Die spaterc Rolle, die der voix; bei Plato und Aristoteles spielt, bestatigt in ihren ausdrucklichcn Aussagen die gleichc Annahcrung an Aussagen iiber das Gottliche. Auch die Kritik, die Sokrates im platonischen >Phaidon< an Anaxagoras iibt, daB er einen ungeniigenden Gebrauch v o m vovc; mache, besagt im Grunde, dafi Sokrates in der Ordnungsvorstellung des Universums, die Anaxagoras entwickelt hat, cin zuletzt religioses Motiv zur Geltung bringen wollte, wie der spatere Plato oft deutlich macht, am eindeutigsten in der Einfiihrung des r o y a l s der vierten >Ursache< im >Philebos< (26eff.). Vollends kennen wir das beim spateren Plato und bei Aristoteles, als die neue Astronomie u n d das reiche pythagoreische Erbe griechischen Zahlenwissens zu der Ausbreitung einer regclrechten Gestirnreligion fiihrten, zu einer nicht nur rationalen Theorie, sondern zu einer religiosen Verchrung des Sterncnhimmcls selbst, wie cr sich mit dem Volksglauben leicht vereinigen konnte. So ist cs eine einzigc grofic Kontinuitat, die zu der theoretischcn Arbeit des Gedankens den religiosen Hintergrund bildet. Dieser Hintergrund reicht weit iiber Plato u n d Aristoteles hinaus und bereitet in Wahrheit noch die Ausbildung der neuen religiosen Botschaft des Chri-
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stcntums vor, die die heidnischen Gotter verdrangt. Nicht ohne Rccht hat Schilling 2 2 von dem Christentum als dem zurechtgestclltcn Heidentum gesprochen. Man kann kaum iibcrschatzen, welch entscheidende Wcndc das Auftreten des Sokrates inncrhalb dieser so gcschildcrtcn Tradition bedeutet. Plato hat diese Wende, die mit Sokrates eintrat, erkannt und verkiindet (Phaid. 78a), und er hat im >Phaidon< den letzten Lebenstag des Sokrates, der mit dem gefaBten T n n k e n des Schierlingsbechers durch Sokrates endete, zu einem groBcn Kunstwcrk gcstaltet und der Folgczcit ein wahrcs M o n u m e n t aufgerichtet. Nietzsche 1 3 hat es einmal so ausgedruckt, daB das Vorbild des sterbenden Sokrates das neue Ideal geworden sei, dem die Besten der griechischen J ugend sich von nun an beugten. Es ist eine eigene Linie, die damit anhebt und die iiber die christliche Religion und ihre Spatgcschichte hinweg das Sokratesbild begleitet. N o c h im Zeitalter der Aufklarung war die Verglei chung zwischen Sokrates und Jesus ein beliebtes Motiv. Solche Annaherung der Sokratesgestalt an Jesus mag gewiB ein Verblassen der christlichen Heilsbotschaft im Zeitalter der modernen Aufklarung bezeugen. In unserem Z u s a m m e n h a n g zeigt sie aber, welche Wendung in der Gcschichtc der griechischen Aufklarung es bedeutete, als Plato in der Figur des Sokrates das neue Zeichen aufrichtete. Die Tatsachen gaben manchen Anhalt. Sokrates wurde in einem AsebieprozeB vcrurteilt und hat sich der Vollstreckung dieses Urteils nicht durch die Flucht entziehen wollen, sondern hat die Vollstreckung des Urteils angenommen. Das war der wahre Wendepunkt. Z w a r waren bereits Asebicprozcssc vorangegangen, in dencn Dcnkcr und Forschcr Gegenstand der Anklage wurden. Es ist jedoch kein zweiter Fall einer Hinrichtung wegen soldier Ascbieverurteilung bekannt. Zumeist haben sich wohl die Verurteilten oder schon die Angeklagtcn der Verfolgung cntzogen. Auch war c s j a ohne Zweifel nicht der urspriingliche Sinn des sakralrechtlichen Begriffes von Asebie, Andcrsdcnkcnde deswegen vor Gericht zu laden. Itn allgemeincn w u r d e gegen Tempelfrevel oder Verletzung sakraler Rechtsgiiter oder wegen VerstoBen gegen sakrale Anordnungen Anklage erhoben. Von solchen trivial zu nennenden Asebieprozesscn haben wir wcitcr keine Kunde. Wir wissen natiirlich nur von den ausgezeichneten u n d umstrittenen Fallen, in denen die Kiihnheit solcher Denker mit detn religiosen Enipfinden und der sakralen Rechtsprcchung ihrerZeit in Konflikt genet und zur formlichcn Anklage fiihrte. Das hat es nur in Athcn und erst im Zeitalter der griechischen Aufklarung gegeben, als die neue geistige B e w e g u n g mit dem u m -
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Philosophie der Offenbarung, Hd. I. Stuttgart und Augsburg 1858, S. 181. Die Geburt der Tragodie, 13. Absehnitt.
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strittenen N a m en der Sophistik eine neue Erzi chung einfuhrte, in der Rhetorik und Disputationskunst u n d argumentative Dialektik die attische Jugcnd faszinierten und eine neue Generation politischcr Krafte erfaBten. Offenbar war es der Widerstand einer konservativen, traditionsgebundenen Biirgcrund Bauerngesinnung, die sich gegen das N e u e auflehnte. So wohl gegen die ausschweifcndc Weltneugierde der Wissenschaft als auch gegen die rauschhafte Hingabe der attischen Jugend an die neuen rhetorisch-dialcktischen Kiinste der sophistischen Aufklarung. So ist auch in Athen erst in der spaten Zeit der attischen Vorhcrrschaft in Gricchenland, im Zeitaltcr des Perikles und seiner Nachfolger, gerichtliches Vorgehen gegen Intellektuelle erfolgt. >Asebie< nahm nun eine neue Bedeutung als pohtisch-gesellschaftliches Kampfmittcl an. Der erste Philosoph, der wegen Asebie angcklagt wurde, war offenbar Anaxagoras. Das wissen wir genau, vor allem durch den Bericht des Plutarch. Wir wissen sogar von der Einfiihrung des neuen, mit gesetzlicher Kraft ausgcstattcten Beschlusses, durch den mit diirren Worten nicht nur der Tatbestand der Leugnung der staatlichcn Gcittcr unter Strafe gestcllt w 7 urde, sondern iiberhaupt die Beschaftigung mit den astronomischen Wissenschaften der Zeit. Das war offene Reaktion der Burgcrschaft gegen die Intellektuellen. Ein gewisser Diopeithes hat das in der Volksversammlung erfolgreich zum BcschluB erhoben und damit der ganzen Reihe von Asebieprozessen gegen fuhrende Geister Athens den Rechtstitel gegeben. Anaxagoras selbst ist, wic wir unterrichtct sind, vor dem Argsten bewahrt worden, weil die schiitzende Hand des Perikles noch immer stark genug war. So kam es in seinem Falle nicht zu einer Verurtcilung oder gar Hinrichtung. Auch war bei der Anklage im Grunde Anaxagoras selber gar nicht gemeint. Es handelte sich in Wahrheit u m einen politischcn Angriff gegen die machtigc Figur des Perikles selbst, zu dessen naherem Freundeskreis Anaxagoras zahlte. Er scheint einer Anklage ausgesetzt worden zu sein, die der Ziclrichtung des Gesetzes des Diopeithes entsprach. Das neue Gesetz war eben so unbestimmt und dehnbar, daB m a n miBliebigc Intellektuelle mit dessen Hilfe beliebig verfolgen konnte. Im Falle des Protagoras, der dann einer der groBen klassischen Falle wurdc, versteht man es schon bcsscr. Seine F o r m u lierung, daB er von den Gottern nichts wisse, weder ob sie sind, noch ob sie nicht sind, mochte vielleicht sogar schon aus Vorsicht und z u m Schutz vor dem Asebicvcrdacht gewahlt sein. Was er gesagt hat, konnte dennoch dem aufgestauten Z o r n einer im H c r k o m m e n vcrwurzcltcn Biirgerschaft AnstoB geben. Im ganzen war es eben ein Gesetz, das formlich nach MiBbrauch schrie. Es bleibt bemcrkcnswert, daB wir von solchen Prozessen gegen Dichter nichts wissen, trotz all den maBlos kuhnen Freihciten, die sie sich im athenischen Theater leistcten. SchlieBlich ist ja auch das Zeusbild, das das P r o m e -
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theus-Drama des Aischylos auf die Biihne stellt, erstaunlich, und was in der Komcidie an Verspottung von Gottern erlaubt war, nicht minder. Der Stein des AnstoBes war die neue Paideia. Plato gibt seinen Lesern in der >Apologic< zu verstehen, daB es sich auch bei dem ProzeB gegen Sokrates und dessen Ausgang um eine Verfolgung des Intellektuellen als solchen handelte. Sokrates hatte in der Offentlichkeit - und ganz besonders in den Gymnasien Athens, in denen die Jugend erzogen w u r d e - eine besonderc Beliebtheit erworben, und so konnte man ihn sehr wohl gegen das ganze neumodische Erzichungswesen als eine representative Figur angreifen und an ihm ein Exempel statuieren. Der Anklagcr, der zuerst die Klage gegen Sokrates eingcrcicht hat, ein gewisser Meletos, war eigentlich ein Niemand und spielt auch in der platonischen Darstellung des >Euthyphron< und der >Apologie< selber eine recht lacherliche Rolle. O b w o h l er als Dichter in Athen nicht ganz unbekannt gewesen zu sein scheint, bcsaB er offensichtlich kein politisches Gewicht. So w a r es in diesem Falle eine besondere pohtische Konstellation, die zu d e r T r a g o d i e des Sokrates gefuhrt hat. Das konnen wir aus dem Dialog >Euthyphron< indirckt erschlieBen. Die erste Anklage war eben nur von diesem unbedeutenden Meletos eingebracht worden und lieB sich leicht in ihrem Ernst unterschatzen. Aus der > Apologie< und den anderen Quellen wissen wir aber, daB sich ein M a n n von h o h e m politischem Rang, Anytos, spiiter dieser Klage angcschlosscn hat. So versteht man die Eingangsdarstellung im platonischen >Euthyphron< recht gut. Es ist ganz begreiflich, daB der Schcr Euthyphron die ganze Anklage lacherlich fand. Plato hat also zu seinen Zwecken den inzwischcn bekannten Ausgang der Sache zum AnlaB genommen, die »Weitsicht« des lacherlichen Sehcrs besonders bloBzustellen. Vielleicht hat Plato auch schon damals richtig gesehen und jedenfalls hat er spater in seiner >Apologie< ebenso wie im Euthyphron-Dialog als den wcscntlichcn Punkt die allgetneine Ablehn u n g des ncumodischen Erziehungswesens seitens der attischen Biirgerschaft in den Vordergrund gcstellt. Platos Verteidigung des Sokrates bestcht also nicht nur in der oben genannten Schnft, der sogenannten > Apologies Viehnchr stellt sein gesamtes Werk sich offenkundig die Aufgabe, die cinzigartige Stellung des Sokrates gegen die sophistische B e w e g u n g abzuheben und auf der anderen Seite zu zeigen, daB es zu verstehen war, daB die beharrliche Stellung der Frage nach dem Guten durch Sokrates seinen Zcitgenossen zusetzte u n d nirgends eine A n t w o r t fand. Das hat ihm am Ende todliche Gegnerschaft zugczogen. Es ist hier nicht der Ort, die gescllscha ft lichen Verfalls erscheinungen zu bchandeln, die zu dem tragischen Ende des Sokrates fiihrtcn. Bereits zur Lebenszcit von Sokrates war es untcr den Einwirkungcn des Peloponnesischen Krieges und insbesondere der Pest und ihrer Folgen zu einem Niedergang des politischen Gcmeinsinns m Athen g e k o m m e n , wie uns das T h u k y -
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elides anschaulich geschildert hat. Fiir uns geniigt es, daB wir durch den 7. Brief zur Genii ge wisscn, wie die politische O h n m a c h t und die Dcsorganisation Athens nach Sokrates' Tode Plato auch spaterhin von den offenthchen Dingen ferngchalten hat. Die sokratischcn Dialoge, mit denen zweifel los Plato sein schriftliches Werk begann, dienten von vornherein dcr Vorbcreitung seiner eigenen, an Sokrates' Erbe sich anschliefiendcn Gedanken. Dadurch unterscheidet er sich von der zcitgenossischen Sokratiker-Literatur uberhaupt und insbesondere v o n eincm so relativ getreuen Berichterstatter iiber den historischen Sokrates, wie ihn die >Memorabilicn< des X c n o p h o n zeigen. Alle Freunde und Vcrehrer des Sokrates hatten das gleiche Anliegen, die Verurteilung des Sokrates als einen tragischen MiBgriff zu erweisen und ihn gegen die Verwechslung mit den geistigen Zersetzungscrscheinungen der Epoche abzuheben. Das konnte aber auf sehr vcrschiedene Weise geschehen. Gerade die Weise, in der Xenophon es tat, laBt die weitcrgehenden Intentionen Platos und den Stil seiner sokratischen Dialoge deutlich hervortreten. Bei X c n o p h o n zielen alle seine Erinncrungen auf direkte Vertcidigung des Sokrates ab. Sokrates crscheint in diesen >Memorabilieni X e n o pbons und den angcblich erinnerten Gesprachen des Sokrates als cin Walircr der sittlichen und gescllschaftlichen Tradition seiner Stadt. So hebt X e n o phon i m m c r die giinstige Wirkung der sokratischen Gesprachc auf seine Partner hervor und das gute Beispiel, das Sokrates selber fur MaBigung und Selbstbehcrrschung gegeben habe. Hier wird also der Sinn des Wissens als solcher, auf dem Sokrates mit seinem Fragen besteht, gar nicht zum wirklic h e n T h e m a gemacht. Vielmehr endet das Gesprach jewcils im Guten, auch wenn Sokrates seinen Partner widcrlegt und eines Besseren bclehrt. Dagegen haben die platonischcn Sokrates-Dialoge, mit denen cr das Andenken seines Meisters chrt und sein E r b e verwaltet, ein ganz anderes Ausschcn und offenbar eine andere Absicht. Hier wird jeweils eine Gesprachssituation aufgebaut, in der der Partner sich als Wissender gcbardet und als Unwissender bloBgestellt sieht. Imtner verwickeh Sokrates seinen Mitunterredner in ein Gesprach iiber das, was die apriij, die Tugend, eigenthch sei, in deren Bcsitz der andere sich zu wissen meint. Da geht das Gesprach auf logisch-dialektischem Wege i m m e r so aus, daB der Partner sich seines Nicht wissens iiberfuhrt sieht und seines Nichtwissens bewuBt wird. Dieser negative Ausgang solcher Dialoge endet in der Aporic. Damit wird, wie in der >Apologie<, verstandlich, daB Sokrates sich durch sein Verhalten bei vielen seiner Mitburger, mit denen er seine Gesprache fiihrte, unbeliebt und vcrhaBt gemacht hat. Die dialektische Uberlegenheit, die Sokrates dabei beweist, ruckt ihn fiir den Ubelwollenden in fa tale Nachbarschaft mit den neuen Kiinsten der dialektischen Argumentation, die die groBen Rhetoriklehrer und Sophistcn als die neue jugend-Erziehung eingefiihrt hatten.
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N u n war cs cm naheliegender Gedanke, aber zugleich cin gcnialer Einfall, daB Plato die Verteidigung des Sokrates auch dadurch fiihrt, daB er Sokrates in dramatischcr Konfrontation mit den groBen Rhetorik- und Dialektiklehrern seiner Zeit ein fiihrt. Der philosophischc Sinn dieser Gesprache geht weit iiber cinc bloBe Verteidigungsabsicht hinaus. Es geht um den Begriff von Wissen und damit auch von Lehre, der mit dem Auftreten der neuen Paideia und ihrer Rcprasentantcn verbunden war. Beides sucht Plato fragwiirdig zu inachen. Die Gesprache zeichnen dabci durchaus nicht das bekannte Bild von den Sophistcn, wie es die K o m o d i e etwa als das im Volke bcherrschende Bild uns anschaulich macht, wonach das Konnen und die Kunst der Sophistcn darin besteht, die schwachere Seite zur starkeren zu machen und mit rhetorisch-dialektisehen Kiinstcn die natiirhchcn Einsichten der Menschen zu verwirrcn. In Wahrheit zeigen gerade die Gesprache, in denen Plato den Sokrates in der Auseinandersetzung mit scincn grofien Zeitgenossen wie Protagoras und Gorgias schildert, auf kunstvolle Weise eine sehr viel tiefere philosophische Einsicht. Die beiden groBen Rcprascntanten der neuen Paideia, Protagoras wic Gorgias, entsprechen keineswegs der destruktiven bewuBten Auflosung geltender gesellschaftlicher N o r m werte, wie sie das Bild der Sophistik beherrschte. Es sind vielmehr andere Figurcn, die auch bei Plato dem landlaufigen Bilde der Sophistik entsprcchen. Aber diese werden nicht den groBen Sophistcn selber zur Last gelegt, sondern als indirektc Folgen des sophistischen Wissens- und Lernbegriffs dargcstellt, den die Sophisten als den neuen Erziehungswcg zur politischen Tvichtigkeit und zu politischem Erfolg eingcfiihrt hatten. In Figuren wie Kallikles im >Gorgias< u n d wie Thrasymachos im ersten Buch der >Politcia< zeigt sich ein moralischer Nihilismus, wic ihn die groBen Lehrer der neuen Paideia durchaus nicht gcmcint hattcn. Die platonische Kunst laBt uns auf diese Weise verstehen, w a r u m eine solche Radikalisierung und die Zcrsetzung der Tradition die tatsachlichc Folge wurde. Der echte Sinn des Wissens, das dem praktischen und politischen Leben seine Gestalt geben sollte, wurde durch die neuen Kunste der Rhetorik und Dialektik selber verdeckt. So wird der Begriff des Wissens, der dem Sprachgebrauch und dem Lehranspruch der groBen Sophisten entsprach, der Begriff der >Tcchne< allbehcrrschend. Der platonischc Sokrates muB daher das Versagen dieses Techne-Wissens angesichts der wahren Aufgaben des politischen Lebens aufdecken, und das meint die Frage nach dem Guten. Der Begriff von Wissen und Konnerschaft, der in if.yyj\ liegt, k o m m t unter den Fragen des Sokrates zum Scheitcrn, und so erscheincn alle seine Partner als unwissend. D a m i t stcllt sich fiir den Partner des platonischcn Sokrates und zugleich fiir den Lescr der Sokrates-Dialoge Platos die Frage, was fiir ein Wissen es eigentlich ist, auf das cs a n k o m m t , das das Wissen des Guten ware. Die konvendonellc Ubcrein-
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stimniung in moralischcn Dinger), die aptiai, die im gesellschaftlichen Bewufitsein einer Stadt und ihrcm Leben herrschcn, ist offenbar kcin solches Wissen. Es handelt sich aber ebensowenig u m ein Wissen, das aufgrund der Definition einer solchen Tugend erworben wiirde. Es handelt sich vielmehr um praktisches Wissen. Das hat Aristoteles i m m e r festgehalten, daB die praktische Philosophic, die er Ethik u n d Politik genannt hat, nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch zur Tugend fiihren soli. Erst recht aber war das das Zicl der platonischen Sokrates-Dialoge. Sie wollten durch die sokratische Widerlegung des vcrmeintlichen Wissens zugleich den Partner aufwecken, damit er ein wirklichcs Wissen sucht, und das heiBt, bereit ist, Rechenschaft zu geben. Die platonischen Dialogc haben auf diese Weise einen >protreptischen< Charakter, das heiBt, sic rufen zur Philosophie auf, zum Denken und zur Rcchenschaftsgabe 2 4 . Das gleiche hatten gewiB vielc der Folger des Sokrates in ihrcn sokratischen Schriften auch zum Ziel. Bei Plato besteht aber Protreptik nicht bloB in mahnender Rede u n d im Appell zur Besinnung. Das war vielmehr ein Aspekt, den viclc offenbar an dem wirklichen Sokrates unbefriedigend gefunden haben. Daher spielt die gute Wirkung des U m g a n g s mit Sokrates in der Vertcidigung des Xenophon eine groBe Rolle. Man darf auch an den merkwiirdigen, nicht unbedeutenden, aber vielleicht pseudo-platonischen Dialog >Klcitophon< erinnern, der darauf seine vehemente Kritik an Sokrates richtet. In Wahrheit sind eben die von Plato geschriebenen sokratischen Gesprachc nicht bloBe Protreptik. Sie sind selber Rechenschaftsgabe und suchen auf das, was das Gute sci, die Antwort, die standhalt und rechenschaftsfahig ist. Die wahre Protreptik ist also >Epagoge<, cine Hinfuhrung, die zwar nicht zu einem endgiiltigen Wissen fuhrt, aber zu einem Bestehcn auf der Suche nach wirklichetn Wissen. Hier hat das wisscnschaftsthcoretisch-logische Intercsse des Aristoteles das Verstandnis der Dingc erschwcrt. Aristoteles verwendet den Ausdruck maywyTj (Hinfuhrung, Induktion) in seiner Logik fur eine Operation, die zur Definition fuhrt. Die Gesprache, die Sokrates in der platonischen Darstellung fuhrt, haben ein anderes Ziel, namlich die Aporie, u n d soli en den Antrieb wecken, sichjewcils nach d e m Guten neu zu fragen. Nichtwissen ist die eigentliche A n t w o r t , die nach Plato die sokratische Frage hat. So konnte Plato dem Sokrates in den M u n d legen, daB Leben, das nicht ilhamuc. das >ungepriift< ist, nicht bestandig auf die Probe gestcllt ist, kein lebenswertes Leben sei. M a n kann das auch so ausdruck en: Die Bereitschaft zur Rechenschaftsgabe uber das Gute ist selber die Weise, wie m a n v o m Guten wciB. In der Tat sagt es Plato ausdrucklich. Die beruhigte Obereinstimmung mit den 24 Das hat K O N R A D G A I S E K in seiner Untersuchung iiber >Protreptik und Paranese bei PJaton< (Stuttgart 1959) wirksam zur Geltung gebracht.
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Konventionen der Gesellschaft ist kein Wissen, sondern >Doxa<. Wissen besteht mcht darin, sich n u t der Doxa, der allgemeinen Z u s t i m m u n g , zufriedenzugeben. >Doxa< ist ein sehr sprechendes Wort und laBt nicht nur die eigene Ansicht z u m Ausdruck bringcn, sondern auch, daB es eine allgemein einleuchtendc Ansicht sein will. Wirkliches Wissen macht sich aber nicht abhangig von solcher Z u s t i m m u n g . So kann Plato den Sinn dieses Wissens gerade auch an dem Wissen u m den eigenen Vorteil deutlich machen (Rep. VI, 505d), bei d e m gewiB niemand bloB die Z u s t i m m u n g der anderen sucht, sondern selber wissen will, wie es eigentlich ist. So ist die Frage nach dem Guten die Frage nach der Idee des Guten. Es scheint mir bemerkenswert, dafi Plato sonst zwischcn dem Begriff der >Idea< und dem Begriffdes >Eidos<, zwischen dem B e g r i f f d e s Hinblicks und dem B e g r i f f d e s Anblicks meist iiberhaupt keinen Untcrschied macht. Dagegen w i r d Plato nicht v o m >Eidos< des >Agathon<, dem Anblick des Guten sprechen. Da redet er von der >Idea< des >Agathon<, von dem Hinblick auf das Gute f iSra tov ayadov)25. Das ist die groBe Lehre, die Plato aus dem sokratischen Vorbild fiir sein eigenes Denken gezogen hat. Philosophie ist Dialektik. Das wird in der sich andernden Rolle, die Sokrates spielt, ausdrucklich. Er ist nicht allein widerlcgcnd, sondern dariiber hinaus der Gesprachsfiihrer, der weit iiber die negative Rolle hinauswachst. In den Dialogen >Phaidon<, >Politeia<, >Symposion< usw. redet der nichtwissende Sokrates wie ein Wissender. Frcilich bleibt er dabei ein Fragender, aber einer, der seine Fragcn beharrlich festhalc. Eben das ist das Wissen, das Plato >Dialektik< genannt hat. Es ist die Kunst, ein Gesprach zu fuhren, ein Gesprach mit dem anderen oder auch das Gesprach der Seele mit sich selbst, und das Gesprach hat eine Fiihrung, indem es die Frage nach dem Wahren und dem Guten festhalt, durch alle Einwendungen und Abirrungen hindurch. Der innere Z u s a m m e n h a n g von Dialog und Dialektik ist also der entscheidende Einsatzpunkt, wenn man den Begriffdes Wissens verstehen will, u m den es bei Plato geht. Wissen schlieflt Rechenschaftsfahigkeit ein. Wer weiB, der hat eben nicht nur eine viclleicht richtigc Ansicht von etwas, sondern er weiB auch das, was er weiB, zu rechtferrigen, im Gesprach mit sich oder mit anderen. Wissen ist also Wissend-sein. So beschreibt Plato den Dialektiker als den, der unbeirrt auf Rechenschaftsgabe besteht, ohne die das Leben nicht lebenswert ist. Es ist die tdorische Harmonie von Logos und Ergon<, von Rede und Sem, auf die am Ende alles a n k o m m t und in der sich der eigentlichc Sinn des Wissens erfiillt - und damit auch der Sinn des Guten. 2S
Vgl. dazu >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles*, in diesem Band, S. 143.
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E m j e d e r muB u m das G u t e wissen. Das liegt in der ganzen Auszeichnung des Menschen, wahlen zu miissen u n d sich f u r das Wahlen des Besseren Rechcnschaft zu geben. Was ist das fiir cin Wissen? Plato hat die Emzigartigkcit der Frage nach d e m Guten, wie sie Sokrates stellte, ins denkcnde BewuBtsein gehoben u n d damit den Begriff des Wis sens selbst erst zu seiner eigentlichen fordernden, Rechenschaft f o r d e r n d e n B e d e u t u n g erhoben. So wird etwa am Ende des groBen E r z i e h u n g s p r o g r a m m s , das Plato Fiir seine Ideal-Stadt entwickelt, die Dialektik ausdrticklich als die eigentliche Erzieh u n g zum staatlichen Leben so charakterisicrt, daB m a n s o w o h l in bezug auf das, was ist, wie in bezug auf das, was gut ist, den Hinblick auf das w a h r e Sein und auf das Gute selbst unbeirrbar festhalt (damn izo Xuyzj Rep. VII, 534b). In beiden Richtungen ist hier der aristotelische Begriff der E'fyq IOV dXrjdsimv am Platze, in dem in der Tat Aristoteles im 6. Buche der N i k o n i a chischen Ethik die F o r m e n des Wissendseins an den Worten des Wissens expliziert hat 2 6 . Aristoteles besiegelt diese Gemeinsamkeit in den beiden klassischen Einleitungssatzcn seiner >Metaphysik< u n d seiner E t h i k v o r l e sung: Alle Menschen streben (opiyoviai) nach dem Wissen, u n d alleTechne, alles Wissen verlangt (txf ir.im) nach G u t e m . N u n hat bekanntlich Aristoteles an dieser Idee des Guten, die s o w o h l fiir das Sein w i e f u r das menschliche H a n d e l n der oberste Hinblick sein soil, Kritik geiibt. Aber das heiBt nicht, daB die sokratische Frage mnerhalb der praktischen Philosophic nicht als die Frage nach dem avdpwmvnv dyaDov, dem Guten fiir den Menschen, d e m menschlich G u t e n , b e s t i m m e n d gebliebcn ist. Das habe ich in meiner A k a demieabhandlung iiber >Die Idee des G u t e n zwischen Plato u n d Aristoteles* zu zeigen versucht. Die sokratische Frage bleibt als Heraus ford c r u n g bestehen, die w a h r e menschliche Weisheit (uvftp&nivr} ooyta) ist, sich des N i c h t wissens im Wissenmiissen des G u t e n bewuBt zu sein. So durfen wir uns des w a h r e n Sinus des N i c h t w i s s c n s erneut v e r g e w i s sern, i n d e m wir die besondere Stellung des >Euthyphron< in den sokratischen Dialogen Platos befragen. Im Prinzip k o n n t e m a n jeden Dialog dieser >negativcn< Dialektik dcr platonischen Friihzeit als Beispiel n c h m e n , s o f e m i m m e r das Scheitern der Rechenschaftsgabe cine indirekte F o r m dcr Darstellung des n o t w e n d i g e n Z u s a m m e n h a n g s v o n Logos u n d E r g o n ist. Das habe ich an m a n c h e m Beispiel meiner Plato-Studien gezeigt. A b e r kein D i a l o g ist w o h l so gccignet, das Spannungsverhaltnis zwischen der Logik u n d d e m Logos der Praxis ins Licht zu setzen, wie der >Euthyphron<, der die religiose Tradition des griechischcn D e n k e n s ausdriicklich in die Diskussion einbezieht. Es ist das Gesprach m i t d e m Seher, der sich riihmt, der v o l l k o m m e n e
26 Vgl. meinen Vortrag >Aristoteles und die imperativische Ethik<, in diesem Band, S. 388 ff.
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Fachmann im Wissen von den gottlichen Dingen zu sein 27 und der in seiner lacherlichen Einbildung jede Regung von Piet'at und Familicnsolidaritat vermissen laBt. In d e m sokratischen Gcsprach wird er in seiner Lacherlichkeit bloBgestellt. Der >Euthyphron? n i m m t dadurch eine wahre Schlussclstellung innerhalb dieser negativ ausgehenden Gesprache ein und vermag den Sinn des sokratischen Tugcndwissens am hellstcn zu belcuchten. Es ist ein Gesprach mit dem Fachmann in gottlichen Dingen, der mit seinem Wissen auftritt, wahrend Sokrates Bescheidung im Nichtwissen zeigt und kein Wissen iiber das Frommsein behauptet. E u t h y p h r o n wird hier als ein in Athen oft verlachter Seher cingefuhrt, der seine Sehcrgabcn nicht gerade beweist, wenn er den ProzeB gegen Sokrates, von dem er erfahrt, ganz auf die leichte Schulter n i m m t . Hier soil offenkundig das Wissen dieses Fachmannes entlarvt werden, und im Laufe des Gesprachs k o m m t sein Wissen u m die gottlichcn Dinge als cine klagliche Geschaftsspckulation heraus. M a n muB sich doch wohl fragen, ob ein solcher Begriff eines >Fachmannes< in solchcn Dingen iiberhaupt angemessen sein kann. SchlieBlich geht es hier u m eimfieia, u m Frommsein. Da mochte es scheinen, dafl im U n t c r schied zu diesem fatalcn Seher Sokrates etwas von cvoF.fietn; weiB. Das ist dann gewiB ein anderes Wissen als das, was durch eine richtige Definition bewiesen wird. Das soil man als Leser des Dialogs offenkundig einsehen. Dabei mag es auch noch einleuchten, daB auch das ein Wissen ist, so zu sein. Denn etwas von der Unbeirrbarkeit des Wissens, das wie das Wissen des Mathematikcrs ist, gehort doch wohl zu solchem Frommsein. Da mag einem von Feme dammern, daB Plato hier den Gegensatz zu allem Expcrtcnwissen gerade an Sokrates zeigen will, Er weifi, was Frommsein ist, wenn auch in der ironischen Verstellung des Nichtwissens, die er seinem Fachmann in gottlichen Dingen gegeniiber einnimmt, und indem er sich zugleich zu seinetn Scnpoviov bekennt, dem er gchorcht. Man soil ein solches Gesprach schwerhch so lesen, dafi m a n die Schliissigkeit der Argumentationcn priift, durch die Sokrates sein en Partner vor uns blofistellt. Eher sollte man mit dem Aufdeckcn mitgehen, das uns am Gegeniiber dieses anmaBenden Sellers mit Konsequenz vorgefiihrt wird. Das ist eine drastischc Gcgeniiberstellung von zwei Personen. v o n dencn der eine ein Experte im Frommsein ist und ein andercr, der weiB, was Frommsein ist, und das •nbeirrbarin seinem Leben u n d b i s i n s e i n c T o d e s s t u n d e h i n e i n b e w a h r t . Da wird nicht die Idee des F r o m m e n definiert, aber es wird an einem Gegenbilde gezeigt, wie einer nicht weifi, was Frommsein ist, und von wirklichem Frommsein iiberhaupt kcine Vorstellung hat. Wir folgen also dem Gesprach zwischen diesen beiden Personen nicht mit dem Interessc an der Logik der Argumentation oder gar mit dem Interesse an 17
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der Geschichte der Logik, fiir die gerade an diesem Dialog, von Robinson 2 8 an, Musterhaftes geleistet worden ist. Wir fragen vielmehr mit d e m u m g c kehrten Intercsse, wieso in dem Vorgehen der sokratischen Argumentationcn uns das Gesprach zu Einsichten fuhrt, die nicht auf der Beweiskraft der A r g u m e n t e beruhen, aber fiir den, der dem Gesprach folgt, eine zwingende Oberzeugungskraft bewcisen. Die cnglischc Platoforschung hat diesem Dialog in den letzten Jahrzehnten besondere Aufmerksamkcit gewidmet. Das Instrument der modernen Logik fmdet hier, wie in so manchen anderen Definitionsdialogen Platos, ein reiches Anwendungsgebict. Wenn man sie als logische Traktatc liest und ihre Argumente auf ihre Schliissigkeit priift und dabei, wie es geboten ist, vom Inhalt der A r g u m e n t e absieht, dann deckt man sowohl an Sokrates' Verfahren wie an dem Verhalten des Partners tnanche logische Fehlerhaftigkeit oder Konfusion auf. Wer ein solches logisches Vorhabcn hat, die Schliissigkeit der Argumentation zu priifen, muB von allem Interesse an den Personen, Situationen und selbst den Inhalten der Gesprache abschen. Es ist wie ein logisches Raster, das iiber ein lebendiges Gesprachsgeschehen gclcgt wird, wenn man so an den Text herantritt. DaB wirkliche Gesprache - und ebenfalls so meistcrhaft gedichtetc Gesprache - logische Fehler und U n g e nauigkeiten enthalten und gleichwohl rhctorische Suggestion fiir das Rechte und Wahre auszuiiben vermogen, wird niemand bcstreiten. Gesprache, die wirkliche Gesprache sind, werden in der Praxis des Lebcns immer auch solche logischen Ungenauigkeiten und Argumenta ad h o m i n e m enthalten. Wenn nun ein Kiinstlcr des Gespraches oder gar einer, der Gesprache als ein Kiinstler zu dichten weiB, solches Gesprachsgeschehen darstellt, dann beruht das philosophische Interesse daran nicht an dem, was das logische Raster abdcckt. Die Aufgabe ist dann eine andere. Die logische Analyse wird fur den Plato-Leser nur soweit von Interesse sein, als er sich fragt, w a r u m das fehlerhafte oder schwache Argument gleichwohl seine Wirkung tut. Das bewuBt zu machen, fuhrt dazu, die Vormcinungen der Personen und die Absichten des Sprechers, die sein Verhalten im Grunde dirigieren, durch die logische Analyse zu klarer Abhebung zu brmgen. So habe auch ich mich der Belehrung durch logische Analysen des Dialogs zu bedienen gesucht, w o mir diesclbc einen solchen Gewinn vcrsprach. DaB ich mich damit auf gesichertem platonischem Bodcn bewege, kann fiir jeden Kenner des platonischen >Phaidros< nicht zweifelhaft sein. D o r t wird j a die irrnere Verflechtung von Rhetorik und Dialektik, von persuasion u n d logical argumentation zum ausdrucklichen Thema erhoben. Wenn man auf diese Weise im Blick auf die Sache einen platonischen Dialog wie den >Euthyphron< zu lesen u n t c m i m m t , der den platonischen Sokrates in einem Gesprach iiber das
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RICHARD ROBINSON,
Plato's Earlier Dialectic. O x f o r d
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Wescn der evoefista, der Frommigkeit, vorftihrt, dami wird einen gewiB leiten, was einen selbst bei dem Gedanken an Frommigkeit u n d als die Gottcsfrage bewegt. M a n wird aber zugleich wissen miissen, was tvufjina und was das Denken iiber das Gottliche in platonischer Zcit war. Das war der Grand, warum ich die >Arbeit am Mythos< so genau dargestellt habe, in die sich die Dichter wie die Philosophen Griechenlands tciltcn. Auch in anderen platonischen Dialogen, nicht nur in diesem Gesprach nut dem Schcr Euthyphron, frndet das Dargclcgte seine Bestatigung. In groBter Breite gilt es von der Dichterkritik der ;Politeia<, msbesondere von der Kritik an den homerischen und hesiodisclicn Gottergeschichten. Sic spielt seit alters in die Aufgabe der griechischen Dichtung hinein, etwa in Pindar. Sokrates ist sich im (Euthyphron* vollends bewuflt, dall die absurde Asebieanklage, die ihn t n f f t , wescntlich darauf zuriickgeht, da 11 auch er gegeniiber d e m altcn Mythos seine anderen, bcreimgtcn Vorstellungen vertritt. Z w a r mag, wie der Schcr Euthyphron sogleich vermutet (3b), auch des Sokrates gelegentliche Berufung auf das >Daimonion(, die Stimme, der er selbst gchorcht, eine Rolle gespiclt haben. Aber in Wahrheit war es ja nichts, fiir das er wie fur eine Gottheit Vcrchrung forderte, auch wenn sie in seinen Augen etwas von der Oberlegenheit einer gottlichen Stimme hatte. Das zeigt sich etwa in der platonischcn >Apologie< daran, wie leicht sich dieser Anklagepunkt, daB cr neue Gotter einfiihre, widcrlcgcn liefi. Plato laBt nun in diesem Dialog den Leser fiihlcn, wTie absurd die Asebicanklage gegen Sokrates war, indem er Sokrates und seine Unwissenheit in gottlichen Dingen so drastisch gegen die Verblendung des vermcintlich wissenden Expcrtcn stellt. Das geschieht frcilich mit einer enornien ironischcn Verschiebung, durch die Plato ein wahrhaft f r o m m c s Vcrhalten am Gegensatz zu einem solchen anmaBendcn Seller sichtbar macht. Das ist cchter Plato. Wir haben an diesem Extremfall des Expertcn in gottlichen Dingen etwas Ciber den Sinn von Wissen zu lernen, u m den es sich handclt, wenn es um die sokratische Unwissenheit geht. Das ist insofem echter Plato, als dieser Uberstieg iiber alles Fachwissen, und sei es das der Mathetuatik, am Ende uberall auf den unendlichen Dialog der Seele mit sich selbst ziclt. Es ist nicht n u r die sokratische Seelenfuhrung, es ist die weiteste O f f n u n g fiir allc Fragen wirklichen Denkens, die sich hier darstellt. Versuchen wir den >Euthyphron< so zu lesen. Wenn die beharrlichc Fragcencrgie des Sokrates einsetzt, so ist sie von geradezu iiberdeutlicher Ironie, und am Ende wird der Partner vollig deklassiert. Diesem Partner gegeniiber soil der Gang des Gespraches offenbar weniger den anderen fiihren als den dritten, den Lcser, der diesem Gesprach folgt u n d dadurch an ihm teiln i m m t . Es ist ein wahrhafter inaKiiKOi Aoyvc. den man in seinen Sinnlinicn auszuziehen hat. Das gilt fiir allc diese sokratischen Gespriiche. N u r dann wird man einen platonischen Dialog verstehen. Das gewohnte Defim-
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tionsritual, das wir aus vielen sokratischen Dialogcn kennen, fehlt in diesem Gesprach mit dem Seher nicht ganz. Aber es tritt in diesem Falle recht modifiziert auf. Euthyphron scheint mit dem sokratischen Verlangen durchaus nicht unvertraut. Z w a r klingt seine erste A n t w o r t auf die Frage, was Frommigkeit sei, etwas anmaBend. Er antwortct: »Was ich hier tue, indem ich die Befleckung zu siihnen fordere«, die (nach sakralem Rccht) durch den von seinem Vater verschuldetcn Tod des Ubeltaters an dem ganzen Hausc haftc. Euthyphrons A n t w o r t wird sogar durch ein hochst einlcuchtendes Prinzip gestutzt, das Prinzip der Gleichheit aller vor d e m Recht, das auch gelten miissc, wenn es sich u m den eigenen Vater handcle. Was von dieser A n t w o r t in Wahrheit zu haltcn ist, wird indessen durch die geradezu hanebiichene B e r u f u n g auf die hesiodischen Gewalttatcn der U r gottheiten gegen ihre eigenen Vater fiir jeden Leser deutlich gemacht. Der von E u t h y p h r o n eingenommcne Rechtsstandpunkt, der in abstracto, insbesondere fiir moderne Leser, so iiberzeugend ist, diskreditiert sich selber, wenn er mit einem so scltsamen Wissen von gottlichen Dingen und solcher Berufung auf sie vorgebracht ist. Die Fortsetzung des bekannten Defmitionsrituals hat hier offenkundig weniger denn je den Charakter einer logischen Schulstunde. Es vcrlauft eigentiimlich muhelos und ohne AnstoB. Wenn Sokrates statt der Aufzahlung vielcr Beispiele die eine Idee (pia IBL
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las sen und cinc Art Eimgkeit der Gotter m so klaren Fallen wie dem von Blutschuld bereitwillig zu unterstellen. Man versteht, w a r u m . Die tiefe Schwachc der A n t w o r t kann durch dieses Zugestandnis nur um so klarer hervortreten. Damit zielt das Gcsprach z u m ersten Mai auf das, was hier wirkliches Wissen ware. DaB Unrecht Strafe verdient, ist freilich ein G r u n d satz, den m a n leicht zugeben kann und der auch unter den Gottcrn nicht Uneimgkeit stiffen wiirde. Das gilt ja sogar unter den Menschen, daB dariibcr kein Streit ist. Das Strittigc ist nicht der allgemeine Grundsatz, sondern immer dies, ob etwas der Fall fiir diesen Grundsatz ist. Darauf k o t n m t cs an, ob einer sein Verhalten im konkreten Falle rechtfertigen kann, sofern in diesem Falle auch andere Grundsatze und Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen sind. Da gibt es nun offenbar in den Augen des Sokrates und in den Augen des platomschen Lesers eine allgemeine sittlicheGegeninstanz, und offenbar sctzt das Plato voraus. Die Forschung hat wahrschcinlich gemacht, daB Plato hier einen tatsachlichen alteren Rcchtsfall aufgegriffen hat, der offenbar exemplarische Bedeutung besaB. Das allgemeine Aufschen, das der Rechtsfall scincrzcit erregt hatte, bestatigt nun, daB es dabei um die Vcrlctzung der Pietatspflicht gegen den Vater ging. Plato benutzt die Geschichte, um den wahren Sinn von evoepaa, von Frommigkeit und Pietat, dem Lescr dcutlich zu machen, und das ganzc professionelle Wissen des anmaBenden Sehers von da aus ins rechte Licht zu setzen. Jedenfalls wcist der Gespriichsverl auf immer wieder auf den entscheidcnden Punkt, ob die B e r u f u n g auf die Rcchtslage, die der Seher gcltend macht, wirklich der£«7£/J«<7cntspricht. U n d das soil durch eine Definition entschieden werden? Nicht ohne Nachdruck hcifit es am SchluB des Gesprachcs: »Denn wenii du, du Kenncr in Dingen des Frommen, nicht ganz genau das F r o m m e und N i c h t f r o m m e kenntest, konntcst du dichja nicht unterfangen, u m cines Tagclohners willen deinen greiscn Vater wegen Mordes zu verfolgen, sondern flattest doch w o h l Furcht vor den Gottern, dafi du Gefahr liefest, damit nicht richtig zu handeln, und cbcnso Scheu vor den M e n schen. « (15d). Was das hicT ganz genau heifit, das kann man aus dem >Pohtikos< (284d ff.) lernen. Wenn das Gesprach am Ende auf die A n t w o r t zuriickfiihrt, die Euthyphron glcichanfangs gegeben hatte, Frommsein heiBt, den Gottern licb sein, wird gleichsam als AbschluB klar. dafi der Seller nichts anderes kennt und nichts Bcssercs weifi. Er kennt das >Heilig-Fromme( iiberhaupt nicht in cincr anderen Sehweise, als wie m a n sich bei den Gottern beliebt macht. Sokrates hatte ihn in die Enge getrieben, daB doch wohl etwas den Gottcrn licb sein wird, weil es heilig-fromm ist. Das ist cinc Argumentation, die der Seher schliefilieh sogar akzepticrt, daB die Belicbtheit bei den Gottern cinc solche Folge ist. Dann kann das aber nicht das Heilig-Fromme defimeren. N u n
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kann man, wie etwa Olof Gigon in seiner scharfsinnigen Analyse des Dialogs getan hat 2 9 , es dem Seher geradczu als einen Fehler und als eine falsche Nachgiebigkeit vorrechncn, daB er am Ende zugibt, das Frommsein sei der Grund dafur, daB die Gotter einen lichen, und nicht umgekehrt. E u t h y phron hatte, so meint der Forschcr, auf die Frage, ob die Gotter das lieben, was heilig-fromm ist, u n d weil es das ist, daran fcsthalten sollen, daB etwas eben nur deshalb heilig-fromm ist, weil die Gotter es lieben. - Falls es hier auf nichts anderes ankame, als ohne Riicksicht auf die Sache, u m die es geht, recht zu behalten, hatte Euthyphron der E m p f e h l u n g Gigons folgcn sollen. Aber ein solcher Sophist ist er nicht. Die weitere logische Analyse der sokratischen Argumentation crgibt, daB Sokrates hier zwei A r g u m e n t e miteinander zusaimnenflieBen laBt: >Wcil etwas gefuhrt wird, ist etwas ein Gefiihrtes<; und ebenso soil gelten: >Weil etwas gclicbt wird, ist es ein Gelicbtes<. Das soil gelten. In Wahrheit hat es offenbar einen anderen Sinn, wenn es heiBt, etwas ist ein Gefuhrtes, weil einer es fuhrt, oder wenn es heiBt, einer ist ein Geliebter, weil einer ihn liebt. D e r Sinn von >weil< ist in den beiden Satzen nicht der gleichc. Die Zusammenstellung der beiden A r g u m e n t e macht es nun indirekt iiberzeugend, worauf es Sokrates a n k o m m t , daB nicht das Lieben dcr Gotter etwas heilig macht, sondern daB sie das lieben, was heilig ist und weil es hcilig ist. Wenn einer f r o m m ist, ist er den Gottern lieb, aber nicht wenn einer von den Gottern geliebt ist, ist er deshalb f r o m m . Geliebtwerden ist ein Geschehen, ein >Pathos<. Hcilig- oder Frommsein ist ein Sein, kein nudoc, nichts von dem Fliichtigen, das einem geschieht. Die von Plato gebrauchten Ausdriicke, ovoia und nadoq, wollcn offenbar nicht eine bestimmte bcgnffliche Lehre voraussetzen, sondern wollen unmittclbar verstandlich sein. Es liegt nicht an diesen Ausdriickcn, wenn der Partner nicht fclgt. Die Ausdriicke kniipfen an die Bedeutungsintention der Worte in der gebrauchlichen Sprache an. Offenbar ist abcr die Subtilitat der Argumentation fiir den Partner zu hoch. Ihm begimit sich alles zu drehen. Er kann solchen Untcrschcidungen nicht folgcn. Das soil gewiB seine Denkunfahigkeit zcigen. Jn Wahrheit hat das A r g u m e n t eine unmittclbare Evidenz. Ein-von-den-Gottern-Gelicbter-scin meint doch, so zu sein, daB er geliebt wird, daB er dessen wert ist. Selbst im griechischen Ausdruck ifcoipdj^' (wie in unserem Vornamen >Gottlieb<) klingt die daucrhafte Qualitat eines Seins starker an als das Voriibergehende, das passiert (nr/Dtx;). So folgt dcr nicht eben mit Scharfsmn gesegnete Seher, ohne die Schwachung seines Argumcntcs uberhaupt zu bcmcrkcn, der natiirlichcn Evidenz und stimmt aus Eigenliebe zu.
25 O . G I G O N , Platons Euthyphron. In: D E R S . , Studien zur antiken Philosophic. Berlin/ N e w York 1972, S. 188-224.
Sokrates' Fromniigkeit des Nicht wissen s
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Zur Sache ware anzumcrken: Plato gebraucht die beiden griechischen Ausdriicke ooiov und zvoeftfc nicht in klarer Unterscheidung. O h n e Zwcifel ist der Ausdruck Euthyphron<, geht das Gesprach ruhig weiter und bringt weitere logische Beispiele, an dencn dem Leser die Fragwiirdigkeit dieses >Schcrs< deutlich werden soli. So wird nach der Untcrscheidung des ooioi, des Heilig-Fromnien, und anderen damit verwandten Begriffcn gefragt. Wicdcr werden wir mehr auf die Beispiele achten miissen, ob nicht auch sie auf ihre Weise der Blofistellung des Mannes, mit dem Sokrates hier k o n f r o n tiert wird, dienen und damit der Sokratcsgcstalt Bestimmthcit verleihen. Wenn Sokrates das Verhaltnis der Begriffe omov und o thai or, >fromm< und >gerecht<, anfiihrt, so ist das offenkundig wohlgezielt. Zwar soli es zunachst
M S . M . C O H E N , Socrates and the definition of piety. In: Journal of the History of Philosophy 9 (1971), S. 1-13.
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Auf dem We g zu Plato
nur verdeut lichen, was iiberhaupt Unterscheidung von Begriffen meint und wie sich der engere Begriff von dem weiteren unterschcidet. Aber daB das doiov, das Fromme, fiir das sich der Seher E u t h y p h r o n als der Fachmann ausgibt, in enger Begriffsbeziehung zum Mmiov, zum Gerechten, steht, soli dem Leser bewuBt machen, daB es dafur niemanden als Fachmann gibt. Das ist jedermanns Sachc. So bedeutet die Erorterung des Bei spiels eine weitere Vorbereitung der Kritik an der fatalcn Spezialistcnblindhcit, in der sich Euthyphron als Expcrte bewegt. - Vollends wird das an dem erlauterten Beispiel klar. Da wird ein Dichterwort angcfiihrt, in dem cs heiBt, »wo Moq (Furcht) ist, da ist auch aiSuc (Ehrfurcht, Scheu)«. Auch das ist beziehungsvoll. Eben war das Gerechte das Umfassendc gcwescn und das F r o m m e ein Teil des Ganzen. Hier wird Furcht das umfassende Ganze, zu dem Ehrfurcht und f r o m m e Scheu nur als ein Teil zu gehorcn schcinen. Sollte etwa der Spezialist in f r o m m e n Dingen es an dem groBeren Ganzen, dem Gerechten, und damit an Rechtlichkeit, vielleicht gar in seinem eigenen Falle, fehlen lassen? U n d versteht er cbcnso von den f r o m m e n Dingen wirklich nur soviel, wic ihm Sokrates unterstellt, wenn er, ohne Euthyphrons Widerspruch zu erregen, Ehrfurcht und Scheu nur auf Furcht und auf der Besorgnis beruhen laBt, daB man sonst in den Ruf der Schlcchtigkcit kamc? Ist Ehrfurcht nichts andcrcs? Und wie denkt in Wahrheit ein Mann, der solches hinnimmt und sich zugleich als Experte iiber die f r o m m e n Dinge weiB? In der Tat n i m m t das Gcsprach die Aufgabe wieder auf, das Scrtov als die f r o m m e n Dinge von den rechtlichen Dingen spezifisch zu unterscheidcn. Der gemeinsame Begriff, der in Vorschlag gcbracht wird, ist der Begriff des Dienstes, des Gottesdienstes und des Menschendienstes. Anders gesagt: des U m g a n g s mit den Gottern und des U m g a n g s mit den Mcnschen. Wenn solcher U m g a n g >Dienst< ist, dann schlieBt das Sorge fiir den anderen ein. Dann cntsteht aber das mifiliche Problem, welchcr Sorge denn die Gotter von seiten der Menschen bediirfen. So steuert auf diesem Wege die sokratische Gcsprachsftihrung wieder auf den schwachcn Ausgangspunkt zuriick. Das einzige, was Mcnschen den Gottern anbieten konnen und woriiber der Experte in f r o m m e n Dingen angeblich so gut Bescheid weiB, blcibt dann, wie man den Gottern Geschenke darbringt und zu ihnen betet. Damit lauft aber in letzter Konsequenz alles auf eine geschaftliche Bcziehung zwischen den Menschen und Gottern hinaus. Es ist das Konnen eines Geschafts ma lines im Handel mit den Gottern. Das hort Euthyphron frcilich iiuBerst ungern, aber er stimmt zu, »wenn es dir angenehm ist, das so zu nennen« (14e). Evoifmri ist also nichts andercs als das Wissen und Konnen im Geschaft mit den Gottern, so daB man die Gefalligkcit der Gotter einhandelt. - Damit fiihrt in Wahrheit das Gesprach auf den langst widcrlegten Punkt zuriick. Das Wissen u m die f r o m m e n Dinge ware nichts als die Kunst, sich bei den Gottern beliebt zu machen. Die Unterscheidung zwischen d e m wirklichen
Sokrates' Fromniigkeit des Nicht wissen s
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Frommsein und dem Beliebtsein bei den Gottern, die schon v o r d e m dem Seher nicht in den Kopf gcwollt hatte, ist abermals mifilungen. Der Leser dieses Gesprachs zwischen Sokrates und dem cingebildeten Seher m u d ohne Zweifcl zu der Oberzeugung gelangcn, daB hier Sokrates als ein M a n n geschildert wird, der wcifi, was Frommsein ist, ohne daB er darin einen Beruf siihe, und mit einem Mann konfrontiert ist, der sich als Fachmann fi'ihlt und in Wahrheit keine Ahnung davon hat, was Frommsein ist. Jcdenfalls kann m a n das Ergebnis des Gesprachs, dieses auf die allgemeine Formel bringen, daB alles Scheinwissen ein fur allenial das Fchlen der idorischen Harmonie* von Logos und Ergon verrat- 11 .
11 Die f u n d a m e n t a l Bedeutung dieser dor i sehen H a r m o n i e ha be ich am >Lysis< gezeigr (Ges. Werke Bd. 6, S. 171-186). Sie findet eine letzte Bestatigung in der SchlufSwendung, die die Sucfie nach dem Wesen des Sophisten niramt. Vgl. in diesem Band, S. 365 f f .
II. Sokratischer Dialog und Platonische Dialektik
5. >Platos dialektische Ethik< - beim Wort genommen (1989)
In meinen Augen sind mcine Studien zur gricchischcn Philosophic dcr eigcnstandigste Teil meiner philoso phi sehen Arbeiten. Die Dissertation des zweiundzwanzigjahrigen Studenten beruhtc zwar auf cincm sclbstandigcn Studium des platonischen Gesamtwerkes, hielt sich aber noch ganz in den Bahnen meines damaligen Lehrers, Paul N a t o r p , dessen Ideen zum Thema ridovi'i (Lust) bei Plato ich auszuarbcitcn versuchtc. Spater begann ich, die Bcdcutung der griechischen Philosophic besonders u n Lichte der aristotelischen Ethik zu sehen. Sic war mir durch Nicolai Hartmann nahcgcbracht worden, der damals in Aristoteles eine Art phanomenologischen Heifer bei seiner von Max Scheler inspirierten Ablcisung vom NTcukantianismus crblicktc. Abcr die cigentliche Einfuhrung in das Verstandnis des Aristoteles und seiner Bedeutung fur unser Weltverstandnis verdankte ich der Begegnung mit Martin Heidegger im Sommcr 1923. Damals ging mir auf, daB m a n die aristotelische Ethik als eine wahrhafte Erfiillung der sokratischen Forderung zu lesen hat, die Plato als die sokratischc Frage nach dem Guten in die Mitte seines Dialogwerkes gestellt hatte. Als ich im Jahre 1927 meine philologischen Studien mit dem Staatsexamen abgcschlosscn hatte, nahm ich den groBcrcn Arbeitsplan iiber die sokratische Frage nach dem Guten zwischen Plato u n d Aristoteles wieder auf. Die Umstande notigten mich aber zu groBer Eile, weil Heidegger niich wissen lieB, daB er vermutlich v o n M a r b u r g nach Freiburg zuruckkehren wcrdc. So kam cs, daB von dieser Arbeit nur der erste Teil ausgefiihrt wurde, der im Jahre 1931 unter d e m Titel >Platos dialektische Ethik. Phanomenologische Interpretation en zum Philebos< erschien 1 . Dieses Buch ist also mein erster Beitrag zur Plato-Forschung, und es sollte fiinfzig jahre dauern, bis ich in einer Art vorlaufigem AbschluB in der Heidelbcrger Akadcmie der Wissenschaften eine Abhandlung vcroffentlichte >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles* 2 .
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Jetzt in Band 5 dcr Ges. Werke, S. 3-163. Jetzt m diesem Hand, S. 128-227.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
Heute bedarf es wohl einer kurzen Erlauterung, was der Untertitel >Phanomenologische Interpretation en* daraals bedeuten sollte. Man muB sich die philosophische Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg vergcgenwartigen. Es war das Ende eines Zeitalters, des Zcitalters des Liberalismus, des uneingeschrankten Fortschrittsglaubens und der unbestrittenen Fiihrung der Wissenschaft im Kulturleben, das in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges unterging. DaB die jungc Generation, die nach dem Kriege an die Universitaten zuriickkehrte, von diesen Werten nicht mehr iiberzcugt sein konnte, zeigtc sich auch in der Philosophie. Die am Faktum der Wissenschaft orientierte neukantianische Philosophie, die die deutschen Katheder beherrschtc, hatte bei uns Jungen an Glaubwiirdigkcit verloren. Auch die Marburger neukantianische Schule, in der ich erzogen worden war, befand sich in der Auflosung. Mem Lehrer Paul N a t o r p suchte in der Fortbildung seiner >Allgcmeinen Logik* das >Urkonkretc< einzufangen; ein anderer meiner Lehrer, Nicolai Hartmann, w a r im Begriff, sich ganz v o m transzendentalen Idealismus zu losen. Aber wichtiger war die Wirkung, die Dostojewski und die deutsche Diederichs-Ausgabe der Schriften von Soren Kierkegaard ausiibten. Durch Kierkegaard w u r d c der Existenzbegriff im emphatischen Sinne einer kritischen Jugend wic ein Appell zugelcitet. Kierkegaard machte in der Kritik an Hegels Ideal des absoluten Wissens geltend, daB >der absolute Professor in Berlin* das Existieren vergessen hat. Diese Kritik begann sich gegen den Neukantianismus zu richten und verband sich mit der kulturkritischen Grundstimmung, die das verarmte Deutschland durchatmete. So w u r d e die von Husserl begriindetc u n d von Max Scheler wirksam vertretene Phanomenologie zu einer kritischen und re volution a rcn Parole. Wenn man heute im Abstand beschrciben will, was die von Husserl selbst ausgegebene Parole >zu den Sachen selbst* meinte, so war das ein P r o g r a m m gegen das scharfsinnige Argumcntieren der Erkenntnistheorie, die die Wissenschaft transzendentalphilosophisch zu rechtfertigcn hatte. Husserl setzte ihr die Bcschreibung der Phanomene cntgegen und verwarf alle psychologischen Konstruktionen und alle anschaulich nicht ausweisbarcn A r g u m e n tationen, Im Seminar pflegte er zu sagen: »Nicht immer so groBe Scheine, Kleingeld, meine Herren!« Das war zwar neu, aber nicht gerade ein K a m p f ruf. Dagegen bedeutete das Auftreten des jungen Privatdozenten Heidegger in Freiburg und dann des jungen Professors Heidegger in Marburg so etwas wie eine Revolution. D a wurde die Phanomenologie Husserls, die sich selbst transzendentalphilosophisch verstanden hatte, mit gewaltiger Encrgie auf die Grundfragcn zuriickgefuhrt, die uns bewegten. Heidegger hatte das im Auge, als er einmal in einem Buch Husserls, in dem die Parole >zu den Sachen* selbst von Husserl wiederholt wurde, an den Rand schrieb: »Wir wollen Husserl beim Wort nehmen.«
'Platos dialektischc Ethik< - bcim Wort g e n o m m e n
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>Dic Sachcn selbst', das hieO nicht nur Abschied nehmcn von der traditionellen Beg riffs sprache der Tr an s zendent a 1 philosophie u n d ihrer G r u n d orienticrung am Faktum der Wissenschaft statt an den Phanomcnen. Dieser Wendung hatte Husserl selbst vorgcarbeitet und dem in d e m neuen Wort >Lebenswelt< einen bis heute i m m e r deutlicher sprechenden Ausdruck gegeben. Die Ablehnung des von der modernen Wissenschaft her begrenzten Erkenntnis- u n d Wahrhcitsbcgriffs wies den von religiosen Zweifeln und Existcnzfragen umgetriebenen jungen Heidegger in die wciten Gcfilde des historischen Denkens, die Wilhelm Dilthey der Transzendentalphilosophie entgegcnhiclt. Da begegnete ihm obendrein Kierkegaard, der in seiner vehementen Kritik an dem lauen Christentum seines danischen Vaterlandes die Forderung aufgestellt hatte, man miisse aufhoren, >auf Abstand< zu verstehen. Was fiir einen christlichen Denker eine kritische Haltung gegeniiber der Kirchc darstellte, w u r d e fiir Heidegger und fiir uns cine kritische Wendung gegen die akademische Philosophie, die Problemgeschichte des Neukantianismus und die transzendentale Phanomenologie Husscrls. So erklaren sich Haupttitel und Untertitcl meincs ersten Buches. In Wahrheit war es eine durchaus akademische Habilitationsschrift, die die platonische Dialektik und ihre spezielle Ausforinung in dem platonischen >Philebos< behandelte. Aber die Formel >dialektische Ethik< zeigte eine Intention an, die sich durch das Ganze meiner spateren Arbeit durchgehalten hat. Wenn man sich der Radikalitat von Heideggers Frageenergie ausgesetzt sail, war cs unausweichlich, daB m a n sich an die altc Aufgabe der Ethik, die praktische Philosophie, erinnerte, die in Theorie und Praxis eine freilich schwer begreifliche Einheit bildet. So hat Heidegger in Marburg zunachst gewirkt und dann auch durch >Sein und Zcit< dicsc von Kierkegaard inspirierte Intention gestarkt. Dazu k a m die protestantische Theologie, der das Rcdcn iiber Gott zum Problem geworden war. Z u d c m wurde die Eigentlichkeit des Daseins meist im moralistischen Sinne verstanden. Wie man bei Platos A u f n a h m e der sokratischcn Frage u n d seiner Dialektik von einer Ethik sprechenkann, wardieFrage, dieich mir selbst stelltc. Ich versuchte das durch phanomcnologische Arbeitswcisc aufzuklaren. Das bedeutete zunachst, daB ich auf den urspriinglichen Sinn von >Dialektik<, wie Plato das Wort gebraucht, zuriickging. Da meint >Dialcktik< die Kunst, ein Gesprach zu fiihren. Der sokratische Dialog u n d die sokratische Frage nach dem Guten waren der lebcnswcltliche Hintcrgrund, von dem aus Plato uberliaupt Philosophie >Dialektik< nemien konnte. Ich versuchte, diesen lebensweltlichen Hintergrund im Deutschland der zwanzigcr Jahrc neu zum Sprcchcn zu bringen. Die sokratische Frage muBte in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts in Deutschland mit einer inneren Notwendigkeit die Schwiiche und U n k r a f t des cigcnen StaatsbcwuBtscins bewufit machen. So entwickelten in diesen Jahren so wohl die Altertum swiss en schaftcn wie die Philosophie ein
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
neues Interesse an d e m >politischcn< Plato, an seiner politischcn Haltung und den politischen Intentionen seiner Philosophie. Das steht gewiB im Hintergrund auch meines eigenen Erstlings. Aber cs sollte nach meinem eigenen Wilien ein richtiges Gesellcnstuck sein, das es unternahm, an Plato selbst Philosophic im ursprunglichen Sinne, wenn auch im akademischen G c w a n de, wiederzugewinnen. Das crlaubtc mir, die philologisch-historische Forschung ganz den Sachinteressen unterzuordnen und ebcnso die Fragestcllungen der damaligen >Wcrtethik< beiseitezu lassen und, w o i m m e r es ging, auf die Sachen selbst zuruckzugehen, auf die Phanomene, wie sie sich in u n d o g matischer und unverstellter Betrachtungsweise dem fragenden Blick des Philosophierens zcigten. >Phanomenologischc Interpret a tionen< bedeutete also Beschreibung der Phanomene selbst, die dann erst u n d von da aus den begrifflichen Ausdruck sucht, den die Phanomene im platonischen Denken gefunden haben. Ich sah mich damit vor einem Problem, das mich spater auf ein Grand problem der Hermcneutik fiihrcn sollte, die Sprachlichkeit des Verstehens. Wic laBt sich - so fragtc ich mich damals - ein griechischer Text, welcher nach dem Guten im menschlichcn Leben fragt, wie der platomsche >Philebos<, von den Grunderfahrungen unscrer eigenen Lebenswclt aus neu zum Sprechen bringen? Es gait, die von den Griechen gebrauchtcn Begriffe zum Sprechen zu bringen. Wiirden wir die griechischen Begriffe nur iibersetzen und wiederholen, dann wiirden wir uns darin nicht wie der erkennen. Das schien mir die Grcnze der klassischen Plnlologie der Schule Werner jaegers. Wenn wir beispielsweise mit Plato fiir das griechische Wort yiSovq >Lust< sagen, dann verstehen wir im Grunde nicht, daB das Leben vor der Wahl steht, die Lust oder die Erkcnntnis fur das Hochstc zu halten. Die Lust wahlen oder das Wissen wahlen - was versteht man da? Alles, was wir mit der SiiBe des Lebens verbinden und was seine Freuden ausmacht, scheint im griechischen ritiovq mitgemeint, ein wahrhaft ausuferndes Wortfcld, das bis in die Ungreifbarkeit von Wohlsein und Unwohlsein reicht. Schon stehen wir mitten in der Fragestcllung des sokratischen Gesprachs. Wir sehen, daB es n o t w e n d i g ist, zwischen der Vielfalt dessen, was Lust und Freude ist, zu unterscheiden. Ebenso muB man zwischen den Formen des Wissens unterscheiden. Im Griechischen heiBt es emaiijpTi, ispry, tppavqatQ, ampta u n d iwc. die wir mit Wissen, Konnen, Besonnenheit, Sinn und Verstand, Vernunft u n d Vernunftigkeit wiedergeben konnen. Diese Worte deuten auf einen einigermaBen gemcinsamen Z u g , den die Griechen in > Logos* (Xnyoc) zusammenfaBten und den wir eher als Geistigkeit, jedenfalls nicht als >Wissenschaft* bezeichnen konnten. Insofern verstehen wir die F rages tell ung des platonischen Dialogs als die Spatuiung zwischen Drang und Gcist ganz unmittclbar, und es wird kcinem Historismus gelingen, dieses Verstehen zu verfremden.
•Platos dialektische Ethik<- beim Wort g e n o m m e n
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Es stellt sich auch das bcsondere hcrmeneutischc Problem, was die schriftliche Wiederholung u n d nochmalige Erweckung der Sokrates-Gestalt im platonischen Schrifttum Jahre und Jahrzehnte nach dem Todc des Sokrates bedcutct. Das ist cine philosophische Aussageweise, die mit mannigfaltigen perspektivischen Verschiebungen arbeitet und nicht bruchlos in die spate re Begriffssprache des Aristoteles iibersetzt werden kann. Was mir durch Heideggers Einfuhrung in das aristotelische Denken in der Ethik, Rhetorik, Physik und Metaphysik zutcil geworden war, muBtc an dem platonischen Dialog eine Bewahrungsprobe eigener Art bestehen. Denn hier Lst die Sprachc des Begriffs nicht vorherrschcnd. Wenn etwas die Form der philosophischen Aussage Platos kennzeichnet, dann ist es die ebenso augenfallige wie wundcrbare U b e r e i n s t i m m u n g zwischcn Xoyoq und tpyov, zwischen Rede und Sein, Begreifen und Tun 3 . So bin ich zunachst den inneren Zusammenhangen zwischen dem sokratischen Dialog, wie er bei Plato erscheint, und der Dialektik, die Plato Sokrates in den M u n d legt, aber mit der er zugleich iiber die Sokrates-Rolle hinausgeht, nachgegangen. Mein erstes Plato-Buch bchandelte daher sowohl den Z u s a m m e n h a n g von Dialog und Dialektik im platonischen Gesamtwerk wie die besondere Form, in der dcr >Philcbos< das Problem zwischen u n d mimrijiti, zwischen dem Drang des Lebens und d e m bewuBt gefuhrten Leben, in seiner wahren Aussage zu Wort zu bringen hat. Meine spateren Studien haben den auBerordentlichen Facettenreichtum dieses schwierigen platonischen Dialogs aus Platos spatester und reichster Zeit durch viele Einzelbeitrage beleuchtet und damit den historischen Hintergrand ebcnsosehr wie eine unmittelbare Sachorientierung ausgebaut. Es ist eine Frage ersten Ranges, was die sokratische Wendung fiir die klassischc Philosophic Athens bedeutet hat und in welchem Sinne die sokratische Frage diese Wendung beherrscht. Wenn m a n sich naiv an den herrschenden Meinungen oricntiert, dann sieht die Sache doch sehr merkwiirdig aus. Danach hat Sokrates gelehrt, daB die Tugcnd Wissen ist, und Plato hat die Idee des Guten in geheimnisvollen Andeutungcn hinter der Vielfalt sittlichcr Phanomene durch seinen dialektischen Aufstieg als letzte oberstc Idee beschrieben, die das hochste Seinsprinzip fiir das Universum, fur die Stadt und fiir die menschliche Seele sein soli. D e m hat dann Aristoteles unter der beriihmten Formel »Freundist mir Plato, noch mehr Freund die Wahrheit* eine entschiedene Kritik cntgegengesetzt und bestritten, daB man die Idee des Guten so als ein universal es Seinsprinzip ansehen diirfc, das in gleichcr Weise f u r die thcoretische Erkenntnis wie fiir das praktische Wissen und Handehi des Menschen Geltung haben soil. Aber was bedeutet eigent3 Gnmdlegcnd dazu meine Studie iiber Logos u n d Ergon im platonischen >Lysts<, jetzt 111 Bd. 6 der Ges. Werke, S. 171-186.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
lich die radikalc Kritik, die Aristoteles - in der Ethik, aber auch s o n s t - g e g e n die Idee des Guten u n d iiberhaupt die platonische Idecnlehre gerichtct hat 4 ? Die A n t w o r t kann schwerlich geniigen, daB cs fur Aristoteles, anders als fiir Plato, u m die Grundfrage des handelnden Menschen gehe. Es ist zwar richtig, daB Aristoteles die Selbstandigkeit der praktischen Philosophie, wie der erste Satz der Ethik zcigt, darauf griindet, daB das menschliche Dascin in all seiner Begrenzthcit, Bedingtheit und Endlichkeit doch in alien seinen Bemiihungen von der Frage nach dem Guten geleitet wird. Plato selber aber hat die Frage nach dem Guten im menschlichen Dasein im >Philebos< ausdrucklich zum Thema gemacht. Seit Sokrates ist es unausweichlich, so zu fragen oder besser: zu wissen, daB alle Menschen so fragen muss en. Welches menschliche Leben sieht sich nicht genotigt, die im >Philebos< gcstellten Fragen an sich selber zu stellen, ob die gehobenen Augenblicke die ErfCillung menschlicher Wiinsche und Drange sind oder jener andere Zaubcr eines freien Ausblicks auf das, was ist, und das ebenso gut wie schon ist. U n t e r der Evidenz dieser Gemeinsamkeiten lieB sich der traditionelle Gegensatz zwischen Plato und Aristoteles immer weniger bestatigen, da die dauerhafte Instandigkeit der sokratischen Frage nach dem Guten beide beherrscht. So wiirde ich wie in meinem ersten Buch zwar die Leitlinic festhalten, daB sich die platonischen Dialoge auf der Bcgriffsebene aristotelischer Lehren in ihrem Gehalt abbilden lassen. Doch w u r d e ich mir eingestchen, dafi das wirkliche Mitgehen mit einem sokratischen Gesprach, das uns Plato dichtet, uns die Sachen naherruckt, als alle begrifflichc Fixierung j c erreichcn kann. Heute wiirde ich gerade darin die einzigartige Aktualitat der platonischen Dialoge sehen, daB sic die Zeiten fast so iiberschreitcn, wie alle groBen Meisterwerke der Kunst es tun. Die unlosbarc Verwicklung von theoretischer und praktisch-politischer Lebensorientierung, v o n theoretischem und praktischem Wissen zeugt fiir die Kontinuitat der sokratischen Frage, die Plato und Aristoteles miteinander verbindet und beidc mit jeder menschlichen Gegenwart. Auch wir werden mcht nach abstrakten Alternativen Ausschau halten diirfen, wenn m a n sich fragt, ob man im Zcitalter der Wissenschaft Metaphysik fortsetzen kann oder iiberwinden muB. Als praktische Metaphysik wird es beides unsere Aufgabc bleiben, den Weg des Wissens zu gehen u n d doch uber das hinauszudenken, was die Wissenschaft zu sagen hat. Das schwebte mir dunkel vor, als ich meinem Erstling iiber den platonischen >Philebos< denTitel gab: >Platos dialektischc Ethik<.
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Vgl. dazu meine Ausfuhrungen in > Amicus Plato magis arnica Veritas*, in Dd. 6 der Ges. Werke, S. 71—89, sowie vor allem >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles* und die Aristoteles-Autsatze in Tei! ILL dieses Bandes.
'Platos dialektischc Ethik' - beim Wort genonimeri
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Wenn Sprache erst im Gesprach lhr cigcntliches Leben hat, dann wird der platomschc Dialog nach wie vor ein lebendigcs Gesprach erwecken und die fruchtbare Verschmelzung aller Horizon te leisten, in denen wir uns fragend und suchcnd in unscrcr eigenen Welt zurechtzufmden haben.
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6. Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978)
Vorrede Z w a r hat Hegel den spekulativen Z u g in Platos Idecnlehre wie in Aristoteles' Substanzontologie kongenial erfaBt und ist insofern der erste, der in neucrcr Zeit das durch Aristoteles gepragte, durch den >Ncuplatomsmus< u n d die christliche Tradition fortentwickelte Auffassungsschema fiir die platonischc Ideenlehre durchbrach. Auch kann man nicht sagen, daB er auf die philosophiegcschichtliche Forschung ohne nachhaltigen EinfluB geblieben ware. So gute Aristoteliker wie Trendelenburg oder wic Eduard Zeller verdanken ihm vicl, und vor allem war er der erste, der die philosophische Bedeutung der >esoterischen<, >dialektischen< Dialogc Platos erschlossen hat. Aber die Wirkungscinhcit, die die platonisch-aristotelische Logos-Phil os op hie zusammenschlieBt und die Hegel nicht verborgen geblieben war, wurde in der Folgczcit und bis heutc, wic mir scheint, ungcniigcnd gewurdigt. Das hat verschiedene Griinde. GewiB war es in Wahrheit ein geheimer, uneingestandcncr Hegclianismus, der hinter den neukantianischen Interpretation en Platos durch Cohen, N a t o r p und ihre Nachfolger (Cassirer, N . Hartmann, Honigswald, Stenzel) stand. Aber fiir das cigcne BewuBtsein dieser Forschergenerationen war es ausschlieBlich Plato u n d ganz und gar nicht Aristoteles, was ihrer kritisch-idcalistischen Intention entgegenkam. Vollcnds die dogmatische O b e r f o r m u n g , die Aristoteles im katholischen Lager durch den hcrrschcnden N e u t h o m i s m u s erfahrcn hatte, aber auch die altc Erbfeindschaft der modernen Naturwissenschaft gegen die aristotehsche Naturteleologie und die idealistische Naturphilosophie standen einer vollen Fortentwicklung der Hegelschen Einsichten im Wege. Es k a m hmzu, daB die neukantianische Plato-Deutung, insbesonderc die Paul Natorps, durch die Zusammenriickung von Plato und Galilei gegen den griechischen Text allzu provokatorisch u n d fiir historische Unterschiede unempfindlich verfahren war, wenn sie die >Idee< als das >Naturgcsctz< inter pre tierte. Von der idealistisch-neukantianischen Plato-Deutung aus konnte die aristotelische Platokritik n u r als ein absurdes Miflverstandnis erschcincn. Das trug
Die Idee des Guten zwischen Plato mid Aristoteles
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weiterhin zu der Verkennung der platonisch-aristotelischen Wirkungseinhcit bei und stand der vollen Einholung des griechischen Erbes in unscr eigencs philosophisches Denken im Wege. So triviale und naive Entgegensctzungen wie >Plato, der Idealists > Aristoteles, der Realist* waren allgemcin akzeptiert. In Wahrheit bezeugten sie einen wahren A b g r u n d bewuBtscinsidealistischer Voreingenommcnhcit. Auch war das durch Hegel inspirierte Schema, demzufolge das griechische Denken das Absolute noch nicht als Geist, Leben, Selbstbewufitsein zu denken vermocht habe, der rechten Wiirdigung der grundlegenden Bedeutung, die das griechische Denken fiir die neucrc Philosophie besaB, nicht gunstig. N o c h als ich selber, durch Nicolai Hartmanns Ablosung v o m neukantianischen Idealismus angercgt, in das aristotelischc Denken einzudringen suchte, wobei sich die franzosische und die englische Forschung als sehr hilfreich crwies (Robin, Taylor, Ross, Hardie und vor allem der unvcrglcichliche Hicks), fchlte viel zu der Einsicht in die Einheit der LogosPhilosophic, die mit der sokratischen Frage anhob und in nacharistotelischer Zeit rasch verfiel, aber die gesamte Begrifflichkcit des abendlandischen Denkens dauerhaft bestimmt hat. Die Begegnung mit Heidegger wurde damals fiir mich entschcidend. Er war ebcnsoschr durch die katholische Tradition des Aristotelismus wie durch den Neukantianismus hindurchgegangen und hatte in Husscrls minutioser Begriffskunst die Ausdauer und die Anschauungskraft gcstahlt, die zum Philosophieren mit Aristoteles unentbehrlich sind - und siehe da: hier stand ein Anwalt des Aristoteles auf, der alle traditionellen Aspcktc des Aristotelismus, Thomismus, ja, des Hcgelianismus an Unmittclbarkeit u n d phanomenologischer Frische weit iiberragte. D a v o n ist bisher kaum etwas bekannt geworden. Aber im akadetnischen Unterricht w u r d e es wirksam, u n d mein cigcner Weg ist von da bestimmt worden. Als ich 1931 mein erstes Buch >Platos dialektische Ethik< veroffentlichte, war mir wenigstens auf dem Felde der praktischen Philosophic die Konvergenz der platonischen Denkintcntionen mit den aristotelischen Begriffsunterscheidungen evident geworden. Eins wies schon damals iiber den engercn Problemzusammenhang der praktischen Philosophie hinaus: das methodische Problem, daB unsere Obcrlieferung uns zwei so unglciche Dinge erhalten hat wie die von Plato verfafiten Dialogc und die von Aristoteles nicdcrgeschriebenen Arbcitspapicrc u n d daB wir we der eine authcntische theoretische Ausarbeitung der platonischen Lehren besitzen noch umgekehrt die aristotelischen Schriftcn lesen konnen, die er in die Offcntlichkeit gab. So miissen wir stcts Ungleichcs mit Ungleichem konfrontieren. Die phanomenologische Beschreibungskunst, die ich bei Husserl und Heidegger ein wenig hatte lerncn konnen, half mir bei meinen ersten Versuchen, dieser methodischcn Schwierigkeit Herr zu werden. Weder die mimetische Mittcilungsform der
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Dialoge noch die protokollarische der aristotehschen Papiere kann gcgeniiber der Sachinterpretation, die sich auf sie stiitzt, Authentizitat beanspruchcn. Inzwischen ist fast ein halbes Jahrhundert ins Land gegangen. Das m e t h o dische Problem ist von beiden Seiten aus, von der aristotelischen Seite aus durch Werner Jaeger und seine Schule, von der platonischcn Seite aus neuerdings durch die >Tubmger<, die vor allem die AnstoBe von Robin aufnahmen, in mancher Hinsicht entscharft worden. Die philosophischen Anregungen, die ich meinerseits von Heidegger empfangen hatte, fiihrtcn mich melir und mehr in die Bcreiche der Dialektik, der platonischcn so gut wie dcr hegelschen. Jahrzehntelanger Unterricht bheb der Ausarbeitung und E r p r o b u n g dessen gewidmet, was ich hier die platonisch-anstotehsche Wirkungseinheit genannt habe. Dahintcr aber stand die bestandige Herausforderung, die Heideggers cigener D e n k w e g und insbesondere seine D e u t u n g Platos als des entscheidenden Schrittes in Richtung auf die Seinsvergessenheit des >metaphysischen Dcnkens< fur mich bedeutete. Wic ich diese Herausforderung theorctisch zu bestehen suchte, bezeugt die Ausarbeitung meincs Entwurfs einer philosophischen Hermeneutik in >Wahrheit und M e t h o d s . Platos Dialogik und die Plato, Aristoteles und Hegel gemeinsamc spekulative Dimension als Partner des fortgehenden Gesprachs dcr Philosophic offenzuhalten, dienen auch die vorlicgenden Studien, die sich zu manchen anderen kleinen Bausteinen gesellen, die ich inzwischen zusammengetragen habe 1 . Man wird bemerken, dafi ich nur sparlich auf die neuere Forschung Bezug genommen habe. Zu einer umfassenden Kenntnisnahmc dcrselben fuhle ich mich nicht imstande. Auch sind die Voraussetzungen meiner eigenen Interpretation von denen dcr ubrigen Forschung allzu verschieden. M a n lasse das Vorliegende als einen Versuch gelten, die griechischen Klassiker des Gedankens cinmal anders hcrum zu lesen, nicht von der kritischen Ubcrlcgenheit der Moderne aus, die sich im Besitz einer unendlich verfeinerten Logik iiber die Altcn hinaus glaubt, sondern von der Oberzeugung aus, dafi >Philosophie< ein sich gleichbleibendes Widerfahrnis des Menschen ist, das ihn als Menschcn auszeichnct, u n d daB es darin keinen Fortschritt gibt, sondern nur Teilhabe. DaB das auch noch fiir eine Zivilisation gilt, die wie die unsere von der Wisscnschaft gepragt ist, klingt unglaubhaft und scheint mir dcnnoch wahr.
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Sie sind jetzt in den flanden 5 - 7 der Ges. Werke entlialten.
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Die
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Fragesit'lhwg
Das sokratische Wissen der Unwissenheit iiber das Gute hat in der abcndlandischen Philosophie eine Wen dung gebracht, die in dieser Studie auf das hin untersucht wird, was Plato und Aristoteles genieinsam ist; die Wendung zu den >Logoi<, d. h. zu der Eidos-Philosophie. Auf die sokratische Frage nach dem, was etwas ist, lautet die A n t w o r t : das Eidos. Die >dialektische< Antw o r t Platos, die in seinen Dialogen steckt, und die >analytischc< Antwort des Aristoteles, die m seiner Trennung der praktischen v o n der theoretischen Philosophie gipfclt, riicken dadurch auf eine ungewohntc Weise zusammen. Die aristotelische Behandlung von Platos >Idee des Guten<, die in alien drei Ethiken vorliegt, ist weniger erne Kritik als eine Dokumentation der einen Sache, um die es beiden geht. Denn diese Kritik setzt, wie jede wirkliche Kritik, Gemeinsamkeit voraus. Dieser Grundsatz wird hier gegeniiber der herrschenden g en et is ch-his tori sehen Betrachtungsweise verteidigt. Wenn m a n die letzten 50 Jahre auf dem Gebiete der Erforschung der antiken Philosophie iibcrschaut - und es ist mehr als 50 Jahre her, daB Werner Jaeger durch sein Aristotcles-Werk der Forschung neue bedeutende Impulse verlieh - , so sieht m a n sich durch die Rcsultate dieser Forschung in eine i m m e r groBere Verlegenheit vcrwickelt. Bei Werner jaeger herrschte noch ein einfaches Schema, das die Entwicklung des Aristoteles vom Platoniker zum Kritikcr der platonischen Ideenlehre und schliefilich zum Einpiriker zcichnete. GewiB konnte man schon damals an der universalen Giiltigkcit dieses Schemas zweifeln, aber was Jaeger im Ausgang von der literargeschichtlichen Analyse der aristotelischen >Metaphysik< nach hinten und vorn als cine Entwicklungslinie der Abkehr von der Ideenlehre extrapolierte, hatte wenigstens Eindeutigkeit, ganz abgeschcn davon, daB seine Analyscn den Blick tur den kiinstlichen Redaktionszustand des aristotclischcn C o r p u s offneten. Schon damals ticl freilich an derjaegerschcn Konstruktion auf, daB seme »Urphysik« sehr viel weniger greifbare Konturen hatte als seine »Urmetaphysik« und in dem Zustande der iiberlieferten Physikbiicher keine wirklich iibcrzcugcndc hterargeschichtliche Stiitzc fand. Vollends die Entwicklung der aristotelischen Ethik, die Jaeger noch mit einer gewissen schneidigen Oberflachlichkcit durch teilhafte Auswertung der Eudemischen Ethik seiner Konstruktion eingepaBt hatte, fand, insbesondere wegen der problematisehen Stellung, die der >Protreptikos< in diesem Z u s a m m e n h a n g einnahm, bald begriindeten Widerspruch. Inzwischen kann m a n dazu I. During vergleichen 2 . Heute diirftc cs feststehen, daB wir in der gesamtcn Aristotelesuberlieferung nirgendwo an einen Punkt zuriickkommen, an dem Aristoteles nicht ein Kritikcr der platonischen Ideenlehre gewesen ist - ,
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INGEMAH D O K I M C ,
Aristotle's Protrepticus. Goteborg 1961.
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aber auch nicht an einen Punkt gelangen, an dem er wirklich aufgehort hatte, ein Platonikcr zu scin. Was ein Platoniker war, wird von da aus in eine neue Fraglichkeit geruckt. Das kann nicht ohne Ruckwirkungen auf unscr Plato-Verstandnis bleiben. Wenn im Falle des Aristoteles unsere Zuversichtlichkeit, Entwicklungsphasen seines Denkens in seinen Schriften wicdererkcnnen zu konnen, weitgehend geschwunden ist, so drangt sich die Frage auf, ob cs nicht bei Plato ahnlich steht und ob die hcrrschcnde historisch-genetische Betrachtung der platonischen Schriften ihrerseits iiberhaupt genugend fundicrt ist. Die heute bestimmende Anschauung auf diesem Gebietc n i m m t an, daB die dogmatischc Idccnlehrc, die Plato am Anfang gelehrt haben soil und die in ncuplatonischer U m f a r b u n g das Verstandnis der platonischen Philosophie als eine Zweiwcltcnthcorie gepragt hat, spater von ihm selbst in einer kritischen Revision zuriickgenommcn oder mindestens abgeschwacht w o r den sei. Noch heute halten viele Gelehrte daran fest, daB der platonische Parmenides-Dialog das Zeugnis einer solchen Selbstkritik sei. Es ist nun einigermaBen fatal, daB die antike Obcrlicfcrung weder von Plato noch von Aristoteles irgend etwas iiber einen solchen Wandel ihrer Anschauimgen zu berichten weiB (wenn wir von der cinzigen Bemerkung in Met. M 4,1078bi() absehen, die die Zahlcnlehre als eine spatere F o r m der Ideenlehrc crscheinen laBt). Aristoteles zitiert den >Phaidon< so gut wie den >Parmenides< oder den >Timaios« und scheint es iiberhaupt nicht bcmcrkt zu haben, daB Plato seine dogmatische Theoric der Ideen j e selber in Zweifel zog. In Wahrheit hat cs fiir den modernen Leser eine geradezu absurde Aufdnnglichkeit, wie der spate Plato des Pa rm en ides-Dialogs seinem friihen Kritiker Aristoteles in der Kritik der Ideenlehre wahrhaft ebenbiirtig erscheint. Selbst das beruhmte Argument v o m Dritten Menschen findet sich bckanntlich ebenso im >Parmenides< wie in der Ideenkritik der aristotelischen >Metaphysik<. Zweifellos ist es die schlechteste aller moglichen H y p o thesen, anzunehmen, Aristoteles habe die schon von Plato geiibte >Selbstkritik< ignoricrt und Platos kritische A r g u m c n t e in seiner eigenen Platokritik kaltbliitig wiederholt. N o c h schlimnier steht es mit d e m Bild, das die aristotelische Entwicklung der Ethik ergab. Die angebliche Entwicklung von einer >Ideenpolitik< (im >Protreptikos<) iiber die noch z o g c m d e Ablosung von Plato in der Eudemisehen Ethik bis zur >reifen< und selbstsicheren Position d e r N i k o m a c h i s c h c n Ethik ist eine willkiirliche u n d widerspruchsvoile Konstruktion. Insbesondere, wenn m a n die Spatdialoge Platos mit heranzieht, verliert d i c j a e g e r sche Konstruktion ihre Oberzeugungskraft. Dcnn der >Philebos< und der >Politikos< warcn so weit iiber die angeblichen platonisiercnden Anfange der aristotelischen Ethik hinaus fortgeschritten, daB m a n sich formlich fragen kann, wer hier w e n kritisicrt. Das Entwicklungsschema: A n n a h m e fiir-sich-
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seiendcr Ideen / Tcilhabe der Erscheinungen an den Ideen / Dialektik von Idee u n d Erscheinung / und am Ende die Gleichung von Idee u n d Z a h l , wird langsam briichig. Hat Plato wirklich das Problem der Teilhabe der Erscheinungen an den Ideen am Anfang unterschatzt? Hat er ein Fiir-sich-Sein der Ideen gelehrt, bis er ernes Tages crkannte, dafi das Problem der Tcilhabe bei solcher Annahme fCir-sich-seiender Ideen iiberhaupt unlosbar ist? Oder gehoren bcidc Annahmcn zusammen: das Fiir-sich-Scin der Idccn, der sogenannte >Chorismos<, und die Verlegenheit iiber die Teilhabe, die sogenannte >Methexis<, der man sich damit aussctzt? Viellcicht gar von Anfang an? Hat Plato am Ende in der sogenannten Selbstkritik eben diese Zweiseitigkeit der Sache im Augc und im >Parmcnides< gcradczu die Absicht, die Sitnplifikationen des dogmatischen Begriffs einer Ideenlehre, die sich die Dialektik ersparcn mochte 3 , abzuwehren? War cs ctwa seine cigcntliche Intention im P a r m e n i des*, die ontologische Frage, wie Idee u n d Erscheinung zusammenhangen, so ins BewuBtsein zu heben, daB tnit der Unangemessenheit der diskutierten Losungen die Fragcstellung selber ihrcr imphzicrtcn Dogmatik iiberfiihrt wird? Es fallt jedenfalls auf, daB in den Dialogen die Terminologie fiir das Verhaltnis von Idee u n d Erscheinung durch weg von cxtrcmcr Libcralitat ist: aapQvaia, avpnAoKif, KOtvtma, ftede&t;, japr/OK, piZu; stehen nebeneinander. Unter diesen Ausdruck en w u r d e am Ende pidiifyq besonders ausgezeichnet, sowohl durch den Parmenides-Dialog wie durch die aristotelische Kritik: Das Wort ist, wie es scheint, eine platonische N e u p r a g u n g fiir die >Teilhabe< des Einzelnen am Allgemeinen, deren Problematik insbcsondcrc der >Parmenides < entfaltet. M a n kann das obendrein, meine ich, aus der aristotelischen Bemerkung beinahe schlieBen, derzufolge Plato der pythagoreischen Philosophic gefolgt sei, nur dafi, wenn diese von cincr >Mimesis< der Dinge gegeniiber den Zahlen, d. h. von der sichtbaren Darstellung der reinen Zahlenvcrhaltnissc in der H i m m e l s o r d n u n g wie in der musikalischen Harmonielehre gesprochcn habe, von Plato nur ein andcres Wort dafiir gcbraucht worden sei, eben die >Methexis<4. Plato will durch das neue Wort, wie mir schcint, die logischc Beziehung des Vielen zum Einen, Gemeinsamen hervorheben, die in >Mimesis< und im pythagorcischcn Verhaltnis von Zahl und Sein, dem Verhaltnis der >Seinsangleichung* (J. Klein 5 ), nicht impliziert war. U n d mehr noch: Manbeachte 3
Darauf konnte die Kritik an dem noch allzujugendhchen Sokrates Parm. 135d zielen. DaB das Wort als solches (in der ionischen Form peioyii, die Aristoteles gebraucht) existierte, lehrt das Vorkommen bei Herodot 1,144. Aber hier geht es u m seme begnffliche Vcrwendung. 5 J. KLEIN'. Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra. In: Qtiellen und Studien zur Gesehichte der Mathematik, Astronomic und Physik, Abt. B, Bd. Ill 1.2. (1934. 1936). 4
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die Synonym enreihc als solche, und man wird Methexis, wic Mimesis. >objektiver< verstehen miissen. Wie Mimesis das Dasein des Jmitierten, Dargcstcllten meint, so meint Methexis das Mit-Dascin mit etwas. Das Wort pebefyq impliziert freilich, wie das lateinische >participatio< und das deutsche >Teilhabe<, die Vorstellung von Tcilen, wie der fruhe Sprachgebrauch von jmextiv zeigt 6 . Eben das ist es, was das neue Wort unterstreicht: der Teil ist zum Ganzen gehorig. Auch in dcr vielleicht friihestcn Anspielung auf die Idee, im >Euthyphron<, wird die Frage so formuliert, daB etwa das ooitjv cin fiopiov des Sixawv sein konnte 7 . Das meint zunachst: w o das Eine ist, ist auch das Andere. Der Teil ist >im Ganzen: da. Aber die Paradoxie einer Tcilhabe, die nicht einen Teil nimmt, sondern am Ganzen teilhat - wie der Tag am Licht der S o n n e - , ist Plato offenbar voll bewuBt gewesen, wie die Stelle aus dem >Parmenides< (131 af.) zeigt und wic die Synonymcnrcihc, die ich oben aufzablte, indirekt bestatigt. Die Aporie des Ganzen und der Telle lauert ja, wie ich ehedem gezeigt habe s , i m m c r hinter der Dialektik von Idee und Erscheinung, Einheit und Viclhcit. In der aristotelischcn Nachricht steckt abcr noch eine andere Implikation, die Aristoteles verdeckt. Der Wcchsel des Ausdrucks von >Mimesis( zu >Methexis< ist keine harmlose terminologischc Variante, wie cs bei Aristoteles klingt, sondern spiegelt in Wahrheit die entschcidende Wendung Platos zur Unterscheidung von >Aisthesis< und >Noesis<, d. h. den Schritt zum ersten Selbstverstandnis der Mathematik als einer >eidetischen< Wissenschaft. Solange em solches nicht erreicht war - und das war offenbar fur die >Pythagorceri noch nicht errcicht - , konntcn die Zahlen wirklich als die scienden Paradigmen erscheinen, denen die Erscheinung en zustreben. Das >Foltern dcr Saiten< (Rep. VII, 531b) druckt sehr schon dieses Annaherungsbestrcben aus, das in dem Augenblick etwas Lacherlichcs b e k o m m t , in dem man die >rcinen< Verhaltnisse als solche denkt. DaB es sie gibt, druckt das Xppimov-Sein aus. Ein mehr oder minder 1 :2-Sein gibt cs eben nicht. Damit wird aber jdjirftnc. ein unangemcsscner Ausdruck. Freilich behalt es einen gewissen metaphorischen Sinn, die Welt dcr Erscheinungcn als >Mimesis< der reinen mathcmatischen Verhaltnisse, d. h. als bloBe Annaherungen zu beschrciben - und so bleibt der Ausdruck zusammen mit dem Bcgriffspaar Abbild und Urbild ein moglicher Ausdruck v o m >Phaidon< bis zum >Timaios<. >Methexis< beschreibt dagegen von der anderen Seite, v o m
6 Die hcrrschende Bedeutung war offenbar >an einer Sache reilhabem. Aber zusammen an einer Sache teilhaben schlieBt die Teilhaber aneinander an. 7 Genau in solchen) Gebrauch der >Teilhabe< der Art an der Gattung wird das Wort Jiemri spater in der Akademie offenbar terminologisch. 8 Vgl. meinen Beitrag >Zur Vorgeschichte der Metaphysik<, jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 9 - 2 9 .
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Sein der reinen Verhaltnisse aus und lafit dabei den ontologischen Status des Teilhabcndcn unbestimmt. Der >Philebos< (26d s ) kann densclben geradezu als )f ifffic ek ovotav formulieren. Der neue Ausdruck pfIdee Der >Philebos< stcllt diese Frage - und was auch immer die Losung sein soil, daB >die Vielen*, die nicht >Sein*, sondern (Genesis* sind, zum Sein gehoren wie Teile und Glieder, vcrbictet jede dogniatische Auffassung des Chorismos. Das hindert nicht, daB im iibrigen die a\ov-ft(piKDialektik bei Plato im (Sophistcs* wie im >Parmenides< wie im iPhilebos* cine groBe Rolle spielt. Sie vermag die Vielheit im Logos des Seins freizulegen. In der Tat ist ja 1111 Lchrgedicht des Parmenides selbst die ganze Thematik des Logos, der > Vielheit* der Worte (Namen) fiir das Eine Sein, ganzlich verschattet, und erst der platonische iSophistes* hellt diese Dunkclheit einen Schritt weit auf, sowohl durch seine Parmenidcskritik als dadurch, daB er die Verflechtung der obersten Gattungen zeigt 9 . Die gleiche Liberalitat in der D e u t u n g des Verhaltmsses scheint in der platonischen Schule geherrscht zu haben, sowcit wir den antiken Nachrichten iiber die SchCiler Platos etwas abgewinnen konnen 1 0 . Eudoxos hat, wie uns aus Alexander bekannt ist 11 , beispielsweise ganz ausdriicklich die Immanenz der Ideen in den Erscheinungen gelehrt und dafur den Begriff der gebraucht, den wir ja auch in den platonischen Dialogen ofters finden. Sollte Platos Liberalitat am Ende so weit gegangen sein, daB er nicht nur verschiedene Theorien iiber das Verhaltnis der Ideen zu den Zahlcn und den Dingen zulieB, sondern sogar die aristotelische Bestreitung des selbstandigcn Seins der Ideen? Denn das ist doch sichcr und wird heute von niemandem ernstlich bezweifelt, daB Aristoteles von friih an die platonische Ideenlehre kritisiert hat und trotzdem Platoniker war und geblieben ist, bis in sein Spatwerk hinein. Wenn man Aristoteles mit friiheren oder spateren Lehrcn griechischer Denker vergleicht, kann man nicht zweifeln, daB er alles in allem zu der Eidos-Philosophie gerechnet werden muB, die Plato durch die Einfiihrung 9
Naheres hierzu in meiner Arbeit >Zur Vorgeschichte der Metaphysik*, a a.O. Einen Versuch, die Disktission dieses Problems entwieklungsgeschichtlich zu rekonstruieren, hat H , J . K K S M K K , Aristoteles und das Problem der akademischen Eidoslehre (in: Arch. f. Gesth. d. Phil. 55 [1973], S. 119-190) u n t e m o m m e n . Vgl. Anm. 12. 11 Vgl. hierzu I. D U R I N G , Aristoteles. Heidelberg 1966, S. 245 (mit Literaturangaben) und 2S3. 10
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der Ideen und der Dialektik bcgriindct hat. Er selbst laBt daran keinen Zweifel, wenn cr in der kritischen Obersicht von Buch A der >Metaphysik< erst mit den Pythagoreern und mit Plato ein Hinausgehen iiber das Erklarungsschema der >Physiologen< - v\q und btkv ij KivijoiQ - feststellt und ihnen d i e B e s t i m m u n g d e s neon zubilligt: 987a 2 o den Pythagoreern, 988a ] ( ) und vor allem 988a;ss Plato. Wcder die Atomistik oder Anaxagoras noch die stoische Schule, viclleicht nicht einmal im Pcripatos ein Mann wic Straton, lassen sich so wie Aristoteles von den Xeyofisva aus, und das heilit in der Nachfolge der platonischen >Flucht in die Logoi<, interpretiercn. Es bleibt im Rahmen solcher Orientierung an den Aayot, wenn Aristoteles gegen die ontologische Auszcichnung der Idee durch Plato den Real i tats prim at des Einzelnen (das T65B N ) mit Nachdruck gcltcnd macht. Diese >crste< Substanz schlieBt das Eidos so wenig aus, daB offenbar cine unaufloshchc Bczichung zwischen jener >zweiten< Substanz des Eidos, die das n eon beantwortet, und der >ersten< Substanz des jeweihgen Dies besteht 1 2 . Wenn ich mich hier mit den Begnffcn der (umstnttencn) Kategorienschrift expliziere, so stiitze ich mich der Sache nach nicht nur auf diese, sondern ebenso auf die zentralen Buchcr der >Metaphysik<, insbesondere auf Z 6- DaB das in Aristoteles' Augen seiner eigcnen kritischen Sclbstabgrenzung gegen Plato nicht widerspncht, ist ebenfalls offenkundig. Die Frage, wic der A6yo<; ovotutmoghch sei, liegt als gemeinsames Problem zugrunde. Ich mochte bchaupten, daB die Formulierung des Chorismos niemals in Frage stellen sollte, daB das innerhalb der Erscheinungen Bcgegnende auf sein invanantes Sein hin zu beziehen ist. Die vollige Trennung einer Ideenwclt von der Welt der Erscheinungen ware eine krassc Absurditat. Wenn cs Parmenides im platonischen Dialog bewuBt darauf hinaustreibt (Parm. 133bff.), so ist das, wie mir scheint, gerade um solches Verstandnis des Chorismos ad absurdum zu fiihren. Was will dann aber der stereotype Vorwurf des Aristoteles, daB Plato das Allgemcine hypostasicrt babe, der Vorwurf des Chorismos, noch sagen? Trifft er Plato wirklich? Was will dies Fiir-sich-Sein der Ideen bei Plato eigentlich zum Ausdruck bringen? Wirklich die E r o f f n u n g einer zweiten Welt, die von unserer Erschcinungswelt durch einen ontologischen Hiat geschieden sei? Jcdcnfalls doch nicht so, wie die Karikatur des ParmenidesDialogs es unterstellt, daB diese andere Welt der immerseienden Ideen nur fiir die immerseienden Gotter da sei und unscre sinnliche Welt der fiiichtigeti Erschcinungen nur fur die sterblichen Menschen. DaB die Ideen die Ideen der Erscheinungen sind und nicht eine fur-s ich-sei ende Welt bilden, wird ,2
Es scheint mir gewagt, auf das Schwanken der Bedeutung von >erstcm Sein< zwischen der Kategoriemchrift und den spaten Metaphysikbiichern so viel zu bauen, wie das H . J . K R A M E R in seinem bewunderungswurdig scharfsinnigen Aufsatz (a.a.O.) getan hat.
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von Plato in dicscr hartesten Aporie des Parnienides-Dialogs (Parm. 133b 4 ) auf mdircktc Weise z u m Ausdruck gebracht. DaB es auf die Erkcnntnis der Ideen a n k o m m t , wenn es angesichts des wechselvollen Flu tens der Erschcinungen Erkenntnis iiberhaupt geben soli, bczcichnet auch Aristoteles selber ausdrucklich als das G r u n d m o t i v fiir die A n n a h m c der Ideen (Met. A 6, 987a3->ff-)' Es ist doch wohl die s elb s t vers tan dliche und tragende Voraussetzung der gesaraten Ideenlehrc, daB man den Sinn des Chorismos nicht darin sehen kann, diesen vorausgesetztcn Zusammenhang abschnciden zu wollcn. Man muB sich nur gegenwartig halten, in welcher Blickrichtung und unter welcher gcschichtlichen Motivation Plato diese Abtrennung der Idccn vollzieht. Da ist das ganzc weite Feld der mathematischen Wissenschaft. DaB sich die euklidische Geomctrie auf die reinen Raumvcrhaltnisse bezicht und nicht auf jene sinnlichen Gebilde, die wir zu ihrer Veranschaulichung herstellen, mdem wir einen Krcis oder ein Dreieck hinzcichnen, lafit sich in der Tat kaum besscr bcschreiben als durch die Forderung, die inathematischcn Gebilde v o m Sinnlichen abzutrennen. Man kann nicht eininal sagen, daB diese Scheidung allzu selbstverstandlich sei. Offenbar hatte die pythagorcische Mathematik, die gewiB echte Mathematik war und selbstvcrstandlich mit ihren Lchrsatzen und Bewciscn tiicht die Figuren incinte, die da als Illustrationen hergestellt werden, kein angemesscnes Verstandnis dessen, was ihre wahren Gegenstande im Unterschiede zur Sinncswahrnehmung eigentlich sind (Krcis, Dreieck, Zahi). Das k o m m t im platonischcn >Theatet< zu ausdriicklicher Darstellung, und entsprechend fehlte es nicht an einer Praxis mathematischer Scheinbewcisc, die den sinnlichen Augenschein, zum Beispiel das Z u s a m m e n fallen einer geraden Linie mit einem sehr schwach gckriimmten Kreisbogen, zu mathematischen Beweiszwecken in Anspruch nahm. Hier hat erst die ontologische Scheidung des Noetischen v o m Sinnlichen, also dicscr Chorismos, Klarhcit geschaffen, so daB der Mathematiker sagen kann, w o m i t er es zu tun hat, und cs klar ist, daB das, was er tut, jedenfalls tiicht in irgendeinem Sinne >Physik< ist. Das ist eine f u n d a m e n t a l Wahrheit. Auch ist es kein Zufall, daB die m o d e m e m a t h e m a tische Natur wissenschaft mit Platos Behandlung der Mathematik als eines intelhgiblen Fiir-sich-Seins und ihrer Prafigurierung der >Natur< weit mehr anfangen kann als mit der aristotelischen Ablcitung der mathematischen Gegenstandswelt von den physischen Erscheinungcn durch Abstraktion (mpaipe.OK): die aristotelische >Losung< (Phys. B 2 ) unterschliigt das eigentlichc Problem des >Seins< des Mathematischen, dessen Fur-sich-Sem zti dem Sein der >Erscheinungcn'. so produktive Bezichungen hat, wie die neuzeitliche mathematischc Physik sie entdeckt hat und wie Plato im >Tirnaios< antizipiert 13 . 13
Vgl. meine Arbeiten in den Siczungsberichten der Heidelberger Akademie der
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Ahnhch steht cs mit den moralischen Phiinomenen. Zwischcn dcr Gerechtigkeit selbst und dem, was als gcrecht gilt (Sowi), zu unterscbeiden, ist alles andere als eine leere begriffliche Abstraktion. Es ist vielmehr die Wahrheit des praktischen BcwuBtscins selber, wie sic Plato in der Person des Sokrates anschauhch vor Augen stand, daB das wahre und rechte Verhalten des Menschen sich nicht an den Konvcntionsbegriffen und -maBstaben orienticrcn darf, denen die offentliche Meinung anhangt, sondern sich ganz aliein an dem ein MaB zu nehmen hat, was sich - abscits v o n aller Frage der offentlichen Ancrkennung oder gar der Frage, ob diese N o r m en erftillbar sind und je im realen Lcbcn als erfiilltc begegnen - dem sittlichen BewuBtsein als das unverruckbare Wahre und Rechte zeigt. Diese Abscheidung des Noetischen vom Sinnlichcn, dcr wahrcn Einsicht von den bloBen Ansichten, dieser Ghorismos also, ist die Wahrheit des sittlichen BewuBtscins selber. Wieder ist es kein Zufall, daB diese platonische Einsicht dort erneut zu Ehrcn kam, w o es u m eine transzendentale Begriindung der Moral ging: Kants Rigorismus wird nur noch von dem Rigorismus iibcrtroffcn, mit dem Plato im Gesprach iiber den wahrcn Staat seinen Sokrates notigte, das wahre Wesen der Gerechtigkeit von aller sozialcn Geltung und Ancrkcnnung zu trennen und an cinem Marme darzustellen, der allgemein als ungerecht gilt und als solcher mit alien crdcwklichen Foltcrn zu Todc gcbracht wird (Rep. II, 361cff.). U n d wenn man sich nun endiich auf das ganze wcitc Mccr dcr Reden herauswagt Und innerhalb dieses Auf und Ab von Rede und Reflexion, wie es gerade damals zu einer neuen Kunst des Redens u n d Argumentiercns, dcr Plato den diskriminierenden Namen >Sophistik< anheftete 1 4 , ausgebildet worden war, nach fester Orientierung sucht, so ist es abermals die Schcidung des scheinhaften Wortlauts und dcr schcinbarcn Schliissigkeit der Rede von ihrem wirklichen Sinn und ihrer sachlichen Konsequenz, die allein diese Orientierung gewahren kann. Der sogenannte crkenntnistheoretische Exkurs des 7. Briefes, den ich friiher behandelt habe 1 5 , macht es, meine ich, vollkommen klar, was dieser Chorismos cigcntlich meint. Er will die Schwache dcr Sinncserfahrung aufdecken, die alle Verstandigung bedroht. Der Chorismos ist keine erste zu iiberwindende Lehrc, sondern von Anfang bis zu Ende cin M o m e n t der wahren Dialektik selbst. Die Dialektik ist somit nicht eine Instanz oder eine Abhilfe gegen ihn. Was es bedeutet, daB Aristoteles gleichwohl seine Ideenkritik auf diesen Punkt des Chorismos besondcrs Wis5enschaftcn: > Dialektik und Sophistik im siebentcn platonischen Brief, und >ldee und Wirklichkeit in Platos >Timaios«, bei des jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 90-115 bzw. S. 242-270. 14 DaB es ein diskriminierender N a m e war - mindestens in den Augen der guten Gesellschaft - lehrt die Stelle Prot. 317b 4 . 15 iDialektik und Sophistiki, a.a.O.
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konzentriert, liiuB von seinem eigenen Gegen-Punkt, der »Physik< und dem ontologischen Primat des jeweils Einzelnen her verstanden werden und kann jedenfalls keinen totalen Bruch mit der platonischen Grundorientierung an den Aoyoi darstellen. Was die anstotelische Kritik mnerhalb der platonischen Schule und zwischcn den Platonikern bedeutete, ware immer wieder zu fragen. Es bediirfte dazu einer umfassenden Herausarbeitung der tragenden Gemeinsamkeit, die zwischen der aristotelischen und der platonischen Lehre vom loyvx tov eldovt, besteht. So erst licBc sich der Boden gewinncn, auf dem sich die abweichende Lehre des Aristoteles sintivoll artikulieren lafit. Die folgcndc Untersuchung konzentriert sich auf das Problem der Idee des Guten. Diese ist nicht cine beliebige unter alien anderen Ideen, sondern ninirnt auch in platonischer Sicht eine ausgezeichnete Stellung ein. Ich mochtc versuchen, diese Sonderstcllung herauszuarbeiten und ihre Tragweite fur das Grundproblem des Platonismus, das cbensosehr das des Aristoteles ist, in ein neues Licht zu riicken. Hier sind wir in bezug auf die indirekte Oberlieferung in der bevorzugteti Lage, dafi sich Aristoteles in alien seinen ethischenTraktaten mit der Frage nach dem Guten, wie sic Plato als piyunovpabiflia ausgczcichnet hatte, ausfiihrlich auscinandersetzt, so daB im Spiegel dieser Kritik an der Tdee des Guten vielleicht auch ein Schliisscl fiir die Einftihrung der Ideen iiberhaupt gewonnen werden kann. Es gibt hier ein gcmcinsames T h e m a . DaB man bisher 111 der neueren geschichtlichen Forschung, von einem >historischen<, auf Hegel zuriickgchcnden A u f fassungsschema antithctischer Beziehungen beherrscht, diese Vorbedingung allcr Wiirdigung der aristotelischen Platokritik vernachlassigt hat, schcint mir der Grund fiir die Hilflosigkeit, in der sich die Forschung dieser Kritik gegeniiber befmdet. Erste Ansatze zum besseren Verstandnis derselben finde ich in der englisch-amerikamschen Forschung, z. B. bei Cherniss (der freilich m . E. etwas in der Antithese zu der traditioncllcn Anerkennung der Autoritat der aristotelischen Berichtc stcckcnbleibt) oder bei Lee1(): Beide berufen sich mit Recht auf den >dialektischen< Vorbercitungscharaktcr. den die kritischen Einfiihrungsbiicher bei Aristoteles haben. Aber das ist nicht genug - es gilt auf die gemeinsame Basis zuriickzugehen, von der aus beide, Plato wie Aristoteles, vom >Eidos< reden 1 7 .
H A R O L D F. C H E R N I S S , The Riddle of the Early Academy. Berkeley 1 9 4 5 . E D W A R D N . LEE, Reason and Rotation. Circular Movement as the Model of Mind (Nous) in the Later Plato. In: W. H. WERKMEISTER (Hrsg ), Facets of Plato's Philosophy. Asscn 1976 (Phronesis Suppl. Vol. II). 17 Erst nach Fertigstellung dieses Manuskripts erschienen zwei BCicher, die zeigen, dali 16
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Die Frage nach dem Guten, und insbcsondere die Frage nach dem Guten im Sinne der Arete, der >Bestheit< des rechten Burgers der Polis, beherrscht von Anbeginn an die platonischen Schriftcn, und selbst wenn wir den chronologischen Consensus beiseite lassen, der im groBen fur die platonischen Dialoge heute erzielt ist, kann es kein Zweifel sein, daB die Lehre von den Ideen nicht in der gleichen Weise von Anbeginn an in diesen Schriften v o r k o m m t . Das soil natiirlich nicht heiBen, daB Plato erst spater auf diese T h e o n e g e k o m m e n sei. Solche Art der naiven chronologischcn Auswertung der Dialogdichtungen Platos, die zu einem wahren >Baumchen wechsle Dich'-Spiel gefiihrt hat, sollte endhch aufgegeben werden. Wir suchcn statt dessen strukturelle Ahnlichkeiten zwischen Gruppen von Dialogen, um auf diesem Wege sowohl die schriftstellerische Absicht Platos als ihren lmpliziten Gehalt aufzuklarcn. So unterscheiden wir verschiedene Dialogtypen im platomschcn Werk, denen eine strukturelle Chronologie zu enmehmen ist. Die aporetischen Dialoge, in denen Sokrates seine Gesprachspartncr widcrlegt, ohne am Ende eine eigene A n t w o r t auf die gestellte Frage zu bringen, stellen einen klar umrissenen T y p von sokratischem Gesprach vor (der obendrcin in der xenophontischen >Nebcniiberlieferung< mit ihrem apologetischen Bemiihen, die Positivitat der sokratischen Widerlegungskiinstc hcrvorzuheben aber auch in dem pseudoplatonischen (?) >Kleitophon< - , zwar keine wirkliche Entsprechung hat, wohl aber indirckt — durch Xenophons apologetische Tcndcnz - eine gewisse Bestatigung fiir die >Negativitat< des historischen Sokrates erhalt). Die neue Rolle, die Sokrates etwa in dem Gesprach v o m rechten Staate spielt, soil man und muB man als cinc wohlpointierte Wendung empfinden. Sokrates redet gleich eine ganze Nacht lang, und an kuhncr Positivitat fehlt es dieser U t o p i e wahrlich nicht. Dazu k o m m t die inhaltliche Affinitat der Gcsprachsthemen in den megativem Dialogen, die sie zu einer einheitlichen Gruppe zusammcnschlieBt. Alle diese Widerlegungen des >Arcte<-Verstandnisses, das die Gesprachspartner m i t b n n g c n , scicn es junge Leute oder ihre Vater oder die gcfcierten sophistischen Lehrer der Zcit, haben den gemeinsamen Zug, daB die gestellten Fragen - nach dem, was diese oder jene Arete eigcntlich sci oder ob die Arete lehrbar sei oder nicht - angesichts der Unklarheit u n d Scheinhaftigkeit dessen, als was Arete verstanden wird, keme A n t w o r t finden. Demgegeniiber wirkt die umfassende Fragestellung der >Politcia<, die nach der ovfinaoa aprrr/, der oiKawnvrrp und damit nach alien apeiai fragt und ich in diesem Punkte nicht allem stehe: A L A N B L U M , Theorizing ( 1 9 7 4 ) , und vor allem das ebenso grundliche wie spekulative Werk von J O H N FINDLA Y: Plato, The written and unwritten doctrines ( 1 9 7 4 ) , zu dem ich inzwiscben in einer Rezension in der Philosophischen Rundschau 2 4 ( 1 9 7 7 ) Stellung genommen ha.be. Jetzt auch in Bd. 6 der Ces. Werke, S. 3 0 7 F F .
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am Ende die Idee des Guten >jenseits< all dessen einfiihrt, wie eine Entgegnung auf die Konventionalitat des in den friiheren Gesprachen angetroffenen > Arete'-Vers tandnisses. Das verlangte Wissen ist nicht vorhanden und vielleicht nicht einrnal erreichbar, solange man nicht bewuBt iiber das hinausblickt, was sonst als Wissen gilt. Bczcichnend, daB cs die Briider von Plato selber sind, die mit Sokrates in dem Gesprach der >Politeia< - im zweiten Buch — den Uberschritt vollzichcn. Der Leitbegnff des allgemein anerkannten Wissens ist die Tcchnc. Das ist auch fur Plato selbstverstandlich. So findct Sokrates in der >Apologie< wenigstens bei den H a n d w e r k e r n wirkliches Sachwissen - fredich vcrsagen auch sie, wie alle anderen >wcisen< Manner, wenn es sich um das Allerwichtigste (za prytoia Apol. 22d?) handelt, wonach das menschliche Wissenwollen letztlich verlangt. Das Wissen um das Gutc ist eben etwas, wonach in den zyjwf und von den icpihat iiberhaupt nicht gefragt wird. Dieses in der spateren aristotelischen Platokritik gangige Argument 1 * 1 ist so wenig eine gegen Platos Denken wiegendc Instanz, daB es gcradczu die Ausgangscrfahrung des platonischen Sokrates darstellt, auf die sich seine iiberlegene > U n wissenheit* griindet. Das Wissen des Guten scheint andcrcr Art als alles bckannte menschliche Wissen - , so daB es von solchem Begriff von Sachwissen her gesehen wirklich Unwissenheit hciBcn kann. Die avdpicirivrjoayia, die sich solcher Unwissenheit bewufit ist, muB iiber alle verbreiteten Vermeintlichkeiten, die Plato spater >Doxa< nenneti wird, hinausfragen und hinausschen. DaB allcin in diesem auofiXinr.iv R/U'K, in diesem Hinausblick auf es, >das Gute< erblickt werden kann, wird nicht nur indirekt, durch den negativen Ausgang der sokratischen Gesprache, suggcriert, sondern in dcin ersten Dialog, i n d e m die Ideenannahme wirklich vorgetragen wird, im >Phaidon<, geradezu ausgesprochen. Zwischen den elenktischen Dialogen, die man der Friihzeit Platos wird zurcchnen miissen, und der Schrift vom ldcalcn Staatc steht so der >Phaidon< als ein bemerkenswertes Zwischenglied. M a n hat ihn als die erste Einfiihrung in die Ideenlehre ausgczeichnet, und insbesondcrc die Marburger Plato-Dcutung nutztc die Einfiihrung des Eidos als der besten Hypothesis zu einer etwas gezwungenen Annaherung Platos an Kant. Freilich war auch Natorps Deutung nicht ohne Einsicht in die exzcptioncllc Rolle des >Gutcn<. Fiir ihn war >das Gute< das Prinzip der Selbsterhaltung, u n d er sah in der >Hypothesis des Eidos< das Verfahren der Erkenntnis desselben. So kam er zur Identifizierung der >Idee< mit dem Naturgesetz; was er im Blick hatte, war also die moderne Natur wissenschaft. Sic bewegt sich tatsachlich in steigender Annaherung von Hypothesen an die wahre O r d n u n g und vollzieht sich als die Fortbestimmung des Gegenstandes. Das >Ding an sich< ist nichts als die >unendliche Aufgabe*. 18
E N A 4. 109?j s ff.; EE A 8. 1218b,; M M yi 1, 1182b25fsf.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
Das klingt heute nach falschem Modernismus. Sieht m a n den >Phaidon< als Zwischenghed auf dem Wege zur Idee des Guten, dann drangt sich eine andere strukturellc Parallele auf. Auch der >Phaidon< ist ja cin Dialog voll von Widcrlegungen, und die Gesprachspartner im >Phaidon< rep ra sen deren auf ihre Weise eine crnstzunehmende Position, wenn sie dicsclbe auch nur mit halbem Herzen vertcidigen, namlich die eines >wissenschafthch< f u n diertcn Materialismus. Sie sind zwar Pythagoreer, aber solchc einer spatercn Generation, die ganz in der Mathematik und der Wissenschaft zu Hause sind und sich dem modcrnen sophistischcn Argumentations wesen versagen. So sind sie Frcunde des Sokrates geworden. Es zeigt sich, daB der religiose Hintcrgrund des Pythagoreismus bei ihnen vollig verblaBt ist. Die >innerc Handhmg< des Dialogs besteht geradczu darin, diesen Pythagorecrn die wahrcn, auf die >Idee< weisenden Konsequenzcn lhres eigenen Denkens aufzuweiscn, so daB sie in cinem in ihrem >materialistischen< Selbstverstandnis widerlegt und in ihrer mathematischen Idealitat bestatigt werden 1 9 . DaB diese Pythagoreer in gewissem Sinne Platos Denken am nachstcn stchen, ist nicht nur in der Riickschau des Aristoteles klar, der Plato gcradezu als Pythagoreer einfiihrt (Met. A 6). Je tiefer wir in die Problematik der von Plato entwickcltcn Lelirc und lhres ersten Auftauchens in den Spatdialogen, insbesonderc im >Philebos<, eindnngeii, desto klarer wird, daB die pythagoreischc Position ein wirkhches Zwischenghed zwischen den A p o rien der am >Techne<-Begriff orientiertcn neuen Paideia und der spateren Dialektik darstcllt. Kein Zufall, daB es die Frage dcr >unsichtbaren< Psyche ist, iiber die die >unsichtbare< noetische Dimension des Mathematischen u n d der Ideen zur ersten Ausweisung gebracht wird. In der Erwartung, im N o u s des Anaxagoras das KOIVOV nam ayathw, das cr suchte, zu finden, nahm Sokrates dessen Schrift zur Hand, und wenn er ratios und enttauscht sich am Ende genotigt sieht, die Hypothesis des Eidos zu machen, um iiber den wahren Sinn von amain alien Dingen klar zu werden (Phaid. l()0a-c), geht er den Weg iiber mathematischc Illustration en. Abcr am Ende wird es ganz klar, daB es der Hinblick auf das Gute ist (bzw. das Besserc und Beste), der ihm allein wirkliches > Wissen < - wir wiirden sagen: >Verstehen< - der Dinge, des Universums, wie der Polis u n d dcr Psyche, verheiBt. Insofern befolgt die Schrift von der Polis, die ebcnsosehr eine von der Psyche ist, u n d alsdann der >Timaios< auf artikulierte Weise das im >Phaidoiv in dcr >Flucht in die Logoii e n t w o r f e n e P r o g r a m m . M a n iibcrtreibt nicht, wenn m a n dessen Ausfuhrung in den Lehrschriften des Aristoteles, insbesondere in seiner >Physik< und seiner >Politik< (die die Ethik umfaBt) erblickt - cin Ideal von > Wissenschaft<, das offenbar dcr Entstchung und crstaunlichen Entwicklung der 19 Vgl. meine Studie iiber die Unsterblichkeitsbe weise in Platos >Phaidon<. Jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 187-200.
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hcllenistisehen Fachwissenschaft nicht im Wcge gestanden hat, Fiir die moderne Naturwissenschaft freilich bildete cs die Gegcnfigur eines d o g m a tisch-teleologischen Anthropomorphismus, den es zu iiberwinden gait. Alle Versuche, dies Ideal einer teleologisch homogenen > Wissenschaft' zu e m e u crn, die seit Leibniz iiber die romantischc Naturphilosophie u n d von Denkern wie Whitehead untcrnommen wurden, konnen gegen das Schrittgesetz der modernen Erfahrungs-Wissenschaften nicht a u f k o m m e n , bezeugen aber indirekt das Vernunftbediirfnis nach Einheit, das der sokratischen Fordcrung zugrunde liegt. I h m entspringt der Universalitatsanspruch der Ideenlehre. Dabei stellt die Idee des Guten, die die >Politcia< in den Blick ninimt und von der her sich die O r d n u n g von Polis und Psyche bestiinmt, innerhalb dieser neuen >noctischen< Orientierung eine bcsondcre Auszeichnung dar; Die Partner des sokratischen Gesprachs waren zufrieden, wenn cr iiber das Gute so sprache wic vorher iiber Gerechtigkeit und >Sophrosyne< (Rep. VI, 5Q6d). Aber immer, wenn sich das Gesprach diesem Hochsten und Letztcn zuwendet, weicht der Sprecher bei Plato aus und meint, cs ware im Augenblick nicht notig, darauf einzugehen, und vielleicht auch iiber seine Kraft (hier wie etwa Tim. 48c) - u n d in der Tat, es ist das bcriihmte iittKtixa T>}C aVmaQ das der Idee des Guten eine >Transzcndenz< verleiht, die es gegeniiber alien anderen >noetischcn< Gcgcnstanden, d . h . Ideen, auszeichnet. Es hangt wohl damit zusammen, daB Plato nur den Ausdruck idea, mcr.ifio<; fiir das iiyadov gebraucht. Dcnn wenn auch die Austauschbarkcit beider Worte im damaligcn Griechisch wie im Sprachgebrauch der Philosophen nichtzulcugnenist, daB Plato nie vom ciSot; wv dyadov redet, zeigt an, daB der Idee des Guten ein eigentiimlichcr Charakter z u k o m m t . Eloot, meint immer nur das >Objckt<, wie es dem N e u t r u m cntspricht. Die Femininform ifiva dagegen kann zwar, wie Hn<,n oder hiiuirjpri, dem natiirlichcn Objcktivismus unseres Denkens folgend, ebenfalls das >Objekt< bczcichnen, laBt aber im )Anblick< das >Blicken< starker mit anklingcn als das >Aussehen<, und so licgt in iSt:a IOV ayadov nicht so sehr der >Anblick< des Guten als der Ausblick auf das Gute hin, wie die zahlreichen Wendungcn des auofiXinsiv npd<; . . . usw. zeigen. Die Idee des Guten wird jedenfalls von Sokrates in der >Politeia< als eine schwer zu fassende Sache bchandclt, die m a n nur in ihren Auswirkungen beobachten kann. Wic die Sonne allem Sichtbaren Sein und Wahrnehmbarkeit gewahrt, indem sie Warme und Licht spendet, ist auch das Gute fiir uns nur 111 der Gabe da, die es verleiht: Kai aXrficia, Erkenntnis und Wahrheit. Das Gute selbst unmittelbar erfassen und wie ein jiadtftia erkennen zu wollcn, scheint durch seine cigene Natur unmoglich. Diese Unsagbarkeit, dies appr/tov, sollte m a n zunachst so niichtem wie tnoglich nehmen. DaB cs den religiosen Hintergrund des griechischen Denkens anklingenlaBt,
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Sokratischer Dialog und Platonische Dialektik
dessen Herausarbeitung wir Gerhard Kriigcr verdanken 2 0 , braucht des wegen nicht geleugnct zu werden. Aber m a n muB sich bewuBt sein, daB Plotin einen neuen Schritt vollzieht, wenn er das Eine auch iaextiva voqorue; nennt und alles Sein wie alles Denken als Zeiger in die Transzendenz versteht. Im Zusammenhang der >Politcia< stcllt sich das Gute vielmehr als das Eincnde des Vielen dar, artikuliert sich also genau auf die innere Zwicfachheit und >dialektische< Funktion des Einen hin, die Plotin mit seinem doppelten >Jenseits< gerade ausschlieBen will. N u n scheint es eine einfache Losung, dieser ausgezeichneten und unfaBbaren Stellung der Idee des Guten, die sie von den sonstigen Ideen unterscheidet, dadurch Rechnung zu tragen, daB sie eben >das Erste< u n d daher das aller Ablcitung Entzogcne sei, also das, was m a n spater >Prinzip< nannte. So hat man es ja auch sonst seit Aristoteles, der den Begriff der apyfi, des Prinzips, als erster eingefuhrt hat, getan, und in der Tat behandelt Aristoteles die platonische Philosophie, w o er sic als eine Fortbildung der pythagoreischcn Lehre einfiihrt, in Analogie zu deren Lehre von >Peras< und >Apciron< u n d stellt sic in der Lehre von h und aopioioc, Svaq als den beiden Prinzipien der Ideen bzw. Idealzahlcn dar. Es scheint konscquent, der Idee des Guten bei Plato die gleiche ausgezeichnete Stellung einzuraumcn, die in Aristoteles' Bericht jenen zwci >Prinzipiem z u k o m m t . Das wiirde verstandlich machen, daB alles Reden davon, das hciBt aller dialektische U m g a n g damit, >das Gute selbst< niemals unmittelbar zum Gegenstand machen kann und daher nur in Analogicrede von Plato anvisiert wird. D e m entspricht nun auf iiberzeugende Weise das, was im >Philebos< zutagc tritt. Dort handelt es sich zwar zunachst gar nicht u m die >Idee des Guten<, sondern um die Frage des Guten im menschlichen Leben - aber am Ende ist es immer diese uns angehende Frage, was das Gute fur uns ist, von der die Rede von der >allgemeinen< Idee des Guten ausgeht. Das tritt in der sokratischen Selbstdarstellung des >Phaidont klar heraus. Die besondere Frage des >Philebos< ist, wieweit die Leidenschaft des Dranges u n d die BewuBtheit des Denken s im Leben zu einem harmonischen Ausgleich k o m men konnen. Diese Fragestellung schlieBt eine Wendung v o m Bereich des Idealen zu dem in der Wirklichkeit Besten ein, die der I deal konstruktion der >Politeia< anscheinend stracks entgcgenlauft. So ganz neu ist diese Wendung aber auch dort nicht. Auch die >Politeia< meint zunachst das Gute im menschlichen Leben. D e n n das Gesprach iiber das Gute wird mit der gleichen Frage eroffnet, ob das Gute r/oovfj sei, wie die Vielen (oi nnXXoi) meinen, oder fpovtjov:, o b Erfiillung des Lebensdranges oder Einsicht in das Gute (Rep. VI, 505b). Jetzt freilich, im >Philebos<, wird diese Entgegcnsetzung 2n G. KRUGER, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens. 1. Aufl. Ftankfurt 1939.
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nicht mehr als klare Alternative wiederholt, sondern der harmomsche Ausgleich zum Gegenstand crhobcn. Diese Wendung laBt sich als die Them atisicrung der menschlichen Praktik charakterisieren u n d ihr die Physik zur Seite stellen, die auch im >Philebos< angedeutet und in der mythischen Erzahlung des >Timaios< vorgctragen wird. Beide Dialoge sind ja dem Bereich des Sons der fEi'ttJic, des Werdens, in einer Weise zugewandt, die mit Platos scharfer Schcidung des Seins und des Werdens im Grande kontrastiert. U n d doch bleibt diese Scheidung wie in der >Politeia<, so auch insbesonderc im >Timaios< dietragende Rahmcnbcstimmung. So bleibt es die eigentliche Frage, wie >Chorismos< und >Methexis< zusammenzudenken sind. Dcutlicher aber als in der idealen Himmclsmathematik und Erdphysik des >Timaiosi tritt im >Philebos< dicscr Zusammenhang in den Blick. Die Idee des Guten ubt dort geradezu die praktischc Oricnticrungsfunktion fur das rcchte Leben aus, sofern dieses ein aus >Lust< und > Wissen< gemischtes ist und seine Mischung, die am SchluB beschriebeti wird, crklartermafien unter der Lcitidee von MaB, Geniessenheit, Rationalitat steht oder wie inirner man all die Strukturbestimmungen des Schonen zusammenfassen will, in dessen Erscheinung das Gute selbst allein fafibar sem soil. Aus Aristoteles und vor allem aus den spatercn begrifflichen Berichten scheint zu folgcn, daB das Gute als das Eine schlechthin zu bezeichncn ist und das Eine als das Gute. Das stellt ernstlich keinen Widcrspruch zu den Aussagen der Dialoge dar. Denn dies >Einc< ist gewiB nicht das Eine Plotins, das das einzig Seiende und >Ubcrscicnde< ist, sondern das, was jcwcils einer Vielheit zur Einheit des Bestandes verhilft. Die Idee des Guten erscheint, wie die Bcdingung alles Ordnungsbestandes, als die Einheit eincs Einhcitlichen, das heiBt aber: als Einheit von Vielein. - Von da offnet sich ein erstes Verstandnis fiir die Modellfunktion der >Arithmos<-Struktur, die in der indirekten Plato-Uberlieferung cine bcstimmende Rolle spielt. Auch die Zahl ist ja Einheit und Vielheit zugleich, wie insbcsondcrc dieTatsache lllustriert, daB die Eins fiir die Griechen iiberhaupt kein aptdpot;, keine Anzahl - d. h. Einheit von V i e l c m - w a r , sondern das Bildungselcmcnt der Zahlen. Diekleinste Anzahl ist erst die Zwei. Alle >Zahl< muB eben schon Vielheit und Einheit zugleich sem 2 1 . Ein hochstcs >Mathema<, das allem anderen, was Wissen (u-ptj) weiB, vorgcordnet ist, aller Praktik wie aller Physik, aber erkannt lmd gelernt werden kann wie diese, scheint die Idee des Guten jedenfalls nicht.
21 Vgl. meine Arbeit >Platos ungeschriebene Dialektik<. Jetzt in Bel. 6 d c r G e s . Werke, S. 129-153.
i.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
I. Sokratisches
Wissen und
Nichtwissen
Unser erster Ubcrblick iiber die Sond erst el lung des Guten im platonischen Ideendenken hat uns zu dcr Erkenntnis gefiihrt, daB nach Platos eigencr Einsicht das Wissen des Guten nicht nach dem Techne-Modcll verstanden werden kann, obwohl oder gerade weil Sokrates in seiner kritischen Widerlegung der Ansichten seiner Gesprachspartner dies Techne-Modell standig gebraucht. Wendet man die lichtvollen Analysen, die Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischcn Ethik iiber die Weisen des Wissendseins (it&iq w ' aXrfirvnv) und insbesondere iiber den Untcrschicd des >technischen< und des >praktischcn< Wisscns gegeben hat, auf diese Erkenntnis an, so crgibt sich eine - am Ende gar nicht cintnal Cibcrraschendc - N a h e des von Sokrates gesuchten Wisscns des Guten zur aristotelisehen >Phronesis<. Praktisches Wissen wird dort von Aristoteles ausdrucklich sowohl v o m theoretischen wie vom >tcchnischen< Wissen unterschieden u n d als eine andere Art von Wissen bezeichnet (alio i:u)tK yworac 2 '). Die Tugcnd des praktischen Wissens, die >Phronesis<, erscheint wie ein InbegrifF dessen, was das Leben des Sokrates vorgelebt hat. Auch das Bild, das Plato in der >Apologie< von Sokrates zcichnct, zeigt ihn von allem bloB >theoretischen< Interesse wcit entfernt. Indcsscn sieht cs sonst bei Plato ganz anders aus, u n d selbst seiner Sokrates-Figur notigt er weit spannungsvollerc Rollen auf, zum Beispiel die eines dramatischcn Gcgcnspielers gegen die sophistische Paideia, aber auch die eines mythenfreudigen Schilderers seltsamer Zwischenrcichc zwischen religiosen Gcsichten und philosophischen Gedanken, und vor allem die des Dialektikers, der seine eigene Kunst, ein Gesprach zu fiihren, zum Paradigma aller Erkenntnis und aller Wahrheit ausweitet. Sokrates wird hier zu einer mythischen Figur, in der das Wissen des Guten am Ende mit dem Wissen des Wahren und des Scins wic in einer hochsten >Theoria< zusammenfallt. Von da aus leitet sich unsere Aufgabe ab. Es gilt diese rnythischc Einheit auf die Ebenc der Begriffc zu bezichen und dadurch verstandlich zu machen, was Aristoteles mit Plato teilt, auch wenn er sich kritisch gegen ihn abgrenzt. Es ist bezeichnend, daB Plato selber den Wissensunterschied zwischen dem Wissen des Guten und allem iibrigen Wissen, den er in den sokratischen Dialogcn mit uberlegener Aporetik herausarbeitet, stets nur in negadver Form markiert hat. Wcr zu wissen meint, was cinc Arete ist, wird widerlegt, und cs ist immer der MaBstab der rfpm, der an solches Wissen mit Selbstvcrstandlichkeit angelegt wird. Als Resultat zeigt sich dann, daB jedem das
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E N Z 9 , 1141b 33 , 1142a30; EE fin, 1246b w .
!
Die Idee des Guten zwischen Plato u n d Aristoteles
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Wissen des Guten fchlt. Wenn dann aber der platonische Sokrates, sei es im 'Phaidoin, sei es in der >Politeia<, von dem O b c r s c h n t t iiber alles sonstigc WiBbare in die Richtung des Wissens des Guten spricht und das Gute durch seine Transzendenz auszcichnct, kniipft er zwar an die sokratische Frage nach den aptrai und von da aus nach dem Guten an, geht aber unvcrschcns in ein >theoretisches' Wissen >dcs Guten* und des >Seins< iiber. Was er mit dem Ausdruck >Dialektik< benennt, ist wie eine »Uberwissenschaft<, die sich hinter den mathematischen Disziplincn auftut, die als rein theoretische Wissenschaften beschricben werden. Gleichwohl hciBt diese Wissenschaft nicht ohne Redacht >Dialektik*. Das Erbe des Sokrates und seiner Kunst des Dialogs ist in ihr lebendig. Dazu paBt, daB Plato das Wort tppovqon;, das fiir Aristoteles die Tugend der praktischen Vernunftigkeit bezeichnet, oft in einem weiten Sinne anwendet und sowohl mit wjvr/ wie sniorrjpq s y n o n y m gebrauchcn kann. Das will niemals sagen, daB das Wissen des Guten wirklich Wissen von der Art der Techne ist. Das handwcrkhche Wissen hat eben eine so paradigmatischc Bedeutung fiir das, was Wissen uberhaupt ist, daB der Sprachgebrauch sich daran halt, und es gibt in der Tat ein Gemeinsamcs zwischen praktischcr Vernunft und technischem Bescheidwissen: Aus Griinden zu wissen gilt in gewissem Sinne fur jeden, der eine Wisscnschaft bzw. eine Kunst besitzt, z. B. fiir den Arzt (ein bei Aristoteles besonders belicbtes Beispiel), fiir den Mathematiker und uberhaupt fur jeden, der gegeniiber bloBer Meinung Anspruch auf Wissen erhebt. Doch wird hier sofort ein wesentlicher Unterschied sichtbar, der praktische Vcrniinftigkeit von solcher technisch-theorctischen unterscheidct. Wenn sonst einer, der weiB, Griinde angeben soil, kann er sic aus einem allgemeincn Wissen sehopfen, das er durch Lernen erworben hat. Das eben zeichnct Techne bzw. Episteme aus und hciBt bei Plato auch >Mathcma*. Dagegen sieht die Sache bei der praktischen Vernunftiibung anders aus. Da kann man sich nicht auf ein allgcmeines vorerworbencs Wissen stiitzen, und doch erhebt man den Anspruch, durch eigene A b w a g u n g des Fiir und Wider em Urteil zu gewinnen u n d jeweils verniinftig zu entscheiden. Wer sich mit sich und mit anderen iiber das berat, was in einer bcstimmten Situation des Handelns das Richtige ware, ist offenbar dazu bcreit, fiir seine Entschcidung nichts als gute Griinde gelten zu lassen, und wer sich i m m e r so verniinftig vcrhalt, der besitzt die Tugend der Vernunftigkeit bzw. der >Wohlbcratenheit* ( fv/ini'Xiti). >Eubulie< war ein politisches Losungswort der damals neuen Paideia. Es scheint mir nun fiir Plato bedeutsam, daB er dicsen Z u g des >praktischen< Wissens festhalt und sich gegen das (technische* Wissen abgrenzt. >Dialektik* stcllt kein allgemeines und lchrbares Wissen dar, auch wenn Plato oft dem Sprachgebrauch folgt und auch dafiir >Techne< oder >Episteme< sagt. Aber es ist ganz und gar nicht iiberraschend, daB er die i
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
Dialektik auch >Phronesis< nennen kann. Sie ist eben nichts, was man einfach lernen kann. Sie ist mehr als das: sie ist >Vcrniinftigkeit<. Dabei folgt er offenbar wiederum dem Sprachgebrauch, fur den es sclbstverstandlich ist, die cigcntliche >Arete< des menschlichen Handelns ippovrpjK. zu nennen. Das geht vor allem aus der Passage im >Menon< (88bff.) klar hervor 2 3 . Die Stelle ist dadurch besonders interessant, daB Sokrates im Zusammenhang seiner hinfiihrenden Reden hier erstaunlich konziliant ist und auf einer vollen Gleichsetzung von Tugend und Wissen gar nicht besteht: Er laBt es offen, ob nicht auBcr der ippovijnv; zur dpcuj noch anderes gehort 2 4 . Worauf es ihm a n k o m m t , ist offenbar nur, daB jedenfalls fpovrpiu, dazugehort. Das ist genau, was Aristoteles in der Nikomachisehen Ethik selbst sagt (EN Z 13, U44b 1 7 ff.). Man darf aus dieser Beobachtung folgern: Aristoteles bleibt in seiner Ethik - wie iiberhaupt - dem wirklichen Sprachgebrauch von tppovrio% treu. Es ist nicht so, wic N a t o r p memtc, daB er ein feicrliches Kunstwort Platos aufs Ethische reduzierte. Vielmehr hat Plato umgekehrt das gebrauchliche Wort, dessen N a h e zur Praxis stcts empfunden w o r d e n sein diirfte 2 5 , zur feierlichen A u f h o h u n g des dialektischen Wissens auf dieses ausgeweitet, d. h. er hat das, was man praktischc Vemiinftigkcit nannte, auf die thcorctische Haltung des Dialektikers ausgedehnt. U m g e k e h r t darf man den U m s t a n d , daB Aristoteles dem crweitertcn platonischen Sprachgebrauch gelegentlich sogar selber folgt, nicht mit Entwicklungshypothescn belasten, wic chedcm von Jaeger, Walzer u. a. versucht worden war. Das zeigt in Wahrheit nur, daB er im ganzen in der Sprachwelt Platos wciterlebt. So wenig cs nun bei Aristoteles besagt, daB er den eigentlichen Sinn von xppovtioic,, den er analysiert hat, in solchcn Fallen vergessen habe oder daB er bewufit >platonisierte<, so sehr besagt dieser Sprachgebrauch bei Plato selber, daB er iiber den Unterschied praktischen und theoretischcn Wissens hinaus auf ein Gemeinsames gerichtet war. Darin diirfte sein Motiv fiir die Ausweitung des Sprachgebrauchs von ifpovqtm: auf das hochste Wissen liegen. Er will dem wahren Dialektiker keine bloBe Fahigkeit, sondern wirkliche Verniinftigkeit zusprechen. Das heiBt fiir ihn zugleich, dafi der Dialektiker nicht eine iiberlegene Kunst besitzt, die er um des Rechthabens willen anwendet, sondern daB er wirkliche Rcchcnschaft sucht. Er besitzt also nicht eine Kunst, die man beliebig anwendet. Dialektik 25
Auch die Art, wie Rep. VII, 518e von den >sogenannten< apnai det yvyij die hpeir\ des ifpovijom unterschieden wird, ist eine gute Illustration der in ypovrfUK schwingenden Hauptbedeutung, die Xenophon z. B. standig im Auge hat. Vgl. auch Symp. 209a: ypovriuh' ff xai zqv eXV^r aptrqv und ahnliches. 24 Men. 89a: ipphviprv i}pa
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ist nicht so sehr eine >Technc<, ein Konnen u n d Wissen, als ein Sein, eine >Haltung< (f'freim aristotelischen Sinne), die den cchtcn Philosophen gegeniiber dem Sophisten auszeichnet. Es wird freilich eigener Anstrengungen bediirfen, diese Unterscheidung vor den Vcrtrctcrn der neuen Paideia zu rechtferdgen. Der sachliche Grund, w a r u m Dialektik nur >Dialektik< ist, d. h. ein ProzeB des Reclicnschaftgebens und -nehmens, und nicht ein Wissen von der Art, wic das Handwerkswissen und die sogenannten Wissenschaften em Wissen sind, liegt offenbar darin, daB in jenen beiden anderen Bcreichen nicht in derselben Weise die Verwirrbarkeit durch das Rcdcn droht wie in der Frage nach d e m Guten. GewiB laBt sich von beiden auch sagen, daB sie wissen, d. h. Griinde haben, w a r u m sie so und so verfahrcn oder das und das fiir wahr halt en. So zeichneten sich die Handwerker bei der Bcfragung durch Sokrates, die in der >Apologie< geschildert wird, in ihrem Bereiche aus. Wenn sie ilire Sache gelernt haben, wissen sie, w a r u m sie so handeln, wie sie es tun, undjedenfalls zeigt sich lhr Wissen darin, daB sic ihre Kunst zu lehren wissen. Innerhalb ihrer Kompetenz sind sic durch sophistische Rede- oder Argumcntationskimste nicht zu crschiittern, und eine Figur wie Hippias, der sich als eine Art Alleskonner aufspielte, wird keinem Handwerker imponiert haben. Gleichcs gilt fiir das Wissen, das der Arzt oder der Mathcinatikcr hat. Auch hier ist es uns bekaimt, daB die neue Paideia mit ihren Kiinsten Verwirrung zu stiften versucht. Im Fallc der Arztkunst beriihrt sich dicsja mit einem allgemeinen Affckt, der sich angesichts der Grenzen arztlichen Konnens und einer letzten Unausweisbarkeit seiner Erfolge immer wieder einstellt. O b es sich hier iiberhaupt u m eine Wissenschaft handclt? Der aus sophistischer Zeit stammende Traktat flrpi r/^nz/c gibt davon eine gute Vorstellung. Ahnliches gilt selbst fur das Wissen des Mathematikers, bei dem es auch zu begreifen ist, daB es gelegentlich den Widerstand der alltaglichen Erfahrung reizt. So ist uns bekannt, daB Protagoras seine Diskutierkiinste in weitem U m f a n g der Diskredi tic rung der Mathetnatikcr gewidmet hat 2 6 . Da hier der Sinn der Sache nicht so handgreiflich zu sein pflegt wie im Falle des Handwerks, ist das u m so eher vcrstandlich. Es mag auch so scin, daB der Mathematiker vielleicht nicht lmstande ist, den falschen Schein solcher verwirrenden Argumentationskunste seinerseits aufzudecken, aber der Dialog >Theatet<, der in eine solche Situation hmeinspricht, bezeugt zugleich, wie ein wirklicher Mathematiker sich da verhalt. T h e o d o r a s und Theatet lassen sich von solchen Argumentationen nicht anfechten und gehen ihnen einfach aus dem Wege (Theat. 164e, 169c 7 ). Sie sehen das, w o r u m es geht, Zahlen oder Figuren, gleichsam vor sich. Wissen ist die Unmittelbarkeit solches Vor-sich-Sehens u n d kann daher >Aisthesis< heifien 27 . - 6 D K I I 2 6 6 (VS 80 B 7). Vgl. dazu iMathematik u n d Dialektik bei Plato<, in diesem Band, S. 297.
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Ganz anders ist dagegen die Situation uberall dort, w o es kein Fachwissen gibt und kein en Fachmann und w o doch ein jedcr cin Urteil zu haben bcanspruchen muB. Das ist im personlichen wie im gesellschaftlichcn und politischen Leben die Frage des Guten. Da redet jedcr mit j e d e m , u n d ein jeder sucht von der Richtigkcit seiner Ansicht zu iiberzeugen, insbesondere wenn es sich um polidsche Entscheidungcn handclt. U m das >Gute< ist cine bestandige Auseinandersctzung im Gange, und wir hatten gcschcn, daB ein jeder da nichts als Griinde geltend macht. Das ist nun die Grundlage, von dcr sich der Anspruch der neuen Paidcia herleitet und insbesondere der Anspruch der Rhctorik, die die eigentliche neue Kunst ist. Sie tritt am klarstcn in der Weise hervor, wic Protagoras diesen Anspruch im glcichnamigen platonischen Dialog vertritt. Er will zum Guten erziehen, und zwar offenbar durch nichts als seine rhctorischc und dialektische Kunst. Jedcs Fachwissen laBt er beiseite (Prot. 318e). Diesem Anspruch stcllt Plato die wahre dialektische Kunst des Rechenschaftgcbcns entgegen, die iiber das Gute Rede und A n t w o r t steht. Er macht es auf seine Weise cinlcuchtend, daB es in solchen Dingen, damit man sich nicht vcrwirren laBt, nicht nur auf cincTcchnik der Rede und des Disputs a n k o m m t und nicht nur auf Scharfsinn. Z w a r muB man es eine Kunst nennen, wenn man imstande ist, die Dinge nach ihren Gattungcn zu unterscheiden und auf dicsc Weise Verwirrungen aufzudekken. Aber dazu ist melir gefordert als nur Scharfsinn. Die wahre Dialektik schlieBt noch melir cin. Sic iibt, an dem unverwirrbar festzuhalten, was einem als das Rechte vor Augen steht, und sich durch nichts davon abbringen zu lassen. Plato kann fiir diese wahre Dialektik auch >Phronesis< sagen, und das hat seinen sachlichen Grund. Hier, in der Frage des Guten, gibt cs kein verfugbares Wissen und keine B e r u f u n g auf andere. Da muB man sich selber fragen, und da ist man notwendig im Gesprach mit sich selbst oder mit anderen. Denn es gilt ja zu untcrschcidcn u n d das eine dem anderen vorzuziehen, Wenn Plato spater dies Unterscheiden als die Kunst der Dihaircsis so ausgezeichnet hat, daB sie fast mit dcr Dialektik zusammenfallt, so meint er gleichwohl damit weniger eine Methode als die praktische Aufgabe, dort richtig zu unterscheiden, w o in bcsondcrcm MaBe Vcrwirrung droht und im Schwange ist 28 . Eine wis sens chaftliche Methode im logischen Sinnc des Wortes ist es eben nicht. Insofem hat Aristoteles gegen den Beweiswert der Dihairesis mit Recht eingewendet, daB sie keine logisch zwingenden Schliisse ergibt. Man muB von der Sache vorhcr wissen, in wclchc Gattnng sie fallt. In dcr Tat ist Dialektik nicht Beweisfiihrung 1111 Sinne des wissenschaftbchen Beweises, dcr aus Voraussetzungen etwas zwingend ablcitct (anodeife). Die dialektische Unterschci dungs kunst setzt 2S
Das habe ich seinerzeit in iPiatos dialektische Ethik* (jetzt 111 Bd. 5 der Ges. Werke, S. 3-163) iiberzeugend zu machen versucht.
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vielmehr eine vorgangige Sachvertrautheit u n d den bestandigen Vorblick und Hinblick auf die in Rede stchende Sache voraus. Das hat Aristoteles richtig gesehen. Aber es ist kein Einwand, der Plato trifft. Es scheint mir geradezu Platos leitende Einsicht zu sein, daB die Dialektik solchen Unterscheidcn-Konnens von dersclben Art ist wie jene Rechenschaftsfahigkcit, die den Mann Sokrates auszeichnete, wenn er unbeirrbar an dem festhielt, was er als >gut< erkannt hatte. Da ist wirklich Wissen (und nicht >Doxa<), sofern der so sein Unwissen Wissende unbegrenzt zur Rechenschaft bereit ist. Sokrates' leitcndes T h e m a ist ja die Arete. Sie ist etwas, das m a n in gewissem Sirme immer schon weiB und wissen muB. Mit einem heutigen M o d e w o r t gesagt: sie verlangt Selbstverstandnis, und Sokrates beweist seinen Partnern, dafi ihnen dieses fehlt. Plato hat dem cine allgemeinere Ausdeutung gegeben. Ubcrall w o es sich u m ein Wissen handelt, das durch kein Lcrncn erworben werden kann, s o n d e m nur durch Priifung seiner selbst und des Wissens, das man zu haben meint, haben wir es mit Dialektik zu tun. N u r im Dialog - mit sich selbst oder mit anderen - kann man iiber die blofien Vormeinungen hcrrschender Konventionen hinausgelangen, und nur wer von solchem Vorwissen des >Guten< wirklich geleitet ist, wird daran unbeirrt festhalten konnen. Plato hat dafiir verschiedene metaphorische Ausdriickc, zum Beispiel: weil es in ihm »seinen Wohnsitz hat« oder »mit ihm verwandt ( o v f Y ^ ^ ) ist«. Der wahre Dialektiker laBt sich daher nicht, wie die ungliicklichen Opfer der sokratischen Widerlegungskiinste, die sich selbst nicht verstehen, an der Wahrheit kunstvoll vorbeifuhren. Aber auch umgekehrt: Wo einer, der Rechenschaft zu geben weiB, doch einmal in die Irrc geht, wie Sokrates selbst gclcgentlich im platonischen Dialog, findet er zuruck und weiB alsdann das' Intendierte besscr als zuvor zu artikulieren - wie etwa tiach der beriihmten Zuriickweisung einer von Sokrates begangenen conversio falsa durch Protagoras im gleichnamigen Dialog (350cff.). U n d wo Sokrates im lccrcn Scharfsimr formaler Untcrscheidung seine wahren Intentionen u n d sein besseres Wissen zu verleugnen scheint - wie in seiner ersten Erosrede im >Phaidros< - , wird ihn eine innere Stitnme, o b er sie nun sein Daimonion nennt oder nicht, zuruckhalten und ihn in einer zweiten Erosrede zum Widerruf notigen - und der ist alles andere als ein blinder Unterwerfungsakt unter ein rcligioscs H e r k o m m e n : Sokrates verhiillte sein Haupt, als er die un wahre Lob rede vortrug (Phaidry 237a 4 ), und erst im Widerruf ist cr wieder ganz er selbst. Sein Widerruf erst stellt die Erfahrung des Eros in den grofien weiten Horizont, in dem Plato das Charisma semes Mcisters deutet. Er deckt die wahren Unterscheidungen auf, wie sie dem anstchen, der weiB, was es zu wissen und w o v o n es Rechenschaft zu geben gilt: dem Dialektiker. Das bringt die zweite Rede des Sokrates auf mythischc Weise zum Ausdruck. In ihr wird Sokrates nicht nur d e m Wesen des Eros als
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einer gottgesandten Gabe gerecht, d. h. er trifft nicht n u r die bier notige Unterscheidung von >gutem< und >schlechtcm< Wahnsinn, auf die es d e m wahren Sclbstverstandms des Menschcn angesichts der Erfahrung der Liebe a n k o m m t . Er zeigt sich datnit als ein wirklichcr Dialektikcr, der im gleichcn Gange der Rcchenschaftsgabe zugleich das Wesen der Dialektik selbst enthullt. Die Leidenschaft fiir das Schone geht in die philosophische Leidenschaft fiir das Wahre auf. Darauf wird noch zuriickzukommen sein. So handelt es sich noch in der platonischen (Dialektik* um die >dorischc Harmonie von Logos und Ergon*, die das cigentliche Ethos des elenktischen Tuns des Sokrates ausmacht, wie ich in einer Studie dieses Titcls p r o g r a m matisch dargclegt habe 2 9 . Diese H a r m o n i e - oder deren Fehlen im Partner ist nicht nur in den elenktischen Dialogen der Hintergrund der (logisch oft unbefriedigenden) Argumentationskunst des Sokrates - sie spielt selbst fiir die sogenannten dialektischen Dialoge der Spatzcit eine weit groficre Rolle, als man im allgemeinen beachtet 3 0 . So wird m a n den >Theiitet< erst ganz verstehen, wenn man die (sensualistische* Antwort, die Theatct auf die Frage, was Wissen ist, gibt, in der vollcn Paradoxie wiirdigt, die sie im M u n d e eines genialcn Mathematikcrs besitzt. Auch die Unterscheidung des Philosophcn v o m Sophistcn, die der >Sophistes* bietet, kann nur dem gelingen, der wirklich (aviitx;) ein Philosoph ist (und kein bloBer Widcrlcgungskiinstler): Die Suche nach dem Wesen des Sophisten ist im >Sophistes< von vornherein von dem Blick auf das wahre Wesen des Philosophcn und Dialektikers gclcitet - der >Fremde* ist kein bloBer Widerlegungskiinstier, und so ist es ganz in der O r d n u n g , daB das Wesen des Dialektikers und Philosophcn mit aufgeklart werden muB, wenn es zu einer klarcn Erfassung des Sophisten k o m m c n soli 31 . Wie im >Phaidros* der gute und der schlcchte Wahnsinn zu unterscheiden war, so hier der wahre Dialektikcr v o m falschen, dem Sophistcn. Das >Unterscheiden* der Dihairesis zielt selbst hier noch auf das Unterscheidcn des Guten v o m Schlechten (was im >Philebos< noch einmal ganz ausdriicklich wird, w o die Dihairesis ganz auf das Gute im menschlichen Leben bezogen ist 32 ). Es hat cincn guten Sinn, die dialektischc >Tugend* Phronesis zu nennen. Logos und Ergon im platonischen >Lysis*. Jetzt 111 Bd. 6 der Gcs. Werke, S. 171-186. Ein Beispiel: R. K. SrRAGUE (Plato's Use of Fallacy. London 1962) hat die logische (fallacy vonTheat. 163 ff. so weit verstandnis vol 1 behandelt, dalS sic die positiven Qualitaten in der Figur des Theatet richtig erkennt, aber die durchgangige Abhangigkeit des Aoyoc v o m rpyov reicht weit tiefer ins Inhaltliche hineui, als sie w a h m i m m t . 31 Einige Bemerkungen 7,u den Grenzen, in denen diese Erfassung begrifflich gelingt und in Platos Augen iiberhaupt moglich ist, habe ich in >Plato und Heidegger' germcht. Jetzt in Bd. 3 der Gcs. Werke, S. 138-148. 32 SchonJ. S T E N Z E L S Sokrates- A rtikel in RE III A, Sp. 856fF. hat auf diese Komponente des StaXeytiv, des Auslesens, aufmerksam gemacht. 29 ,n
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Kehren wir von diesem Ausblick, der durch den platonischen Sprachgebrauch von rppdvrjOK; angeregt war, zu dem eigentlichen thema probandum zuriick, und das ist, daB in Platos Augen das Arete-Wissen gegeniibcr den rfjv<74 cine Besonderheit an sich hat. Das tritt gelegentlich ganz ausdriicklich heraus, z. B. itn >Menon< (74b), w o es als besonders schwierig erklart wird, piav dpcirjv Aufkiv xaia ndvzw, offenbar weil cine konvcntionclle Moral die apf.iai allein in konventioncllcr Viclfalt kennt (vgl. 71eff.). Vor allem aber wird es durch die Rolle bewiesen, die das Problem der Lehrbarkeit dcr Arete bei Plato spielt. Der >Protagoras< ist hier von entscheidender Bedeutung. Lehrbarkeit miiBtc aus dem Wissenscharakter dcr Arete so zwingend folgen, wie sie unbestrittenermaBcn aus dem Techne-Wissen zwingend folgt. Tatsachlich abcr folgt sie nicht in dieser Weise. Das ist eine allgcmcine Erfahrung, fiir die Plato sich schon auf Theognis berufen kann. DaB die Arete nicht lehrbar ist wie die wp-m, stellt ja in gewissem Sinne das Kcrnproblem aller Erziehung dar. Sittliche Traditioncn griinden sich nicht so sehr auf Lehren und Lernen, als auf Vorbildnahmc und Nachfolge. Xenophon (Mem. A 2) sagt von Sokrates ausdriicklich, daB er nie vcrsprochcn habe, Lehrer dcr Arete zu sein, sondern durch sein Beispiel (zu rpavepoq thai lotovmt;) Nachfolge weckte (pipoirpi-voc;). Sittliche N o r m e n iibcrmittcln sich mit einer durch die gesellschaftlichcnTraditionen gepragten Selbstverstandlichkeit, und Protagoras verhalt sich ganz im Sinne dieses Traditionsdenkens, wenn er >alle Athener< Lehrer der politischen Arete nennt (Prot. 327ei). Er verschweigt freilich, daB alle Athener eben auch Lehrer des Unrechts sein konnen, und das ist genau Ausgangspunkt des gesamtcn sokratischen und platonischen Lebens. Der Siebente Brief (325 f.) und Platos D e u t u n g des sokratischen Lebens in der >Apologie< stimtnen darin vollig iibcrein: erst Rechenschaftsforderung deckt die Vermcintlichkeit des herkdmmlichen moralisch-politisehen Selbstvcrstandnisses auf. Aber Plato tut noch mehr, indem er Sokrates auf dramatische Weise mit den grofien Sophisten kontrastiert. Er zeigt dadurch, wie das neue Ideal der Paideia diese Konventionalitat geradc dadurch absichert, daB es den falschen Anspruch erhebt, durch ein neues > WisseiK zu erziehen. Das ist das neue Ideal der Paideia: ein bewuBtes Lernen. Es ist der Anspruch der groBen Sophisten der Zeit, fiir die Protagoras reprasentativ ist. Sie versprechen, zum rechtcn Staatsbiirgertum (im antiken Sinne der aktiven Teilhabe an den offentlichen Dingen) zu erziehen, indem sie dem Schiiler die neue Kunst des Redens und Argumentierens beibringen. Die sophistischc Paideia bcansprucht, wie der Protagoras-Dialog zeigt, durchaus nicht, durch die >Kunst<, die sie lehrt, an die Stellc der iibcrlicfcrten moralischen N o r m e n , deren bestimmende Kraft durch Vorbilderziehung ausgeiibt wird, neue N o r m e n zu setzen. Sie will durch ihre Kunst staatsbiirgerliche Arete - die gleiche wie eh u n d j e - neu vermittcln. Das > Wissen u m die Arete< wird schon i m m e r von alien getragen
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und vermittelt. Der Sophist aber tut, was alle tun, mit >Kunst< u n d preist in diesem Sinne seine neue >Kunst< als eine Vcrvollkommnung der Erziehung. Das gilt in der platonischen Gestaltung fur Protagoras so gut wie f u r Gorgias, und manches, was wir auch sonst von beiden wissen, z. B. ihr holies gescllschaftliches Ansehen, stimmt dazu. Aber nun stiirzt die sokratische Frage dies alles um. Plato zeigt in den gleichnamigen Dialogen, zu denen noch das erste Buch der >Politeia< (der sog. >Thrasymachos<) hinzugehort, wie verhangnisvoll der neue Wisscnsanspruch dieser Paideia in Wahrheit ist. Es ist eine >technische< Gcsinnung, die sich als Arete ausgibt, ohne das iiberhaupt noch zu sein. Das wird aufgedeckt, indem es in den radikalen Immoralisten v o m Schlagc cines Thrasymachos und Kallikles zur radikalen Konsequcnz gebracht wird. Im Protagoras-Dialog ist die gleiche Enthiillung nicht so ausdrticklich, aber auch angcIcgt, denn ohne Zweifcl soil dort Protagoras zu einem radikalen Hedonismus als der wahren Konsequcnz seines Wissensbegnffs genotigt werden. Indem er sich ziert und auf diese radikale Konscquenz nicht einlafit, wird indirekt deutlich, daB er sie ziehen miifitc. Sein pragmatisches Wissen u n d seine >Kunst< vermogen in Wahrheit keine anderen N o r m e n zu setzen oder zu vertcidigen. Im sechsten Buch der >Politeia< (493ff.) wird das dann ganz ausdriicklich ausgesprochen. Die sogenannten Sophisten sind in Wahrheit nur Mictlinge der offentlichcn M e m u n g . Ein jeder erzicht zu nichts anderem als zu den Ansichten, die die Leute sich bilden, wenn sie bcisammen sind, und sie nemien das > Weisheit*. Die Einpassung der ncuen Paideia in das N o r m e n s y s t e m der Tradition ist also ein falscher Schcin. Sie verdunkelt den Mangel an Rechenschaftsfahigkeit der iiberlicfcrten Aretc-Begriffe und verdeckt, dafi diese N o r m e n w e l t in sich selbst zweideutig geworden ist. So besteht die Funktion des sokratischen Paradoxes des Tugendwissens eben darin, zu zcigen, dafi die N o r m e n w e l t der Tradition rechenschaftsbcdiirftig geworden, aber nicht re chens chafts fall ig ist, und daB der neue Anspruch der Paideia in Wahrheit eine Techne des Erfolges ist. Es ist ein falscher Anschein von Wissen und rechenschaftsfahiger BcwuBtheit, als ob hier ein Wissen vermittelt wiirde, das die selbstverstandliche Fortgeltung der N o r m e n w e l t zu begriinden vcrmochte. Das wird im >Protagoras<, wie wir sahen, durch die Karikatur eines >techmschen< Lebenswisscns aufgedeckt, das das Wissen u m den grofitmoglichen Lustgewinn (ftr/ptjjaij zt\r>]) ware. Vor allem aber tritt cs durch das Paradox heraus, dafi Arete allcm Wissensanspruch z u m T r o t z nicht lchrbar ist. M a n siehtjetzt, wie kunstvoll Plato im >Protagoras< komponiert und was fiir eine Aussagekraft all ein schon in der dramatischen Inszenierung liegt: die Konfrontation, in der Plato scinen Sokrates den beriihmten Sophisten der Zeit gegeniiberstcllt (Protagoras, Gorgias, Hippias, Thrasymachos), scheint die eigenste E r f m d u n g Platos zu sein und dient der Absicht, die verhangnis-
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voile Gleichsctzung des Sokrates mit den Sophisten, auf der die tragische Verurteilung des Sokrates beruhte, abzuwehren. Xenophon berichtet nur eine einzige vcrgleichbare Paarung mit einem Sophisten, die mit Hippias (Mem. A 4), aber die ist ganz anders angelegt: Der Sophist kennt Sokrates gut - er beklagt sich, es seien immer dieselben Reden, die Sokrates fuhre, und es k o m m e nie eine positive A n t w o r t von ihm (das Motiv des >Kleitophon<). Deshalb besteht Hippias darauf, daB Sokrates sich iiber das Sivaiov endlich cinmal selber positiv auBere. Was X e n o p h o n Sokrates daraufhin sagen laBt, geht aber kaum auf authentische Erinnerungen zuriick. Das apologetische Motiv ist allzu trivial und durchsichtig. DaB Sokrates selbst nie unrecht getan habe, das mag Sokrates vor Gencht dargelegt haben, und Plato laBt ihn das auch sagen. Aber was Xenophon den Sokrates iiber das Sixawv selbst sagen laBt, sowohl, daB es das vojiipov sei, als auch, was er iiber die aypaipoi vdfioi u n d zur Rechtfertigung des Inzestverbots sowie iiber die Gotter sagt, ist farblos und laBt den sophistischen Partner in genauso farbloscr Weise zustimmcn, wie all die anderen Partner in den >Memorabihcn< das tun. Vollends auBerlich ist die andere Unterhaltung des Sokrates mit einem Sophisten, die sich bei X e n o p h o n findet: mit Antiphon (Mem. A 6). Jedenfalls haben diese naiven apologetischcn Konfrontationen keine Ahnlichkcit mit den groBen Sophistendialogen Platos. Dagegen stellt Plato im >Protagoras< das sophistische Pseudowissen und den dafiir erhobenen Lehranspruch dadurch blofl, daB er den sokratischen Wissensanspruch dagegensetzt, und das vielsagende Resultat, bei dem das Gesprach haltmacht, ist, daB Sokrates den Sophisten zur Z u s t i m m u n g notigt, daB Arete Wissen ist, aber seinerseits ihre Lehrbarkeit bestreitet. Wenn Sokrates wirklich den Wissenscharakter im Sinne derTechne meinte, miiBte cr aber ihre Lehrbarkeit vertreten. Was fiir ein Wissen mag es also scin, das hier gemeint und offenkundig nicht lehrbar ist? Der Leser soil sich diese Frage stcllen. Jedcnfalls muB sich der Leser des >Protagoras< dariiber klar werden, daB das Wissen und die Rechenschaftsgabe, die Sokrates sucht, nichts mit dem sophistischen Techne-Denken zu tun hat. Das ist v o m ersten Augenblick an klar. Der Zweifel an der Lehrbarkeit der Arete beherrscht von Anfang an das ganze Gesprach, hintergriindig schon in der Eingangsszcnc. Es ist vollends die logische Pointe der dialogischcnErfindung, mit der Plato den >Protagoras< in einem komodienhaften SchluB enden laBt: Der Wissenscharakter der Arete kann nicht der der Techne, auch nicht der der sich als Techne riihmenden neuen Paideia scin. Wie wenig der Techne-Be griff ausreicht, das Wissen des Guten und das Wesen der Arete auf einen klaren Begriff zu bringen, lieBe sich durch die ganze Reihe der sokratischen Gesprache demonstneren 3 3 , die mit einem Vgl. meine Studien zum >£uthyphron<: >Sokrates' Frommigkeit des Nichtwissenst. In diesem Band S. 104 ff.
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negativen Ausgang enden. Eine besonders zentrale Stelle n i m m t dafiir der >Menon< ein, der die Sache einen Schritt vorwartsbringt. Dieser Dialog hat es zunachst mit dem gleichen Problem zu tun wie der >Protagoras<, uamlich mit der Lehrbarkeit, und wiederholt im Grunde die Paradoxic, in der sich der Rechenschaftsanspruch der Arete verstrickt, die Paradoxic namlich, dafi daraus die Lehrbarkeit folgen miiBte. Wieder bricht sich dieser Wissensanspruch an den Tatsachen der sittlichen und politischen Erfahrung. Die Sohne grofier Manner, die doch alle erdcnkliche Erziehung erfahrcn haben, sind oft schlimme Enttauschungen. So muB es etwas anderes als Wissen sein, was hier bestimmend ist - Plato nennt cs detapoipa, gottliche Zuteilung. Hier liegt eine wahre Crux der traditioncllen Platointcrpretation. Es sieht wie eine Halbheit aus, die eigene sokratische Rechenschaftsforderung und ihre Unerbittlichkcit dadurch abzuschwachen, daB >gottliche Zuteilungi an ihre Stelle trcten kann. Femfiihlige Interpreten sehen hierin einen Hinweis auf den einzig wahren Lehrer der Arete, der Sokrates selbst sei. Es ist nun gewiB richtig, daB das Ende des ganzen scheitemden Gesprachs mit Menon auf Sokrates als den eigentlichen und einzigen Lehrer hindcutet. Aber m a n gibt das Richtige aus der Hand, wenn man nicht zugleich das Allgcmeine, das darin liegt, erkennt. Worum es geht, ist nicht eine Sakralisierung des Charismatikcrs Sokrates, auch wenn Sokrates in Platos Augen ganz gewiB ein solcher gewesen ist. Es geht vielmehr fiir Plato u m die U b e r w i n d u n g des falschen Lernens- und Wissensbegriffs, der den j u n g e n M e n o n ebenso beherrscht wie seinen > Lehrer < Gorgias. D e m dient die Bezugnahme auf gottliche Zuteilung 3 4 . Dieser Aufgabe ist das ganze Gesprach mit Menon gewidmet. M a n muB sich nur mit Plato fragen: wer war Sokrates und was war sein Wissen ? Er hat doch geradezu das Wissen des Nichtwissens fiir die eigentliche menschliche >Weisheit< erklart. Sein Lehren konnte nur sein, was es i m m e r ist: des Nichtwissens zu iiberfuhren u n d eben damit Rechenschaftsgabe und Wissen dringend zu machen. Fiir den, der zum eigenen Suchen und Fragen gelangt ist, sind die pratentiosen Verm ein tlichkeiten nichtig, die etwa Menon von einem Gorgias g e l e m t h a t und hervorkehrt, u n d erst recht ein Sophisma, das einem alles Suchen u n d Fragen durch Argumentation ausreden will, wie cs M e n o n mit blindem Scharfsinn vorbringt. Das ist die Pointe des >Menon<, daB Plato die >Aporie<, in der die sokratischen Dialoge sonst zu enden pflcgen, jetzt z u m ausdriicklichen Thema erhebt. Auch hier wird anfangs eine Reihe v o n Definitionsversuchen der Arete zum Scheitern gebracht, die mehr oder minder deutlich enthiillen, wie hinter der moralischen Konvcntion die alleinige Wirklichkeit des Machtstre34
Auch die Anspielung auf >gdttliche Zuteilung*, die sich Rep. VI, 492e findet, steht in polcmischer Wendung gegen die sophistische Paideia.
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bens steht. Dieletzte von Menon versuchte A n t w o r t spricht es gcradezu aus, indem cr sich das Dichterwort xaWlv K ^aXoiai mi dvvaodai in der Weise zu eigen macht, als hiefie >Arcte< nichts andcres als: das Schonc, das man begehrt, sich vcrschaffen zu konncn (77b). Aber der neue Schritt ist, zu zcigcn, daB die >Aporie<, in der die Versuche des Menon, das Wesen der Arete zu bestimmen, endcn, gerade die Bcdingung darstellt, unter dcr man nach ihr fragen kann. Fragen aber heiBt hier: sich fragen. Das Wissen kann man nur heraufrufen. Alles Erkennen ist Wiedcrcrkcnnen und in diesem Sinne Wiedererinnerung an ein Bekanntes. Das Gesprach mit Menon macht das v o m Gegensatz her vollig klar. Menon tritt als einer auf, der sich die neueste Weisheit so billig wie moglich aneignen mochte, und bricht aus, wenn cr genotigt werden soil, sich selber in Frage zu stellen. So ist er die rechte Folie fiir ein Verstandnis dessen, was >Wissen< und Erkennen eigentlich ist. Es ist die Lchre von der >Anamnesis<, die den wahrcn Sinn der sokratischen Frage zum Ausdruck bringt. Als einer, der sich selber nur >erinnert<, ist Sokrates Lehrer, und Plato einer, der mit seiner Darstcllung des sokratischen T u n s zugleich ennnert, daB Wissen Erinnerung, Wiedererkenntnis ist. Das wird hier als ein Mythos cingcfiihrt, das heiBt, dem Anschein nach nicht als ein eigenes A r g u m e n t , sondern als eine K u n d e religioser Art. Aber m a n muB den Mythos von der Anamnesis im Lichtc unserer Fragcstcllung sehen. Ist es iiberhaupt ein Mythos? GewiB, die Lehre wird im >Menon< wie ein M y t h o s eingefuhrt, unter Bezugnahme auf Pindarverse u n d die pythagoreische Seelenwandcrungslchrc. Abcr schon die Autoritiit, auf die sich Sokrates beruft, klingt seltsam: Priester u n d Priesterinnen, die Rechenschaft zu geben vermogen! Das istim Umkreis der griechischen Religion, die keine Religion des Buches und der rechtcn Lehre war, sondern der scheuen E h r furcht des Einzelnen und der geordneten offentlichen Verehrung des Gottlichen, etwas Absurdes. U n d dann wird die These, daB alles Suchcn und Lernen >Erinncrung< sei, ganz niichtcrn vordemonstriert, o h n e j e d e religiose Bezugnahme. Die beriihmte Unterrichtsstunde, die Sokrates dem Sklaven des Menon gibt, ist weit von einer Beweisfiihrung fiir die religiose Lehre dcr Praexistenz der Seelen entfernt. Es wird zwar bei j e d e m Schritt dieser Lektion mit Sorgfalt festgehalten, daB der Sklave nichts >gelehrt< b e k o m m t , sondern jeden Schritt, den ncgativen wie den positiven, selber cinsieht, also eine Art Wissen beweist, ohne j e Mathematik >gelernt< zu haben. Aber nach all diesen Veransta 1 tun gen fallt es um so mehr auf, dafi, wenn der SchluB auf eine vor-menschliche Zeit, in der die Seele schon wufite, u n d damit auf die Unsterblichkeit der Seele gezogen wird, dies am Ende nicht als ein giiltiger Beweis angesehen wird. Vielmehr wird ein solchcr Bcweisanspruch ausdriicklich zuriickgenommen (Men. 86b). N u r die prakdsche Gewifiheit, daB wir besser tun, daran festzuhalten, daB m a n suchen kann u n d daB m a n sich
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nicht durch sophistischc Einwendungen d a n n beirren lassen soli, wirdAt>y« xul Hpyv (86c.)) iibcrnommen. Der mythische Horizont, in den Sokrates nicht ohne iromsche Feierlichkeit diese GcwiBheit vcrsetzt, dient also im Grunde nur dazu, die Selbstexplikation des fragcnden Bewufitseins zu lllustricren. VoUends iiberzeugend ist das am >Phaidoni. Da wird das AnamncsisMotiv wieder a u f g e n o m m e n und wicderum ganz unmythisch expliziert. Die Art, wie die Lehre von der Praexistcnz durch das > Vorwissen< >bewicsen< wird, das allem Wissen zugrundc liegt, ist nicht einmal frei von K o m i k . Es driickt sich darin w o h l aus, daB, was dieser Praexistcnz-Beweis nut pseudologischcr Stringenz beweist, zwar als religioses Traditionsgut ehrwiirdig ist, kaum aber eine rationale Legitimation solchen Stils zu erfahren vcrmag. Insbesondere die Zuspitzung der Argumentation, die durch den Einwurf des Simmias erzeugt wird, das Wissen konnc doch zuglcich mit der Geburt einem z u k o m m c n , macht die Diskrepanz zwischen dem mythischen Anspruch und der logischen Bcgrifflichkcit, in der sich die Argumentation bewegt, handgrciflich. Es ist offenbar in dicscr A b s k h t , daB Plato scinen Sokrates sich in folgcnde Argumentation versteigen laBt (Phaid. 76d): Da das Wissen nicht nachgcburtlich erworben sein kann, muB es auf ein >voriges< Leben zuriickgchen - es sei denn, im Augenblick der Geburt wiirde es erworben. Aber da ist es ja, wie die anfanglichc Unwissenheit des N e u g c b o renen zeigt, gerade nicht da. Also ist es zugleich erworben und v e r l o r e n - ein schoner Unsinn, scheint cs, und der Einwurf des Sinnnias scheint damit abgetan. O d e r ist es am Ende cin Wink, im Ernst auf das Zugleich von Wissen und Nichtwissen zu blicken und daran die innere Verflcchtung von Erkennen und Wiedcrerkennen zu gewahren, die sich nur fiir ein >mythisches< Denken im zeitlichen Nacheinander eines mythischen Vorlebens und nachherigen Erinnerns auseinandcrspreitct? Wie dem auch sei, v o n der mythischen Darstellungsweise miissen wir, wenn wir Platos Intentioncn folgen wollen, abstrahieren, sowohl was den >Menon< wie was den >Phaidon< bctrifft. Versuchen wir, etwas v o n diesen Intcntionen auf den Begriff zu bringen. D e r Sklave im iMenom erkennt das iiber der Diagonale crrichtete Q u a drat, nachdem er die Fehllosungcn hinter sich gebracht hat, als die gesuchte Verdoppelung. Das schlieBt ein, daB er schon vorher weiB, was >doppelt< heifit - er mufi Gricchisch konnen: Men. 82b s - , und daB er auf die Verdoppelung und auf das Doppelte den Blick gerichtct halt. So ist es wirkliches >Suchen<. D e r Sklave hat das Gesuchte so weit vor Augen, daB er >erkennt<, daB seine ersten Losungen durch Verdoppelung falsch sind - und daB er die wahre Ldsungerkcnnt, wenn sie ihm vorgelegt wird. Bekanntlich findetcr sie nicht sei bs tan dig. Sokrates muB es ihmzeigen (85a 4 ). Aber darauf k o m m t es nicht an, sondern darauf, daB er cs selber als das Gesuchtc erkennt.
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Es ist bcmerkenswert, dafi es sich hier um eine mathematische Erkenntnis handelt, also nicht u m das Resultat empirischer Verallgemeinerung. Der Sklave versteht schon i m m e r soviel von Mathcmatik, daB er die ihm gestcllte Aufgabe mit Selbstverstandlichkeit und ohne sich dessen bewuBt zu sein als eidetisch-allgemeinebegrcift. Der gesamte Weg, auf dem der Sklave zur eidetischen Einsicht gefiihrt wird, geht durch eidetisches Gcfildc. Auch seine falschcn Losungsversuche, die er zuerst unternimint, sind >eidetisch< gemeint: sie sind nur mathcmatisch falsch. Die Einsicht in ihre Fehlcrhaftigkcit hat fur ihn - im Unterschiede zu seinem Herrn - nichts Lahmendes, sondern ermoglicht in Wahrheit die richtigc Erkcnntnis, die sich bei geniigender Wiedcrholung der U b u n g zu echtem mathematischen Wissen stabilisieren wiirde (85cff.). Das mathcmatische Beispiel steht hier aber fiir alles, was Plato wirkliches Wissen oder Erkenntnis nennen wiirde. Immer sind d.\rjd£t<; Ho^ai bctreffs dessen, was einer nicht weiB, in ihm (Men. 85cfl). Gerade das war freilich an der mathematischen Unterwcisung herausgekommcn. daB es der Widcrlcgung der falschen Annahmen bedarf, so daB sie als falsche erkannt werden. Darin ist aber eingeschlossen, daB die >wahrc< Annahme immer schon mit vorschwebt. Was illustriert wird, ist also das Wesen des Suchens und Lernens (pp.'zv, fiavddwtv 81 d^). Es crfordert, zu wissen, was man nicht w7eiB, und dies wieder fordert, widerlegt zu werden. Wissen, was man nicht weiB, ist eben nicht cinfach Unwissenhcit. Es schlieBt stets ein Vorwissen ein, das alles Suchen oder Fragen leitet: Erkenntnis ist immer Wiedererketintnis. Das gilt offenbar erst recht fiir die Arete, und wenn der >Menon< es auch nicht ausdriicklich macht, ist es doch klar - eben aus detn crneuten Ausweichen des Menon 86c 7 -, daB die Frage, was die Arete sei, auf das Wissen des Guten fiihren miifite (vgl. Men. 87b-d). Es bcgleitet das praktische Leben bestandig. Wann immer wir eins dem andern vorziehen, glauben wir das rechtfcrtigen zu konnen. Das Wissen u m das Gute selbst ist also immer schon im Spiele. Nicht minder aufschluBrcich ist die Rekapitulation, die Sokrates im >Phaidon< von der Anamnesislehre gibt. In einer meisterbaftcn Analyse und in schrittweiser Hinfiihrung entwickelt Sokrates dort, w a r u m alles Wissen Wicdererinnerung ist. Er geht dabei von klarcn Fallen des Erinnertwxrdens aus. Die Lcicr erinnert an den geliebtcn Freund. Ein Freund erinnert an seinen Freund. Auch das Bild des einen Freundes erinnert an den anderen Freund. Ja, das Bild des Freundes erinnert an ihn selbst. Das ist cine kunstvolle >Hinfiihrung<, dcrcn letzter Schritt verbliifft. Hier wiirden wir nicht mehr sagen, es erinnert, sondern: im Bilde >erkenne< ich ihn wieder. Eben dadurch m m , daB hier >Erkennem wic eine Art >Erinnerung< hcrauskommt, erreicht Sokrates, worauf cs i h m a n k o m m t : Erkennen wird so von allem >Lerncn< abgeriickt.
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S ok rati scher Dialog und Platonische Dialektik
Dabei diirftc cs cine Rolle spielen, daB das Beispiel selbst schon kein echter Fall von Erinnertwerden ist: der Licbende wird durch den Anblick der Leier seines Freundcs doch nicht an j e m a n d erinnert, den er vergessen hatte! Der Freund ist ja dem Liebcnden so nahe und gegenwartig, daB er bei allem moglichen an ihn denkt. Er sieht gleichsam alle Dinge - und so die Leier - im Lichtc seiner Leidenschaft. Das ist bedeutsam. Die Angleichung dieses >£rinnertwerdens< an die Erinnerung an etwas Vcrgessenes ist iiberaus kunstlich. Das wird durch den Einschub 73ej: paXioia JU:VTOI indirckt deutlich. In Wahrheit k o m m t es hier weit mehr auf >Mncme< als auf Anamnesis an 3 5 . Auch Erkennen ist nicht cigcntlich ein Erinnertwerdcn an cin Vergessenes, sondern ein neuer AufschluB iiber etwas Bekaimtes. Wenn ich etwas als etwas crkenne, dann schc ich etwas, was ich kenne, in diesem Lichte. Ich lege es auf etwas hin aus, das mir wiederum als bckannt vor Augen ist (ZT/C ipvoews anaor}c ovyyevov<; ovori<; Men. S i d , ) . Man wird solches >Vorverstandnis< vor allem fiir das Selbstverstandnis der Arete und die Frage nach dem Guten zutreffend fmden, wic ja auch M e n o n gerade dieser Z u m u t u n g ausweichen wollte und dadurch des Sokrates Heranziehung der Anamnesis hcraufbeschwor. Aber es kann selbst im •Menon' kein Zwcifel sein, daB Plato es in einem vicl weiteren Sinne meint, der jeglichem wirklichen Wissen z u k o m m e n soil. Die dialektischc Kunst des Unterschcidens, die das Gute vom Schlechtcn scheidet (oder wie wir in moralischer Unterkiihlung sagen wiirden, >das Richtige< von all dem, was zu tun >nicht richtig< ware), muB in weitester Ausdehnung auf das Wissen alles Wissenswiirdigen ihre A n w e n d u n g finden. Die Struktur der Anamnesis reicht am Ende so weit wie die Moglichkeit des Fragens. Fragen ist Suchen und steht als solches untcr der Fiihrung des Gesuchten. Man kann nur suchcn, wenn man weiB, was man sucht - nur dann, n u r im Blick auf dieses GewuBte, kann man ausschlicBen u n d eingrenzen und iiberhaupt erkennen. Das lehrt der >Menon<. Ein anderes Beispiel, an dem das von Plato Gemeinte indirekt deutlich wird, ist das Scheitern der sophistischen Partner des Sokrates, wenn sie fragen wollen, Ihnen scheint Fragen die iiberlegene Rolle, die m a n deshalb anstrebt. Aber Fragen ist keine Technik des Rollenspiels. Der Fragende ist immer zugleich der Sich-Fragcnde. Die Frage stellt s i c h - f u r ihn wie fur den anderen. Das ist die Dialektik des Dialogs, und ihre logische Struktur ist >Synopsis* u n d >Dihaircsis< zuglcich: Erkennen dessen, als den man sich >kennt< und wie m a n sich selber versteht, ist wie alles Erkennen dessen, was m a n k e n n t , i m m e r avvupav
CK cv eiSui; u n d e b e n s o s e h r Km a yevyj
Siatfxtodm,
35 Fiir diese Zusammenhange vgl. den umfangreichen Exkurs in J A C O B KT FIN, A C o m m e n t a r y 011 Plato's M e n u (Chapel Hill 1965), S. 108-172, der mit Recht auch den •Philebos* heranzieht.
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Unterscheiden. I m m e r steht m a n in dialektischer S p a n n u n g zu den V o r m c i n u n g e n , die einen e i n n e h m e n und die sich als Wissen ausgeben, aber in Wahrheit das Partikularc der jeweiligen Ansicht fiir das Ganze n c h m c n . Das gilt fiir den Gcfragtcn wie fiir den Fragcnden. D e r abstrakteste platonische A u s d r u c k d a f u r ist: rh jtf ujovia m i t d e m avm vcrwcchseln (Rep. V, 476d). Das ist schon im >Mcnon< angelegt, auch w e n n wir erst spater, v o r allem in der >Politcia<, diese K o n s e q u c n z ausdriicklich zu ziehen genotigt werden. D c r sokratische Satz, daB Arete Wissen sei, erweist sich somit als eine P r o v o k a t i o n . Lchrbar wie Wissen ist sie nicht, w e n n auch auf unleugbare Weise rechensc hafts fahig u n d -bediirftig. Es ist n u n o f f e n k u n d i g , daB diese positive Seite des sokratischen Paradoxes v o m Tugend-Wissen auch Aristoteles ausdriicklich a u f g e n o m m e n hat. Arete ist nicht Logos, abcr j/adXoyov. Ich versuche glaubhaft zu m a c h c n , daB diese F o r m u l i e r u n g in Wahrheit dcr platonisch-sokratischen Intention vollig cntspricht und hinter dcr totalen >Intellektuierung< der Arete steht, die sich in den platonischen Dialogen ausspricht. DaB Aristoteles selber m i t seiner halbcn A n e r k e n n u n g des >Sokrates< ( E N Z 13, 1144b i 7 ff.) das platonisch-sokratische Paradox der Gleichsctzung v o n T u g e n d u n d Wissen wortlich n i m m t u n d korrigicrt, kann in meinen A u g e n nicht dagegen sprechen. Das ist aristotelische Art, >Satze< in ihrem Wortlaut zu n e h m e n und mcht auf ihre Intention hin, und sie ihrer Einscitigkeit zu u b e r f u h r e n . Das ist sein G e b r a u c h der >Dialcktik<, die Einseitigkeiten in den M e i n u n g e n anderer gegeneinander abzuwagen, und was i h m auf diese o f t gewaltsame Weise gelingt, ist, sich selber besser zu artikulieren u n d das als selbst verstandlich Vorausgesetzte mit in den Begriff zu heben. Was Aristoteles hier durch seine Kritik g e w i n n t , ist der Begriff des >Ethos< - wie j e d e r begriffliche Gewinn U r s p r u n g neuer Fragen, denen wir unter d e m Titel >praktische Philosophic* uns n o c h w e r d e n stellen miissen. H i e r m u B eine allgemeine hcrmeneutische Einsicht leitend sein, die gcrade an Gcsprachen wie den sokratischen sich klar profiliert, die aber am E n d e fiir alles >Gesprach der Seele mit sich selbst* gilt, das D e n k e n ist. Aussagen wic >Tugend ist Wissen* fallen nicht v o m H i m m e l , sondern sind in ihrem Gehalt v o n d e m m i t b e s t i m m t , w o r a u f s i e >antworten<. Das ist im Falle des Sokrates die verwirrte moralische Tradition, der die Sophistik eine falsche, itechnologischc* N e u b e g r i i n d u n g in einem neuen > Wissen* vcrspricht. In der G c m c i n samkeit dcr A b w e h r dieses technischen Wissensbegriffs der Sophistik scheincn Plato u n d Aristoteles in Wahrheit zutiefst einig gewesen. Platos Intention w i r d nach dieser R i c h t u n g durch die aristotelische B i n d u n g des Logos an das E t h o s i m G r a n d e n u r a u s f o r m u h c r t . Ist die allgemein herrschcnde M e i n u n g nicht absurd, daB Plato die Rolle von G e w d h n u n g u n d P r a g u n g i m Sinne des aristotelisehen BcgrifFs des E t h o s uncerschatzt habe? SchlieBlich dichtet er eine ganze Idealstadt, in der f o r m l i c h cin O b c r - E t h o s , eine f o r m i dable T u g e n d g e w o h n u n g den Ton angibt. GewiB k o m m t dies M o m e n t des
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
>Ethos< nur in einer quasi-mythi sehen Darstellung eincs neuen Uber-Ethos und nicht bcgrifflich heraus. Die >Philosophenhcrrschaft< bleibt cine ungeheure Provokation, sofern damit das reine Wissen, die >Theoria<, die M e n schenfrage nach dem rechtcn Leben, die Frage des Guten, zu beantworten scheint. Aber worauf die platonische Utopiezielt, das mufi man sich fragen. Wozu ist sic gcschrieben? N u n scheint mir, dafi die Utopic der >Politeia<, soweit die Frage nach d e m Guten durch sie beantwortet wird, auf die rcife bcgriffliche Klarung zielt, die die Nikomachische Ethik durch ihre ausgewogenc Analyse des Zusammenhangs von Ethos u n d Logos bietet. Jedenfalls setzt die aristotchsche Ethik die sokratisch-platonische Wendung z u m Logos selber voraus und beruht auf ihrem Gruiide. Es scheint mir daher gercchtfcrtigt, mit dem Vcrsuch fortzufahrcn, hinter das Geflccht polemisch-kritischer Beziehungen, die Plato und Aristoteles verbinden, zuriickzugehen und die moralphilosophischen Paradoxien der platonischen Schriften cinmal auf dies Gcmeinsame hin zu lesen. Der nachstc Schritt auf diesem Wege soli den Beziebungen gclten, die zwischcn dem >Protagoras< und auf der anderen Seite dem vierten Buch der >Politeia< bestchen.
I f , Das Wissen des Guten uud die Palis Im >Protagoras< war die Emheit und Vielheit der sogenannten Kardinaltugenden zum Problem erhoben und ihr Aufgehen itn Wissendsein von Sokrates mit oft sophistischen Mitteln erwiescn w o r d e n . Die Sophistik dieser Mittel setzt getiercll, wie oben betont, die lntentionssicherheit in Richtung auf das Gemeinte voraus und vollendet sich in dieser Intention. DaB Rechenschaftsgabe und Vcrantwortlichkeit zum Wesen der sittlichen Haltung gchort, schlieBt offenbar cin, daB stets dieTotalitat des sittlichen BcwuBtseins und Seins auf dem Spiele steht. Deshalb kann Rechenschaftsgabe nicht auf die eine oder andere sittliche Erscheinungsform, Verhaltensrichtung oder ein spezicllcs >Konnen< eingeschrankt sein. Das hat Sokrates offenbar im Auge, wenn er zwischcn der Emzeltugend und >dcm Guten* das elcnktischc Spiel der Dialektik treibt. Das ist aber der Sache nach dasselbe, was Aristoteles in der Nikomachischen Ethik sagt, wenn er die Trennung der apeiai voncinander znriickweist und dem Atrj'tK der fpovt/mq die gleiche einigende Funktion zuspncht (EN 7. 13, 1144b33). Im > Protagoras* wird das in vielcti sokratischen Elenchoi hinein spiel ende Problem besonders handgreiflich, indem dort von Anfang an die ausdrfickliche Frage nach der Einheit der vielen Tugenden gestellt wird. Insbcsondere wenn von Protagoras die Sondcrstellung der avdpeta (>Mannhaftigkeit<, >Tapferkeit<) gegen die unlosbarc Einheit der ubrigen Tugenden verteidigt wird, k o m m t es deutlich heraus,
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wic auBerlichdie moralische Konvention urteilt: die avSpria erscheint als cine Sondereigenschaft, die man v o m Soldaten vcrlangt. In Aristoteles' Augen ware das cine bloBe fvoiKr/ apery (a.a.O. 1144b_v,). Das ist genau, was Plato im Auge hat. Im >Protagoras< zcigt Sokrates, daB auch avSpeta > Wissen* ist. Plato verfolgt diese Linie v o m (Protagoras* u n d >Laches< iiber die (Politeia* bis in sein Alterswerk, die >Nomoi*, hinein, in dem er die dvSpt.ia mit besonderer Vorliebe behandelt - in Kritik des sturen Philolakonismus, denke ich, den ihm auBcrlich urteilende Leser seiner >Politeia< mogen vorgeworfen haben. Das cntsprechcnde Buch IV der (Politeia* k o m m t mhaltlich mit der sokratischen Intention im (Protagoras* vollig iiberein. Schon die Rahmenthematik der idealen Polls stelle in gewissem Sinne geradczu eine vorgangige A n t w o r t auf die im >Protagoras< gestcllte Frage nach der Einheit der Tugenden dar. DaB jetzt der Rahmen die (Politeia* ist, besagt von vornhercin, daB es u m Einheit in der Vielheit geht. Die Vielheit der Standc wie die der >Seelentcile< ist auf Einheit und Eintracht hingcordnet. Im vierten Buch wird zuerst die O r d n u n g des Staates in Stande gegliedert und dann an ihr die Seelen-Ordnung der (Tugenden* abgelesen. Es sind die traditionellen Kardinaltugenden. Ich nenne sic die >sogenannten< platonischen Tugcnden, weil sie in Wahrheit nicht >platonisch<, sondern die traditionellen sind. Das ist eine Erkenntnis, die sich heute durchgcsetzt hat. Man braucht ja nur die >Defmitionen< des vierten Buches genau zu prtifen, u m zu erkennen, daB sie alle vier kunst voll auf das Wisscnsmoment, das sie einschlieBen, hinstilisiert sind, also im sokratischen Sinne umgedeutet werden. Tapferkeit, im (Protagoras* noch der hartestc Widerstandspunkt der konventioncllen Moral, wird jetzt nicht nur, wic im "Protagoras*, als das Wissen um das Getahrliche und Ungefahrlichc verstanden. Das ist paradox genug. Doch wird das jetzt durch ein noch groBeres Paradox iiberbotcn. Daran wird klar, was Plato eigentlich im Auge hat. (Tapferkeit* bewahrt sich nicht so schr an der Offensichtliclikeit einer zu fiirchtendcn Bedrohung als an der Gefahrlichkeit, die das Reizvoll-Angenehmc d a r s t e l l t - und das ist im Bercich des Politischen die Gefahr der Schmeichelci. Sie ist mehr zu fiirchtcn als die offene Bedrohung durch den Gegncr. Die univcrselle Bedeutung der Tapferkeit, die Plato meint, wird deutlich, wenn m a n ihr den allgenieincrcn und umfassendcren Bezug gibt, der die >Zivilcourage* cinschlieBt: Es ist die Gefahr des Konformismus, gegen die es der (Tapferkeit* bedarf, die sich nicht beirren laBt, sondern >weiB*. Tapferkeit ist also das Standhaltcn gegeniiber der Verfiihrung, das Angenehmc vorzuzichcn. Man kann nun im vierten Buch der >Politcia* bcobachten, wie alle vier Kardinaltugenden am Ende ineinander und in das Wissen, das sie sind, nahezu vcrflieflen. Das ist die offenbare Absicht Platos. Er will zeigen, daB die altcn N o r m e n der iiberlicfcrten dpcrai auf einem neuen Grund befestigt
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seJbcr etwas anderes geworden sind, sofern Rechenschaftsgabe iiber das Gut-Sein in ihnen verlangt ist und bloBe Vorbildwahl und Nachfolge nicht mehr geniigt. Sie sind alle >Phronesisi. Sokrates' im >Protagoras< gcstcllte Frage nach der Einheit der hpEiai, ob sie wie dieTeile eines K l u m p e n Goldes sind oder mehr wie die Teiie eines Gesichtes, profiliert dies neue AretcVerstandnis sehr schon: diese Verglciche sind beide unangemessen. D e n n sie suggerieren das nach auBen orientierte Arete-Verstandnis des konventionellen Standpunktes, so daB beide Seitcn der so formulierten Alternative in die Irre fiihren. Arete ist iiberhaupt nicht primar als eine Einheit oder Vielheit von Verhaltcnsweisen zu denken, die sich einem Beobachter darstellen, sondern ist Sich-Wissen, Phronesis. Es ist zuletzt die Hinsichtnahme auf >das Gute<, in dem unser Verhalten seine Einheit gewinnt. N u n konfrontiert uns freilich die platonische >Politeia< mit der Schwierigkeit, daB sie die Frage des Wissens des Guten wie nachtraglich u n d erst in einem zweiten Gang einfuhrt. Nachdem der Wissenscharakter der ctpszm an ihnen alien hervorgetreten ist, scheint die Analogie zwischen der Harmonic der Stande in der Polis und der Harmonie der Seele und ihrcr >Gesundheit< zu geniigen, um die definitorische Frage nach der Gerechtigkeit zu beantworten. Mit dem im vierten Buch gewonnenen Resultat ist das Ziel erreicht. Diesem schcinbaren Resultat, der Definition der Gerechtigkeit, folgt dann bekanntlich erst auf gewundenen Wegen die weiterfuhrende Frage nach dem fjJyunovpafhjpa, der Idee des Guten. Es fallt nun auf, daB die Stellung dieser Frage und ihre Applikation auf den Wachterstand des idcalen Staates nicht, wie man erwarten konnte, aus dem Bcgrundungszusammenhang fiir Vielheit und Einheit der Arete erfolgt, den man allenfalls bei dem definitorisehen Resultat des vierten Buches vermisscn mochte (435cff.). Z w a r wird an das Ergebnis des vierten Buches, die Definition der vicr Tugenden, erinnert (Rep. VI, 504a) u n d insbesondere an die der 8iKmoovv?i (504d4). Das Ungcniigen der dort gegebencn Vorzeichnung {imoypaipij 504dft) wird auch in der Gegcniiberstellung von Lemcn und Einiibung (jiavdavovzi - yvpva(op/\"i! 504di) ausgezeichnct formuliert. Auch war bcrcits 503e2 ausdriicklich als ein begangenes Versaumnis eingestanden worden, daB die >Wachter< sich obendrein in vielen Wissenschaften uben miiBten, damit ihre >Natur< auch das Wissen des Allerwichtigstcn fcstzuhalten i m stande sei - und das ist >das Gute<. Aber das wird nicht wirklich aus der Arete-Problematik entwickelt. Vielmehr wird das Wissen des Guten hier einfach als das Hochstc bchandelt, dessen Unentbehrlichkeit allgemeiner Anerkennung gewiB ist. Es muB die Auslese und Erziehung der >Wachter< des idealen Staates kronen. So bleibt es einigermaBen dunkel, wie beides zus a m m en gehort, die Begriindung der Einheit der Arete im >Wissen des Guten* und die propadeutischc F u n k d o n der Wissenschaftcn fiir dieses Wissen.
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Die Erziehung der Wachter, die durch die verschiedenen Disziplinen dcr mathematischen Wissenschaften zur Dialektik, zur Unterschcidungskunst, hingefuhrt werden, ist Erziehung durch >Theona< und zur >Theoria<. Das fiihrt von dem >Wisscnsmomcnt<, das in jeder Arete steckt, anscheinend weit weg. Ja, das Verhaltnis des theoretischen Interesses, in dem die Wachter hcrangebildet werden, zu der pohtischen Fiihrungsaufgabe, fiir die sie bestimmt sind, spitzt sich am Ende gcradezu zum Konflikt zu (Rep. VH, 519dff.). Die aus der Hohle dcr sinnlich triiben Erfahrung und der praktischen Routine Befreiten, die zur >Thcoria< fiefreiteri, konncn - so wird cingewandt - doch v o n sich aus keinen A n t n e b spiiren, in die Hohle der Politik zurtickzukehren, in der alles ungenaues Wissen ist und w o es immcr faisch zugeht. Zwar sieht Sokrates keine Schwierigkeit, sich gegen diesen Einwurf zu rechtfertigcn (519c): In seinem Idcalstaat gibt cs uberhaupt keine Privatsphare fiir den Einzclnen und so auch keine Frage des Gliicks des Einzelnen. Er weist also die Frage ab, ob den der Theoric Ergebenen nicht Unrecht geschahe, wenn sie von der hoheren Erfiillung, die sie in der >Theoria< fanden, weggenotigt werden und wcnigstens zcitweise das haBliche Gcschaft der Politik betrciben sollen. Nicht auf lhr eigenes Gliick, sondern auf das Gliick des Ganzen k o m m e es an. Ja, es wird sogar darauf vertraut, daB diese idealcn Wachter der idealen Stadt es am Ende nicht als einen fremden Z w a n g ansehen, sondern sich selber einsichtsvoll dcr ihnen gestcllten politischcn Aufgabc unterziehen wiirden (520d). M a n muB sich aber doch fragen: Soil das eine wirkliche A n t w o r t auf die Frage sein, wie sich die theoretische Existenz in dieser Welt des Scheins versteht, in der sich gcsellschaftliche Macht aufbaut? Im Wolkenstaat der platonischen >Politeia< sind natiirhch alle Probleme, die sonst das staatlichgesellschaftlichc Leben vcrwirren und verzerren, auf idealc Weise gelcist. Jeder tut das Seine, und alles ist so geordnet, daB auf diese Weise die Wohlfahrt des Ganzen gedeiht. D e n Wissenden, die als Fiihrcr der Polis e r z o g e n u n d zur Wissenschaft ausgebildct sind, sind die Bahncn, in denen sic sich in d e m idealen Staat zu bewegen haben, genauso vorgczeichnet wic den anderen Standen. DaB sie Wisscnde sind und im Wissen u n d in dcr Hingabe an die >Theoria< ihre Erfullung finden und als solche eigentlich nicht auch von der allweisen Vorsehung des Staatengriindcrs gegangelt werdeti konnen, macht dem sich allmachtig wissenden Dichter dieser Ideal stadt keine groBen Sorgen. Jeder gehort d e m Ganzen 3 6 . Hier wird also jeder Konflikt geleugnet. Aber was heiBt das? Wird cr fur den Dcnkenden dadurch nicht gcrade aufgezcigt? In der Tat. Es scheint mir 36 Man denkc daran, daB ja schon im vierten Buch (431eff.) ausdriicklich die wahre Sophrosyne als alien gemeinsame Arete eingefiihrt wordetiist.
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kein Zwcifcl, daB Plato den Konflikt zwischen dem Erkennen der Wahrheit, dem die itheoretische Existenz* sich hingibt, a n d dem tatsachlichen politischen Leben in seiner ganzen Scharfc im Ange hat und in seiner utopischen >Losung< indirekt zur Darstellung bringt. Die Entscheidung fiir ein apolitischcs, theoretisches Leben erscheint Plato durchaus als gerechtferdgt. Der grofie Exkurs im >Theatet< redet da eine deutliche Sprache. Aber es ist auch ein Beweis e contrario, daB in seiner idealen Stadt die in die theoretischcn Studien Eingefuhrtcn die pohtische Verpflichtung, die sie solchen Vorzugsbedingungen schuldig sind, anerkennen miissen (520af.). Das entspricht auch dem Selbstzeugnis des 7. Briefes. Danach hatte Plato erkannt, da3 nicht nur seine Vaterstadt, sondern alle Stadtc und das ganzc staatliche Wesen so tief vcrdorben waren und so unheilbar - »es sei denn, es geschahe eine Reform ganz unglaubhaften AusmaBcs« - , und hatte sich ganz von der Politik abgewandt - cnaiveoac; rqv aXri&t^v yiXoooifiav - , die theoretische Bcmiihung um die Wahrheit iiber alles stellend. Der 7. Brief spielt sogar ausdriicklich auf das Ideal der Philosophenherrschaft an, offenbar als eine indirekte Legitimation fiir den Riickzug ins Private. Die Frage ist jedoch, o b autobiographischc Ausdeutung geniigt, um auch die Intention, mit der Plato seine Staatsutopie verfaBte, zu erfasscn und den Sinn der >Politeia-; zu crschopfen. Soil durch diese Schrift, die gewiB eine auBerste Herausforderung und Absage an Athen darstellte, die Unvereinbarkeit von Philosophie und Politik iiberhaupt zur Aussage gelangen? Wollte Plato die Spannung von theoretischer und politischer Existenz als unauflosbar bezeichnen? DaB diese ideale Stadt nicht verwirklicht werden kann, ist allerdings klar. Alle Bcdingungen ihrer Ermoglichung, von der Weiber- und Kindergemeinschaft iiber die Philosophenherrschaft bis hin zu dem Auszug aller, die alter als zehn Jahre sind, aus der neu zu organisierenden Stadt, zeigen ihre Unmoglichkeit. Glaukon zogcrt sichtlich, als er 484bs nicht mehr anders kann, als auf die Frage nach den rechten Fiihrern der Polis >die Philosophen* zur A n t w o r t zu geben, und er bleibt bis zum SchluB ein zogernder Partner; f 'inip nod yiyvonn 541 ag (und noch entschiedener 592ab). Aber ist das der ganze Sinn dieser Erfindungen, ihre Absurditat zu erkennen, die U n m o g lichkeit des Ideals einzuscharfen? Soil m a n diese Staatsutopie nur ncgativ lescn, sich durch sie nur von der Unvereinbarkeit von theoretischem Leben und Staatslcben iiberzeugen? D a ware doch ein groBcr A u f w a n d an Geist und Witz vertan. D e n n das sicht ein Blinder, daB eine solche Stadt nicht moglich ist, u n d das wird durch diese umstandlichc Bcweisfiihrung fiir ihre Moglichkeit gerade unterstrichen. Will Plato nun nichts weiter, als den Konflikt von >Theoria< u n d Politik als unlosbar hin stellen 37 ?
So die Auffassung von
LEO
STRACSS
und
ALLAN
BLOOM.
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Man muB doch wohl das ganze Buch als einen einzigen groBen dialektischen Mythos lesen. Gclegentlich wird das von Plato selbst geradezu als Grnndsatz ausgesprochen: rovvaviiov ij i w (497e). Aber man tnuB doch w o h l alle Einnchtungen u n d Vorkehrungen in dieser Musterstadt als dialektischc Metaphern lesen. Dialcktisch lesen heiBt freilich nicht einfach: das Gegetiteil als die wahre Mcinung hcrauslesen. Dialektisch lesen heiBt hier: Man muB diese utopischen Fordcrungen von Fall zu Fall auf ihr Gegenteil beziehen, u m mittemnne das wirklich »Gemeinte< zu finden, d . h , zu erkennen, was ist und wie es besser sein konnte. Die Einrichtungen dieser Musterstadt wollen nicht selber Reformgedanken verkorpem, sondern die wahren MiBstande und Gefahren fiir den Bestand einer >Stadt< e contrarto sichtbar machen, so etwa durch die totale Aufhebung der Familie die verderbliche Rolle der Familicnpolitik, des Nepotismus u n d des dynastischen Machtdenkcns in der sogenannten Demokratie des damaligen Athen (und nicht nur dort). Zweifellos muB man die Argumentation fiir die Philosophenhcrrschaft ebenso dialcktisch lesen wie alles andere iiber diesen prachtigen Wolkenstaat Gesagtc. Sie ist nicht die Angabe eines Wcges zur Vcrwirklichung der idealcn Stadt - aber sie geht auch nicht dann auf, indirekt den Beweis ihrcr Unmoglichkeit zu erbringen —, sondern sie deckt etwas auf, und zwar nicht nur das auf der Hand Liegendc, daB keinc Polis bcrcit sein wird, sich von solchen >Philosophcn< regiercn zu lasscn. DaB zum politischen Handeln des wahren Staatsmannes wic zur wahren theoretischen Existenz beides gehort, die Orienticrung auf >das Gutc< hin und die Kenntnis der >Wirklichkeit<, sollte das nicht in dem Paradox des Philosophenkonigs auch positiv seine Anerkennung finden? Man konnte sich dafiir auflebcnsgeschichtlicheTatsachen berufen, ich meine auf den wicderholtcn Versuch, den Plato mit Dionys II. in Syrakus u n t e r n o m m c n hat. Da hatte er gewiB nicht die Absicht, d e m Tyrannen die Wciber- und Kindergcmeinschaft vorzuschlagen (so wenig wie spater den Freundcn Dions, denen er sehr vcrniinftige Empfchlungen gibt, z. B. die einer Generalamnestie). Es laBt sich aber auch dirckt dem entnehmen, was Plato in dieser Utopic zur Aussage bringt. Es geht dort so wenig u m die tatsachliche Ermoglichung der Idcalstadt, daB sogar die Frage offen blciben kann, ob man die Philosophen zu Herrschcrn machen oder die Herrscher zu Philosophcn bilden sollte. Worauf es a n k o m m t , ist allein, was das Paradox der Philosophenherrschcr >meint<, d . h . , was es an dem, was Herrscher und Herrschaft in der Regel sind, aufdcckt. So steht hier auf der cincn Seite das aller Macht einwohnende Gesetz, demzufolgc sie auf nichts als auf ihre eigene Steigcrung bedacht ist. D e m ist als sein Gegenteil der vollig an die Erkenntnis Hingegebenc gegeniibcrgestellt, dem an der Macht nichts liegt. Er kennt etwas Besscres, Hoheres, dem er sich widmen mochte. Wenn nun Plato meint, ein soldier sei zur Fiihrung der offentlichen Dinge am nieisten
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berufen, so deckt er damit auf, wclche Verfiihrung ira Besitz der Macht liegt: nur sich selber zu wollen. Gegen diese Verfiihrung gefeit zu werden, ist die Aufgabe der Erziehung der Wachtcr. Das ist die Mitte, auf die Plato hier weist: wic der Staat fur die Ausubung der Herrschaftsgewalt eingenchtet werden miiBte, damit diese als ein Amt versehen u n d nicht als eine Chance zur Wahrtichmung der eigenen Interessen ausgeniitzt wird. Ich tneitic nun: Das bcdeutet keine nur negative Einsicht in das Verhaltnis von >Philosophie< und Politik, und man kann mit Recht die Institution des modcrnen Bcrufsbeamtcntums und das Ideal der Unbestechlichkcit des Beamten in der platonischen Fordcrung wiedererkennen 3 8 . DaB dieser E n t w u r f einer Idealstadt >dialektiscln zu lesen ist, findet vollends Bestatigung durch die Art, wie Sokrates den Obergang dieses Idealgebildes in die geschichtliche Wirklichkcit mit lhrcm Kreislauf der Verfassungen ausmalt. Es ist der bekannte Berechnungsfehler in der Kalkulation der Hochzeitszahl (546d). Sie ist ein Meisterstiick litcrarischen H u m o r s . Es sind die Musen (Homers und Hesiods), die hier das Wort bekommen und die ontologische Differenz zwischen der Rationalitat der Mathematik und dem Bereich der KIVTIOUd. h. der Wirklichkeit, darlegen 1 9 . Das Mystcrios-Witzige dieses Einfalls scheint mir darin zu liegen, daB in diesem komischen Versagen einer komischen Einrichtung auf symbolische Weise dargestellr ist, w a r u m kein noch so planvoll-wcisc ausgedachtes System menschlicher Gesellschaftsordnung dauerhaften Bestand haben kann. Was nur durch kunstvoll erdachte Einrichtung zustandc k o m m c n kann, wird an seiner eigenen Kiinstlichkcit am Ende zugrunde gehen. Das ist die Einsicht, die Plato hier vermittelt. Die erfolgreiche Berechnung der Paarungcn, die den Fortbcstand der idealgeordnctcn Polis sichert, scheitert nicht an bosem Willen oder auBerer Gewalt, sondern an ihrer eigenen Kompliziertheit. Das ist eine wahre Aussage iiber das, was wir alle als Wirklichkeit menschlicher Planwirtschaft kennen: M a g die Rationalitat der Planung noch so hoch entwickelt sein - in der Ausfiihrung gibt cs immer die Macht des Zufalls, und vor allem gibt es immer menschliches Versagen. Weil wir Menschen sind - und nicht, weil wir etwas falsch planten - , wird am Ende auch eine ideale, den Bestand verburgende, plangerechte Organisation in detn Fortgang des schwankendcn gcschichtlichen Lebens vcrsinken. Damit wird nicht etwa die Aufgabe der Vernunft, das Handeln verniinftig zu gestalten, als solche widcrrufen. Das achte Buch der >Politeia< u n t c r m m m t zu zeigen, daB Weisheit und Vernunft nicht nur im Spiel der Utopie zu Hause sind. Auch dem >wirkhchen< geschichtlichcn Leben gegeniiber ist Vorausschau und Einsicht in gewissen Grenzcn erreichbar. Die Lehre v o m Kreislauf der ,8 Vgl. H E G E L iiber das Prinzip der m o d e m e n Staaten: »Die Forderung des Plato ist so der Sachenach vorhanden.« W W X I V , S. 195. 39 Vgl. dazu > Platos Denken in Utopien<, in diesem Band, S. 268 f.
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Staatsverfassungcn, die im neunten Buch vorgetragen wird, dies genialc Beispiel einer geistigen Durchdringung geschichtlicher Ablaufe, bezeugt, dafi die menschliche Vernunft nicht auf das Reich der Utopic und dcr strengen idealen O r d n u n g bcschrankt ist, sondern sich durchaus in die geschichtliche Welt dcr vagen Regelhaftigkciten hinein auszudehnen vermag. Die U n o r d n u n g der menschlichcn Dinge ist niemals voiles Chaos. Sie bildet am Ende die Ran der eines sinnvoll geordneten Univcrsum, das auch sonst seine >Randcr< hat. Das k o m m t in Platos Dialogdichtung vor allem dadurch zur Geltung, dafi Plato auf die >Politeia< den >Timaios< folgen liiBt. Die Politeia, die >wirklich< werden soil, darzustellen, macht die ganze groBe demiurgische Einrichtung der Welt erforderlich, die Timaios vortragt. Die Forderung, dialektisch zu lesen, muB aber auch fiir die wisscnschaftstheoretischen Aussagen in der >Pohteia< beherzigt werden, damit sie auf die Frage A n t w o r t geben, die uns leitet, wie Plato die sokratische Frage tiach dcr Arete und dem Guten mit seinem Wissenschaftsprogramm zusammendenkt. Das meint fiir die Interpretation des Hohlengleichnisses, daB wir bei dieser groBartig-vielschichtigen Mctapher darauf verzichten, sie einer ge~ naucn wissenschaftstheorctischen Ausdeutung zu unterziehen, und nur einen Punkt ins Auge fassen, namlich, welchc Funktion das Gleichnis innerhalb des Gesprachsverlaufs hat. Da ist es nun ganz eindeutig: cs soil den Schein zerstrcucn, als ware die Hingabe an die >Philosophic< und das itheoretischc< Leben mit den Erfordcrnisscn dcr politischen Praxis in Geseilschaft und Staat uberhaupt unvereinbar. Das Thenia ist die Blendung, die den ans Dunkel Gcwohnten im Hellen befallt und utngckchrt den v o m Hellen ins Dunklc Tretenden. Sie soil crklarcn, w a r u m die in das praktische Leben Verwickelten nichts v o m theoretischen Leben halten (515d u. 516e). Die Erzahlung will diese angebliche Untauglichkeit des >theoretischen< M e n schen fur die Praxis aufklarcn. Es bedarf nicht nur einer G e w o h n u n g an die Helle, sondern auch einer an das Dunkel: Auch der aus dcr Hclle des wahren Tagcs in das D a m m e r der Hohle Zuriickkehrende unterliege einer ersten Blendung durch den Hclligkeitskontrast. Das bedeute keine wirkliche Blindheit und Unfaliigkeit, sich dort zu oricntiercn. Die Blendung gehe schncll voriiber (Rep. VII, 517a). DaB die >Philosophie< fiir das Leben untauglich macht, war offenbar ein bekannter Vorwurf, der gegen Plato gerichtct wurde. Der >Gorgias< ist von der A b w e h r desselben ganz bchcrrscht (vgl. etwa Gorg. 485a) und das Motiv klingt auch sonst ofters an. Die all gem eine Mcinung war eben, daB >Philosophie< nur im Jugendaltcr am Platze sei, aber nicht zu lange fortgesctzt werden dtirfe. Man miissc rcchtzeitig ins politische Leben Ein trier suchcn und die Philosophic aufgeben. In der >Politeia< macht sich Adeimantos zum Sprecher dieser allgemeinen Ansicht (Rep. VI, 487d). D e m g e g e n iiber entwickelt Platos Jahrzehnte forderndes P r o g r a m m fiir die Erziehung
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der >Wachter< den absoluten Vorrang des theoretischen Lcbens. N u r vviderwillig und nur auf Zeit werde j e m a n d bereit sein, dieses Leben durch politische A m t s f u h r u n g zu untcrbrechen. Man muB die bewuBtc Provokation heraushorcn, wenn Sokrates, nachdem bereits 10 Jahre dem Studium der Wissenschaft gewidmet werden sollten, fur die U b u n g in der Dialektik ausdriicklich die doppclte Zeit wie fiir die Gymnastik vorschlagt. Die kunftigen Wachter sollen, mit dreiBig Jahren, fiinf Jahre lang in der Dialektik geschult werden. Dann sollten sie funfzehn Jahre lang untergeordnete politische Amter vcrsehen. Erst mit fiinfzig Jahren waren sie fiir die politische Fiihrungsaufgabe gcrcift, die sie jewcils rclativ kurze Zeit im Turnus zu ubernchmen hatten. Die groBerc Zeit sollten sie wcitcrhin ihren Studien leben durfen. Das ist die Perspektive, unter der man den Aufstieg aus der Hohle an den w a h r e n T a g und zum Anblick der wahrcn Sonne verstehen muB. Darin liegt seine dialcktische Funktion im Z u s a m m e n h a n g des Gesprachs. Das [ntercssc an der wissenschaftstheorctischen Valenz des Gleichnisses bleibt demgegeniiber zunachst ganz im Hintergrunde. Selbst die erste Einfiihrung der fiir Plato so grundlegenden Unterscheidung von >Doxa< und >Episteme< (Rep. V, 476bff.) steht zunachst nicht in erkcnntnistheorctischem Z u s a m menhang, sondern bereitet im Rahmen der >Politeia< das Paradox der Philosophenkonige vor. Auch die Art, wie das Hohlengleichnis cingefiihrt wird, laBt die erkenntnistheorctische Seite der Sache zunachst im Hintcrgrund. Das Wissen, das die Befreiten als die berufencn Fiihrer auszeichnet, wird zunachst nur so verstanden, als handle es sich um das Wissen des Guten im Bercich des praktisch-politischen Lebens, das allem anderen Wissen vorzuziehen sei (517dg wv BtKuiov, 520c5 waA^v u %ai Sixaf&v KCtl ayafl&v nipt). Wenn cs auch spater deutlich wird, daB der im Gleichnis bcschriebene Weg der G e w o h nung an das Licht - von den Schatten iiber die Spiegclungen, Abbilder, nachtlichen Sterne bis zur Sonne - ein Weg zu den Wissenschaften und durch die Wissenschaften hindurch ist, ist doch weder hier noch spater von der A n w e n d u n g solcher Theorie auf die menschliche Praxis die Rede. Es geht im Gleichnis ausschlieBlich u m die Oberlegcnheit dessen, der das Gute weiB, iiber den, der in moralisch-politischcn Konventionen befangen bleibt. Das tritt besonders schon heraus, wenn m der ersten Einfiihrung des Paradoxes der Philosophenherrschaft der Erotikcr, der alles Schone liebt, u n d der Schaulustige wegen der Univcrsalitat ihrer Leidenschaft dem Philosophen zur Seite gcstcllt werden. Glaukon denkt so wenig an die Wissenschaften, wenn von dem Philosophen die Rede ist, daB er sogar den Schaulustigen an die Stelle des Wis sens durstigen schiebt (475d). Das ist natiirlich im hochsten Mafie lrreflihrend. Wcr sich von Schauspielen anzichen laBt, hin und her bewegt von wahlloser Neugicr fiir all das, was es zu sehen gibt, hat in
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Wahrheit gar keine Ahnhchkeit mit dem Philosophen. Wahllose Leidenschaft fur das N e u e bildet einen extremen Gcgensatz zu >Philosophie<, die cs mit dem Gerechten und Ungerechten, Guten und Schlcchten oder wie es heiBt: mit dem Untcrscheiden des Schdnen und HaBlichen zu tun hat. N u n wird zwar im folgcnden gczcigt, daB solcher Sinn fur >das< Gcrcchte, Gute usw. eine grundsatzliche Unterscheidung des Wissens v o m Meinen bedeutet, namlich die Unterscheidung des >Eincn Schonen* selbst von allem daran nur Teilhabendcn (xa pti£\vna). Insofern ist es allerdings Philosophie, das heiBt, cs geht iiber den bloBen Sinn fiir das iGcrcchte und Gute< hinaus. Gleichwohl wird das Hohlcnglcichnis, wie wir sahen, auf nichts als auf das Leben der Polis angewandt. Es heiBt ausdriicklich: Die Zuriickgekehrten werden cs mit den Schattcnund Abbildern des Sixaiov zu tun haben, das heiBt mit dem. was Plato 517c s la r&v avdptinvv oder 517d s ra avdpzorif.ia nennt. Man darf also die Hohlenschildcrung u n d die iiberlegenc Erkenntnis des zur wahren Sonne Heraufgefiihrten nicht daraufhin interpretieren, als soilten die Befreiten durch ihr umfassendes Wissen aller wahren Dinge fur den kiinftigen Wettbewerb in crfahrener Voraussicht besser ausgeriistet scin. Das ist nicht der Punkt, auf den es hier a n k o m m t . Wie es im sozialen und politischcn Leben zuzugehen pflcgt und welche Praktiken da Erfolg versprcchcn, weiB vielmehr der Hohlenbewohncr sehr gut. Was cr nicht weiB und wonach er nicht einmal fragt, ist das Gute, auf das alles hinauszufiihren sei. Der Gegensatz, der hier zwischen thcoretischer Erkenntnis und politischer Praxis dargestcllt wird - um am Ende iiberschritten zu werden - , ist also nicht der von Theorie und Praxis im neuzeitlichcn Sinne. Was wir in unscrem Sprachgebrauch mit dem Gegensatz von Theorie und Praxis meinen, gehort ganz in den Bereich dessen, was Aristoteles >Techne< nennt. Das hat mit dem, was in Platos Staatsentwurf zur Diskussion steht, das hcifit mit d e m Ideal der Theorie und ihrem Verhaltnis zur politischcn Wirklichkeit, nichts zu tun. Aber natiirlich kennt Plato wie Aristoteles das Problem von Theorie u n d Praxis sehr wohl im Bereich dcrTcchne, das heiBt iibcrall, w o es sich u m die A n w e n d u n g allgemciner Regeln handclt, aber auch im Bereich der allgemeinen Erfahrung, die das Verhaltnis von Zwecken und Mitteln bcim praktisch-politischen Handcln betrifft. D a haben wir es mit cincm allgemeinen Regel wissen zu tun, das als solches iiber seine rechte A n w e n d u n g nicht vcrfiigt. So macht Aristoteles mit Recht die bekanntc Bcmcrkung, daB der Prakdker (zum Beispiel der Heilpraktikcr) crfolgreicher sein konnc als der Fachmann (zum Beispiel der wissenschaftlich ausgebildete A m ) 4 0 . Dessen ist sich Plato nicht minder bewuBt. Er tragt der Wichtigkeit praktischer Erfahrung in semem Erziehungsprogramm ausdriicklich Rechnung (Rep. VI, 484d; VII, 539e) u n d sieht a u d i sonst das 40
Met. .4 1. y81a,,ff.
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>hcrmcneutische< Problem, das in jedem Regelgebrauch steckt, das heiBt in der richtigen A n w e n d u n g von Regeln. M a n vergleiche die ausfiihrlichc Erorterung dessen im >Phaidros< (2682".): D o r t w i r d i m Blick auf das Regclwissen der R h e t o n k die Medizin, die dramatische Kunst und die Musik angerufen, in denen es auch sail gem eines* Wissen gibt. Dabei ist es nicht strittig, daB natiirliche Anlage unentbehrlich bleibt (Phaidr. 269d 3 ). Aber es bedarf dariiber hinaus der Ausbildung der Kunst. Im Falle der Redekunst heiBt das aber, wie der >Phaidros< auf ironisch verstellte Weise zeigt, daB es fur eine wahre Redekunst der dialektischen Kenntnis der Sachen, aber auch der dialektischen Kenntnis der > Seele* bedarf. N u r dann sei einer ein wahrer Redner. Hier nun fiigt Plato ausdriicklich hinzu, daB der Redner dies alles in der Praxis auch richtig anzuwenden lmstandc sein muB 4 1 . Offenbar gehort das zu jeder Techne. Wie mir scheint, entspricht dem iibngens auch die wahre MeBkunst des Angemcssenen, von der im >Pohtikos< die Rede ist. Doch darauf wird noch zuruckzukommcn sein. Jedenfalls hat dieses hermencutische Problem der Konkretisierung nichts mit dem Verhaltnis von Politik und Philosophie zu tun bzw. mit der Spannung zwischen dem politischen und theoretischen Lebensideal. Z u r A n w e n d u n g einer Techne gehort gewiB immer U b u n g und Erfahrung. Aber es bleibt ein und dersclbc Vorgang des Tuns, ob nun der gelernte Fachmann, der die Griinde fur seine praktischen MaBnahmen weiB, tatig ist, oder wenn cs sich lediglich um das Tun eines erfahrenen Mannes handelt. Wenn Plato fiber das Verhaltnis des politischen Praktikers und des in die Hohle Zuriickkehrenden in seinem Gleichnis Aussagen macht, geht es dagegen u m einen Unterscbied ganz anderer Art. O b der politische Praktiker in diesetn oder jenem Fclde zugleich ein crfahrener Fachmann ist, z. B. ein Stratege oder ein Seemann oder dergleichen, tut fur diese Frage gar nichts. Das >Gutei, dessen der Zuriickkehrende drauBcn ansichtig geworden ist, ist nichts, w o v o n die in der Hohle Gefessclten etwas wissen wollen. Das laBt sich in einfachcn B e g n f f e n sagen. Plato selbst spiclt etwa darauf an, wie die Kunst des Steuermanns als solchc nicht cinschlieBt, daB sein gut verrichtetcs Werk zum Guten fuhrt. D e m Steuermann des A g a m e m n o n mogen Zweifel g e k o m m e n sein, o b er seinem H e r m durch die sicherc Beendigung der Reise etwas Gutes getan hat (Gorg. 511e). Vor allem aber ist es die U n t e r o r d n u n g des Herstellens unter das Gebrauchen, das der > Techne* eine Einschrankung auferlegt, die sie noch bei Aristoteles (EN Z 4) von dem Anspruch ausschheBt, eine aptrrj zu sein (Rep. X, 601 f ). DaB wirkliches Wissen, das m a n dann auch oorpin nennen konnte, von allem speziellen Sachwissen verschieden ist, war schon bei der Einrichtung 41 Phaidr. 271d7: Set ravia ixav&c rorjuavia, pirii uii'ia Drupriov avrii cv tint; npa&oiv fivia K xai iifMimijurva -..
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dcr Idealstadt im viertcn Buche klar (428b ff.). D o r t wird dies Wissen so geschildcrt, daB eine Stadt als ganze dadurch >wohlbcrateii( (evfiovAoO ist und ebenso die >Seele< (vnkp duarnp: (/.'vp/c npoprideia 441 es). Hier wird also das Gute noch einfach als das Wissen des fiir alle und das Ganze Vorteilhaften umschrieben (ovpxpepov). Es ist gcradezu auffallig, wie hier im 4. Buch das Wort ayaftov gemieden wird 4 2 . Dazu paBt sehr gut, daB Plato im 6. Buche die Frage des Wissens um das Gute ganz gegen das Leben in >Doxa<, d. h. in bloBen Konventioncn absetzt und daB cr zu diesem Zwecke das Wissen des Guten sogar mit dem Wissen u m den eigenen Vortcil m Analogie setzt (505d). D o r t heiBt es: Beim Gerechtcn und beim Schonen mogen viele mit dem Schein (dem, was in Gcltung steht, id SOKOVVKI) zufrieden sein. Beim Guten dagegen, und das heiBt selbst schon bei dem bloBen Nutzcn, den m a n sich von etwas erhofft, k o m m t es e i n e m j e d e n nicht auf den Konsens der anderen an, sondern allem auf den wirklichen Vorteil im ovta), Es ist lehrrcich zu sehen, wie hier zur Illustration des >Wissens<, auf das cs beim Guten a n k o m m t , schon die Rationalitat des Verhaltnisses v o n Mitteln und Zwecken ausreicht, u m eine wahre Ubcrlegenheit iiber alle Konvcntionen mit unleugbarer Evidenz zu begriinden. Niemand gibt sich mit Konventionsbegriffcn zufrieden, wenn es sich u m die Niitzlichkeit zu wahlendcr Mittel handelt. N u n konnte m a n versuchen, auch die sogenanntcn n p a i , das H a n d werkswissen und die sogenamiten Wissenschaftcn, im gleichen Sinne als ein Wissen dcr rechten Mittel und damit als Wissen von etwas rclativ Gutem anzusehen. Darauf beruhte offenbar die paradigmatischc Funktion, die das Techne-Wissen von friih an fiir die sokratische Gberredungskunst besaB. Aber es ist nicht das Wissen, auf das es fiir den Menschen als Menschen zulctzt a n k o m m t - es bleibt eine letzte Rechcnschaftsgabe schuldig, das heiBt, es wcifi nichts von idem Guten selbst<. Plato nennt das Wissen des Guten, das sich durch Rechcnschaftsgabe von alien sogenannten r / y m und inwrqpai abhebt, auf verschiedene Weise, zum Beispiel: uvvapic mi< SiaXeyead/n (Rep. VII, 532d<j), peboSot;, inim/jprj (533c). Damit ordnet er es diesen Wisscnswcisen zu und leistet so dem MiBverstiindnis Vorschub, als handle es sich u m ein hdehstes lchrbares Wissen, das, als Wissen des Guten, am Ende jenes langen Erziehungsweges errcicht werden soli, der durch die gesamten mathematischen Wissenschaften fuhrt. Hier scheint das Band von Wissen und Handeln vollends zu zerreiBen, das in der
42 Die Aufsparung der eigentlichen Frage nach dem Guten fur das sechste Buch scheint der Komposicion des Ganzen zugrunde zu liegen. O b nun eine Vier-Bucher->Politeia< bestanden hat oder nicht - die zwanglos kontingente Einfiihrung des weitergehenden Gcsprachs, die sich an der Frage der Weiber- und Kmdergemeinschaft vollzieht, diirfte wohl ebenso iiberlcgt sein wie die Vermeidung des Wortes rtyafiov im viertcn Buch.
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sokratischen Frage so dicht gekniipft war, daB Arete selber als >Wisscn< erschicn. Was bedeutet aber in diesen mathematischen Wissenschaften >das Gute Z w a r wird i m m e r wieder bei den verschiedenen Disziplinen ihr Nutzcn f u r das Kricgshandwcrk erwahnt. Aber Sokrates kniipft damit allzu offenkundig an die Trivia ler war tun gen an, die sein Partner an das Wissen im Dienste der Polis kniipft. Es geschieht dem Glaukon zuhebe, wenn Sokrates sagt (521 d n ) , m a n miisse darauf achten, daB solche Erziehung fiir Krieger nicht unnutz sei, oder w e n n er, mit seinem neuen Zusatz z u m Erziehungsp r o g r a m m beginnend, zucrst mit den Zahlcn und mit dem Rcchncn anfangt und dabei seinerseits auf ihre UnerlaBlichkeit fiir die Knegskunst hinweist. DaB soJchc B e z u g n a h m c auf Krieg und Krieger bei der Ausbildung der >Wachter< der Idealstadt iiberhaupt einen Sinn hat, w i r d zwar durch die A n k n u p f u n g an die grundlegende platonische A r g u m e n t a t i o n im zweiten Buch verstandlich, w o es um den engen Z u s a m m e n h a n g von Machtbesitz und Selbstkontrolle geht und damit die Dimension des Politischcn iiberhaupt erst geoffnet wird. Das habe ich in >Plato und die Dichter* 43 erlautert. Aber das steht hier nicht m e h r im Blick. So hat cs i m m e r einen konventionellen Smn und damit einen fast ironischen Beiklang, w e n n es etwa in der Zusammcnfassung am Anfang des achten Buclics v o n den zur >Dialcktik< erzogenen Wachtern heiBt: win der Philosophie wie fiir den Krieg die Besten« (543a s - ebenso schon 525b s ). Worauf es in Wahrheit a n k o m m t , ist etwas anderes. Von Anfang an kiindigt Sokrates sein P r o g r a m m als eine ganz neuartigc Erziehung an (518b7), bei der es nicht so sehr u m Lernen v o n etwas gehe als u m eine U m w e n d u n g >der ganzen Seele< (521 c^). Wenn Glaukon etwa bei d e m Then)a Astronomie den Nutzen fiir die Kriegskunst hcrvorhebt, n i m m t Sokrates Gclegenheit, seine Besorgnis vor der Mengc, der die Wissenschaftcn als unbrauchbar crscheinen konnten, zu kritisieren (527d 4 ). In der Tat wird im folgendcn i m m e r mit N a c h d r u c k die O b u n g in den mathematischen Wisscnschaften auf die allein wesentliche Vorbereitungsfunktion gegriindet, die sie fiir die Erkenntms der Idee des Guten habe (ausdriicklich 526ei). Insbesonderc bei Musik und Astronomie schlieBt das eine fiir den Partner ganz unerwartete Wendung ein, namlich die A b w e n dung v o m H o r b a r e n und Sichtbaren z u m rein Mathematisch-Arithniologischen hin. DaB das noch etwas mit der sokratischen Frage und ihrer Basis, dem Wissen des Nichtwissens, zu tun haben soli, ist schwer cinzusehen. N u n wird in abschlieBender Zusammenfassung behauptet und der abschlieBende Schritt m die Dialektik eben dadurch vorbereitct, daB unter nochmaligcr Zuriicklenkung auf das H o hi en gleichnis der Vorbereitungsw c g durch die mathematischen Wissenschaften darauf angelegt sei, das Beste in der Seele (TOlirXiiarov tv YRNXFL) zur Schau des Bestcn im Sein (D/XK R/JV 43
Jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 187-211.
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zov apiotov F R TO K o mit FIRM) hinaufzufiihrcn (532c), und von der Dialektik wird alsdann in gleicher "Weise gesagt, daB sie die Seele aus dem Schlamm nach oben zieht (533d). Aber wie das gemeint ist, ist fiir die hcrrschendcn Mcinungen so dunkel, daB es von Glaukon als schwierig bezeichnet wird. Er mochte iiber die dialektische Fahigkcit wie iiber eine neue Wissenschaft unterrichtet werden, die ihre Gegenstande und Methoden haben wird. Das zeugt nicht gerade von Verstandnis, und tatsachlich wird ja eine solche Erwartung v o m platonischen Denken menials eingelost. Es gibt kcinc Differenzierung im Bereich der Dialektik, die der Differcnzierung der mathematischen Wissenschaften entsprache. Es ergibt sich somit ein eigentumlich zweideutiges Bild, wenn so der Erziehungsweg durch die Wissenschaften zur dialektischen Erkenntnis des Guten hinaufgefiihrt wird. Die zusatnmenfassende SchluBfolgerung erschcint wie die K r o n u n g eincs theoretischen Aufstiegs zur Dialektik - und doch auch so, daB n u n die Frage nach dem Guten selbst, das im Gleichnis der Sonne cntsprache, endlich ohne Metapher beantwortet werden soil (oM' D-KOVA 533a2). Was in Wahrheit zutage tritt, ist, daB diese Frage in die Universalitat all dessen, was wahrhaft ist, formlich zerstiebt. Der Dialektikcr wird so charakterisicrt, daB er bei einem jeglichcn Seienden auf das dringt, was cs wahrhaft ist (avzov yr eKtzozov nipt, o'ionv eKaozov 533b2), daB cr den Logos des Seins eines jeden erfaBt (TOY Xoyov EKAOZOV Xapfi/mma IRFC ai<ma<; 5 3 4 ^ ) . Das ist in A b h e b u n g von den mathematischen Wissenschaften, die man nur >Dianoia< nennen sollte, ganz sachgerccht. Aber dann wird - angcblich »genauso« (izaamzee;) - auch »das Gute« als Gcgcnstand genannt. M a n miisse die iMa IOV ayaliov (wie die ovoia hrjozov!) von allem anderen absondern, und m a n miisse wie in einer Schlacht »durch alles hindurch« in aller Priifung unverwirrbar (an/tin m Xoyzp 534c 3 ) alles durchgehen - ohne das werde m a n weder das Gute selbst noch irgendein anderes Gutes wirklich erkennen. Hier muB man einhalten. Dies >gcnauso< bereitet Schwierigkeiten. GewiB kann m a n verstehen, daB es auch im Falle des Guten das Verfahren des Dialektikers, das Rcchenschaftgeben, ist, auf das es a n k o m m t , damit man sich nicht von falschen Ahnlichkcitcn vcrwirren und nicht von bloBcn Konventionen lei ten und von Schmeichelei verfiihren laBt (im Bild v o n Rep. II: ein >philosophischer Hund<). Aber es bleibt verbliiffend, daB die Idee des Guten nur in bloBer N eben ordnung crscheint. Danach ware das Gute nur eine Idee unter anderen. Hochstens konnte man sagen, daB die dialektische Scheidung dieser Idee von alien anderen hier besonders schwierig ist, weil Interessen und Vorlicbcn sich hierbei besonders stark cinmischcn, und vielleicht soil man auch hcraushoren, daB das Erkennen des Guten, das hier auf dem Spiele steht, mehr als alles andere fiir das ganze Leben entschcidend ist. Das tritt durch die Gegeniiberstellung des >Lebens hicr< z u m Hades indirekt hervor (534c,,). Aber die Gleichordnung zu
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den anderen Ideen wird dadurch nicht zu r tick genom men. Es ist einigermaBcn nichtssagend, daB m a n nur, wenn m a n die Idee des Guten erkenne, auch alles andere Gute wissen konne. Das ist eine Formulierung, die bei alien anderen ideen genauso gilt. Auch am Anfang war die Frage nach dcin Guten mit dieser schematischen Formel eingefuhrt worden, daB es das sei, w o durch alles andere (mi Mmia mi idXXa 505a^) brauchbar und gut werdc. Wie geht das miteinander zusammen: die Vielfalt des wahren Seins u n d die Einheit des wahren Guten? Auf wesscn Kosten: auf Kosten des in die Vielheit der Ideen auseinandergeworfenen Seins, so daB cs durch Aufhebung aller Setzungen (rat; imodfor.ic, avmpovoa 533Cg) z u m Guten hinaufgeht, das dann nicht mehr das G u t e j e d e s einzelnen ware (ixamovp. O d e r auf Kosten des >abgesonderten< Guten (ayc.Xwv 534by), das dann in Wahrheit nur in all dem ware, was gut ist, daB es also wie alle Ideen nur in dem, was an ihm teilhat, sem wahres Sein hat? Zu einer solchen radikalen Deutung gibt der Text hier keinen AnlaB. Da es sich ausdriicklich um ein >genauso< handelt, kann man sich die Sache nicht so zurechtlegen, als handle es sich um einen neuen, den letzten Schritt, der von der Vielheit der Ideen zum >Prinzip< des Einen und Guten fuhrt. Auf der anderen Seite wird m a n freilich auch nicht sagen wollen, daB die Idee des Guten >genauso< wie alle anderen Ideen erfaBt wird. Ist die Idee des Guten nur eine der Ideen, und was wird dann aus dem •Einen Guten So fragen wir uns: ist es am Ende nur die mythische Sprechweise, die in diese scheinbare Alternative verwickelt? LaBt sich aus der Metapher eine bessere Fragestellung entwickeln? Priifen wir die Metapher und ihre Ausdcutung von neuem. Dort, bei der Einfiihrung der Analogie v o n Sonne u n d Idee des Guten, sah es in der Tat ganz anders aus. Da war das Gute nicht oboia, sondern ausdriicklich jenseits der ovoia, an Ehrwiirdigkeit und Macht iiber ihr (509bH). Da war kein >genauso<, sondern ein uberraschender neuer Schritt. Das bliebe es selbst dann, wenn das nur eine neue Einsicht in das, was >wahr< heiBcn kann (und damit, was das Sein eines jeden ausmacht), bedeuten sollte. So kann man namlich die Vcrgleichung des Guten mit der Sonne zunachst ausdeutcn (508ei): Das, was dem, was erkannt wird, t Aletheia* verleiht und dem Erkennenden die Fahigkeit dazu - so wie die Sichtbarkcit der sichtbaren Dinge und die Fahigkeit des Auges zu sehen, der Sonne, die das Licht spendet, verdankt wird - soil die Idee des Guten sein. Sie ist also zunachst als die Ursache des > Wissens* und der > Wahrheit* {iniiTfijfir/^ - bzw. yvuotu.K - MM ubjdriat;). Die Analogie mit dem Sehen und dem Sichtbaren und seiner Angewiesenheit auf das Licht ist offenbar die Pointe. Wie das Sehen und das Licht >sonnenartig< sind, soil en auch das Wissen und die > Wahrheit* >gutartig< (ayadoEiSr/ 509a3) heiBen, wenn auch noch nicht als ;das Gute* selbst gelten (iov ay alio v £t,ic: was das Gute selbst an sich hat, d. h. ist). In der Tat ist
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das Gleichnis so weit voll aussagekraftig. Man kann die Frage nach der Ursache des Lichts, also die Frage nach der Sonne ganz ausschalten. Wie das Licht Sichtbares mit dem Sehen verbindet, so erscheint das wahrhafte Sein (die voovjuva, die avz&c ovia, die t i f f y ) im Denken. >Das Gute< macht das Denken zum Denken. Die Fahigkeit zu etwas (bvvapK) ist ja stets durch das bestimmt, wozu sie Fahigkeit ist und was sie leistet (izp' & IF, eon Kai b 'iiirpyaCttai 477di). So laBt das, was als aXr/dna re Kai id ov aufleuchtet (ov KAUIXAFTNF I 508d;), das Denken Denken sein (laBt es vovv 508d A in jenem schoncn Doppelsinn von >Einsicht gcwinncn< und >bei Verstande sein<). Es scheint klar, daB damit der ganze Eereich der vorpa aufgefaltet ist. Das alles leistet die Metapher des Lichts, und es ist bezeichnend, dafi der junge Sokrates zu der gleichen grofiartigen Metapher seine Zuflucht n i m m t , wenn er in der Szene des >Parmcnidcs< (131b) die Tcilhabe der vielen Einzelnen an der Idee erklaren soli. Die A n w e n d u n g der Metapher vom Licht steckt offenbar in der sokratischcn Vergleichutig mit dem Tag. Die Dinge sind in dem einen Tageslicht allem sichtbar. Sichtbarkcit der Idee ist cbcnso ihr Auftreten im Denken des >Seienden<, das als das, was es >ist<, im Denken erscheint. Doch crwcist cr sich frcilich nicht als fahig, die Metapher in ihrem Sinne festzuhalten und in den Begriff zu heben. Er ist n o c h j u n g . In Wahrheit hat das erst Aristoteles vcrmocht, indem er die Unterschcidung von noiF.iv u n d naaxtiv (noniJtKOV und naih/fiKOv) zur begrifflichen Strukturierung des N o u s vcrwendet: auch dort >macht< der N o u s >denken<, at; F^iq ziq, wie das Licht (De an. F 5, 430ai 4 f.). Das vPrinzip* des Guten hatte also nur im erkenntnistheoretischen Sinne die Funktion eines >Prinzips<. Folgcn wir nun aber dem platonischen Text, so geht Sokrates iiber diese Ausdeutung des Gleichnisses einen entscheidenden Schntt hinaus, und damit wird die Sonderstellung der Idee des Guten erneut zum Problem. Denn nun tritt die >Transzendcnz< des Guten in ihrer vollen ontologischen Valenz heraus, und das nicht ohne dramatische Inszenierung: Wie die Sonne nicht nur den Dingen Sichtbarkeit verleiht, sondern auch ihnen Werden, Wachsen, Aufzucht bcrcitct, ohne selber > Werden* (yivurw,) zu sein, so soil a u d i die Idee des Guten, ohne selber >Sein< zu haben, dem, was im Denken erkannt wird, Sein verleihen (m thai mi ri\v ovoiav 50%7). Der Vergleich notigt dazu, diesen Ubersticg iiiber das Sein. so zu verstehen, daB das Gute >Ursache< des Seins der vielen Ideen ist. Freilich in welch em Sinne? Das Wort > Ursache<(ahia), das wir als das vierte Genos des >Philebos< kennen, fallt hier nicht, weder fiir die Sonne noch fiir die Idee des Guten. Vielmehr bewegt sich der Text im semantischcn Fcld von (Svvafiiv) nap/yen-, napeivm, npooeivai. Die Ausdeutung, die Sokrates selber (511b) gibt, macht eindeutig klar, dafi >das Gute< hier als zov ZIUVIOK UPX'TJ, >Anfang von allem* (Prinzip), liiterprctiert wird und damit — ebenso eindeutig - das ist, von dem aus Abstieg u n d die Vielheit der Ideen ausgeht, die den Bereich des Noetischcn ausmachen. In
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bezug auf den mathematisch-dianoetischen Bercich heiBt es (5lid) ausdriicklich, daB diese, weil sie ptza a/;p/c sind, das heiBt von dem Anfang her ihre Intelligibility erhalten, noetisch hcifien. Hier wiirde m a n keine Schwicngkeit haben zu sagen, daB diese mathematische Dimension der >entia rationis< von dcr >Arche< her auch ihr Sein hat. Diese Zusammenhange sind durch die Untersuchungen von Konrad Gaiser vorzuglich aufgeklart w o r den, soweit cs sich u m den dianoetisehen Bereich des Mathematischen handclt 4 4 . N u n ist freilich erst der Bereich der Dialektik erreicht, wenn man iiber das Dianoctische hinausgeht, und erst dann ist voll durchmcssen, was wahrhaft ist (avzov yi: IK<JOTOV NIPI o amv emmov 533b 2 ). Man kann also sagen, daB wir iiberall dort, wo wir das Siegel des >es ist< aufdriicken, iibcrall also, wo wir Wort und Rede gebrauchen u n d Satze sagen, v o m Sein traumen (uvEtpuizovm jii-v ticpi zo ov 533bs). Abcr wir traumen nur erst. N u r der Dialektiker erwacht aus der Befangenheit im T r a u m der Lebenswelt, und eben dies Erwachen ist, was er tut: die Hypothesen, in denen unsere sprachlichc Weltauslegung nicdergelegt ist, aufzuheben und denkend zu hinterfragen. Plato hat im >Phaidon< von der (Hypothesis des Eidos< gcredet, die m a n nicht vorschncll und ungepriift in den dialektischen Streit verwickcln soil. Aber daB Dialektik am Ende lctzte Rechenschaftsgabe vcrlangt, ist im >Phaidon< auch unbestrittcn. Der Dialektiker hebt jede und jede der im Reden niedergelegten Hypothesen auf, indem er auf ein letztcs Erstes der Rcchenschaftsgabc drangt. So ist es auch hier. M a n wird im >Phaidon< wic in der >Politcia< durch die Dialektik auf die Arche, die das Eine ist, hinaufgefiihrt, und man mag mit Aristoteles in diesem Einen die Zweiheit von Ems und Zwci erkennen. Es gibt aber Griinde, anzunehmen, daB dieses Erste und Prinzip nicht ein deduktives System ableitbarer Idecn begriindet. Wenn man von dem Paradcfall der aufcinanderfolgendcn mathematischen Disziplincn absieht, handelt es sich vielmehr stets u m begrenztc, d e m Apeiron abgewonncnc Bcrcichc, in denen dcr Dialektiker Einsicht erlangt. Im >Philebos< gibt Sokrates das Beispiel der Tone und das der Buchstaben u n d Laute. Das sind gewiB Bcispicle fiir die Entfaltung des Einen ins Viele. Dcnn Buchstaben wie Sprachlaute haben Systcmcharaktcr: ovS' av h avw mi)' avid dvev navzuv aizzL'v pddoi (18c 7 ). Aber sie stellcn doch ihrem eigenen Wesen nach einen begrenzten Bereich dar und stehen eben damit als Beispiel fiir jegliche Techne (Phileb. I6C2). Die Systemstruktur (Oi optk) bedeutet hier die Beherrschung des Schrcibcns bzw. des Musizierens. Das ist gewiB strukturell gesehen Dialektik, Aufstieg z u m Ersten und Abstieg vom Ersten gehdren zusammen: i c ovza eva rat navia lama sv zmq iioiovvza (18di). Offenbar meint das jcwcils eine relative Einheit, der jedcr T o n oder Sprachlaut als solcher 44
K O N R A D GAISFR,
Platons ungeschriebene Lehre. Stuttgart 1 1963.
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zugehort. M a n vergleiche die parallele Durchfiihrung, das Simpetv, wenn 17ci von der >einen Stimme* (ipuvfj pia), 18b<-, von der y iinj anripoi; ausgegangen wird. (Der ietztere Weg scheint dem Philcbos der leichtere, offenbar wci! er dem Weg der Erfahrung folgt [ 18d 3 ].) Das entspricht strukturell sehr gut der Schildcrung der Dialektik am Schlusse des 6. Buches der >Politeia< (511 be). Freilich ist dort nur von der Arche als einer einzigen die Rede und nicht von dem rclativ Ersten wie hier Stimme oder Ton. Das w u r d e heiBen, daB die Beispiele des >Philcbos< zu dem gerechnet werden miissen, was die >Politeia«, sofern so etwas wie T o n e oder Buchstaben vorausgesetzt sind, iDianoia* nennt. In diesem Sinne wird hier die Dialektik noch von den >sogenannten< ityvai scharf geschieden (511 c 6 ), die ihrc Voraussetzungen nicht rechtfertigen. Erst der >Philebos< beschreibt Techne wie Musik und Grammatik so, daB sie selber >dialektisch< heiBen konnen. HeiBt das nicht, daB sich Plato der Unvollendbarkeit eincs Ideals der dialektischen Ableitung von allem aus einer einzigen >Arche< wohl bewuBt war? Dafiir scheint auch eine crstaunliche Aussage des Aristoteles zu sprechen. Am Anfang der Nikomachischen Ethik (EN A 2, 1095a.,2) sagt er, daB Plato ein Problem darin gesehen habe, ob man auf die ap\ai hin oder von den apx<» fort gehen miisse. Schon der Plural ist auffallend. GewiB verrat das aristotehschen Sprachgebrauch. Aber die >Aporic< als solche scheint mit bezeichnend dafiir, daB Plato nicht ein einhcithch durchgefiihrtes deduktives System im Auge hatte. Sonst ware es gar keine solchc Aporie gewesen. Sehr wohl aber entspricht diese Aporie den Bcispielcn fiir ein doppelseitigcs Verfahren, die bei der Beschrcibung der Struktur von Technc im >Philebos< gegeben werden. Wic diese Unvollendbarkeit in der platonischen Prinzipienlehrc, die uns Aristoteles darstellt, in der Funktion der unbestimmtcn Zweiheit ihren Ausdruck findct, habe ich in meinem Akadcmicbeitrag iiber Platos ungeschriebcne Dialektik aufzuklarcn vcrsucht 4 5 . I n j e d e m Falle sind wir hier von der sokratischen Frage nach d e m Guten weit entfernt. Sie stellt sich als die Frage nach der Arete und mit all ihren Spcziahsierungen als die Frage nach den apsiai nicht unter solchcm universalen Aspekt, sondern in einem engeren Bereich, dem des Guten im menschlichen Leben. Die Orientierung auf das Gute im mcnschlichen Leben ist nun gewiB dernatiirhchste Ausgangspunkt fiir die Frage des >Guten<. So ist cs mi P r o g r a m m des >Phaidon<, so ist es in der >Politeia«, wenn die Frage nach dem Guten eingefiihrt wird, u n d so n i m m t der >Philebos< die Frage spater wiedcr auf. Aber in alien diesen Fallen iibersteigt die Erortcrung diesen engeren Bcrcich u n d fiihrt zu einer universalen ontologischen Fragestellung.
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Jetzt i n B d . 6 der Ges. Wcrkc, S. 129-153
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Das ist nicht iiberraschend, wenn man sich erinnert, in wic universalcm Zusammenhang die Frage im platonischen >Phaidon< eingefuhrt wird, als die Frage nach der Ursache fur Entstchcn und Vergehen uberhaupt: 0X1cc yap Sei iiepi ytveorux; kgi yHopac; tip airiav Oianpayyiatrvnaottai (95c y ). Sokrates zieht sein eigenes Beispiel fiir das, was Wissen des Guten heiBt, lediglich als illustrierendc Einfiihrung fur die universale Wissensfrage heran. Schon dort wird so das Postulat einer releologischen Kosmologie aufgestellt, das freilich uneingelost bleibt. Ahnlich finden wir im 7. Brief die Auswcitung v o m Wissen um die Arete auf das Wissen um das ganze Sein (Ep. VII, 344b). U n d schliefilich ist der >Timaios< die mythische Ausfiihrung des im >Phaidon< aufgestcllten Postulats - und da wird die sokratische Frage eigentlich uberhaupt nicht mehr erwahnt. Man sieht, daB es eine platonische Linic ist, die Aristoteles durch seine teleologische Physik und Metaphysik ausgezogen hat. Aber wie sich die Ausweitung des >Agathon< zur dpX'j nrh'Tuv aus der Struktur der Dialektik denken lassen soil, bleibt noch dunkel. Eine wirkliche Klarung scheint mir nur erreichbar, wenn man auf die tatsachliche Vcrfahrensweise der Dialektik eingeht, die in der >Politcia< nur als ein allgemeines P r o g r a m m formuliert ist. In diesem Verfahren der Dialektik mufi das uns beunruhigende >genauso< der Gleichstellung des Guten mit den andern Ideen seine Rechtfertigung fmden. Besinnen wir uns: es war das Grundprinzip der platonischen Staatsutopie (schon in ihrem ersten Entwurf), die >Wachter<, in deren Handen die Macht liegt, so zu erziehen, daB sie gegen die Verfiihrung der Macht gefeit sind. Die Erziehung zur Wissenschaft sollte am Ende Erziehung durch die Wissenschaft sein. An unsrer Stelle mit dem verwirrenden >genauso< fallt auf, wic die Erfassung des Guten wie der siegreichc Durchbruch in einer Schlacht geschildert wird. Welche Schlacht? Gegen welchen Feind 46 ? Es ist offenbar nicht nur MiBbrauch der Macht, u m den es geht. O d e r besser: selbst dieser MiBbrauch der Macht, dessen Verhinderung eine Staatsverfassung gilt, beruht auf einem anderen Mangel, und Plato behauptet, es sei der Mangel an Dialektik, d. h. an Unterscheidungskunst. Das klingt zwar absurd, als ob die Leidenschaften, die einen hinreifien, Dcnkwciscn waren und nicht gerade das Uberwaltigtwerden alien Denkens durch deren Gewalt. Der >Protagoras< treibt diese Absurditat ins Extrem: den Affckten unterliegen sei bloflc Unwissenheit (Prot. 352ff.). Platos Intellektuierung der > Tapferkeit* im vierten Buch der >Pohteia< hat immerhin etwas Wichtiges aufgedeckt. Er hat iiberzcugend gezeigt, dafi es bei der Qualifizierung der 46 Das von Plato gebrauchtc Bild, das naturlich besonders durch die Krieger-Wa elite rGleichung seiner Utopie nahegelegt war, gehort in Wahrheit in ein ganzes semantisches Feld. Die Ausdriicke fur logische Operationen sind zu gutem Teile aus der Ringersprache und ahnlichen Kanipfarten iibertragen. So auch das anziii an unserer Stelle unci schr oft i'nujuixiobm. z. B. in Gorg. 50.3aa u. a.
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Krieger-Wachter darauf a n k o m m t , die rechte >Doxa< iiber die Gefahr festzuhalten und sich durch nichts, auch nicht durch die Macht dcr Vcrfuhrung, die in der ?\Sovq liegt, da von abbringen zu lasscn. Das mag zu >intellektualistisch< ausgcdriickt sein, und Aristoteles, der Plato stets allzuschr beim Wort nimmt, spielt entsprechend die sokratische Stellung allzusehr herunter, wenn er ihr mit dem Argument zu f-Iilfe k o m m t , manchem erschiene tatsachlich einer nur deshalb als tapfer, weil man selber die Gefahr iibcrschatzc ( E N / 1 1 , 1116b_iff.). Worauf Sokratesblickt, istinsoweit ganz begriindet, als es sich u m wirkliche >politische< und nicht nur u m )physischc< Tapferkcit handelt (Rep. IV, 430b7). Da geht cs nicht u m die physische Angst als solche, die einen ubermannt, sondern u m das Raisonnement, zu dem Angst vcrfiihrt, und im Falle der r/oovrj noch deutlichcr: um die verfiihrerische Gberredungskraft, die von dcr rJdovjJ ausgeht. Ich kann es zwar nicht fiir diesen spezicllcn Ort beweisen, aber es scheint mir deutlich, dafi Plato hier vor allem an die Schtneichelci denkt, die den Machtigen im MiBbrauch seiner Macht Icgitmiiert. Man erinnere sich etwa an die Schilderung der sophistischcn Redekunst als Schmeichelkunst im >Gorgias<. Hier in der >Politeia< begegnet etwas Analoges, wenn die sophistische Weisheit mit dcr Kunst des rechten Verhaltens gegen ein gefahrlichcs Ungehcuer verglichen wird (Rep. VI. 493b), und bei dcr Schilderung, wie ein dem Alkibiadcs ahnlichcr Jiingling von der Hingabe an die Philosophic wcggclockt und verdorben wird, ist ausdriicklich von Schmcichclei die Rede, namlich von der vorwegnehtnenden Schmcichclei: npoKoXarxvovTeq vr}v jrfAlovofiv amov dvvaftiv (494c 2 ). Jedcnfalls ist es wahr, daB der itn Besitz dcr Macht Befindliche sich durch Anfechtungen durchkampfcn muB, u m nicht der Verfuhrung durch die Macht zu erliegen, und jeder versteht, daB das wirklich cine Leistung von Vernunft (Xoyoq) ist, ja, eine Frage der Verniinftigkeit (ypoviiov;). Im platonischen Sprachgebrauch, der v o m Fiihren des Gesprachs durch alle seine Zwischcnfallc hindurch genommen ist, vom Sammcln und Zusammenhalten des Gesuchten und eigentlich Gcmcinten durch alle Schwankungen und Beirrungen hindurch, die ein Gesprach - mit anderen oder mit sich selbst durchlauft, heifit das Dialektik. In dieser Anwcndung ist das, wie wir sahen, nicht einfach eine erlernbare Kunst. Es ist nicht nur Aoyw, sondern ebensosehr Epy® begriindet, wenn solches Festhalten an dem, was man als richtig vor Augen hat, gelingt. So miissen die >Wachtcr< povipm, >standfest< sein, und zwar ausdriicklich in den Wissenschaften wie im Kriege und allem anderen, was als recht gilt (ev vopipou; 537do). Die Unbcirrbarkcit, mit dcr nach der platonischen Schilderung Sokrates sein Leben lebt, bis hin zu der letzten Anfechtung des Fluchtangebots im >Kriton<, und vollends das lange Abschiedsgesprach mit den Frcunden im >fhaidon< sind die beste Illustration dessen. Es ist em wesentlichcr Punkt, der den gesamten Sinn der platonischcn Dialektik tragt, daB Sokrates das ist, w o v o n er im Logos Rechenschaft
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fordert. Deshalb - u n d nicht aus asthetenhaftem Gcschmacklertum 4 7 - ist cs unentbehrlich, die platonischen Dialoge als Mimesis wirklich er, zwischen den Partnern spielender, sie alle ins Spiel bringender u n d aufs Spiel setzendcr Gesprache zu lesen, und nicht als theoretische Traktate. Bei der Stellc, die wir analysieren, talk nun in der Tat auf, daB die Schildcrung des Dialektikcrs, der die Idee des Guten vor Augen hat, mit besondercm Nachdruck den K a m p f gegen >Prufungcn< (tlleyjoi) betont. Davon war weder bei den mathematischen Studien, die zum >reinen< D e n ken hmfuhren, noch bei der allgemeinen Rcchcnschaftsforderung fur >Sein< iiberhaupt die Rede. Mit welchcr Uberlegenheit werden etwa bei der Einfiihrung der Zahlenlehre (525d) die nepn Tama onvoi zuriickgewiesen! O f f e n bar spielt bei der Frage des Guten (und man mag gewiB die apnai, auch die •gcistigeni, hier hinzuziihlen) die Anfechtung durch das Raisonnement und die Sophistik der Leidenschaft cinc besondere Rolle, die nach Kant cinc >naturliche Dialektik' ist (>Grundlegung zur Metaphysik der Sittcm, am SchluB des 1. Abschnitts). So beachte man, daB die Schilderung des Dialektikers hier nicht nur das aus den sokratischen Gesprachen bekannte Wort FXcyyot; (>Priifung<) enthalt, sondern cinc Reihe anderer, im Zusammenhang der Charaktcrisicrung der Dialektik in den spateren Dialogcn bckannter Worte: dtopioaodai, axpr.Xriv, bvhhai (>durchbestimmen(, >abstrahieren<, >durchlaufeii'). Durchbcstimmen ist zugleich Auseinandergrenzen, also U n terscheiden, und dazu gehort Wegziehen des Gcmcintcn von allem, was nicht gemeint ist (>abstrahcrc<), und durch alle Unterscheidungen Hindurchgehen bis zum Ende, d . h . bis zur Verstandigung mit den anderen wic mit sich selbst. Es sind im besonderen die Vorsilben, auf die es a n k o m m t : das Sta = >durch< schlieBt zuglcich das >Auseinander<, also ein Unterscheiden, und das ano = >weg' schlieBt zugleich ein >Hin<, d. h. cin Zusammcnschaucn des Weggenommcnen ein. Das ist cin Vokabular, das bereits auf die Analyse der Dialektik vorausdeutet. die der >Sophistes< mit Hilfe der obcrstcn Gattungcn Sein, Identitat, Verschiedenheit usw. v o r n i m m t . Hier hat das alles noch eine rein dialogische, ja mihtanschc T o n u n g (iconep hpajcp 534ci). Das ist nicht von ungefahr. Im Logos selber lauert die Gefahr. D e m Unterscheiden cntspricht das Verwirren, dem richtigen Absondern das falsche, das heiBt, daB m a n sich dem Spiel der herumgeredeten Meinungen iiberlaBt, und dein dialektischen Durchgehen (tiia navmn- ilU'yjk-v/; cntspricht die blendende Kunst der starken A n t w o r t (>;aia S6i,av), d . h . die Widerspruchskunst (avTiXoyiKij Jt'xv7i)• Mit einem Wort gesagt: der Dialektik entspricht die Sophistik. Das ist cine bestandig drohende Gefahr, etwas, was 47
Erstaunlich, daB GrkiiAKD M U L L H I (GGA 1975, S. 157f.) glauben kann. die platonische Sokrates-Mimesis als Mimesis lesen nehme dem platonischen Denken seinen Ernst. Was fiir ein hcruntergekominener. asthetenhaft miflverstandener Begriff von Mimesis. Poesie u n d Mythos!
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den >Logoi< in uns immer geschehen kann («yv \6ywv aDavarov n Kai ayiipw nadoq h ffliiv Phileb. 15d 7 ). Selbst im Falle der Mathematik gibt es Scheinbewcise oder Scheinargumentationen, wie sie bckanntlich Protagoras in groflcr Zahl gegen die Mathematiker aufgeboten hat. Plato wi'irdc freilich sagen, daB der wirkliche Konner der Mathematik von solchen Redekiinsten nicht errcicht wird, sei es auch nur, daR sich der Mathematiker, wie T h e o d o ras im >Theatet<, den Redegefechten {yiXoi Xoyoi Theat. 165a) und der Gefolgschaft des Protagoras einfach entzieht. D o r t wo cs u m die groBten Dingc geht, d. h. im Bereich der Dialektik, bleibt m a n dagegen stcts von der Gefahr der Sophistik bedroht. Das wird in dem Exkurs des 7. Briefes genau ausgefiihrt, aber selbst w o wie im >Sophistes< der Sophist in cincr Definition dingfest gemacht wird, tritt seine innere N a h c zu dem wahren Dialektiker und Philosophen heraus. Der MiBbrauch des Logos hort eben mit der bloB logischen Aufklarung falscher Verwechslungen nicht wirklich auf. Er ist ein moralischcr Tatbestand. Wie die elenktischen Dialoge des platonischen Friihwerks ganz auf die Entsprechung von >Logos< und 'Ergon* aufgebaut sind, habe ich an dem exemplarischen Fall des >Lysis< naher ausgefiihrt 4 8 . In Wahrheit durchzieht der Z u s a m m c n h a n g der logischen und der ethischen Aspekte der wahren Dialektik das ganze platonische Werk, und noch Aristoteles bestatigt das, wenn er den Untcrschied der >Sophistik< von der (Philosophic* lediglich in der npoaipLmc, wv fStov sieht (Met. T2, 1004b 24 ; Soph. El. 8, 169b 24 ; H> 171b 8 ). So ist es nicht verwunderlich, daB an unserer Stelle aus der )Politcia< das Standhalten gegeniiber allcr Vcrwirrung besonders bei der Idee des Guten betont wird. Das licgt schon im ganzen utopischen Aufbau der idealen Staatsverfassung u n d ihrer Erziehung der >Wachter*. So stellt denn auch bei der E r o r t e t u n g des Erziehungsprogramms fiir diese >Wachter< weder das Inhaltlichc der mathematischen Wissenschaften noch die naherc Problcmatik der Ideenlehre als T h e m a der Dialektik zur Diskussion - cs k o m m t lediglich auf die U m w c n d u n g der Seele zum Noetischcn an. In der >Politeia< wird zwar dort, wo die Dialektik iiber die mathematischc Dianoetik herausgehoben wird, ein erster Wink gegeben, daB es sich im eigentlich noetischen Bereich, der eine voraussctzurigslose >Arche< hat (avi;«ofe;t)c511b 6 ), u m das Verhaltnis der Ideen zueinander handelt (wobei auch die mathematischen Disziplinen in ihre til inner en einheit lichcn Aufbau durchsichtig wiirden). Aber dieser am Ende des sechsten Buches gegebene Wink wird in der Fortsetzung, dem Hohlengleichnis, seiner Ausdcutung und Ausfiihrung als Erziehungsweg durch Mathematik und Dialektik nicht weiter verfolgt, und die >hyperbolischc< Stellung des Guten, die im Sonnengleichnis ihre Abbildung findet, wird, wie die von uns eingehend untersuch48
Logos und Ergon im platonischen iLysisc, in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 171-186.
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te Zusammcnfassung 534bc zcigtc, nicht wirklich ausgedeutct. Im Grunde ist der >Aufstieg< zur noetischen Dimension das allcinige T h e m a . D e m cntspricht, daB das spater im >Parmemdes< so umstrittenc Problem der Teilhabc, der ptedefa, hier nur in der Form auftritt, daB cs den Philosophen auszeichnet, das Schone selbst zu sehen und es nicht mit den vielen schonen Dingen, die an ihm teilhaben, zusammenzuwcrfen. >Methcxis< scheint hier nur die Unterscheidung des >es selbsti von dem an ihm Teilhabenden zu meinen, also auf das beschrankt zu sein, was der >Phaidon< die >einfaltige< Hypothesis des Eidos nannte. Im >Phaidon<, wenn die 'Idee. - vielleicht zum ersten Male im platonischen Schrifttum - e x p r e s s i s verbis eingeftihrt wird, geschicht das bezeichnenderweise mit der erklarten Absicht, auf diese Weise den antilogischen Verwirrungskunsten Einhalt zu gebieten. Die Interpretation dieser Hypothesis des Eidos durch dieneuere Plato-Forschung hat i n s g e s a m t - u n d nicht nur in der besonderen Zuspitzung der Marburger Schule - den Blick zu sehr auf die >Wissenschaft( genchtet gehalten. Da werden dann die Ideen als >das ruhige Reich der Gesetze< (Hegel) verstanden, denen man sich durch kritische P r u f u n g der Hypothesen nahcrt, die man aufstellt. Plato hat aber gar nicht den ProzeB der Forschung im Auge, sondern den sophistischen MiBbrauch der neuen Wunderkunst des A rg um en tierens, die alles zu verwirren vermag - so wie Sokrates in seinen Studien verwirrt wurde, so daB er am Ende nichts mehr verstand, nicht einmal, wodurch ein Mensch wachst (96c 7 ). Man muB den Text genau lesen: die Hypothesis des Eidos soil nicht an der alles entscheidenden >Erfahrung< gepruft werden. Das ware fiir die A n n a h m e der Idee eine voile Absurditat. Was das Pferdsein ausmacht, kann menials durch ein einzelnes Pferd bestatigt oder widerlegt werden. Die Prufung, u m die es sich hier handelt, bezieht sich vielmehr auf die immanente Stimrnigkeit dessen, was vom Eidos umfaBt wird: bevor nicht klar ist, was mit einer solchen Annahme jcweils gesagt ist und nicht gesagt ist, soil m a n sich auf keinen weiteren Schritt einlassen. Es ist also zu beachten, daB nicht die Hypothese an den Folgcn gepruft wird, sondern die angeblichen Folgen an der Hypothese. Es soil alles ausgeschlossen werden, was mit ihr nicht gemeint ist. Das will vor allem sagen, daB das Einzelnc, das an einem Eidos teilhat, in der Argumentation nur in dem. worin cs teilhat, das hciBtnur dem Sachgehalt des Eidos nach >zahlt<. Alle logische Verwirrung entstelit dadurch, daB m a n das Eidos und das, was an ihm nur teilhat, nicht unterschieden halt. Dann wird m a n namlich mit Lcichtigkeit in solche Widerspriiche verwickclt wie den, ob die Zwei durch Addition oder durch Division >cntstcht*. Die rcchtc Priifung der Hypothesis des Eidos weist all das, was den Begriff >Entstehcn< einmengt, als sophistisch ab 4 9 . Die Schilderung des 49
Eine gute Illustration dieser Leisttmg der viniiiiUK. Rep. VII, 525d, wird oben S. 182 bebandelt.
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>Phaidon< ist offenkundig in hochster formaler Allgememheit gemeint u n d wird an dem noetischen Beispiel der Zahl illustriert. Gleichwohl entspricht sie vollkommcn der in der >Politeia< v o m Philosophen geforderten U n t e r scheidung des Eidos von all dem, was an ihm teilhat. Freilich muB man sich dariiber klar sein, daB dieses Verfahren der Hypothesis nur die erste Vorbedingung alles Argumentierens, nur der erste Schritt auf dem schwankenden Bodcn der Logoi ist, auf d e m m a n sich so einen ersten Halt vcrschafft. Irgendeine Erkenntnis wird damit noch nicht erworben. Das ist bereits im >Phaidon< aulier allem Zwcifel, und insofern hat es den sogenannten platonischen Eleatismus me gegeben 5 0 . Auch das Entwicklungsschema >Von der Arete zur Dihairesis< (Stcnzcl), das an sich viele richtige Beobachtungen enthalt, tnuB von da begrenzt werden. Im iPhaidon< soil erst die A n w e n dung auf die Unsterblichkeit der Seele und ihr Vergleich mit dem Schncc, der verschwindet, wenn das Feuer der Sonne die Warme bringt, so etwas wie Erkenntnis sein. Immerhin bleibt dieser erste Schritt des dialektischen Weges grundlegend. Es ist der Schritt ins Noetische uberhaupt, der ubcrall vorausgesetzt ist, w o man emsthaft Rechenschaft geben will. Wenn Plato in der >Politeia< die Dialektik beschrcibt, so spielt deren Untcrschciden ganz und gar in der noetischen Sphare (Rep. VI, 511c]). Wir werden spater bei der Analyse des >Philebos< sehen, daB auch dort dieser erste Schritt der Reflexion ins Noetische ausdriicklich gemacht wird. Dort nennt Protarchos die Widerspriichlichkciten, die sich aus der Rclativitat des Einen und Vielen wie des GroBen und Kleinen ergeben und die in der >Politeia< (Rep. VII, 523) ausdrticklich als Weckruf z u m Denken eingefiihrt wurden, und muB sich von Sokrates sagen lassen, das seien abgedroschene Dinge (Phileb. 14d). Erst wenn man die noetischen Einheiten vor sich habe und sie Eines und Vieles zugleich seien, werde es ernst - und darauf wird in der Folge das dialektischc Wcsen aller Wissenschaft gcgriindct. Bis in die Worte hinein wird hier die Kunst der Vcrwirrung gegen die wahre Dialektik gcstellt, im >Phaidon< (10 lei): fvpow, im >Philebos< (15e3): ovyxpvpwx.
III.
Die Dialektik
des Guten im >Philebos<
Der >Philcbos< gilt scit alters unter alien platonischen Dialogen als die wichtigste Quelle, die wir fiir die mysteriosc platonische Lehre von den Idealzahlen besitzen. Das soil uns im gegenwartigen Z u s a m m e n h a n g freilich nicht beschaftigen. Wir fragen umgekehrt, wieweit diese Lehre, die uns vorwic50
Vgl. meine Kritik an einem selir cuchtigen Buch von G. P R A U S S (f'laton und der logische Eleatismus. Berlin 1966) in der PhR Bd. 20. Jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 346 ff.
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gend aus Aristoteles bekannt ist, iiberhaupt noch mit dcr sokratischen Frage zusammenhangt. M a n kann es auch anders ausdrucken: Was hat sich Plato dabei gcdacht, wenn cr in seiner beriihmten offentlichen Vorlesung >Ober das Gute* die Prinzipien der Eins und der unbestimmten Zweiheit bchandelt und dann doch auf die mcnschlichen Tugcnden zu sprechen k o m m t 5 1 ? Auf diese Frage muB der >Philebos< eine A n t w o r t enthalten. Denn in kcinem anderen platonischen Dialog ist die Theoric der Dialektik mit der dialektischen Praxis so eng zusammengewoben wie im >Philcbos<. Seit alters stcllen die >Ubergangc* in diesem Dialog ein beriihmtes Problem dar. Vor allem aber wird hier die altc sokratische Frage nach dem Guten im menschlichen Leben wirklich wieder gefragt, und zwar so, daB zugleich damit das allgemeine Wesen des Guten i m m e r im Blick behalten wird. Ebenso wird iiber das Wesen der Dialektik in Aussagen von hochster Allgemcinheit gehandelt, ohne daB freilich in diesen ausdriicklichen Reflexionen iiber die Prinzipien der Dialektik cigens von >dcm Guten* die Rede ware. Vielmehr ist die allgemcine Frage nach dem Guten ganz in die Gesprachshandlung, die Auseinandersetzung iiber die Bcdcutung von >Hcdone* und >Phronesis< fiir das menschliche Leben, verwoben. So finden wir hier noch einmal alles zusammen, was sich in der >Politeia< iiber die wcitgespannten Z u s a m m e n h a n g e des langen sokratischen Gesprachs iiber den wahren Staat verteilt: die sokratische Frage nach dem Guten, die Lehre von den Ideen und ihrer Dialektik und die Lehre von dem obersten Prmzip des Guten - und dies alles in cinem Gesprach zwischen Sokrates und ganz jungen Lenten, die er in die Dinge ab ovo cinfiihren muB. Tatsachlich ist die aus der >Politcia< bekannte Fragcstellung, ob die Lust oder ob das Denken das hochste Gute sei (Rep. VI, 505b), hier in einer dramatischen Konfrontation zum Thcma gemacht. Die Vcrteidiger der Lust werden nicht mehr wie in dcr >Politeia< von vornhcrcin abgewiesen. Es istja wirklich ein groBer Z u g des Lebens, der alles Lebendige durchwaltet, auf den sich die Vcrteidiger dieser Position berufen konncn. Wir ahnen hinter ihnen die Figur von Platos groBem Freund, dem Mathematiker und Forscher Eudoxos, auf den sich noch Aristoteles im gleichen Z u s a m m e n h a n g achtungsvoll bezieht (EN K 2). D e r Standpunkt des Denkens muB sich in seinem Fuhrungsanspruch gegeniiber diesem allgcmeinen Prinzip des Lebens rechtfcrtigcn, das auch den Menschen durchwaltet, der durch Gedachtnis, Uberlegung usw. ausgezeichnet ist. Da sieht cs aufs erste so aus, als warcn hier zwei unvcrcinbare Grundhaltungcn einander cntgegengestcllt. Das Lust prinzip besitzt auch fiir den Menschen cine Art schrankenloser, uberwaltigender Selbstverstandlichkcit, so wie es alles Lebendige in seinem Vcrhalten steuert. Es scheint wie ein Widerspruch in sich, daB dieses Prinzip 51
Vgl. die uiiren S. 200 zitierte Glosse dcr Magna Moralia A 1, 1182a
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in Rede und A n t w o r t vertreten w e r d e n soil, u n d insofern ist es ganz k o n s e qucnt, dull die Vertreter dieses Prinzips sich gcradezu gegen die R e c h e n schaftsgabe d u r c h Rede u n d A n t w o r t w e h r e n . Sichtbarster A u s d r u c k dessen ist, daB Philebos, der N a m e n s h e l d des Dialogs, sich ganz aus d e m Gcsprach zuriickzieht. So ist es tief motiviert, daB die Frage nach d e m G u t e n im menschlichen Leben, die alte sokratische Frage, gerade hier z u r T h c m a t i s i c r u n g des dialcktischen Prinzips der Rcchenschaftsgabe fiihrt. D e r Widerstand gegen diese F o r d e r u n g ist m i t dem wesentlichen Inhalt der hedonistischcn Position gegeben. Es ist konscquent, wie sich Philebos dieser F o r d e r u n g nicht mit logischer A r g u m e n t a t i o n entgegenstcllt, sondern auf d e m unbedingten V o r r a n g der H c d o n c d o g m a t i s c h besteht: »So glaube ich und w e r d e ich i m m e r glauben« (OOKCI Kai i 12a7). Er sagt sich los, u m nicht durch A n n a h m e einer i h m u n b e q u e m e n Z u m u t u n g seiner >Gottin<, der Lust, Eintrag zu tun. U n d w e n n Sokrates das Prinzip des Unterscheidens v o r fiihrt, i n d e m er es am Beispiel bcsondcrcr tiyyai illustriert, weiB Philebos nicht, was das mit seiner Sache zu tun haben soil, die ihm so vollig gewiB ist (18a], 18d 4 ), u n d in ahnlicher Anspielung, w e n n es 22c 3 heiBt: »Auch Dein N o u s nicht«. In dicscr Formel >Dein Nous< (d aoq vovq 22cj) klingt noch im N c g a t i v des Philebos absolute Parteinahme fiir seine Gottin, die H e d o n e , an. Das gilt erst recht v o n d e m Geplankel, mit d e m Sokrates gegen Philebos den offiziellcn K u l t n a m e n der A p h r o d i t e verteidigt (12c). Im Gegensatz zu dessen kunstlicher Sakralisierung der H e d o n e bleibt Sokrates bei d e m kultischen N a m e n . Das heiBt, er erkennt sie als Glied der olympischen G o t t e r f a milie an. Das driickt der Sache nach dieTeilgeltung und die Begrenztheit des Herrschaftsanspruches dicscr Wcltmacht der i[6<m\ aus. N u r ein einziges Mai laBt sich Philebos herbei, iiberhaupt noch einmal den M u n d aufzumachcn, u n d das nur, u m aufs neue zu bekraftigen, daB d e m Verlangen nach Lust keine Grenzcn gesctzt w e r d e n k o n n e n (27e, wie Nietzsches »Denn alle Lust will Ewigkeit«). Die E i n f i i h r u n g des Gcsprachsthemas fuBt der Fiktion nach auf d e m Resultat des vorausgegangenen Gesprachs m i t Philebos, dejnzufolge die Alternative >Hcdone oder Phronesis< zugunsten eines Dritten aufgegeben w u r d e - u n d das m e i n t die U n t r e n n b a r k e i t bei der! (52 b2 la n/c ifvoeioc, nabijjiaza nx\A der loytoptx). Philebos best and auf d e m Guts ein des der ijSovrj u n d Tf'pync. Schon die Vielfalt dieser Worte deutet auf die Differenziertheit dicscr Erfiilhmgserfahmng, die a 11 ein Lebewesen zuteil w i r d , und, als E r f a h r u n g , auf eine U n t r e n n b a r k e i t v o m XoyiOfKK. Dagegen ist es speztfisch Menschliches, was auf der Gegenseite steht. Insofern der Mensch die Erfiillungserfahrung kennt, ist sie unabweisbar, wie sich zeigen w i r d , - als das fraglos Erfahrene eine Evidenz, die sich auf alles fraglos Gcgcbcnc, w i e Figurcn, Farbcn, Geriiche - aber der Sache nach
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auf alles Schone (vgl. das >Symposionc - und das Gesprach fiihrt dahin, in der >Mischung< die Geltung des Fraglosen neben dem als gut Erkannten anzuerkennen. Protarchos, der den Part des Philebos ubernimmt, wird nun schrittweise in die B e w e g u n g der Rechenschaftsgabe hineingefiihrt. Indem sich dies vollzieht, klart sich zugleich die Struktur der Dialektik. Zunachst leistct er Widerstand gegen alles Unterscheiden von Lust. Als Lust seien sie alle ein und dasselbe (12ej, 13cs). Sokrates halt ihm das Gegcnbeispiel der Gattung >Farbe< entgegen, und daB mit dem Bestchen auf der bloBen Gattungseinheit gar nichts gesagt sei. M a n muB vielmehr untcrscheiden, sowie man etwas dariiber aussagen will, etwa das Gutsein. Es ist, u m der reinen Alogie zu entgehen, die in solchem global argumcntierenden lneinssetzen licgt, daB Sokrates die Dialektik des Einen und Vielen entwickelt, die in der A n n a h m c solcher Ideen-Einhciten impliziert ist, und er sieht einen Mifibrauch dieser Dialektik eben auch hier, wenn das Hedone-Prinzip durch so globale Ineinssetzung verteidigt wird. Wenn er dann seinerseits den produktiven Sinn des Unterscheidcns an uberzeugenden Bcispielen vorfuhrt, gcht scin Partner zwar mit, aber versucht dann doch einen letzten Widerstand: Bedarf cs wirklich solcher subtilen Differenzicrungen in Arten der Lust und des D e n kens, wenn es um eine so existentielle Frage geht wie die des Guten? Protarchos redet dabei ganz sokratisch, man diirfe sich selbst nicht vcrborgen bleiben (19c). Aber cr redet paradoxerweise so, u m der Dialektikforderung zu entgehen - eine hochst ingeniose, ironische Verkehrung des existcntiellen Emstes und des dialektischen Spiels. Sokrates geht iibcrraschend bereitwillig darauf ein, emen anderen Weg zu suchen, u m die Streitfrage zu cntschciden. Wie so oft, fiihrt er auch hier hochst geheimnisvoll eine Argumentation em, die zu gutcr Lctzt dazu dienen wird, seine These zu stiitzen, hier: den Vorrang des N o u s vor der Hedone zu bcweisen. Das ist die Lehre von den vier Gattungen (23b ff.). Von n u n an geht der Partner immer bereitwilliger mit, laBt sich auch durch eiiie letzte Intervention von sciten des Philebos (28b) nicht mehr beirren. Da geschieht nun etwas sehr Oberraschendcs. Indem die Lehre von den vier Gattungen auf die beiden Kontrahenten angewendct wird, wird die Hedone global dem >Apeiron<, der N o u s der vierten Gattung, der >Aitia< zugewiescn. Insofern konnte der Streit entschicden sein. Aber statt dessen fragt Sokrates (31b), w o und in welch er Weise (ev tj) it- Kai Sict zi natiu<.) diese beiden, Hedone und Phronesis, im Sichtbaren auftreten - und von diesem Augenblick an bedarf es gar keiner Oberredung mehr, den Partner in eine i m m e r subtilere, i m m e r wciter differenzierende Analyse der verschiedensten Erscheinungsformen von Hedone (und spatcr auch von Phronesis) zu verwickeln. Das ist zwar der unscheinbarste, aber vielleicht doch zugleich der wichtigstc aller Ubergange, die dieser an Ubergangen so rciche Dialog aufweist.
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Dieser U b e r g a n g in die konkretc Mannigfaltigkeit dcr E r f a h r u n g geschieht sozusagen von selbst, und die A n w e n d u n g des unterscheidenden Verfahrens, vor d e m Protarchos anfangs zuriickgcwichcn war, geschieht ebcnfalls von selbst und mit dessen williger Hilfe (32c 3 ). Es ist bemcrkcnswert, wic sich diese Scclenfiihrung mit sehr theorctischen Ausfiihrungen iiber die Prinzipien der Dialektik verbindet. Es ist eine fiir Sokrates typische, geheimnisvoll-orakelhafte Art - dunkle K u n d e oder gar vager T r a u m —, auf die er sich beruft. Er n i m m t offenbar keinerlei Autoritat in Anspruch, sondern setzt den Zuhorer erneut frei, damit er sich darin erkenne. So erreicht Sokrates in der Tat, daB sein Partner willig in die dialektische B e w e g u n g eintritt. Dialektik als die Kunst des rechten Unterscheidens ist eben in Wahrheit gar keine geheime Kunst, die den Philosophen vorbehalten ware. Wer vor einer Wahl steht, muB sich cntschcidcn. Vor einer Wahl zu stehen, ist aber die unabdingbare Grundsituation des Menschen. Dadurch fallt er aus dem Reich der ubrigen Lebewcscn heraus, die wic einer Naturgewalt fraglos folgcn, wenn sie von ihren animalischen Begierden getrieben werden (67bs d r p i w epuieq). Menschsein heiBt, immer wieder vor die Wahl gcstcllt zu sein, Aristoteles nennt das: der Mensch hat >Prohairesis<. Er muB wahlen. Wahlen mussen schlieBt aber Wissenwollen ein, Wissen des Besscrcn und Wissen des Guten, und das heiBt: Griinde wissen und mit Grunden unterscheiden. Das ist die Erfahrung, die sich an dem Gesprachspartner des Sokrates vollzieht. Das Interesse am rechten Leben geht notwendig in die Rechenschaftsgabe iiber das Gute iiber. So ist in Wahrheit gleich die Eingangsszene, in der die beiden Ideale >Lust< und >Wissen< einander gegeniibergestellt sind, von einem latentcn Widcrspruch durchzogen. Die Weise, wie alle Lebewesen blindlings der Unmittelbarkeit des Lustprinzips folgen, von der geheimen Macht des Lebensdrangs getrieben, erfullt nicht die Mdglichkeit des Menschen, sein cigencs Leben zu leben. Die Exposition der Frage ist also gleich anfangs so, daB am Ende der Widerspruch herauskommen muB, daB hier etwas zur Wahl gcstellt wird, was in Wahrheit nicht gewahlt werden kann. Die Blindheit des Lebensdranges, der alles durchwaltet, ist das Wahllose. Auf der anderen Seite der Wahl steht aber das, was dadurch schon selber gewahlt ist, daB es zur Wahl gestellt ist: das Wahlen selbst durch das in es eingeschlossene Wissen. Das macht den Menschen zum Menschen, daB er nach dem Guten fragen muB, das eine dem anderen in bewuBter Entscheidung vorzieht, also sich selbst Rechenschaft geben muB (Apol. 38a 5 ). Protarchos tritt aus der unmiindigen Unreife eines Parteigangers des Philebos heraus und entwickelt sich z u m offenen Partner des Sokrates. Anfangs folgt cr nur dem Unterschciden, fiir das er gewonnen ist, weil Sokrates die beiden Rivalcn, Hedone u n d Phroncsis, in gleicher Weise auf ihre Unterschiede priifen will, u n d am Ende will er aus Wisscns-
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durst den Sokrates uberhaupt nicht m e h r loslassen. Die Gesprachsfiihrung fuhrt durch die Unterscheidung verschiedener Artcn von Lust u n d Wissen zu der Aufgabe, die Anteile beidcr fur das rechte Leben richtig zu mischen, nachdem weder das eine noch das andere fiir sich allein cm gutes Leben ausmachen kann. Das ist natiirlich cine Metapher. Das Leben wirdbehandelt wie ein Trank, in dem verschiedene Bestandteile zu einem einhcitlichen und vollendcten Wohlgeschmack zusammengemischt werden sollen. Die rcchte Auswahl und die gute Zusammensetzung dieser Bestandteile vcrlangt nun offenbar die Orienticrung an dem Guten, das heiBt, den Hinblick auf das harmonischc Zusamtnenstimmen des Ganzen. Darauf k o m m t es an, daB das, was das Gutscin der Mischung ausmacht, auf diese Weise abgclesen werden kann. Man soil sich von der Metapher nicht beirren lassen. Natiirlich handelt es sich nicht um eine wirkliche Mischung getrennt v o r k o m m e n d e r Substanzen. Das ist bloBe Gleichnisrede. 59e-> wird das ausdriicklich gesagt. Beide >Bestandteile< licgen lediglich im Logos vor. Was soli Lust ohne BcwuBtsein, ohne Innesein uberhaupt sein? U n d reines Aufgehen im Wissen, reine Wcggegebenhcit an das Gcdachte, ware ebensowenig cin Leben. Selbst der aristotclische Gott >genieBt< sein Schauen. So ist hier bei Plato a u f b e i d e n Seiten dieser abstrakten Antithese das Sich-Wissen verdeckt, das offenbar beides erst wiinschbar machen kann. Man versteht auch, angesichts dieser Verdecktheit des Sich-Wissens, daB erst das Incinandergeftigtsein der beiden Aspekte, Wissen und Wahrnehmen eincrseits und die >Lust< andererseits, das zur Darstellung bringt, was im konkreten mcnschlichen Leben allein das Wunschbarc, das Menschlich-Gute sein kann. DaB es ein Drittes sein muB, w o r m das gute Leben besteht, cin aus Hedone, >grenzenlosem Drang<, u n d Vernunft (Nous), als dem, woraus alle Mcssung und MaBigung entspringt, gcmischtes Genos, in dem beides begegnet, ist also von Anfang an im Blick und wird im Laufe des Gespraches erhartct. Man soil die Metapher sicherlich nicht so verstehen, als ware es cine wirkliche Mischung, deren richtige Vornahme das Rcsultat einer Art von Lebcnskunst ware. Wir stehen nicht in der Distanz eines klug auswahlenden Kiinstlers dem Stoff unseres Lebens, Drang und Geist, gegeniiber, sondern sind selber beides. Plato weiB das anzudeuten. Er findct einen geistreichen Weg, sein >technisches< Glcichnis der Vornahme einer Mischung fiir einen Augenblick zu suspendieren. Er laBt namlich Sokrates darauf bestehen, daB die Vielheit von Lust und von Wissen beide selber befragt werden, wiewcit sie jeweils die andere Seite akzeptieren. Darin liegt: In Wahrheit sind sic eben beide nur abstrakte M o m e n t e des einen wirklich gelebten Lebcns, das beides ist u n d das in seiner Sclbstauslcgung zu befragen ist (Phileb. 63a ff.). Im Gleichnis gesprochen schlieBt das aber ein: Sofern das gute Leben die schonste und v o n innerer Zwietracht frcieste Mischung sein soli, dann mufi
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an lhr clas Gute, das im Menschen und im All das glcichc ist (ev i' uvdpunu kui IW navii itftpvKEv ayadov), und seine Idee (Idea) erfaBt werden (64aj). Auch wenn man dergcstalt die Mischungsmetaphcr als Gleichnis fiir wirklich menschliches Sich wissen erfaBt hat, bleibt, und dann eben erst recht, die Frage nach dem Guten, wie es sich in dieser Mischung normgebend darstelk. So wird hier cine begriffliche Artikulation dessen, was wir gut nenncn, im Blick auf diese Mischung unvermeidlich, das heiBt aber im Blick auf die Konkrction des Mcnschseins. Jetzt erkennen wir die eigentlichc Bedeutung jener geheimnisvollen Lehre von den vier Gattungen. Sie ist ja offenkundig cine Wcitcrbildung der pythagoreischen Gegensatzlchrc v o n iPeras* und >Apeiron< und wird auch als solche cingcfiihrt. Aber das Neue ist eben, daB Plato nicht einfach ein Pythagoreer ist, sondern die moctische Welt* der Zahlen und mathematischen Verhaltnisse von dem ausdriickhch unterscheidet, was in der konkreten erschcinenden Wirklichkeit vorliegt, die er Genesis nennt. Das ist keine idcicrende Seinsidentifikation mehr. Es >gibt* die Wirklichkcit als das aus Peras und Apciron gemischte Genos so gut wie es Grenze und Grenzenlosigkeit gibt (und fiir dieses drittc Genos dann notwendig eine Ursachc). In diesem gemischtcn Genos des >Wirklichcn< trcten nicht nur Lust und Schmerz, r/oorrp u n d \ v a t j , auf (31 c), sondern cs wird an entschcidender Stelle betont, daB auch das Gute dort zu suchen ist (f>lb5). Was dabei zur Diskussion steht, ist zwar lediglich das Gute im menschlichen Leben, aber daB es ebenso das Gute in Staat und Kosmos ist, wird etwa 31c1() durch Erinnerung an iFIygieia* und >Harmoma< und deren kosmische Dimensionen bezeugt. Fiir die Strcitfragc, die im >Philebos< crortert wird, erweist sich somit die Lehre v o n den vier Gattungen als die ontologischc Vorbereitung und Voraussetzung. N u r wenn Mischung nicht mehr als eine Minderung und Triibung des Reinen, Wahren, Ungcmischten, sondern als cin cigenes Genos gcdacht wird, ist sie der O r t , an dem die Seinsvcrfassung des Guten und des Wahren selber crscheint. So stellt sich die Metapher des Lebenstrankes cin. Sie ist ontologisch vorbercitct durch die Unterscheidung der vier Gattungen des Seins. Die Konsequenzen dieser Lehre rcichen weit in die angemcsscnc Auffassung der platonischcn Dialektik, des Chorismos- und des Methcxisproblems hincin. Wenn Grenze und Bestimmtheit, dann steht auch die ganze noctische Dimension der Ideen so wenig fiir sich wie die Ingrcdicnzicn des zu mischcnden Lebenstranks. Ihre dialcktische Zusammengehorigkeit mit ihrem Gegenteil, d e m Apeiron, bedeutet, daB dicsc noctische Welt der Zahlen u n d reinen Verhaltnisse nur ein abstraktes M o m e n t des dritten, des Gemischten ist {ft. ajtipolv ovpfuoyofit vov. peiKTov 23di = 25bj). Die Zugehorigkeit dieses unsercs aus Lust und Wissen gemischten Lebens zur dritten Gattung wird 27d ausdriickhcb festgestellt. Aber das istja bcinahc sclbstvcr-
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standlich. So fiel es denn dem Protarchos deshalb in Wahrheit so schwer, diese drittc G a t t u n g zu begrcifen, weil sie alliibcrall ist (»Die Masse hat Dich crschreckta, 26cg). Es ist die Wahrheit des Selbstverstandlichcn, die Selbstverstandlichkeit der Teilhabe des Einzelnen a m Allgemeinen, auf die Plato hier hindeutet. N a c h den Verwirrungen einer ins Inhaltlose verfallenden Dialektik des Eins- u n d Vielesmachens erscheint das drittc G e n o s des G e mischtcn als das >gewordene Sein* (ycyrvrjju-vtj ovoia 27b 8 ). DaB dies wirklich eine eigene >Gattung*, nicht aus d e m >eidetischen< Gegensatz P e r a s - A p e i r o n ableitbar, sondern ein Sein eigener A r t ist, findet seincn A u s d r u c k in der vicrten Gattung, der >Ursachc< der Mischung. Die entwickelte Lehre von den vier Aspekten des Seins ist eine universalontologische Lehre, das heiBt, sic greift weit iiber den SonderanlaB der Frage nach dem Guten im menschlichen Leben hinaus u n d umfaBt das All u n d seine Vcrfassung. M a n darf aber n o c h m e h r sagen: M a n ist i m ganzen platonischen D i a l o g w e r k nirgends so nahe wie hier an der aristotelischen Nebeniibcrlieferung von den beiden Prinzipien des Einen u n d der u n b e s t i m m t e n Z w e i h e i t " . Selbst so etwas wie eine Physik, das heiBt eine Ideenwissenschaft von d e m , was seinem Wesen nach Werden ist, erschcint von hier aus nicht m e h r als ganz u n m o g l i c h . Es ist ja Werden z u m Sem, g e w o r denes Sein. E b e n s o ist die sokratische Frage nach d e m Guten im menschlichen Leben mit einbchalten. Physik und Ethik m o g e n hier n o c h in einer undifferenzicrten Weise als bloBe A n w c n d u n g e n der ontologischen G r u n d verfassung des Guten in E r s c h e i n u n g treten, und die Redeweise, in der diese beiden Erscheinungsweisen des Guten hier beschrieben w e r d e n , m a g v o m Standpunkt der aristotelischen Begriffskunst aus m y t h i s c h heiBen: Eine Welt, deren E n t s t e h u n g und O r d n u n g s b e s t i m m u n g durch einen W e r k m e i ster, der Vernunft hat, verursacht u n d geleistet w i r d , cin menschlichcs Leben, das ein idealer M u n d s c h c n k k u n d i g u n d kenncrhaft aus seinen Ingredienzien zum Mischtrank z u s a m m e n m i s c h t (KJenseits alles Seins* eine neue B e d e u t u n g . Das Gute ist dann nicht m e h r >das Eine*, sondern die einende Einheit. Es wird ausdriicklich an dem Ideal der M i s c h u n g u n d in drei M o m e n t e n erfaBt (ovr ipuri). Die D y n a m i s des G u t e n hat sich in die Physis des Schonen gefluchtet, sofem MaB u n d Gemesscnheit
SJ Vgl. P. W I L P E K T , Eine Elementenlehre im platonischen Philebos. In: Studies presented to D. M. Robinson (1953), S. 573-582.
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iiberall das ausmacht, was Schonheit mid Arete ist (pezpwzrjc, yap mi ovppi zpia, mXXuc bzpiov Km apnz[ navutyov nvppatvri yiyveodai 64e 6 ) 53 . Wir sind hier weit von einer abstraktcn dialcktischen Gchcimlehre entfernt. Es heiBt ausdriicklich: Alle Menschen wissen das, w o r u m cs hier geht (64d 7 ). Daher findet sich in dieser Beschreibung auch keinerlei terminologische Prazision. Schonheit, >Symmetria< oder >Metriotcs<, Wahrheit (Aletheia) werden als die drci Strukturmomente des Guten genannt, das als das Schone erscheint. So konncn wir in der inncrcn Beziehung des Guten und des Schonen, die hier so ernphatisch hervorgehoben wird, einen Hinweis darauf erkennen, dafi >das Gute*, das zuglcich >das Schone* ist, nicht irgendwo fiir sich und an sich u n d jenseits ist, sondern in allem, was wir als eine schone Mischung erkennen. Was in der Perspektive der >Politeia< (oder des >Symposion<) als das reine, unvermischte Gute oder Schonc >jenseits des Seins< anvisiert ist, bestimmt sich hier als die Struktur des >Gemischtcn< selbst und schcint jcwcils nur in dem, was cin konkretes Gutcs und Schones ist, antreffbar, und zwar so, daB eben die Einheit u n d Gefugtheit der Erscheinung selbst ihr Gutsein ausmacht. Das schcint mir nicht etwa eine Anderung der platonischen Lehre, die zur Aufgabe der Ideenlehre oder der >Transzendcnz< des Guten fiihrt. Es bleibt wahr, daB >das Gute< aus allem, was als gut erscheint, herausgelost und herausgesehen werden mull. Aber cs ist in allem und wird herausgesehen, weil es darin ist und daraus herausscheint. In dieser Richtung cnthalt bereits der >Phaidros< einen entscheidenden Wink, wenn er in seinem groBen Mythos iiber die gottliche Gabe des Eros der Schonheit eine besondere Auszeichnung verleiht: sie ist das einzige, was etwas von dem alten Glanz der Idee auch nach dem Sturz in diese Erdenwelt bewahrt. Sie leuchtet hier bei uns auf. Sie ist am meisten herausleuchtend u n d am meisten zur Liebe reizend (ivrpaveazazov Kai ipaopmzazov Phaidr. 250e!). Sie weckt so in d e m Licbendcn das Verlangcn und die Schnsucht nach dem Hoheren. - Das ist natiirlich keine begriffliche A n t w o r t auf das Problem der Teilhabe des Einzclnen am Allgemeinen. Aber es ist doch eine bedeutsame Auszeichnung des Schonen, dafi es >hcrausscheint<. Dcnn das heiBt ja, daB es im Sichtbaren darin ist. In der Tat ist das Schone, das das Geliebte ist, in emincntcm Grade >reine< Schonheit. Es steht in der vollsten Sichtbarkeit seines Glanzes. Schonsein heifit ja iibcrhaupt: sich sehen lassen konnen (vgl. iiber das Hafiliche Phileb. 65e). So begreift sich auch v o m >Phaidros< her der Sinn des Satzes, dafi das, was das Gute 2u sein vermag, seine >Potenz<, im Schonen seine Erscheinungsweise hat. Es ist von sich aus,
5 * Vgl. meine Analyse dieses Satzes in iPlatos dialektische Ethik* in Bd. 5 der Ges. Werkc, S. ISOff.
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seiner eigenen Natur nach (lavT^v fayi poipav Phaidr. 250dy) Erscheinen, Aufschcmen, Herausscheioen (kKyavimawv). So heht sich aus der treibenden Flut des Horbaren das durch Zahlvcrhaltnisse Bestimmte der >reinen Tone< heraus: die Harmonie in der M u s i k - oder es heben sich die durch ihre Schriftzeichenfunktion bestimmten Schnftzuge aus allem Sichtbaren heraus und die Sprachlaute aus allem, was sonst zu horcn ist, als die einzigartige Artikulation von Sinn, die sic sind. Ahnlich ist das Lebcndige als der organische Lcib (Phileb. 29dg) sowie das ganze Weltall als die harmonisehe O r d n u n g herausgchoben. Sic sind herausgehoben aus dem grcnzenlosen Verstromen des bloBen Werdens (yfatmc) und hcraufgehoben in das Sein (ovain). Das macht die Einsichtigkeit (vwHc) bzw. die Entborgenheit (ahjdtia) dieser O r d n u n g aus. An all dem laBt sich das Ideellc (die >Zahh) heraussehen, weil es darin ist (svprjoeiv yap hovoav Phileb. 16d 2 ). DaB das Cute sich im Schonen gcborgen hat, heiBt also nicht weniger, als daB es nur im Schonen antrcfEbar ist. Sofcrn MaB, Symmetric und O f f e n b a r keit das Schone auszeichnen, ist es zugleich das Gute, das allem, was ist, sein wahrhaftes Sein (was wir liicr >ideell< nannten) gewahrt. Von der >Dynamis< des Guten war schon in der >Po!itcia< die Rede, und ebenso davoti, daB das Gute allem seine >Aletheiai gewahrt. Jetzt >crscheintt es gcradezu als das Schone. Es ist uberhaupt nicht trennbar v o n dem, was es jeweils ist. Das laBt sich auch sprachlich stiitzen. So unterminologisch die Sprechweise des >Philebos< auch ist, darf man sich doch daran crinnern, wie in der >Pohteia< das ratselhafte Wcsen von Dynamis charakterisiert wird, nicht fur sich zu sein, sondern an dem, woran es ist und was es bewirkt (iy/ w u: ion mi i) (juspydlcjm. Rep. V, 477cd). Das gilt allgcmein. So muB man auch die Dynamis des Guten in der Vielfalt dessen sehen, was sie zustande bringt, so wie die Dynamis des Sehens in der Vielfalt seiner Gesichte besteht und in nichts anderem. Auf seinen Begriff gebracht, heiBt das: es geht um die Untrennbarkeit des Einen vom Vielen. Das wahre >Sein< ist Ernes und doch in allem Vielen, und das heiBt: von sich selbst gctrennt, »was doch das Allerunmoglichstc zu seinscheint« (Phileb. 15b 7 ). Eines sciend u n d dasselbe in Vielen, die voneinandcr getrennt sind, wird es zuglcich ganz d a n n sein, und so wiirde cs von sich selbst getrennt sein. Das ist das unsinnig schcinendc Verhaltnis, dem Sokrates im >Parmenides< (131b) durch den Vcrweis auf den Tag zu entgehen sucht, der liberal) zugleich und derselbe ist und nicht von sich selbst getrennt. Das richtig festzuhalten, gelingt ihm zwar dort nicht - er ist noch jung. Aber es ist genau dasselbe, was von Sokrates im >Philebos< als der Grund aller Vcrwirrung bczeichnet wird, wenn nicht richtig zugestanden, und alles guten Fortgangs, wenn richtig (Phileb. 15c). Der gute Weg der Verstiindigung, den das Gcsprach im -Philebos- geht, laBt de facto das ganz hinter sich, wovon Sokrates am Anfang gewarnt hat, die enstischen Kunststiicke einer Schcindialektik. Das ist gar kein wirkliches
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Denken, denn man erliegt dabci dem blinden Verlangen nach Erfolg im Streitgcsprach (vy>' r/dovr/c; hdornia zt xai nana xtvel aojuwc; 15ej). Die Verstandigung, der Weg, den das Gcsprach geht, der Weg des Untcrschcidens und der schhcfi lichen Entscheidung durch abwagendes Zulassen unci Verwerfen, deckt sich freilich nicht recht mit der theorerischen Reflexion, die Sokrates iiber den Weg sinnvoller Verstandigung anstcllt. Bei den von ihm gcbrauchten Beispielen der Musik und der Schreibkunst handclt es sich u m Differenzicrungen oder besser Artikulierungen der >Stimme<, die cin System bilden. Auf der einsichtigen Gesetzlichkeit des musikalischen oder des sprachlichcn Gebrauchs der Stimme beruht alles Singen wie alles Sagen. Das ist Techne. Was da als die musikalische Mimesis oder als der Inhalt von Rede (Oberredung, Unterweisung oder Dichtung) aufgrund dieser Techne, dieses >K6nnens< zustande gcbracht wird, mag seinerseits wieder die Leistung einer Techne sem, aber doch w o h l einer anderen. Man denke ctwa an die wahre Rhetorik des >Phaidros< i m Unterschiedc zur bloficn Granimatik, diesem allgemeinen Konnen, das bei Plato in bemerkenswerter Weise zwischen der Artikulation von Schriftzeichen und der Artikulation der redenden Stimme schwebt. Sie ist die Voraussctzung jedes Gesprachs (und jedes literarisch geformtcn >Dialogs<) und am Ende alles diffcrcnzicrenden D e n kens iiberhaupt. In diesem Sinne gilt sic natiirlich auch fiir die im >Philcbo.s< dargestellte Suchc nach dem rechten Leben. Aber die nach dem rechten Leben suchen, sind nicht deswegcti schon auf dem guten dialektischcn Wege cclitcr Verstandigung iiber das Gute, weil sic sprechen gelernt haben (oder schreiben). Der Weg der Wahrheitssuche ist offenbar in cincm anderen Sinne Dialektik, als jene >Kiinste< es sind. Etwas Getneinsames mag darin sciir. die Glicdcrung cincs >Eincn< in eine bestimmte, selber idccllc Vielfalt. In der Sprache der Logik ist das die Gattungseinheit und die Vielfalt von Artcti und Untcrartcn, in die sie sich spezifiziert. M a n mag sogar auch noch der Zahl eine allgemeine modellbildcndc Funktion zubilhgen. Denn die Kunst des Untcrscheidens gelangt ja nur dort zu lhrem Ziele, wo man nicht wcitcr spezifizierbare Einliciten errcicht: Tone, Sprachlautc usw. So mag man in aller dialcktischen Gliederung eines Einen 111 cin Vieles eine gewissc Annaherung an die Z u o r d n u n g von Idee und Zahl erblickcn. Das Unterscheiden erfolgt hier inncrhalb des Noetisch-Eincn, und es ist das Prinzip der Zahl, das im >Philebos< in diesem Z u s a m m e n h a n g als das wahrhaft crlcuchtende Prometheusfcuer cingcfiihrt wird. Das pythagoreische Erbe der Identifikation von Sein und Zahl wird auf der neuen Ebcnc des noetischcn Seins zur Entfaltung gebracht. So k o m m t der Vielfachheit, die das Eine in sich selbst enthalt, zahlenmafiigc Bestimmtheit zu. Es ist ein Vieles, aber nicht ein unbestimmtcs Vieles, sondern so und so viel. Der Zahlbestimmtheit dessen, was 111 der Musik Tone u n d Tonverhaltnisse ausmacht, diesem altcn pythagoreischen Erbgut, entspricht dieldcalitat der
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Sprache u n d der Schrift, die beide die nienschlichcn Sprachlaute umfassend artikulieren und auf diese Weise vcrfiigbar machen 5 4 . Es ist also cine ideelle Struktur, das heiBt ein Verhaltnis von Ideen, das solcheni Wissen u n d Konncn zugrunde liegt, das die >Techne< ausmacht. GewiB ist dabei dcr Bezug auf das Herstellen in sinnlicher Wirklichkcit — dcr Tone und der Musik wie der artikulierten Rede und der fixicrten Schrift - nicht aufgehoben. Aber was so hcrgestellt wird, behalt selber eine ausgczeichnete Art Idcalitat. Es ist eine Zeichcn- und Zeigewelt, die ins Ideelle weist. So handelt es sich nicht um belicbige Handwerkskunst, die als eine neben vielen anderen stiinde und von der Plato sagen wurde, daB sie weniger eineTechne als bloBe Routine iiptfiii) sei, sondern um zwei Kiinste, die man spater >freie< genannt hat, weil sie auf ihre Weise keinen besonderen Zwecken untergeordnet und weil sie derart umfassend sind. Auch die Mischung des Lebenstranks hat einen solchen umfassenden Aspekt. Dabei haben die bei dieser Mischung schrittweise zugelassenen Ingredienzien insoweit mit der Zahl zu tun, als auch ihre Priifung umfassencf und erschopfcnd sein soil. Trotzdem kann die Mcinung wohl nicht die sein, daB man in derselbcn Weise, wie man singen, sprechcn oder schrciben lernt und es am Ende kann, auch leben lernt und es am Ende kann. O d e r so lite man nur sagen: da B man iiber das rechtc Leben wic iiber alles Rechenschaft zu geben lernt und es am Ende kann? Aber das ist es gerade, was wir aus dem Gesprach selbst lernen, daB die Dialektik nicht eine Kunst ist, die man wie das Schreiben lernt - etwas, was andere nicht konnen (die Analphabcten). Das Denken ist zwar eine Kunst, aber eine Kunst, die jeder tibt und in der man nie auslernt. Ebensowenig ist das Leben eine Kunst, die man j e auslernen kann, und die rechten Gedankcn iiber das Leben, die Idee des rechten Lebens, das Hochste, was man lernen mochtc (ptyiorovpadr/pa), wird nur in solchem allgcmeinem U m n B sichtbar. Wie Aristoteles weiB, daB seine theoretische Reflexion, die er >£thik< nennt, dem wirklich gelcbten Leben zu dienen hat, so istes auch f u r Plato u n d den Leser des >Philcbos< klar, daB dies Dialogresultat, das Ideal eines recht harmonisierten Lebens, als solches ein >Logos< ist, der auf das >Ergon< dcutet: das Wahlen des Rechten im Augenblick der Wahl. Es ist hier nicht der Ort, die inneren Beziehungen zwischen der Dialektik des Einen und Vielen und der Lehre von den Idealzahlen weitcrzuverfolgen. U n s interessiert hier nur das eine, daB das menschliche Leben, wic alles Sein, dem gemischten Genos angehort und daB an der Wirklichkcit des Gemischten zur Erscheinung k o m m t , was Gut-Scin heiBt. Das muB in Wahrheit bedeutcn: Wie alles Sciende n u r in der Konkre54 N o c h im Aporienbuch der >Metaphysik<, H 4, 999b 3 0 wird die >Idealitat< der Buchscaben deutlich, und das heilit, da£S sie eine ideelle Allgemeinheit besitzen, die ihre Vervielfachung in der Vereinzelung des Gebrauchs finder.
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tion seiner Bestimmtheit Sein hat, u n d das heiBt eben, daB es in einen Umkreis des unbegrenzt Variiercndcn, der yeveaix,, eingelegt ist, so enthalt auch die von praktischer Vernunft geleitetc Fiihrung des menschlichen Lebens das Gute nur so, daB cs sich in seinem wirklichcn Tun, das ein Vorzichcn des cincn vor d e m anderen ist, konkretisiert. Das hieBe weiter, daB alles Tun, sofern es Entscheidung ist, immer ein M o m e n t der UngewiBheit einschhcBt, denn cs hat sich in einem Element zu bewegen, das sich von sich aus aller Bestimmtheit und Begrenztheit entzieht u n d deshalb >Apeiron< heiBt. Das menschliche Leben ist daher in sich selbst dialektisch. Es 1st selbst Eines und Vieles zugleich, i n j e d e m Augenblick es selbst und eben damit von sich selbst getreimt, so wie auch das Was-Sein jedes Seienden am Ende so ist, daB es in allem Teilhabendcn (TO piiijov) es selbst ist. Die im >Philebos< formulicrten Aporicn sind buchstablich zu nehmen. Sie sind kein Widerspruch, s o n d e m der Weg des Denkens selbst. In etwas anderer Pcrspektive scheint sich mir diese der aristotelischen Kritik so entschieden z u v o r k o m m e n d e Lehre auch im >Politikos< zu spicgeln. D o r t wird zwischen einer relativen MeBkunst und einer MeBkunst, die das Angcmessene z u m MaBstab nimmt, unterschieden. Die relative MeBkunst kennt nur ein Mehr zu einem Weniget oder ein Weniger zu einem M e h r - d i e wahre MeBkunst, fur die das Angemessenedas MaB ist, kennt cin Mehr, das nicht nur Mehr im Vergleich zu einem Weniger ist, sondern wirklich ein solches ist: i% ov Poht. 284a9 55 . So k o m m t durch solche MeBkunst das Angemessene zustande: npd<; iqv IOV pu.ipiov ytxtaiv Polit. 284c|. O h n e uns im iibrigen auf den Z u s a m m e n h a n g , in dem die Unterscheidung dieser zwei MeBkiinste begegnet, einzulassen, diirfen wir doch sagen: Das Angemessene ist ontologisch gesehen das, was im >Philebos< das Gemischte heiBt: alles, was mit dem Angemessenen, Geziemenden, dem rechten Augenblick, dem Verbindlichen (TO BFOV), kurz, mit dcin Mittlcrcn zwischen den E x t r e m e n zu tun hat (284e^ f ) . M a n findct hier geradezti die Grundbegriffc der aristotelischen Ethik. So sehr wir also zugeben miissen, daB die sokratische B e k u m m e r u n g u m die eigene Seele durch den platonischen Sokrates ins Politisch-Utopische wic ins Kosmisch-Universale hin ausgeweitet wird, sehen wir doch die sokratische Frage auch dort noch lebendig, w o die universale Ideenlehre u n d das allgetneinc Wcscn der Dialektik zur Diskussion gestellt wird. Das ist es vor allem, was uns der >Philebos< lehrt. 55 H. DE LEY (in: L'Antiquite C.lassique 51 [1982], S. 512) moniert hier, da 11 im platonischen Text nicht lit; ov, sondern doch at, m yaXtiitiv steht. GewiB, aber d e m geht voraus: &k, :rt'K ov, das nicht yar.lfnov meint, sondern id ov - und das habe ich natiirlich gemeint und aus dem ix QVK OV herausheben wollen, auf das es Plato hier a n k o m m t : dafi es is:.
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Man muB dieses Resultat mit der Jenseitigkeit des Guten zusammenselien, die in der >Politeiat so emphatisch betont wurde. Auf eine schwer faBlichc Weise fand sich dort das, was alle guten Dinge gut macht, aus dem Rang eines Seienden herausgedrangt. Es ist nicht Eines neben Anderem. >Es selbst', AMO TO ayadav, entzieht sich. Es ist das Sein der Ideen uberhaupt und ist nicht selbst cine Idee. Ich hoffe nun glaubhaft gcmacht zu haben, daB das die mythische Form ist, in der Plato im Grunde das zur Aussagc bringt, was er im >Philebos< in der Weise ausdriicklich macht, daB dort das Gute im Schonen >erscheint<, und ich mochte zeigen, daB es diese in der mythischen Frage nach dem Guten steckende Problematik ist, die Aristoteles spater als das Analogieproblem, als die >Analogia entis<, auszeichnen wird 5 6 . Die Transzendcnz des Guten schlieBt aus, es als cine Idee, als einen Was'-Gehalt zu denken, der glcichsam eme oberste, alles umfassende Gattung ware. Das Sein, das des Guten wie das Sein eines jeden Was-Scins, braucht dann aber auch nicht erst mit dem Seienden vermittelt zu werden, sei es durch Spezifikation, durch Dihairesis oder welche Gliedcrungsform sonst, damit es ihm gleicht. Es kann so gar nicht vermittelt werden: Es erscheint in ihm unmittelbar. Das driickt sich in dem S3tz aus, daB das Gute in dem Schonen seine Zuflucht nehme. So scheint es mir das Resultat dieser Untersuchung uber die Sonderstcllung der Idee des Guten im platonischen Werk, daB Platos sogenannte Selbstkritik, als die man seinen Parmenides-Dialog gem auffaBt, von uns lieber an uns selbst geiibt werden sollte. Es ist am Ende i m m e r cine falschc Verdinglichung, wenn man die Teilnahme des Seienden am Sein als cin Seinsverhaltnis denken mochte, statt sie als den Ausgangspunkt alles sinnvollen Redens von Idee und von Allgemcinem von vornherein anzuerkennen. Wer das jenseitige Wcsen des Guten selber zu denken sucht, wird es nicht als >ein Gutes< denken diirfen. Er wird vielmehr auf die drcifach gestufte Scinsordnung von Seele, Staat und Welt blicken miissen, die sich in den platonischen Dialogcn, vor allem in der >Politeia< und im >Timaios<, m y thisch entfaltet. Die Einheit von Einheit u n d Vielheit, die hier sichtbar erscheint, macht nicht nur ihre Schonheit aus - cs ist die Dynamis des Guten, die iiberall alles zusammenhalt u n d zur Einheit schlieBt.
IV.
Die aristotelische Kritik an der Idee des Guten
Wie sieht es dann aber mit der aristotelischen Kritik an >dem Guten< aus? Hat sic dann uberhaupt noch einen Gegcnstand? U n d die Kritik an der Ideenlehre? Wir lassen uns von dieser Frage leiten und prufen die aristotelische Kritik 56
Vgl. E. FKANK, Wissen, Wollen, Glauben. Zurich 1955, S. 86-119.
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unter den an Plato gewonnenen Gcsichtspunktcn. Aus methodischen Griinden lassen wir dabei die Rekonstruktion nicht erhaltencr Texte - wic itn Falle Platos die ominosc Vorlcsung >Obcr das Gutc< - bei seite und halten uns ganz an die drei ethischen Traktate, die im aristotelischen Corpus stchen. Was diese betrifft, brauchen wir uns nicht einmal auf die Frage einzulassen, ob sic alle drei echte aristotelische Schnften sind. Vor allem seit Dirlmeiers K o m mentaren zu den Magna Moralia (MM) und zur Eudemischen Ethik (EE) darf cs als sicher gelten, daB es sich jcdcnfalls um echtes aristotelisches Gedankengut handelt 5 7 und daB die Obereinstimmung der drei Traktate mkcinander in diesen drei Platokritikcn gcradczu iiberwaltigend ist. Unser allgetneiner methodischer Grundsatz, vor alien Unterscheidungen das Gcmcinsame herauszuheben und die Tcxtc zur wcchselseitigen Erhellung zu gebrauchen, ist hier durch die Texte selber unzweifelhaft gefordcrt. Unser Grundsatz cmpfichlt iibcrdics, sich auf die von der Forschung (Arnim, Gigon u.a.) versuchte Zuschreibimg einzelner Argumente an bestimmte >Platoniker> gar nicht einzulassen, Denn wieder ist das wahrhaft Bedeutsame nicht so sehr solchc Diffcrenzierung, als die in aller Variation sich durchhaltende Gemeinsamkeit in der Argumentation, die alle drei aristotelischen Kritikcn aufweiscn. Es mag zwar im einzclncn strittig sein, ob alles, was da zur E r w a g u n g und kritischen Widerlegung k o m m t , sein Fundament in der wirklichcn Lehre Platos hat, oder ob manchcs aus spekulativen Weiterentwicklungen derselben stammt. Aber da Aristoteles ohnchin keine zuverlassige Berichterstattung anstrebt und seine kritische Absicht stets in Rechnung zu stcllcn ist, wie vor allem die Arbeiten von Cherniss iiberzeugend gezeigt haben, kann unsere M e t h o d e nur darin bestehen, aufgrund der bei Plato selbst implizicrten Sachproblematik und in deren Perspektive die aristotelischen Aussagen auszuwcrtcn. Wir brauchen uns fiir unseren Zweck auf die Frage gar nicht einzulassen, von w e m die einzelnen Argumente etwa entwickelt w o r d e n sind 5 8 . 57 Im Falle der M M und ihres so auffallend didaktischen >Stils<, der in neuercr Zeit mit Recht hervorgehoben w o r d e n ist (Brink, Thciler, Dirlmeicr), scheint mir die einfachste Hypothese. die auch gewisse stilistische Eigenartcn und kompositorische Unklarheiten dcckt, noch immer die zu sein, dafi es sich hier u m eine A n Nachschrift von anderer Hand handelt - nicht um einen >Verfasser<, sondern u m ein gut bearbeitetes Kollegheft. Insbesondere das von D I R L M L I F R richtig beobachtete logische Interessei des Textes erklart sich zwanglos als Folge einer skelettierenden Behandlung des Lehrvortrags. und mane he >Abweichungen< irn Gcdankenaufbau der M M , z. B. das Hinausschieben des Eudaimonia-Begriffs, sollten nicht verwundem, wenn es sich u m Wiedergabe eines lebendigen Lehrvortrags handelt, der nicht als ein Text fiir die Lektiire bestimtnt war, 58
Ist M M A 1, 1182a25ff. eine Anspielung auf die verlorene Vorlesung oder vielmehr eine Polemik gegen die >Politeia Kann das ane&HKev inaoiw etwas anderes sein als eine Anspielung auf Rep. IV? Vor allem die Wendung 1182a>7 xa'i ovve&vfrv redet tinem solchen Verstandnis der Anspielung das Wort. Der Sache nach ware die kritische Bemer-
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Auch halten wir uns von jeder Hypothese iiber das Verhaltnis der drei Ethiken zueinander fern. Die Kritik an der Idee des Guten begegnet in alien drei Traktaten am Eingang und ineint in alien drcien genau den universalontologischcn Anspruch Platos. In alien drei Traktaten ist es der entscheidende Gcsichtspunkt der Kritik, daB das Wissen von einem solchen Guten die Philosophie der menschlichen Praxis nichts angehen konne. In M M .4 1, 1182a 2; ff. wird Plato gcradezu kritisiert, weil er in seine universal-ontologische Lehre vom >Agathon< - jenc beriihmte Vorlcsung - die Frage nach der > Arete< iiberhaupt hineingezogen habe. Die sokratischc Frage nach der >Arete< ware danach mit der universalen Frage nach >dem Guten;, auf die die platonische Dialektik ziclt, iiberhaupt unvertraglich. Das ist in der Tat genau die Frage, die wir an den Text der >Politeia< gcstellt haben, namlich, wie die sokratische Frage nach dem Guten mit dem Aufstieg zur Dialektik zusammenhangt, der durch die mathematischen Wissenschaften hindurchfiihrt. Im folgenden will ich zcigen, daB Aristoteles, der Schopfer der Physik und der Begriinder der praktischen Philosophie, das sokratische Erbc in Plato fcstgehaltcn hat: Das Gute ist das praktisch Gute. Aber als Schopfer der Physik vollbringt Aristoteles die Forderung des platonischen Sokrates, das Universum von der Erfahrung des Guten her zu begreifen. Das Gute crschcint also bei Aristoteles sowohl in der Physik wie in der praktischen Philosophic - in der Physik als das ov EVEKQ, in der praktischen Philosophie als das avdpwaivov ayadbv. Das laBt sich am Text der Kritiken an der Idee des Guten nachwcisen. Man sicht also, daB die mcnschliche Praxis im Ganzen seines Bcgreifens eingebcttet bleibt. Die Reduktion auf das Interesse der praktischen Philosophie laBt aber die Frage nicht verstuminen, w o r m das Gemcinsame des Gut-Scins bestehen soli. Denn eine bloB auBerliche Aquivokation ist es bestimmt nicht, daB so Verschiedcnartigcs >gut< genannt wird. Was die E N ausdriicklich sagt: ov yap toiKi: wic; yi and ivyric opwvvpuv; (A 4, 1096b2s), gilt erst recht fiir die beiden anderen Traktate: M M gibt dem Argument, daB das am meisten Gute (id paXima ayaBov), das Gute selbst, Idee sein miissc, d . h . also >das Gute< aller Ideen sei, beinahe recht (aXtidip;p£v fanv fee A 1, 1183a32), und der verstiimmelte SchluBsatz der Kritik in der EE scheint geradezu - nachdcm das apitnov iwv upaKiuv behandelt worden ist - die Untcrsuchung der Vieldeutigkeit von ayadbv im Hinblick auf das apvnov navmv zu fordern (A 8,
kung dann eine Abweisung der Ausweitung der sogenannten Vier-Buchcr-.Politei.i' O d e r mui? man die Notiz so lesen: Platos Vorlesung iiber das Gute ware recht gut und schon gewesen, wenn er nur unterlassen hatte, in ihr iiberhaupt auf die a p f i a i z u sprechen zn k o m m e n ? Das wiirde zu dem Bericht des Aristoxenos gut passen. Dann allerdings mochte ich meinen, da(? kein anderer als Aristoteles dies gesagt und diese U m k e h r u n g der popularen Erwartungen mit solchem Sarkasmus vorgenonitnen hat.
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1218b25) 3 9 - A u f j e d e n Fall ist a u c h d e m V e r f a s s e r d e r E E d e r w e i t e S i n n e i n e s u m f a s s e n d e n >Agathon< d u r c h a u s g e g e n w a r t i g . S o ist d e n n f e s t z u s t e l l e n , d a B s i c h A r i s t o t e l e s in alien d r c i T r a k t a t e n n i c h t a u f d a s fiir i h n e n t s c h e i d e n de A r g u m e n t der p r a k t i s c h e n R c l e v a n z b e s c h r a n k t , s o n d e r n sich aus d e r E n g e der praktischen T h e m a t i k h i n a u s g e d r a n g t sieht60. S o f i n d e t d a s K a t c g o r i e n a r g u m e n t i n a l i e n d r c i T r a k t a t e n s e i n e n P l a t z . In d e r T a t e i g n e t es s i c h b e s o n d e r s g u t , d e n p r a k t i s c h e n A n s p r u c h e i n e r a l l g e m e i n e n Wisscnschaft v o m G u t e n a b z u w c i s c n . Z u g l e i c h aber deutet sich d a n n a n , daB d a s P r o b l e m d e s G u t e n m i t d e m P r o b l e m d e s S e i n s u n l o s b a r v e r k n i i p f t b l e i b t . W i e es b e i m >Sein< e i n e e c h t c F r a g e ist, w i e d i e v e r s c h i e d e n e n S i n n e v o n Sein, der v o n S u b s t a n z u n d der v o n d e n a n d e r e n K a t e g o r i c n , " DIRLMEIER sucht zwar das NCWJCC und damit die ganze Anspielung auf das universale Problem des Guten wegzukorrigieren, aber im Hinblick auf EE A8, 1218b4 ff., dem inhaltlich 1217a31 ff. nahcsteht. scheint mir das nicht annehmbar. An beiden Stellen werden ayaftd bzw. ein Stuck von uyadov genannt, die nicht npaxrov sind. Ich weifi natiirlich nicht, ob Aristoteles selber tmcmiwnooay&can dieser Stcllcgeschricbcn hat, nach dem resumierenden Satz: m S' u'Xui; ayadov avdpzcnu iemh Kai id fytaiov j&> npatawv. Es kann die Hinzufiigung eines Redaktors sein, der den grofleren, univcrsal-ontologischen Horizont nach diesem Resiimee anmahnt. Aber auf jeden Fall ist in unserem Text {1218^25f.) der Gegensatz von id aptoTox i&v npatnibv und TO apunov iiaviw manifest. Was den Zustand unserer Texte betrifft, eitic allgemeinc Remerkung: G I G O N liebt die Rede von einem Redaktor, laBt offen, ob das Aristoteles selbst war. Er hat insoweit ganz recht, als man selbst an die etbischen Traktate nicht immer den Maflstab stilistischer Konsistenz einer literarischen Lehrschrift anlegen darf. Aber seine Pradikationen (machliissigi, >sorgU)i>, mngcnsm usw.) tun das selber allzusehr. Man darf sich durch oft raffinierte einzelne Formulierungen nicht tauschen lasseti, als handle es sich um einen >Text<\ lnsbesondere die Komposition ist wirklich oft >sorglos< - oder besser: auf die Fursorge durch den miindlichen Vortrag angewiesen. "-1 Derartiges zeigt sich bei Aristoteles auch sonst. So erlaubt Lhm zum Beispiel seine Festlegung dessen, was Physik ist, eigentlich iiberhaupt nicht. im Rahmen der Physik die eleatische Philosophie zur Diskussion zu stellen, Sie leugner |a die Existenz von Bewegung iiberhaupt. 'Irotzdem fiigt er die Eleatenkritik seiner Physikvorlesung ein 2,3). Im vorliegenden Falle schlieBt in ganz ahnlieher Weise die Festlegung dessen, was praktische Philosophie isr, die jusfuhrliche Diskussion der platonischen Idee des Guten eigentlich von vornherein aus. Trotzdem gcht er auf dieselbe ein, w e n n er auch bestatidig darauf verweist, daB sie eigentlich in einen anderen Zusammenhang gehore. Es sieht so aus, als sei er sozusagen in Verlegenheit, w o Derartiges hingehoie. So niLiB man am Ende sagen, daB sich in solchen Verlegenheiten, die bei Aristoteles oftcrs auftreten, die groBere Verlegenheit spicgelt, die man (Metaphysik. nennt. Das Konvolut, das diesen N a m e n spiiter erhalten bat, ist gleichsam eine Sammlung solcher Verlegenheiten, deren Gemeinsamkeit in ihrcm Grenzcharakter besteht. Wenn man sich das klarmatht, ist es eigentlich gar kein Ratsel mehr, daB die Ansatze von Met. wonach die gesuchte Wissenschaft wie eine formalc Ontologie aussieht, von Met. Z~H (die Lehre von der Substanz und von Dynamis und Energeia) und von Met. /A (die sogenannte >Theologie<) nicht recht zus.immenstimmen und daB auch das Aporienbuch Met. B eigcntumlich fiir sich steht. DaB Met./-.' schlicfilich cine gewisse harmonisierende Redaktion leistet, widerspricht der obigen Feststellung mcht.
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miteinandcr zusammenhang en, scheint gleiches doch vom Gutscin gelten zu miissen. In der Tat weist Aristoteles beitn Sein wie beim Guten auf das Analogieproblcm hin. So ist er gegen die universal-ontologischc Frage des jGuten< durchaus nicht blind, trotz der Kritik, die er in den Ethiken an Plato ubt. Es ist nur das >praktischc< Interesse, das die Ethik beherrscht, das ihm dort erlaubt, sich dem Problem aufleichte Art zu entziehen - aber eben nicht vollig. A m nieisten laBt sich Aristoteles auf die platonische Lehre wie auf ihre Widcrlegung in EE ein, und so wird cs zweckmaGig sein, an ihr unsere Untersuchung zu oricntieren, natiirlich nicht ohne die beiden anderen Traktatc zur Klarung mit heranzuziehen. Dabei leitet uns das Ergebnis unserer Plato-Studie: Danach war das > Wissen des Guten* auch in Platos Augen cine ausgezeichnete Weise des Wissens, >jenscits< der (Wissenschaften*, die nicht von der Wissensstruktur der Techne ist, aus gegebenen Voraussetzungcn Ablcitungen vorzunehmcn, sondern Rcchenschaftsgabc iiber das hochste Telos im Sinne dialektischer Durchdringung dessen, was Hegel das >Konkrct-Allgemeinc* nennt. Ist das Gute nicht sowohl in allem, was npaKTov ist, als auch in allem, wasjenseits aller menschlichen Praxis liegt, anzutreffen? 1st es nicht in Seele, Staat und Welt der immancnte MaBstab {phpiov im Sinne des >Politikos<)? Und ist dann nicht die Rede vom Chorismos gerade fiir die Idee des Guten besonders irrcfuhrend? Wir konnen erwartcn, daB die kritische Absicht des Aristoteles diese Perspcktive nicht von sich aus hervortreten laBt. Das Gegenteil ist klar: Er muB die >Transzendenz des Guten*, die cs gegeniiber alien Ideen sonst auszcichnet, heruntcrspielen, also die Idee des Guten mit den ubrigen Ideen gleichsetzen. Er muB daher auf dem ^U)f»f7irh>-Scin der Idee des Guten besonders nachdrucklich bestchen. M a n muB sich dessen erinncrn, daB der Begriff des ywpiorov bei Plato wie bei Aristoteles zwei Aspckte hat: einmal das Getrenntscin, andererseits das In-sich-Stehcn. Geht m a n von lctzterem aus, so ist die ontologischc Abweichung des Aristoteles sofort greifbar: Nicht die Ideen haben solchen Stand-in-sich, sondern die ipvott ovm (und am Ende auch das hochste Seicnde, Gott). Fur Plato haben diese >Seienden* gerade kein Fur-sich-Sein, sondern nur die Ideen. >Das Gottliche* wie >das Gute* sind in einem Sinn >jcnseits* des Seins, der nicht erlaubt, sie >Seicnde* zu nennen: fiir Plato sind die >eidetischen* oder >noetischen< G c b i l d e - z . B. die Zahlen, Linien usw. - von dem crschemenden Sein zu trennen. Sie sind nicht wie bei den Pythagoreem mit dem erschcincndcn Sein verschmolzen. Fiir Aristoteles sind die f vaa ovta zwar voti ihrem Was-Scin untrennbar - das ist der Sinn der Lehre von der ersten und zweiten ovoia —, aber das heiBt Limgekehrt, daB das r/<W nicht von seinem Erscheincn zu trennen, also 'ivvXov t tSiK ist. U n d insofern ist nicht nur das root n, sondern auch das ri von alien andern ovpfiefirpcora >getrennt<. Auch das ist also eine Abweichung
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fundamentaler Art: Was bei Plato fiidtOc, Mitem anders ein von Ideen ist, z. B. von Mensch und Aevwr^c, ist hier bei Aristoteles »Pradikation<, die sich auf das Subiectum, das ovvoXov, bezicht. N u n wird aber zu fragen sein: Wird vielieicht trotzdem die wahre Intention Platos, gleichsam wider Willen, in dcr aristotelischen Diskussion sichtbar? N u n beginnt EE A 8 mit zwei Formeln, die die Idee des Guten ausdeuten, die denkbar getreu an platonische Aussagen ankhngen. Die erste Formel sagt, daB das Gute das Erste ist, mit dessen A u f h e b u n g auch das andere, das aus ihm folgt und daher >gut< ist, mit aufgehoben ist. Diese Formel tragt, obwohl sie in den Dialogcn nicht selber v o r k o m m t , ein unleugbar platonisches Gcprage, wie insbesondere P. Wilpcrt 6 1 nachgewiesen hat. Fiir die mathematischen Disziplincn hat Konrad Gaiser, wie schon oben Scire 178 beriihrt, deren Systematik als Folgeordnung von Zahl, Punkt, Linie, Flache, Korper iiberzeugend erwiescn und als eine Art Schema platonischer Systematik ausgedcutct. DaB die Zahlen mit der >Eins<, wenn auch gewiB nicht ohne die >Zwei<, stehen und fallen, liegt auf der Hand. Auch in unserem Text folgt etwas, was dazupaBt, sofern Aristoteles (1218ai5ff.) sagt, daB man das Gute nicht aus den Zahlen ableiten diirfc, sondern aus dem, was jedermann als gut anerkenne, und daB man umgekehrt aus dem Gutscin von O r d nungen (wie Gesundheit oder seelischer Harmonie) alienfalls die Folgerung ziehen konne, daB die Zahlen wegen ihrer Ordnungsstruktur besonders gut seien. DaB die Zahlen zur Eins >streben<, wic anschlicBcnd dargestellt wird, ist cine Metapher, die Aristoteles in gewohnter Manier wortlich nimint (1218a 2 2ff.) 62 . Es k o m m t auch hier fiir meine Absicht nicht darauf an festzustellen, ob das die Sonderlehre eines Platonikers ist. Es bliebe in jedem Falle eine Folgerung aus der platonischcn Lehre v o m Guten und Einen, die uns in unserem Z u s a m m c n h a n g interessieren muB. Das Prinzip des >Ersten<, von dem EE ausgeht, wirdjedenfalls an den Zahlen handgreiflich. Da drangt sich nun die Frage auf: Wenn die Zahlen eme solche Zentralfunktion ausiiben, wie hier unterstellt wird - wie steht es dann cigentlich mit dem Chorismos des Guten? U n d wie steht es mit dem Chorismos der Ideen, wenn die Ideen Zahlen sind? Sind die Zahlen etwa nicht in den Dingen? (Ich vcrweisc wieder auf Phileb. 16d.) Und ist nicht die Eins, die in alien Zahlen als Vielheiten von
61 P A U L Wit PERT, Zwei aristotelische Fruhschnften fiber die Ideenlehre. Regensburg 1949, S. 148-156. 62 Aristoteles sagt hier statt uytittm: *«Atk (vgl. Met. M 3, 1078a3i ff.), doch wohl lediglich, u m tiyaduv hier dem itpttkmi voriubehalten und MiGverstandnisse zu vermeiden. Das scheint mir eine geringe terminologische DifFerenzierung, nut der Aristoteles hier die dem Sprachgebrauch entsprechende enge platonische Verknupfung von liyctddv und KOXOV Rir seine Zwecke modifiziert. Ich wurde also auf die bei DIHLMEIER (zur Stelle) sorgfaltig gesammelten Stellen keine LehrdifFerenz und schon gar nicht eine Entwicklungshypothcse griinden.
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Einsen steckt, in ihncn wirklich >von sich selbst getrennt Wenn m a n die Idccn als Zahlen interpreticrt, wird dicsc aporetischc Formulierung Platos (Phileb. 15b(, crn^y aini[C X^-pk, vgl. Parm. 131b) sofort vcrstandlich. Die Einheit der Eins ist sowohl fur sich als auch >in< den Zahlen. Damit nahcrn wir uns bereits der zweiten Formcl, die erst recht als gut platonisch gelten darf und gerade auch fiir die Idee des Guten bestens bezeugt ist. Es ist die allgemeine Formel fiir die > Teilhabe*, die auch sonst bei Plato von der Teilhabe an den Ideen gebraucht wird. Sie wird hier fur das Gute vcrwendet, das durch seine Anwesenheit Ursache des Gutseins alles Gutseienden sei. Genau diese Formel begegnet zur Einfiihrung der Idee des Guten in der >Politcia< (Rep. VI, 505a). Es wird dort als eine Art evidenten A r g u ments benutzt, daB das Gute der wichtigstc Gegenstand sei (peyiarov padri]ia), weil es alles umfassc. Wir erinncrn uns freilich, daB > Anwesenheit*, >Teilhabe<, >Ahnlichkeit< 63 immer nur Metaphcrn sind, deren begriffliche Einlosung dem jungen Sokrates (im >Parmenides<) nicht gelingen will, als ihn der alte Parmenides in seine sokratische Zange n i m m t . Wenn man die Kritik des Aristoteles an Plato in ihren Absichten und Grenzen verstehen will, muB man dessen standig eingedenk sein. Aristoteles muBte sich dessen bcwuBt sein, wenn er dort das Argument wiederholt, das Plato im P a r m e nides* selber zur A p o n e zugespitzt und ad absurdum gefiihrt hatte: die voile Trcnnung der Ideen von den Erscheinungen. Eine inhaltliche A n t w o r t auf die Frage, was da anwesend ist, wenn etwas >gut< ist, deutet sich noch am ehesten an, wie ich zeigte, wenn m a n die Dreiheit von jiLipov, m'ppripov, dXr/Deq, die im > Philebos* das Schone ausmacht, auf vage Weise als das Einheit gebende Erstc versteht. DaB das Gute lrgendwie das Eine ist, liegt jedenfalls auch implizit im Aufbau der >Politeia<. Die Einheit der idealcn Stadt ist so cinheitlich geordnet, daB weder Zwist noch Storung v o r k o m m e n kann. Auch in der aristotelischen Kritik in der Nikomachischen Ethik ist das iibrigens impliziert. D a wird offenbar vorausgcsctzt, daB Plato das Gute als das Eine gedacht hat, wenn Aristoteles die Pythagoreer ausdriicklich dafur lobt, daB sie das Eine lediglich in die Rcihe der guten Dinge setztcn und mithin nicht, wie Plato, das Eine mit dem Guten glcichsctzten (EN A 4, 10%bs). Ein ncuplatonischcs h ist es natiirlich in keincm Falle. Die Seins- und Einheitsaporetik des >Parmcnides< ziclt vielmehr auf die dialektische Einheit von Einem und Vielcm 6 4 .
Der Ausdruck ojitnoirjc: wird iibrigens auch im Alkimos-Referat des Diogenes Laertius (III, 9-16) bevorzugt, dessen altakademisehe Herkunft GATSFR (in: Zetesis. FS £mile de Strycker, 1 '>73, S.61-79) uberzeugend gemacht hat. 64 Die Platokritik von Met. A 6 fiihrt Plato als Pythagoreer ein und baut ihn in die Apyr'l' Lehre ganz so ein, wie das auch sonst im ersten Buch der >Metaphysiki geschieht. Dagegen fallt Met. A 9 aus diesem Rahmen heraus - und palit umgekehrt bestens in die Disposition
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Kehren wir zu der von uns behandelten Platokritik in der Einlcitung der EE zuruck, so diirfen wir feststellen, daB sie sich u m cine moglichst u n m e t a phorische Darstcllung des mit der Idee des Guten Gemeinten bemiiht: Erstes-Sein unter allem Guten u n d durch Anwesenheit Ursache alles anderen sein, das sind offenbar zwei Aspekte der Methexis-Metaphorik Platos. Das Gute ist logisch Erstes als Prinzip der Zahl. Das ist, wie wir sahen, eine gut platonische Argumentation, die Aristoteles unter dem logischen Terminus wvavaiptiv ofters erwahnt (Top. Z4, 141b2s, Met. K1, 105yb 30 u. o.). Zweitens ist es hochste Anwesenheit (eminent gut) und eben damit Ursache, durch die alles Gute auf dem Wege der Teilhabe gut ist. Was bei diesem zweiten Aspekt auffallt, ist, daB das C h o r i s m o s - A r g u m e n t (das uns angcsichts des platonischen > Parmenides* und seiner entschiedenen Zuriickweisung des Chorismos seine eigenen Sorgen bereitet 65 ) hier nur gleichsam gefolgcrt wird, und zwar dadurch, daB die Idee des Guten mit den anderen Ideen in Parallele gcstellt wird. Offenbar spiirt Aristoteles recht gut, dafi das Gute, das hier sein Gegenstand ist, nicht so ganz in die Rcihe der sachhaltigen Ideen gehort. (Das gilt ja auch am Ende v o m >Sein< selber, und wir erinnern uns, daB die ihm anhangenden obersten Bestimmungcn im >Sophistes< nur in einem uneigcntlichen Sinne >Gattungcn< genannt werden.) So sagt Aristoteles zwar von der Idee des Guten: mi yapxiopian}v civai... uonep mi mctf.U«c {•Setx; (1217bi;). Doch ist das ein fragwiirdiges Argument. Das Gute war ja von Plato als jenseits des Seins aus der Rcihc der Seiendheiten, der Ideen, herausgehoben worden. Aristoteles ignoriert das hier bewufit und gleicht die Idee des Guten mit Nachdruck der allgemeinen Annahme der Ideen an. Offenbar will er die ganze Wucht seiner allgemeinen Ideenkritik, auf die er verweist, auf Platos Idee des Guten fallen lassen (u) mm iorav pij povov ayadov dXXa mi aMov drovovv 1217b2o). Dann kiindigt er als zweites und entscheidendes Argument an, dafi die Idee des Guten fiir die Praxis nicht zu brauchen sei. Es fallt auf, dafi dies Argument spater n u r sehr kurz (1218a34) abgehandclt wird. Bei der Ankiindigung untcrlauft i h m ein merkwiirdig ungeschickter Satz: ci mi onpaXiar' eioiv ai idem mi ayadov iSm (1217b^/i)N u n wird die allgemeine logische Argumentation gegen die Ideenlehre im folgenden zwar nicht wiederholt. Aber cs ist merkwiirdig, daB die besondcder Dublette von Met. M 4-5: aiodrpa — paftripauKV — peyedrj — iSiat — iipif)poi, Wie die beiden Kapitel zusammenpassen und die^TtyM(J/«)<,"-Kritik von A 9 mit der tf/)jty-Lehre von A 6 sachlich zusammenhangt, wird durch diese Beobachtung freilich nicht erklirt. 65 Es mag daran erinnert werden, da 15 der >Parmenides<, der in meiner Argumentation eine Art Eckstein darstellt, nicht allein steht. Der >Sophistes<, der >Philebos< und der >Politikosc legen auf den \ii)'infiPhilebos< wie mit dem >Timaios< in Schwierigkeiten, und vor allem wird das Ratsel der aristotelischen Ideenkritik dann noch dunkler.
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re Frage der Idee des Guten, die n u n behandelt wird, selber ganz auf logischcn Wegen wandelt. Man muB sich fragen, ob diese Argumentationcn nicht in Wahrheit die Son der stellung der Idee des Guten ungewollt bestatigen. Es wird eben die Chorismos-Kritik auf sie nicht einfach angewendct, sondern der Frage eine selbstandige Aporctik gewidmet (1218an). Wir fragen uns also, ob die Kritik, die Aristoteles an der platonischen Idee des Guten ubt und dieoffenkundig nicht mit seiner allgem einen Kritik an der Ideenlehre zusammenfallt, uns nicht etwa die Sondcrstellung bestatigen kann, die die Idee des Guten bei Plato einnimmt. Ja, man kann sich fragen, ob dann nicht die aristotelische Kritik an den Ideen im ganzen in ein anderes Licht riickt - das ihre Tragweitc begrenzt. Miisscn wir am Ende die Ideenlehre immer noch von der sokratischen Frage nach dem Guten aus verstehen, in der Praxis u n d T h c o r i e , praktischc Vernunft und Hingabe an das reine Erkennen, untrennbar sind? So mag einem nicht nur die Kritik des Aristoteles an dem Chorismos der Ideen, sondern auch die an der Idee des Guten merkwiirdig vorkomnien. Die kritischen Argumcntationen in den Ethiktraktaten scheinen die platonischen Dialoge, insbesondere den >Philebos< und den >Pohtikos<, iiberhaupt nicht mehr zu treffen. Wohl aber treffen sie, soweit wir wissen, die pythagoreische Tendcnz der Akademic, die wir ja auch in der >ungeschriebenen L e h r e Platos kennen. Das bestatigt aber mcinen hermencutisdien Einwand, daB Aristoteles in scmer eigenen >praktischen Philosophie< seine Affinitat mit den Spatdialogen Platos durchaus realisicrt hat. Dies nicht gesehen zu haben war die Schwachc der ehemaligcn Entwicklungsgeschichte, die Werner Jaeger konstruiert hat 6 6 . Chcrniss hat auf diesen Tatbestand seine eigenc wirkungsgeschichtliche Folgerung aufgebaut. Er vcrkennt, meine ich, den aristotelischcn Argumentationsstil. Aristoteles laBt hier offenbar bewuBt die logische Argumentation beiseite, die er sonst oft vorgetragen hat und die wir aus den Biichern A und M der )Mctaphysik( kenncn. Prufen wir nun die Argumentation der aristotelischen Kritik in den Ethiken genauer. Da ist zunachst das Kategorienargumcnt, das das Gute mit dem Sein in strikte Parallclc setzt: oim m ih tv n e.oil mpl id tipuprvo (1217b l4 ). Das A r g u m e n t schlieBt naturlich das Fur-sich-Scin der Idee des Guten aus. Aber tut das des Guten nicht etwas zuviel? In der Konsequcnz dieser Parallehsierung lage doch, daB auch fiir das Sein als solchcs (b-u) keine Wissenschaft moglich ist. Offenbar suchen die Nikomacliische Ethik wie M M diese uncrwiinschte Konsequenz zu vermciden. Wenn die Nikomachische Ethik das gleichc Argument gebraucht, redct sie daher nur vom Guten und schlieBt aus, daB es ein Allgcmcines und Eines sei (KOIVOV n xafioXov xni FV 1096a28). Es fallt uberhaupt auf, daB in E N das jK/wflwh'-Sein nur ein einziges 66
Das habe ich zum >Protreptikos< zuzeigen versucht (Ges. Werke Bd. 5, S. 164-186).
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Mai erwahnt wird und mehr als ein Synonym fiir das xoivrj mzqyopovpi'vov (1096b3 2 f )• Die Frage eines KOIVOC Xoyoc steht im Vordergrund. - Die auf das Kategorienargument gcgriindcte Argumentation aus den Wissenschaften, die sich daran anschlieBt, laBt das Wissen des Guten ganz in die Besonderungen der u ' p m vcrschwinden. Damit riihrt Aristoteles in Wahrheit an dicselbe alte Schwierigkeit, die wir bei Plato aufgezeigt hatten, das Wissen des Guten von der Wissensweise der Technc her verstehen zu sollen. Z w a r ist cs gegen Plato gerichtct, wenn die eine Wissenschaft des Guten zuriickgewiesen wird 6 7 . Aber in den platonischen Dialogen pflegte die Parallelisierung des Wissens des Guten mit den r s p m auch zu scheitern. Aristoteles scheint danach nicht so fern von Platos Absichten, wenn er ihn kritisiert. Schwierig steht cs mit dem zweiten A r g u m e n t (1218a|-15). Hier kann der Text von EE nicht in O r d n u n g scin. Es geht darum, daB das Gute kein Gcmcinsamcs und Fiir-sich-Seiendes sein kann (koivov n mi xvptOTOv). Aber der Gedankengang scheint mir nicht einheitlich vollziehbar. Das A r g u m e n t des npozzpav mi i'mepov und seine Illustration an dcu Zahlen kennen wir aus E N . D o r t wird es ausdriicklich als eine platonische Lehre zitiert, daB es von den Zahlen keine Ideen gibt, da es kemc Idee der Zahl geben konne, und dort wird diese eigenc platonische Lehre von Aristoteles kritisch gegen die Idee des Guten gewendet. Angesichts der Vorordnung der Substanz vor den anderen Kategoricn, die zu ihr nur hinzutreten, miiBtc das Gute genau wie die Zahlen von der A n n a h m e einer >Idee< ausgenommen werden. Das Argument: )Gabe es als eigentlich Erstes die Zahl an sich, dann ware die erste Zahl nicht mehr die erste Zahh mii8te analog fiir >das Gute an sich< gclten. In EE A 8 wird das gleiche Argument, das Plato bewog, fur die Zahlen die A n n a h m e cincr Idee der Zahl abzulehnen, vollig korrekt dargestellt. >Das Vielfache* kann nur cin Gcmcinsames und nicht ein Fiir-sich-Scicndcs sein. Daher gibt es hier keme Idee. Das war offenbar Platos Folgerung. Wie wird nun aber hier aus der platonischen Lehre ein Argument gegen die Idee des Guten gewonnen? Der Text sagt es nicht ausdriicklich. M a n muB wohl (wie 1218ai; und a24) voraussetzen, daB das Gute hier als die Ems, also als Erstes in der Reihe der idealcn Zahlen gedacht ist. Dann stimmt das Argument, und nur dann bedarf es nicht des U m w e g e s iiber die Kategoricn. Wic cs keine Idee von den Zahlen gibt, so gibt cs auch nicht eine Idee des Guten fiir sich. Die Eins der Ideenzahlcn kann nicht, wenn erste Zahl einer Reihe, >fur-sichseiendc Idcc< scin. Das ist der E i n w a n d des Aristoteles. Wiebangt das so erganztc A r g u m e n t aber mit dem Folgenden zusammen? Mit dem Gcmcinsamen aller Tugcnden? GewiB geht es auch weiterhin
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EE.-l 8, 12 lSaj: oxo.lfj aizd y? 10 ayadov 8i:uprp>tn paw;. Da?u EN A 4, 1 0 9 6 a i p Svpia IK intoTifotri.
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darum, ob ein All gem eines als ein Fiir-sich-Seiendes anzusehen ist. U n d so etwas steht ja irgendwie in dem verderbten iiberlieferten Text: ci xupujrdv noii\(}FAt nc 10 KOIVOV (1218a(>). Das ist ein von Skepsis erfiillter Potentialis. Aber er leitet ein ganz anderes A r g u m e n t ein, eben die Hypostasierung des Guten als des Gemeinsamen aller Tugenden. Die reine Induktion fuhrt von Gercchtigkeit (ovKaioovv>i) und Tapferkeit (avftpda) auf ein gemeinsames Gutsein. Das ist ein Argument, das in M M A 1, 1182b 3 i in logisch klarem Aufbau begegnet (als das MF ENA)~C}IFV KOIVOV). Danach ist das Gute zunachst nichts als der gemeinsame Logos. U n d nun nennen die Platoniker es >es selbst* (avid) und miissen damit >cwig< (mdiov) und >fur sich* (\^pies selbst*, dann >fiir sich* und dann nicht >gemeinsam*. Denn das Gemeinsame k o m m t nicht einem besonderen, sondern alien Einzelnen zu (EE 1218a] 5 = M M 1182b(3). Wenn man nun bedenkt, was alles dafiir sprach, daB auch Plato selbst kcine andere Anwesenheit des Guten im Auge hatte als die Anwesenheit des Guten in alien guten Dingen, dann scheint der SchluB von dem atSiov auf das Fiir-sich-Sein mindestens sehr irreftihrend: Er spricht mehr cine in Aristoteles' Augen unvermeidbare Konsequenz als die platonische Intention aus 6 8 . Ahnliches scheint mir auch von dem Fortgang zu gelten, Aristoteles kritisiert dort die Beweisfiihrung aus den Zahlen, weil das Gutsein (Schonsein) der Zahlen allenfalls aus dem, was zugestandcnermaBen gut sei, etwa Gerechtigkeit und Gesundheit und der ihncn eigenen Ordnungsstruktur, gefolgert werden konne, aber nicht umgekehrt. Lassen wir die kritische Absicht auBer acht und betrachten das platonische Argument in sich: >Das Gute* begegnet in den O r d n u n g e n und Zahlen. Getrennt von ihncn? Ist die Einheit der O r d n u n g von der O r d n u n g selbst abgctrennt? Das gibt doch keinen Sinn. Auch in der Mythologie des >Timaios* ist von der Weltscele, der die B e w e g u n g s o r d n u n g des Universum folgt, als von einer in reinen Proportionen verfaBtcn H a r m o n i e die Rede und nicht v o n der Eins als dem Guten. An unscrcr Stelle (1218a3o) haben wir freilich das Streben aller Zahlen nach der Eins. N u n ist das cinc bloBe Metapher, und Aristoteles macht cs sich in bekannter Weise leicht, wenn er diese Metapher vom Streben der Zahlen wortlich n i m m t u n d dann in den Zahlen die Seele vcrmiBt. Aber wofiir steht die Metapher eigentlich? Wirklich fur das Fiir-sich-Sein der Eins? Die Zahlen sind Einheiten von Einsen. In ihnen ist das Prinzip, eins zu sein, generativ. Sie folgen alle d e m Prinzip des n+1. Das ist aber offenbar der einzigc Sinn des Seins der Eins, so wie es der einzigc Sinn des Eins-Scins der 68
Die von R A S S O W und S U S E M I H L A I 4 eingesetzte Erganzung ist vielleicht unnotig. Als eine aristotelische Ausdeutung des aino stellen aiHioy undgiipwiov eine Einheit dar, und das Argument zielt nur auf eine Unvereinbarkeit mit dem xwvoi'-Sein.
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Weltordnung ist, die eine O r d m m g zu sein. Das k a n n Plato n u n so ausdriikken, als ob die Welt bestrebt ware, den reinen Zahlen verhaltnis sen so nahe wie moglich zu k o m m e n , u n d als ob die reinen Zahlen u n d MaBe, die die O r d n u n g des All ausmachen, ihrerseits angestrebt wiirden. Wegen dieser B e w e g u n g auf sic hin w i r d offenbar die ideelle O r d n u n g m i >Timaios< Weltseele genannt. In diesem metaphorischen Sinne ist zu verstehen, daB nicht n u r alle Zahlen, sondern alles Seiende nach d e m Einen und Guten strebt. Abcr daB ein jedes nach seinem Guten, seinem eigenen MaB strebt, wie EE 1218a 3 t einwendct, wiirde Plato gewiB nicht als E i n w a n d e m p f u n den haben. In der mythischen Sprachc des >Timaios< sieht das so aus, daB die sich b e w e g e n d e n Gestirne eine Vorschrift zu befolgen haben I id n p o a r a ^ i v spadsv T i m . 38e,-). U n d was tut Sokrates im >Philebos< anderes, als gerade diese Frage stellen? Es ist doch die Sonderstcllung des Menschen im Reichc der Lebendigen, seine A u s s t a t t u n g mit Vernunft, a u f g r u n d deren der Mensch seine gute Wahl zu treffen hat. Es ist insofern eine kiinstliche Schwicrigkeit, die Aristoteles d u r c h die bewuBte Wortlichkeit seines Vcrstchens aufbaut. Es sind kiinstliche dialektischc >Aporien? (1218a 13 ). Sie sollen die eigenc Losung vorbereiten. >Das Gute selbst', ein >an sichGuteSf, kann es nicht g e b e n - e s sei denn im Funktionssinne des ILXOI; b z w . des ov htKa, was 1218b2o als Resultat h e r a u s k o i n m t . Die A r g u m e n t e des Aristoteles beruhen darauf, daB er die metaphorischen A u s sagen Platos wortlich n i m m t u n d auf die eigene aristotclische Begrifflichkcit bczicht. Das heiBt abcr: sie treffen nicht Platos Intentionen. Dagegen e n t spricht seine eigene Lehre von der npaaipvou; sehr w o h l Platos Intentionen. So steht als die eigentliche Frage zur Diskussion: Wenn die Idee des G u t e n >das G u t e selbst* ist, muB dieses alien?, was gut ist, g e m e i n s a m sein. A b e r was heiBt das? HeiBt das am Ende, daB >es selbst< gar nichts anderes ist als das allem Gemeinsame? O b cine derartige A u s d c u t u n g der Lehre von dcr Idee des G u t e n , daB sie nichts als das KOIVOV meine, v o n liberalen Platomkern etwa vertreten w o r d e n ist oder ob sie gar dcr eigentlichen Intention Platos entspricht, ist f u r die aristotclische A r g u m e n t a t i o n belanglos. Fiir uns k o m m t es aber darauf an, daB jedenfalls die Frage, was das G e m e i n s a m e ist, auch fiir Aristoteles etwas Unausweichlichcs behalt. Das bestatigt sich auch dadurch, daB seine eigene positive A n t w o r t (1218bi2): id T/AOC IWV DVDPIIINZC npaKiwv dadurch vorbereitet wird, daB er ausdriicklich auch ov npaxid, ja sogar die dKiv/pa e r w a h n t , u m sic auszuschliefien (I218b4ff.). So ist es also eine Art E i n e n g u n g der Frage des G u t e n auf das npamov, was der Ethik ihre G r u n d l a gen verschafft. Innerhalb der >praktischen< Problematik ist die Frage, was gut u n d zugleich eins u n d emend ist, leicht beancwortet u n d t n t t in alien drei Traktaten als die glciche A n t w o r t auf: das W o r u m w i l l e n (id ovevSKa). Das ist jeweils >das Gutc< u n d faBt das zu diesem Z w c c k c Bcitragende, also die Mittel, unter sich z u s a m m e n . Aber was so f u r das menschliche H a n d c l n
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jeweils das Bcste ist, ist klarerweise immer em anderes, kein gemcinsamcs fiir alJe oder gar fur alles Seiende uberhaupt. Hier handelt cs sich eben nur um das StptOTov iwv npoKiwv. So klar das ist, bleibt es eben doch cine sinnvoile Frage, wie sich solches >praktisch Beste* zu dem >Besten von alletn< verhalt. Mit einer dahin ziel enden Frage endet nun tatsiichlich der Text, der in der Eudemischen Ethik die Kritik beschliefit: okctiieov, //ooax^i v> apioiov navmv (1218b2ft). Den korrupten Text habe ich in A n m . 59 behandelt und hoffe durch die Analyse des Argumentationszusammcnhangs iibcrzcugend gcmacht zu haben, daB die Wendung nooa^&c ~io apiorov nnvrwv nicht wegkonjiziert werden darf. Sie hat in dem von 1218b4 ihre Entsprechung. Die Frage ist dort vorbcreitet u n d wird an unserer Stelle wohl nur in der Absicht gestellt worden sein zu zcigen, daB das praktisch Gute, obwohl es nur einen cngeren Bereich betnfft, auch ein >Bestes von Allem< heiBen kann. Aber das andert nichts daran, daB die allgemeinere Frage als cin unausgeflihrtes Fragczcichen hier im Text steht. N u n smd wir zum Cluck nicht auf die unzuverlassige Grundlage des Textes der EE allein angewicscn. Die beiden anderen Traktatc bestiitigen, daB der Ausblick ins Allgemeine immer naheliegt. Wenden wir uns vorerst zu den Magna Moralia {A 1). Hier fallt zunachst auf, wie die Argumentation mit der >Arete<-Fragc cinsetzt. Dann aber geht sie auf die >Agathon*-Frage iiber, und es ist klar, daB damit die platonische Fragestellung aufgenommen wird - freilich, u m alsbald auf das >fiir uns Gute<, den einzigen und hochstcn Gegcnstand der >Politik*, eingeschrankt zu werden. Es bleibt aber bemerkenswert, wic der Begriff des < Agathon* und die Vielfaltigkcit seiner Bedeutung als allgemeiner Lcitfaden weiter fcstgehalten wird. Damit mag zusammenhangen, daB der Ausdruck fiir das eingcschriinkte Thema, der fiir E E und E N charakteristisch ist, namlich npaxibv ayaflov, in M M uberhaupt nicht auftntt. So fragt man sich geradezu, was die Einschrankung auf das fiir uns Gute hier eigentlich besagt. Sic wird in der vagen Abhebung gegen das >fur den Gott Gute< eingefiihrt, diekeine universal-ontologischen oder teleologischen Anklange weekt. Dann wird innerhalb dieser Reduktion auf das fiir uns Gute crncut unterschiedcn: ndAtv 0£ vai IOVTO oir.lt iv Set (1182b 6 ). Was so zu unterscheiden ist, sei cin weiterer Doppelsinn, namlich einerseits, das Allgemeine zu meinen (das hier w xmvth- heiBt), und andererscits, die >Idec des Gutcn< zu sein. Das sind zwci Ausdeutungcn des >Gutcn<. Die eine meint cin In-Sein im Einzelncn, die andere Tcilhabe des Einzelnen: rj id aptazov ev iKdom nl'v oviu v I} ov tuXka p.e.Taoxbna (1182bg)- Beides scheint innerhalb des Rahmens der Politik, das heiBt des >fiir uns Guten,, angesetzt, aber mindcstens im Falle der Ideenlehre wird dieser Rahmen gesprcngt, und in beiderlei Sinne wird >das Gute* als unhaltbar abgelehnt. Diese Alternative in der Ausdeurung >des Guten* finden wir nicht einmal in EE. D o r t wird dem Gemeinsamen i m m e r ausdriicklich das Fiir-sich-Sein
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zugcscllt. Hier dagegen w i r d >das Gute* als das KOIVOV iv anamv vnapyov (1182b] i) eines jeden Einzelnen auf einleuchtcndc Weise von dem Fiir-sichScin, das m i t der Idee des Guten gesetzt ist (x^ptoiov Kai avid xaiV avid 1182b]3), gcschicden u n d meint lediglich die logische Allgemeinheit der G a t t u n g . Sie w i r d nach den beiden Moglichkeiten der defmitorischen u n d der induktiven B i l d u n g des Allgemeinen behandelt, u m auf beide Weise zuriickgewiesen zu w e r d e n . O f f e n b a r wird das Gute, das hier als >allgemein< (KOIVOV) erortert w i r d (1182b 2 o heifit cs dafiir xadoXov) u n d dessen Definition das aim Si' avid aipnov ist, durchaus im thematischcn Z u s a m m e n h a n g der Politik, das heiBt als das >fur uns Gutc< vers tan den. Wir kennen das als eine platonische Definition aus der >Politeia* (Rep. II, 357b) u n d aus der ausfiihrlichcn Kritik 111 E N A 4 an der ibm. D o r t ist es als der Hinblick des Wahlens u n d Vorziehens (pin iSf'a) vcrstanden, der alien Menschcn g e m e i n s a m ist. DaB da auf der einen Seite D e n k e n u n d Sehen (fpoviiv xai dpav) und auf der anderen Seite gewisse Freudcn (^Sovai ma; 1096b]7) genannt w e r d e n , paBt ausgezeichnct z u m (Philebos*, w o ja ausdriicklich gewisse Freuden zugclasscn w e r d e n . DaB an unsercr Stcllc o b e n drein auch noch >Ehrcn< genannt werden, entspricht der alten Lehre von den drci Lcbensidealen u n d m o c h t e sich hier fiir Aristoteles ganz von selbst hinzugesellen, w o cs u m d a s T h e m a der Politik geht. A11 der bewuBtcn Beschrankung der Frage nach >dcin Guten< ist also auch in M M nicht zu riitteln. Ebenso halt sich die Illustration des im induktiven Vcrfahren g e w o n n e n e n B c g n f f s >des Guten< in diesem R a h m c n , sofcrn es die verschiedcncn apnai sind, die da als gut bcgcgncn. Dieser erste Teil der G e s a m t a r g u m c n t a t i o n weist also nicht auf den von uns anvisierten Z u s a m m e n h a n g des ayaftov und des ov hinaus. I m m e r h i n w i r d im Rcsiimcc die Spezifizierung auf das >fiir uns Gute< ausdriicklich markicrt: 1183a7, u n d noch ausdriicklicher mit der Klimax: im:p IOV dyadov apa, Kai vnsp zov apimov Kai imip wv ippxv apioiov a 2 3. So wird der allgemeine Z u s a m m e n h a n g mit >dem Guten* im BewuBtsein gehalten. In der Diskussion des Idecnbcgriffs u n d seiner Implikationcn gcschicht das noch dcutlichcr. D e n n o f f e n k u n d i g wird die A n n a h m e eines >Guten an sich< aus der allgemeinen B e g r u n d u n g des Idcendenkens abgeleitet, w o n a c h das, was etwas am meistcn 1st, jcwcils >cs selbst* bedeutet (paXima ... airo). Das findet sich hier auf >das Gute* a n g e w a n d t , u n d dieser A r g u m e n t a t i o n w i r d , wie das cingangs schon c r w a h n t w u r d e , sogar eine gewisse Wahrheit zuerkamit, die n u r f u r die Politik als belanglos abzuweisen ist. Vollends spielt die F o r m dieser Z u r i i c k w e i s u n g in die allgemeinere Problematik hinein, die mit der allgemeinen Idcenlchre anvisiert wird. Wenn es da heiBt, daB es sich eben i m Bcreich der Politik u m eine Klasse v o n >Gutern< handelt, fiir die die Idee des G u t e n keine ihnen wirklich zugehorige >Arche* sei, so wird diese als solche damit nicht bestritten, so wenig etwa die Lehre v o n der
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Unsterblichkcit der Seele dadurch bcstritten w i r d , dafi m a n sagt, sic gchore nicht in einen mathematischen Z u s a m m e n h a n g 6 9 . DaB es sich hier iibcrall u m die spezicllc A n w e n d u n g einer allgcmeincrcn Problematik handelt, w i r d vollends aus der weit allgemeiner klingenden Ausdrucksweise deutlich. Wenn hier Ausdriicke gebraucht w e r d e n wie i'ua itfv itviuv ipimv aipcivv (1182b.,), was auf ev tmom libv oviwv (b«) zuriickweist, so lieBe sich das sehr leicht im Sinne einer universalen Teleologie verstehen, wie sie ctwa in E E A 8, 1218a3() anklingt, w o die E n t s p r c c h u n g zu E u d o x o s ' Lehre o f f e n k u n d i g ist. In M M w i r d freilich solchen allgemeinen Perspektiven nicht eigens nachgcgangen, auch w e n n die F o r m u l i e r u n g e n dazu gcradezu einladen u n d in der Ideenkritik ein so allgemeiner Begriff wie zd votjzd begegnet, bei dem m a n gewiB nicht in erstcr Linic an den praktischen Bereich denkt. Vielmehr liegt da die Anspielung auf die Zahlen auf der H a n d , die im Text (1183a24) j e d o c h nicht ausgesprochen w i r d , D e r Text redet vielmehr n u r von >Idee<. D o c h handelt es sich u m das gleiche m e t h o d i sche A r g u m e n t , bei dem E E 1218a 16 die Zahlen ausdriicklich als das nicht allgemein zugestandene Gute genannt w e r d e n . Die E n t s p r e c h u n g zeigt also, daB unausdriicklich M M iiber die Problematik der praktischen Philosophie ebenfalls hinausweist. U m so dcutlicher ist n u n die >ontologische< P r o b l e m a t i k >des Guten* in E N . Z w a r ist auch hier die >praktische* Nutzlosigkcit der Idee >dcs Gutcn< das H a u p t a r g u m e n t , in dem alles gipfelt ( A 4 , 1 0 9 6 b M f f ) . Aber wieder schlieBt selbst die Widcrlcgung die A n e r k e n n u n g der Frage ein. Es heiBt ausdriicklich: ei yap KUI (OTIV&V zt id xoivfi Kazr/yopovpi'vov dyaftuv ?} jfapi/zzdv avzo u Kail' avzo. All die logischen A r g u m e n t e gegen das g e m e i n s a m e Gute xaza piav iiieav (1096b 2 s), das K a t e g o n e n a r g u m e n t s o w o h l als das m e h r auf die platonischen U n t e r s c h e i d u n g e n des Kai)' aim aipttdv eingehende (l()96b y ), beweisen gleichsam u n a n g e n e h m viel. So kann es n u n auch wieder nicht sein, daB >gut< eine pure >Aquivokation<, ein bloBcr Zufall des gemeinsamen Wortcs fiir vollig Verschiedenes ware. So fallt sich Aristoteles gleichsam selbst in den A r m . Wcnnglcich er auch hier cin Eingehen auf das Problem des G e m e i n s a m e n im Gebrauch des Wortes >gut< aus der Ethik verweist, deutet er doch zwei mogliche A n t w o r t e n an. Die eine ist: der gefragte gemeinsame Sinn v o n >gut< k o n n t e als >von Einem her< abgeleitet gedacht werden, bzw, so, daB alles (sc. was gut ist) zu Einem >beitriigt< (ovvirXt iv). A u c h w e n n der Ausdruck nicht ganz u b e r e i n s t i m m t , k a n n es doch kein Zwcifel sein, daB Aristoteles damit auf die in Met. F 2 cingangs cntwickclte, spater >Attributionsanalogie< genannte logische Struktur anspielt. Die Viel-
60 Im Text von 1183b7 hat DlRI MEIER das on'i iiberzeugend verteidigt. Im Fortgang scheint mir die einfachste Heilung: OVK m-xrAriv t'ipx>lv elvai lovmv uifadov.
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fait des Smncs von >gut< meint nicht nur, daB die Mittel gut sind, wenn der Zweck gut ist, wic dcr Ausdruck owuXtiv nahelegcn konnte, Der Ausdruck muB offenbar im weiteren Sinne, gleichsam als tbeitragend zu cinem gemeinsamen Bedeutungsfelde* verstanden werden. Dies n/XK ev entspriclit also ganz dem dip' hoq. So wird Met, I '2 npbc ev bzw. npdqpiav dpyrjv gesagt 7 0 und das Beispiel >gesund< gegeben, das dem Menschen, seiner Gesichtsfarbe, einer Medizin usw. z u k o m m c n kann. In dieser Weise vieldeutig konnte das Wort >gut( auch sein. Das wiirde ein bevorzugtes Erstes voraussctzcn, wie es in der aristotelischcn Kategorienlehre durch den Vorrang der >Substanz< gegeben ist. Angesichts der Bedeutung, die die Vorordnung dcr Substanz fiir die aristotelischc Mctaphysik besitzt, und insbesondere im Hinblick auf dicTheologie des ersten Bewegers, dcr innerhalb der O r d n u n g der Substanzen abermals das Erste ist, mochte m a n erwarten, daB Aristoteles auch hier, wenn er die Vielfalt von dyaddv verstehen will, einer solchcn attributiven Bezichung (Analogia attributiva) den Vorzug gibt. Der Gott oder N o u s beides erscheint als Beispiel von >Substanz< im Kategorienargument 1096a24 - ware dann das i s u m m u m bonum<, das den >Terminus< der Attribution bildet. Der universal-ontologische Sinn >des Guten< wiirde mit der aristotelischen Gotteslehre bestens zusammenpassen. Auch der >theologischc< ScbluB der EE lieBe das gleiche erwarten 7 1 . U m so iiberraschender ist cs nun, daB der Text fortfahrt: >odcr clier nach der Analogic* (?j palkov «ai' dvaXoyiav 109f)b2si) und an eineni Beispiel vcrdeutlicht, daB damit die rcinc Selbigkeit der Verhaltnisse, also eine proportionale Analogie gemeint ist, in der es auf keine Vorordnung des einen vor dem anderen a n k o m m t und wo somit kein > Terminus* gegeben ist. Auch diesen Begriff dcr Analogie kemien wir aus dcr Mctaphysik des Aristoteles aus anderen Zusammenhangen. Im Unterschied zu der spatcren, vor allem der scholastischen Tradition, die in Cajctans beriihmter Abhandlung >De n o m m u m analogia* zusammengefaBt ist, heiBt nur dies bei Aristoteles tAnalogies Es ist selbstverstandlich, daB Aristoteles an unserer Stelle auf diese allgemcinc Frage nicht naher eingeht. Die ganze Frage nach dem gemeinsamen Sinn von >gut< gchort ja in die Metaphysik und uberhaupt nicht in die praktische Philosophic. U m so mehr ist es iiberraschend, daB trotzdem hier in der Nikomachischen Ethik die reine Verhaltnisgleichhcit mit Vorzug crwahnt wird. Hatte es nicht weit naher gclcgcn, der anderen Moglichkeit, d e m attributiven Verhaltnis, den Vorzug zu geben und damit der vagen Frage eines hochsten Guts, des apimov ndnwv, wie sie in EE A 8, 1218b26 anvisiert schien, Gcniigc zu leisten? 70 71
Wo bei das npvs'ev als ein Spezialfall des allgemeinen Kad' i\< Xcycu&at bezeichnet wird. M M A 1, 1182b5 freilich bezeichnet die Frage nach dem Guten des Gottes als iiXXoyna
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N u n sehen wir freilich Aristoteles oft auch sonst nicht ganz entschicden, wie uberhaupt die deskriptiv-analytische Sorgfalt, die ihn leitet, ihn oft hindcrt, sich seinen - oder gar seiner Interpreten —konstruktiven Intcntioncn zu unterwerfen. Das gilt, wie ich oben S. 201 erinnerte, selbst fiir die Metaphysik — wicviel mehr fiir die Zusammenhange zwischen theo red seller und praktischer Philosophie und innerhalb der praktischen Philosophic fur das Verhaltnis des politischen und des theoretischen Lebensideals oder auch der politischen Wissenschaft und der politischen >Klugheit<, auf die wir noch eingehen werden. Manchmal scheint es, als ob Aristoteles die Analogiestruktur bevorzugt, weil sie seiner deskriptiven Vorsicht besonders entspricht. Auch in thcorctischcn Zusammenhangen neigt er zur analogisierenden Denkweise. Offenbar dient sie ihm dazu, die Hypostasierung des Allgemeinen oder Gcmcinsamen zu vermeiden. So ist das aXlo nXXov geradezu ein antiplatonisches Stichwort. Man denke an Buch A der 'Metaphysik*, w o Aristoteles in langen Ausfiihrungen den rein analogischen Charakter der >Ursachen< behandelt (Kap. 3 u. 4) und das Ganze gegen die konstruktive Ableitung aus einem Ersten abgrenzt, so daB es einigermaBen uberraschend wirkt, daB am Ende trotzdem die Vorordnung des ersten Bcwcgers herausspringt. Wenn er in der E N die reine Analogiegleichheit ausdriicklich bevorzugt, klingt das auch so, als finde er sie ausreichcnd, u m die teleologische Weltordnung im ganzen, dies P r o g r a m m des >Phaidon<, das in gewisser Weise auch das seine ist, begrifflich zu formulieren. Ahnlich stellen sich bei Plato die drei groBen Ordnungsbereiche Seele, Staat, Welt in ihrer Analogie dar, und das Gute erscheint in ilinen als das Einende, Einheitsstiftende, Eine. Aristoteles hat in dieser Hinsicht Platos Weltansicht ohne Zweifel geteilt. Auch wenn seine eigene /Wissenschaft' v o m Ganzen auf dem ganz anderen Grunde seiner >Physik< ernchtct ist und nicht auf einem solchen mathematischen Harmoniebegriff >des Guten<, kann er doch das platonische Problem als solches nicht ignoriercn. An unserer Stelle der E N klingt das durch: Wic ist >das Gute* als das Gemeinsamc zu denken? Vielleicht wie das >Sein< (TO ov), das in vielfaltiger. kategorialer Differenzierung begegnet und dennoch bekanntlich den Gcgcnstand einer hochsten Wissenschaft bildet? In der Tat ist cs im Z u s a m m e n h a n g der Ersten Philosophie, daB Aristoteles die >reine Analogie* ins Spiel bringt. Met. /I 3 - 4 w u r d e schon erwahnt, H 4 gehort dazu, und wenn m a n darin die andplatonische Wendung nicht verkennen kann, so bleibt es doch eine A n t w o r t auf das platonische Problem des Guten und des Seins. Es fallt auf, wie sehr die platonische Problematik der allgemeinen Scinsdialektik, insbesondcrc die des >Sophistcs< und >Parmcnidcs<, in manchen Partien der >Metaphysik< des Aristoteles durchscheint, so in dem Aporien-Buch 11 und in Buch F. Wenn man sicht, wic dort nach dem Sein gefragt wird u n d wie das >Agathon< in Platos >Politcia<, im >Philebos< und indirekt auch im >Timaios< begegnet, dann s p n n g t die Identitit des Pro-
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blems ins Auge, und der Gedanke der Analogie bietet sich an. Was Aristoteles an der platonischen Philosophie ablchntc, war nicht die O r d n u n g s s t r u k tur des Ganzen als solche, sondern die Ableitung derselben aus dem fi und der ontologische Primat, der dabei der Mathematik zufiel. Diese Mathematisierung, die cine auf Analogicn aufgebautc Welt darstellen wiirdc, war ihm besonders durch Spcusipp reprascntiert. Aber natiirlich steht Platos Zahlen- und Einheitslehre dahinter. Es ist ja nicht nur der aristotelische Bcricht in Met. A 6 iiber die zwei Prinzipien der Eins und der unbestimmten Zwei, aus denen wie alle Zahlen, so auch alles Seiendc iiberhaupt abgclcitet wird. Das gleiche sagt die Lchrc von >Pcras< und lApeirom. die der >Philebos< bringt, und diese Kombination des AristotelesBerichts mit dem >Philcbos< wird durch das oben schon hcrangczogene Porphyrios-Zeugms gestiitzt, wonach Platos Vorlesung iiber das Gute, die dem Porphyrios offenbar in der Originalfassung der aristotelischen Nachschrift vorlag, nur v o m >Philebos< aus verstandlich wcrde. DaB die Zahlstruktur die Seinsstruktur sei, stellt somit fiir Aristoteles den kritischen Punkt dar, an dem ihm Plato allzusehr Pythagoreer geblieben war. Das heiBt aber nicht, daB sich Aristoteles nicht selbst der >metaphysischen< Frage nach idem Guten* und >detn Besten< scincrseits stellen muBte. Die Frage ist vielmehr in der Frage nach d e m Sein bei ihm stets mit impliziert. N o c h am SchluB seines groBen uberblicks tiber das Ganze, den Met. A gibt, formulicrt cr es als eine Alternative, wic die N a t u r des Ganzen eigentlich das Gute und das Beste enthalte, ob in Gestalt eines besten Seienden oder in der O r d n u n g des Ganzen. Da nun kann er der Konscquenz nicht ausweichen, die in dem ontologischen Primat der Physik und der tpvosi ovza gelegen ist. Offenbar geht es Aristoteles um die einheitliche Bewegungsordnung des Universum, die cr gegen mathcmatischc Harmonicthcorien im pythagoreischcn Stile des Speusipp verteidigt. Anders gesprochen: Es geht ihm um den Vorrang der Physik gegeniiber der Mathematik, der auch hinter seinem bekannten Vorwurf gegen die Akadcmic steht, man habe dort die Philosophie ganz zur Mathematik gemacht. So spielt er in E N A 4 polemisch auf Speusipps Pythagoreismus an, und in Met. A 10 lehnt er eine rcinc Analogiestraktur des Universum in offcnsichtlichcr Polcmik gegen Speusipp mit dem bekannten Homer-Zitat ab: »Einer soil Herr sein« (1076a 4 ). Damit entschcidct er gegen eine bloBe O r d n u n g fiir ein fiir-sich-seiendes Gutes (Keyvpiofievov n nyadov), wenn er auch das Gutseinjedcr O r d n u n g sichcr nicht in Abrede stellen will. In seinen Augen kann aber das Erste, das er postuliert, nichts Mathematisches sein, also nicht die Eins, sondern cs muB ein Bcweger sein: uc ib KIVOVV nam. Wenn alles auf dieses Erste hingeordnet ist, ist das wirklich >das Beste von all em < (rd Spurt ov naviicv) und als das hochste Sei ende zugleich die Erfiillung des Sinnes von >Sein<. So setzt Aristoteles das platonische Erbe, das die Frage nach >dem Guten. darstellt, auf den Bodcn der
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Physik u m und entwickelt von da aus seine Lehre v o m >Sein< in der Form eines Analogicbcgriffs, der einen obersten Terminus hat. Die >reine< Analogie kann das nicht leisten. Sie bliebe der >platonischen< Ideenmathematik zu nahe. Ein paradoxes Resultat: Nicht der C h o n s m o s Platos lebt in der aristotelischen >Theologie< fort. Im Gegenteil: Die Ontologie der ipvon ovca und das Bevvegungsganzc, das sic sind, notigt Aristoteles ; zu einem >Chonsmos<, der iiber Platos mathematisierende Deutung der Jcnscitigkcit des Guten hinausgcht 7 2 . U n d doch ist das nur em schembares Paradox. Es lost sich auf, wenn man beachtct, welchc wcsenthche Funktion mythische Rede bei Plato besitzt. So besteht die Funktion des »Meistermanns« stets darin, den Abstand zwischen den Ideen (und Idccnvcrhaltnisscn) zu dem einmalig Kontingenten zu schheBen. Er ist ein Meister. Das aber heiBt, sein Wcrk ist cin vollcndetes Werk. Der Meister, der cin vollcndetes Werk schafft, macht nur dieses eine. Das wenigstens gilt von dem Demiurgen, der die Welt schafft, wie es Timaios schildcrt (Tim.31a) 7 S . Damit verliert das Kontingente seine Kontitigenz, denn es ist einzig in seiner Art. Das ist fiir uns ohne weiteres verstandlich, wenn wir an die Art von vollendetem Werk denken, die wir em >Kunstwerk< nennen. Da ist das Einzelne in seiner Einzigkcit ein Allgemeines. So kann Aristoteles sagen, die Dichtung sei philosophischer als die Geschichtsschreibung, eben weil sie im Einzelncn das Allgemeine zur Aussage bringt (Poet. 9, 1461b 5 ff). Es ist interessant zu sehen, wic auf diesem Wege iiber die Schopfungstheologic cin gricchisches A r g u m e n t fiir die Einzigkcit von all dem gilt, das wir >schopfeiisch< nennen. Man versteht von hier aus, mit welchem Recht Aristoteles in seiner Untersuchung von uaoirjjirj, w j i t / , i-ppovrjou; und ooxpia ( E N Z 3 f f . ) den Sprachgebrauch akzeptieren kann, wonach ooyoc sowohl der Theoretiker heiBen kann, wenn er iw'that, der der ap^al gewahr ist, - und ein Meister wie Phidias. Beide lassen sich nicht von bloBer Regelbefolgung aus verstchcn, 72 Die wichtige A n m e r k u n g bei PmUP M E R L A N , Zwei Bemerkungen Z U M aristotelischen Plato (in: Rhein. Mus. N . F. I l l [1968], S. 15) verdienr Beachtung. Merlan sah dort zwischen der .Eliminierung derTranszendenz der Ideen in den aristotelischen Kritiken und ihrer Ersetzung durch die I'ranszendenz des Ersten Bewegers einen unuberbriickbaren Gegensatz. N u n glaube ich, den Zusammenhang beider Tendenzen gezeigtzu haben. Das Verhaltnis der intelligiblen StrLikturen zu dem konkret Besonderen bleibt fiir Plato em nur mythisch-metaphorisch beschreibbares. Dieses Verhaltnis stiftet der Demiurg zwischen beiden. Will man nun, wie es Aristoteles will, das metaphonsche Reden vermeiden, tnuLi die >Transzendenz* mit dem von Natur Seienden, den qvoei mm, in einem Bewegungszusammenhang miteinander stehen - und daraus folgt ein selbstandig Seiendes, der ounbewegte Bewegergott«. 73 Vgl. dazu auch meine Ausftihrungen in >Uber das Gottliche im friihen Denken der Gnechem, Ges. Werke Bd. 6. S. 160f., sowie in >!dee und Wirklichkeit in Platos >Timaios«, ebd. S.248f.
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beide be wegen sich nicht in Annaherung, sondern besitzen vollendetcs Wissen 74 . Ebenso ist es mit dem Konnen, einem Herstellen, dem es immer gelingt.
V. Die Idee der >praktischm
Philosophies
U m so dringender stellt sich die Frage, w a r u m Aristoteles hier, in E N A 4, glcichwohl der blofien Analogiestruktur fiir die Frage nach dem Guten den Vorzug einraumt. Der Grund, der sich sogleich anbietet, konnte sein, daB ihm die Konsequenz u n w i l l k o m m e n ware, die in der vollen Parallelisierung mit dem fipdq sv Xeysodm lage. Solche attributive Proportionalitat begriindet namlich in Met. r gerade die Zustiindigkeit ein und derselben Wissenschaft fiir den ganzen Bedeutungsbereich von )Scin*. Das ist im Beispiclfall die Medizin: Kabdnip Kai iwv vywiraH' dnmiuv pta inuni/pt/ amv (Met. r 2 , 1003bj i). Wo alles wie auf ein Ende hin zusammenlauft, ist eine einheitlichc Wissenschaft imtner denkbar. So muB man offenbar das P r o g r a m m einer formalen Ontologie, das in Met. r ausgcarbeitet wird, nach diesem Schema denken, wenn auch andererseits der Z u s a m m e n h a n g mit den Substanzbuchcrn und mit der Theologic von Met. A dunkel bleibt. Das Argument der jattributiven* Analogic gibt jedenfalls in bezug auf die gesuchte erste Wissenschaft v o m >Scin als solchen< einen guten Sinn. Bei der praktischen Frage nach >dem Guten; ware ein solcher Anspruch aber unsinnig. Als ob es Sachc derselben Wissenschaft ware, den guten M o m e n t fiir einen chirurgischen Eingriff zu erkennen oder das gute Zeichen zu werten, das einem am Abendhimmel gutcs Wetter verhciBt. Das cine ist Sachc der inedizinischen, das andere der meteorologischen Wissenschaft usw. Es hat also seinen guten Grund, daB Aristoteles hier der reinen Analogie den Vorzug gibt. Fiir die praktischc Philosophic hat eine dem Schema der Medizin cntsprechende Wissenschaft vom >Guten iiberhaupt*, wic sie fur die Wissenschaft v o m >Sein iiberhaupt* sinnvoll ist, keinc Bedeutung. Die Parallelisicrung mit dem Wissen v o m Sein als solchen geht nicht an, solangc es sich lediglich um die Struktur der menschlichen Praxis und des >praktischen< Wissens handelt. Sei es als technischcs, sei es als praktisch-politisches Wissen, bleibt das Gute auf die Bedingungen menschlicher Praxis cmgeschrankt. Von einer universal en Tcleologie ist die >praktische< Vernunft ganz abgeschiedcn. Fiir Aristoteles' Absondcrung der praktischen Philosophie ist cs der entscheidende Punkt, daB das, was so in theoretischer Hinsicht als >gut* begegnet und die Unveranderlichkeit des Sems meint, etwas andercs ist als das Tunlichc, auf 74 Vgl. die Einfiihrung des nn./ix uber den Begriff des /jc/.LUn1 fiiVirn bei Aristoteles in Met. A 1 und 2.
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das die praktische Verniinftigkeit des Mcnschen ausgerichtct ist. Dieser fundarneiitale Unterschied, den Aristoteles zwischen dem theoretischen und dem praktischcn Wissen macht, hat nun auch Konsequcnzen auf dcr Ebene der philosophischen Theoric, die wir >wissenschaftstheoretisch< nennen wurden. Es geht u m die Frage, welchen methodischen Charakter die praktische Philosophie bei Aristoteles hat. Es ist unbestrcitbar, dafi >praktische Philosophie< nicht selber cin Wissen u m das Tunliche in gegebener Situation ist (auch w e n n es ein Wissen u m das Tunliche verraten mag, dafi der Lehrer in theoretischer Unterwcisung iiber praktischc Philosophie sich von den universaleren ontologischen Fragestellungen fernhalt). Praktische Philosophie hat in jedem Falle den Charakter von Theorie. Sie kann FJiumjpri, it:p>t}, pidoikx, npayjiauw, sogar 'detopin heiOen, abcr nicht im terminologischen Sinne ippovriov;. Es fragt sich jedoch, o b praktische Philosophie so wie jede andere Wissenschaft oder >Techne< und im selben Sinne lehrbar ist. Die Sachlage wird noch komplizierter, wenn wir sehen, daB Aristoteles der platonischen Idee des Guten jede praktische Brauchbarkeit bestrcitct, aber fiir seine eigenc Theorie der praktischcn Philosophic eine solche entschieden bchauptet. Er erhebt durchaus den Anspruch, mit solcher theoretischen Untcrweisung die >Arete< selbst zu fordem. Das wird in alien drei Fassungcn seiner Ethik betont, und das ist der Grund, w a r u m man ein Problem darin sehen kann, wic sich die praktische Philosophie zu >Phronesis< vcrhalt. Die Frage ist neuerdmgs ofters untersucht worden. Doch hat sie ihren paradoxen Schein wohl nur, wenn man ein modernistisches Verstandnis des "Theoretischen* hat, wic es von der Wissenschaftsidee der Ncuzeit sich ableitet. Dann sieht die Sache allcrdings mcrkwiirdig aus. In solchem m o dcrnen Sinne ist praktischc Philosophie offenbar nicht einfach eine theoretische Wissenschaft, die etwa so auf Praxis angewendet wiirde, wie man die reinc Naturwissenschaft in der medizinischcn Wissenschaft zur A n w e n d u n g bringt. Eher gleicht die praktische Philosophie der Hcilkunde selbst, u n d so wird auch von Aristoteles die Heilkunde ofters als Vergleich herangezogen. Jcdenfalls bestcht zwischen dcr Theorie, die Aristoteles in einer solchen ethischcn Pragmatie vcrmittelt, und der gelebten Praxis kein solcher Abstand, der von der A n w e n d u n g von Theorie auf Praxis zu reden erlaubtc. Das Ideal einer Theorie, die dank ihrer Objcktivitat gegenuber alien praktischcn Anwendungsintcressen neutral ware und daher jede beliebige A n w e n dung erlaubte, ist weder platonisch noch aristotelisch. Wir sahen an der platonischen Wissenschaftsprogrammatik der >Politcia< (Rep. VII). wie sekundar die A n w e n d u n g der mathematischcn Wissenschaften in Platos A u gen ist. Dem entspricht bei Aristoteles das umgekehrte Extrem. Er vermcidet ausdriicklich im Felde der praktischen Philosophie die Hineintragung rein theoretischcr Gesichtspunkte. Das gilt auch von seiner >Politik< und insbesondere von dcr grolien Sammlung v o n Staatsverfassungen, die cr
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vcranstaltet hat. Er ist sich durchaus darubcr im klaren, daB der verniinftige Gebrauch, den es von diesen Verfassungsmodellcn zu machen gilt, cin praktisch-politisches Problem darstellt - wic eben die A n w e n d u n g von theoretischcm Allgemcinwissen auch sonst. (Das wird in E N K 10 ausfiihrlich dargestellt, ist aber auch in E N Z 8 impliziert.) So ist es nicht der thcoretische Mangel dieser Ethik, daB das von ihr aufgcstellte N o r m e n s y s t e m die enipirischc Zufalligkeit des griechischen Polisdenkens zur Schau tragt und daB dem Zufalligen nur solche normativen Einsichten entgegengestellt werden, die von der selbstverstandlichen Z u stimmung aller getragen sind. Bezeichnend, dafi die Sklaverei als cine natiirlichc Einrichtung cinfach h i n g e n o m m e n wird. Platos normative Konstruktion einer Idcalstadt k o m m t daher dem modernen Theoriebegnff weit naher, und bekanntlich lehnt er in seiner Utopic die Sklaverei ausdriicklich ab. Das ist ein tnethodischer Gegensatz, dem die aristotclische Kritik wiederholt Ausdruck gibt. In der praktischen Philosophie geht es nicht um eine Idee des Guten oder u m die Polis der vollendeten Gerechtigkeit, auch wenn Aristoteles das Denkmittel eines ldcalen Staatsmodells in seiner >Politik< nicht verschmaht. Auf alle Weise geht es ihm um das Tunliche. So ist die wahre > Arches wic er mit verbliiffender Radikalitat sagt, das >DaB< (TO on E N A 2, 1095be; A 7, 1098b 2 ). Damit ist gemeint: Es ist von der Praxis selbst auszugehen und dem in ihr leben dig en BewuBtsein dessen, was gut ist (dfioXoyovjif.vov). In diesem Sinne n i n n n t Aristoteles fiir sich in Anspruch und wendet das kritisch gegen Plato, daB er n u r zur Sache gehorige A r g u m e n t e und Prinzipien gcbrauche (EE A 6, 1217aio und ahnlich M M A 1, 1183bt). Es ist in seinen Augen cine sachfremde Argumentation, von dem Guten als dem mathematischen Harmoniebegriff auszugehen, wenn man praktische Philosophie treibcn will. Wenn er selber iiber das ipraktische Gute< thcoretische Aussagen macht, wie er das in seiner Pragmatie unbestrcitbar tut, da mi seien diese nicht von anderswoher erhoben, sondern aus dem Erfahrungsbercich des Praktischcn selbst gewonnen. Insofern beruhtcn sie auf einem sacheigencn Prinzip (oinia app/). Die Aussagen, die Aristoteles selber in seiner praktischen Philosophic macht, sind freilich allgemein und insofern haben sie allemal einen theoretischcn Charakter. Sic wollen auch gar nicht auf den konkreten Fall des Tunlichen so angewendet werden, wie im Verfahren des Hers tell ens sonst technische Regeln zur A n w e n d u n g k o m m e n . Das Tunliche, zu dem m a n sich aufgrund verniinftiger praktischer Uberlegung entschlieBt, ist nicht einfach der Fall von Regeln. So ist etwa die von Aristoteles hcrausgearbeitete allgemeine Struktur von >Arete<, die Mittc zwischen zwei Extremen zu sein, keine anwendbare Regel. Es ist nicht der Sinn seiner Lehre, daB m a n sich an die goldene Mitte zu halten habe, sondern sich dessen bewuBt zu sein, was m a n eigentlich tut, wenn man das Rechte tut. Da namlich lassen sich i m m e r
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Extreme erkennen, iiber deren Ablehnung klarer Konsens besteht, wahrend bekanntlich >das Rechte< als solches kcine angebbare Bestnnmtheit besitzt. Trotzdem besteht Aristoteles darauf, dafi die theoretische Lehre, die er als praktische Philosophie vortragt, der Praxis v o n N u t z c n sein miisse. Er gcbraucht dafiir ein Bild (EN A 1, 1094a23): es sei so, wie es fur den B o g e n schiitzen niitzlich sei, am Zicl einen bestimmten Punkt auszumachcn, auf den er anlegt. Er trifft dann besser. Das muB heifien, daB m a n die Richtung des Zielens besser einhalt, wenn m a n statt cines groBercn Objektes einen speziellen Ziclpunkt auf i h m genau ins Auge fassen kann 7 5 . Aristoteles benutzt dieses groBartigeBild um zu sagen: Die theoretische Unterweisung, die man in der praktischen Philosophie zu vermitteln vermag, gibt zwar keine Regeln an die Hand, die m a n befolgcn kaim, so daB m a n das Richtige kunstgerecht trifft. Das Ins-Visier-Nchmen macht ja durchaus nicht die ganze Kunst des BogcnschieBens aus. M a n muB schon gclcrnt haben, mit dem Bogen umzugehen, und so muB auch, wer aus praktischer Philosophie einen Gcwinn Ziehen will, in der rechten Weise vorbereitet sein. Die praktische Philosophie vermag dann der Entscheidungsfindung und dem k o n k r e ten praktischen Blick insofern zu dienen, als sie besser kenntlich macht, wohin man zu sehen hat und worauf man achtzuhaben hat. Offenbar driickt das Bild aus, daB man sich auf die theoretischen Allgemeinheiten der praktischen Philosophic nicht wie auf eine Regel bcziehen kann. Aristoteles stellt zwar die praktische Vernunftausiibung ganz in der Anlehnung an die Logik des theoretischen Syllogismus der Apodeiktik dar. Aber hier sind genaue Unterscheidungen notig. GewiB istjeder verntinftige SchluB, zu dem man k o m m t , auf den syllogistischen Formalismus abbildbar. Es leuchtet auch ein, daB im Raume der Praxis der SchluB kein Satz ist, sondern EntschluB ist. Trotzdem ist es auffallend, daB Aristoteles, wenn er solche praktische Vernunftausiibung logisch analysiert, zur Illustration nicht wirkliche praktisch-stttliche Entschcidungen verwendet, sondern pragmatisch-technischc. Im technischen Bereich geht cs ja u m nichts anderes als u m die rechtc Mittelwahl zu vorgegebencn Zwecken. Da aber trifft die Subsumtion des Besondcrcn unter das Allgemeine den Kern der Sache und damit ist die strukturelle Entsprechung zur Apodeixis gegeben. Aber man sollte nicht iibersehen, daB die sittliche EntschlieBung diesem Schema nicht ganz entspricht. Im Bcrcich der Praxis namlich ist das Festhaltcn an dem >Prinzip<, etwa an der bestimmten Arete, keine bloBe logische Leistung. 75
Das Wort OK/miK begegnet als Ausdruck fiir das. worauf man zielt (ih'nynu'odai), bei Plato Rep. VII, 519c, Gorg. 507d usw. und otters bei Aristoteles, aber nirgends unter direktem Hinweis auf das Bogenschielien. Doch klingt dieser semantische Ursprung wenigstens einmal an, namlich E N Z 1, 1 w o man doch wohl das Anspannen und Lockeni (hittcfoa Kai avirimv) auf den Bogen und nicht auf die Leier beziehen mufi. Das semantische Feld ist im ubrigen gleich. Vgl. Heraklit Fragment 51 (] 3K'j
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Praktische Verniinftigkeit zeigt sich nicht nur darin, daB man die rechten Mittel zu finden weiB, sondern auch, daB m a n an den rechten Zwccken festhalt. Darauf beruht die Abgrenzung dessen, was Aristoteles den fponjuK nennt, gegen den Snvoc ( E N Z 13). M a n sieht daran, wie sehr sich Aristoteles des Unterschiedes zwischen technischem Wissen und praktisch-sittlichem Wissen bewuBt ist, und wir suchten zu zeigen, daB er damit ein cchtes platonisches Motiv wciterfuhrt. Das druckt sich nicht zuletzt darin aus, daB es hier keine eigentliche Lehrbarkeit gibt, wie sie i m Falle dcr Wissenschaft und des tcchnischcn Wisscns besteht. Die allgcmcine hermeneutische Aufgabe, die iiberall hineinspielt, namlich Allgemeinwissen zu konkretisicrcn, schlieBt hier vielmehr i m m c r die cntgegengesctzte Aufgabe mit ein, K o n kretes zu verallgemeinern. So bestimmt das Konkrete, z. B. das Gerichtsurtcil, den Sinn des Allgemeinen, das Gesetz, neu. DaB m a n das Richtige zu treffen weiB, kann praktische Philosophie als solche nicht versprechen. Das bleibt die Aufgabe der Praxis selber und der Tugcnd dcr praktischcn Verniinftigkeit, die eben nicht blofie Findigkeit ist. Das hat seine wissenschaftstheoretischen Konsequenzen. Der Vergleich mit dem Bogenschiitzcn steht in dcr Einleitung des ganzen Kurses iiber praktische Philosophie bzw. Politik. Da wird als erstes die Fiihrungsstellung dcr Politik hcrausgcarbeitet. Sic ist die oberste Wissenschaft bzw. Kunst (xvpitimiij wai paXiOJa apxatmnvmi 1094a 2 ,J. Diese wissenscha ftstheoretischc Reflexion scheint auf den ersten Blick mit der spateren Analyse der >Phronesis< und insbesondere mit den Aussagen iiber die ipolitische Phronesis< nicht recht in Einklang zu stehen. Seit Burnet hat man dafur die Anpassung an den platonischen Sprachgebrauch verantwortlich gemacht. Das ist rein auBerlich bctrachtet gewiB zutreffend. Abcr Aristoteles konnte gar nicht anders sprechen. Wir haben ja gesehen, daB wir es in der praktischen Philosophic eben mit Philosophie, und das heiBt mit Theorie, zu tun haben. Fhr Gegenstand und damit auch ihre letzte B e s t i m m u n g ist zwar die Praxis. Abcr das bedeutet nur, daB sich ihre Methode unter das Gesetz ihres Gegenstandes stellcn mufl, und das schlieBt ein, daB sich ihr Wissensanspruch von da aus bestimmt und entsprechend begrenzt. Fiir die menschliche Praxis ist das, was Aristoteles >Ethos< nennt, von grundlegender Bedeutung. Wer seine Affekte nicht beherrschcn kann, ist auch nicht imstande, auf den Logos zu horen. Das wird von Aristoteles insbesondere am SchluB seiner ganzen Vorlesung nochmals eingescharft, und m a n sieht daran, dafi er sich dcr wissenschaftstheoretischen Konsequcnz voll bewuBt war, die in dieser besonderen Struktur von Praxis gclcgen ist. Offenbar ist es eine besondcre Voraussetzung fiir den E m p f a n g von Unterweisung m praktischcr Philosophie, daB der Lernendc nicht dem technischen Mi Bverstandnis vcrfallt, als konnc cinem eine solche Lehre die praktische Selbstverantwortung abnehmen. Das findet man zwar nirgends mit klaren Wortcn gesagt, aber dort, w o
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Aristoteles am Schlusse der Vorlesung den U b e r g a n g in die Politik vorbcreitet, wird diese wissenschaftstheoretisclie Konsequenz, die dem Begriff der praktischen Philosophic zugrunde hegt, indirekt greifbar. D o r t werden die politischen Thcoretiker, die als Sophistcn in Verfassungs- und Gesetzgebungsdingen Autoritat in Anspruch nehnien wollen, ohne selber im politischen Leben zu stchen, ausdriicklich zuriickgewiesen. D e m entspricht auf der andern Seite der eigene Anspruch der praktischen Philosophie des Aristoteles und sein Bestehen darauf, daB der Lernende die rechte Vorbercitung bereits mitbringen niiisse. Es bediirftc einer eigenen Untersuchung, den wissenschaftstheorctischen O r t der aristotelischen >Politik< genauer zu bestimmen. In dem so benanntcn Traktat finden wir keine spezielle methodische Reflexion, weil offenbar der Anfang der Nikomachischen Ethik als die allgemeine methodische Einlcitung zum Ganzen der Politik gedacht ist. D e r SchluB der Nikomachischen Ethik, der 111 die Politik iiberleitet, n i m m t dieses T h e m a ausdriicklich nochmals auf. Frcilich ist der uns erhaltene Traktat nicht sehr gut an diese Uberleitung angeschlossen. So mochte man sich fragen, wic weit dieser Traktat iiber die Polis nicht scinerseits unter besonderen Bedingungen seines eigenen Gegenstandsfcldes steht, die nicht die allgemeinen der praktischen Philosophie als solcher sind. Denn es ist klar, daB es sich in diesem politischen Traktat u m die Gesetzgebung handelt. Die Kunst der Gesetzgebung aber ist in der Tat sehr verschicdcn von all dem, was die mit konkreten Fallen konfronticrte pohtischc oder richterliche Entscheidung sonst ist. E N Z 8 , 1141 b >5 ff. wird die Gesetzgebungskunst ausdriicklich von den anderen Anwendungen der politischen Vernunft unterschieden. Eine methodische Bemcrkung, die sich daraus ergibt, ware etwa, daB man bestehende Gcsctze nicht zugunstcn besserer Gcsctze verandcrn darf, wenn man nicht mit cinkalkuliert, daB jede Anderung von Gesetzen insofern etwas Schlechtes ist, als sie die Autoritat von Gesetz uberhaupt notwendigerweise schwacht (Pol. B 8 , 1269a 12 ff.). Es ist hier nicht der Ort, auf die wissenschaftstheoretische Bedeutung einzugehen, die des Aristoteles Reflexion auf die Methode der praktischen Philosophie im Blick auf die gegenwartige Problemsituation besitzt. Die aristotelische Trennung der >praktischcn Philosophic* von der >theoretischen< hat ihre traditionsbildende Kraft bewiescn - nicht zuletzt in den neueren Jahrhunderten, in denen sie mit der Idee der modernen Erfahrungswissenschaften konfronticrt wurde. Z w a r konnte sie in der Mcthodenbesinnung der neuzeitlichen Wissenschaft kcinen wirklichen Platz mehr bchaupten, wenn man von d e m schwachlichcn Nachglanz der rhctorischen Tradition absieht, die etwa Vico nochmals bcschworen hat. Dcnnoch hat die tatsachliche Ausbreitung der philologisch-lristori sehen Wissenschaften innerhalb des Kosmos der modernen Wissenschaftcn bewiesen, daB dicsc
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Tradition nicht tot ist. Die Bedeutung dieser sogenanntcn Gcistcswissenschaften f u r die sittlich.cn, politischcn und ge se 11 sch aft lichen Leb ens verhaltnisse der Menschcn stellt sich iiberzeugcnd dar, wenn man an den An teil des Weitanschaulichen, des Idcologischen und fortgeltender menschlicher Wertbegriffe denkt. Ich erirmere nur etwa an den Beitrag, den die historischcn Wissenschaften fiir die Identitatsfindung des modcrncn Nationalstaates geleistet haben und bis zum heutigen Tage leisten - u n d nicht zuletzt an die Tradition der praktischen Philosophic sclbcr. Es ist eine bcmcrkensvverte Tatsache, daB die philosophischc Ethik fast menials auf den Anspruch vcrzichtet hat, in das tatsachlich gelebte Leben normierctid citizugreifen. Insofern lebt Aristoteles fort. Eine letzte Verwicklung der theoretischen und der praktischen Reflexionsbewegung der mcnschlichen Vernunft scheint unauflosbar. N u r wenn man mit Aristoteles die Idee der theoretischen K o n struktion und der wissenschaftlichen Mcthodc aus dem praktischen Felde herauszuhaltcn strcbt und nur wenn man erkennt, daB das Verhaltnis thcoretischer Erkenntnis zu praktischer A n w e n d u n g nicht iiberall so einfach liegt wic in den technischen Anwendungsfeldern, kann man dicscin Z u s a m m e n hang gerecht werden. Die klarstc Darstellung dieses von Aristoteles zuerst angcschlagcncn Theiiias scheint mir in Kants Gruudlcgung der Moralphilosophie gegeben. Wenn Kant dort am SchluB des ersten Abschmttes der sogenannten >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< den Qbergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischcn bchandelt, geht er von der iiberzeugenden Feststellung aus, daB in der menschlichen N a t u r als solcher ein H a n g wirksam ist, sich durch eine Art Dialektik der moralischen Evid e n t zu entziehen, die etwa im PflichtbewuBtscin zu ihm spricht. Kant nennt das den Hang zum Verniinfteln, der den Qbergang zur Philosophie der Moral notig macht, ja im Grundc schon immer vollzieht. DaB Kant in seiner eigenen Moralphilosophie der grundlcgcndcn Ansicht der platonisch-aristotelischcn Philosophie folgt, wenn er den praktischen, moralischen Impcrativ von den technischen Imperatival der Klugheit scheidet, liegt auf der Hand. Seine Darstellung des Ubergangs von der gemeinen zur philosophischen Erkenntnis hat aber dariiber hinaus, wie mir scheint, eine universale Geltung. Die Philosophic ist nicmals in der wirklichen Notwendigkeit, ihre Existcnzbcrechtigung zu beweisen, da auch der, der sie bestreitet, in der Reflexionsbewegung begriffen ist, die man Philosophic nennt 7 6 .
76 Der Sprachgebrauchspiegelt das in einer Weise wider, die man nicht als platonischen Nachhall verstehen sollte, zum Beispiel EN A' 7, 1177a, > t 'hi: Si} rorc lotioilw aXXo n, o S)}
Kacit tfvotv Sf/kti ap^ax Kai ipftwbai mi svvotav fynv ntpi taArlr xui ik'nsr. Hier scheint cs absolut kiinstlich, theoretische und praktische Vemunftausubung unterscheiden zu wollen. U n d wenti im. Procrepcikos (W.M-Ztu Fr. 6) beides imterschiederi imd in 2wei
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Kehren wir zu Aristoteles zuriick, so finden wir die geschilderte Verwicklung dort an mancherlei Risscn und Sprungen im Gefuge seiner Lehren. Da haben wir cinmal die Tatsache, daB nach Aristoteles die gleiclie hochste Moglichkeit des Inneseins, die die Griechen >Nous< nanntcn, dem zur vollen Selbsterfiillung gclangten theoretischen Wissen, der >Sophia<, z u k o m m t , aber ebenso der praktischen Vernunft, die sich als >Phronesis< der Richtigkeit ihrer Wahl und Entschcidung jeweils bewuBt ist. Die entschiedene Entgegensetzung des theoretischen und des praktischen Wissens, und damit auch der theoretischen und der praktischen Tugend des Wissens, tastet die Einheit der Vernunft nicht an, die in beiden Richtungen die Fiihrung hat. Die aristotclischc Konzeption einer >praktischcn Philosophie* ist offenkundig die Konsequenz seiner Kritik an der platonischen Idee des Guten, die wir behandclt haben. Trotzdem bedeutet die Trcnnung der praktischen Philosophie von der theoretischen durchaus nicht einen Mangel an Z u s a m menhang und inhaltlicher Zusammengehorigkeit. Es ist vielmehr eine methodische, argumentative Vorsicht, mit der sich Aristoteles jedes Ausgreifcn in universalere Zusammenhange verbietet. Nicht als ob ein solcher theoretisch-universaler Hintergrund nicht viclcrorten durchschiene. In seiner A r gumentation n i m m t cr ihn aber nur soweit in Anspruch, wie er unmittelbar aus den allgemein anerkannten Gegebenheiten folgt, die auch fiir die theoretische Philosophie eine mcthodische Grundlage bilden. Im Z u s a m m e n h a n g der Metaphysik k o m m t Aristoteles natiirlich nicht auf die praktische Philosophic zu sprcchen. Sofem aber die Welt der menschlichen Praxis ihrcn Q r t im Ganzen des Seienden hat, ist die Sphare menschlicher Praxis und Poiesis insgesamt in das Reich der N a t u r eingeordnet. Nicht nur die Kunst ahmt die N a t u r nach. Auch die menschliche Praxis tut solchcs, sofern sie auf nichts als auf die hochste Erfiillung des Mcnschseins selbst hin orientiert ist. Dabei aber zeigt sich, daB sie zugleich iiber sich selbst hinausweist, und so muB auch Aristoteles, solcher Notwendigkeit folgcnd, dem theoretischen Lebensideal gegeniiber der Praxis und Politik den Vorzug geben. Das tritt innerhalb der praktischen Philosophie auch an den ontologischcn Implikationcn der aristotelischen Begrifflichkeit heraus, was hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann. N u r soviel sei erinncrt: Das Vorbild des Immerseienden, des Gottlichen bzw. derGcstime, bleibt derletzte Oricntierungspunkt bei der Behandlung der praktischen Natur des Menschen. So heiBt es gelegentlich, daB die menschliche N a t u r in sich nicht einfach sei (EN I115, 1154b2i) bzw. daB sie >zusammengesetzt< sei (EN K7, 1177b2g). Sie ist getrennten Gangen die praktische fiiavota und die aut"ir.\rjdt ia gerichtete btwpia behandelt werden, so werden sic doch mit denselben Worten bezeichnet und beide gemeinsam gegen alles >poietische< Wissen abgehoben.
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nicht von dcr reinen Geistigkeit gottlicher Lebewesen. Gleichwohl ist der N o u s , der Logos, das Wichtigste in uns, das es vor allem anderen auszubilden gilt. Im iibrigen ist dcr Mensch seinen Triebcn und Affekten I natty) ausgesetzt, die ihn zu iiberwaltigen drohen. Es macht jedoch das Wesen dcr menschlichcn Praxis aus, daB der Mensch sich diesen Triebgewalten nicht einfach uberlaBt, sondern imstandc ist, in sich so etwas wic eine bestandige Haltung (Ufa) auszubilden, so daB er seiner Vernunft, dem Logos, zu gchorchen vermag. Auch das noch ist seine Natur. Das bctont Aristoteles ausdriicklich, wenn er den Bereich von Praxis und Ethos, der sich aus G e w o h n u n g und Gewohnheit herausgcstaltet, als den eigentlich menschlichen gegen alles, was von N a t u r ist, abhebt (neifVKooiv r/pu1 E N B 1, 1103a25). So licBc sich an vielen Stcllcn der teleologische Rahmen aufzeigen, in den das Ganze dcr praktischen Welt eingefiigt bleibt. O h n e Zweifel kann auch fiir Aristoteles die Ordnungsstruktur, die diesem Ganzen z u k o m m t , unter dem Gesichtspunkt >des Guten* gedacht werden. Das geht schon daraus hcrvor, daB er die teleologische Ursache an alien seinen Vorgangero vermiBt. Z u s a m m e n mit der Eidoslehre stcllt sie sein platonisches Erbe dar. So kann er sie durchaus auch als die >Ursache des >gut<< (Met. A 3, 984bi i) oder auch geradezu als das ov i!:v£Ka -Kai 'iayad6v(f) bezeichnen (983a^), also geradezu das platonische Wort verwenden. Darin sollte man nicht einen Rest von Platonismus sehen und gar Daticrungen darauf grunden, Vielmehr bezeugt solcher Sprachgcbrauch auch in diesen Fallen die Gemeinsamkeit des mit Plato geteilten Problems. Das starkstc Zeugnis dieser Gemeinsamkeit liegt aber in der Art, wie Aristoteles das theoredsche Lcbcnsideal festhalt. Natiirhch druckt sich das vor allem in dem Aufbau der >Erstcn Pliilosophie*, insbesondere in dcr sogenanntcn Thcologie aus. Aber auch die Vorlesung iiber die praktische Philosophie schlieBt mit einer cntsprechenden Diskussion des Verhaltnisses zwischen dem theoretischen u n d dem praktischcn Lebensideal. Der Vorrang der Theorie ist auf die ontologische Oberlegenheit ihrer Gcgcnstande gegriindet: das Immerseiendc. Im Unterschiede dazu gehort die Welt der Praxis zu dem Sein, das sich auch anders vcrhaltcn kann. Das Wissen um das, was praktisch zu tun ist, muB daher d e m theoretischcn Wissen nachgesetzt werden. Gleichwohl sind bcidc Haltungen des Wissens und der Vernunft ein Hochstes. Sowohl die theoretische Verniinftigkeit, die >Sophia<, als auch die praktische Verniinftigkeit, die >Phronesis<, sind Bcsthciten 7 7 (hpr.iai). In ihnen verwirklicht sich das Hochste im Menschen, das Aristoteles >Nous< oder auch >das Gottliche* zu nennen pflegt 7 8 . 77 Dies Un-Wort, das besser als jeder andere Ausdruck fiir ape it) den hier entscheidenden Punkt trifft, hat W . S C H A D E W A L D T vorgeschlagen. 7e ) )afl alles, was irgendwie ist, am Gottlichen teilhat, sagt Aristoteles ofters. Freilich
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In dieser paradoxen Lehre, die U n t e r o r d n u n g besagt und gleichwohl zwei Gestalten des Hochstcn anerkennt, zeigt sich die desknptive Sorgfalt des aristotelischen Denkens, auf die wir 1111 Z u s a m m e n h a n g des Analogicproblems zu sprechen g e k o m m e n sind. In diesem letzten u n d hochsten Problem praktischer Philosophic bewahrt sich in der Tat die vorsichtige Formel des Analogicdenkens. O h n e die Inhalte der theoretischen Philosophic hincinziehen zu musscn, laBt sich vom Bodcn der praktischen Philosophie aus der Vorrang der Theorie begriinden. Die Praxis ist selbst die allumfasscnde Auszeichnung des menschlichen Wesens. So muB man auch noch die theoretische Betatigung als hochste Praxis verstehen (Pol. H 3, 1325bi 6 ff.). Aristoteles bleibt ziemlich vage, wenn er diese Zusammenhange erortert. Am SchluB der Behandlung der Phronesis (EN Z 13) rechtfertigt cr, daB der umfassende Charakter menschlicher Praxis keine U n t e r o r d n u n g der T h e o rie unter die Praxis bedeutct. Wohl aber ist die praktische Vernunftigkeit die Bcdingung dafiir, daB Theorie getricbcn und theoretischc Verniinftigkeit ausgebildet werden kann. Gleichwohl ist auch die praktische Verniinftigkeit cin Hochstes - ncin, sie ist dasselbe Hochste des N o u s - , wenn auch in anderer Wendung, die kein Aufgehen in Theorie ist, aber auch eine (Sshianj i:fzc rov aXrfkvnv. Damit wird aber eine letzte substantielle Gemeinsamkeit zwischen der platonischen Philosophie und der aristotelischen praktischen Philosophie sichtbar. Sie beruht auf dem Verhaltnis zum Gottlichen, von dem aus bcidc die endliche, bedingte, cingcschrankte N a t u r des Menschen dcnken. Aristoteles kann cchte platonische Formulierungcn wiederholen, wenn er die Angleichung des Menschen an das Gottliche zu beschreiben sucht. Von ihm darf nicht gesagt werden, was Hegel fiir sich in Anspruch geiiommen hat, daB die Philosophie selber iliren Charakter des Strebens nach Wissen uberschreiten und zur Weishcit werden miisse. Man darf daher die U b e r o r d n u n g des theorctischcn Lcbensideals iiber das praktisch-politische nicht verabsoluticrcn. Denn gerade die theoretischc Lebcnsmoglichkcit ist, wie Aristoteles so gut weiB wie Plato, fiir den Menschen eine beschrankte und bedingte. Er kann sich dem reinen denkenden Schauen nicht anhaltend und ununtcrbrochen widmen, da er eben von zusammengesetzter N a t u r ist. Damit ist aber unter dem Gesichtspunkt der bedeutet das nicht. daB die ff.Uai&o an dti fi'Saipovia teilhaben: EE A 7, 1217A;>4-wenn man von solchen absieht, die xnm emjvvfiiav cv if/ tpvort fun'x*< ftrtai' nvoq. Diese Stelle muB man doch wohl anders erklaren als bisher vorgeschlagen wurde. 'Emcvvji'tu ist hier pragnant gebraucht und meint solche Tiere, die einem Gotte zugeschrieben sind und deslialb gottlich genannt werden konnen, wie ein RoB (Homer) oder ein Vogel (z. B. der Adler des Zeus) oder ein Fisch (ob er da an den dem Apollo heiligen Delphin denkc?). Ich gehe also in der Erklarung der Stelle EE 1217a>sf. noch iiber Dirlrneiers treffende Kritik an GIGON hinaus (DIRT.MFTFR, K o m m . zur Stelle).
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praktischen Philosophie das Verhaltnis der beiden Lebensideale nicht von der Art, daB das vollendetc Gliick des praktischen Lebens nicht auch cin Hochstes ware. GewiB nennt Aristoteles es drviipux, das heiBt, cs ist ein Zweit-Bestes. Aber auch dies ist ein Bcstcs, das heiBt cinc Erfiillung der Eudamonie. Die Erfullung im rein theoretischen Da sein ist ja nicht die voile Seligkeit der Gotter, insofern sie fur Mcnschcn eine beschranktc ist. Das Gliick des N o u s ist in gewisscm Sinne abgetrennt d. h. allem Vergleich entzogen, u n d eben deshalb ist das praktische Gliick des M e n schen nicht zweiten Ranges, sondern eben das dem Mcnschcn zutcil g e w o r dene, wenn er sich auch zeitweise iiber sich selbst zur gottlichen Seligkeit der >Theoria< erheben mag. Liest man nicht das Gleichc iiber die Amtsfiihrung der Philosophen-Konige in Platos >Pohtcia So ergibt sich im ganzen: Z w a r hat Aristoteles die platonische Lehre einer radikalen Kritik unterworfen, indem er die Frage nach dem Sein auf die yvoei das Gute<, das als ov rvrm uns vorscliwebt, erst durch unsere praktische Vernunft, 111 der Eubulic der >Phroncsis<, seine Konkrction und Bestimmung erfahrt, und dafi alles Seiende >gut< ist, wenn es sein Telos erfiillt, hat der Sokratiker Plato so wenig aus dem Augc vcrlorcn wie der Platomker Aristoteles. Aber was ;das Gute< in solchem universalen Sinne cigcntlich mcint, hat Plato nur symbolisch, in seiner Zahlenlehre, antizipicrt. Aristoteles hat dafiir begnfflichc Antworten gefunden. Der Kunstausdruck der >Entelecheia<, den Aristoteles einfiihrt, will offenbar gerade das sagen, daB das J T C I O S V nicht cin Zicl ist, das einer fernen O r d n u n g der Vollkommenheit angehort, sondern daB esje das einzelne Sciende selbst ist, in dem das >Telos; sich in der Weise verwirklicht, daB das Einzelne das >Tclos< cnthalt. Die aristotclischc Metaphysik hat das als ihr standiges T h e ma vor Augen. Sie denkt das Sein des Seienden als die Sclbstvcrmittlutig des Seienden mit seinem Was-Sein, seiner Eidos-Bestiinmtheit. Wir haben glaubhatt zu machcn gesucht, daB eine solchc Vcrmittlung von >Scin< und > Werden* vorauszusetzen ist, wenn die A n n a h m e von Ideen iiberhaupt einen Sinn haben soil. Die Idee des Guten und die k a u m greifbare Lehre von der Eins und der Zwci deuten auf derartiges hin, wenn es auch in den platonischen Dialogen nur metaphorischen Ausdruck gewann: im Spiel des > Parmenides*, im Gleichnis des >Philebos< oder im Mythos des >Timaios*. Im Denken des Aristoteles ist die platonischc Intention in die vorsichtig tastende Sprachc philosophischer Begriffe iiberfuhrt.
7. Plato als Portratist (1988)
Wenn ich als Thcma mcines Vortrags Plato als Portratist genannt habe, so ist das ein Augenblickseinfall. Wenn man gebeten wird, einen Beitrag zu leisten und iiber Plato zu sprcchen, ist es in Wahrheit i m m e r cine Einladung, in einen weiten R a u m einzutreten, der in memen Augen gar viele Aspekte bietet und immer etwas Neues bereithalt, das zu einer Herausforderung wird. So ist es mir auch in diesem besonderen Fallc des ncuen Platoportrats gegangen. Doch ehe ich hier zu Plato selbst k o m m e , stolpere ich iiber eine riesige Schwelle. Was ist ein Portrat? Wenn ich nicht meine Verpflichtungen gegeniiber dem schoncn AnlaB hatte, der mich hierher fiihrt, w u r d e ich am liebsten nur dariiber sprechen: Was ist eigentlich ein Portrat? Ist so etwas wic dieser Kopf ein Portrat? Wenn ich vcrsuchen soil zu sagen, was m i r ein Portrat scheint, dann w u r d e ich wohl erklaren: Es ist die Abbildung, das Bild eines Individuums oder einer Person, das so ist, da8 man meinen soli, man konnte es erkennen, wenn man es kennt. Aber was sind das fur Worte, die wir da gebrauchen? Person? Das heiBt auf griechisch npomcnov, die Rolle, oder gar die Maske, die einer tragt. Das ist gewiB etwas anderes, als was wir in einem unbedachten Gebrauch des Wortes >Person< im alltaglichen U m gang meinen. Wenn ich nun genauer werde und sage, ich meine natiirlich eine Individuality, ein Individuum, und wenn ich das ins Griechischc iibcrsetze, dann heiBt das GTOjWv. Da sind wir vollends weit von d e m entfernt, was wir eigentlich suchen, u m zu bcschreiben, was fiir uns ein Portrat ist. So ist es in der Tat eine Denkaufgabe, die mir zunachst gestellt war. Was heiBt es, daB wir jetzt ein Platoportrat besitzen, den Kopf einer Portratstatue, der durch gliickliche Zufallc und die besonderen Vcrdicnstc des Herrn Vierneisel hierher gelangt ist? Was ist das eigentlich u n d was bedeutet es, daB wir hier ein Bild, cin Portrat, ein Ritratto, ein aus dem Wirklichkeitsstoff Herausgerissenes statt etwas Wirklichem vor uns haben? Wir wissen alie, daB das mit dem Portratcharakter eines Portrats eine eigene Sache ist, und vor allem bei den Griechen. Wie ist es zum Beispiel mit den Bildern von Gottern, die doch niemand j e gesehen hat? Das ist cinc der archaologisch wichtigsten Perspektiven fiir den Portratbegriff, wie in dieser Kunst die Bildwerdung fur Gotter ztistande g c k o m m e n ist. Welche Rolle spielte etwa
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Homer, fiir die Vasenmalcrci, oder sonstwo? Mit solchen Fragen hat die wisseuschaftliche Forschung zu tun. Ich habe mir eben im Nachdenken bewuBt gemacht, daB es doch auch vnit uns gewohnlichen Menschen nicht so sehr anders ist, wenn es sich u m deren Portrat handelt. Ein Portrat ist ja nicht ein ZufallsschuB, wie ihn ein Fotoapparat heute erzielt. Es ist auch nicht das, was dadurch zustande k o m m t , daB man, wie m a n so schon sagt, j e m a n d e m sitzt. Da steckt schon wieder vicl darin, das einem Fragen aufgibt. Was heiBt da noch Wirklichkeit, wenn einer dasitzt, u m portraticrt zu werden? Ich habe geradezu mit Schreck gchort, daB j e m a n d vermutet hat, auch Plato habe dem Silanion gcscssen. Das glaube ich wirklich nicht. Wic solche portrathaften Bilder oder Busten zustande koinmen, meint wohl doch etwas anderes. Was cigcntlich ein Portrat ist, ist in Wahrheit melir. Als die Bildwerdung bei Gottern bedeutet cs natiirlich, wie wir wissen, die Herausbildung von in Kultbildern wiederholten Nachbildungcn, unter standigen Abwandlungcn und Wiedcrholungcn, durch die ein Gott sein Bild wird. Aber vielleicht heiBt es beim Menschen gar nicht so etwas ganz anderes, und es ist auch da so, daB man erst langsam sein eigenes Bild wird. N u r dadurch, daB einer in solcher Weise sein Bild wird, hat man von seiner Person cin Bild, und eben das ist im Portrat allgerueingultig geworden. GewiB ist dabei das Eigentumliche, dafi die Intention auf Wiedererkenn u n g im Spiel ist, die ein Portrat ausmacht. N u n hat uns die Phanomcnologie gelehrt, dafi es gut ist, solchc Fragen dadurch zu klaren, dafi man Varianten des Sprachgebrauchs beachtet. So sagen wir zum Beispiel von eincm Gcsicht oder einer Figur oder von einem in einem Vielpersoncnbilde erscheinenden Gesicht, es sei portrathaft, Da hat die Sprache schon fiir tins cine Abstraktion vollzogen. So befragen wir sie, wie man das Wort >portrathaft< gebrauchen kann. Was meint man damit im allgemeinen? Es hat cine ganz konkrete Anschaulichkeit, und stcllt doch ein schwieriges Problem dar, was ein Portrat ist. Es hat mich seit iiber fiinfzig jahren in tueinen kunstgeschichtlichcn Studien beschaftigt. Wenn ich etwa den Unterschied zwischen einem Historienbild ins Augc fasse und einem, das ahnliche Vorgiingc zeigt, aber kein Historienbild ist, sagen wir davon vielleicht, es sei ein Genrebild. Schon das Wort J Genre* zeigt hier an, dafi cs etwas in einem besonderen Sinne Allgcmeines sein will. Aber ist das Historienbild als Bild nicht auch etwas Allgemeines, weil es ja nicht das Geschehen selbst ist, sondern es im Bilde festhalt? U n d doch ist es etwas Einmaliges, das im Bilde so bedcutsam dargestellt ist, daB es als das Bild fiir alle da und insofern allgemem ist. So wiirde ich sagen, das Portrathafte bestche darin, daB itn Individuum das Allgcmeine sichtbar wird u n d daB m a n als dcr Portratierte sein eigenes Bild gleichsam erfiillen mull. Hegel hat einmal unter ein Portrat, das von ihm gemacht wurde, gcschrieben: »Unsere Kenntnis soli Erkenntnis werden. Wer mich kennt, wird mich hier erkennen.« M a n ahnt bei eincm
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solchcn Satze des groBen Denkers, wicviel verlangt wird, damit Kenntnis Erkenntnis wcrde u n d damit em Abbild ein Portrat ist. Doch ich will nach dieser abstraktcn Einleitung, die wie das Vorspiel auf der Orgel ist, zu d e m schonen AnlaB iibergehen, der mich hergefiihrt hat, und das ist der neue Platokopf. Wie ist es mir crgangen, als ich jetzt die Platobiiste, die man aus Abbildungen kannte, z u m erstenmal sehen durftc? Man soil in solchem Fallc, meine ich, nicht das lesen, was andere dariiber gesagt haben. Man soil vor allem die Augen selber aufmachcn. Wahrscheinlich habe ich etwas zu sehr mit meinen eigenen Augen gesehen. So muB ich gestehen, daB die Erscheinung dieses Kopfcs mich unglaublich tiberrascht hat. GewiB, es spricht daraus eine gewaltige Konzentration, die man sofort spurt. Die stcilen senkrechten Stirnfalten sind gerade in diesem Kopf besonders ausgcbildet, starker als in zahlreichcn Replikeri, die wir sonst kanntcn. Ferner muB ich gestehen, daB ich den Kopf iiberraschend schon fand. Wir werden dariiber noch nachdenken miissen, was das bedeutet, und w a r u m es anderes bedeutet als die Wertung des Kunstwcrks. Das nachstc, was mir daran aufficl und das ich so noch gar nicht gesehen hatte, und ich weiB auch nicht, ob das jemand schon gesagt hat, war: ich habe darin vor allem den attischen Witz gesehen, etwas auBerst Skcptisches und Fcrnblickendes, D i stanziertes und Spottbereites. Das liegt insbesondere 111 der Mundpartie und dem Augc. Was ich da w a h r n a h m , war gewiB etwas, was mir als eine attischeTugend gilt, cine, die uns im allgemeinen fehlt und die wir viellcicht deshalb leicht verkennen. Immerhin zeugen nicht nur die platonischen Dialoge, diese Nachfolgeform der attischen Komodie, von reichlichem Gebrauch des attischen Salzes, und Platos Denken in Utopien ware ohne solches nicht moglicb. Obcndrein wissen wir, wie Plato Epicharm geliebt hat, und wir wissen aus dem >Symposion<, wie er Aristophanes bewundert hat. Das dritte, was mir aufficl, war: Wie ist das romisch! GewiB, cs ist die romische Nachbildung einer griechischcn Plastik. Ich kann auch die N e i gung des Archaologen wohl verstehen, daB man an der Replik die Nahc zu der nichterhaltenen authcntischen Bronze besonders wichtig n i m m t . In meinen Augen ist es aber geradezu etwas Auszeicbnendes, daB sie so romisch ist. Etwas von der GroBartigkeit der packcndcn romischcn Portrats aus der Zeit der Rcpublik ist darin, die wir allc als eine wahre Vollendung der Portratkunst kennen. Das hat sich hier mit dem T y p u s des Philosophcn portrats kraftvoll vereinigt und vcrmahlt. Es ist ein Philosoph, und doch ist es unverkennbar das Portrat eines ganz bestimmtcn Mannes. N u r durch einen Gliicksfall, die Beischrift auf cincr spiiten Rephk, wissen wir iiberhaupt mit Sicherheit, daB es wirklich Plato scin sol). Aber man glaubt es. Ich schc einen besonderen G e w m n darin, daB dieser Kopf auf mich so romisch wirkt. Man begcgnct hier der Wirkungsgeschichte, der wir selbst angehoren, wenn ich diesen hermeneutisehen Lcitbegriff in diesem Falle gebrauchcn darf.
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Platos Wirkung, sein geistiges Erbe, ist durch diese griechisch-romische Vcrmittlung gegangcn. Man denke nur an Plotin und Augustin. Wenn wir Heutigen diesem Kopf begegnen, dann ist es, als ob wir durch diese meisterhafte Kopie zu ihm selbst, zu Plato selbst, zuriickgcfuhrt werden, und zwar durch unsere eigene Scclcngcschichte selber. Wir solltcn uns ohnehin nicht einbilden, daB wir einen solchen Kopf sehen konnten, wie ihn der Zeitgenosse Platos gesehen hat. Ich will offen lassen, ob mir nicht manchcs an diesem Kopf deshalb so romisch scheint, weil ich die romischcn Portrats aus republikaniseher Zeit von Boston her so sehr vor Augen habe. Ich will also nicht ausschliefien, daB im vierten Jahrhundert, in dem sich gewiB ein Obergang v o m Typusbild zum Individualportrat anbahnte, derartiges schon bei Silanion zu spiiren war. Doch bezeugen die iibngen Repliken des Silanionkopfes das eigentlich nicht recht. Mir scheint es eher, daB eine so vortrefflich gearbeitete M a r m o r - K o p i e eines Bronze-Originals cs selber ist und daB chcr der Schopfer einer Kopie von solcher Qualitiit notwendig sein Eigenes hinzugebracht hat, das i h m aus seiner Zeit und LJmwclt, der O b e r gangsperiode v o m republikamschen Portrat zum Kaiserportrat, zugewachsen war. Das war vielleicht nicht so im Original, wennglcich dieses einer ahnlichen, nur umgekehrt gcrichteten Obergangspcriode - vom Typus zutn Individualportrat - entstammt. Aber wir diirfen uns doch auch fragen, ob wir diese Linie so sehen konnen, weil wir unsere eigene Scclengeschichte mit in Ansatz bringen. Die Geschichte, die sich als die Verwandlung des Griechischen ins Romische, des Romischen ins Chnstliche und in die rcflektierte Inncrlichkeit der N c u zeit an Plato angcschlossen hat, ist die unsere. Wir traumen da nicht. Wir sehen es, und hier wird sie uns durch die romische Kopie des griechischen Originals leibhaftig vor Augen gestellt. Freilich hatte ich nie gewagt, iiber dieses Thema so zu sprechen - ich bin kein Archaologe von B e r u f - , wenn cs nicht auch das liierartsche Portrat bei den Griechen gabe. Das ist diczweite Frage, die ich mir stellen muB, ob nicht in diesem Falle das literarische Portrat auch etwas dazu beitragt, wie wir diesen Platokopf heute sehen. Da kann ich mich besser legitimiert fuhlcn. SchlieBlich ist das groBe Schriftwerk Platos, das in unversehrtem U t n f a n g auf uns g e k o m m e n ist, am Ende das erste wirklich vollstandige Corpus eines antikcn Prosaschriftstcllers. Es ist nicht erst durch die Zensur alexandrinischer Gelehrter rcdigiert und ausgewahlt, wic cs etwa bei der griechischen Tragodic der Fall ist. Unser corpuspiatonicum enthaltja noch einiges mehr, als Plato selbst geschricben hat. Jedenfalls diirfen wir da von ausgehen, dafi das ganze Werk Platos ein einzigartiges Portrat, cin Sokrates portrat ist, und zugleich stcllt cs gewiB auch ein Selbstportrat Platos dar. D o c h sollte m a n bei d e m Ausdruck Selbstportrat bei diesem literarischen Portratieren lieber vorsichtig sein. Wir werden sehen, wic wenig das Portraccharakter besitzt,
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was Plato hier von sich selbst gibt. Jedenfalls werden wir uns der Spannung bewuBt, die zwischen einem Bildnis und einem literarischen Portrat notwendig besteht. »Mag der Grieche scincnTon zu Gcstalten driickcn, an der eignen H a n d c Sohn steigern sein Entzucken« — diese Verse aus dem Westostlichen Divan sind aus einem Gedicht, das fortfahrt: »Aber uns ist w o n n e reich, in den Euphrat greifen und im fluss'gcn Element hin und wider schweifen. . .« - u n d das Gedicht schlieBt: »Schopft des Dichters reinc Hand, Wasser wird sich ballen«. Der Unterschicd des bildnerischen plastischen Gestaltens und des fliissigen Elements der dichterischen Sprache steht einem in diesen Vcrscn vor Augen. Wir kennen ja alle die Problematik der Buchillustration und denken an ruhmliche Ausnahmcn, wie etwa im 19. Jahrhundcrt an die englische Buchillustration, die ein kiinstlcrischer H o h e p u n k t war. Ihr gelang es, so zu illustriercn, daB der Imaginationsrcichtum des dichterischen Tcxtcs, etwa eines Erzahlcrs wie Thackcray oder Dickens, nicht durch Illustration beschrankt und verengt wird, sondern einen sich weitenden Spiclraum zur Ausfiillung bietct, ja sogar mit tanzerischer Lcichtigkeit die Leserphantasie anleitet. U n d wieder ist es eine Ausnahme, wenn cin literarisches Portrat durch seine Bildkraft zu wirklicher Bildwerdung fuhrt und zu portrathafter Statue werden laBt, und das im besondcren, wenn die litcrarische Gcstaltung von einem groBen Schriftstellcr herruhrt. Man ahnt natiirlich, daB ich von dem Sokratcsbild rede, das in einem Bildtypus und zugleich in einem wirklichen literarischen Portrat Gcstalt gewonncn hat. • Wir fragen uns, was Sprache ist, was Sprache kann und wie sie das kann. N e h m c n wir das Beispiel der geschricbcnen Lebensgcschichte, der Biographie. Man selic sich die plutarchischen Biographien an, die leidcr 111 unserem KulturbewuBtsein nicht mehr so lebendig sind, wie sie das im 18. Jahrhundert noch waren. Bei Plutarch losen Beschreibung und Erzahlung fast wie zwei verschicdene Aspekte des Gleichen einander ab. Beschreibung bringt das Typologische der aristotelischen Anthropologic zu Worte, das gricchisches Kulturcrbe ist u n d bei Plutarch natiirlichc Prasenz besitzt. Der andere Aspekt ist das Erzahlen, und darin sind Momente, die fur jede Art v o n bildender Kunst uncinholbar sind. Die flieBende Zeit, in der literarische Gestaltung etwas vor uns erstehen laBt, n i m m t den Horer und Leser eigentiimlich in Anspruch, Er wird, wie soil ich das nennen, zn einem Mitschaffenden. Im Horen wie im Lesen leistet cr standig neue Ausfiillung des sprachlichen Textes durch einen Strom v o n Bildern und Blickcn, zu denen der groBc Schriftstellcr anregt, ohne sie vorzuschreiben. Das ist cines der Wunder, das Sprache und Schrift vollbringen. Wie am Ende die bildende Kunst zu uns spricht, ist ein anderes Wunder. Welche MaBstabe sind denn bei einem Portrat wirksam? Da fallt einem der Gegensatz von Idealportrat und realistischem Portrat ein, der doch wohl
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ein ganz falscher Gegensatz ist. Es gibt nur Idcalportrats. Es gibt nur den cincn id call sie rend en Blick, durch den das Voriiberziehende, Ephemere eines in Bildung begriffencn oder eines verfallencn Gesichtcs oder gar die Erschcinung einer ganzen Figur sich zur blcibenden Gestalt erhebt. Da ist nicht ein - auch nicht ein >fruchtbarer< - Augenblick festgehaltcn. Alles ist mit da, was davor und was danach kam, und cinc ganze Lcbcnsgeschichte wird >crzahlt<, wie sie das Auge des Kiinstlers herausliest. Ein Idealportrat folgt insofern am Ende dem schonen Wort, das ich cinmal bei Johann Gustav Droyscn las: "So mufit du sein, denn so liebe ich dich - das Geheinmis aller Erziehung.« Wenn wir Extreme von Rcalistik oder, sagen wir, fehlcndcr Idcalisicrung vor uns haben, deren Realisrnus mir durch ihre Idealitat unvergeBlich geworden ist, kann ich zur Veranschaulichung auf das Portrat des Dichtcrs Eduard von Keyserling verweisen, das, von Lovis Corinth gemalt, jetzt wohl in der Neuen Pinakothck in Miinchen hangt. Dieser unendlich feine, dekadente, leidcnde Dichter u n d Schriftsteller, den man leider nicht mehr genug liest, einer der vorziiglichsten Erzahler der deutschcn Sprachc nach Fontanc, schaut cincn da mit seinen groBen erschreckten Augen an. »Da laBt ein Hauch uns von Verfall erzittern«. Auch das ist, wic seine Dichtungen, die lAbendlichc Hauser< portratieren, ein zauberhaftes Portrat, trotz der Zufalligkeiten dieses hageren Halses und dieses fast leblos blickenden Auges. Auch hier mochte man sagen, man konnte ihn wiedererkennen, falls man ihn gekannt hatte, und vergiBt ihn nie, wie ich, auch wenn man ihn nicht gekannt hat, ja, auch wenn man nie eine Zcilc von ihm gelesen hatte. O b ein Bild ein Portrat ist oder cin literarischcs Portrat portrathaft ist, beruht auf der Intention der Darstellung und der >Auffassung< des Dargestellten. Dagegen will das von einem Maler benutzte Modcll gcradc nicht portrathaft wirken. Darin liegt abcr fcrner, daB man sich hiiten muB, seine eigene Auflassung des Dargestellten, den man kennt oder zu kennen meint, in das Portrat hineinzulegen, was gar nicht darin ist, statt das zu sehen, was wirklich da ist. So sollte man auch 111 diesem Falle in die Platobiiste nicht das eigenc Bild, das m a n von Plato hat, hineinlesen wollen. Da sieht man dann etwas entsagungsvoll enttauschte Lippen und cin Auge, das die Welt schon im Geiste iibcrflicgt. Das habe ich nicht darin sehen konnen. In dessen, ein jeder Kopf hat viele Gesichter, und in gewissem Grade hat auch beim Portrat, was man da wiederzuerkennen meint, sein Recht. Das ist bei dem literari sehen Portrat nicht anders, und vollends etwa bei d e m Bilde, das im platonischen >Symposion< Alkibiades in seiner Rcdc auf Sokrates malt und mit dem er die Gestalt des durch nichts verfiihrbaren Sokrates in cine plastische N a h e riickt, die ihrcsglcichcn sucht. Da fiihrt sich Alkibiades selbst cin, cr wolle von Sokrates erst cinmal durch >Bilder< sprechcn, und sagt: »Abcr bittelacht nicht.« Er weiB genau, was er sagt. Das gricchische Wort fiir >Bild<, > iahx (Ikon), ist in diesem Falle zweideutig. Es
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bedeutet nicht nur >Bild<, sondern auch >Vergleich<, durch den man etwas, was in Wahrheit gemeint ist, ausdriickcn will. So spielt der Vergleich mit dem Silcn und mit Marsyas auf das wirkliche Aussehcn des Sokrates an, und naturlich haben allc gelacht, weil das wirkliche Aussehen des Sokrates etwas ausgcsprochen HaBliches hatte, etwas Absurdes, Glubschaugen und cine sonderbarc Stupsnase. Aristoteles hat, wic ich einmal vermutet habe 1 , darauf angcspielt, wenn er sich auf Sokrates gegen Platos Ideenlehrc bcruft, der cr ja Xwptafioq, Trcnnung der Idee von der Erschcinung, nachsagt. Sogar im Wort mprk kann immer nur das Stupsigc cincr Nase gemeint sein, wie in einer Idee immer nur etwas gemeint sein kann, wenn cs >erscheint<. So ist das eine indirektc Anspielung auf Sokrates. So eine Nase hatte er, und Theatet war stolz, genau so auszusehen. So hat das litcrarische Portrat des platonischcn Dialogs, in diesem Falle aus dem M u n d e des Alkibiades, das Aussehcn dieses auBcrordentlichen Mannes und ebenso sein ganzes Wesen charakterisiert und selber fiir die bildende Kunst cincn Typus geschaffen. Ahnlich gab es eine ganze literarische Gattung, den sokratischcn Dialog, unter den sogenannten Sokratikern. Es gab vielc Mitbewerber u m diese Gattung des sokratischen Dialogs in platonischer Zeit. Aber portrathaft waren diese Dialoge im allgemeinen nicht, auch wenn gelegentlich portrathafte Ziigc darm auftreten mochtcn. Doch ein groBer Schriftstcllcr wie Plato wird, selbst wenn er Menschen abstrakte Dinge sagen liifit, noch immer etwas von ihrer Menschlichkeit sichtbar machen, wo er das will. Dafiir wird die Alkibiadesrcdc im >Symposion< ein glanzendcs Beispiel sein. Wir wenden uns aber zunachst dem Sokratesbild zu, das in den typisch sokratischen Dialogen des Plato erscheint. Da ist Platos Absicht eine andere. Sokrates und seine Mitunterredner bleiben eigentiimlich blaB - mit dem Erfolg, daB wir uns als Leser unversehens selber in der Rolle dessen sehen, der hier seiner Unwissenheit iiberfuhrt wird. Die Absicht, die der groBe Kiinstler Plato hier verfolgt, ist lediglich, durch Fragen u n d Antworten zum Denken zu zwingen. Deshalb heiBen diese Dialoge mit Recht hinfiihrende Dialoge, und es ist also nicht etwa kiinstlensche Schwache derselben, sondern die eigenste Erfiillung einer Forderung, die diese A r t T e x t e stellen. Sic wollen nicht cine Aussage Platos sein, die wahre Lehrsatzc mitteilt oder sie auch nur dem Sokrates in den M u n d legt. Wenn ich aus dieser Gruppe der Dialoge, die der platonischen Friihzeit angehoren, ein Beispiel wahlcn soil, so nehme ich den >Euthyphron<. Das ist ein bcriihmtcs Gesprach, in dem sokratischc Argumentationskunst, die man mit moderner Logik verbesscrn kann, in einer dramatischcn Situation dargestellt ist. Sokrates begegnet einem /i-riviK (Sehcr), der sich riihmt, ein besonders fahiger Schcr zu sein. Er trifft Sokrates in dem Augenblick, in dem die Asebieanklagc gegen ihn 1
In (Amicus Plato magis arnica veritasi, Ges. Werke Bd. 6, S, 84 f.
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erhoben worden ist. Dabei k o m m t es zu einem langcn Gesprach dariiber, was Asebic oder ihr Gcgenteil, Frommigkeit (evoefieia), eigcntlich ist. Das ergibt ein groBartiges indirektcs Portrat von Sokrates 2 als einem Manne, der evaefh}<; ist und der nun so tut, als ob er die Wissenschaft v o m F r o m m e n von dem Seher lernen wolle. In Wahrheit weiB er besser als jeder andere, daB man das sein muB, was man da wissen will. Die Geschichte, u m die es sich handelt, spricht deutlich genug. E u t h y p h r o n hat seinen Vater angczcigt, weil er aus Fahrlassigkeit einen Sklavcn hat u m k o m m e n lassen, und E u t h y phron halt es fiir eine groBe sittliche Heldentat, diese Anzcige gemacht zu haben. Sokrates versucht, ihn darm irre zu machen. Es geht aber nicht, denn der Mann weiB einfach nicht, was eiwjkia ist. Das zeigt sich, wenn er es so an Pietiit fehlen laBt, seinen eigenen Vater (in einem dubiosen Falle) anzuzeigen. Das Gesprach endet daher damit, daB dem Seher in den Augen des Lcscrs nachgewiesen wird, sein Wissen um das Frommsein sei die Weise, wie m a n die bestcn Gcschafte mit den Gottern macht. In meinen Augen ist dieses Gesprach ein Schliisscl fur samtliche platonischen Dialoge, soweit von ihncn bchauptet wird, Sokrates habe gelehrt, Tugend sei Wissen und die Definition sein Ziel. In diesem Sinne kann Sokrates sicherlich nur ein Nichtwisscnder sein. Wenn in solchetn Falle eine Definition gesucht wird, dann kann sie so nicht gefunden werden. Der Dialog >Euthyphron< reprasenticrt daher in meinen Augen eine erste Phase im platonischen Schrifttum, in der das Portrathafte bewuBt gcmildcrt ist u n d alles darauf abzielt, daB man die Frage nach dem Guten selber stellen muB u n d mcht darauf rechncn darf, einen Fachmann zu finden, ob es nun ein Seher ist oder sonst jemand, der es von Berufs wegen besser weiB. Das zu wissen, ist die gelehrte Unwissenheit des Sokrates. Der z w e i t e T y p u s der platonischcn Dialoge unterscheidet sich davon nun wcsentlich. Er zeigt die Gestalt des Sokrates nicht nur in seiner kritischen Uberlegenheit, sondern zugleich als einen Visionar des Wahren. Das ist der mythischc Sokrates, der uns hier begegnet - gewiB ein andcrcr als der Nicht wis sen de, u n d doch derselbe. Hier liegt das Portrathafte nicht nur, wie in dem ersten Dialogtyp, in der Indirektheit seines wissenden Nichtwissens, an dem die scheinbar Wissenden scheitern. Jetzt geht der ubcrlcgcnc Nichtwisser in der vollcn Leibhaftigkcit und Lchrhaftigkeit seiner charismatischen Personlichkeit iiber sich hinaus, und das ist das Grofiartige: Die Starke seiner A r g u m e n t e cmpfangt eine neue. iibcrlegcnc Beglaubigung an der Erscheinung des Mannes, der hier fiir sich einsteht. Da ist n u n der Portratist, der in Plato iibcrall durchschcint, 111 seiner ganzen Kunst gefordert, damit die Gestalt seines Mcisters sovicl sinnfalligcs Leben gewinnt, daB sic zum A r g u ment wird. Es ist wohl begriindet, daB es nun nicht langerbloBc dramatischc 2
Vgl. dazu auch •Sokrates' Frommigkeit des Nichtwissens*, in diesem Band, S. 108ff.
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Wiedergabe von Frage und A n t w o r t ist, sondern vorzugsweise Bericlu, Zeugnis und Erzahlung. Es sind erzahlte Gesprache, die am starksten Portratwirkung haben. Das laBt sich aufgrund des Unterschicdes von Bildwerk und hterarischem Portrat erwarten, dessen Vorzug es ist, plastischc Bildhaftigkeit und Bewegungsg esc lichen miteinander vereinigcn zu konnen. In diesem Stile sind vor allem zwei der allerbekanntestcn platonischen Dialoge gehalten, namlich der >Phaidon< und das >Symposion<. Bcidc Gesprache werden erzahlt, und so erscheint die Figur des Sokrates in der B e w e g u n g des Lcbens. Der >Phaidon< bcrichtet das Gesprach, das Sokrates an seinem letzten Lebenstage im Gefangnis mit scincn pythagoreisehen Freunden iiber die Unsterblichkeit der Seele gefiihrt hat. Es wird von einem erzahlt, der dabei war. Plato selber, sagt der Erzahlcr, war nicht dabei, weil e r k r a n k gewesen sei. Ich habe mich immer gefragt, ob er wirklich krank war oder ob das wieder eine feine literarische Fiktion ist, die einen Abwesenden zu hohercr Prasenz erhebt und so den Autor nicht hinter seinem Wcrk verschwinden laBt. Aber viclleicht wird es in diesem Falle stimmen. Es bedeutete wohl auch fiir den spateren Lcscr Platos etwas, ob ein so vor dem offentlichen Gericht zum Tode Verurteilter weiter getrcuhch von seinen Freunden aufgesucht wurde, die bis zum letzten Augenblick mit ihm zusammen sein wollten. Man machte sich damit bei den damaligen Machthabern wohl nicht gerade beliebt. An die Erzahlung selbst braucht man kaum zu erinncrn; wic das Gesprach anfangt, wie Sokrates berichtet, er habe die Asopischen Fabeln in Verse zu setzen begonnen, weil ihm getriiumt habe, daB Apollon ihm mehrfach sagtc, »Sokrates, treibe Musik«. Wenn er das immer w r icder und noch in der letzten Nacht seines Lebens ihm sagt, so miisse er dieser Weisung wohl noch auf anderen Wegen folgcn, als er das sein Leben lang im Gesprach getan habe. Deshalb habe er versucht, die Asopischen Fabeln in Verse zu setzen. Eine ungeheure Erfindung. Ich lese sie formlich von den Lippen dieses Platobildnisscs ab, Scherz, Satire und tiefere Bedeutung sind darin. Jedenfalls unterstreicht Plato so des Sokrates Treue zum religiosen Leben seiner Stadt durcli die absurdc und komische Konsequenz, Asopische Fabeln mit all ihrer lehrhaften Deutlichkeit u n d moralischen N u t z a n w c n d u n g in Verse zu verwandeln, u n d das durch Sokrates. Selbst Plato hatte damit nicht viel Dichterruhm crwcrbcn konnen. Das zweite, ebenso bekannte Beispiel eines erziihlten Gcsprachs ist das Gastmahl, das >Symposion<, in dem der Auftritt des Alkibiades schlicBlich das schon crwahnte Sokratesportrat bringt. Die ganze Gcschichte vom Gastmahl ist ein erzahltcs Gcsprach. A m Anfang wird berichtet, daB Sokrates auf dem Wege z u m Gastmahl zuriickgeblieben ist. Die Gastgcbcr werden schon unruhig, ob cr am Ende gar nicht k o m m t . Aber ihm war nur zwischendurch etwas eingefallen, und so ging er nicht weiter, sondern dachte
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nach. Das ist gewiB cm sehr portrathaftcr Zug. Ein emzigartiges Portrat des ungewohnlichen Mannes aber bildet der SchluB, mit der durch HaBliebe inspiriertcn Rede des bctrunkenen Alkibiades auf Sokrates, die die ganze Szenerie des Gastmahls sprengt. Die beiden Dialoge, die ich hier in den Vordcrgrund stelle, haben sehr verschicdcne Gesprachsgegenstande. Beide sind aber mit dem Leben und Sterben des Sokrates so wesenhaft verkniipft, daB man von beiden sagen kann, sie sind als Ganzes ein Portrat des Sokrates. Beginnen wir mit dem ersten, der die letzten Stunden im Leben des Sokrates schildert. Was da erzahlt wird, bedeutet nicht nur einen ausgezeichneten Hohepunkt und E n d p u n k t im Leben des Sokrates, es bedeutet zugleich eine cntschcidcndc Wende fiir das Leben Platos u n d sein gesamtes Schrifttum 3 . Man versteht sofort, wie die Idee, diese letzten Gesprache durch j e m a n d anderen erzahlcn zu lassen, Distanz schafft und damit Plato die Moglichkeit gibt, Sokrates, wie er war u n d sich verhielt, u n d nicht nur in dem, was er zu sagen hatte, zu schildern. So w u r d e es auf diese Weise fiir Plato offenbar moglich, weit iiber das hinauszugchen, was eine bloBe Erinnerung zu berichten wuBte, wie sie etwa die >Memorabilien< des Xenophon enthaltcn, die zu dcr Ennnerungsliteratur an diesen cinzigartigen M a n n gehoren, der in den StraBen Athens ebenso bekannt wie unbequem war, bis man ihn schlieBlich beseitigt hat. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, die platonische Portratkunst in ihrer philosophischen Bedeutung zu zeigen. Plato portratiert nur, weil cr argumentiert. Er portratiert nicht allein, um eine dichtcrischc Wirkung zu erzielen, sondern u m als Denkcr durch dichterische Darstellung etwas zur Sache zu sagen. Die Sache, um die es im >Phaidon< geht, ist die Frage dcr Unsterblichkeit der Seele. So etwas bcschaftigte das aufgeklarte Jahrhundert, in dem das Ganze spielt. Die beiden Hauptteilnehmer an diesem letzten Gesprach, Simmias und Kebes, k o m m c n beide aus dcr pythagoreischen Wissenschaftswelt. Es ist ganz offenkundig, daB sie nicht in erster Linie Mitglieder einer religiosen Sekte sind. Sie sind vielmehr mit dcr moderncn Mathcmatik, Medizin u n d Biologie der Zeit genau vcrtraut. Sie wissen z u m Beispiel, daB das Material des menschlichen Korpers sich in sehr geringer Zeit total auswechsclt. Niemand bchalt diesclbcn Zcllcn sein Lcbcn lang, die seinen Organismus bilden, wie wir heute sagen wurden. Die Pythagoreer wuBten gewiB nichts von Zcllcn. Abcr sic wuBten bereits das Wesentlichc, daB der Stoff, aus dem der Leib bestehc, verbraucht wird, u n d erneuert wird, wie ein Gewand. Sokrates versucht, den beiden Mitunterredncrn gegen ihre Einwandc in umfangreichen Darlegungcn zu zeigen, daB die Seele nicht sterben 3 Vgl. dazu auch meine Arbeit iiber die Unsterblichkeitsbeweise in Platos >Phaidoin, Ges. Werke Bd. 6, S. 187-200.
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kann, well die Seele uberall das Belebende sei. Niemals kann man Seele, diesen atcmgleichcn Hauch, der zugleich ein geistweckendes und gegenwartschenkendes Etwas ist, sich anders vorstcllcn, als wenn es den M e n schen bescelt. So soil sich die Unsterblichkeit der Seele sozusagen logisch beweisen lassen, Plato oder sein Sokrates bereitet diesen Bcwcis vor, indem er auf mathcmatische Dinge zu sprcchcn k o m m t . Er zeigt, daB Zahlen offenkundig etwas sind. Aber was sind sie eigentlich? Sie haben ein eigentiimliches Scin. Jedenfalls nicht eins von der Art dessen, das die Dinge haben, die mit ihnen gezahlt werden. Zahlen sind auch nicht wie der letzte Atemzug des Sterbcndcn, den m a n sieht und hort. So k o m m t eine neue Spannungin das Gesprach. Sokrates zeigt etwas an den Zahlen, was ist, ohne daB man weiB, was cs ist, w o es herkoinmt, w o es hin ist. M a n weiB jcdoch, daB es so und so ist. Wir alle, auch wir Laien, kennen etwa die Tatsache, daB es Primzahlcn gibt und daB diese in der Zahlcnrcihc immer scltener werden und daB doch keiner sagen kann, wann die Reihe der Primzahlen j e aufhort. Unsere Mathematiker haben Theorien und Modelle entwickclt, um diese Ratsel des menschlichen Geistes zu losen. Aber es bleibt ein Ratsel, daB m a n da in den Zahlen selber etwas produziert, das auf uns Realitatszwang ausubt. Es steht nicht in unserem Belieben - obwohl es doch so einfach scheint, immer eins und eins und dann wieder eins dazuzuzahlen, endlos eins plus eins. Da mogen unsere Mathematiker oder auch nur unsere Schulkinder sich vergniigt die Hande reiben. Aber am Ende wird es doch schwierig, zum Beispiel, w e n n ein Kind die allergroBte Zahl, die es gibt, wissen mochtc, Es ist ein seltsames Sein, das die Zahlen haben. Das wird schlieBlich zum Einstieg in die Tatsachc, daB cs so etwas gibt, das man nicht mit Handen grcifen kann, das auch der Naturforscher nicht in seiner Seinsgeltung mit seinen Mitteln erfassen kann. Vielleichtist es mit der Seele ebenso wie mit den Zahlen oder den normativen Ideen und Idealen, unter denen die Gesellschaft ihr Zusammenleben ordnet. Der platomschc Sokrates liebt es, zwei Beispiele zu geben. Da ist das Gleiche selbst, sozusagen ein idealcs Paar von zwei Gleichen, und da ist die Gerechtigkeit selbst, das Gerechte selbst. M a n spurt cinc Art Nachbarschaft zwischen dem einen und dem anderen, d e m Gleichen und der distributiven Gerechtigkeit, diejedem das gleiche gibt. M a n spurt auch, daB beides vollcr Ratsel ist und daB da noch vicl mehr dahintersteckt. So wird schlieBlich der Beweis gefuhrt, wie die Seele den T o d nicht annehmen kann, weil i m m e r das Leben mit ihr ist. D e r Tod ist dahcr immer ausgeschlossen, und die Seele ist adavazoc, unstcrblich wie die Unsterblichen. Beides scheint unzertrennlich, die Seele u n d die Gotter, beide untrennbar von Unsterblichkeit. Hier muB m a n sich zugleich bewuBt machen, daB die Unsterb lichen, von denen die M y t h e n und die Dichter erzahlcn, fiir die Sterblichen Erscheinungscharakter haben. Ebenso crscheint die Seele nur im Leben und als Leben -
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wahrend der Tod in das Dunkel des ignoramus gehiillt ist. - Dann aber iiberrascht der Fortgang des Gespraches mit einer neuen Frage, ob die Seele denn auch unverganghch sei. GewiB ist es ein altes sprachlichcs Zwiegespann dddvawv mi dvulr.dpov, unsterblich und unverganglich. Es khngt wie ein u n d dasselbe. Die neue Beweisfuhrung f u r mnverganglich* ist daher schwer zu verstehen. N u r das Ziel wird deutlich, daB abermals mathematische Wahrheiten fiir Wesen, die denken konnen, geltend gemacht werden. A m Ende k o m m t es freilich heraus, daB Sokrates selbst weiB, daB seine Bcwcisfiihrung nur rationale Grundc gegen die Unsterblichkeit zu widerlegen vermag, aber keinen positiven Beweis fiir dieselbe darstcllt. Hier liegt fiir uns die eigentlichc Bedeutung des Gespraches als eines Portrats des Sokrates. N u r die praktische Konsequenz, das Festhaltcn an der religiosen Vorstcl lungs welt, in der alle leben, wird am Beispiel der Haltung des Sokrates angesichts dieses Unbeweisbarcn und UnwiBbaren gestiitzt. So wird das Portrat des um Wissen Betniihten und von der Angst des Lebcns Unerschiitterten z u m starksten aller Argumcntc. Sinimias gesteht nach der sokratischen Beweisfuhrung, er sei noch nicht so ganz iiberzeugt. Er tncint offenbar, daB das Kind in uns, das in uns Angst hat, von dem friiher die Rede war, doch nicht so ganz beruhigt bleibe und daB doch wieder Zwcifel k o m m e n konntcn. Da lobt ihn Sokrates, und das sei richtig. So solle man sein Leben lang sich bei solch einer Frage nicht sicher fiihlcn. Dagegcn solle man sich in der eigenen sittlichen und gesellschaftlichen Praxis so verhalten, als ob man wisse, und daB m a n von den Gottcrn im Hades gut aufgenomliien werde. So sollten wir uns alle verhalten. Wieder zeigt sich damit Sokrates als der ahePfc, den wir kennen. Auch er weiB nicht, wie es wirklich ist. Jedenfalls aber miissc m a n sich in seinem Leben so verhalten, wie es einem gut und richtig scheme. Das weiB er. Das Portrat, das der >Phaidon< gibt, ist ein wahres Meistcrwcrk in der Reihe der literarischen Portrats, die wir Plato verdanken. Es zeigt Sokrates in seiner Stcrbestunde. Man braucht nur die beriihmten letzten Worte des Sokrates in Erinnerung zu rufen, wie er noch, als seine Gliedcr schon erkaltetcn, zu scinen Freunden sagt: »Ihr miiBt dem Askulap noch einen Hahn schlachten. « Da ist nichts von dem Tiefsinn darin, den etwa Nietzsche im Geiste Schopenhauers damals darin fand. Es ist vielmehr wic in der Eingangsszene mit dem Traum, der Sokrates dichten laBt. Es ist abermals die sorgsamc Befolgung dessen, was durch Brauch und Sitte geheiligtes H e r k o m m c n ist - auch wenn Sokrates abermals der Nichtwisscndc bleibt. Mein zweites glanzvolles Beispiel cines litcrarischen Portrats durch Plato stellt das >Symposion< dar. Wieder wird unsere Aufgabe sein, das Portrat, das hier entsteht, als die Vollcndung eines Arguments zu erkennen. Dies Gastmahl verlauft als cin Fcst von Reden. SchlieBlich handelt es sich ja u m Griechen. Wer j e in Griechenland gewesen ist, weiB, was fiir ein unaufhorli-
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cher Wellenschlag in jedcr Strafienbucht Athens rauscht und rauscht und von dcr ungchcuercn Redelust und Redcbegabung der Griechen zeugt. Bei diesem Gastmahl, von dem hier erzahlt wird, sind die Glieder eines Freundeskreises zusammen, bei dem der preisgekronte Tragodicndichter Agathon und der Komodiendichter Aristophanes ncbcn cinigen anderen mit Sokrates zusammen sind. M a n hat sich besprochen, nicht ein wildcs Trinkgelage zu halten, sondern liebcr vcrnunftige Reden zu tauschen. Das T h e m a der Rcden solle Eros sein, die Leidenschaft der Liebe. Alle Teilnehmcr riihmen mit geistreichen Reden, und Aristophanes sogar mit einer tiefsinnigen Rede, den allmachtigen Eros und prciscn seine Schonheit. A m Ende k o m m t Sokrates an die Reihe, u n d ein sokratisches Gesprach hebt an. Sokrates beginnt zu fragen, wie das eigcntlich mit dem Eros sei. Er sei doch ein Verlangen, aber ein Vcrlangen, das heiBt doch, daB m a n nach etwas verlangt, und zwar nach etwas, was einem fchlt. Auch das wird ihm bestatigt. Daraus folgert aber Sokrates: dann ist Eros uberhaupt nicht schon, wie ihr immer sagt, da cr ja nach dem Schonen verlangt. Eros ist also nicht der schone Knabe, der immer im Gefolge Aphrodites ist, sondern ist dcr unbeschuhte, in seinem Vcrlangen Ungestillte. Er ist selber nicht schon, sondern ist auf das Schone verlangend gcrichtct. Dasistechter Sokrates, cincBcweisfuhrung von unhcimlicher Folgerichtigkeit. In Wahrheit offhet sich hier eine neue Welt des Gedankens. Im iPhaidom war bereits eine erste Einfiihrung in diese Welt geoffnet worden. Da wird namlich in dcr beriihmten Selbstdarstellung des Sokrates erzahlt, wie Sokrates das Buch des Anaxagoras auf dem M a r k t gekauft habe. Es habe soundso viele Minen gckostet. Die Amerikaner haben ausgcrcchnct, wie lang bei den damaligen Arbeitslohnen fiir Schrcibcn, die wir keimen, das Manuskript, also das Buch gewesen sein kann. Es w a r anscheinend ein zicmlich kurzes Buch. Darin wird bekanntlich v o m votK, wir wiirden sagen, v o m >Geist<, gesprochen, und das ist eine ganz neue Bcdeutungswelt, die sich fiir Sokrates mit dem vovc; verbindet und iiber die er bei Anaxagoras Hilfc crwartct. N u n ist Sokrates bekanntlich nicht mit dem zufrieden, was er da findet, wie der vow; den entscheidcndcn AnstoB zur Weltbildung gibt. Das wolle er nicht wissen, wie der vovc; da pufft und stoBt. Er wolle wissen, w a r u m die schlieBliche O r d n u n g der Welt so ist, wie sie ist, und w a r u m es eine so gute O r d n u n g ist. Das ist der vovq, den er sucht. Er ist nicht selber so etwas Gutes, ein feinstes, rcinstes, alles durch drin gen des Etwas, wic Anaxagoras ihn schildert, sondern der wCc sieht auf das Gute hin. Sokrates erwartct in dem wwcnicht so sehr ein Etwas, das die Weltbildung in B e w e g u n g setzt, sondern ein Etwas, das auf das Gute und Schone der O r d n u n g der Welt gerichtet ist. Dcr VOVQ, das Denkendc, der Geist, ist nicht ein von allem anderen Seienden Unterschiedenes, sondern das alles Seiende Unterscheidendc. Es ist die gleiche Wendung, die sich im >Symposion< findet; Sokrates
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zeigt, daB es mit der Liebe, dem Eros, genauso ist. Er ist das Verlangen nach dem Schoncn und nicht selbst etwas Schones. Sokrates wuBtc wahrlich von der gcwaltigen Macht der Leidenschaft, die einen hinreiBt, aber er sieht, daB Eros nicht nur cine N a t u r m a c h t ist, sondern nach etwas verlangt. Eros ist immer rpicc uvoc, und er geht i m m e r auf das Schone. Dann muB aber dieser D a m o n , wie Diotima ihn nennt, zwischen dem Schonen und d e m Hafilichen unterscheiden, wenn er das Schone licbt. Dann ist er in Wahrheit Dcnken: 'Epwc YiXt'woijtx. Selbst wer besinnungslos von seiner Leidenschaft hingerissen ist, ist in seiner Leidenschaft auf etwas genchtet, von etwas gebannt, das tiber ihn gekommen ist. Der Beobachter mag vielleicht meinen, daB diese Leidenschaft ihm jede Vernunft und Untcrscheidungsfahigkeit genomincn habe. Aber fiir ihn selbst ist cs das Schone und nie das Hafiliche, das ihn cinnimmt. So fuhrt Sokrates das Gesprach mit Agathon, bis dieser sich der Oberflachlichkeit seiner Eros-Preisung und seiner Unwissenheit bewuBt wird. Doch nun k o m m t Sokrates an einen Punkt, an dem er das Gesprach mit Agathon abbricht. Er fahrt fort, iiber ein Gesprach mit der Priestcrin Diotima zu bcrichten, die ihn in den Liebesdingen unterwiesen habe. Wieder ist eine ungreifbare Ironie in der sokratischen Berufung auf die Priesterin Diotima aus Mantincia. Plato deutct damit kunstvoll an, daB es doch wohl immer Sokrates ist, wenn Diotima in d e m Gesprach ihre Fragen stellt oder auf die Fragen des Sokrates antwortet, und dafi cs cbensoschr Sokrates sein wird, wenn die Gesprachsfiihrung ganz auf Diotima iibergeht und Diotima vollends zusammenhangend das Wort fiihrt (Symp. 202e), und selbst wenn Diotima ihm (21 Od) nicht mehr zutraut, dafi er wird folgcn k o n n e n - u n d das wiederholt Diotima ofters und ermahnt ihn, sich anzustrengen, damit er f o l g e n k a n n - , wird es nicht anders sein. Auch dann ist es nicht eitic wirkliche Diotima, die redct, sondern cs ist Sokrates, der iiber sich selbst hinausgeht und die ganze Vision des Liebesweges ausbreitet. M a n muB nur beachten, wie sich Diotimas herablassende Distanzierung i m m e r weiter steigcrt. Es ist eben immer Sokrates, beginnend mit der lcisen Verspottung Diotimas, die ihm den Eros als ein universales Lebensprinzip dargestellt hat, " wie die nehtigen Sophisten« (208c [}. »>Du mufit wisscn«, das heifit doch wohl, »das kannst du mir glauben«. Dann fahrt sie fort, alles auf das Verlangen nach Unsterblichkcit zuriickzufiihrcn und den Eros in alien von den Menschen gelebten und geleisteten Gestaltungen wiederzuerkennen und in all dem das Verlangen nach Unsterblichkcit zu erkennen. O b wohl Plato und seine Leser zunachst nicht Frauen meinen, sondem die homoerotische u n d padagogische Leidenschaft fur j u n g e begabte Knaben, wird die Liebe zum Weiblichen als Liebe zur Z e u g u n g und zum Fortleben und zur Kinderzeugung und zum Kinder-Haben miteinbezogen (208e2). Das ho here Verlangen, die rechten Gedanken, die Xoym, in anderen Seelen zu wecken und in ihnen vor allem
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das Schone zu sehen, das beherrscht offenkundig die ganze Liebesweisheit, die Sokrates hier v o n Diotima lernt. Es bleibt offen, sicherlich weil es gegenstandslos ist, wie bei manchen anderen solchen platonischen Erfindungen oder Ausdcutungen, z u m Beispiel in der >Apologie<, bet der Rechtfertigung des sokratischen Tuns als Gehorsam gegeniiber dem Dclphischen Orakcl. So bleibt es auch hier offen, ob Sokrates erst durch die angcblichc Lektion der PriesterLn seinen padagogischcn Eros gefunden hat. Nicht u m sonst sagt Diotima (209e5), daB Sokrates in diese Liebesdinge gewiB cingeweiht werden konne. Das versteht m a n lcicht von Sokrates, wenn da der Ubergang von einem schoncn und beg ab ten Jung en zum anderen gcschildert wird, und daB das, was m a n auch in anderen sucht, die Xoyoi sind, u m die es geht (210c) f.). Ist cs nicht am Ende i m m e r schon Sokrates, der diese Liebesweisheit hat? Man hat allcrdings Ursache, sich zu fragen, was Diotima schlicBlich zweifcln laBt, ob er iiberhaupt bis zum Ende wird folgen konnen. Zweifelt am Ende der platonische Sokrates an sich selbst und an dem Aufstieg zu dem cincn Schonen, das wie eine plotzlichc O f f e n b a r u n g in seiner Einsichtigkcit, Reinheit und Einheit sichtbar wird, oder wird hier Sokrates glcichsam iiber sich selbst hmausgetricben? Es klingt wie ein Schritt in die Richtung der Ontotheologie, den der Physiker Aristoteles tun wird und wodurch er zum Begriinder der Meta-Physik und zum Ahnherrn der christlichen Scholastik und am Ende zum Vorbereiter der modernen Welt der Wissenschaft g e w o r den ist. Die nochmalige Schilderung des Aufstiegs wird i m m e r dcutlicher, wird iiberdeutlich, und das heiBt: durchsichtig, wenn der Aufstieg von einem schonen Korper zum anderen und dann zu den schoncn Seelen fiihrt. Man ist ein wenig ratios, wenn man diese Steigerung liest. Doch ist cs ein wohlbekanntcs Problem der Konstitution des Allgemeinen, der f'/7«) a}?/ (die gewiB nichts mit mumeratio simplex (vollstandiger Aufzahlung) zu tun hat und den Ubergang zum voeiv nimmt). Was in dieser Schilderung des Licbcsweges anklingt, ist nichts anderes als die Erfahrung des Dialektikers, wie sie etwa Aristoteles in den >Analytica posteriora< (B 19) schildert. Diotimas Zweifel, o b Sokrates da wird folgen konnen, scheint selber von ironischer Wohlbegriindetheit. Das ist nicht mehr Sokrates, der diese dialektische Struktur in die padagogische Licbeserfahrung hineinprojiziert. Der Sokrates des >Phaidros<, der sonst mit logischer Ausdeutung nicht spart, ist da zuriickhaltender als Diotima und sieht zwar auch in dem holdcn Wahnsinn der Verliebtheit die Erhebung und den Ubergang zum Wahren, aber nicht in einem solchcn Durchlaufen aller schoncn Lcibcr und aller schoncn Scclcn. Das ist gleichsam nur der Ausdruck fiir das nicht recht Sagbare des Allgemeinen. Oder ist es noch mehr? Man kennt immerhin ein ahnhchcs Zogcrn und halbes Ausweichen, wie es hier Diotima zeigt, wenn Sokrates in der >Politcia< nach dem Guten
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gefragt wird. Da hat er die vier platonischcn Kardinaltugenden iiberzeugend machen konnen. Aber dann wird cr auch noch auf die Frage nach dem Guten, d e m ju-yunov padrfpa, zu antwortcn gendtigt, und das wird von ihm als unfafibar und ungreifbar, nicht lchrbar wie andere pad?jpam bezeichnet. SchlieBlich greift er zu dem Gleichnis der Sonne, und spater zu dem H o h l e n gleichms, u m den neuen Erziehungsweg fur die kiinftigen Regenten des Ideal staats zu entwerfen. Man wird die Parallelitat zwischcn diesem Wege und d e m Wege zum Schonen i m >Symposion<, zum Guten in der >Politeia< zu beachten haben. Wenn jetzt die sokratische Argumcntationskunst nicht mehr nur Negatives bewirkt und die Definitions forderung bei den anderen zum Scheitern bringt, wird man einschen, daB jetzt in Wahrheit die Ausweisbarkcit durch den \6yo<; iiberhaupt iibersticgen ist, beim Schonen selbst wie beim Guten selbst. So naheliegcnd es auch fiir Plato immer ist, im Gesprach v o m Schonen z u m Guten und v o m Guten zum Schoncn wie zu dem Gleichen zu wechseln, so gibt doch der >Philcbos< eine eigene Bcstatigung daftir, daB beim Schonen wie beim Guten nur schwer cine wirkliche begrifflichc A n t w o r t zu finden ist. Das Schone selber wird am Ende als das crscheinende Gute nur dreifach (aw rpioi), in einer Dreiheit von Bcstirnmungen, bcschrcibbar, und im >Pohtikos< heiBt es gar schon »das Genaue sclbst« (aim m cncptfiet;), das als das innere MaB in allem (und nicht iiber allem) ist. Wie hilft sich Plato hier im >Symposion< gegeniiber dieser Schwierigkcit? Ich denke, er hat sich hier wie sonst schon langst geholfen. Man mufi nur die Dialoge wirklich lesen und nicht das Material allein zur Rekonstruktion seiner Lehre - oder gar der kantischen Lehre oder selbst der ungeschriebcnen Dialektik Platos - gebrauchen, die jedenfalls auch keine lernbare Lehre war. Es ist Sokrates in seiner ganzen Lebensfiille, der das Geschehen dieser Gesprache u m cine das Begrifflichc nur andeutende Dimension bereichcrt. Sokrates ist nicht eine bloBe Rolle, in die Plato schliipft. Seine Untcrredner sind am Ende stets wir selber, wir denkenden Leser. Das konnte man ignorieren, insbesondere, wenn man im Zauberbann moderner, sogenannter wis sen sch aftlicher Philosophie hintrieb und das platonische >System< in Plato, das aristotclische >System< in Aristoteles, das scholastische >Systcm< in T h o m a s Aquinas, das gegenreformatorische >System< in Suarcz sah und am Ende an den System begriff des deutschen Idealismus dachte und in Wahrheit so immer nur das eigene System der Philosophie aus solcher Scheiniibcrlegenheit wicdcrzuerkennen suchtc. Im Falle des >Symposion< kann man aber schlccht konstruieren, und m a n kann auch den dramatischen SchluB nicht beiseite schieben, der die ganze Schilderung des Liebesweges der Diotima von der Person des Sokrates her interpretiert, wic Alkibiades ihn portratiert. Hier wird m a n nicht auf etwas vorbereitet, was Plato besser weiB u n d sagen konnte. Da wird das Auftreten des Alkibiades geschildert, wie er beim Anblick des
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Sokrates erschrickt, wic er ihn verehrt - und wic cr schlieBlich bei dcr geradezu schamlosen Erzahlung seiner inneren Erfahrung mit Sokrates jedes MaB und jede H e m m u n g verliert. Was er da erzahlt, ist cin Zeugnis eigener Art fur das, was Sokrates bei Diotima gclernt hat und was cr war. Das platonische Ideal der dorischen Harmonie von Xoyoc, und epyov tritt hier leibhaftig in Sokrates in Erscheinung, Die Strategie der Verfiihrung, die Alkibiades schildert, hat kemen Erfolg, weil Sokrates unverfiihrbar war. Eben das wirft ihm Alkibiades sogar vor. Dieser Mensch gebe sich i m m c r nur den Anschein, als o b cr verliebt sei. Er will in Wahrheit nur von uns geliebt sein. Das ist das Bild, das Plato hier zcichnet. Es sieht so aus, als ob Sokrates von Diotima in den Augen des Alkibiades allzu gut gelernt hat und deshalb ihn nicht lieben konnte. O d e r ist cs am Ende umgekehrt, daB es Alkibiades ist, der nicht zu lieben wuBte, weil er immer nur geliebt sein wollte, und daB deshalb dieser so vielversprechendc Mann der homme fatal Athens geworden ist? Jedenfalls war Alkibiades eine der groBen Enttauschungen, die Sokrates gchabt hat. Wie er am Ende sogar an dem Untergang Athens im Peloponnesischen Krieg schuldig wurde, das waren den Lcscrn Platos bekannte Dinge. Sic haben in diesem Sokrates die platonische A n t w o r t auf das Scheitcrn des sokratischen Zoglings erkennen konnen.Die zwei Bildseiten in dem Buch iiber das literarische Portrat bei Plato, die wir aufgeschlagcn haben, stellen uns nun die Aufgabe, die philosophischen Konsequcnzen zu ziehen. Sie sind von radikaler Art. Da hatten wir aus dem Aufbau der Diotimarede gcschlosscn, wie sich die Schilderung dieses Aufstiegs zum Schonen selbst schrittweise dem Bcgriffsschema der enay&yii annahert. Wir folgerten daraus, daB dcr Aufstieg zu dem Schonen selbst nichts anderes meint, als daB man das Schone, das in allem ist, sehen lernt. N u n klingt das freilich zu sehr nach dem ncuzcitlichen Nominalismus oder nach Begriffen, die man in Plato hineinprojiziert. In Wahrheit hat es abcr eine uberlegene Wahrheit, was in diesem Portrat des padagogischen Eros vor uns ersteht. Auch fiir uns hat cs cine unmittelbare Evidenz, daB nur das Licbe ist, was nicht blind macht, s o n d e m sehend macht, so daB einer den anderen in seiner wahren Moglichkeit zu sehen und sein zu lassen strebt. So liegt in der Lcidcnschaft der Licbc, wenn m a n sich nicht bis zum >falschcn< Wahnsinn von ihr ubermannen laBt, eine Sinnrichtung auf den anderen hin, und diese soli alle wahre Liebesbeziehung tragen. Eine Sinnrichtung heiBt im platonischen Text, daB der wahre Eros auf die >Logoi< hin gerichtet ist, und Logoi meincn stets das fur alle Giiltige. Was ist, wie es sein solltc, was gut und schon ist, das bedeutet dieses eine Schone, das in aller Liebe z u m Schonen das Gemeinte selbst ist. Es kann auch, wenn cs das Schone ist, gar nicht von diesem j e anderen getrennt sem. Es kann iibcrhaupt nie von seiner Erscheinung getrennt sein. Das Schone muB crscheinen, sonst ist es nichts
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Schones. Denn es ist Scheinen und als solches nicht abhiingig von dem, was fiir cin Scicndcs cs ist, ob Mcnsch oder Gott oder was i m m e r schon ist. Scheinen, Erscheinen, Herausscheincn ist wie jener >Splendor<, der nach Plotin iiber das Erscheinendc, wenn es schon ist, wic ausgegossen ist, weil dieser Glanz in der diffusio sui, in seiner Austeilung, sein Sein hat. Plato hat das in einem wunderbaren M y t h o s gezcigt, im >Phaidros<, in dem die in den Lcib gcstiirzte Seele im Anblick des Schonen ihre Fliigcl wieder wachsen spurt und sich zu einem neuen Aufschwung erhebt. Im >Phaidros< heiBt es, daB das Schone vor allem anderen dadurch ausgezcichnet ist, daB es herausscheint (TO EKtpavsouaov), So wird in platonischen Begriffen formuliert, daB das Schone in seinem Wesen crscheinend ist. GewiB hort man sorist von Plato stets, daB alle Erscheinungen an dem Wesen, an dem f/Ax, nur mehr oder minder tcilhaben und auch die schonen Ditigc nic rcinc Schonheit, sondern i m m e r mit anderem gemischt und insofern verunreinigt sind. Aber es liegt in dem eigenen Wesen des Schonen, zu crscheinen. Es ist eine Frage von hochstcm Rang, die auf die gesamte Licht-Metaphysik der Tradition ausgestrahlt hat, ob das nicht die platonische Lehre von den Ideen uberhaupt ist, daB das Wesen in der Erscheinung ist, wie dasTageshcht. So meint cs der j u n g e Sokrates im platonischen >Parmcnidcs<. Was bedeutet das als philosophische Aussage? Ich gehe von einer bei Aristoteles berichteten Mitteilung aus, Plato sei eigentlich ein Pythagoreer gewesen. Er habe nur fiir das Wort fj.if.ujOK das Wort pibekK eingefiihrt, einen Ausdruck anstelle eines anderen fiir die gleiche Sache. Wenn man die griechischen Ausdriicke ubersetzen will, wird es schwicrig. Das Wort >Nachahmung< kann nicht rccht fiir das gclten, was jrfpiiotc, dort meint. Besser ware >Darstellung<. Denn das ist die pythagorclschc Lehre: »Dic Sonne tont nach alter Weise, in Bruderspharen Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise vollendet sie mit Donncrgang.« So beschreibt Goethe in seinen Versen die pythagoreische Sphiirenharmonic. Die Bahnen der Gcstirnc folgcn den Zahlverhiiltnissen, nach denen sie geordnet sind. Das ist die These, daB die Gcstirne die Zahlcn darstcllcn und daB insofern die Erscheinungen die Idealitat der Zahlen erfiillen. Es ist eine mathematische Vision des Kosmos, die sich unmittelbar in der pythagoreischen Weltsichc darstellt. Die Zahlen sind das, was die Dingc im Grunde sind. Die pythagorcischc Lehre vollzieht eine Art Seinsidentifikation voti Sein und Zahl 4 . Plato hat den Ausdruck vcrandcrt, wie Aristoteles behauptet. Statt >Mimcsis> sagt er >Mcthcxis<. Da ist die Ubersetzung vollends schwicrig. Ei4
Vgl. J. KrElN, Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra, § 7 A. In: Quelltn und Studien zur Geschichte der Mathematik. Astronomic und Phvsik. Abt. B, Bd. III.l (1934).
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gentlich heiBt das >Teilhabc<, u n d w e n n m a n es auf latemisch ausdriickt, wird es noch miBverstandlicher: participatio, D e n n da ist es die Vorstellung v o m Ganzen u n d den Teilen, die sich eindrangt u n d im griechischen Ausdruck ahnlich wie in deutschen Aquivalcnten wic >Tcilnahme< u n d >Tcilhabe< eigentlich u n a n w e n d b a r ist. K a n n m a n v o n N e h m e n eines Teils sprechcn, w e n n man Anteil n i m m t ? DaB das Erschcincnde an der Idee teilhat u n d nicht ist wie die Gestirne, die Zahlen n a c h a h m e n oder darstellen, bedeutet indessen m e h r als einen bloBcn Wechsel des Ausdrucks. Aristoteles schwacht cs gleichsam ab, als sei es nichts anderes. Er will eben die Ideenzahlcnlehre Platos mit den P y t h a g o r e ern glcichsetzen, u m ihrer TJnhaltbarkeit N a c h d r u c k zu geben. In Wahrheit driickt sich in dem Wechsel des Ausdrucks ein ganz neucr Boden aus, auf dem Plato seine N a h e u n d seine A b w e i c h u n g v o n der pythagoreischen Wcltsicht austragt. Es ist der sokratisch-platonische B o d c n , den Plato mit der Flucht in die Logoi betretcn u n d unter d e m N a m e n >Dialcktiki in die Welt eingefiihrt hat. Wenn die Sterne durch ihren Lauf die Zahlen zur Darstellung bringen, so m a g man das >Mimesis< nenncn und als A n n a h c r u n g an das eigcntlich Seiendc gelten lassen. >Methexis< dagegen ist ein ganz formales Teilhabc-Verhaltnis, und das heiBt: auf Gcgcnseitigkeit. >Mimesis< ist i m m e r in der R i c h t u n g auf das, dem man sich annahert, hin orientiert, wenn m a n es darstellt. >Methexis< dagegen enthalt, wic schon das griechische peia andcutet, daB es mit dem anderen z u s a m m e n da ist. D a s T e i l n e h men, das piiaXappavrtv, crfiillt sich gleichsam in dem eigentlichen Z u s a m mensein und Z u s a m m e n g e h o r e n , dem p a l ^ r i x . N u n hat gewiB Plato selber den Ausdruck der >Mimcsis< vielfaltig gebraucht, aber n u r u m auf dem ontologischen Unterschied des Nachbildes u n d Abbildcs gegeniiber dem Urbild und Vorbild der Idee i m m e r wieder zu bestehen. Auch ist cs b e m e r kenswert, wie ich schon in meinen ersten Plato-Studien bctonte 5 , daB die Metliexis-Problcmatik nicht eigentlich cine A n t w o r t auf das Verhaltnis der Erscheinung zu ihrer Idee geben will. Plato ist nicht u m s o n s t in der Wahl seines Ausdrucks fiir dieses Verhaltnis ganz u n b e s t i m m t . Das w a r nicht sein P r o b l e m . D e n n dieses Verhaltnis w a r in seiner Flucht in die Logoi vorausgesctzt. Dagegen war es eine u n g e p r u f t e Voraussetzung, unter der m a n die Anpassung Platos an den Neukantianisinus u n d seine Wissenschaftstheone zu vollziehen suchte. So hat Nicolai H a r t m a n n in W c i t e r f u h r u n g N a t o r p schcr Gcdankcn die T h e o r i e v o n der absteigenden Methexis entwickelt, die eigentlich bis auf die Individuation und K o n k r e t i o n zuriickgehcn miiBte. Erst bei Plotin sei die K o n s t i t u t i o n des Individucllen voll entwickelt u n d das errcicht, was Platos Methexis-Dialektik angestrcbt habe. So w i r d die B i n d u n g des Eidos an den Logos miBachtet und in der K o n s e q u e n z dessen die 5
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Sprachc durch den mathcmatischen Kalkiil abgelost. Abcr das ist erst eine neuzeitliche (nominahstische) Wendung. Aristoteles halt dagegen den Ausgangspunkt des Logos fest. Aber fiir ihn sind die beiden Ausdrucke der •Mimesis' und der >Methexis< nur Metaphern, wahrend er selber eine begrifflichc A n t w o r t fiir den Unterschied zwischcn Einzelding und seinem Lidos gegeben hat. Es ist die Einfuhrung des BegrifFs der iU?;, des Stoffes, der Materie, dcr durch sein Zusammensein mit der Form das Konkrete ist, das er das ovvoXov genannt hat. Es ist hier nicht der Ort, den aristotelischen Schritt zur Begriffsbildung und seine innere Abhangigkeit von der Logosund Eidoslehre Platos zu erortern 6 . Unser Ausgangspunkt ist ja die eigene Valenz, die Plato fur die D a rstel lungs weise seines Denkens in Anspruch nchmcn kann und die ihn nicht nur zu dem groBen Portratistcn hat werden lassen, dessen plastische Darstellungskraft wir im >Pha[don< und im >Symposion< bcobachtcn und bewundern. Plato hat cs verstanden, auch in der Begriffssprache seiner Dialektik die Grenze zu bezeichncn, die dem Begriff u n d der Sprache des Menschen gegeniiber den Erscheinungen der Wirklichkcit gcsctzt ist. Man ahnt, daB cs nichts Bcilaufigcs ist, wenn Plato fiir das Verhaltnis zu den Ideen nicht >Mimesis< sagt, sondern >Methexis<. Was Methexis an Probletnen aufgibt., hat Plato in dem hochst ratsclhaften Parmcnides-Dialog, im ersten Teil dieses Gespraches, geradezu auf die Spitze getrieben. Da erscheint als die wichtigste Schwierigkeit bei der Annahme der Ideen. daB die Kenntnis dcr Ideen nur den Gottern zuganglich ware und die Kenntnis der hiesigen Erscheinungen nur den Menschen - ein Chorismos von vollendeter Absurditat. In Wahrheit ist es eine Vordeutung auf die spatcre platonische Dialektik. Sie b n n g t die Auflosung dcr Einwendungen, die Parmenides gegeniiber Sokrates und gegen die Annahme von Ideen erliebt. Man erfahrt am ehesten im >Sophistes<, wic das Problem der Methexis fiir Plato selber eigentlich aussieht. D o r t wird die Problem stellung und Problementfaltung, die der Parmenides-Dialog gibt, positiv aufgenommen. Es war cin groflartiger und ktihner Einfall, den jungen Sokrates im Gesprach nut dem Mcistcr des konsequenten Denkens einzufiihren. Dieser Einfall hat der historischen Forschung und ihrer Suchc nach historischen Tatsachen viel Scharfsinn am falschen Gegen stande abgenotigt. Wieder muB man cine dialogische Argumentation in ihren impliziten Aussagen zu lesen wissen. A m Eingang des Parmenides-Dialogs kritisiert Sokrates die billigc Dialektik, die Zenon gegen die A n n a h m e des Vielen vorgefiihrt hat. Das sei nichts Besonderes. Erst wenn cine cntsprcchende '' Vgl. dazu etwa meine Arbeiten lAmicus Plato magis amica Veritas*, ill Bd. 6 der Ges. Werke, S. 71-89, u n d >l)ie Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles., in diesem BandS. 128-227.
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Dialektik der Ideen selber moglich ware, eitic Tcilhabe der Ideen aneinander und nicht nur die Teilhabe des Einzelnen an der Idee, fandc Sokrates das erstaunlich. Hier zeigt sich sozusagen die unterschwclligc Rolle, die Sokrates im Gesprach mit Parmenides spiclt. Er ahnt das Problem der Teilhabe der Ideen aneinander, wenn er auch so etwas ganz unglaubhaft findet. Stciizel hat seincrzeit richtig beobachtet, wie Sokrates im Gesprach mit Parmenides schrittweise in die Schwicngkeiten genotigt wird, die mit einer allgemeinen Ideenlehrc und der Teilhabe an den Ideen gegeben sind. Bei der A n n a h m e des Schonen und des Guten braucht Sokrates nicht zu zogern, dafi >cs selbst; von allcm unterschieden und getrennt sei, das an ihm teilhat. Hier ist es offenbar selbstverstandlich, daB wir beim Guten, Schonen, Gcrechten cs mit einem Ideal zu tun haben, auf das wir alle hinstreben. Dagegen wird Sokrates, wenn die Annahme von Ideen auf alles ausgeweitet wird, was m a n iiberhaupt sagen und als Gemeintes aussprcchcn kann, in eine steigende Vcrlegenheit versetzt (was 130d Sokrates auch ausdriicklich zugesteht). Freilich kann ich nicht glauben, daB man darin cine Vcrlegenheit Platos sehen darf und iiberhaupt in dem ganzen Vorspiel des Parmenides-Dialogcs gewiB nicht eine Krisis der Ideenlehre, in die Plato gcratcn sei. Das scheint mir eine hermeneutischc Naivitat, die den Sinn des Ganzen verfehlt, Es ist aber auch nicht richtig, die Rolle des Sokrates dabei so zu sehen, als ob er das Problem der Teilhabe nicht verstiinde, wenn er den Einwendungen des Parmenides nichts entgegenzusetzen weiB und am Ende von ihm aufs Krcuz gelegt wird. Sokrates wird vielmehr von Anfang an von dem alten Parmenides mit ausgezcichncter Hochachtung behandelt, auch wenn Sokrates nicht imstande ist, mit den Einwendungen fcrtig zu werden, die Parmenides gegen die Ideenlehrc richtct. Im Gegenteil, Plato unterlaBt nicht anzudcuten, daB Sokrates die A n w e n d u n g der Begriffe Ganzes und Teil und die verdinglichte Form, in der Parmenides sie zur Widcrlcgung benutzt, unangemessen findet. Das zeigt die ticfsinnige Auskunft, den Aporien der Teilhabe zu entgehen, die er Sokrates in den Mund legt, es sei wic mit d e m Tagcslicht, das uberall hin ausgeteilt sei, ohne daB dadurch Licht von Licht u n d T a g von Tag getrennt ware (131b). Auch laBt sich Sokrates die Fessel der Verdinglichung, wonach statt des Tages ein Segel iiber einem sei, nur zogernd und mit cincm » Vielleicht;; gefallen. Ebenso halt cr etwas Sinn voiles fest, wenn er dem >Tritos Anthropos(-Argument zu entgehen sucht, das ihm Parmenides entgegenhalt, und den IterationsprozeB des jcweils dritten Menschen fiir ein bloBes Gedankcnspicl erklart. Wenn cr nur dem Eidos selber ontologische Qualitat vorbehalten mochtc, ist das keineswegs unverniinftig, und es bedeutet nicht eine solche nominalistischc Aufweichung des Eidos, wie ihm Parmenides unterstellt. GewiB ist der j u n g e Sokrates der begnfflichen Klarung des Begriffes der Teilhabe nicht gewachsen. Aber wieder tut Plato alles, damit das nicht als ein blofies Unverstandnis seitens
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des Sokrates hcrauskomtm. Parmenides lobt ihn fiir seine Beharrlichkeit und vcrweist ihn nur auf die Notwendigkeit, sich noch mehr in den >Reden< zu iiben. Bei der O b u n g in den Reden wird er es vielleicht noch lernen, daB es Tcilhabe einer Idee an der anderen - und in diesem Sinne das Eine und das Viele - geben muB, wenn anders cs uberhaupt Logos geben soli. Spates tens wird ihm der Fremde aus Elea, bei dessen Gesprach im Dialog >Sophistcs< er ein Zuhorcr ist, dazu verhelfen. N u n hatte sich gezeigt, daB der absurde Chorismos, gegen den spater Aristoteles seine Kritik richtcn wird, schon im Parmcnidcs-Dialog den eigentlich kritischen Punkt in der Annahme von Ideen darstellt. Das bedeutet in letztcr Konsequenz, daB es sich bei Plato uberhaupt nicht u m eine solche Trennung der Ideen handeln kann, wie Aristoteles unterstellt. »Zu friih hast du ein einzelnes Eidos zu bestimmcn gcsucht« - das ist das letzte kritische Wort, das Parmenides dem Sokrates zu sagen hat. Es deutet darauf hin, daB das Verhaltnis von Ideen zueinander, daB Teilhabe von Ideen aneinander, die dem jungen Sokrates undenkbar schien, die eigentlichc Basis der platonischen Dialektik sein wird. Ein jeder Logos enthalt solche Teilhabe von Ideen aneinander. DaB die Erscheinungen an Ideen teilhaben, bleibt dabei die Voraussetzung, die der A n n a h m e der Ideen zugrunde liegt. Sic scheint im ParmenidesDialog wic in all den grofiartigen Visionen deutlich hindurch, zu dencn sich Sokrates erhebt. Das bczeugt ebcnsosehr der Aufstieg z u m Guten in der >Politeia<, im Bilde des Hohlengleichnisses, wie der Aufstieg zum Schonen, den Diotima als den Liebesweg dem Sokrates darlegt. Hier im ParmcnidcsDialog w i r d e s vollends ausdriicklich, daB Sokrates durch das Gleichnis vom Licht desTages veranschaulicht, wie ein Allgemeines (das iiooSplendor< des Schonen und die Helle des Tages beschrcibcn die Methexis wahrlich besser, als das Verhaltnis von Ganzem und Teil, in das die eleatischc Dialektik den Sokrates verwikkelt. Im Guten wie im Schonen wie im Licht liegt Allgegcnwart von Teilhabe vor. Die Bedcutungskraft der Silbe pera verleiht der fkt>f(,i< den Sinn von Mitsein. Im selben Sinne begegnet die Silbe jif ia bereits im Originaltext des Parmenideischen Lehrgedichtes (Fr. 9). D o r t heiBt es von Licht und Nacht, daB kein Nichts mit da ist (yiia y/tjMv). Das gleiche wie >Teilhabe< liegt im Begriff der Mischung, der freilich abermals eine verdinglichcndc Interpretation leicht macht. Aber im Zusammenhang der Ideen philosophie ist so etwas wie der Begriff der Mischung nicht langer miBverstandlich. So wird von Eudoxos bcrichtet 7 , daB er den Begriff der Mischung zur Detitling der 7
Alexander in Arist. Met. 97, 17-18 (Hayduck).
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Tcilhabc der Erscheinungen an der Idee gebrauclit habe und das In-Sein der Ideen in den Erscheinungen gelehrt habe. Ebenso wird im platonischen -Philebos* die Metapher der Mischung gcbraucht, in der das Gute im menschlichen Leben zu suchen ist. Auch das bedeutet nicht wirkliche Mischung getrennter Bcstandteile, der >Hedone< und des Wissens. Was gemeint ist, ist Mitsein. Auch die Zahl ist mit der Idee, mit dem Sein. So geht der Weg des Denkens immer iiber Unterscheidung en des einen v o m anderen. Aber das ist eben der Weg des Logos, daB cr Mitsein von einem Eidos mit einem anderen Eidos ausspricht. Die Anamnesis vollzieht sich als Dihairesis (SiaipeoK)- In der pythagoreischenMimesis-Metaphorik war cs noch dunkel, wieso die Zahl das Scinsclbcr scm soil. Im >Phaidon< ist es in der sokratischen Flucht in die Logoi sofort evident. Eben damit werden Aussagen moglich, die dann auch fur das Einzelnc Geltung haben, so daB der Satz »Theatet fliegt« falsch sein muB. Das starkste Zeugnis fiir dieses Verhaltnis zwischen den Idccn und dem konkretcn Einzclncn ist aber die Vier-Ursachen-Lehre im platonischen >Philebos<. Da lehnt sich der platonische Sokrates an das pythagoreische Denken in Gegcnsatzen an und zieht die Folgerungen, die im Verhaltnis von Grenze und Unbegrenztem in Wahrheit liegen. Die Pointc besteht darin, daB das Ineinandergemischtsein der beiden Gegensatze von Grenze u n d Unbegrenztem eine dritte Art von Sein unvermcidlich macht. So begegnet hier als Drittes der Begriff des Metrion (peipiov), des Gemesscnen und Bcgrenzten. Das konnte trivial scheinen, daB cs auch das Begrenzte geben muB. Aber an diese Feststellung schlieBt sich im >Philebos< eine andere Folgerung an, die ebenso notwendig zur vierten Grundgattung des Seins fiihrt. Das Dritte neben Grenze und Unbegrenztheit stellt das eigentliche Wunder des Seins dar, das Werden zum Sein, das gewordene Sein. Es ist nicht eine bloBe A n w e n d u n g von Denken, Zahlen, Messen auf das U n b e s t i m m t e u n d U n b c grenzte. MaB gehort hier vielmehr zum Sein. Das liegt in dem Metrion, von dem im >Politikos< als d e m cigcntlichen MaB die Rede ist, das dem Seienden selbst eigen ist. Als konkretes Dascin weist solches MaBhafte auf ein Ur-Sein zuruck, auf die Ursache, den N o u s , der alles regicrt und steuert, so daB es stimmt und zum Ganzen zusammenstimmt, wie das Gute, das Gesunde oder das Schone. Erkennt man die innerc Folgerichtigkeit, wic die vier Gattungen des >Philebos< sich folgerichtig auscinanderentwickeln, dann sieht man auf einmal, daB in dieser Gattungslehre das alte Problem der Methexis sich erneut abbildet. Die beiden zusatzlichen Gattungen, das Gemessene (bzw. Angemessene) sowie die letzte ordnende Ursache, vertreten all das, was durch Denken, Zahlen, Messen und damit am Ende durch den Logos nicht crrcichbar ist: das Konkretc. Der Vcrsuch, aus MaB und Zahl allein das Konkrctc abzuleitcn, wird hier gcradezu desavouiert. Das Konkrete ist unweigerlich
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mit dem >Nous< verkniipft, und so wiederholt die vierte Gattung des >Philebos< die mythische A n t w o r t auf die Wirklichkeit des Wirklichen. Das ist die Teilhabe der Idee an den Erscheinungen, ganz so wie im >Timaios< der D e m i u r g fiir die Wirklichkcit des All cinsteht 8 . Eine weitere Vcranschaulichung dessen, was sich in der platonischen Denkwcise niederschlagt, ist das angebliche zweite Prinzip, das nach Aristoteles von Plato in seiner beruhmten Vorlcsung fiber das Gute neben dem ev, dem Einen, eingefiihrt worden ist. Hier darf ich insbesondere auf meine Arbeit >Platos ungeschriebene Dialektik* vcrweisen 9 . Die mnbestimmte Zweiheit! tritt an die Stellc des awipov, das die ganze Reihe pythagoreischer Begriffe anfuhrt. Wie Plato die Mimesis durch Methexis crsetzt haben soil, so hat cr offenbar auch den Begriff des anetpov in einem neuen, rein >logischen< Sinne zur Geltung gebracht, u m sich von den Konnotationen zu befrcien, die den alteren kosmologischen Begriff des >Apeiron< seit Anaximander belastcn. Aristoteles hat in seiner Physik gezeigt, dafi dieser Begriff des >Apeiron( seine unbestreitbare Geltung auf den unbegrenzbarcn Fortgang des Denkens und auf die Unendlichkeit der Zahlcnreihe griindet. Unter diesem Gesichtspunkt lag es auch fiir Plato nahe, die pythagoreische Tetraktys als Leitschema der Zahlenreihc in Anspruch zu nehmen. Er hat diese erste >Zehn<. offenbar wie ein Ur-Schema aller O r d n u n g angeschen und mit wechselndem Inhalt gefiillt, wenn wir der Aussage des Aristoteles 1 0 vertrauen diirfen. Die geschlosscne Pyramide der Zehnzahl begriindet aber zugleich die O f f n u n g des Zahlens ins Grenzenlose. Die Anzahl ist das Viele im Einen, und dem entspricht das Schema der Zweiheit, dem kein bestimmter Inhalt zuzuordnen ist. Es ist das Prinzip alles Denkens und alles U n t e r scheidens, Es reicht daher sowohl iiber die zahlenthcoretische Bedeutung von nspaq und amipov hinaus, die die Pythagoreer zugleich auf die Astronomic und Musik angewandt hatten. Es reicht uberhaupt iiber jede inhaltliche Ausfullung, auch noch iiber den Begriff der Hyle hinaus, den Aristoteles ihr zuordnet. Geradc u m der Zahlenreihe willen und im Blick auf die Mathematik muB Aristoteles vXi\ auf seinen cigentlichen Begriffssinn hin reinigen, indem er vXauf die votjri} vX/p den >intelhgiblcn Stoff<, ausdehnt 1 1 . Die Uberlegung lehrt, daB Plato in der aoptowc hide, die Grenze der Zahlen und der Logoi gesehen hat. Insofern steht er der aristotelisehen Metaphysik naher als der pythagoreisehen Identifikation von Sein und Zahl. Auch
s Man vgl. dazu meine Arbeit > Idee und Wirklichkeit in Platos >Timaios<<, jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 242-270. 9 Jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 129-153. Z. B. Phys. T 6 , 206b 32 ; Met. A 8, 1073a 2u ; M 8, 1084a, 2 . 11 Vgl. meine Studie >Gibtes die Materie?<, jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 201-217.
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Aristoteles hat ja das awpov tiSuc fiir alle Rede v o m Was-Scin als konstitutiv anerkannt, weil das wfii: u nur gezeigt. nicht in Worten gesagt werden kann. Die Differenz und in gewissem Sinne auch die Oberlegenheit Platos besteht darin, daB fiir ihn diese Grenze des Xoyo<; eine im Gesprach i m m e r wieder >pl6tzlich< uberstiegene Grenze ist, wenn cr den dialogischen Charakter aller Rede fcsthalt. Das ist der G r u n d dafiir, daB Plato der Teilhabe des Einzeinen am Eidos iiberhaupt keine wirkliche Aufmcrksamkeit gewidmet hat - was Aristoteles beklagt. Was Aristoteles damit im Auge hat, findet bei Plato voile Bestatigung, w e n n er eine beliebige Anzahl von Begriffen anbietet, die man fiir das Verhaltnis des Einzeinen zu der Idee, Teilhabe des Einzeinen an der Idee im >Phaidoni (lOOd) gebraucht. Vor allem aber ist die eigentlichc Bewciskraft der von Sokrates mit der A n n a h m e der Ideen verbundenen Argumentation fiir die Unsterblichkeit der Seele ganz u n d gar abhangig von derTeilnahme der Ideen aneinander und setzt die Geltung dcssclben fiir die Einzelseele als selbstverstandlich voraus. So geht der Beweis fiir die U n sterblichkeit anstandslos iiber das rffioq u n d von da aus zu dem Gott. Bcidcs gehort offenbar der Dimension der Ideen an. Wir scheinen v o m Thema weit entfernt, wenn wir das Methexis-Problem der platonischen Ideenlehre und gar die Grundziige der Ideal zahlen lehre mit Plato als Portratisten in irgendeine Verbindung bringen. U n d doch scheint mir die Ersetzung von >Mimcsis< durch Teilhabe, >Methexis< und Anteilnahm e das Wesen der Portratkunst und das Wesen des Portrats gar nicht so schlecht zu beschreiben. Wir hatten in unscren Eingangsuberlegungen Ursache, iiber die Rede v o m realistischen Portrat nachdenklich zu werden, und konnten unsere Bedenken kaum anders bcschrcibcn als eben mit den Begriffsmitteln, die im Problem der Mcthexis begegnen. Ein Portrat ist keine bloBe Mimesis 1111 Stile der Reproduktionsautomatik der modernen Tcchnik, die wir >Aufnahme< nennen. Das aus der N a t u r >herausgerissene< M e n schenantlitz stcllt nicht einen tatsachlichen Anblick fest. Das Portrat - und selbst die mit photographischen Mitteln gemachtc >Aufnahme< - ist nur ein Portrat, wenn es ein Portrat und kein PaBphoto ist. Es ist dann etwas Giiltiges im individuellen Erscheinen herausgeholt, das wir Eidos nennen konnen. Sind wir nicht alle am Ende in diesem Sinne Platoniker? M o g e uns wieder die Weisheit der Sprache leiten. Wenn man >Individuum< und >individuell< sagt, erinnert uns die Sprache an eine verdeckte Wahrheit. Wir mogen von Individuum und Individualitat reden, wenn wir cine ins Wortlose zielende Konkretion leibhaftiger Gegenwart eines Menschen im Bilde oder in seiner Wirklichkeit vor uns haben. Aber wenn wir j e m a n den in seiner Individualitat erfassen oder in einem Portrat, das diese Individualitat wiedergibt, dann ist darin i m m e r zugleich etwas von Wiedererkennung unserer selbst, namlich des Menschlichen in der anderen Individualitat. Sagt uns das nicht schon das Wort >Individuum Ein Blick auf die
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Wortgeschichte ist auBerst lehrreich. Das Wort ist die lateinische Obersetzting von >Atom<. Wenn Plato das letzte Unterscheidbare in der Unterscheidung der sich immer weiter voneinander unterscheidcnden >Ideen< so nennt, sagt er noch azjniiuv cidoq, >unteilbares< Eidos. D e n Ausdruck >Atom* gcbraucht cr offenbar nicht, u m die Spezifikation, die er >Dihairesis< nannte, im BewuBtsein zu haltcn und den falschen Anklang a n D c m o k r i t zu vermeiden, der die letzten unteilbaren Bestandteile in der Natur so benannt hat. Aristoteles gebraucht das Wort dagegen bcreits haufig in demselben logischen Sinne, in detn Platos Ausdruck es meint, namlich als die Grenze der Spezifikation und nicht der materiellen Tcilung. Jedenfalls weisen Wort- und Begriffsgeschichte auf die Hcrkunft aus dem Allgemeinen und auf die Grenze desselben hin. Das Jeweilige, das Aristoteles das zrofe n genannt hat, ist das, auf das man n u r zeigen kann, wenn man cin Dieses meint. Wir nennen es freilich das Individuelle, ohne uns dessen bewuBt zu sein, daB wir damit eine Grenze der Spezifikation meinen, wenn wir etwas >cinzigartig< nennen. Hier liefert der Sprachgebrauch ein Beispiel fiir die Unwiderstehlichkeit, mit der sich Sprache und Gedanke auch noch dessen bcmachtigt, was sic nicht erreichen kann. Es heiBt das Unteilbare und wird von der Herlcitung aus einer sich spcziftzierenden Untcrscheidung her so benannt. Es bleibt noch i m m e r darauf bezogen. Selbst werrn wir fragen, was das Besondere an einem Individuum ist, wird fiir unser Sprachempfindcn gar nicht bewnfit, daB wir das Individuum als >effabile< behandcln. In der Metaphysik beflndet man sich vollends im antiken Erbgang. Da kennt man das Problem, das die Antike so nicht gekannt hat, als die Frage nach dem >principium individuationis<. Es ist nicht zufallig, daB dieses Prinzip cine spate Formulierung und Begriffsbildung ist. Wenn man etwa sagt, die aristotelische Materie, die vkrj, sei das Prinzip der Individuation, so ist das von der MeBgesinnung der neuzeithchen Wissenschaft her gcdacht u n d verfehlt die analogische-Funktion der aristotelischen ?Ur/, die durch ihren Bczug auf popyrri, die Gestalt, und das fifing definiert ist. Die Rede verfehlt also den Sinn von Grenze, der im Begriff der Individuation liegt. In der modernen Wissenschaft werden wir von Raum und Zcit als Prinzip der Individuation reden, wcil das so Gemesscne in der Tat eindeutig gcinacht ist. In Wahrheit stellt nach unserem Sprachgebrauch das Individuelle die Grenze aller Mefibarkeit dar. So laBt sich, was Gesundheit ist, nicht durch reine Mcfiwerte beschreiben. U n d so lieBe sich vieles iiber die Bedeutung des Bedeutungswandels sagen, der am Ende dazu gefiihrt hat, den Begriff des Individuellen ganz aus dem Ordnungsdenken der Metaphysik herauszudrehen, in dem das Wort seinen Ursprung g e n o m m e n hatte. Fiir uns meint das Wort das christlich vermittelte Mysterium des menschlichen Herzens und die Grenzen der Seele, von der schon Heraklit wufite, daB man sie nie ausmessen kann (Fr. 45).
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So sind wir auf dem langen Wege eines Exkurses iiber die Metaphysik und iiber die Grenzen der Logos-Philosophic, die unser antikes Erbe ist, auf unser Eingangsthcma zuruckgefuhrt worden: Was ist ein Portrat? O b cs nun in der Dichtung oder in der bildenden Kunst auftreten mag oder auch nur in dem beschreibcnden Ausdruck >portrathaft<, i m m e r meinen wir, daB die Dargcstellten Personen sind, die in ihrer Individualist die Bildaussage bestimmen. Vom Bild gilt eben der Satz nicht, daB das Individuum >ineffabile< ist. Gleichwohl bleibt das Individuelle ein rclativcr Grenzbegriff und meint nicht ein Dics-da, sondern das Menschenbild, das uns eine Person vor Augen stellt. Denn w o das Individuelle der Person im Bilde hervortritt, ist es ein Z u g im Bilde, in dieser bestandhaften Prasenz, wie sie das flutcnde Leben gcwinnt. Es ist nicht bloB cin >hier und jctzt<, sondern ein Zusammenspiel vieler Einmaligkeitcn, die die Starre beleben. Es ist wie beim Lesen von Schrift oder von Druck, daB das Entziffern in das Verstchen glcichsam umspringt. Auch ein Bild laBt uns plotzlich den Dargestellten lebendig werden. Eine Erzahlung stellt uns etwas wie grcifbar vor Augen, und cbcnso geht es einem, wenn m a n durch eine Darlegung wirklich iiberzeugt wird. Immer ist es dann plotzlich da. Wir ahncn etwas von den Gcmeinsamkciten des Guten selbst, des Schonen selbst und des Genauen selbst, von deren plotzlicher Erschcinung der platonische Dialog spricht. Was das ist, was da >da< ist, ist freilich nicht abermals sagbar. Das bedeutet aber zugleich, daB alles, was in solcher Weise da ist, sich in jedem anders darstellen wird und doch dasselbe ist. So m a g uns ein Portrat zur Wiedererkennung emladen, auch wenn wir den Dargestellten oder Abbilder von ihm nie gesehen haben. So mag uns ein Mythos eine crschreckendc Selbstbegegnung mit insgeheim Gewufitem sein. Oder wie ein Wort, das uns gesagt wird, etwa das Wort der VerheiBung, das an alle ergeht und doch pro me ist. Kehren wir an den Ort zuruck, an dem der neue P l a t o k o p f u n s zu solchem Nachdenkcn gebracht hatte. Ich sah ihn an der Seite des cinzigartigcn Homerkopfes, dessen blindes Auge alles durchdringt. Daneben steht n u n Jahrhunderte liegen dazwischen - der Denker, in dessen Ziige soviel Einsicht, Abstand und Fcrnc von allem, was sich begibt, cingezeichnet ist. K o m m t man dann in den Saal, in dem die M o n u m e n t e aus platonischer Zeit stehen, so Ziehen einen einige Grabstelen sofort in ihren Bann. M a n wird da nicht von Portrat sprechen. Es ware wahrlich unangemessen, den Verstorbenen oder seinen trauernden Vater portrathaft darzustellen. Eine Grabstele ist kein Denkmal einer Person, sondern eine Gcbarde des Gedenkens und des Abschieds. Die Figuren, die voneinander Abschicd nchmen, beriihren einander leise und stehen in einer Stillc, die zwischen den zweicn einen Schwingungsraum schafft — und wenn es auch nur der Jungling u n d sem H u n d ist. I m m e r greift der Traucrnde iiber den Trennungsraum hiniiber und umfaBt
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drucklos den A r m des Vcrstorbcnen. Wie ich bei meinem Besuch in der Glyptothek im Gcsprach mit Herrn und Frau Vierneisel gelernt habe, ist es immer der Hinterbliebcne, der die Hand des Vcrstorbcnen umgreift, wic ein letztes Fcsthaltcn. Es ist Hangen am Leben, das sich feierlich bekcnnt und dennoch die Trennung annimmt, ohne Einspruch. Das hat die Intimitat eines Portrats. Aber es ist mehr ein Portrat des Abschicds. Diese Grabstelcn gehoren derselben Zeit an wie Plato selbst und wie die Platostatue, die damals Silanion geschaffen hat, gewifi nach seinem Tode und doch wie nach dem Leben. Wie die Grabmaler keine Portrats sind, so ist cs auch mit dem Sokratcsbild, das Alkibiades mit dem Silensschrein vcrgleicht, dcr sich offnen lalit und inncre Schonheit erkennbar macht. Im Nationalmuseum von Athcn, wic in den Stiicken hier in Miinchen, liegt cin unfafilichcr Scclcnreichtum. j a h r u m Jahr werden wir durch neue Stiicke beschenkt. Was da in gricchischer Landschaft und gerade >auf dem Lande<, wic wir sagen, von den Stiirmen dcr Weltgeschichte vcrschont geblieben ist, w u r d e 111 unsercn Tagen ans Licht heraufgcholt, wie Gaben der Erdc. Die Athener waren ja zu einem guten Teil ein Bauernvolk, und seine Burger meist selber Landherren und hatten dort ihre Grabstatten. So schlief vieles im Schofie der Erde. Jetzt lehrt uns die Erdc Plato lesen. Plato lescn. hcifit sehen lernen. In diese Lehrgcsprachc zieht uns der platonische Sokrates hincin. Die miihevolle Rechenschaftsgabc, zu der er notigt, die standig inifilingt und im Nichtwissen endet, greift selbst dann iiber sich hinaus, wctin sie im schrittwcise besonncncn Unterscheiden zu etwas fiihrt, was man mit Aristoteles eine Definition (bpioju'x;) nennen kann. Jedes Gcsprach kann sich immer in einem anderen Gesprach fortsetzen oder sollte sich fortsetzen. Der Abbruch ist wic ein Ausblick. Auch das platonische Dialogwerk weist immer wieder Bruchstiicke, Abbriiche, Ubcrgange auf, die etwa im Falle des platonischen >Philebos< schon im Altertum beriihmt waren. Auch der Parmcnides-Dialog endet im Ungewissen. Die zehn Bucher dcr >Politeia< sind gewiB cine kunstvolle Komposition, und doch wimmeln sie von Fugen u n d Rissen und Briichen, die eine irregelcitcte Philologie manchmal auseinandermontiert hat, um sie zu historisch-genetischen Konstruktioncn zusammenzunietcn. Der Schcin historisch-kritischer Oberlegenhcit, der sich so gebardet, vcrgreift sich, wenn es sich u m gricchische Dialektik handelt und gar u m griechischc Gesprachskunst und vollends, wenn es sich u m Philosophie handelt. Es hatte eigcntlich nicht erst der Anerkennung der Echtheit des 7. Briefes bedurfen sollen, damit man nicht langcr Definieren fiir das letzte Wort des Philosophen halt. Die wahre Erfahrung des Denkens ist vielmehr, wie der Exkurs des 7. Briefes bestatigt, das plotzliche Aufleuchtcn von Verstehcn. Aus unermudlicher Bcmiihung um Verstiindigung k o m m t Einsicht zustande, plotzlich, wie jene hochstc Inspiration des Guten selbst und
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des Schonen selbst, von denen die Rede war 1 2 . Wenn man cin solcher Meister dichterischer Kunsr ist wie Plato, n i m m t m a n ilbcrdies g e m die mythische Phantasie in Anspruch, u m Geschichten von spielendcr U n w i r k lichkeit und Bedeutsamkeit der scheinbarcn Endguldgkeit aller schriftlichen Fixierung entgegenzustellcn. So bedurfte Plato auch der Kunst des Portraticrens, nicht, u m das Denken und Rechcnschaftgebcn untcrhaltsamer zu machen, sondern u m das Denken immer wieder an die Unvollendbarkciten unseres mcnschlichen Bemtihens zu erinncrn. Plato wufite so gut u m die Grenzen alien Beweisens, daB er selbst den Ausdruck >Philosophie< u m g e pragt und diesem Inbegriff aller A b w e n d u n g v o m taglichen Handeln und der Hingabe an das theoretische Dasein eine neue innere Spannung und Grenzbestimmung aufgenotigt hat. Es ist freilich aus dem M u n d e Diotimas, in der oben bchandelten U n t e r weisung des Sokrates, daB es heiBt: »Kein Gott philosophiert und versucht, weise zu werden« (da er cs schon ist). Weisheit und das Weise >lieben< crhalt hier den pointierten Sinn, es nicht zu haben, sondern danach zu streben, also zwischcn Unwissenheit und Wissen zu sein. Es ist wie eine Au sein an der fa 1tung der wissenden Unwissenheit des Sokrates, was Plato hier durch Diotima dem Sokrates zu seiner Belehrung cntgegenhalten laBt. Freilich, so geht die Fiktion weiter. Sokrates hat es eben von der Sehcrin gelernt, u n d er erfiillt, was er gelernt hat, auf exemplarische Weise. Damit wird das Sokrates-Portrat, das in der platonischen Inszenierung des Gastmahls entsteht, in Wahrheit zum Sclbstportrat Platos. Nicht umsonst gebraucht er gern den Ausdruck SiaXrKitKq und sagt das nicht im terminologischen Sinne von Dialektik, der seit Aristoteles festgeworden ist, sondern bezieht sich auf die sokratische Kunst zuriick, Gesprache zu fiihren. Die Argumentation in Gegensatzen, die aus der eleatischen Schule an den N i men Zenons gcbunden ist, ist d e m Wort erst durch den platonischen >Parmenides< zugewachsen. M a n pflegt den Untcrschied der antiken und der modernen Dialektik seit ihrer E m e u e r u n g durch Kant und vor allem bei seinen Nachfolgern darin zu sehen, daB jetzt erst Dialektik den positiven Sinn einer philosopliischen Methode erlangt hat. Von Hegel ist sie gcradezu die Methode des philo so phi sehen Beweisens genannt worden. Das ist richtig, aber nur richtig, wenn m a n den Wissen s ch a fts beg riff der Neuzcit, die f u n d a m e n t a l Rolle der Methode und das entsprechende Beweisideal, voraussetzt. Eine Dialektik, die u m die Grenze des Logos weiB und an seiner Einbettung in den pragmatischen Lcbcnszusaminenhang festhalt, kann v o n da aus >negativ< heifien. In Wahrheit verwirklicht sich darin das sokratische
12 Vgl. dazu meine Abhandlung >Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief), jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 90-115.
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Ideal der >dorischcn Harmonic von Logos nnd Ergon* 13 , u n d solangc diese gilt, erinnert das Portrat an die Rechcnschaftsgabe des Denkens. Denn das Portrat enthullt die Allgemeinheit des Individuellen - wie alle wirkliche Erkenntnis. So ziticre ich nochmals die geistreiche Unterschrift, die Hegel einmal unter sein Portrat gesetzt hat: »Wcr mich kennt, wird mich hier erkcnncn.« Ich gebe dem eine ahnliche Wendung: Wer Platos Kopf in der Glyptothek betrachtet, sollte, s o f e m man Plato kennt, Plato darin erkennen, und dann werden zwei Jahrtausende unserer Geschichtc uns daran crinnern, was Menschsein ist und was Denken ist.
13 Zu diesem Prinzip vgl. meine Studie iiber Logos und Ergon im platonischen >Lysis< Ges. Werke Bd. 6, S. 171 -186.
8. Unterwegs zur Schrift? (1983)
Seit emigen Jahrzehnten ist das Problem der Schriftlichkeit weit in den Vordcrgrund unscrcr Interessen auf dem Gebiet der Friihgescbichte der Volker und ihrer literarischen Uberlicfcrung geriickt. A u s G r u n d e n , die hier nicht erortert werden konnen, ist sogar ein methodischer Vorrang der Schrift gegeniiber der lebendigen Rede entwickelt worden, sofcrn die E m grabung von Spurcn, wie sie die Zeichen der Schrift vor der verhallendcn Sprache voraushaben, einen Weltaspekt von eigenem Rcalitatsrang reprasentiert. Texte bezichen sich auf Texte: In der Nachfolge Nietzsehes und Hcidcggcrs ist dieser Gesichtspunkt vor allem von Derrida entwickelt w o r den. Auf der anderen Seite hat umgekehrt die steigende Einsicht in das Weitcrlcben miindlicher Traditional seit unseren Erfahrungcn mit den serbokroatischen Heldcngesangen unseren Blick fiir mundliche Traditionen und ihrc Lebenskraft berichtigt und gescharft. So wird man cingeladen, nach dem gcmeinsanien Grunde zu fragen, der der Miindlichkeit der Rcdc und dem Schreiben zugrunde liegt. Man wird sich fragen: Ist nicht in dem Gebrauch von Worten immer schon so etwas wie ein D r a n g zur Fixicrung enthalten? Wortc haben ihre Bedeutung. Bei alien Einschrankuiigen, die man von alteren und ncucren Gesichtspunkten aus erheben kann, bleibt doch etwas wahr an Husserls entschicdcncr U n t e r scheidung der Funktioncn von Ausdruck und Bedeutung. Die ideale Einheit der Bedeutung, von der Husserl in seiner ersten Logischcn Untersuchung handclte und mit der cr das Feld der eidctischcn Reflexion iiber die D i m e n sion der mathematischen Gegenstande hinaus erwcitcrte, schlieBt zwar eine kiinstlichc Isolierung des ein2elnen Wortes ein. Nicht das Wort als solches ist ja durch eine einheitlichc Bedeutungsintention konstituiert, sondern die Wortwahl, und das heiBt, die Rede selbst, die sich in Worten artikuliert. So crfahrt die Bcdeutungsvielfalt, die Worten anhaften kann, erst aus dem Z u s a m m e n h a n g der Rede ihre Bcstimmung. Diese wicdcrum lafit sich nicht vollstandig auf die Einheit des Satzes reduziercn, sofern Rede in den breiten Strom zwischcnmenschlicher Verstandigung eingebettet ist, der keine Isolierung vertragt und zu dem iiberdies sowohl vorsprachliche wie auch mchtpropositionale AuBerungcnbeitragcn. Damit wird aber die cigenthche
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Frage in "Wahrheit n u r zugescharft: Wie baut sich uberhaupt die Einheit und Sclbigkeit von etwas Gemcintcm und Mitgeteiltem im Zeitflufi des Geschehens zu seiner Selbigkeit auf? Es ist denkwiirdig, wie schon die ersten Reflexionsschritte des gricchischen Denkens hier angesetzt haben. Aristoteles spncht am Ende seiner zweitcn Analytik von dem Prozefi, in dem das Allgemeine in seiner bleibenden Identitat zustande k o m m t 1 . Wenn dies auch in einer logischen Schrift geschicht, so ist es doch gerade nicht die Logik eines Argumentations- oder SchluBzusammenhanges, die fur diese Frage eine zureichende A n t w o r t darstellt. Aufs deutlichste ist es vielmehr das Ratselhafte der iMnemei, des Gedachtnisses, worin sich Bleibendes aufbaut. Es heiBt ausdriicklich: Aus der Vielheit von Begegnungen oder Wahrnehmungen, die behalten werden, erwachst die Einheit der einen Erfahrung, u n d diese Erfahrung wiedcrum erhebt sich zu der bleibenden Einheit des Allgemeinen, auf der sich der Logos aufbaut. Er hat seine Grundlage im Meinen von etwas, im >Noein< frotiv), dem unmittelbaren Innesein des Gemcinten als solchen. Was m a n spater als die Theorie der Begriffsbildung oder gar als die logische Theorie des induktiven Bcweises daraus abgelesen hat, weist in Wahrheit auf das Gcheimnis der Sprache und ihres Bedcutungslebens zuruck. So hat Themistios in der Interpretation des aristotelischen Textes geradezu das Sprechenlernen als Illustration herangezogen, dieses allmahliche Sich-Einspielen des Vcrstandigungsgcschehens in die Konventionen des Wortgebrauchs, die eine Sprachgetneinschaft konstituicrcn - und diese selbst besteht nicht in dem starren Regelsystem der Schulmeister, sondern im biegsamen U b e r e i n k o m m e n der miteinander Sprechenden. Die Analogic von Wort und Begriff, die hier bei Aristoteles die Auffassung beherrscht und der der Vorrang des Urtcils, des apophantischen Logos, in der sogenannten >Hermeneutik< des Aristoteles entspricht, muB nun freilich in einen breiteren Z u s a m m e n h a n g eingeordnct werden. Zu diesem Zweckc mochte ich mi AnschluB an einen lebendigen Sprachgebrauch nicht von der Einheit des Satzes, sondern von der Einheit der Phrase reden. Dieser allgemeine grammatische Ausdruck hat mindestens in zwei Bereichen ein dczidiertes Fortleben: einmal in der R h e t o n k , w o dem Wort heute cine pejorative Farbung anhaftet. Die Phrase ist die leere Phrase, das vorgeformtc Etwas einer sprachlichen Fiigung, der kein wirkliches Meinen einwohtit. So reden wir von phrasenhafter Rede oder gar von Phrasendrcscherei, wenn wir eine Rede als leer bezeichnen wollen. Der andere Gebrauch des Wortes hat einen durchaus positiven Klang. In der Musik sprechen wir von der Plirasierung und erkenncn damit an, daB iiber die rein musikalische Fixierung durch Notation hinaus eine Rhythmisicrung des musikalischcn Vor-
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Anal.
post,
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trages statthat, die zuletzt w o h l in der R h y t h m i k unseres A t c m h o l c n s u n d damit unsercr Lebendigkeit v e r w u r z c h ist. Die negative wie die positive Farbung, die in dem Begriff der Phrase steckt, weist o f f e n k u n d i g auf eine D o p p e l w e n d i g k e i t des Aspektcs der Sprache selber hin. A u c h im rein sprachlichen Geschehen kennen wir neben der G r a m m a t i k so etwas wie die Phrasierung u n d die der musikalischen Phrase entsprechende B i l d u n g relativer Einheiten. Wir nennen das dort etwa die F o r m e l oder die F o r m u l i e r u n g . A u c h dort schlicBen sich relative Einheiten durch Sinn und K l a n g z u s a m men, die ihrerseits der artikulicrenden u n d akzentuicrenden R h y t h m i k des Vortrags oder des vcrstehenden Lesens v o r g e g e b e n sind. Das weist auf den entscheidcnden Punkt, namlich auf den Z u s a m m e n h a n g zwischen Wiederh o l u n g , die nie ganz das gleiche ist, und Konstituierung von cin u n d demselben. Im P h a n o m e n des Sprcchenlernens liegt dicscr Z u s a m m e n h a n g offen zutage. Das Kind lernt gleichsam das W o r t durch viele wiederholtc Sprcchversuche. Aber auch der Gebrauch von F o r m ein u n d F o r m u l i e r u n g e n in der Rede weist in die gleiche Richtung. Sie begegnen fast in der Weise des Rituals, das heiBt in einer B e d c u t u n g s - u n d Gestalteinhcit, die geradezu durch ihre Wiedcrholbarkeit, ja durch die Unantastbarkeit ihrer Selbigkeit in der W i e d e r h o l u n g definiert ist. Das gilt von alletn zeremomellen Redegebrauch, im religiosen Bcreich so gut wie in der Rechtssphare, u n d begegnet als ein intcgrales M o m e n t in dem wcitausgedehnten G e b r a u c h der rhetorischen Kunstmittel. Was an diesem P h a n o m e n der Phrase und der f o r m e l h a f t e n Wicderkehr v o n sprachlichen W e n d u n g c n so iiberaus belehrend ist, ist ihr Schweben zwischen bloficm Vollzug u n d echter Bedcutungshaltigkeit. O f f e n k u n d i g ist die Identitat solcher sprachlichen Einheiten nicht n o t w e n d i g auf die Identitat der B e d e u t u n g e n gegriindet, die bei d e m f o r m e l h a f t e n R e d e g e brauch im Spiele sind. Es ist vielmehr cinc B e d e u t u n g sendee rung im Gange, w o i m m e r ein F o r m e l g e b r a u c h sich einburgert. Die Aussagekraft der F o r mel kann dadurch sogar gewinnen, wie wir sic an den Z a u b e r f o r m e l n v o m Stile des Abrakadabra kennen. O h n e Zweifel hat auch die b e d c u t u n g s t r a c h tigste Formel an einer solchen m e h r magischen als rationalen F u n k t i o n s w c i se teil. Es gilt sicherlich fiir die Formeln des Gebetes, des Segens, des Finches u n d deTgleichen, daB ihre Vertrautheit u n d festgelegte Wiederkehr ihre Sagkraft nicht m i n d e r n , sondern m i t ausmachen. Selbst der R h y t h m u s als solcher hat seit langem das Interesse der F o r s c h u n g auf sich gczogen, weil er in gewissem Sinne v o r g e g e b e n ist und eingehalten sein will, u n d auf der anderen Seite seine Wiederkehr in die B e w e g u n g s a b l a u f e f o r m l i c h hineingclegt wird. Ahnliches gilt auch in alien den Fallen, w o die Strcnge des G e m e i n t e n den Variationsspielraum, der an sich i m Wiederholen v o n Rede gegeben ist, einschrankt, so daB der H o r e r auf ihrem genaucn Vollzug formlich besteht. Im sogenannten Refrain vollcnds kennen w i r alle die
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vereinigende Macht, die in der Wicderholung des Vertrauten zur Wirkung gclangt. Wir sind hier weit von aller Schriftlichkeit cntfcrnt. Cleichwohl ist die Wahrung der Identitat der Formel oder der Phrase ein tragendes Element in solchem sprachlichen Wiederholungsgeschehcn, das von sich aus dcr Fixierung fahig ist, ja, auf sie hindrangt. Ursprtinghcher als die Identitat der Schriftzeichen (in welchcr Art von Schrift auch immcr) ist ohne Frage die Identitat solcher wiederk eh render Formehi. Gcrade auch im cpischen Sprachgebrauch bilden sic dahcr ein ebenso cigentiimliches Stilelement, wic wir das aus allem Schriftgebrauch kennen. Lied und epische Erzahlung sind ja wirklich wie eine Art schriftlicher Aufzcichnung im Gedachtnis. So beschreibt es Plato im >Philebos< (39b): Es ist die >Mneinc< (/iirffiii), die in unseren Scclcn Logoi »schreibt«. Die Rede v o m Engrannn, die in der modernen Psvchologie und Ncurophysiologic eine wohlbekannte Metapher ist, spricht diesen Zusatnmenhang in ahnlicher Weise aus. Blickcn wir auf diese einleitenden E r w a g u n g e n zuriick, so wird verstandlich, w a r u m ein geradcr Weg von der ritucllcn Wiederholungsgcstalt zu d e m fiihrt, was wir Literatur nennen. Am Anfang aller Aufzeichnung steht wohl das sakrale oder profane rechtsgultige Dokument, eine Art U r k u n d e , auf die man jederzeit z u r u c k k o m m c n kann und die die Rechtslage klarstellt. A h n lich dokumentarischen Charakter diirftc die Grabinschrift in alien Kulturen gehabt haben: Sie dient dem Fortleben im Gediichtnis der Lebenden. Ein erster Schritt zur Literatur liegt offenbar dort vor, w o fortlebendes Gedachtnis in kunstvollcr Weise neu beschworcn wird. So ist etwa schon die A n r u f u n g der Musen, mit dcr die hotnerischen Epen anheben, und insbesondere die Dichtcrwcihe am Anfang der hesiodischen >Theogonic< eine Art literanscher Kunstform, die das Ganze des Folgcndcn als ein einheitlichcs Buch oder Werk vorstellt. Freilich mull man sich bei alldcm bewuBt sein, daB solche Literatur, auch in ihrer spatcren Erweiterung zu den verschiedencn Formen der Lyrik, zur Tragodie, zur Komodic, und daB ebenso die ersten Formen dcr Prosa nicht Lesc-Stoff waren, sondern Vortrags-Stoff, das heiBt, daB es sich hier durchweg u m >Tcxtbucher< handelt, u m schriftliche Fixierungcn, die f u r die Reproduktion bestimmt sind und nicht fur eigenes Lesen. Die Sachlage m a g da sehr differenziert sein. Die epische Poesic hat einen eigenen Berufsstand des Rhapsodenturns entwickclt. In manchen Formen der Lyrik durfte es zuniichst nur derDichter selbst gewesen sein, der seine Verse vortrug. Die Chorlyrik dagegen ist schon im wortlichen Sinne einTcxtbuch, aufgrund dessen der Vortrag eingeiibt wird, und das glciche gilt fiir alle Formen des Theaters. Lediglich bei dcr friihen Prosa durfte abermals der Autor zuniichst der alleinige Sprecher gewesen sein, wenigstens bei einer ersten >Veroffenthchung<, wie m a n das nennen kann. Aber auch hier liegt die Wiederholung durch Wiedervorlesen nahe. Zwischen
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Miindlichkeit und Schriftlichkeit besteht also keine scharfe Trcnnung. Auf beide Wcisen kann sich Oberlieferung vollziehen, und in beiden Fallen ist es eine neue Miindlichkeit, in der die Oberlieferung sich erst vollcndct. Immerhin sehen wir in der klassischcn Zeit der griechischen Philosophie, wic sich selbst die Kunstprosa zu einer eigenen literarischen Gattung ausgebildet hat. Sogar Rcden werden gcschricben und vicllcicht gar nicht, u m iiberhaupt gehalten zu werden, sondern u m nur in dieser Form als Literatur vorgetragen zu werden, oder sic crfahren, wenn es wirklichc Redcn waren, eine kunstvolle Ausarbeitung und werden alsdann ebenfalls als >Literatur< i m m e r wieder reproduzicrt. So sehen wir im platonischcn >Phaidros< (228b), wie der jugendliche Bewunderer des Lysias die Abschrift eines Redekunststiickes des beriihmtcn Redners bei sich fiihrt und darauf brennt, es dem Sokrates vorzulesen. Mit der Ernmerung an den >Phaidrosi, die sich hier einstcllt, geratcn wir aber in einen neuen Problembereich. Der platonische Dialog >Phaidros< stellt sich der Selbstverstandlichkeit des Ubcrgangs von kunstvollcr Rede zu kunstvoller Schrift machtvoll in den Weg. Sokrates zieht dort aus seiner dialektischen Analyse cchtcr Rhctorik cine Konsequenz, die zu radikaler Kritik der Schriftlichkeit iiberhaupt zu fuhren scheint. Wenn, wie dort gezeigt wird, zur wahren Redekunst auch der kundige Vorblick auf den Adressaten der Rede gehort, wird die Schriftlichkeit zum Problem. Das bringt Plato zum Ausdruck durch die Geschichte von dem gott-gleichen E i f i n d e r T h e u t , die Sokrates erzahlt (274c ff.): wie er viclc groBartigc Erfindungen gemacht habe und unter ihnen auch die Erfindung der Schrift. Als er mit diesen Erfindungen zu dem agyptischen GroBkonig kam, wurden alle seine Erfindungen kritisch gepriift, teils gelobt und teils getadelt. SchlieBlich habe er auch seine Erfindung der Schrift vorgclegt, und dies in dem stolzen BewuBtsein, daB gegen diese groBartige Erfindung, die das Gcdachtnis der Menschen starken werde, gewiB keine Einwendungen moglich seien. Zu seiner peinlichen Uberraschung erklartc der Konig aber nicht ohne Feierlichkeit, daB cs etwas anderes sei, geistvolle Erfindungen zu machen, u n d etwas sehr anderes, ihren Wert fiir das Volk und die Kultur zu beurteilen. Was der Erfinder der Schrift als eine Starkung des Gcdachtnisscs cmpfchle, bewirke in Wahrheit cine Schwachung desselben. Offenbar handelt es sich hier u m eine geistreiche Variante zu dem bekannten griechischen Topos von den ersten Erfindem, die Plato hier emfiihrt. Die Geschichte wird auch ganz offensichtlich als eine sokratische Fabelei behandelt, wenn auch als eine, die etwas Wahres zur Sprache bringt, das fiir die ganze These von dem naturlichen O b c r g a n g v o n Miindlichkeit zu Schriftlichkeit gcradezu ruinos scheint. Die A r g u m e n t c sind bekannt. Rcdcn, die der Schrift anvcrtraut sind, sind allem MiBverstandnis und allem Mifibrauch hilflos ausgesctzt. Wahrend sonst Reden, die im lebendigen Austausch
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geauBert werden, von dem Redenden selbst verteidigt, erlautert, erganzt oder auch verbessert werden konnen, so daB Mifl verstandnis und MiBbrauch, wenn sie zutage treten, schnell iiberwunden sind, erweisen sic sich in schriftlicher Form als allem MiBbrauch und beliebigem MiBverstandnis geradezu ausgesetzt. Obendrein diene in Wahrheit die Schrift nicht der Starkung unseres inncren Besitzes an Wissen, der >Mneme< und der auf sie zuriickgehcndcn >Anamnesis*, sondern dem bloBen Schein und lccren A n spruch des Wissens. Die bloB iiuBerliche Verbreitung von Reden diene durchaus nicht der Erkenntnis. Von da aus macht Sokrates die A n w e n d u n g auf den gegebenen Fall. Sein junger Freund solle dem Lysias ausrichten, daB er sich mit solchen Dingen, mit der Verfertigung von Reden in schriftlicher Form, nicht aufhaltcn solle. Sokrates macht die Untcrscheidung zwischen dem, der die wahren >Logoi< liebt, dem Philosophen, und solchen Verfertigern von Reden, die nur die Abbilder und Scheinbildcr von Logoi produzieren (278f.). Bekanntlich hat diese Verwerfung der Schrifthchkeit und ihre positive Wendung auf die esscntielle Miindlichkcit der Philosophic und der lebendigen Dialektik fiir das gesamte Werk Platos entschcidende Bedeutung. Sie wird durch den beriihmten Exkurs im Sicbcnten Brief bestatigt. Dort weist Plato den Anspruch des jungen Tyrannen von Syrakus zuruck, der es gewagt hatte, aufgrund einer ganz unzureichenden Untcrweisung durch Plato die wesentlichen Gcdanken Platos in schriftlicher Form niederzulegen. Die ungeschricbcne Lehre Platos ist seitdem ein ebenso offenes wie zentrales Problem des Verstandnisses der platonischcn Philosophie. Wenn Sokrates davor warnt (276dff.), Geschricbenes als hochstcn Ernst gelten zu lassen, statt es mit spielenscher Distanz anzuschcn, und werni Plato ihm im Siebenten Brief mit gleicher Entschicdcnheit folgt und tatsachlich in seinem ganzen Dialogwerk das Reden im eigenen Nainen verniieden hat, so liegt darin gewiB cin radikales Bekenntnis zum Dialog und zum inneren Dialog der wahrheitssuchcnden Seele, den wir (Denken* nennen. N u r in der Nachgestaltung dialogischer Verstandigung teilt Plato sein eigenes Denken dem Leser mit. 1st es aber wirklich eine Verwerfung der Erfindung der Schrift und des Gebrauchs der Schrift, die daraus folgt, oder ist es cher ein Appcll an den rechtcn Gebrauch der Schrift, etwas, was man mit einem Ausdruck unscrerTage einen hermeneutischcn Appell nennen konnte? Priifen wir die platonischen Aussagen auf diesen positiven Verdacht hin (274 ff.). Da fallt zunachst auf, daB der geniale Erfinder Theut mit der Erfindung der Schrift eine ganze Reihc anderer Erfindungen dem agyptischen Konig zusammen vorgelegt hat, deren Rang und Bedeutung auch fiir einen Plato auBer allem Zweifel stand. Es ist offenbar die Agyptenromantik, die der Kritik des eigenen Zeitalters dicnt, die Plato vcranlaBt, auf diesen sagenhaften Erfinder so viel zu haufen, wie die griechische Mythologie in
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der aischylcisehen Variante auf den Erfindergott Prometheus gchauft hat. Allerdings, die Erfindung der Schrift wird hier - anders als bei Aischylos — sehr hervorgchobcn. Sic ist in den Augen ihres angeblichen Erfinders etwas Besonderes und Ausgezeichnetcs. Tatsachlich spicgclt sich in solchen Geschichten iiber die Erfindung der Schrift in unbestimmbarer Weise die in vorhomcrischer Zeit erfolgte Obernahtne und Verbesscrung der scmitischen Buchstabcnschrift durch die Griechen. Es erscheint kaum glaubhaft, daB diese Erfindung als solche von Plato im Ernst als ein zwcifelhaftes Verdienst charakterisiert werden sollte. So wird auch nichts dariiber berichtet, ob die kritische Zurechtweisung, die der weise agyptischc Konig dem Erfinder ertcilt, die Zuriickwcisung der Erfindung bedeuten sollte — von der doch jeder Plato-Leser wuBte, daB sie langst durchgedrungcn war. Vielmehr ist deutlich, daB lediglich der MiBbrauch und die Verfuhrung, die in schriftlicher Fixierung von Reden und Gedanken gelegen ist, von dem agyptischen Konig zuriickgewiesen wird - und zwar so, als ob er die Zersetzungserscheinungen des sophistischen Zeitalters vorausgesehen hatte, zu denen auch die geschriebenen Kunstreden am Ende gczahlt werden miissen. Der Gebrauch der Schrift als solcher dagegen wird von Sokrates in der Folge durchaus nicht verurteilt. Als ein Trost und Hcilmittel gegeniiber der VcrgeBlichkcit des Alters und in einem weiteren Sinne als ein Erinnerungsmittel fiir den, der weiB - und der zu denken weiB —, wird die Schrift vielmehr anerkannt. Der Ausdruck, der hier begegnet und der in positiver Beziehung zur VergeBlichkeit steht, ist >Hypomnesis< (vnojivrfOK) und >Hypomnema< (vnopvjffi-a), das heiBt >das Erinncrn* und >das, was durch sein auBcrcs Dasein als Schrift erinnert< - eine dem echten inneren Besitz der M n e m e und der in ihr entspringenden Anamnesis untcrgeordnctc Funktion. Damit wird auf den eigentlichen Bereich des >Inneren<, auf das Phanomen der ftvqfiri gewiesen: das Behalten und Festhalten, das den inneren Besitz des menschlichcn Geistes aufbaut und ihn vor dem Vergessen bewahrt. M n e mosyne, die Gottin des Gcdachtnisses und die Bcschiitzerin gegeniiber dem Vergessen, hat in der Tat als Mutter aller Musen cine ausgezeichnctc Stellung. Sie gehort bei Hesiod der altesten Gottergeneration an, als Tochter von Himmel und Erde, u n d sie hatte an vielen O r t e n ihrcn Kult. Wir begegnen ihr als der gottlichen GroBe, die insbesondere dem Gedachtnis vorstcht, das selbst noch den Tod iiberwindet. In den orphischen Mystcricn ist sie es, die angerufen wird und deren A n r u f u n g dem Vcrstorbenen wie ein TotenpaB ins Grab gelegt wird. Ihre Quelle sprudelt nicht entlang der wciBen Zypresse, dem Totenbaum des Vcrgcsscns, sondern verheiBt durch ihren starkenden Trank der durstenden Scclc, daB sie dem Vergessen entgeht und bei sich bleibt. Hier wird die Zeitlichkcit und Entganglichkeit, die dem cndlichcn Wesen des Menschen sein Geprage gibt, z u m Thema. Wir sind mit emem Schlagc
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im Z e n t r u m des platonischen Denkens, bei seiner Aufdcckung des gehcimcn Tiefsinns, der in dem gclaufigen Ausdruck >Philosophia< und seinen Ablcitungen stcckt: daB damit nicht so sehr Weisheit und Wissen und das Wissen u m des Wissens willcn gemeint ist als vielmehr das me vollendbare Verlangcn nach Wissen und das uncrmudlichc Suchen nach der Weisheit. Ovoek ul'v deHv iptkoooxpei, Mag sein, daB diese neue Nuance, die Plato in scinem Mythos v o m Eros n n >Symposion< cinfiihrt, in den neueren Zciten der unvollcndbarcn Erfahrungswissenschaften eine gewisse Uberresonanz crfahren hat u n d daB einem Lcssings beriihmtes Wort, daB cr die Suchc nach der Wahrheit dem Besitz der Wahrheit vorziehen wiirde, wenn ihm die Wahl gelassen ware, gar zu sehr im Sinne ist. In Wahrheit ist esjedoch weder ein gelegentlicher Einfall Platos noch gar eine Antizipation des modernen Fortschrittsgedankens oder Aufklanmgspathos, was hier gemeint ist. Es handclt sich um eine f u n d a m e n t a l Einsicht in die Zcitlichkeit und Endhchkeit. die der Menschen Teil ist und die sie trotz aller Tcilhabc an der Unstcrblichkeit, die ihnen durch R u h m und Gedachtnis z u k o m m e n mag, unaufhebbar v o m Gottlichen scheidet. Man erinnert sich der Stclle im >Symposion<, in der Diotima den staunenden Sokrates in der Kunst des Liebens untcrwcist (Symp. 207cff.). Sic geht von der damonischcn Macht des Eros aus, die die Tierc umtrcibt, und macht eine spezifische A n w e n d u n g auf den Mcnschcn und seine Auszeichnung, die wir >Geist< nennen. Wie dort die N a t u r mit unwidcrstehlicher Triebgewalt die Tiere dazu notigt, die Erhaltung der Art zu betrcibcn und auf diese Weise - viclleicht sogar unter O p f e r u n g des cigcnen Lebens - a n der Unsterblichkeit teilzuhabcn, die nicht dem einzelnen Exemplar, sondern allein der Art z u k o m m t , so hat das menschliche Leben nicht nur diese Teilhabe, sondern ihm ist cine zwar vergleichbare, aber ausgezeichnete Teilhabe an der Unsterblichkeit gcgeben. Wie sich der einzelnc Mcnsch in seinem leiblichcn Bestande bestandig erneuert - cinc Erkenntnis der damaligen Naturwissenschaft, die auch im >Phaidon< ihre Rolle spielt (Phaid. 87f.) - , gilt cs auch fiir alle seine seelischgeistigen Regungen, daB sie sich bestandig erneuern miissen. Das ist das dem menschlichen Geiste auferlegte Gcsetz seiner Zeitlichkcit. Zwischen Vergcssen und Versinken auf der einen Seite und Festhalten u n d Behaltcn, Wiederholen, Zuriickholen, Erinncrn und Erneuern auf der anderen Seite bewegt sich, was sein Eigen ist. Nichts ist fester Besitz im menschlichen Geiste, alles bedarf der unermiidlichen U b e r w i n d u n g des Vergessens und des Wicderaufbaus emcs Bleibenden in der Zeit. GewiB darf m a n diese Lehre, sowcit sie hier herangczogen wird, nicht als Platos letztcs Wort nehmen - cs ist auch Diotimas letztes Wort nicht, sondern fiihrt sich als eine Erklarung im Stile der Allerweisesten ein, der viclleicht allzu wciscn Manner, die alle Kulturlcistungcn der Menschheit auf Ehrgeiz und das Verlangcn nach unstcrblichem R u h m zuriickfiihren. Aber
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m a n kann dcnnoch die A n w e n d u n g dieser Lehrstunde auf unser Problem machcn. Die Vermeintlichkeit eines dauerndcn Besitzes, die als Versuchung mit aller Schriftlichkeit verkniipft ist, wird von dieser ticfcn Einsicht betroffen. Dabei hat die kiihne Analogic zwischen der Reproduktion der Spezics im animalischen Leben und der Reproduktion des Wissens im einzelnen Menschen ein besondcrcs Gcwicht. Wie es dort ausdriicklich immer ein neues Wesen ist, das die Erhaltung dcr Art wcitertragt, so ist es offenbar beim menschlichen Wissen auch, daB es jeweils neue Aktualitat gewinnen muB, wenn cs uberhaupt dasein soil. Das ist die kiihne Ausspinnung dcr Analogie von Leben und Geist durch Diotima. Tote Wiederholung, das heiBt Wiederholung, in der die Differenz der Zeit und des Neuen getilgt ware und die ein Dasein hatte wie die gefrorene Selbigkeit von Schrift, wiirde die 13edmgung geistiger Dauer nicht erfullcn, noch auch das Vcrlangen nach Dauer. Sie ware em Schein, ein Abbild, eine Einbildung von Wissen wie jene dcklamierten Reden, die keine Reden mehr sind. So wchrt sich Plato im M u n d e dcr dclphischen Priesterin gegen die Vcrfallenstendenz, die in dem Wahn eines dogmatischen Besitzes von Wissen ihren Ausdruck hat. GewiB ware es vcrfchlt, das BewuBtsein der Gcschichtlichkeit auf Plato zuruckzudaticrcn, das im 18. und 19. Jahrhundert, am Ende des Zcitalters der Metaphysik, erwachtc und dem modernen Philosophicren unausweichlich im Wege liegt. Platos Stellung zur Geschichte stellt ein eigenes Problem dar, das gewiB insofcrn dem modernen Denken extrem entgegengesetzt ist, als das, was wir Geschichte nennen, fiir ihn weit wenigcr cincn geschichtlichen ProzeB meint, der auf eine Vollendung hin gerichtet ist, als einVcrfallsgeschchcn, das von einem in sich vollendeten, heilcn A n f a n g her als Verfall erscheint. Geschichte ist Verfallsgeschielite und Wissen ist Bcwahren vor dem Verfall. D a m n wird die positive Entsprcchung zur Verfallstcndcnz alien endlichcn Seins, die Bewahrung und Erhaltung und Erneuerung, indirekt ausgezeichnet 2 . N u n mufi man sich fragen: Ist nicht die A n w e n d u n g dieser Einsichten auf die Bedenklichkcit aller schriftlichcn Fixierung allzu radikal? Hat Plato hier nicht eine allzu einseitigc Partie geliefert, wenn cr sich gegen den Verfall in den Dogmatismus der Schriftlichkeit so total absichcrt, daB er alle Textualitat uberhaupt verdammt? Geht das nicht zu weit? Gibt es nicht wahrhafrc Textc, die gcrade als solchc die Idee des Tcxtes und des Anspruchs von >Literatur< erst erfiillen, die in ihrer vollen Selbigkeit und ihrer uncrrcichbaren Unveranderlichkcit wahrhafte Tcxte sind? N e n n e n wir nicht alle dichterischen Texte in diesem emincnten Sinne Text? M a n muB sich fragen, o b Plato hier etwa seine eigenc Sache allzu einseitig vcrficht, wenn cr gegen den 3 Vgl. meine Rezension zu G U N T E K in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 327-331.
ROHR,
Platos Stellung zur Geschichte
(1932),
jetzt
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sophistischcn Stil, den Logos fiir cigenes Paradieren zu miBbrauchen, die lebcndige Fortpflanzung, das Saen der Logoi in Scclen setzt. Das hat w a h r lich eigene, tiefe Uberzeugungskraft, und man wird im G r u n d e akzeptieren mussen, daB das Fortleben des philosophischen Gedankcns nicht in den iiberliefcrtcn Berichten iiber dieLehren von Philosophen bestehen kann, wie sie seit Theophrast i m griechischen Bildungsleben gepflegt wurden oder wie sie sich heute, in detn philosophischen Alexandrimsmus des Zeitalters der positiven Wissenschaft en und des Historismus breitmachen. Es hat Sinn zu sagen, daB die Philosophie nicht in Tcxten ihre Dauer hat, sondern daB Texte nur Erinnerungsmittel sein konnen, das hciBt: fiir Wissende (fitioiuv vnoftvriou; Phaidr. 278a,). Aber gibt cs nicht Tcxte, die gerade in der Unantastbarkeit des Buchstabens ihre eigene Auszeichnung besitzen, religiose, rcchtliche und eben dichterische Tcxte? Man mochte doch meinen, daB sich in solchen Tcxten der wahre Sinn von Schriftlichkeit geradezu erfullt, namlich Kodifizierung von Giikigem, Bewahrung des Gultigen vor dem MiBbrauch, der Anpassung, der Verzerrung oder gar der Ablcugnung zu sein. Jedenfalls muB man zugeben, daB solche Texte gerade in ihrer wortlichcn und buchstabengetrcuen Wiedcrholung ihre eigentlichc und einzige Prasenz haben. Da geht es nicht u m eine Einheit des Sinnes und der Sinn-Intention allein, die in den vcrschiedenstcn Formulierungen, ja sogar in verschiedcnen Sprachcn ihre Darstellung finden kann und z. B. bei internationalen Rechtsvertragen finden muB, sondern u m die Emmaligkeit des sprachlich gefugten Gcbildes. Es muB nicht nur auf den Buchstaben genau, sondern aufdic Einheit von Klang und Sinn genau bewahrt und befolgt sein. Dies klingende Ganze des Sinnes mag in noch so unvollkotnmenen u n d vielfaltigen Annaherungen vollzogen werden - es ist wie ein unveranderhcher MaBstab gesetzt, an dem. sich jeder reproduktive Vollzug miBt. Das ist das wahrhatte Gcheimnis, das der Kunst spezifisch ist und d e m weder im Wahrheitsbcreich der Wissenschaft noch in dem der Philosophie etwas Analoges entspricht. Damit hangt zusammcn, daB Werkc der Kunst auf sehr unterschiedlichem Niveau des Ausdrucks voll verstanden werden konnen - ohne daB die Wahrheit der kiinstlerischen Aussage dadurch der Relativicrung verfiele und Falschverstchen seinen genaucn kritischen Sinn vcrlore. Die wachsende Vertrautheit mit einem Werkc der Kunst schopft cs nicht nur nicht aus, sie laBt es - als dasselbe - i m m e r reicher werden und immer eindringlicherzu uns sprechen. Mir schcint es der Aspekt des Rituals zu sein, der sich hier mit dem Vollzug sinnlich-geistigen Bedeutens unaufloslich verschmilzt. HeiBt das nun, daB Diotima unrecht hat, w e n n sie stcts nur i m Erneuern ein Bleibcndes erkennt, u n d daB der platonische Sokrates unrecht hat, wenn er in der schriftlichen Fixierung nur erne sekundare Tatigkeit sieht u n d das Schriftlichc als eine Art Spiel von dem wahren Ernst des Sagens des Wahren
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abscheidet? Es konnte so klingen, als hatte Plato hier sein altes Vorurteil gegen die Dicht kunst, die er aus der ideal en Stadt als bloBc N a c h a h m u n g von Nachahmungen weitgehend verbannt, seiner dclphischen Priesterin in den M u n d gelegt. Nein, er tat es nicht. Diotima nennt die Werke der Dichter, H o m e r s und Hesiods und der anderen, und ebcnso wird Lykurg, der Schopfcr des spartanischcn Gemeinwesens, und Solon, der Schopfer der Gesetze Athens, mit Auszeichnung genannt. Das seien die wahren Kinder, was diese Manner hinterlicBen (und nicht so sehr ihre leiblichen) (Symp. 209d). Durch sie erringen sie Ruhm und Unsterblichkeit. Wir werden bereitwillig Heraklits Sentcnzen und Platos Dialoge diesen Vollcndungen giiltigcr Logoi zugesellen - satnt alien sonstigen Dokumentationen des Philosophierens, die mehr > Werke < als >Wegc< sind und die Atistrengung des Begriffs, wie alle Werke der Kunst es tun, iibertreffen, indem sie uns immer wieder neu fordern. Hier schlieBen sich die Dinge zusammen, die Kritik der Schrifthchkeit in ihrer besonderen Wendung auf die literarischen Redekunststuckc cines Lysias, aber ebcnso in unverkennbarer A n w e n d u n g auf das eigene Werk Platos. Seine Zuriickwcisung schriftlicher Fixierung des philosophicrcnden Gedankens auf der cmen Seite - und auf der anderen Seite Diotimas Einholung aller Werke der wciscn Manner, Dichter und Staatsmanner in den groBen Wettkampf mir der ZeitJicbkeit und in den D r a n g zur Unsterblichkeit. Auch solche >Werke< stehen nicht in toter Selbigkcit im Raume und lasscn das Zeitgeschehen an sich voriiberrauschen. Plato hat zwar keine ansdriicklichen Hinweise auf diesen Punkt gegeben. Aber wenn Lykurgs >Kinder<, seine Gesetze Lakedamons, als Retter ganz Gricchenlands gefeiert werden, oder Solons Gesetze als sein attisches Vcrmachtnis, und wenn H o m e r und Hesiod als die Lehrmeister von ganz Griechenland figurieren, so ist der Sachc nach auf den ganzen weiten Bereich der bestandig sich erncuernden Aneignung dicscr Hinterlassenschaft hingedeutet. Auch diese •Kinderi sind ins Leben entlassen und leben, ob schriftlich fixiert oder nicht, in der fiv^jiTj fort. Sie haben ihr Dasein nicht im Festhalten toter Buchstaben, sondern in bestandig neucr A n w e n d u n g und Aneignung, als dieselben und als i m m e r andere neue. Man sollte beachten: Diese >hcrmcneutische< Einsicht traut Diotima d e m Sokrates ohne Zogern zu - ihm, der als der bestandige Dialogiker und Widerlcgcr alien Scheinwissens selber ein nicht-gepriiftes Leben, einen OVK ic,riaiTiCK ftioq, kein Iebenswertes Leben fand. Sie selbst jedoch of'fnet den Ausblick auf den durch alle Logoi fuhrenden Licbesweg, der zu derhochstcn Einsicht hinfiihrt, den Weg des Dialcktikers, der ihn noch iiber sich selbst hinausfiihren soli. Wenn Diotima so fortfahrt, ist sie indessen nicht tnehr sicher, dad Sokrates ihr wird folgen konnen (Symp. 210a). Der Liebeswcg, den siebeschreibt, fiihrt durch alle Logoi in alien Gestalten, die einer durchlaufcn soil, und er
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soli liberal! Logoi zeugcn - bis cr zu der H o h e einer letzten Einsicht in das Schone selbst gelangt, und in dieser letzten Schau, dieser Liebeserfullung, die nur Schauen und Zusammcnsein (dwodai jiovov Kai wvtivai) ist, crkennt Diotima lhrcrscits das wahrhaft lebenswerte Leben. Wir haben uns zu fragen, was dem Sokrates und was uns damit gesagt wird. Schwerlich will sich Plato damit von dem Leben dcr Sclbstpriifung (ftioc; avt Ci lamoc Apol. 38a,), das Sokrates als das seme ansieht, abheben und will sich gewifi nicht selber cin Leben erfullter Schau zusprechen. Sagt er es nicht vielmehr auch sich selbst - und uns, die wir auf diesem Wege alle kaum folgcn konnen? U n d doch wissen wir, dafi in allem ruheloscn Auf und Ab von Prasenz und Wachhcit, Vcrgessen und Schlaf, das unser zcitlich-endlichcs Sein durchwaltet, das Gesprach der Seele mit sich selber fortgeht und sich bestandig erneucrt, so daB am Ende cinigcs Haltbare ist, Mnetne und Anamnesis. Im Gesprach iiber den Eros ist es das Schone selbst, im Gcsprach iiber die ideale Stadt ist es das Gute selbst, auf das wir hinausblicken, und dieses Hochste und Eine ist nicht n u r allem Zeitvcrfallenen, Vergchcnden und Verganglichcn entruckt undjenseitig - es hat in allem, was schon ist, in allem, was gut ist, sein Dasein, wie die Tierart cs allein in alien ihren Exemplaren hat. Wir lernen hier: Auch v o m Wort, vom Logos, gilt, daB es nur ist, wenn es sich standig erneuert, ja, auch von dcin toten Buchstaben des Geschriebenen gik es nur, wenn er in dcr >Seele< erneuert zum Dasein gelangt. M n e m o s y n e ist die Mutter aller Musen.
9. Platos Denken in Utopien Ein Vortrag vor Philologen (1983)
Wer aufeigene, a u f l a n g e j a h r z e h n t e zuriickgehende Arbeit an Plato zuriickblickt und insbesondere auch zum platonischen Staatsdenken einen p r o d u k tiven Weg zu finden gcsucht hat, sieht sich einer Kritik gegeniiber, die aufs Ganze geht. Es ist die Herausfordcrung, die heute insbesondere mit dem N a m e n Karl Poppers vcrbunden ist, die aber nicht erst durch den Popper von 1980, auch nicht erst durch den Popper von 1950 crstmals in unserem philosophischen BewuBtsein Prasenz gewonnen hat. Es geht u m eine alte Frage. Wic weit ist das Bild der Sophistik, das wir aus dem platonischen Schriftwerk kennen, in Wahrheit das Resultat einer polemischcn Verzeichnung und Vcrzerrung, die die GroBe dieser geistigeti B e w e g u n g und ihre Wirkung verkennt? Wir konnen diese Bewegung iiberhaupt nicht mehr ermessen, so wird argumentiert, wcil ihr Gegner, die platonische Philosophic und ihre Schulwirkung, noch iiber Aristoteles und die peripatedsche Tradition hinaus, in iibcrwaltigendem AusmaB siegreich geblieben ist. Der N a m e Dcmokrits k o m m t bei Plato nicht ein einziges Mai vor. Bekanntlich hat man sogar die Existcnz von Leukipp fiir zweifclhaft gehalten, und das Denken eines Demokrit ist nur sehr fragmentarisch auf uns gekommen, nicht zu reden von den nur in bruchstiickhaften Zcugmssen bekannten und durch die platonischcn Schilderungen iiberhaupt erst greifbaren Figurcn der groBen sophistischen Redelehrcr. So ist es in Wahrheit eine naXaia Starpopa, ein uralter Zwist, der nicht erst auf die Spannungcn unseres Jahrhundcrts zuriickgeht, sondern im Grunde mindestens mit Hobbes beginnt. Er hat als erster das Problem gestellt. Hobbes war ein Obersetzer dcsThukydides, aus dem auch wir vicl iiber die sophistische Aufklarung u n d ihrc Wirkung wissen. Von Hobbes reicht bis Hegel und Nietzsche die Wicderentdeckung der Sophistik, dcrcn Eigcnrccht und deren tiefen Blick in das Wesen des Menschen wir anzuerkennen haben. Insofern gehort der Beitrag, den Popper zur Sache geleistet hat, in eine grofie Tradition, die von H o b b e s iiber Grotc, iiber den Positivismus, iiber Hegel u n d Nietzsche, iiber die Wiener Philologen u n d Philosophiehistorikcr v o m Schlage eines T h e o d o r und Heinrich Gomperz (aber auch Toynbee gehort in die Reihe) bis zu Popper
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hinfiihrt. Das Buch von Popper ist in den jahren 1938 bis 1943 in Ncusceland geschrieben. Dort, in der weitesten Feme, buchstablich bei den Antipoden des fiirchterlichen Geschehens in unserem mittleren Europa, hat er sich Rechenschaft zu geben versucht, indem er Plato und Hegel u n d M a r x las und iiber den Ruck fall in die erschrcckende Barbarei des offentlichen Lebens nachdachtc, von dem er gerade als Angehorigcr der dcutschcn Kulturwclt mit wachsendem Grauen aus dieser weitesten F e m e vernahm. Das Buch ist zuerst in Neusceland 1944 crschicnen, dann in den U S A 1950 veroffcntlicht worden, u n d die deutsche Ausgabe stammt von 1955. Es sind also seit der Entstehung des Werkcs bis heute etwa 40 Jahre vergangen. Das ist cine lange Zeit. Es gehort in der Tat zu den bemerkenswertenTatsachen, dafi man von j e m a n d e m , der heute tibcr Platos Staatsschriften zu sprechcn hat, erwartct, er solle im besonderen zu diesem von Popper reprasentierten Gegenvotum Stellung nehmen. N u n wird m a n v o n mir keine philologische Kritik und Widerlegung der Popperschen Irrtiimer im einzelnen erwarten. Feb mochte iiber das Vorverstandnis rcflcktieren, von dem aus Popper und die Tradition, der er angchort, ihre Weise, Plato zu lesen, entwickelt haben, und ich mochte versuchen, dieses Vorvcrstandnis zu kritisicrcn, indem ich cs an den Tcxten priife und, wie es hier und dort gepflegt wird, zu interpretieren suche. Das erste, was man sich dabei klarmachen mufi, ist, dafi die platonischen Staatsschriften fiir uns alle eine gewaltige Z u m u t u n g sind. Es ist wahrlich eme ungeheure Herausforderung, die Plato dem Huinanismus, der in Plato einen seiner groBcn Heroen vcrchrt, dem christlichcn und dcin modernen liberalen BewuBtsein zumutet. N u n sind wir im historischen BewuBtsein geniigend erzogen, um uns der Tatsache bewuflt zu sein, daB wir hier mit gcscll sell a ft lichen Formationen und politischen Verhaltnissen zu tun haben, denen nicht als >weltlichen< eine Kirche zur Seite stand. Ich sage nicht >Religion(, sondern >Kirche<. Die sakrale Durchordnutig des antiken Lebens kanntc kcinc nur wcltlichc >civitas<, wic sie die politische Formung des gesellschaftlichen Lebens im Sinne des modernen Staatsgedankens darstellt. So ist cs klar, daB wir uns von vornhercin, wenn wir den eigenen geistigen Traditionen folgen, in einem eigentiimlich zwiespiiltigen Verhaltnis zum platonischen Denken befinden. Auf der einen Seite haben wir eine fast bis ins Extrem gesteigerte politischc Idecnmassc, die uns fremd ist und in hcrausfordernder Weise entgegensteht, und auf der anderen Seite riihrt uns Plato wie eine > an ml a naturaliter christiana< an. Das ist die Spannung, in der unser cigenes Vorvcrstandnis unvermeidlicherweise steht. Die sokratische >docta ignorantia*, die sokratisch-placonische Forderung letzter Rechenschaftsgabe, die sich im Dialog und in der Dialektik vollendet, macht das Selbstverstandnis des abcndlandischcn Menschen mit aus und ist in die wirkungsgeschichtlichc Einheit des christlichen Platonismus eingegangen. Die tradi-
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tionsbildende Macht dieser Wirkungsgeschichte ist so stark, daB wir zuniichst mit den Augen dieses christlichen Platonismus alle antiken Textc, die uns uberhaupt uberliefcrt sind, lesen. N u n ist im 19.Jahrhundcrt diese selbstverstandlichc Wirkungseinheit des christlichcn Platonismus der historischen Auflosung verfallen, u n d man muB sich bewuBt maclicn, daB damit auch die philosophische Plato-Deutung unter cinem gewandeltcn Vor verstandnis das platonische Werk las. U m das etwas deutlicher zu vnachen, will ich mich im folgcnden zunachst gewisser Bcgriffe Poppers bcdiencn, damit die Bezugnahme zu den umstrittcnen Fragen auf diese Weise deutlicher wird. Da ist einmal der Essentialismus. Das ist ein Wort, das Popper fiir den Begriffsrealismus dcr mittelalterlichen Tradition gebraucht, weil er mit Recht den >Rcalismus< der Universalicnlehre einen fiir Laien etwas dunklcn und irrefiihrenden Ausdruck fand. Seine Kritik am Essentialismus druckt natiirlich seine eigene Stellung zum Idealismus iiberhaupt aus. Er versteht den platonischen Idealismus in Wahrheit von seiner mittelalterlichen, vorkantischcn Gestalt aus. N u n ist dieser Essentialismus gerade durch die dcutsche idealistische B e w e g u n g und ihre N a c h w i r k u n g cin anderer g e w o r den. Z w a r hat er sich aus der groBcn Tradition des scholastischen Bcgriffsrealismus entwickelt, abcr fast bis in sein Gcgctiteil hinein. Das trat in dcr Philosophie des 19. Jahrhunderts dcutlich zutage. So lehrte die Marburger Schulc des Neukantianismus, daB die Idee in Wahrheit nichts anderes sci als das Naturgesetz. Diese reprascntiere die pcrmanente, aller Vcranderung gegeniiber bestandhafte Dauerhafugkeit des Bleibenden im Gegensatz zu den wechselvollen Phenomenon, die ihm gehorchen. Aber sic besitze lediglich die Geltung einer Hypothese. Das war Natorps schon auf den j u n g e n Cohen zuriickgehende Interpretation Platos im Geiste Galileis. In der Tat hat sich Galilei gegen den verknochcrten Aristotelismus seines Jahrhunderts auf Plato bemfen. N o c h naher lag natiirlich fiir den Neukantianismus, Kant wieder aufzunehmen und Plato ganz im Lichte Kants zu sehen. >De mundi sensibilis atque intclligibilis forma et principhst liieB der platonisierende Titel der Dissertation Kants. Aber es war nicht dieser metaphysische, ncuplatonischc Platonismus, was Kant erncucrte, sondern cs war eher eine Verteidigung der sensiblen Welt gegen ihre Verkcnnung durch den Rationalismus der herrschenden Schuhvietaphysik. Es war nun dariiber hinaus (wic ich glaube, auch m eigenen Arbeiten plausibel gemacht zu haben 1 ) das groBe Verdienst von Hegel, daB auch er in seinem Riickgang auf die griechischcn Philosophen iiber die scholastische >Substanz-Metaphysik<. also iiber den Popperschen Essentialismus hinausging. Seine Anstrengung gait dem U n -
' Vgl. z. B. >Hegel und die antike Dialektik-, jetzt in Bd. 3 der Ges. Werke, S. 3 - 2 8 .
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ternehmcn, den Begriff der Subjektivitat und des SelbstbewuBtseins, der die eigentlichc Wahrheit der Neuzeit auch in seinen Augen war, produktiv zu iiberwinden und die Vermittlung zwischcn dem Allgemeinen und dem Einzelnen als den Weg des spekulativen Gedankens zu erweisen. SchlieBlich sollte man neben Paul N a t o r p chtenhalber auch den bedeutendstcn Philosophichistoriker und Platonikcr dieser Epoche, Julius Stcnzel, nicht vcrgessen, der die neukantiamsche Interpretation von ihren Anachronismen befrcite. Alle diese Forscher haben den Essentialismus in dem Sinne, in dem Popper davon spricht, mit kritischen Argumenten differenziert und damit der Popperschcn Auffassung in vieler Hinsicht bcreits den Boden cntzogen. Eine Ausnahme macht hier nur Heidegger, dessen Denken den groBten Eindruck auf meine Generation gemacht hat und dessen PlatoDeutung dem Essentialismus Poppcrschcr Pragung insofern niiher ist, als Heidegger das Denken Platos vollstandig dem aristotelischen Begriff der Metaphysik unterordncte. Er verstand die aristotelische Metaphysik als Ontotheologic, d. h. als den E n t w u r f einer Lehre v o m Sein, die am hochsten Seienden, am Gotthchcn, die eigentlichc Erfahrung det Wirklichkeit des Seins und des Sinns von Sein macht. Die ganze Denkanstrengung Platos war fiir Heidegger nichts als eine Vorform dieser Metaphysik. Doch ist gerade der j u n g c Heidegger, wie wir dank den neuen Vcroffentlichungen in der Heidegger-Gesamtausgabe erkennen, sowohl durch den antiken Platonismus Plotins und Augustins hindurchgcgangen, wie auch in seinen >Theatct<- und >Sophistes<-Vorlcsungcn dem Begriff der >Aletheia< nachgegangen, der Plato wie auch Aristoteles in ganz anderem Lichte zeigt als dem unseres mittclalterlichen )Esscrmalisriius< und neuzeitlichen Idealismus. Das mag geniigen, u m den Einsatzpunkt nieincr eigenen Arbeit und dessen, was mir diskussionswiirdig schien, zu charakterisicren. Ich meine damit in erster Linie die hermeneutische Wendung, die mit dem Studium der platonischen Dialoge, wie mir scheint, unausweichlich verkniipft ist. In gewisser Weise war das schon die Fordcrung, die die deutschc Romantik, die Schlegcl und Schleiermachcr, die Entdecker des Dialogprinzips als eincs metaphysischen Grundschemas der Wahrheitscrkenntnis, zuerst aufgcstellt haben. Indcssen hat es gute Griinde, w a r u m es nicht leicht ist, selbst fiir die Kcnner und Konncr des Begriffshandwcrkes, die lebendige Wirklichkeit des Gesprachs und der in Gcsprach verwickclten Menschen 1111 platonischen Lhalog iiberhaupt zu gewahren. Die moderne Plato-Forschung der nachschleicrmacherischen P e n o d e bis in unser Jahrhundert hinein 1st an der dramatischcn Mimesis der platonischen Dialoge achtlos voriibergegangen. Dazu kam, daB die philosophische Auswertung iiberhaupt nicht bedacht hat, welchcm hermeneutischcn Paradox wir ausgelicfert sind, wenn wir die aristotclischcn Analysen u n d Arbeitspapicre und die platonischcn Dialoge
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wie zwci gleichartige Quellcn miteinandcr konfrontieren. Darauf hatte Werner Jaeger schon 1912 hingewicscn 2 . Von hier bin ich ausgegangen, und das hat mich zu meinen hcrmeneutischen Ideen geftihrt. Zucrst, im Jahre 1926, schneb ich als Aufnahmearbcit in das Philologischc Seminar von Paul Fricdlander in M a r b u r g cine Arbeit fiber den aristotelischen >Protreptikos<, die spater im >Hermes< erschien 1 und in der ich Zweifel an der Jaegcrschen Konstruktion der zunehmenden E n t f e m u n g des Aristoteles von seinen platonischen Anfangen auBerte. Insbesondere fiihrte ich gegen Jaegers Verwertung der drei Fassungen der aristotelischen Ethik und seine Wiirdigung des >Protreptikos< den hermeneutischen Gesichtspunkt ins Feld. Meine These war: In einem Protreptikos ist nicht die Gelegenheit, Schuldiffercnzen darzustellen. Eine Werberede fiir Philosophie iiberhaupt - das bestatigt gerade auch die Fassung Jamblichs, der Plato und Aristoteles nebeneinandcr ausschrcibt - ist nicht der Ort, an dem es die Absicht ernes Schriftstellers sein kann, Diffcrenzen, etwa die zwischen der Ideenlehre Platos und ihrer Kritik durch Aristoteles, zur D a r stellung zu bringen. Ich lasse dahingestellt, wie weit ich recht hatte. Manches hat sich inzwischen durchgesetzt, aber das ist nicht so wichtig, sondern der herrneneutische Gesichtspunkt, der sich fiir mich dort zum ersten Male bewahrte. Dancbcn hatte ich schon, beeinfluBt durch die U m s t a n d e und vor allem auch durch die Schule Paul Fricdlanders, begonnen, etwas v o m mimctischen Geschchcn der platonischen Dialoge zu beachten und wie Friedlander selber dabei auch den EinfluB zu nutzen, der durch den George-Kreis auf uns alle damals ausgeiibt wurde 4 . Der Dialogcharakter der platonischen Dialoge begann durch meine Arbeiten Gegenstand philosophischer Interpretation zu werden, die ich spater unter das allgemeine Stichwort >Logos und Ergon< gestellt habe 5 , d . h . unter den Gesichtspunkt, daB platonische A r g u m e n t a tion im Gesprach zwischcn Sokrates und seinen Partnern weniger von logischer Schliissigkcit als von der mcnschlichen Ubcrzeugungskraft abhangt. Bei aller Bewunderung, die ich fiir die Akribie der logischen PlatoKritik hege, die aus England und Amerika zu uns k o m m t , empfindc ich es
2 WF.RNER JAFGF.E, Studien zur Entstehungsgeschiehte der Metaphvsik des Aristoteles. Berlin 1912. 3 Der aristotelische >Protreptikos< und die entwicklungsgeschichtliche Bctraclitung der aristotelischen Ethik, jetzt in Bd. 5 d e r G e s . Werke, S. 164-186. 4 Vgl. meinen Beitrag >Stefan George ( 1 8 6 8 - 1 9 3 3 ) s in: H.-J. Z I M M E R M A K N (Hrsg ), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (Sitzungsberichte der Heidelberger Altad. d. Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Jg. 1 9 8 4 , Suppl. Band 4 ) , S. 3 9 - 4 9 . [Erscheint voraussichtlich in Bd. 8 d e r G e s . Werke. j 5 Vgl. dazu meine Studie iiber Logos u n d Ergon irn platonischen >Lysis<, Ges. Werke Bd. 6, S. 171-186.
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doch fast als eine gcwisse Versch wen dung, dort Schliissigkeiten zu vermissen und dort Schliissigkeiten neu einzubringen, w o ganz andere Anspriiche, ubcrzeugend zu sein, erhoben werden, wie sie als (persuasive arguments* der Unmittelbarkeit des Gesprachs entspringen. N u n kann man gewiB dariiber streiten, wie weit dieser Gesichtspunkt rcicht. Im Augenblick bedarf ich nur einer gewissen Vorbereitung solcher Art, u m das T h e m a der Utopie, insbesonderc in der (Politeia*, aber im gewissen Sinne auch in den (Nomoi*, vorzubereiten. Gegen wartig hat die verdienstvoile Wiederaufnahme der Robinschcn Forschung iiber die ungeschricbene Lehre des Plato, wic sie durch Kramer, Gaiser und die anderen Mitglieder der Tubinger Schule entwickclt worden ist, eine neue Situation gcschaffcn, s o f c m die platonischen Dialoge an Bedeutung zuriicktreten. Ich habe in eigenen Arbeiten, wie ich glaube, eine gerechte Stellung eingenommcn, wenn ich mich auf Porphyrios berief 6 , der noch die aristotelische Nachschrift der platonischen Vorlesung (Uber das Gutc< gckannt hat und dennoch schrcibt: »Freilich, ohne den >Philebos< wiirde ich diese Nachschrift nicht verstehen.« Eine ganz gute Maximc. Wir haben zum Gliick den (Philebost. N u n habe ich mich sehr friih, und zwar schon in den friihen 30er Jahren, insbesondere an die (Politeia* gewagt, indem ich meinem hermeneutischcn Impuls folgte. Was ist das cigcntlich fiir eine Art von Literatur? Wie ist denn das gemeint? Sollen wir das alles so wortlich nehmen, wie das die modcrne, durch Wilamowitz schlieBlich noch abgesegnete, biographisch-politische Plato-Interpretation nahclcgtc? Oder gibt es hier Griinde, hernieneutisch differenzierter an die Dinge heranzutreten? Ich habe in meinen Arbeiten (Plato und die Dichtcr*, (Platos Staat der Erziehung* 7 und spater in einer groBeren zusammenfassenden Arbeit iiber (Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles* 8 , die Grundlinien entwickelt, wie ich mir im Falle der (Politeia* Platos Dcnken in Utopien zurechtlege. D a v o n mochte ich im folgenden nichts wiederholen. Ich mochtc Erganzungcn dazu bringen. Das erste Argument, das ich in diesem Z u s a m m e n h a n g gebrauchen mochte, ist das Studium der litcrarischen Gattung, zu der die (Politeia* gehort. Das ist doch gute alte Philologensitte und hat seine gute altc hcrmeneutische Tradition, daB man sich die Bildungsgesetze eines Schriftwerkcs von seiner hteranschen Gattung her aufschlieBt. N u n konnen wir nicht zweifeln, daB es eine Gattung der Utopie gcgchen hat. Wir konnen es insbesondere nicht, nachdem Ferdinand Diimmler in
Vgl. meinen Beitrag Platos ungeschriebene Dialektik* in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 129-153. 7 Beides jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 187-211 bzw. S. 249-262. 8 Vgl. in diesem Band S. 128-227.
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einer beriihmten Arbeit, den >Prolegomena zu Platos Staat< (Basel 1891), die Vorgeschielite utopischer Staatsvorstellungen als Hintergrund dcr platonischen Schrift aus der aristophanischen K o m o d i e wic der euripideischen Tragodie herausgcschalt hat. Wir konnen es aber auch nicht, meine ich - und das scheint mir nie genug beachtet worden sein - wenn wir n u r selber die aristotelische >Politik< und ihren Bcncht iiber die platonische >Politeia< und die anderen Vorganger genau lesen. Da steht es mit ausdriicklichen Wortcn. Es geht da zunachst um das vofiodrtriv, die Gesetzgebung als >Literatur<. (Erst spater wird von Aristoteles Gesetzgebung in schon bestehenden Staatcn [Sparta, KretaJ und durch wirklichc Gcsctzgeber in solchen Staaten diskutiert.) Die literarischen Gesetzgebungen werden nun ohne Riicksicht auf ihre Durchfuhrbarkcit, rein auf die in lhncn gebrauchten A r g u m e n t e hin, diskutiert. Aristoteles verfolgt offenbar die kritische Absicht, gegen diese A r g u mente die Verniinftigkeit seiner eigenen politischen T h e o n e b i l d u n g zu profilieren. Dabei ist keine Rede davon, dafi er die D c n k f o r m dcr Utopie, den Idealstaat, als solche kritisicrtc. GewiB ist seine eigene Denkweise sehr anderer Art als die satirisch-utopische Konstruktion, die Plato in dcr >Politeia* und in den >Nomoi< untcrnimmt. Aber Aristoteles' Kritik an diesen platonischen Staatsutopien stellt im Grunde vor die gleiche Frage, die seine Kritik an dcr Ideenlehre hcrvorruft. D o r t konnte man mimerhin noch mit der groBen Unbekannten, der platonischen Idealzahlenlehre und der indircktcn U b e r lieferung, rechncn. Immerhin ist auch dort viel direkte Bezugnahme auf die platonischcn Dialoge zu finden, die uns recht befremdlich scheint. Die Ideenlehre wird durch Aristoteles kritisiert, indem cr nicht die Eidos-Philosophie als solche, sondern cine bestimmte Ausdeutung derselben widerlegt, die auf den Chorismos der Idee geht. Das ist eine, wie ich glaube, von der aristotelischcn Mctaphysik aus verstandene Bedeutung von \~wpiopoi; u n d eine am Ende Plato fremde Vergroberung, die Aristoteles dem platonischen Denken unterstellt. Ahnlich wird von ihm auch die utopischc Staatskonstruktion Platos, alien ausdriicklichen Gegenversicherungen Platos zum Trotz, wic cin R e f o r m p r o g r a m m gelesen und durch realistischc Vorschlage kritisiert bzw. iiberbotcn. Wic man nun in der ontologischen Thematik Aristoteles gleichwohl als einen Eidos-Philosophen sehen muB, so gilt auch hier, daB in dem aristotelischen Corpus der politischen Abhandlungen die Frage nach der besten Polis jewcils in verschicdcnen Ansatzen aus der Idee der Polis entwickelt wird. Aristoteles erkennt also die literarische Gattung der Utopic, die mindestens durch Plato zu einer neuen Verbindhchkcit gestcigert worden ist, in Wahrheit an. Dafiir gibt es ein schlagendcs Argument, das man bishcr nicht vorgebracht hat. Aristoteles bchauptet, daB Plato als erster die radikale Konsequenz der Frauen- und Kindcrgemeinschaft fiir seinen Idealstaat gezogen
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habe - und das, nachdcm Aristophanes langst auf der Biihne das gleiche vorgestellt hatte. Natiirlich kanntc das Aristoteles. Es kann also nur heiBen, daB cr allein die literansche Gattung der philosophischen Utopie itn Auge hatte, zu der Aristophanes natiirlich nicht zahlt. Ich bin deswegen auch gar nicht uberzcugt, daB wir das, was Aristoteles selber iiber den idealen Staat sagt, nur auf seine Jugendperiode beziehen diirfen. Die >Gattung< behalt fiir ihn ihr Recht. Fiir die Existenz der Gattung gibt es aber noch em anderes, sehr starkes Argument, und das ist die literarische Standardfunktion, die dicsc Art von Staatsutopic in spaterer Zeit besessen hat. Da crfahren wir etwa von Zenon, dem Begriinder der stoischen Schulc, daB er selbst noch seinen kosmopolitischcn Aspckt Ilvpi aoXiuiai: genannt hat, und dabei Argumente aus dem platonischen Staatsentwurf, sogar die Frage der Frauen- und Kindergemcinschaft, in seine kritische Bctrachtung mit a u f g e n o m m e n hat. Die literarische Gattung scheint mir also von der Nachgeschichte her ganz unzwcifclhaft bezeugt. Aber erst recht gilt das fur die Vorgeschichte des Denkens in Utopien, die wir natiirlich nur fragmentarisch rckonstruiercn konnen. Sic laBt sich noch weit iiber die von Diimmler herangezogenen Reflexe bei Aristophanes und bei Euripides hinaus erweitern. Da nctinc ich zunachst den AnacharsisRoman, also die Skythcn-Romantik 9 . Sie gehort zur Form der Utopie, wenn anders das Wesen einer Utopie sich so definieren laBt, dafi sic die Form der Anziiglichkeit aus der Feme sci. Dann ist, was da angebheh diese Sky then warcn, und all das, was die Anacharsis-Legende berichtet, typische Utopie, namlich kritische Anspielung auf die cigcncn Verhaltnisse. Ahnliche Anziiglichkeit aus der Fcrnc diirftc fiir die Agypten-Romantik zutreffen, und gewiB trifft es auch fiir die )Kyropadie< des Xenophon zu. Am Ende sollte man dariiber hinaus hier die gesamte Tradition des Mythos, insbesondere die von einem goldcncn Zcitalter, einem Zeitalter paradiesischer U n schuld, nicht vergessen, die auch bei Plato oft im Hintergrund sclummcrt oder in der Phaaken-Romantik der Odyssee. Das sind alles Vorformen einer Litcramrgattung, die uns rcichhch bezeugt ist, aber von der wir nur die politischen Schriften des Plato und in einigem U m fang die des Aristoteles wirklich besitzen. Wie sah diese Literaturgattung aus? Wir haben doch wohl Grund, in ihr den Nachhall des Kolonialzeitalters zu sehen. Das klingt selbst bei Aristoteles durch. D o r t haben wir em klares Zeugnis. Er fiihrt als Vorganger den Phalcas an, der iiber die Landrcform spricht 1 0 . Das ist natiirlich cin altcrcs, aus der gricchischcn Geschichtc wohlbekantitcs T h c m a . Landreform strebt ' Hier hat in ich E. L L E D O an die Phaaken-Romantik der Odyssee erinnert Arist., Pol. B 7, 1266a;)<)ff.
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den Ausgleich der Spannungen an, die sich i m m e r wieder im Z u g e des griechischcn agrarischen Stadtstaates im Bereiche des Landbesitzcs zu entwickeln pflegtcn. Phaleas schreibt nun, wie uns Aristoteles berichtet, daB eine solchc Verteilung, Ncuverteilung, Gleichverteilung des Landbcsitzcs leichter sei, wenn cs sich u m Neugriindungen handele, als wenn sie in einer bestehenden Polis durchgefiihrt werden solle. Das ist cm wichtiger Hinweis auf das Kolonialzeitalter. Ein andercr Hinweis liegt in Plato selbst, sofern sich Sokrates in der >Politeia< als ein AT/OT^C, als ein Griinder, bczeichnet. Natiirlich ist cs eine Stadt in den Wolken, eine Stadt im Ideal 11 . Aber noch in den >Nomoi< ist eine der Rcahtat genahcrtc G r u n d u n g in der Form einer Utopie beschricben 1 2 . So laBt Plato die Geschichte des kolonialen Denkens in die neue literarische Form unmittelbar einstromen. Ich mochte meinen, daB das nicht erst Plato war, sondern daB das hochstwahrscheinlich zur Form dicscr theoretischen Staatscntwurfe iiberhaupt gehorte. Das wird dadurch noch wahrschcinlicher gemacht, daB die aristotelische >Pohtik< nicht den ganzen Bereich der noXiTiKa umfaBt, sondern nur den Bereich der Gcsctzgebung, dagegen von den Problemcn der Gerichtspflegc oder der Verwaltung nicht handelt. Ich folgcrc aus all dem (was an sich bekannt ist), daB >Gcsetzgebung< als ein bestimmtes Denkmodell bereits in Entwicklung begriffen war, in das liinein Plato aus Griinden, die noch zu erortern sind, seine eigene Staatsutopie einfiigte. Ein andcres Problem liegt darin, wclche biographische Placicrung das platonische Dialogschrifttum iiberhaupt erfahrcn soil. Es hangt mit den Dcbattcn iiber die Echtheit des Sicbcntcn Briefes zusammen. In seiner neuesten, in manchem maBvoll und vemiinftig gehaltenen Arbeit von 1981 hat Gerhard Miiller in den Frankfurter Abhandlungen eine neue Hypothese aufgestellt, daB der Siebente Brief cin B n e f r o m a n gewesen ist, der in nachplatonischer Zeit, allerdings bald nach Platos Todc und offenbar aufgrund ausgezeichneter Kenntnisse, verfaBt worden sei, die so gut waren, daB sie bekanntlich samtliche modernen Histonker irregefiihrt hatten 1 3 . Die Plausibilitat einer solchen Hypothese ist, da sich Echtheit fast niemals wirklich beweiscn laBt, nicht schwer zu crziclcn, insbesondere, wenn m a n d e m Autor eine sehr verstandmsvolle und sachkimdige E r f i n d u n g und Durchfiihrung seiner Fiktion zuspricht. Das hat Gerhard Miiller mit iibergroBcm Erfolg getan. So fallt mir die beruhmtc Gcschichte v o n Bernhard Shaw ein. Als die Autorschaft Shakespeares an seinen D r a m e n bezwcifclt wurde, soli er gesagt 11
Plato, Rep. IX, 592b. Vgl. E D C A H S A L I N . Platoii und die griechische Utopie. Miinchen-Leipzig 1 9 2 1 . 13 G E K H A K D M U L L T R . Platens Dialog vom Staat - Kunst form u n d Lehrgehalt. Wiesbaden 1981. 12
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haben: »Ja, das ist ganz klar, Shakespeare, von d e m wir gar nichts sonst wissen, ist gewiB nicht der Verfasser dieser Dramen. Das i s t j e m a n d anderes, von dem wir auch nichts wissen und der auch Shakespeare hieB.« Ich will mcincrscits hier offenlassen, was das Richtige ist - die Theorie eines Briefromans, der mit den Tatsachen iibcreinstimmt, oder die Theorie, daB cs sich um einen authentischen Briefhandelt. N u r wenn Gerhard Miillcr eine gewisse krause Mischung von platonischen und isokratischen Gedanken in diesem Brief erkennen will, die des Verfassers Inkompctcnz in philosophischen Dingen vcrraten soli, muB ich ihm widersprechen. Was den philosophischen Exkurs, der in dem Brief begegnet, angcht, so habe ich mich dariiber geauBert 14 . Ich halte die Kritik an diesem Exkurs fur vollig ungentigend. Sie beruht auf irrefiihrenden Vorurteilen bzw. auf cincin Mangel an hermeneutischer Vorsicht. Die Interpretation ist durch den Begriff der Erkenntnistheorie ganz falsch belastet l s . N i m m t man diesen E x kurs mit einiger hermeneutischer Bewufitheit auf und realisiert, daB hier ein sehr elementar gehaltener, einfuhrcnderText vorliegt, den man gewiB nicht mit einem so anspruchsvollen Dialog wic dem >Sophistes< auf eine Stufe stellen darf, dann verschwindcn die AnstoBe. Dieser Exkurs steht im Einklang mit den wichtigsten platonischen Positionen, wie ich in meiner Abhandlung zu zeigen vcrsucht habe. Doch mochte ich die Frage der Echthcit des Bricfes fiir meine Zwecke als unintcressant betrachten. Entweder hat die Athetese des Bricfes, die ja bekanntlich von E del stein 1 6 neu zu bcgriinden versucht wurde, recht. Dann diirfen wir natiirlich Platos Denken in Utopien nicht mehr mit scheiternden politischen Experimcnten in Sizilien zusammenbringen und cs dafiir vcrantwortlich machen. O d e r die Athetese ist falsch. In diesem Falle gilt, was insbesondere Kurt von Fritz injiingeren Arbeiten gezeigt hat 1 7 , daB die platonische Politik, o b es nun die erfundene oder die wirkhchc war, jedenfalls nicht auf die praktische Einftihrung seiner programmatisehen Entwiirfe von der idealen Stadt zielte. Wir konnen uns also von der ganzen Frage dispensieren. In Wahrheit stcckt ein anderes Problem dahinter, namlich das sachliche Problem, wie weit Denken in A Ug em einheit en und die Konkretion im Bcsondercn angesichts unserer veranderlichcn, ungenauen und fluktuierenden Wirklichkcit
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14 Vgl. "Dialektik unci Sophisdk im siebenten platonischen Driefi, Ges. Werke Bd. 6, S. 90-115. 15 Vgl. dazu auch meine ausfiihrhche Auseinandersetzung mit der Plato-Interpretation von N . ?. W H I T E , m diesem Band, S. 328-337. 16 L L D W T G EDF.ISTF.IN. Plato's Seventh Letter. Leiden 1 9 6 6 (Philosophia Antiqua Vol. XIV). 17 K U R T VOM F R I T Z , Platon in Sizilien und das Problem der Philosophenherrschaft. Berlin 1968.
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je zu einer vollen und bcfriedigenden Ubercinstmimung gebracht werden kann. An gewissen Textbczugnahmen Poppers, die ich fiir Fehldeutungen halte, scheint mir gerade diese Frage ganz iibersprungen zu sein. Wenn ich dem Essentialismus Popperscher Pragung nicht viel Vertrauen entgegenbringe, sowcit es sich um Plato handeln soil, mufi ich auf meine eigenen Plato-Arbeiten verweisen, die gewisse Motive Hegelschcn Platoverstandnisses aufgegnffen und, wie ich hoffc, iibcrzcugend entwickelt haben. Ich mochte es fiir eine Fchhntcrprctation halten, sich die platonische Ideenlehre so vorzustellcn, wie sie der >Phaidon< in einer allerersten Einfiihrung entwickelt, und dann irgendeine Geschichte zusammenzuphantasicren, daB Plato schheBhch auf die Dauer das Problem dcr pi'lie tlx entdeckt habe und an seinen anfanglichen Meimingen etwas irre wurde. Das schcint mir ebenso fragwiirdig wie Poppers Anlehnung an die schon ofters von anderer Seite vertretenen Thcsen, daB, wenn nicht Sokrates, so die platonische Sokratcsgestalt sich vom echten demokratischen zum autoritaren Denker gcwandelt habe und daB das cincn Gcsinnungswandel Platos anzeige. So viel ruhrendc Fiirsorgc des Schriftstellers Plato fiir den Scharfsinn seiner modernen Interpreten anzunchmcn, ist in meinen Augen erheiternd. In Wahrheit laBt sich das historisch-genetische Schcma, ein Reflex des m o d e r nen Historismus, aus vielen Griindcn hier nicht uberzeugend machen. Ich habe versucht zu zeigen, wie einheitlich der platonische Entwurf im ganzen ist und wie er noch bis in die aristotelische Platonachfolge und Platokritik hinein wirksam bleibt. Das erfordert freilich eine sclnvierige und in diesem Z u s a m m c n h a n g nicht im einzelnen durchfiihrbarc Auscinandcrsctzung. Hier muB ich gestehen, daB mich auch Heideggers Deutung der aristotelischen Mctaphysik als Ontotheologie, die mich lange Zeit bestimmt hat, hcutc aufgrund meiner eigenen Plato-Forschungen nicht mehr ganz iiberzeugt und mir nicht als der Weisheit letzter SchluB erscheint. Jedenfalls ist das klar; Das Schcma dcr Ontotheologie oder dcr Mctaphysik ist, wie schon das Wort >Metaphvsik< lehrt, fiir Plato vollig unangemessen. Wenn iiberhaupt, dann konnte man bei Plato von >Mctamathematik< sprcchen und zeigen, daB sich hmter der Mathematik die eigentliche Seins welt der apriorischen Strukturen abzeichnet. Dagegen wird der Bewegungsgang der Erscheinungen von Plato nur in mythischen Metaphern gcschildert, so in der des Demiurgen als des Wekordners im >Timaios<, so in der des Mischers des Lebenstrankes im >Philebos<. Von dem, was Mctaphysik als Ontotheologie ware, wonach das Gottliche wic cin hochstes Fiirsichseiendes in magischer Attraktionskraft als ein erster unbewegter Bcweger die Physik sozu sagen kront. da von kann ich in Platos Begriffsbildung nichts finden. Wo er dem am nachsten k o m m t , im 10. Buch der >Nomoi<, ist alles auf cine >Thcologie< der yw\~rj gegri'indct, und daftir tritt bei Plato eben die mythische Redcweise ein. So bin ich zu der
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paradoxen Folgerung g c k o m m c n , daB der von Aristoteles behauptete ontologische jwpvi}i6<; der Ideen einem Plato unterstellt worden ist, der nur einen mcthodischen Chorismos kannte. Der ontologischc Chorismos ist dagegen eine Lehre des Aristoteles u n d nicht des Plato 1 8 . Er hat den Gott von der physischen Bewegungswelt in der Weise getrennt, die er i m Buch A der >Metaphysik< entwickelt. N u n , das sind Behauptungen, die ich hier nur crwahne, weil sich diesem Denken in Metaphern des >Machens< das >Denken in Utopicru zur Seite stellen laBt. Beides sind >mythische< Darstellungsformcn platonischen Denkens. Bevor ich cinige konkrete Beispiele von Denken in Utopien behandele, darf ich noch darauf hinweisen, daB die beiden platonischen Utopien, die >Politeia< und die »Notnoi<, zu den am meisten exotenschcn Schriften des Plato gehoren. Daran kann man kaum zwcifcln, schon wenn man den iiberdimcnsionicrten U m f a n g bedenkt, den sie innerhalb des platonischen Schrifttums einnehmcn. Von da aus muB man auch gewisse stilistische und argumentative Zuge dieser Schriftcn verstehen, die Popper und andere, die die utopische Denkweise nicht erkennen wollen, irregefiihrt haben. Da ist vor allem das Provokativc in der Form des platonischen Vortrags, das natiirlich von vielen bemerkt worden ist. Ich sehe darin nicht, wie Popper, einen E i n w a n d oder gar das Zeugnis innerer Unsicherheit. Es ist der Stil dieser litcrarischen Gattung, daB sic solche Effekte anstrebt. Was wird da etwa fiir eine dramatische Szene aufgebaut, wenn im 4. Buch der >Pohtcia< die Gcrechtigkeit defmiert werden soil, oder wenn wie ein zuriickgehaltenes Geheimnis im 5. Buch schlieBlich die Philosophenherrschaft herauskommt. Das sind ganz offenkundige dramatische Stilmittel. Ebenso stellt die Art, wie am Anfang des 5. Buches die Wciber- und Kindergemcinschaft eingefuhrt und erortert wird, eine klare Form provokativer Stilbildung dar. Daraus SchliisseZiehen zu wollen, wie real das Gesagte eigentlich verstanden werden darf, ist ein naives Verkenncn stilistischer Mittel. Z u wclchcn MiBlichkeiten das fiihrcn kann, zeigt das grotcskc Beispiel Gerhard Miillers, wenn er den SchluB des 7. Buchcs der >Politeia< fiir einen Zusatz erklaren muB. Das dort gcgebene Rezept fiir die Verwirklichung der idealcn Stadt, namlich die Aussiedlung aller mehr als Zehnjahrigcn aus der Stadt, k o m m t selbst ihm zu utopisch vor. Altestc Methoden der Ubcrlieferungskritik miissen ihm zu Hilfe eilen. In Wahrheit gehort in der Tat einige hcrmcneutische Schulung dazu, die Stillagen und die Stilmittel, mit denen ein groBer Kiinstlcr der Sprache wic Plato kompomert, richtig ini Auge zu bchalten. Wir haben das in vielem langsam gelernt, z. B. was es bedeutet, wenn Plato
18 Vgl. dazu vor allem >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, in diesem Band, S. 215 ff".
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eine Apologie des Sokrates schreibt (Erwin Wolffs 1 9 Leistung) oder wenn er eine Rede komponicrt, die ein Beispiel von Rhetorik darstellen soil, oder wenn er sonst einer bekanntcn Figur - etwa dem Protagoras - etwas in den M u n d legt. Das sind Beispiele, wie wir im Verstandnis literarischer Stilforliieii weitergekommen sind, so daB wir nicht mehr der Naivitat verfallen, iiberall unsere historische Neugierde befriedigen zu wollen. Doch wenden wir uns von den formalcn zu den inhaltlichcn Problemen des Denkens in Utopien. Was k o m m t da zutage? Ich glaube, auch wenn man das Zeugnis des 7. Briefes in seiner biographischen Wertigkeit nicht anerkennen will, darf man sagen: Die erste groBe Leistung Platos w a r die Konfrontierung des Sokrates mit den Sophisten. Er hat das erfunden, daB Sokrates mit den Sophisten in Streitgesprache tritt. Bei X e n o p h o n gibt es einen einzigen Fall, daB uberhaupt ein beriihmter Sophist als Partner auftritt, Hippias 2 0 , und das ist dann eine hochst friedliche Sache. Die neue Erfindung Platos cntsprang offenkundig seiner apologetischen Grundtendenz, zu bcweisen, daB sich die attische Gesellschaft und das attische Gencht eine fatale Verwechslung des neumodischen, sophistischcn Wesens und der sokratischen Wirksamkeit haben zuschulden k o m m e n lassen. O h n e Zweifel hat er das mit all dem zusammengebracht, was wir etwa schon aus der thnkydideischen Schilderung iiber den Zerfall des staatlichen Ethos im belagerten Athen kennen. Zersctzungsvorgange gesellschaftlicher Art ziehen sich lange hin. Die Forderung zu wissen, die Sokrates erhebt, und > Arete* als Wissen zu definieren (wenn man den Anachronismus von (Definition* in der Obersetzung dessen, was da gcschieht, einen Augenblick duldcn will), hat in dem wirklichen Zustand der Gesellschaft ihrcn Grund. Die elenktische, kritische Aktivitat des Sokrates besteht darin, die Vertneintlichkeit dessen aufzudecken, was er erstmals, wie es scheint, >Doxa< genannt und vom >Wissen< unterschieden hat, u n d die Hohlheit des Anspruches auf cchten Arete-Besitz am Partner zu crwcisen. Diese kritische Funktion, die wir als solche direkt mit der Figur des elenktischen Sokrates in Verbindung bringen, braucht uns hier nicht zu beschaftigcn. GewiB ist nichts von U t o p i e darin. U m so mehr geht uns aber an, wie diese Figur am Ende ausgcfullt wird. Der Sokrates, der in stundenlangem Gesprach den Bericht iiber cin Gesprach wiedergibt, das er in der vorangegangenen Nacht mit Thrasymachos und den Briidem Platos gefuhrt habe, sieht gewiB recht anders aus als der unbequeme Mahner und Kritiker, dessen sich die Stadt durch den Giftbecher entledigt hatte, u n d sehr anders auch als sein vcrkliirtes Bild, das Plato 19 E . W O L F F , Platos >Apologie*. Berlin 1929. Vgl. dazu meine Rezension in Bd. a der Ges. Werke, S. 316-322. 30 Xenophon, M e m . A 4,5ff.
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anfanglich in seinen Dialogen gczeichnet hat. Insofern kann mail verstehen, dafi ein auf historische Ermittlung gerichtetes Interesse das als geschichtlichc Wahrheit nehmen mochtc. Aber ob m a n aus einem histonschen R o m a n geschichtliche Wahrheit en gewinnen kann? Da ist der Phantasie Tiir und Tor gcoffnet, und man mag darauf geraten, Plato, der als ergebener Jtinger des Sokrates begann, in seine Standesvorurteile u n d seine antidemokratischcn Tendenzen zuruckfallen zu sehen. Eine seltsamc Probe von kritischem Realismus scheint mir ein solches Vcrfahren allerdings. Echte kritische Vorsicht verlangt dagegen, sofern man Plato verstehen will, die von Plato intcndicrtc Einheit der Sokratesfigur in den Blick zu nehmen und sich zu fragen, wie die neue Ausfiillung der Figur mit ihrem anfanghchen UmriB zusammcnhangt, Fragt m a n so, dann verhert die utopische Denkfigur, die Plato in der >Politeia< und in den >Nomoi< errichtet, ihr Singulares und Ubcrraschendes. Sie steht dann neben dem Mythenerzahler Sokrates. Auch da wird gewiB Wahrheitsanspruch erhoben, aber nicht in dem Sinne, daB das so Erzahlte fiir wahr gehalten werden soli, sondern daB das Suchen, das in denkcndcr Rechcnschaftsgabe nach dem Wahren unterwegs ist, dadurch seine Beglaubigung wie durch eine iiberlcgcne jcnseitige Wirklichkeit empfangt. Auch das Denken in Utopien, zu dem das sokratisch-platonische Gesprach sich versteigt, will nicht Utopisches als Wirkliches oder zu Verwirkliclietides bieten, sondern das nie vollendbare Gesprach der denkenden Seele mit sich ins Unbedingte hincin ausziehen. U n s c r T h e m a ist die U t o p i e als Denkweise. DaB man Platos Idealstaat als Utopie interpretiert, ist nichts Neues. Das ist bei Plato selber oft genug gesagt. Es wird ausdriicklich zuriickgewiesen, daB man die Frage der Verwirklichung dieses Ideals fiir eine entscheidend wichtige Frage halt 2 1 . D a r auf k o m m e es nicht primar an, und die Bcdingungen, unter denen die Verwirklichung dann doch plausibel gemacht werden soli, sind alle mehr oder weniger selber utopischcr Natur. Worauf es in Wahrheit a n k o m m t , mochtc ich an drei Wendepunkten in der Entwicklung dieser Utopie vor Augen stellen, die mir Popper verkannt zu haben scheint. Da ist zunachst die Auffindung der >Dikaiosyne< n n t Hilfe der thcoretischen Konstruktion des Werdens einer Polis. Das sind die wohlbekannten Dinge im zweiten und dritten Buch, die im vierten Buch zu einem AbschluB fiihren, der in der Tat philologische Fragen weckt. Gab es einmal cinc VierBiicher->Politeia Sollte sie weniger utopisch gewescn sein oder gar auf die athenische Politik unmittelbare Einwirkung versucht haben? Die Frage ist in j e d e m Falle: Was ist die eigentlichc Absicht dieser ganzen Darlegung? Ausdriicklich geht es u m die Frage der O r d n u n g der Standc in der Polis und der O r d n u n g der Seele im Individuum. Wir wollen nicht iibermaBigen Ge21
Vgl. neben der in Anm. II genannten Stelle auch Rep. V, 472dff.
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brauch davon machcn, daB angeblich nur um der Psyche willcn an der Polls Interesse g e n o m m e n wird. Das ist gewiB cin Fall von Friedlanders >ironischer Gewichtsverschiebung<. Immerhin ist es cinc Fiktion, die die anima naturaliter Christiana etwas besser verstandlich macht, sofern hier die Innerlichkeit der Scclc und die in ihr herrschende Gerechtigkeit zum Thcma wird. Aber wir werden gewiB nicht verkennen, daB die GroBperspektive, in der die Gerechtigkeit in groBeren MaBen an der Polis sichtbar gemacht werden soli, zugleich auf einen unlosbaren Zusammenhang v o n Einzelseele und Polis hinweist. Wic auch i m m e r u n d wie ironisch auch die Gcwichtsverschiebung zwischen dem politischen Tliema und dem T h c m a der Gerechtigkeit der Einzelseele sein mag, es bleibt in jedem Falle, wenn man der Herleitung der Polis aus der Arbcitstcilung u n d der Bediirfnisbefriedigung folgt, ganz deutlich, worauf es eigentlich a n k o m m t . Es geht darum: Wo wird >Dikaiosyne< sichtbar? Die indirektc A n t w o r t lautct: N u r angesichts dessen, daB es >Adikia< geben kann. Dieser Punkt wird am unpolitischen Paradics der Schweinestadt, an dieser kynisch kolorierten Form des idyllischen Zusammenlebens illustriert. Wic es Plato da mit auBerster Kunst fcrtigbringt zu zeigen, daB dieses unpolitische Gebilde, in d e m cs keinc Ungerechtigkeit geben kann, weil es ein Ideal der totalen Bediirfnisbefriedigung aller durch alle in sich schlieBt, in sich unmoglich ist und notwendig in den Zustand iibergeht, in dem Hcrrschaft uber Menschen und Gewalt der Waffcn am Ende eme entscheidende Rolle spielen! Die luxurierende Stadt erfordert den Stand der Wiichtcr. Sie haben dieses Anwesen zu vcrteidigcn, das immer m e h r ausgreift, j e mehr seine Bediirfnisse wachsen. Vielleicht wird eine solche fiebernde Stadt auch Angriffskriege fuhren. Das ist keineswegs ausgeschlossen. jedenfalls vollendet sich diese Konstruktion darin, daB es notig ist, den Waffentrager zum Wachter zu machen, oder genauer, den waffentragenden Wachter zum guten Wachter zu machcn. Das ist das politische Problem Ktrt' i£oyt/v. Auch die Kenner der politischen Wissenschaft und der politischen Philosophie von heute werden kaum widersprechen, wenn ich das das zentralc Problem der Politik iienne. Es ist die Aufgabe, den MiBbrauch von Macht zu verhindern. Das kann man auf dem Wege der Verfassung und der Institution anstreben, und das ist das, was wir heute >politischc Wissenschaft) nennen und was als die aristotelische >Politik< durch die Geschichte gegangen ist. M a n kann aber auch den Akzent darauf legen, daB keine Verfassung und Staatseinrichtung ohne erfolgreiche Erziehung ihrer Burger gelingen kann, und das ist Platos Punkt, den auch Aristoteles nicht vcrleugnet. Das ist es, was die sokratische Kritik an den herrschendcn Vcrhaltnissen leitet. Sie fuhrt zunachst zum Bestehen auf der apt ill als t-miTTrip//. Das ist die erschreckende Abstraktion des Tugcndwissens, die von aller Basis des Ethos und der emotionaien Bedingthcit abgclost scheint. Ihr wird wie eine Art Gegenutopic die ideale Stadt zur Seite gesetzt,
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die sozusagen iiber ein Uberethos verfiigt. Das bezeugt nicht einen Wandel, sondern ist das logische Koniplement. Wie beides zusammengehort, hat Plato in einer amiisantcn Erfindung symbolisicrt, die freilich verlangt, daB man fur Platos H u m o r Sinn hat. Worauf ich anspiele, ist die Geschichte von dem >philosophischen Hund<. Der wohldressierte H u n d ist der, der scinem Hcrrn allein zuwedelt und von ihm selbst Schlage annimmt, wahrend cr den, den er nicht kennt, auch wenn der ihn mit Leckerbissen anzichen will, wiitend anbellt. So soil der Machthabcndc im Staat sein, daB er jeder Bestechung gegeniiber i m m u n ist und seinem A m t e als der gute Wachhund unbeirrbar treu bleibt. Den Wachter der idcalcn Stadt mit dem Hundc zu verglcichen, illustriert mithin das Grundproblem aller Politik. Der zweite Punkt bctrifft die Auffindung der Gcrcchtigkeit. Sie figuricrt als die letzte der vier sogenannten platonischen Tugenden. Diese Lehre hat eine fast paradoxc Geschichte, die noch in meine eigene Jugendzeit fallt. Da hielt m a n die vier Kardinaltugcnden fiir eine platonischc Entdeckung, und Wilamowitz hat bekanntlich noch einen Vers der >Septem< (v. 610) des Aischylos athetiert, wcil darin eine Vorform der vier platonischen Kardinaltugenden crkennbar sei. N u n ist es inzwischen wohl kaum mehr bestritten, daB die sogenannten Kardinaltugenden ein alteres Traditionsgut des moral-politischen >Wertekodex< Gricchenlands waren. Es ist insbesondere Werner Jaegers Vcrdienst, das iiber alien Zwcifcl crhoben zu haben. Aber daB Plato in der >Pohteia< etwas ganz Ungeheuerliches tut, wenn er diese hergebrachten Tugenden vollig auf den Kopf stellt und sie alle mehr oder minder detitlich zu Wissensformen macht, blieb dariiber meines Erachtens nicht genug beachtet. Das fiihrende Beispiel ist die Tapfcrkcit. Das ist die vielleicht kiihnste und tiefsinnigste U m d c u t u n g einer alten heroischen T u gend, die es geben kann - offenbar ein Lieblingsgedankc Platos, der ahnlich im >Laches< und im ersten Buch der >Nomoi< begegnet. Als die wahre Tapferkeit k o m m t etwas heraus, was wir Zivilcourage oder auch N o n k o n formismus nennen wiirden. Auch das ist rechte Haltung gegeniiber der Gefahr, die Tapferkeit in der Tat ist. Aber die Gefahr, die offen droht und Widerstand weckt, erscheint nicht als so groB wic die versteckte und unmerklichc, mit der das verfuhrerisch Angenehme, insbesondere hier die Bestechung durch Schmeichelei, einen einnimmt. Mit dieser paradoxen U m d c u t u n g wird Tapferkeit cinc eminent politische Tugend u n d hat nichts mehr von der Einseitigkeit einer auf spartanische Harte gerichtcten Erziehung. Das ist die eigentliche Tapferkeit, daB m a n sich als der Machthabende - Hcrrscher oder Amtstragcr - nicht von dem irrcfiihren laBt, was jeder nur allzu gern von sich glaubt und was jedem, der Macht in den Han den hat, auf alien Wegen der schmeichlerischen Bestechung entgcgengebracht wird. Aber auch die U m d e u t u n g der Gerechtigkeit ist so kiihn wie geistreich. Nicht die gerechte Verteilung der Giiter - das alteste Ideal von Gerechtigkeit
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- noch die Gleichheit aller Burger vor dem Gesetz, das neuere Ideal, ist hier das Anliegen, sondern die Anprangerung des Grundiibels, das Plato in der attischen Dcmokratic sail, der uoXvnpiaypoavvjj, dcr Vielgeschaftigkeit, die vom Eindringen partikularer Interessen in die Politik lebt. Hier scheint mir auffallend, wie die >Sophrosyne<, die mit dem politischen Idealbegriff der Harmonie und H o m o l o g i e gleichgesetzt wird, und die >Dikaiosync<, die die rechte O r d n u n g des Ganzen tragt und ausmacht, einander nahekommcn. Das hat man abcrmals als eine kiihne LJmdeutung ohne Zweifel bemerken sollen. An ihr ist deutlich: Das Intercssc Platos liegt im politischen Problem der Macht. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daB die U m s e t z u n g des gewonnenen Begriffs von Gerechtigkeit auf den inneren Staat der Seele von geradezu tiefenpsychologischcr Evidenz ist. Das ist mit Recht von jeher bewundert worden, wie hier die innere Entzwcmng der >Seelenteile< geschildert und damit das Ideal eines Biirgerfriedens der Scclc vor die Augen gestellt wird. Jedenfalls scheint mir unzwcifclhaft, daB Plato hier eine U m bildung dcr traditioncllen Tugenden im sokratischen Sinn v o r n i m m t , was freilich mit den Parolen der damaligcn politischen Aufklarung oder dcr heutigen Popperschcn nicht ganz zusammengeht. Abcr wenn Popper in dieser Darstellung der Gerechtigkeit die Gleichheit vor dem Gesetz vermiBt, verkennt er in Wahrheit das Ganze. Es ist ein Staat dcr Erziehung, der Gesetze uberhaupt uberfliissig macht. Das ist die im gewissen Sinne absurde Pointe, daB sich durch die rechte Erziehung cine Ubcreinstirnmung aller und cine Z u s t i m m u n g aller zu dem Tun der Herrschenden und dcr Elite dieser Herrschcndcn von selber ergeben soli und daB auf diese Weise alles in der rcchten O r d n u n g ist. Das dritte Beispiel, das ich genauer analysieren mochte, betrifft den Obcrgang zu dem bcriihmten Verfall des idealen Staates. Es handelt sich u m die Frage: Wie k o m m t es eigcntlich bei einer so wunderbar idealen O r d nung, in der alles getan ist, damit kein Unrecht passieren, keine Storung des idealen Zusammenklangs aller eintretcn kann, zum Verfall? Wie sollen in cinem solchcn idealen Staat iibcrhaupt politische Veranderungen eintretcn? Plato erfmdet dafur die absurde Geschichte mit der Hochzekszahl, in der er nun wirklich das AuBerstc an ironischer Farbgebung vorniinmt. Es scheint einem kaum glaublich, daB man dafiir blind sein kann. Da werden sogar auf homerische Art die Musen angerufen, die uns sagen sollen, wie erstmals Zwictracht emficl, und sic hatten im tragischcn Stil mit uns wie mit Kindern scherzend und plaudcrnd, aber ganz ernsthaft und mit hohen Worten reden d gesprochen - und dann k o m m t die feicrlichc Losung des Problems: Bei den Menschen, die so ideal zu Weisen erzogen sind, wird eines Tages die Berechnung nicht stimmen, weil trotz der unendlich komphzierten Redlining fiir die Ermittlung der mcnschlichcn Hochzeiten napa xmpox, gegen die Zeit, Hochzeitcn veranstaltet werden: ayvo^aaviEq, d. h. un wis send, u n d das meint
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offenbar: in falscher A n w e n d u n g der Zahl. Die Griinde daiur, daB eine solche cintritt, sind sozusagen ontologischer N a t u r : Weil die Menschen Mcnschen sind. weil sic ihre Berechnungen, wenn sie sie anwenden wollen, mit awfirjOK;, aufgrund ihrer sinnlichen Weltwahrnchmung, vornehmcn miissen und nicht wie der Gott, der sonst den Lebewesen die dem Lauf der Zeit cingepaBten Zeugungszcitcn zugewicscn hat, werden die Menschen Fehler machen, und diese Fehler sind's, aus denen dann der erste Zwist inncrhalb der Herrschcndcn cntstehen wird, weil dann nicht mehr alles reines Gold ist, was in diesem fiihrenden Stande der Wachter vcrsammelt ist. Hier lassen sich die Irrtiimcr Poppers, der fiir das Spielerische der ganzen Szene keinen Sinn hat, von seinem Vor verstandnis her leicht verstehen. Er sicht in Platos Idealstaat die Rckonstruktion einer friihgriechischen kollcktivistischen Stammcsgesellschaft, die durch die neue, rationale Methodik einer Eugenik vor Verfall bewahrt werden konnte. Aber unserText sagt das Gegentcil. Gerade das kann es nicht geben, weil mathematische Berechnungen mit der Wirklichkcit nur durch a/odr/ou; vermittelt werden konnen. Die Herkunft der Fehler liegt also in diesem Umstand, dem Unveranderbarcs zugrunde liegt, und nicht in einem Mangel in der Erziehung dicscr Wachter, die ctwa nicht wirklich rcine Mathematik getrieben hattcn. Die Bezugnahme auf die Unterrichtung der Wachtcr in der reinen Mathematik 2 2 , die Popper vornimtnt, fiihrt also in die Irre. DaB in der Idcalstadt eine ungeniigende Kcnntnis und Schulung der Wachter in der Dialektik crfolgt sei, ist vollig gegen den Zusammenhang. Vielmehr ist gemeint: Gerade die, welche ouipoi sind und diese Schulung crhalten haben, konnen immer noch Fehler machen. Hier muB ich eine klcinc Berichtigung an meiner eigenen Darstellung in >Plato und die Dichter; 2 3 vornehmcn: Die Fehler sind nicht Berechnungsfehler. Nicht, daB die Zahl zu schwieng ist, sondern die A n w e n d u n g der Zahl ist zu schwierig. Das ist cin platomsches U r t h e m a , das wir uberall sehen: Das Verfchlcn des rechten Augenblicks, des tempos, ist fiir uns durch keine Form von Rationalitat, auch nicht durch die rein mathematische, vcrmeidbar. Im >Phaidros< (272a) hebt Sokrates ebenfalls die Rolle des naipoc, des rechten Augenblicks, hervor, und der »Timaios< unterstrcicht die notwendige Unvollkonimenheit der menschlichen Wcscn in seiner mathematischen Kosmogonie auf uniibersehbarc Weise. Der Gedankc ist also der, daB eben trotz der perfekten Rationalitat sich immer, wenn m a n es mit der Wirklichkeit zu tun hat, cine unbeherrschbarc Seite zeigt, in der einem etwas entgehen kann. Das ist am Anfang bei der Einfiihrung der ganzen Argumentation gesagt, daB in diesem Bereich der erscheinenden Wirklichkeit andercs gilt als 22
"
Rep. VII, 523a-537d. Vgl. Bd. 5 derGes. Werke, S. 187-211.
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im Bcrcich der rationalen Ideen als solchen, w o ein APIDPIK TEXF.WC24 herrscht. Es ist also kein Zwcifcl. Was Plato hierzu verstehen gibt, sind die Grenzen mcnschlicher Planungsfahigkeit iiberhaupt. Ich erinnere daran, daB N i c o laus Cusanus cine ahnlichc Argumentation gebraucht, wenn er das menschliche Wissen ein immer nur ver gleichen des und niemals wirkliches Wissen nennt und ihm dahcr den Charakter der >coniectura< zuspricht. Das ist gute alte platonische Tradition. Z u r Stiitzung meiner Interpretation darf ich iiberdies daran crinnern, daB auch im >Timaios< und im > Philebos* die Problematik aller A n w e n d u n g von Rationalitat ein zcntralcs T h e m a ist. Dariiber habe ich in den Abhandlungen >Idec und Wirklichkeit in Platos >Timaios« 2S u n d >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles* 26 einiges gesagt. Ich fasse zusammen: Denken in Utopien, das ist die Perspektive, unter der ich die platonischcn Staatsschriften sehe und unter der m a n sic lesen muB. Ich will damit andeuten, daB es um Denken gcht u n d nicht u m den E n t w u r f einer Utopie allein. Es gcht darum, daB auch der Leser nicht, wie das im naiven Z u g a n g geschieht, gegeniiber den utopischen Inhalten dieser Schriften bloBe Z u s t i m m u n g oder A b w e h r registrieren u n d entwickeln darf, Es k o m m t vielmehr darauf an, in solchen Formen von Veraunftspielen denken zu lernen. Das schlicBt fiir den heutigen Leser ein, daB man auch das historische Kolorit kennt. Man muB die Begriffe dieses aus einer alteren Adelsgesellschaft umgeformten, auf halb agrarischen, halb kommcrziellen Grundlagcn beruhenden biirgerlichen Patriziats, das sich in einem bestandigen, fast burgerkriegsahnlichen K a m p f e mit den aufstrebenden mittleren Gesellschaftsschichten befindet, auch in Athen, in Denken umsctzcn lernen und auf diese Weise die eigcntlichcn gedanklichen Motive, die auf die gesamte abendlandische Geschichte eins chlieBl ich ihrer Kirch en geschichte Wirkung geiibt haben, in ihrer Intention und in ihrer bleibcnden Bedeutung erfasscn 27 . Das ist es, was jeder platonische Dialog verlangt, u n d so geht es uns auch bei den politischen Utopien, wie die >Politeia< eine ist. Auch die >Nomoi< sind schlicBlich cinc ungcheuerlichc Utopie, wenn m a n bedenkt, daB die Gesetze dort wesendich durch die E i n s t i m m u n g in die Proomien, die vorher zu singen sind, zur Wirksamkeit gelangen sollen. Darin liegt eine Einschrankung des Gesctzescharaktcrs, die auf die Integrierung in die Gesinnungseinheit des zu grundenden Staates zielt - im Grunde wie die >Pohteia<. Das hat Herter, wie ich glaube, rich tig gezeigt 2 8 . Auch die >Nomoi< sind ein 24 25 2
Rep. VIII, 546b + . Jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 242-270. Vgl. m diesem Band S. 191 ff. (zum .Philebos.), V g l , EDGAR SALIN, a . A . O .
Platons Staatsideal in zweierlei Gestalt. In: Der Mensch und die Kiinste (FS Heinrich Lutzeler). Dusseldorf 1962. 28
H A N S HERTKR,
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Staat der Erziehung. Ich schlieBc mit dem Hinweis: Philosophen kann man nur verstehen, wenn man nicht auf ihr Vokabular und nicht auf ihre Metaphorik als solche blickt, und vollends bei einem philosophischen Schriftstcller wie Plato, der die literarische Form der Mimesis gewahlt hat. Was hier vcrlangt wird, ist: Man muB sich auf das Denken einlassen.
10. Mathematik und Dialektik bei Plato (1982)
DaB Plato nut den immensen Fortschrittcn, die die griechischen mathematischen Wissenschaftcn in seiner Zeit erzielt hatten, in besonders intimcr Beziehung stand, ist bekannt und von vielen Forschern vielfach illustriert worden. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob man cincn EinfluB Platos auf die Mathematik annehmen soli, wie das vielfach geschehen ist, oder mit neueren Forschern einen solchen bezweitelt. Unbestrittcn ist, daB die Existcnz der mathematischen Wissenschaft fiir das platonische Denken cine besonderc Bedeutung hatte, die in seinem Dialogwerk i m m e r wieder hervortritt. Das ist oft genug untcrsucht worden, und man kann als gesichertes Resultat verbuchen, daB Plato nicht umsonst von Aristoteles den Pythagoreern zugeordnet wird. Wenn cs seme >Schule< ausgezeichnet haben soil, daB ji-qdr.ic, d)ru)jhpriw<: tiuhic an ihrer Eingangspfortc zu lesen war, so hat er damit nicht nur eine interne Fordcrung fiir seine >Schule< aufgestellt, sondern einen Grundsatz von blcibender Wahrheit formuhert, der inzwischen allem Erziehungswege zur wissenschaftlichen Bildung sclbstvcrstandlich g e w o r den ist. Mathematik ist cine reine Vernunftwissenschaft. Sie ist daher von aller Wirklichkeitserkenntms unterschieden, so wichtig auch ihre A n w e n dung auf die Erkenntnis des Wirklichcn sein mag. Das ist unser aller platonischcs Erbtcil, das sich ganz unabhangig von alien philosophischen Streitfragen, die sich daran schlieBen tnogen, bis ins Sprachliche hinein ausgepragt hat, wenn wir den >cntia rationis', den (mathematischen Gegenstandem, >ideales< oder >eidetisches< oder intelligibles Sein zusprechen. Man darf aber dariiber nicht vergessen, daB es eben erst die platonische Denkleistung war, der wir verdanken, daB w i r z u sagen versuchcn konnen, was Mathematik ist. U m Mathematiker zu sein, braucht man das nicht zu wissen - und u m das zu wissen, braucht m a n nicht Mathematiker zu sein. Eben das ist der Grund, waruni wir zwar aus den platonischen Dialogcn etwas iiber die griechische Mathematik erfahren, aber wir lesen sie gleichsam gegen den Strich, wenn wir sie so lesen. Bei aller Bedeutung, die der Ausarbeitung der euklidischen G e o m e t n e im Jahrhundert Platos z u k o m m t und die mit N a m e n wieTheodoros, Theaitctos, Eudoxos verkniipft ist, und
Mathematik und Dialektik bei Plato
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so sehr auch die (pythagorcische) Entdcckung des Irrationalen auf die geometrische Darstellung zahlentheoretiseher Verhaltnisse hinwirkte, so sehr auch Plato insbesondere durch die Entdcckung der mathematischen Korper faszinicrt war und ihr m seinem kosmologischen Mythos des >Timaios< cine bestimmende Rolle fiir die Element en theorie zuwies 1 - das eigentliche philosophischc Problem, das die Mathematik fiir Plato darstellte, liegt doch im Wesen der Zahl. An ihr ging ihm das Wesen des Allgemeinen auf und damit die Bedeutung des Logos fiir die Erkenntnis. Oder vielleicht sollte man sagen: An ihr trat ihm das unauflosliche Ratsel entgegen, das Allgemcines und Individuales meinander verstrickt: die Einheit des Vielen und die Vielheit des Einen. Wir haben dafur ein unwiderleghches Zeugnis im Dialog >Hippias Maior<, das keineswegs allein steht und deshalb von der Echthcitsfrage unbetroffen ist. Da bekennt Sokrates (Hipp. mai. 302 ff.), was ihn auf der Suche nach dem allem Einzelnen Gemeinsamen i m m e r verwirrc. Das Gcsuchtc ist in diesem Falle das Schone. M a n kann sich hier fragen, ob es etwas bedeutet, dafi diese Frage nach dem Gemeinsamen gerade beim ra.lor a u f k o m m t : 1st cs nicht (wie das dyaftov) auf eine bcsondcrc Weise >da<, so dafi das povotitisc, das im >Symposion; (211bi) dem Schonen zugesprocbeti wird, etwas Paradoxes hat? Was Sokrates i m m e r wieder vcrwirrt, ist, dafi es Gemeinsames gibt, das den es zusammensetzenden Einzelnen nicht z u k o m m t . So sei jedcr von uns zweien einer u n d nicht zwei - und nun wird deutlich: Das ist nicht etwas Exzeptionelles, sondern gilt fiir das ganze weite Reich der Zahlen und liifit sich nicht cinfach beiseite lassen, wie Hippias mochte (302b4). Ein sophistischer Scherz? Oder eine Hindeutung auf den Untcrschicd von Aufzahlung und Wesensangabe? Diesem Zweck dientjedentalls die Argumentation. Die zur Diskussion stehende Definition des >Schonen<, daB cs das fur das Auge u n d das O h r Angenehme sei, ist in dieser Weise fehlerhaft. Es ist Aufzahlen darin, und das hcifit: cin Verfehlen des Gemeinsamen, so daB man sich, wie Aristoteles zeigt, in Widerspruche verwickelt (Top. Z7, 146a2i ff.). Gleichwohl drangt sich hier ein Zusammenhang auf, der zwischen Idee u n d Zahl besteht, dafi sienamlicb beide >Einheit< von Vielem sind. Das fiihrt auf die Frage, in wclchem Sinne das >Wcsen< dem Einzelnen z u k o m m t . Wie sehr Plato selber die Problematik der Trennung der Ideen von den Erscheinungen und die >Tcilhabe< dcrsclbcn an dcr Idee bewufit war, lehrt die Einleitung zum Parmenides-Dialog. Dafi die >Zahl< nicht neben dem Gezahltcn cin Fiirsichscin hat und doch etwas anderes ist als das Beisammen ihrer Sumrnanden, bedeutet ebenso etwas fur das Verhaltnis dcr Idee zu dem, was an ihr >teilhat<: Die Zahl hat >ihre< Monaden, die nicht >Dinge< 1 Vgl. meine Studie -Idee und Wirklichkeit in Platos >Timaios« in Bd. 6 der Ges. Werlce^ S. 242-270.
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sind, sic sind selber >Eidos< - so wic das Genos >seine< Arten hat. N u n mag man die Spczifikation des >Genos< damit ungern parallelisieren, weil ja die Summanden der Anzahl keine spczifische Differenz besitzen. Indessen gibt cs auch andere A llg em cm beg rifle, die sich nicht nach Art und Gattung spezifizicren. Da ist z. B. das Verhaltnis von lamov und ddzupov zu dem, was an diesen >Eidc< tcilhat, und so auch >Sein< u n d >Einssein<, also alle >formalontologischcn* Begriffe (im Sinne Husserls). Sie sind nicht mivd im Siimc des >Genos<. An ihnen teilhabcn heiBt nicht, an etwas Bestimmtem teilhaben, sondern daB sie mit da sind. Wie jedes Seiende Eines ist (aber auch mit sich identisch und von allem anderen verschieden), so daB Einssein unmittelbar >da< ist (napovoio), so ist auch alles, was Zwci ist, unmittclbar >da<. Das ist genau das A r g u m e n t des >Phaidon< (101c). Da wird nach der Ursache alles Werdens und Vergehens gefragt, und Sokrates fiihrt, u m dem >Werden< der Zwei und den darin bcschlossenen Paradoxien zu entgehen, eine erstc 'Hypothesis des Eidos<, ein >ideales< Sein ein, und das gcschicht ausgerechnet an >der< Zwei. GewiB wird es am Ende fiir Plato Griinde geben, von den Zahlen keine Ideen anzunehmen, da sie ja alle nach einer Regel erzeugt werden 2 , und damit findet das Paradox des Hippias seine schlieBlichc Auflosung: eme Zahl ist nicht das Gemeinsame ihrer S u m m a n den. Aber das hindert nicht, daB im >Phaidon< an ihnen der Uberschritt iiber das dem Werden und Vergehen Unterliegende erstmals aufgewiesen wird. Die innere N a h e von Zahl und Idee wird damit mindestens anvisiert. Allerdings wird im >Phaidon< nur die >Trennung< der Idee von den >Erscheinungem, des Seins vom >Werden<, zum T h e m a gemacht und die >Teilhabe< des Einzeinen am Allgemeinen keiner grundsatzlichen Klarung entgegengefiihrt. Aber das ist bekanntlich auch in der >Politeia< nicht der Fall - und w o denn eigentlich? Im >Parmenides Jedenfalls stcllt das Sein der Zahl fiir die platonische Frage nach dem >Was<, auf die das Eidos die A n t w o r t ist, ein Muster dar, sofern es ein Verhaltnis von Vielheit der Monaden und Einheit der Anzahl implizicrt, das ganz und gar >mathcmatisch<, das heiBt >eidetisch< ist. Gerade der >Phaidon< illustriert diesen Punkt durch den Schcinwidcrspruch von Addition und Division auf paradoxe Weise. Das sind alles bekannte Dinge. Ebenso stehen selbstverstandlich der >Menon< und die zentralen Partien der >Politeia< i m m e r im Scheinwerferlicht, wenn es sich u m Plato und die Mathematik handelt. Die beriihmte U n t e r richtsstunde mit dem Sklaven des M e n o n verdeutlicht auf cine noch halb mythischc Weise, als Erinnerung aus einem Vorleben, den eigentiimlichcn Erkcnntnischarakter, der den mathematischen Wahrheitcn z u k o m m t . Es ist 2
Aristoteles spielt darauf mehrfach an: E N A 4, 1096a ls ; EE ^ 8, I218a 2 ; Met. li 3, 999a s .
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eine Art von Emsicht, die ein jeder selbst gewinnen muB und die m a n deswegen nicht als Lernen bczcichnen kann. In der >Politeia< bildct die Mathematik cine wichtige Zwischenstufe im Erzichungsprogramm des wahren Staatsmanns und >Philosophen* und fungiert als eine Vorstufc der Dialektik. Auch diese wenigen Seiten u n d ihre spater folgende Ausfuhrung sind Gcgcnstand cingehender gelehrter Intcrpretationen geworden. Dagegen hat fiir diese Frage einer der schwierigsten und tiefsinmgstcn Dialoge Platos, der >Theatet<, meist nur cine tcilhaftc Berucksichtigung gefunden. Da lag es gewiB nahc, daB die beiden Partner des Gesprachs, Thcodoros undTheatet, als die bedeutenden Figurcn in der Entwicklung der klassischen euklidischen Mathematik, die sie sind, wegen ihrer mathematischen Leistungcn mit Sokrates konfronucrt werden. Auch hat der Anfang des >Theatet< geradezu den Charaktcr einer Widmung, die dem Andenkcti des j u n g verstorbenen gemalen Mathematikcrs gilt. Auf die Leistung, die Theatet fiir die gricchische Mathematik erbracht hat, wird dabei angcspielt, und fiir die Geschichte der Mathematik ist das natiirlich ausgewertet w o r den. Gleichwohl meine ich, daB dieser Dialog bisher noch nicht in der rechtcn Weise in den Mittelpunkt des Themas >Plato und die Mathematik* geriickt worden ist. Z w a r hat man im iibrigen seine zentrale Bedeutung kemeswegs verkannt. Er wird mit Rccht als cine Einleitung in den >Sophistes< gelesen. Das ist durch die Einheit des Personenbestandes in den beiden Dialogen iiber alien Zweifcl gefestigt, Insofern ist dieser Dialog seit langem ein Lieblingsgegenstand fiir Philosophcn und Wisscnschaftshistoriker. Man liest ihn wie das Grundbuch der antiken Erkenntnistheorie. Tatsachhch ist die leitcnde Frage des sokratischen Gesprachs die nach dem Wesen der Erkenntnis. Es wird sich freilich zeigen, dafi der modcrnc Begriff der Erkenntnistheorie, der von dem Primat des BewuBtseins u n d SelbstbewuBtseins bestimmt ist, in ganz andere Richtung weist. N u n findet man im >Theatet< zunachst die Kritik an cincr kinctischen Theorie der Sinncserkenntnis, die anhand des relativistischen Satzes des Protagoras entwickelt wird, sodann cine ebenso umfassende wie glanzende Widcrlcgung der Definition des Wissens bzw. der Erkenntnis als w a h r e Ansicht*, und am SchluB folgt cin wiederum hochst eigenartiger dritterTcil, in dem die Zusatzbestimmung >wahre Ansicht ,mit Logos'*, das heiBt unit richtiger Erklarung*, cbenfalls zum Scheitern gebracht wird. Der Dialog ist auBcrst kunstvoll gebaut u n d durch seine Exkursc, Gleichnisse, Anspielungen usw. mit Recht beriihmt. M a n kann nicht zweifeln, daB er wie eine Art Negativ zu der positivcn dialcktischen Entwicklung der beiden folgenden Dialoge, des >Sophistes< u n d des >Politikos<, gelesen werden soil. DaB das Verstandnis von Wissen, das hier diskutiert wird, noch 1111 Vorhof der platonischen Dialektik bleibt, ist dabei offenkundig.
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T r o t z d c m zweifclt heute niemand m e h r , daB dieser Dialog kein negativ verlaufender Definitionsdialog im bekannten Stile der f r u h e n platonischen Dialoge ist, sondern in der M i t t e des platonischen Werkes und a m Eintritt in die esoterische Dialektik der Spat dialoge steht. Das laBt sich auch m o r p h o l o g i s c h u n d motivgeschichtlich begriinden. M a n sollte sich deshalb auch nicht fragen, w a r u m hier v o n der Ideenlehre nichts v o r k o m m t . Das Gesprach macht i m N e g a t i v deutlich, was Aoyoc und was lidoc; ist. M a n w u n d e r t sich heute, daB ein Forschcr v o m R a n g e Paul N a t o r p s seinerzeit den Oberflachcnahnlichkeitcn m i t den Jugenddialogen erlegen ist und an einer Friihdatierung des >Theatet< (wenigstens in einer Erstfassung) hartnackig festhielt. Diese Ahnlichkeit tauscht. Da ist zunachst klar, daB die elenktische Ncgativitat der sokratischen Dialektik hier zu einer neuen BcwuBtheit - und zum BewuBtsein ihrer positiven Effizienz - e r h o ben wird. Das leistet die geistreiche Einfiihrung der M e t a p h e r von der Maieutik, der dem Sokrates von seiner M u t t e r crcrbten H e b a m m e n k u n s t . D e m entspricht, daB der Gesprachspartner, der j u n g e T h e a t e t , in der Gloric seines Schlachtentodes beschworen wird - und m a n b e m e r k t , wie der genialc K n a b e auch jetzt, w o er vor der sokratischen Rechenschaftsforderung versagt. eine hochst riihmliche Rolle spick. Selbst das bekanntc M o t i v sokratischer Gesprache, daB die F o r d e r u n g der Definition von seinen Partnern zunachst im Sinne der A u f z a h l u n g des B e g r i f f s u m f a n g s miB verstanden w i r d , findet hier cine deutliche A b w a n d l u n g . N i c h t aus der Gedankenlosigkeit bloBer A u f z a h l u n g , sondern aus hochst personlicher M o t i v a t i o n u n t e r schcidct Theiitet die thcoretische und die praktisch-tcchnische F o r m des Wissens. Er gibt damit von sich selbst Rechenschaft u n d b e k c n n t sich als Schiilcr des M a t h e m a t i k c r s T h e o d o r o s . Wenn ihm auch nicht gelingt, das, was Wissen ist, als solches in den Begriff zu heben - wie schncll er die F o r d e r u n g versteht und an eigenen mathematischen Einsichten illustriert! Auch, daB Sokrates den bescheidencn J u n g e n zu seinem >Wissen< eigens e r m u t i g e n muB, ist ganz anders als sonst bei den selbstbewuBtcn P a r t n e m des Sokrates. Thcatct ist sich seines U n g e n u g e n s v o r der A u f g a b e voll bewuBt u n d muB nicht erst zu d e m Eingestandnis seiner U n w i s s e n h e i t genotigt werden. DaB es M a t h e m a t i k e r sind, die von Sokrates nach dem Wesen des Wissens u n d der Erkenntnis befragt und ins Verhor g e n o m m c n w e r d e n , ist an sich nicht im gcringsten verwunderlich. M a t h e m a t i k ist fiir die Griechen das selbstverstandliche Vorbild u n d der Inbegriff aller Wissenschaft. Aber m e r k w i i r d i g e r w e i s e hat m a n sich noch nie so recht gefragt, w a r u m den M a t h e m a t i k e r n , m i t denen Sokrates hier redet, gerade diese Dcfinitionsvcrsuche des > Wissens* von Plato in den M u n d gelegt w e r d e n . Ist es nicht seltsam, daB ausgerechnet e i n j u n g e r M a t h e m a t i k e r Erkenntnis als sinnliche W a h r n e h m u n g definiert haben soil u n d daB die M a t h e m a t i k e r dieses D i a -
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logs mit dem Sophisten Protagoras befreundct sind und sich mit seinen Lehren wohlvcrtraut zeigen? Das klingt doch so, als o b sie selber eine sensualistische und relativistische Position vertretcn. Kann man verstehen, wic das mit Mathematik vereinbar sein soli? U n d nicht genug damit. O b e n drein weiB man, daB Protagoras nach gut verburgter Oberlieferung polemische Schriften gegen die Mathematiker gcschricben hat. Wic gcht das zusammen? Das sind Fragen, die uns heute aufierordentlich dringend scheincn. Wir haben gelemt, daB die platonischen Dialoge bislang viel zu sehr wie Lchrschriftcn gelesen worden sind und daB m a n ihren mimetischen und dramatischen Charakter fiir eine bloBe dekorative Zutat ansah. Wir haben inzwischen statt dessen begonnen, die dorische Harmonie von Aoyoc und 'spyov im platonischen Dialogwerk als einen wcscntlichcn Schliissel fiir das Verstandnis des Dialoggeschehens zu gebrauchen und damit auch den Problemgehalt des platonischen Denkens in neuem Lichtc zu sehen 3 . Sokratische Dialektik ist Kunst der Dialogfiihrung und ist sehr viel mehr ein wirkhcher Dialog, als cs auf den ersten Blick den Anschein hat. GewiB ordnen sich die Dialogpartner eines Sokrates seiner Fiihrung im allgemeinen ganz und gar unter und beschrankcn sich auf Z u s t i m m u n g oder Zweifel. Aber ganz so beliebig, wie es zunachst aussieht, ist schon die Wahl der Gesprachspartner des Sokrates nic, und was auf dem Wege der Argumentation verhandelt wird, wie das geschieht, was darin stimmig und was unstimmig ist, all das ist in ein Geschehen eingefiigt, an dem der Partner ebenso beteiligt ist wie der leitcndc Sprcchcr — und wie der Leser. So haben wir alle Ursache, uns zu fragen, was es bedeutet, daB hier cin junger Mathematiker, dessen Genie vorher ausdriicklich geruhmt worden ist, Wissen als sirmliche Wahrnehmung dcfinicrt. Ist cs wirklich denkbar, daB er sich ausgerechnet die relativistische Lehre des Sensualismus zu eigcn macht, wenn cr doch Mathematiker ist? N u n haben neuere Untersuchungen, die zuerst von H e r m a n n Langerbcck 4 angcstellt worden sind, Zweifel gcweckt, ob es auch nur fur Protagoras feststeht, daB er wirklich eine sensualistische Erkenntnislehrc vertreten hat. Das Bild, das der Dialog >Protagoras< von ihm zeichnet, deutet in cinc ganz andere Richtung. Dort erschcint er als cin Lehrer der politischen Beredsamkeit, der in den Augen der attischen Jugend cin wahrer W u n d e r m a n n war, von dessen Lehre und Erzichung man sich das beste fiir die cigcnc politische Z u k u n f t crhoffte.
' Paul Friedlander, Kurt Hildebrandt, L. Strauss, J. Klein, meine eigenen Arbeiten sind hier zu nennen. 4 H E R M A N N L A N C E R B E C K , AOEIZ EiUPYlMlH. Berlin 1935 (Neue Philol. Untersuchungen H . 10). Neuerdings auch die Heidelberger Diss, von K A K L - M A R T I N D I E T Z (1976), die sich auf meine eigenen Arbeiten und die ungedruckte Dissertation von ftuI'HECHT PH.ACMER (1956) sriitzc. D o r t ausfuhrliche Nachweise.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
Enzyklopadische Tendenzcn, wic sie manchcni anderen Sophisten nach gesagt wurden, finden nur seinen Spott. So ist es zweifelhaft geworden, ob er uberhaupt in die Reihe derer gcliort, die philosophische Theorien aufgestellt haben. Verfolgt m a n n u n das Protagoras-Bild, das im >Theatet< gezeichnet wird, so sieht es zunachst gar nicht so aus, dafi die sensualistische These uberhaupt etwas mit dem beruhmten Satz des Protagoras zu tun hat. An dessen Authentizitat ist gewiB kein Zweifel. »Der Mensch ist das MaB aller Dinge, der seienden, daB sie sind, der nichtseienden, daB sie nicht sind.« Aber dieser Satz wird erst in dcr sokratischen Bchandlung, die ihm zuteil wird, in Konsequenzen hinein entwickelt, die auch von Sokrates offenkundig gar nicht als protagoreisch angesehen werden. Es laBt sich zwar - wic Sokrates tut - eine sehr schone und tiefsinnige universale Bewegungstheorie entwikkeln, derzufolge alles, was wir Erkennen nennen, eine bloBe Rcaktion im Spielc der Bewegungen und Begcgnungcn ist. Sokrates stellt diese mit groBem Raffinement ausgestattcte Lehre unter das Namensschild des Heraklit und faBt als Herakhtccr die ganze griechischeTradition alterer Dichtung und Philosophie von H o m e r bis Protagoras zusammen. Das ist eine so offenkundige Konstruktion, daB man nicht dariibcr verwundert ist, wenn Protagoras selbst im weiteren Verlauf des Gesprachs gegen alle Einwande, die gegen die so konstruierte >Lchre< crhoben werden, von Sokrates in Schutz g e n o m m e n wird. Die hier entwickclte universale Physik und E r kcnntnislehre, die atomistische Vorstellungsweisen mitverarbeitet, scheint nur an einem einzigen dunnen Fadcn mit der wirklichen Haltung und mit dem wirklichen Interesse des Protagoras zusammenzuhangen. Er zeigt sich namlich im Fortgang des /Theatet f als das E x t r e m eines A m i dogmatikers, dessen politische Theorie, sofern m a n das uberhaupt so nennen will, die eines radikalen Rcchtspositivismus ist; Recht ist, was durch BeschluB zum Gesetz erhoben ist. Seinen eigenen Beruf als Redner und Lehrer der Redekunst sieht er entsprechend darin, die Beschluflfassung des Gerichts oder der Volksvcrsammlung durch Reden zu bccinflusscn. Es ist natiirlich moglich, eine solche Position, die alles Naturrecht ablchnt und sich auf die H a n d h a b u n g des geltenden Rechts beschrankt, zu einer universalen philosophischen Theorie auszubauen. Eine solche m a g dann die rcchtlichpolitiscben Dinge als den Sonderfall eines allgcmeincn Konventionahsmus und Relativismus erscheinen lassen. Aber es war sicherhch nicht die Sachc des Protagoras, wie er im > Theatet* gcschildcrt wird, cine solchc Theorie zu entwickeln. Es ist mindestens zweifelhaft, ob auch n u r der platonische Sokrates mit einer solchen Lehre iiberhaupt j e konfrontiert war. Es konnte doch so sein, und ich meine, wir haben Ursache, es anzunehmcn, daB es Plato gewesen ist, der als erster die rclativistisehen Implikationen des technischen und politischen Pragmatismus deraltcren Sophist en generation aufge-
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deckt hat. DaB die spatere D o x o g r a p h i e ganz i m Stile des Aristoteles ihre eigenen nach platonischen Kategorien z u g r u n d e legt, ist ohnehin selbstverstandlich. Aber selbst wenn wir diese Frage ganz auf sich beruhen lassen, bleibt unsere Ausgangsfrage bestchen: Was soil es hciBen, daB cin Mathetnatiker Wissen als sinnhche W a h r n e h m u n g dcfiniert? Hier gibt cs eine cinfache, aber n o c h nie recht ernstgenotmnene A n t w o r t . Das griechischc Wort aialhjOK hat gar nicht die spczifische B e d e u t u n g von tsinnliche W a h r n e h m u n g ' . D e r Gegensatz von sinnlich und geistig, sensibel und intclligibel, ist erst ein Rcsultat der platonischen Philosophic. Das griechische Aquivalcnt fur >Geist< und >Intellekt<, das Wort vm\, mcint nichts als die Unmittclbarkeit der scharfsten W a h r n e h m u n g , meint also uninittelbarcs Innewerden von etwas. Das hat Kurt von Fritz in einer schonen Arbeit gezeigt 5 . Ebenso meint >Aisthcsis< die Unmittelbarkeit des Gewahrens oder, wic wir sagen wiirden, >schlichte Evidcnz<. Das laBt sich bis in den Sprachgebrauch des Aristoteles hincin venfizieren 6 . D a m i t b e k o m m t die A n t w o r t des Mathematikers plotzhch Sinn. Weuti man schon seine V e r w u n d c r u n g nicht los wird, daB diese beriihinten M a theniatiker mit einem sophistischen Redner wie Protagoras vertraut und befrcundet waren, so versteht m a n u m g e k e h r t sehr wohl, daB sie sich am E n d e v o n dessen Metier der bloBen Rcden abgewandt und einer so soliden Sache wic der M a t h e m a t i k zugewandt haben. D o r t gibt es wirklich >Erkenntnist. Angesichts des vcrwirrenden Argumentationsgebrauchs, den die neumodischen Lehrer der R e d c k u n s t u n d der Diskussionstechnik verbreitct hattcn, m o c h t e es recht w o h l motiviert sein zu sagen, Wissen sei etwas andercs, namlich >schlichte Evidenz*. Es ist die wohlbekannte Manier des Sokrates, wie er das Unzureichende dieser A n t w o r t durch bedenkliche A r g u m e n t a t i o n e n bloBstellt. E r i s t es erst, der einen e x t r c m e n Scnsualisinus damit vcrkoppclt. Das gehtirt in seine oft >sophistisch< a n m u t e n d e Elenktik, die sich auf d e m Grundsatz aufbaut: Wcr nicht imstande ist, unverwirrt an d e m , was er zu wissen meint, festzuhalten, der weiB nicht. In Wahrheit handelt cs sich also in dem folgendcn Gesprach u m zwei Thesen, die iibrigens in der Tat unabhangig voneinandcr und nacheinander zur Diskussion gcstellt w e r d e n : Die Definition des Wissens als uhidrpnc wird ausdriicklich als die These des Theatet bezeichnet (lWJei. 179c), die These 5
>Die Rolle des vw£c<, jetzt in: U m die Begriffswelt der Vorsokratiker. Darmstadt 1968. W. JAEGER, Paideia II, S. 29 sieht in aiobtjOK einen medizin is then Ausdruck fur jDiagnosei (= >sicherer Takti). Auch das paftt zu dem >weitem Sinn von Aisthesis, der bis Aristoteles nachklingt, etwa in Phys. A i (id yap oXovxaja TJ(V awdrfoiv yv&y>ip$>zefxiv) und vor allem in A n w e n d u n g auf Mathematik: E N Z9, 1142a^7 madtiatc... oia aiodart'tpeda ou roiv 6
loit; jindiipoimjic ea^dun rpiyvmrs' otrjoerai yap tcmci. Vgl. auch die oben zitierte Dissertation von K. M .
DIETZ,
insbesondere S. 86-92.
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des Homo-mensura-Satzes als die These des Protagoras. Wir brauchen also die Vcrtreter der mathematischen Wissenschaftcn hier nicht geradezu als Anhanger der These des Protagoras anzusehen, der, wie erwahnt, gegen die Mathematiker ausdriicklich zu Feldc gezogen ist. Auch das Protagoras-Bild des gleichnamigen platonischen Dialogs entspricht dem. Protagoras vcrschmaht dort mit ubcrlegcncm Selbstgefuhl alle diese mathematischen Wissenschaften und riihmt sich, nichts anderes zu tun, als die politischc Erziehung seiner Schiiler zur a p m j zu fordern, die mit dem zeitgenossischcn M o d e w o r t evflov.Ua genannt wurde 7 . So bleibt es eine wirkliche Frage, auf die man eine A n t w o r t finden muB, wieso Theodoros in unserem Dialog uberhaupt als cin alter Freund des Protagoras cingefiihrt wird und wieso er, so gut wie sein Schiiler Theatet, mit dem Buch des Protagoras, der 'AAjjdna, wohlvertraut ist (Thcat. 152a: er hat cs oft gclcscn!). Auch wenn das einfach geschichtliche Tatsachen sein sollten, die dem Plato-Leser wohl bekannt warcn, ja, gerade dann bleibt die Frage, die ich stelle, bestehen. Man fiagt sich, auf welchem Boden Mathematiker iiberhaupt mit dem Satz des Protagoras z u s a m m e n z u k o m m e n vermochten. Ich kann darauf nur eine Vermutung auBern: Konnte cs nicht fur die Mathematiker einen Sinn geben, daB (der Mcnsch< das MaB des Seienden ist, wenn man den Blick darauf richtet, daB die Zahlen und Figurcn der Mathematik nur durch unsere (Konstruktion* uberhaupt z u s t a n d e k o m m e n ? Fiir den mathematischen Fachmann hat es durchaus Sinn, zu sagen, daB >fiir ihn* die da in den Sand gemalten Dreiecke nicht das sind, was sie fiir den Laien sind. >Fiir ihn* sind sie Darstcllungcn wirklicher mathematischer Dreiecke usw. Bcvor Plato die ontologischen Implikationcn der mathematischen Wissenschaft, den >cidctischcn* Charakter ihrer Objekte, aufgedeckt hatte, mochte das Selbstverstandnis der mathematischen Praxis mit dem der rhetorischen Praxis, das Protagoras formuliert hatte, ein Stiick weit zusammengehen. Fiir den Mathematiker gilt etwas als ein Dreieck, weil er die in den Sand gczcichnete Figur so ansieht - ahnlich wie fiir den Politikcr etwas als Recht gilt, weil cs von der Polis so beschlossen ist. Andercrseits versteht man bestens, daB Theodoros sich schlieBIich von den >Reden* des Protagoras abwandte (vgl. T h t a t . 165a). Er - so gut wie Theatet - treiben wirklichc Mathematik. N u r , sie wissen eigentlich nicht zu sagen, was sie da tun. Das ist das Dialoggcschehen, das im i Theatet' vor sich geht. Diese Mathematiker sind sich nicht dariiber klar, was ihre Gegenstande eigentlich sind, die jedcnfalls nicht einfach die den Sinncn begegnenden Figuren oder M e n gen sein sollen. D e r j u n g c Mathematiker zeigt sich iti der Tat begrifflich recht hilflos. So wird ausdriicklich an dem Wiirfelbeispiel die Rclativitat der 7
Vgl. dazu jetzt DIE iz, a.a.O. S. 16f.
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Zahlen unter die Frage des >Mehr-Werdens* gestcllt, u n d T h e a t e t ist mit sich uneinig. Er sieht, da!' es da eigentlich kein > Mehr-Werden*, keine Vermehrung (Anwachsen) geben kann - und weifi doch, daB es solches iMehrWerden* gibt. Die Herausarbcitung des hierin liegenden Widerspruchs spielt auf die Erfahrung des Mathematikcrs mit solchen Relati vita ten ausdriicklich an (155b 6 ), und Sokrates riihmt den jungen Mann, daB ihm bei solchen Erfahrungen immer wieder nchtig schwindlig werde: Er wird wenigstens dessen inne, daB ihm der feste Anhalt fehlt (den erst die ddcalitat* der mathematischen Welt bietet). M a n beachte, wie kunstvoll der j u n g e Theatet in seine Aporie vcrstrickt wird. Er wird sozusagen in sorgfaltiger Veranstaltung lrrcgefiihrt, indem der Begriff des >Werdcns< logisch fixicrt wird (155a b), dessen U n a n w e n d barkeit auf die Relativitat von GroBen dem Theiitet dunkel bewuBt ist (154d), Das ist echtc Maieutik: die Unangemcssenheit der zur Vcrfiigung stehenden Begrifflichkeit - die hier im B e g r i f f d e s >Werdens< liegt - wird bewuBt gemacht und auf diese Weise ein bcsscres Selbstvcrstandnis des Mathematikers und seiner >eidetischen< Wissenschaft vorbereitet. Auch die raffinicrte ProzeBthcoric, die Sokrates einftihrt, dicnt am Ende dem gleichen Zweckc. Den primitiven Materialisten mag sich der Mathematiker iiberlegen fuhlen - wie Theatet etwas spater (Soph. 246b 4 ) zu verstehen gibt. Aber die subtile Theorie der Begegnung, die Sokrates hier entwickelt {fa ok Tfj npd(; aXXrfXa opikiq Theat. 157a2), hebt alien X6foe auf, und das muB das LInbehagen des Mathematikers steigern. Er fragt sich gcradezu, ob Sokrates das alles iiberhaupt ernst meint (157c 4 ), und Theodoras mahnt ungeduldig: »Aber u m Gottcs willen, sage nun, w a r u m es sich doch nicht so vcrhalt« (161a 6 ). Die platonische Wendung des Denkens, die >Flucht in die Logoi*., hat den rein moetischcn* Charakter der Mathematik erstmals geklart. Das wird an der Darstellung des (Phaidon* wic der >Politeia< recht anschaulich, und vollends ist es diese (noctische* Wendung, die ausdriicklich der Fortbildung der pythagoreischen Gegensatzlehre zu den >vicr Gattungen* zugrunde liegt, die wir im >Philebos* finden 8 . Erst von der platonischen >ontologischen* Unterscheidung des Noctischen v o m Aisthetischen aus wird es moglich, pscudomathematische Scheinbeweise von cchten mathematischen Beweisfiihrungen begrifflich zu unterschciden, etwa auch, wie Aristoteles, zwischcn pseudomathematischcn und falschcn mathematischen Beweisen, die immerhin die >Prinzipien* nicht antasten, klar zu unterscheiden. Das habe ich
s Dariiber habe ich in >Die Idee des Guten zwischen PI,Ho und Aristoteles* (jetzt in diesem Band, S 128-227) eimges iiber iPlatos dialektische Ethik' (in Bd. 5 der Ges. Werke. S. 3-163) Hinausfiihrende gesagt.
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in mcincm Aufsatz iiber den 7. Brief dargelegt 9 . Mcinc dort vorgetragene Uberlegung vermag zu erklarcn, wicso die > Wahrheit' des Protagoras uberhaupt, wenn auch nur m emer ganz vagen Weise, dem Selbst verstandnis des mathematischen Fachmanns entgegenzukommen vermochte. So hat C o r n ford 1 0 die bekannte Z u s t i m m u n g des Aristoteles zu der Geomcter-Kritik des Protagoras (Met. B 2, 997b^(t.) verstanden. Freilich ist es erst vom platonischen Fundament aus, daB Protagoras als Sensualist erscheint. Die zeitgenossischen Mathetnatiker waren nicht alle Pseudomathcmatiker, auch wenn sie sich iiber den ontologischen Charakter ihrer Gegenstande so wenig zu rechtfertigen wuBten wie hier dcr j u n g e Theatet. Es pa fit zu diesen Erwagungeri, daB tatsachlich nur der H o m o - m e n s u r a Satz selber und seine erste Erlauterung im Text dem Protagoras zugeschrieben werden, dcnn der Text fahrt fort: »Sagt er nicht ungefahr dies, daB, wie es mir jcwcils v o r k o m m t , so ist mir, u n d wiederum wic dir, so ist dir. Mensch aber sind du sowohl wie ich« (152a). Das >ungefahr< (m~k 152a6) ist wichtig: Das ist offenbar nicht mehr der Wortlaut des Protagoras, sondern cine Umschreibung - und vollends ist es dann cine Illustration, die Sokrates hinzufiigt, w e n n er das Beispiel des Windes gebraucht. Das Beispiel meint eindeutig: >Miristkalt, dir vielleicht nicht. Mir k o m m t es kalt vor, eincm anderen vielleicht nicht. < Sollen wir wirklich annchmcn, daB Protagoras seinen Satz so gemeint hat? Wohl konnte er gesagt haben: >Mensch bin ich so gut wic du.< Aber dieser Zusatz wiirde schwerlich die absurde Folgerung begriinden wollen: da wir beide Mcnschcn sind, sei jeder einzelne von uns das MaB aller Dinge. Hier soil vielmehr, meine ich, auf das, was alien Menschen gemeinsam ist, auf die Auszeichnung des Menschcn als Menschen angespielt sein. Plato bringt das in dem groBartigen PrometheusBild des Protagoras-Dialogs zu mythischer Darstellung: Der Mensch brauchte zum Oberleben politisches Konnen (nixlizw?) rip!rf), und er erhielt daher die Gabe von HiKy und aifiitx;, die >allcn< zugeteilt wrirde (Prot. 322b-d). Das schlicBt ein: Der Mensch ist fahig u n d bediirftig, Konvcntionen zu errichten und einzuhalten, ohne daB eine andere Geltungsgrundlage besteht, als daB sic eben beschlosscn sind und damit als Gesetz fiir alle gelten sollen. Auf diesen pragmatischen Relativismus grundet der Rhetor und Lehrer Protagoras seinen Beruf. Die partikularisiercndc Auffassung des H o m o mcnsura-Satzes, die einen extremen Sensualismus stiitzen konnte, laBt sich mit dem Selbstverstandnis des politischen Redners und Lehrers schwer vereinigen. Genaueres Hinschcn auf unsercn >Theatet<-Text fiihrt z u m gleich en Ergcbnis. 9 Vgt. >Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen liriefs Ges. Werke Bd. 6. S. 90-115. 10 F. M. C O R N P O R D , Principium Sapientiae. Cambridge 1952, S.48.
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Die Textstelle 154a bezeugt das Gesagte indirekt: Erst wird (dcine* Farbempfindung mit der des Hundes oder anderer Ticre verglichen - >deinc< meint also zunachst: die des Menschen - und dann wird die Relativitat schrittweisc partikularisiert: fur Dich und einen anderen Menschen und, am Ende, fiir Dich mit Dir selbst. DaB das eine sokratische Imputation ist, wird dadurchunterstrichcn, daB der Satz des Protagoras ausdriicklich wiederhoit und nun mit dem Zusatz Ejioi versehen wird (ltiOcy). Der Text ist an der Stelle 152b allerdings nicht eindeutig. 'Ena-KokovdijOKpf.v (>LaB uns folgen<) kann cin Zitat meinen oder seine Konsequenz. Es spncht aber einiges dagegen, daB Protagoras, der die Redekunst als seinen Beruf ansieht, dies Beispiel des Frierens fiir die Relativitat gcbraucht haben soli. Dabei hilft Uberredung doch recht wenig! O b er das Beispiel des Frierens beirn Winde als Analogic brauchcn konnte, etwa in dem Sinne: ich werde so reden, dafi cuch alien w a r m wird? Das ware doch allzu kiinstlich. Dagegen hat er sich als Redner mit dem Arzt verglichen. Der Arzt verandcrt durch Heilmittel (so daB dem Patienten am Ende der Wcin wieder schmeckt) und der >Sophist< durch Reden. Diese Analogic ist jedenfalls nur als Analogie gemeint. Er will nicht durch Reden einen Kranken heilen. Bei ihm geht cs u m die Rollc der Redekunst iv z?j nau'iriq (167a). Er ist nur in dem Sinne (Relativist*, daB er dogmatische Allgemeinheit meidet. Das trifft sein Verhalten auch sonst: Im (Protagoras* (351 d) bczeichnet er es als sicherer (fur sein ganzes Leben*, nicht zuzugeben, daB Angcnehmes als solchcs immer gut sei und Wehtuendes schlecht. Er will sich nicht fcstlegen - offenbar, weil er sich fiir seine Oberredungskunst von Fall zu Fall alles offen lassen will. Alle Dogmatik ist ihm deshalb vcrhaBt. Es pafit dazu, dafi auch im >Kratylos< (385f.) lediglich in solchem Sinne auf den Satz des Protagoras angespielt wird: Ersoll die Geltung der Konventionen und insbesondere die Obereinkunft, auf der Sprache bcruht, begriinden. In alien solchen A n w e n d u n g e n , auch in dem wohlbckanntcn Tnteressc des Protagoras an der opdorneta, geht es offenkundig u m die Konstitution von Konventionen u n d N o r m e n , auf deren Erfiillung es a n k o m m t , und es ist immer erst Sokrates, der durch seine Gesprachsfuhrung diesen stets kollektiv gemeinten >Relativismus< durch partikularisierende A n w e n d u n g ad absurdum fuhrt. Ich gestehc: das sind lediglich aus Plato gewonnene Ausblicke auf das, was der historische Protagoras vielleicht war. Z u m Gliick hangt der philosophische Z u g des Gedankcns im (Theatet* nicht da von ab. Wenn wir Plato vcrstehen wollen, brauchen wir nur das dort gezcichnetc Bild des groBcn Sophisten 2um Vollwert zu nehmcn, ebenjenen Standpunkt eines cntschlossenen Pragmatismus und Rechtspositivismus, auf den Sokrates die wahre Meinung des Protagoras am Ende ausdriicklich rcduziert. Die ontologischen Konsequenzen, die Sokrates aus dem Satz des Protagoras entwickclt,
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haben offenkundig nichts mit dem zu tun, was Protagoras eigentlich im Sinne hatte. Das macht Plato durch den Gesprachsverlauf indirckt klar, sofern Protagoras i m m e r wieder gegen unbillige U n t erst el lung en verteidigt werden muB. Wenn Protagoras ein reiner Pragmatiker der Redekunst war, dann vcrsteht man, wie sich schlieBlich die Widerlcgung der These des Protagoras ganz auf die Rcchtfertigung und Begriindung des wahren Fachmannes konzentriert. D a liegt die wahre Differcnz zwischen Protagoras u n d seinen >Freundcn<. M a g scin, daB gegeniiber einer Welt uneinsebbarer K o n ventionen der iiberzeugende Redner sich als der wahre und einzige Expcrtc fuhlen darf, sofern cr den AbschluB neuer Konventionen, eben durch neue BeschluBfassung, herbeizufiihren im Stande ist. Aber Wissen ist solches Konnen nicht. Die Wissenschaft der Mathematik dagegen beruht auf wirklicher Einsicht, die man in sich selber findet, wie eine versunkene Erinnerung, die >mir kommt*. Hier in der Mathematik ist es klar, daB cs sich dabei u m Einsicht handelt, d. h. daB diese >Erinnerung*, die >einem kommt*, alien genauso k o m m t . Wie aus einem Vorleben, das >die Seele* aller hatte. Gcnau das bringt der Anamnesis-Mythos des >Mcnon* zum Ausdruck. In der M a t h e matik ist der Experte ein wirklich Wissender und hebt sich gerade dadurch von dem Befangcnsein in der Wirklichkeitsorientierung des Alltagslebens und ihren darin herrschenden Konventionen ab. Das ist die wahre Basis fiir das Selbstverstandnis des Mathematikers. N u r zu gut kennt er den Widerstand der Laien gegen die Mathematik (vgl. 170e), aber er muB fur sich in Anspruch nehmen, daB er als Mathematiker das Wahre weiB und all die anderen im Irrtum sind. Die entscheidende Bedeutung des Streits um den wahren Fachmann bringt Plato durch seine szcnischc Dramaturgic cffcktvoll zum Ausdruck. Es ist bezeichnend, daB der alte Theodoros sich anfangs fur die sokratische Frage nach dem, was > Wissen* ist, nicht sehr interessiert zeigt und erst dann in die Diskussion eintritt, als der Satz des Protagoras das Recht des Fachmannes als des Wissenden in Frage stellt. So n i m m t er auch nur so lange teil, bis der Unterschied des Wissenden und des Laicn - gegen den Satz des Protagoras - gerechtfertigt und gesichert ist. Tatsachhch ist die Widerlegung der A n t w o r t des Theatet alsdann nicht mehr schwer, nachdem erst die Auszcichnung des Wissenden wiederhergestellt ist. Auch Theatet kann sich der Evidenz nicht entziehen, daB so etwas wie die Zahlen nicht durch einen spezifischen Sinn allcin erfaBt werden, wie etwa die Farben durch das Sehen oder die Tone durch das Horen 1 1 . Die Zahlen sind etwas Gemeinsames, das die Seele zwar mittels der Sinne, aber nicht mit Hilfe eines spezifischen Organs, sondern >rein fiir sich* erfaBt. So u
Hier hat aioih^ic, naairiich den engeren Sinn von >SinneswahrnehmLing<.
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heiBt es, und das gilt ausdriicklich fiir die Zahlen so gut wie fur das Sein und das Gute. - An dieser Stclle fallt auf, daB dies Zugestandnis, daB die Seele hier >rein fiir sich* tatig ist, allzu rasch k o m m t . Wenn dcr platonische Sokrates seinen Partner so lobt, wie das hier geschieht, muB m a n miBtrauisch werden. Hat dcr Partner wirklich verstanden, was das heiBt: >die Seele rein ftir sich So daB das nicht einfach wic ein sechster Sinn erscheint, dem allerdings Denken {n>>.Uopirptk 186d3) und Berechnen (avaXoyi&odai 186a 1 (>) z u k o m m t , mit deren Hilfe er der >Seele* Wissen vcrschafft. Abcr Wissen und Erkenntnis ware dann immcr noch ein schlichtes Haben des Wahren. Wissen blicbe unmittelbare >Ansicht< des Wahren, wahre Ansicht, so daB das wahre Sein, das gewuBt wird, fur die > Seele* so )da< ware, wie die Farben oder die Tone fiir die Sinne da sind. Die Widerlegung der These des Theatet, Wissen sei aiolhjOK, ist damit vollendet. Abcr der primitive Evidenzbegriff, der Theatet leitet, ist noch nicht iiberwunden und wird nun zu der These, Wissen sei iwahre Ansicht*, uniformuliert. D a m i t wird diese neue Definition des Wissens zum Thcma. Es bedarf fiir unseren Zweck zum Gliick nicht einer minutiosen Priifung dcr Diskussion iiber die neue Defmition, daB Wissen wahre Ansicht 1st12. DaB da etwas nicht stimmt, wird am Problem des Irrtums offenbar: Was 1st dann da? Was ist eine falsche Ansicht, die doch eine Ansicht ist? Eine Verwechslung? Zwischen dem, was m a n >da< vor sich sieht und dcin, was man im Gedachtnis hat? Also falschc Zusammcnfiiguug? Irrtum ware also eine Art Verwechslung? N u n m a g man sich allcnfalls den Irrtum als Vcrwechslung von etwas Gesehcncm mit dem eigentlich Gemeinten crklaren. Aber wie ist es beim Sich-Verrechncn? Da miiBte die Verwechslung zwischen Gemeinten allein stattfinden. Wesscn ist man da ansichtig? Einer falschen Taubc im Taubenschlagc dcr Wahrhciten, einer Taube des Falschen? Es miiBte ein gemeintes Nichtgemeintes geben - und tatsachlich n i m m t Theatet seine Zuflucht zu so etwas, wenn er I99e 2 avEmcnrijwavvri vorschlagt - ein wundervollcr Witz Platos, der das Problem klarmacht. DaB Wissen nicht im Greifen des Richtigen bestcht, vielmehr im Unterscheiden des Richtigen vorn Falschen - daB cs also Xoyoc, ist - soil dem Leser dammern. Es wird erst dem Leser des >Sophistes< in seinen Konsequenzen voll bewuBt werden. Theatet wird indessen fortfahren, das Falsche wic etwas Seiendes einfach fernhalten zu wollen, d. h. er denkt Wissen weiterhin als wahre Ansicht, als Ansicht seiner >Wahrheitcn<. — So versucht er in seiner neuen Verlegenheit, die Vermischung mit dem 12 Die Fragestellung dieser Studie iiber iMathematik und Dialektik* klammert damit ein zentrales Stuck des >Theatet< aus. Die jetzt als Band 34 der Gesamtausgabe zugangliche HEIDEGGER-Vorlesung, die dieses Stuck ititerpretiert, war mir bei Abfassung tneines Beitrags (von 1982) noch nicht zuganglich.
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Falschen dadurch auszuschalten, dafi er >Logos< im Sinne von >zusatzliche Erklarung, Nachrechnung, Nachpriifung, nachtraghchc Markierung< zu seinem Defimtionsversuch hinzufiigt. Aber ist Ariyoc etwas Zusatzlichcs? So beginnt der dritte und letzte Teil des Dialogs mit der Priifung des Satzes, Erkenntnis sei richtig erklarte Ansicht, »wahre Ansicht mit Logos«. Es ist wieder eine ratselhaftc Sache von faszinierendem Intcresse. Wir stellen den vielbehandelten Abschnitt jedoch wieder nur unter die Frage, w a r u m es gerade ein Mathematiker ist, der sich vagc wic an einen Traum an die Theorie crinnert, die Sokrates nun vortragt. Schon die Einfiihrung ist seltsam. Es klingt fast unvermittclt, dafi Thcatct, im Anschlufi an die Zuriickwcisung der Identitat von tibta, wie sie das Gerichtsurteil spricht, mit muTFrjjir}, sich vage dessen crinnert, das cr vergessen habe, namlich daB jemand >mit Xoyov hinzugesetzt habe u n d dafi eine wahre Ansicht ohne Xoyoc (aXoyov) kein Wissen sei (201c-d). - Wohl aber gebe cs solchcs, was keinen Xoyoc;haben konne und nicht gewuBt sei, auch wenn m a n eine wahre Ansicht davon hege (wic z. B. beim IndizienprozcB vor Gcricht). Seltsani ist cs in der Tat, dafi d e m T h e a t e t erst jetzt die Lehre einfallt, dafi Wissen wahre Ansicht mit Logos sci. Als ob nicht sein Tun als Mathematiker ganz im Suchcn und Finden von Beweisen bestand! Aber der Ton liegt offenbar auf dem zweiten Teil seiner >Erinnerung<: dafi cs Dinge gebe, die man nicht wissen konne oder nicht wisse. Was OVK INT<M)T(T shai heifit, ist nicht ganz klar. Es mufi wohl nicht mncrkennbar iibcrhaupt< meinen, und vielleicht soil nicht ausgeschlossen sein, etwas als aXoyov und meniozrjiov zu bezeichnen, solange es noch keinen Xoyoc; davon gibt 1 1 . Sokrates zeichnct den ersten Teil der Lehre mit ironischem Beifall aus (202d). Das selbstverstandlich Einleuchtende daran hat offenbar etwas Liicherlichcs angcsichts der Problematik, die von alters her viele weise Manner vergeblich aufzulosen versucht haben. Die Ironic ist hier dcutlich: Thcatct soil das gefunden haben, heute! Da kann etwas nicht stimmen. Sokrates expliziert die LnTheatcts These unerkannt bleibcndc Schwierigkcit zunachst nicht, aber wir werden sehen, w o r m die Schwierigkeit liegt. Was heifit Xoyoi;? Der zweitc Teil der Lehre setzt offenbar ein bestimmtes Verstandnis von Xoyoc; voraus, das insbesondere im Wort riAoyov stcckt. Die Widerlegung dieses zweiten Teilcs der Lehre leitet denn auch die indirekte Aufdeckung dessen ein, worin das Verstandnis von Afiywc vcrsagt. 13
Sehr zweifelhaft ist mir auch, ob da wirklich (in dieser vagen Erinnerung!) mit oi'Tvm Koi 6vofitt(zn> der Ausdruck £ntmt[ui als ein neues Wort gctneint ist. Dafi ovoftaitiv hier im Zusammenhang mit Logos ("ra1 ion Xiiyoc.) auftritt. macht es unglaubhaft, es nur funktional zu verstehen und auf das Wort enwrr/rti zu beziehen. Vom Inhaltlichen her mochte man eher verm uteri, dafi es sich u m ein Glossem handelt, das das blofie Zeigen durch M'juWi' - und das blofie Nennen - durch 6vo}iafc\ - als das aArjfavnr beschreibt (vgl.
ovtijttHeo&at fiovov 202bo).
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Man muB sich nun fragen, was den jungen Mathematiker Theatet an dieser i h m undeutlich crinncrlichcn K u n d e anziehen kann. DaB sie ihm wic ein Traum vorschwebt - wie Sokrates es ausdruckt - muB ein positives M o m e n t enthalten. Das darf man angesichts des sonstigen Gebrauchs der Metapher des Traurns bei Plato vermuten (ebenso bei der religiosen Schatzung desTraums im griechischen Leben). Traum heiBt etwas, was Suggestivitat besitzt, auch wenn cs sich nicht ohne weiteres mit den gefestigten Erfahrungen dcsTages verbinden laBt. Was zieht den j u n g e n Theatet hier so traumhaft an? Sollte cs nicht die indirekte Bcstatigung scin, die die von Sokrates vorgctragcne Theorie fiir seine eigene Abneigung gegen die bloBcn Rcden bedeutet? Seiner ersten Antwort, Erkenntnis sei aiodijUK. wiirde damit ein gewisses Rccht zuriickgegeben. Fur den Mathematiker gibt es oft Einsichten, die er noch nicht bcwciscn kann. Wie die Elcmcntc sind sie so lange aXoya (202b&). Das wiirde einschlieBen, daB nur in der Verbindung mit der Unmittelbarkeit des aXrffkmtv Wissen moglich sei - und nicht in leerer Argumentations tech nik. Es ware einlcuchtend, daB nicht Ao|<x allein, sondern nur d.\-rjf^<; So^a pf.nr Xoyov Wissen sei. Aber cs wiirde auch verstandlich, daB Aoyoc fur Theatet sekundar ist. Das erste ist fiir den Mathematiker die Intuition - das Suchcn des Beweises (und gar das Nach-Rechnen) k o m m t nur hinzu. So weit laBt sich die Einfiihrung des dritten Vcrsuchs durch den Mathematiker plausibel machcn. DaB solches Verstandnis von > Wissenschaft* auch fiir den Mathematiker unzureicheiid ist, liegt freilich auf der Hand. Gerade Theatet h a t t c j a iiber das Meisterstiick berichtet, das cr mit der Theorie der quadratischen und oblongcn Zahlen vollbracht hatte. Da hat der \<>yac, die definitionsartige > Z u s a m m e n fas sung* der im cinzclnen von Theodoros bchandelten Zahlen, eine echte mathematische Erkenntnis crbracht. Der Logos ist also durchaus nichts Sckundarcs, sondern ist das Wissen selbst - wie Aristoteles sagen w i i r d e - d a s , was Ka&oXov gilt. U n d in der Tat wird das zum Thema des folgenden Gcsprachs: Was ist das xadoXov in scinem Verhaltnis zum oXov, was ist das fiir ein >Ganzes* oder >Alles<, das fur das Ganze gilt und das wir >allgcmcin< nennen u n d das wir auch fiir alles giiltig u n d als Wissen auszeichnen? Eins steht fest: daB die hier von Sokrates aus angeblicher Erinncrung vorgetragene Theorie und seine Kritik dcrsclbcn auf einen falschen Begriff von Logos zielen - und eben damit den nchtigen vorbcreiten, den der >Sophistcs< entfalten wird. Die Pointc der Theorie ist, daB die Elementc eines Komplexes als solche uncrklarlich (hXoya) seien und nur cinfach festgestellt und nur benannt werden konnen. Dagegen sei fiir einen Komplex eine Erklarung (.UJyvjt) moglich, also etwa f u r die Silbc durch Angabe ihrer Buchstaben, aber nicht fiir die einzelnen Buchstaben. So sei allein die Silbe wiBbar, d. h. erklarbar.
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Es k o m m t nicht darauf an, durch historische Qucllenanalyse diese T h e o rie zu identifizieren. M a n hat an Antisthenes gedacht, der frcilich die M o g lichkeit der Definition u b e r h a u p t geleugnet hat. Das antisthenische Stichw o r t , das w i r aus Aristoteles kennen, otKeioc Aoyoc begegnet z w a r im Text (202a7) als eine unerfiillbarc F o r d e r u n g , aber der Z u s a m m e n h a n g ist nicht der von einem Sokratiker erwartete. Das soil j a n u r fiir die letzten Bestandteile und nicht generell gelten 1 4 . Manchcs klingt eher nach dem groBen U n b e k a n n t e n , d. h. n a c h D e m o k r i t , w e n n e s ausdriicklich heiBt: »die ersten Bestandteile, aus denen w i r u n d alle anderen D i n g e bestehcn« (201e2). Diese Wendung, die an die >heraklitischei Aisthesis-Theorie v o n 156cff. erinnert und cbcnfalls das Wort ddpowpa v e r w e n d c t (Thcat, 157by), w i r d hier freilich sogleich auf eine dialektische E b e n e bezogen, in der es u m ovopaia u n d \6yo<; geht. U n d da scheint Antisthenes naher! Wic i m m e r bei Plato ist eine solclic T h e o r i e m e h r oder weniger sein eigenes K o n s t r u k t , das er sich zu Profilierungszwecken errichtet, aber gewiB aus Bausteinen, nach deren H e r k u n f t m a n fragen kann 1 5 . Die P r u f u n g der neuen Definition ist jedenfalls v o n vornherein mit dem Begriff des o t o t j r w r im allgemeinen Sinne des Bcstandteils vcrkniipft, der wie der Buchstabe (Element*, letztes Unteilbares ist. So beginnt die D i s k u s sion mit der E n t f a l t u n g der Dialektik, die 111 Tcilung steckt, d e m Verhaltnis von Ganzem und Teil. Die Analyse f u h r t zu dem Ergebnis, daB beides so sehr z u s a m m e n g e h o r t , daB m a n nicht das Eine oder das WiBbare v o n dem anderen, dem Teil oder den Teilen, als dem aXoyov unterscheidcn diirfe 1 6 . Darin spicgclt sich, wie m i r scheint, der Schritt iiber die eleatische Einhcitsthese hinaus, der von Z e n o n her zur platonischen Dialektik f u h r t . Die von Aristoteles (Phys. A 2, 185b,, ff.) berichtete A p o r i e ist dafiir cin greifbares Zcugnis. D o r t wird offenbar ein besonderes P r o b l e m darin gesehen, daB selbst Teile, die nicht aweyfi sind, also nicht >organisch< das Ganze mit ausmachen wie die Glieder {jif-p'i re xai p/Xij Phileb. 14e), und die in gewisscm Sinne ounpi /u sind, wie etwa die Ziegelstcine, aus denen das H a u s besteht, einerseits mit d e m Ganzen doch >cins< sind - oder, w e n n sie wirklich n u r Bestandteile sind, d o c h als Ganzcs, als alle z u s a m m e n miteinander eins
1,1 Vgl. K U H T V O N F R I T Z , Zur antisdienisehen Erkenntnistheorie und Logik. In. D E R S . , Schriften zur griechischen Logik, Bd. I. Stuttgart 1978, S. 126ff. 15 Die sorgfal tigen beg riffs ges chicht lichen Studien, die W I L H E L M S C H W A BE (Arch. f. Begriffsgesch. Suppl. Bd. 3, 1980) vorgelegt hat, scheinen mir plausibcl. I r g c n d j e m a n d wie Antisthenes muB die beiden Motive zusammengebracht haben und hat den o/ai\rio\Begriff in der G r a m m i d k auf die Elementen-Theorie atomistischer Pragung bezogen. Jedenfalls ist klar, daB Sokrates im > Theatet' zu semen Widerlegungszwecken auf den ursprunglichen, grammadschen Wortsinn von oroi\: iov zuriicklenkt. 16 Die Dialektik von Ganzem und Teil spielt bei Plato offers eine wichtige Rolle: Parm. 144e, 157c; Soph. 244d;Polit. 262a, 265a; Phileb. 12e, 14e.
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sind. M a n sieht, wic sehr der eleatischc Einheitsbegriff als Homogenitat die ihm einwohnende Dialektik offenbart. Was heiBt aoiaipeiov: dipr/iov ddoq oder diojiov17? Das gleiche Problem beherrscht die Dialektik des >Theatet<. Nirgends sonst wird in so eleatisch schultnaBiger Manier die dialektische Unterscheidung v o n Allem, das alle seineTcilc ist, und dem Ganzen, das das Ganze seiner Tcilc ist, durchgespielt. Man darf sich daran crinnern, daB dem >Ganzen< bei Aristoteles nicht nur der Teil als sein Gegenbegriff entspricht, sondern auch das Verstiirnmeltc bzw. in seinem Aussehcn Geschadigte (id KOXO/IOV): das Ganze ist nicht nur alle seine Tcilc, sondern ist zugleich das Ganzsein, das cs nicht mit seinen Teilen )teilt<18. Dagegen haben alle Artcn an der Gattung teil. Aber gcrade weil diese Klarungen hier fehlen, k o m m t die ganze Theorie zum Scheitern. Die Buchstaben sollen nicht >wiBbar< sein, sondern konnen nur genannt werden - die Silbe kann >crklart< werden, eben durch Aufzahlung dcr Buchstaben, aus dcticn sie besteht. Hier ist deutlich: Das Modcll dcr Schrift (und der Rede) regiert den Begriff der Erkenntnis, ohne daB der Unterschied realisiert wird, der zwischen den Buchstaben der Rede und den Bestandteilen der Welt besteht. Das Gcsprach macht diesen Abgrund des Gedankens indirekt bewuBt, indem das Ganze und seineTeile eine unauflosbare Einheit bilden. Es fallt an dieser Theorie sofort auf, daB dcr Logos hier durch >Silbe< illustriert wird. Die Absicht ist kaum iiberhorbar. Das, was Sinn hat - und das vcrstehen wir unter Logos, Rede, D e n k e n - , wird durch etwas cxcmplifiziert und damit als etwas vcrstanden, was in Wahrheit niemals einen Sinn hat. Silben haben noch gar keine Bedcutung, sondern nur Worte und ihre Z u s a m m e n f u g u n g zur Rede konstituieren Bedcutung. Wie muB >Logos< vcrstanden sein - oder besser: wic wenig muB >Logos< vcrstanden sein? wenn cr durch >Silbe< reprasentiert wird! Abcr auch die umgekehrtc Frage stellt sich: Wie ist cs mit den Buchstaben, den Elementcn? Sind sie wirklich letzte oder sind sie am Ende cigentlich immcr auch schon >Silbcn<, d. h. Zusammenfassungen? 17 Es klingt wie eine bewufite sprachliche Absetzung, dafi hier zwei versclnedene Ausdriicke, die beide auf dcutsch >unteilbar< bedeuten, gebraucht sind. .Bei Aristoteles tritt anscheinend erftrjiov gegeniiber aiofiov weit mehr zuriick. H. J, K K A M E K hat im Anschlufi a n K . GAISEK geradezu eine .elementaristischei Theorie aus der aristotelischen >Topik< und Kategorienschrift hcrausgelesen, und tatsachlich ist dort v o m Dieshier-Seienden als azopox und dptdpa ev die Rede. Was heiBt hier >unreilbar Wie das Dreieck, das nicht in ZweiEcke geteilt werden kann? Also eidetisch. U n d eben deswegen (zuwcilen) der Zusatz des apiltyiii fa, der mnerhalb der eidetisch Umeilbaren die wirkliche Emzelheit bezeichnet, die ja gerade auch fur mathematische Wesenheiten wie das Dreieck impliziert ist, z. B in der Gleichheit von Dreiecken. Noch die Einzelheit bleibt hier mathematisch-eidetisch! tx-
vili•jpxti ix jui € iSti! ,8
V g l . M e t . J 2 5 (fu-piKi, 4 2 6 (oAa-v), J 2 7 (tcaXafMv).
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M a n crlcbt es sogleich: Da soil der einzelne Buchstabe angeblich nicht definierbar sein, u n d doch gibt Theatet ganz anspruchslos und ahnungslos eine vortreffliche Definition des Sigma als eines der Konsonanten, die mit der Z u n g e gebildet werden. Teh meine, der Leser soil das merken, und es soil ihm dammcrn, daB das ganze Paradigtna von Buchstaben und Silbe von vomherein in eine ganz andere >ideelle< oder >symbolische< Spharc weist und nicht cine atomistische Theorie letzter Bestandteilc veranschaulichen kann. Man muB dabei beachten, daB der Text das ausdriicklich ais eine Veranschaulichung einfiihrt. Sic hat ja auch wortgeschichtlich Karriere gcmacht, indem oioixeiov, Buchstabe, zum >Elemcnt< wird 14 '. Hier darf man sich auch der sprachgeschichtlichen Beobachtungcn erinnern, die Johannes Lohtnann im AnschluB an H. Kollcr iiber die Herkunft von mmyi im (= Reihenglicd) und ov\\afir[ (— Begriff) aus der Sprache der Musik mitgeteilt hat 2 0 . Dberhaupt bestehen enge Bezichungen zu der rationalen Konstruktivitat, die die pythagorcische Musiktheonc auszeichnet. Insofern ist >Silbe< als der Zusammengriff und >Bcgriff< der Buchstaben keine zufallige Wortschopfung der Bcgriffsbildung. Musik, Sprache und Schrift artikulicren sich sprachlich in der gleichcn Weise - die Sprache antizipiert die von Plato entwickeltc Einsicht, daB das Ganze nicht die S u m m e seinerTeile und Bestandtcile ist. Man soli sich hier wohl auch schon fragen, w o die >Zahl< ihren wahren O r t und ihre vornchmste Funktion hat bei der Zahlung von Partikcln oder bei der Glicderung eines Systems von Lauten oder Lettern? Der >Philebos< (17aff.) gibt darauf eine ganz klare Antwort, wenn er die Zahl fiir das System der Buchstaben und Laute verantwortlich macht, und es stimmt ja auch wirklich. Die Buchstaben und die Laute, die die Schrift und Sprachc ausmachen, sind nicht einfach die unbestimmtc Masse von Gckritzeltem oder Erschallendem, das dann mehr oder minder zu bestimmten Gestaltcn zusammengcfaBt werden kann, wie jene adpoiopma im > Theatet < (157b). Sic sind iiberhaupt nur. was sie sind, durch ihre festc Bestimmtheit. Ein jeder ist durch seine >Gcstalt< und sie allc zusammen sind als System besrimmt. Ein jeder ist einer der vierundzwanzig Buchstaben bzw. Sprachlaute. Was ist dann aber die Silbe? GewiB ist auch sie eine Einheit, cine neue Einheit, die komplexc Einheit ihrer Bestandteile. 1st sie dann nicht wie die Anzahl? Offenbar ist auch die Anzahl eine neue Einheit, eine komplexc Einheit aus Einsen. Hier kann man sich fragen; Ist das etwa der Traum, der dem Mathematiker Theatet vorschwebt, das Wesen des Wissens von dem 19 Vgl. zuletzt G A I S E R , Plarons ungeschriebene Lehre, S. 1 6 8 , S. 3 7 8 A . 1 4 4 . D I E bekannte Nachricht von Eudernos (Simpl. in Phys. 7 , 1 0 F F . Diels) durfte dirckt auf unsere >Theateti-S telle zurtickgehen. 30 Vgl. J . L O H M A N N , Musike und Logos. Stuttgart 1 9 7 0 , S. 4fF.
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Wunder der Zahlen, des Zahlens und des Rcchnens her zu verstehen? Wissen als A u f z a h l c n ? - A b e r ist das genug? Sagt da nicht der pythagoreischeTraum mehr, ganz glcich, was i m m e r die Tone erzeugt? Nicht Anzahl, sondern die Zahlcnverhaltnisse sind das Sein, das es zu wissen gilt. U n d wenn man bedenkt, dafi Demokrits A t o m i s m u s ein q u a l i t a t i v e ist 21 , sofern Maei, °XW'nt- Iy}('c> (Phys. A 5, lHSa^i die yevq sind, so gehort auch er eher in diese Reihe, in der die oi'AAaprj das WiBbarc ist, aber nicht als Anzahl, sondern als Figuration. Fragen wir also: Was ist die >Anzahl Ist sie etwas Neues und anderes gegeniiber ihrcn Bestandtcilen? U n d in welchem Sinne? In der Tat ist es, wie eingangs crwahnt, schon im >Hippias Maiort von Sokrates als ein wahrhaftes Ratsel bezeichnet worden, dafijede Anzahl zwar als Zusanimcnfassung von Einsen dcreii Gcmeinsames ist, und doch k o m m t kciner dieser Einsen selber dieses Gemeinsame zu: Es ist also anders als bei der gemeinsamen Art, der Spezies, etwa dem Pferd, w o das Pfcrdscin alien einzeinen Pferdcn zuk o m m t . Aber heiBt nicht auch >Wissen(. die Anzahl zu wissen? Was ist also die Anzahl? Einerseits scheint sic nichts als das Gesamt ihrer Bcstandteile zu sein, ihre reine Summc. Andererscits muB sic als das GevvuBte doch gerade etwas anderes sein als das, was jedem ihrer Bestandteilc zukoinmt. Hat sie nicht sozusagen eine eigene Gestalt, ein eigenes slStxp, Bckanntlich hat die griechischc >Logistik< die )Gestaltqualitatcn< der Zahlen zu ihrem Gegcnstand. Man sielit sofort, daB hier zwei wcsensvcrschiedene Bcreichc vorhegen, die Thcatet nicht zu trenncn versteht. Wenn das Ganze nichts anderes ist als die Gesamtheit der Telle, ihre bloBc Sumtne, dann wird der Sinn von >Teil< ganz dunkcl. Ausdriicklich heifit es von dem Ganzen: in den Zahlen wenigstens ist es allcin die S u m m e (294d). Offenbar ist sich Thcatet iiberhaupt nicht im klaren, dafi cr es hier mit >rein eidetischen< Gegenstanden, den Einsen und den Anzahlen, zu tun hat und nicht mit Bestandteilen von >SeiendcmWas< ware, d . h . dessen, was ein Acker, eine Entfernung, citie Truppe ist. Die quantifizierende Behandlung von Sachverhalten abstrahiert gerade von der ganzen Frage nach dem, was jeweils das Quantifizierte ist. Sie setzt die Gleichartigkcit des Gezah.lt en voraus. Beim Beispiel der Silbe u n d der Buchstaben liegen die Dinge aber ganz anders. Da handelt es sich nicht u m eine Summe von gleichgiiltigen Einsen, sondern u m ein Ganzes von vcrschiedenartigen Tcilen. Darauf beruht die 21
Vgl. meine Abhandlung > An tike Atomtheorie<, jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 263-279.
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ganze Kunst des Schreibcns und des Lcscns. M a n hat nicht nur die einzclncn Buchstaben oder beim Musizieren die einzelnen Tone zu kennen, sondern man muB auch wissen, wic die Worte sich schrciben bzw. wic eine Melodic aus Tonen wird. Das ist nicht bloBe Aufzahlung und Bildung einer S u m m e . Die ganze Frage des Wissens liegt offenbar jenscits der Unterschcidung von Buchstabe und Silbe. M a n muB sie beide >kennen< und in diesem Sinne >wissen<, aber das Wissen, das zum Schreiben gehort, d. h. zur >Rechtschreibungi, ist nicht das bloBe Kennen von Vorhandenem oder gar seme Aufzahlung. Die >Zahh der Symbolc, die Schreiben (oder die Sprache der T o n kunst) moglich machen (vgl. Phileb. 17aff.), ist nicht eine S u m m e von austauschbarcn Emsen (nvpf>Xjpai pmcdkx.) - sie stellt cin Ganzes differenzierter >Arten<, Gestalten, Typen dar. Blickt man auf die Einheit, die ein solches System darstcllt, ist cs nicht cine bloBc Anzahl als S u m m e , sondern ein Gcfiige, ein dpt'&ptk aus dovpfiXt/roi povaSec, nicht Anzahl, sondern Logos. Man sieht, im Negativ dieser Aporie des Ganzen und der S u m m e erscheint hier als vager UmriB das Positiv der N a h e von Zahl und Idee, die wir aus den aristotelischen Berichten kennen. Der Text ist voll von witzigen U m d r e h u n g e n . Da wird - vergleichbar mit der oben erwahnten Definition des Sigma - Hcsiods Kennen der 100 Holzer des Wagcns fiir das wahre Wissen dessen, woraus er besteht, erklarr. D a gegen sei es eine bloBe vage Ansicht, die wesentlichen Bestandteile eines Wagens, Radcr und Achse und Felge usw. zu kennen! - A m Ende ist der mitdenkende Leser mcht iibcrrascht, daB die Erganzung der Definition, Wissen sei wahre Ansicht mit Erklarung (ptiii Aoyov), leicht zu Fall k o m m t . Wenn es schon selbstvcrstandlich ist, daB das bloBe Aussprechcn des GewuBten nichts zum Wissen hmzu bringt, hat sich jetzt gezeigt, daB auch die Aufzahlung der Bestandteile kein wirkliches Wissen ist. Das lehrt auch das Beispiel der Orthographic. BloBcs Kennen der Buchstaben ist noch kein Schreibenkonncn. SchlieBlich endet das Gesprach mit der Wendung, Wissen ware richtige Ansicht mit Wissen des Unterscheidcndcn. Das ist elegante Tautologie. Erst durch die Angabe des Unterscheidenden, sozusagen durch Markierung, durch ein Merkmal, werde etwas so erfaBt, daB es dadurch eindeutig bestimmt ist und nicht mit Anderem, Nichtgemcintem, Gemeinsamem verwechselt werden kann. So geniige selbst das so seltene Kcnnzcichcn der Stupsnase nicht dafiir, Theatet eindeutig zu bestimmen. Denn Sokrates hatte bekanntlich auch so eine Nase. M a n miiBtc also die bcsondcre, >einzigartige< Nase des Theatet kennen u n d wiedcrerkennen. Am Ende wiirde aber fur >alles, woraus du bestehst< das gleiche gelten. M a n miiBte das Gesamt aller >einzigartigcn< Merkmalc im Gcdachtnis haben, wenn m a n die wahre A n sicht von dir haben wolltc (209c 7 ). Das erst ware die genaue Ausfiihrung des Vorschlages, die unterscheidenden Mcrkmale zu der richtigen Ansicht hin-
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zuzutun. Das hicBe abcr, dafi die Merkmale selber wie die Bestandteile waren. In Wahrheit sctzt das bcreits die richtigc Ansicht v o m Gcsamt aller Merkmale voraus. Es ware das Ganze, woraus etwas besteht. Das fuhrt zu einer nachstenTautologie, die geradezu handgreiflich ist. Die richtige Ansicht aller Merkmale ware die richtigc Ansicht der Sache. Darin lage, das >Wissen< set nichts anderes als die richtige Ansicht mit Hinzutritt des Wissens (namlich der Merkmale). Das Wissen ware durch Wissen definiert - eine klassische Zirkeldefinition, und wie alle solche Zirkel ein Ausdruck dessen, daB einer, der weiB, nicht weiB, was er da weiB, und deshalb unbemerkt das D e f m i e n d u m voraussetzt. Aber noch etwas anderes liegt dann, wenn hier Wisscti als Kennen des Unterschiedes gcdacht und am Ende als Kennen aller Merkmale definiert wird. Das w a r e eine vollige Vcrkennung dessen, was ein Merkmal ist. Als ob das Merkmal in dem Sinne cin Bestandteil dcr Sache ware, dafi der Inbegriff aller Merkmale den gesamtcn Seinsbestand darstelltc. Ware dies so, dann ware die Definition abcrmals nichts anderes als die S u m m c aller »Teile<, d. h. sie ware Anzahl bzw. Aufzahlung. So wcist in Wahrheit der Begriff des Merkmals auf dieeidctische Dimension, in der sich ein Allgemeines in Spezifizicrung durch diai/opai weiterbestimmt - bis zum mpi/wv viHoc hin. Die Blindheit gegen die cidetische Dimension fiihrt in die Absurditat, in die sich Theatet verstrickt. So lauft alles auf diesen einen Punkt zusammen. Der Mathematiker vermag nicht iiber seinen eigenen Schatten zu springen. Man ahnt, wie das Positiv zu diesem Ncgativ des Wissens aussehen miiBte. > Wahre Ansicht mit Logos< - das ist durchaus eine sokratisch-platonische Definition von Wissen. Abcr zur wahrcn Ansicht rniifitc der Logos nicht erst hinzutreten (npoo}-)}T6p.'io<;). Das ist der entscheidende Punkt, iiber den sich der junge Mathematiker nicht klar ist. Erkennen ist nicht: erst Kennen und dann auch noch Unterscheiden. Erkennen ist Unterscheiden. U n d weitcr; Unterscheiden ist niemals nur Kennen des einen. Es ist notwendig auch das Kennen des anderen, das cs nicht ist. Sein ist auch Nicht-Sein. Wissen, das weifi, was cs ist, ist also Dialektik. Das wird Theatet lernen, wenn er dem Gesprach mit dem Fremden aus Elea folgt, das der >Sophistes< vorfuhrt. Aber noch eine andere Perspektivc zeichnet sich ab: Man sieht, wie die )Anzahl< in ihrer Ratselhaftigkeit das Denken des Mathematikers fasziniert und zugleich beirrt. Theatet mcrkt gar nicht, wic cr auf die Frage nach dem >Was< in Wahrheit immcr die A n t w o r t gibt, die auf die Frage nach deni >Wicviel< dcr Bestandteile zutrafe. Die wahre Dialektik wird den u m g c k e h r ten Weg gehen. Sic wird 1111 Wasgehalt cin anderes Wie vie I, die Einheit einer eidetischen Mannigfaltigkcit erkennen, wie etwa im >System< dcr Sprachlautc oder Buchstaben impliziert ist. Mit dieser Einsicht tritt zu der Lehre des >Sophistcs< die Lehre des >Philcbos(. Die Allgemeinhcit der Anzahl ist nur
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Sokratischer Dialog u n d Platonische Dialektik
dann Wissen, wenn sie nicht Wissen der S u m m e ist, sondern elSoq und yevo<; u m f a h t und die Einheit in der Vielartigkcit findct. Es ist das Unterscheidende und das Gemeinsame zugleich, was Wissen zu Wissen macht.
11. Der platonische >Parmenidcs< und seine Nachwirkung (1983)
Wenn m a n bedenkt, daB Platos Parmenides-Dialog in seiner spateren antiken W i r k u n g etwas vollig anderes gewesen ist, als was wir heute in ihm zu erkennen v e r m o g e n , stehen w i r vor einem w a h r e n Ratsel. N i c h t als o b wir heute so genau wiiBten, was dieser Dialog eigentlich sagen will. Seine A u f f a s s u n g s c h w a n k t zwischen den E x t r e m e n hochster A n e r k e n n u n g der darin gezeigtcn dialektischen K u n s t u n d einer gewissen Hilflosigkeit in bezug auf den darin intendierten philosophischen Inhalt. Insbesondere hat der erste Teil des Dialoges, die Katechese des j u n g e n Sokrates durch den grcisen Parmenides, das historische D e n k e n der neueren Zeit dazu g e f u h r t , in d e m ganzen Dialog eine Art Selbstkritik Platos u n d eine Krisis seiner Ideenlehre zu erblicken. Es ist hier nicht der O r t , die Kurzschliissigkeit dieser Auffassung zu kritisieren. Es liefie sich zeigen, daB die plotinischc T h e o r i e der yi-primc, u n d der I 'uasv sich nur deshalb als eine F o r t e n t w i c k l u n g Platos darstellen kann, weil Plotin den \7cp10p0c der Ideen allzu wortlich versteht. Ich miiRte mich wiederholen, w e n n ich beweiscn w o Ike, daB die N e u p l a t o n i k c r in dieser Frage schlechte Platonikcr sind 1 . Tatsachlich hat auch gar nicht durch diesen kritischen Aspekt, den der Dialog bietet, s o n dern d u r c h die dialektischcn O b u n g e n , die den Hauptteil des Ganzen a u s m a chen, der spatere Platonismus seine wesentliche Inspiration e m p f a n g e n . Der Dialog w u r d e als das G r u n d b u c h einer negativen T h c o l o g i e gelesen, das heiBt, m a n e n t n a h m ihm im wesentlichen B e w e i s f u h r u n g e n f u r die absolute Transzendcnz des Einen b z w . des Gottlichen. Im Unterschicde dazu hat die Ncuzeit ganz andere Wege eingeschlagcn. M i t d e m A u f k o m m e n historischer D e n k w e i s e w u r d e die einheitliche Traditionsfigur des Platonismus zur A u f l o s u n g gebracht u n d der originare Plato hintcr seiner wirkungsgeschichtlichen Figur aufgesucht. D a m i t e m p f i n g dieser spatere Platonismus selber erstmals ein eigenes Profil, u n d das k a m in der N a m e n g e b u n g >Neuplatonismus< z u m A u s d r u c k . Hegel, der w a h r e A h n h c r r einer philosophischen Geschichtsschrcibung u n d cin philosophischer B e w u n d c r e r der spatcn Platoniker des A l t e r t u m s , kannte zwar 1
Vgl. 'Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<, in diesem Band S. 136ff.
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bereits das Wort. Auch er sah aber in der thcologischcn Ausdeutung des Parmenides-Dialogs durch die Neuplatomker durchaus den Sinn des Dialogs: »Es ist aber eigentlich nur mit dem Wortc nicht ausgesprochen; denn die Sache ist allerdings vorhanden« - mit der Einschrankung, daB »diese einfachcn Wesenheiten u n d ihre Beziehung und B c w c g u n g nur M o m e n t c des Gegenstandlichen auszudriickcn [schcincn], nicht den Geist« 2 . Hegels philosophischer Energie war es also gelungen, die platonischc Theologie der Spatzeit in dem spckulativcn Prinzip seiner Dialektik wiederzuerkenncn und auf diese Weise dem Parrnenides-Dialog einen sinnvollcn Platz im platonischen Werk zu geben. Der Ncukan danism us (Natorp, Hartmann) ist ihm darin nur teilweise gefolgt, wenn er die zweite Argumentation (Parm. 142b-l55e) fiir den wahrcn Sinn des Ganzen erkliirte, die das System aller Grundbegriffe konstruiere. Fiir uns ist die Lagc schwierigcr. Die Scheidung Platos v o m Neuplatonismus steckt fiir uns voller Probleme. Auch wenn wir erkennen, daB die platonische Philosophie mit der religiosen Tradition des Griechcntums auf enge Weise und fruchtbar zusammenhangt, wird doch niemand den vollig neuen Sinn religioser Transzendenz verkennen. der im spateren Altcrtum zur Entfaltung kam und den neuen AnschluB an Plato bewirkte. N i e m a n d wird daher diese Inanspruchnahme des platonischen Werkes auf eine unrnittclbare Weise akzcpticrcn konnen. Denn bei Plato ist es trotz aller Feierlichkeit des Aufschwungs das philosophische Denken selber u n d die Beharrlichkcit der sokratischen Rechenschaftsforderung, was iiber alle h e r k o m m l i chen religiosen Gestaltungen spekulativ hinausweist, auch wenn auf der anderen Seite dieses Denken durch Sanktionierung der religiosen Volksiiberlieferung sich dem Aufklarungszug des gricchischen Denkens bcwuBt entgcgenstellt: Beides ist von dem religiosen Pathos des 3. Jahrhunderts nach Christi Geburt durchaus verschieden - so sehr verschieden, daB die direkte Bezugnahme des Neuplatonismus auf Plato ihre eigenen Ratsel aufgibt. Es ist im hohen Grade verwirrend, daB wir fiber die Anfange des Neuplatonismus, und damit der theologischen Interpretation Platos im Sinne einer auBersten Transzendenz, durchaus nicht klar sehen. Die von Aristoteles und seinen Nachfolgern croffnete Geschichtsschreibung des griechischen Denkens sieht Plato wahrlich nicht mi Lichte seiner religiosen Herkunft oder Zukunft, auch wenn die spateren Kommentatoren, dencn wir unser wertvollstes Wissen iiber die Gcschichte des griechischen Denkens verdanken, immer wieder den EinfluB neuplatomschcr Gcdanken zeigen. Gleichwohl hat die neucre Forschung (Dodds, Theiler, Merlan, Dorrie, Kramer) 3 ge2 G. W. F. HEGEL, Vorlesungen fiber die Geschichte der Philosophie. Werke, Bd. XIV. S. 245. 3 E. R. DODDS, The >Parmenides< of Plato and the Origin of the neoplatonic )One<. In: Class. Quart. X X I (1928), S. 129-142. P. MTKLAN, From Platomsm to Neoplatonism.
Der platonische>Parmenides*und seine N a c h w i r k u n g
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zeigt, dafi die Wendung, die wir in Plotins Schriften zuerst gewahren, eine lange Vorgeschichte hat. Ja, es laBt sich kaurn bestreiten, daB in der untmttclbaren Nachfolge Platos, zumindest bei Xenokrates, dogmatisch-religiosc Tendenzen aufkamen, die cs fast nahelegen, die Anfange des Neuplatonismus bis auf die Akademie zuriickzudaticrcn. Jedenfalls war die spatere Versetzung der Ideen in den vo£%, die die entscheidende Wendung zum neuplatonischen Denken darstellt, dort bereits vorgczcichnct, sofcrn Platos Nachfolger in der Akademie, Speusipp und Xenokrates, die mathematischen Gebilde im vcwcansiedeln. Vollends ist die Anlehnung an die aristotelische v«tjc-Lehre bei Plotin ganz deutlich - so sehr, daB ihm manchmal das Es des Einen zum Er, das N e u t r u m zum Masculinum gerat, was man nicht als eine Antizipation des personlichen Gottes der jiidisch-christlichen Religion zu verstehen hat, wie der verdiente Plotinherausgeber P. H e n r y glauben machen wollte. Jedenfalls bictet der Parmcnidcs-Dialog fur solche Interessen kaum eine Handhabe. Das ist beim >Timaios< insofern anders, als dessen dcmiurgischer Mythos immerhin einer solchen Internalisierung der Ideen Vorschub leistctc - freilich nicht, ohne daB d e m Text dabei Gewalt angctan wird. Es entspricht dieser Sachlage, daB der Parmenides-Dialog bei Plotin nur selten erwahnt u n d erst von Porphyrios ausfiihrlich herangezogen wird. Doch wissen wir aus Proklos, daB er schon langer als theologischer Traktat verstanden w o r den war. Es ist im G r u n d e erstaunlich, daB auch modcrne Forschcr iinmcr wieder den Versuch unternehmen, den Parmenides-Dialog theologisch zu interprctieren (Jean Wahl, M a x Wundt, Hardie, Speiser, Enzo Paci) 4 . Das erkliirt sich wohl daraus, daB eine ernsthafte philosophische Ausdeutung des dialektischen Gehalts des Dialogs, die wirklich das Ganze dieser kunstvollen Komposition crklarte, nicht recht gclingen will. Auch Cornfords scharfsinnige Arbeit, die starker nach ruck warts hin orientiert ist, das heiBt zum Lchrgedicht des Parmenides und zur pythagoreischen Zahlenlehre hin, konnte zwar die logische Evidenz vieler Gcdankcnschrittc dieser A r g u m e n tationsketten aufdecken, stellte aber keine Losung der eigcntlichen Frage dar. DaB man im >Parmenides< nicht langer eine bloBe Begriffskomodie
Den Haag ' 1 9 6 8 . H. J . K R A M E K , Der U r s p r u n g der Gcistrrietaphysik. Uiitersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischcn Plat oil und Plotin. Amsterdam 1964. W. THHILEH, Forschungen zum Neuplatonismus. Berlin 1 9 6 6 . H . D O R R I E , Von Ptaton zum Platonismus. Ein Bruch in der Oberlieferung u n d seine O b e r w i n d u n g . Opladen 1976. 4 M . W U N D T , PI a tons Leben und Werk. Jena 1 9 1 4 - J . W A U L , £tude sur le Parmenide de Platon. Paris 1926. W. F. R. HARX.IL, A Study M Plato. O x f o r d 1936. A. Sftistit, Ein Parmenideskommentar. Studien zur platonischen Dialektik. Leipzig 1937. E. P A C I , II significato del Parmenide nella filosofia di Platone. Milano 1 9 3 8 . F. M. C O R M F O K D , Plato and Parmenides. London 1939.
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sieht, sondern die Ernsthaftigkeit der logischen O b u n g anerkennt, in der die dialektischen Verwicklungen der eleatischen Lehre aufgewiesen werden, ist gewiB ein Fortschritt, kann aber nicht als befriedigende A n t w o r t auf die Frage gelten, was diese Argumentationen positiv leisten sollcn. Es ist doch unbestreitbar, daB Parmenides in diesem Dialog als ein M a n n dargestellt wird, der iiber sich selbst eine wirkliche Oberlegenheit gewonnen hat. N u n besitzen wir zwar einen umfanglichen K o m m e n t a r des Proklos, der uns unter anderem auch iiber die Vorganger seiner eigenen theologischen D e u t u n g des Parmenides-Dialogs allcrhand Aufschliisse gibt. Aber dieser uns erhahene K o m m e n t a r behandelt nicht das Ganze des Dialogs und hat nie das Ganze behandelt. Seit Klibanskys Auffindung des lateinisch erhaltencn Schlusses des Proklos-Kommentars wissen wir mit Sichcrheit, daB derselbe v o n dem zweiten Teil des Dialogs lediglich die sogenannte erste Hypothese behandelt hat. Das ist bezeichnend genug. Wer in diesem Dialog die gottlichen Dinge suchte, muBte sich auf die erste Argumentation bcschranken, die das Eine Scin von alien erdenklichen Pradikationcn absondert. Das konnte als ein Specimen negativer Theologie gelesen werden. Wichtiger ist Porphyrios, insbesondere, wenn der seit 1898 bekannte >Parmenides<-Kommcntar aus d e m T u r i n c r Palimpsest von seiner Hand stammt, wic Hadot 5 wahrscheinlich gemacht hat. D o r t war das einfachc und isolierte Eine, das in dem ersten Gange behandelt wird, als >Geist< bzw. als vov$ verstanden. Unscr Hauptinteresse ware aber natiirlich zu wissen, wie der groBtc spatantike Platonikcr, wie Plotin den Parmenides-Dialog verstanden hat u n d insbesondere, was er mit dem ersten Gedankengang angefangen hat. N u n befinden wir uns im Falle Plotins insofern auf gesichertem Bodcn, als sein gesamtes Werk auf uns g e k o m m e n ist. So konnen wir mit Bestimmtheit sagen, daB seine Selbstankniipfung an Plato nicht bedeutet, daB cr sich bloB in sekundarer Explikation platonischen Denkens Geniige getan hat. Vielmehr ist Plotin ganz auf seine eigenen Denkerfahrungcn gegriindet, und wenn er auf Plato zuruckweist, dient ihm das mehr der Bestatigung seiner eigenen Gedanken, als daB es deren Ausgangspunkt darstellte. Obendrein ist klar, daB er auch dann noch mit seinen eigenen Fragen an Plato herantritt, wenn cr sich auf ihn ausdriicklich bezieht. Nicht selten zieht er dabei als Bestatigung heran, was wir nicht als eine solche anerkennen konnen. Weder das beriihmte huKi wa der >Politeia< noch die mythische Redcwcise, die sich im >Phaidros< und vor allem im >Timaios< findet, und dort insbesondere die Verlegung der Ideen in den viwc (fiir die er sich auf Tim. 39e 7 beruft!), lassen in unseren Augen Plato zum Zeugcn der plotinischen Lehre werden. N u n ist 5 P. H A P O T , Etre, Vie, Pensee chez Plotin et avant Plotin. Vandoeuvrcs-Geneve 1960, S 105-157.
IN:
Les sources de Plotin.
Der platonische > Parmenides* und seine Nachwirkung
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meine These: Trotzdem ist die plotinische Selbstankniipfung an Plato nicht einfach gezwungcn - sie reicht weit iiber jede ausdriickliche Bezugnahme hinaus und laBt Plato selbst, freilich in einem neuen Lichte und unter veranderten, in neue Richtungcn ausgezogenen Beziigen, sichtbar werden. Der Parmenides-Dialog spielt dabei nun leider kaum eine Rolle. Wahrend bei Plotin auf das Einleitungsgesprach wiederholt Bezug g e n o m m e n wird, findet sich auf die Frage, die wir an ihn wegen seines Vers tan dnisses dcr von Parmenides vorgetragenen Dialektik stellen, nur eine sehr schematische und ungenaue Antwort, die gleichwohl Epoche gemacht hat. Sie ist in dcr Schrift iiber die drei Hypostascn en thai ten (Enn. V l) 6 . Da wird von Plotin als Bcstatigung fiir seine drei Hypostascn (neben Platos Z w e i t e m Brief, Sechstem Brief und dem >Timaios<) auch der Parmenides-Dialog angefuhrt. Plato wird geriihmt, daB er im Vergleich zu der Ineinssetzung von ov und vovc;, die Parmenides in seinem Lehrgedicht v o r nahm, genauer verfuhr, indem er dreicrlei, das Eitie, das Eins-Viele und das Eine und Viele unterschied. Das geht offenbar auf die zwei ersten Gange der Dialektik des >Parmenides<, die also schon Plotin, wie seine spateren N a c h folger, als drei Gange verstanden hat, indem er das Corollar zur zweiten Argumentation als dritte, selbstandige Argumentation und als Synthcse auffaBt (155c). So hat Plotin, von seiner trinitarischen Frage gclcitet, verstanden. N u n ist solche Konzentration auf die ersten zwei oder drei Gange nicht ganz unbegriindet und hat geradezu eine gewisse formclle Evidenz fiir sich. Dcnn der Platotcxt setzt ausdriicklich ein: » U n d nun wollen wir zum Dritten sagen . . .«, und ferner wird sowohl die positive Argumentation, die als zweiter Gang vorgefiihrt wird, als auch die negative, im ersten Gang entwickelte These im AnschluB an diese Ankiindigung in einer Weise crwahnt, die wie Voraussctzungen jener dritten klingt (Parm. 155c). Trotzdem kami m a n den Text nicht so verstehen. Der Sache nach kann das neue dritte Argument nur d e m zweiten Gange zugehoren und behandelt nochmals die dort zu findende Teilhabe an der Zeit. DaB das Eine Vicles ist und auch wieder nicht, sofern es an Zeit teilhat, wird z u m T h e m a gemacht, und dabei werden neue dialektische Vcrwicklungcn sichtbar. Freilich, daB dieses Dritte, wie es in der Ausdcutung durch Plotin sein miiBte, die Psychc ist, die nach dem Einen und nach dem vow, die dritte Hypostase (und die fiir uns erste Erfahrung) bilden soil, dafur findet sich nicht der leiseste Hinweis in den dialektischen G an gen, die Parmenides durchspielt u n d die ja auch keines-
6 Plotin, Schnften (grch.-dt.), Bd. 1. H a m b u r g 1956, S. 208-237. Zur Interpretation vgl. vor allem V O L K M A N N - S C H L U C K , Plotin als Interpret der Ontologie Platos. 3 . erw. Aufl. Frankfurt 1966 und inzwischen die gut kommentierte griechisch-deutsche Ausgabe des Parmenides-Dialogs von H . G. ZEKL, Philosoph. Bibl. Bd. 279. H a m b u r g 1972.
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w e g s m i t diesem >Drittcn< wie in einem AbschluB oder W e n d e p u n k t enden. A u c h darf m a n von d e m Ganzen der plotinischen Schrift iiber die drei Hypostasen sagen, dafi i h r T i t e l i h r e m Gehalt nicht recht entspricht u n d daB im G r u n d e n u r die dritte Hypostase, die Psyche, sein T h e m a darstellt. Gerade deshalb bleibt der Bczug auf den Parmenides-Dialog recht m a g e r und uncrgiebig. Es ist m e h r das Lehrgedicht des Parmenides selbst, das Plotin hier in A n s p r u c h n i m m t , u n d zwar fiir die zweite Hypostase, fiir den VOLKM a n wird also von dieser B c z u g n a h m c auf den Parmenides-Dialog schwcrlich etwas fur die tiefere A n k n u p f u n g gewinnen, die Plotin auf das platonische D e n k e n zuriickbczieht. N o c h weniger w i r d m a n auf diesem Wege etwas fur das erfahren, was der Parmenides-Dialog Platos cigentlich will. Fiir beide Fragen sind andere Wege zu bcschreiten, u n d es wird sich herausstcllcn, daB es der gleiche Weg ist, der zu beiden Zielen zu fiihren v e r m a g . Es ist keine Frage: Wenn man von der B c n u t z u n g der mythischen Metapher von dem D e m i u r g e n im >Timaios< u n d v o n der Seelenreise i m >Phaidros< absieht, ist es der platonische >Sophistcs<, dessen Lehre v o n den fiinf G a t t u n g c n eine gcnauc u n d p r o d u k t i v e F o r t e n t w i c k l u n g bei Plotin findet. N u n kann m a n gewiB sagen, daB die groBe A b h a n d l u n g iiber die G a t t u n gen des Seins (Enn. VI 1—3), in der sich Plotin v o r allcm mit der aristotelischen und stoischcn Katcgoricnlehre kritisch auseinandersetzt u n d dafiir auf die Gattungenlehre des >Sophistes< stiitzt, nicht n u r auBerst schwierig u n d schulmafiig ist, sondern auch weithin den unnachahmlichcn Scclcnton vcrmissen liiBt, der sonst Plotins B e z u g n a h m e auf die Lehren der groBen D e n k e r auszeichnet. Auf der anderen Seite ist aber zu sagen, daB cr hier in einer Weise, deren Sachangcmcsscnheit sich im ganzen nicht bestreiten laBt, der A r g u m e n t a t i o n des >Sophistes< folgt u n d k a u m etwas von den gewaltsamcn und ungefahren B e r u f u n g e n auf Plato zeigt, die wir sonst oft bei ihm finden. Hier folgt er Plato wirklich. T r o t z d e m ist es echtester Plotin, w e n n er auch hier, wie i m m e r , fiir die eigene A n k n u p f u n g an Plato das Geheitnnis der Psyche z u m A u s g a n g s p u n k t wahlt. Es geht u m ihre Einheit u n d Vielheit. Sie ist als Einheit v o n d e m AuBereinander des K o r p e r h c h e n a b g e h o b e n und gewiB durch cine neue Einheitlichkeit ausgezeichnet. Aber gegeniiber dem einfach Einen ist sic u m g e k e h r t unterscheidbar Vieles, u n d so wird die Frage m o g l i c h : Was u n d wievieles ist das, was in ihr zu sehen ist? DaB »Sein< in ihr zu finden ist, ist klar. Sein u n d Leben sind iiber die ganzc Seele hin etwas Gemcinsames. Sie machen die Gemeinsamkcit der Seele selber aus. Die G a t t u n g des Seins findet sich also in ihr. Als das erste, was neben d e m Sein u n d Leben, d e m Seinsleben der Seele, als eigenes Genos sichtbar w i r d , w i r d aber alsdann KIVIhervorgchoben. Die A r g u m e n t a t i o n vcrliiuft in allgemeiner A n l e h n u n g an Platos >Sophi-
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stcs< in der Weise, daB KIVR^JK und OUKIK und Andersheit und Selbigkeit neben der avoid als eigene Gattungen ausgezcichnct werden, und nur sie. N u n konnte man meinen, die Ausdeutung, die dabei xivijoic und Sophistes< immer wieder gestellt wird, wie sich eigentlich die so ungleiche Reihe der dort behandelten obersten Gattungen erklart. "Ov, cnaoti;, Selbigkeit, A n dersheit: Was haben zwei einander so ausschheBende Seinsbcstimmungen wie B e w e g u n g u n d Ruhc (bzw. Stillstand) in einer Reihe mit Sein, Selbigkeit, Andersheit und Nichtsein zu suchen? Wie sollcn sic an deren universaler dialcktischer Verwcbung tcilhaben? GewiB sind KI'VI/OK und OHIOK fiir Plato von fundamentaler Bedeutung. Im >Thcatct< cntwickelt er eine universale FluBlchrc, cinc ProzeG-Ontologie, um von ihrer Unhaltbarkeit aus indirekt auf die eleatische Gegcnposition als Korrektiv hinzudeuten. Ebenso ist die Dialektik der obersten Seinsbcstimmungen, die er im >Sophistes< entfaltct, durch den Aufweis vorbereitet, dab weder die Matcrialisten noch die Ideenfreunde die Einscitigkcit ihrer Position verteidigen konnen 7 . Weder die Leugnung von ruhendem Sein noch die Leugnung von Bewegung ist denkbar. Die Dialektik der Ideen, die dann vorgefuhrt wird, behandelt aber trotzdem KIVT/OK und OKIOK als zwei sich vollig ausschlieGende Gegensatze, und diese Behandlung ist nur indirekt der Verflechtung von Scin, Selbigkeit und Andersheit und damit der Anerkennung des Nichtseins dienstbar. Von einer Verflechtung von KI'VR/oic und OK'KIK, die jencr anderen entspriiche, ist nicht die Rcdc (Soph. 250a s ; 254d 7 ; 255a,„ff.!). Wirklich nicht? Das ware doch seltsam, wenn die Materialisten soeben zur Anerkennung von tff)bv>}(iK, und das heiBt doch zur Part tier schaft mit dem in sich Idcntischcn, genotigt w u r d e n und wenn die Ideenfreunde B e w e g u n g anerkennen muBten, weil das Sein nicht ohne VOIK, Leben, Seele gedacht werden konnc. Gilt am Ende doch auch fiir Sich-Bewegen (hivr/oic) und 7
Fiir cine Nachzeichnung der inneren Folgerichtigkcit dieses Gesprachs und seiner Lenkung durch den >Fremden< aus F.lea vgl. meine Abhandlung .Dialektik ist nicht Sophistik., in diesem Hand, S. 338—369.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
Stehen (maoK) eine universale Teilhabe, so daB gcradczu eine Teilhabe der Stasis an der Kinesis, der Kinesis an der Stasis denkbar wird? Im >Sophistes< wird das immcrhin potentiell erwogen (Soph. 256b fj ). Steckt da mehr dahinter? Das ist die Frage, die ich stellcn mochte, ob etwa schon im platonischen Werk, und nicht erst bei Plotin, und in welchem Sinne Kinesis etwas mit Denken (und damit mit Stasis) zu tun hat. Der >Sophistes< selber weist insofern schon in diese Richtung, als die B e r u f u n g auf ippovqov; gegen die Materiahsten (247b y ) u n d auf (arj und vovc gegen die Ideenfreunde (249a) nach beiden Seiten hin die Untrennbarkeit des Gedachten und der B e w e gung des Denkens impliziert. Der offensichthche Gegensatz und die wechselseitige AusschlieBung, die Kinesis und Stasis vulgo z u k o m m e n , kann nicht das letzte Wort sein, wie 256by andeutet. Gibt es im platonischen Werk noch weitere Andeutungen in dieser Richtung, und kann gar der platonische >Parmenides< dazugehoren? Beginnen wir mit dem letzteren. DaB alle Deutungen dieses Dialogs, die die symmctnsche Konstruktion der dialektischcn Gange, die Parmenides vortragt, zugunsten der einen oder der anderen Seite vernachlassigen, an der Evidenz der Komposition vorbeigehen, schcint mir unumstofilich. Die neuplatonische Bevorzugung des ersten Ganges, der das absolute Jenseits des Einen crweist, kann ebensowenig gelten wie die auf Albinos gestiitzte Bevorzugung des zweitcn Ganges, der Hegel und die Neukantianer folgen, indem sie im Parmenides-Dialog eine Antizipation der aristotelischen Kategorienlehre und in letzter Instanz das Ideal der Hegelschen Logik erblicken. Demgegenuber muB man darauf insistieren, daB hier ein Gleichgewicht besteht. Es sind die antithetischcn Extreme der All-Getrcnntheit und der All-Verbindbarkeit der Ideen, wie sie der >Sophistes< (251d) exponiert, die hier crscheinen, u m auf eine Mitte zu zielen, die als solche nicht erscheint und die die wahre Dialektik der Ideen ware. Diese Auffassung scheint am chesten dem symmetrischen Aufbau der eleatischen Dialektik zu entsprechen. Da ist es nun u m so auffallcndcr, dafi es in der Entfaltung dieser Dialektik im Parmenides-Dialog dennoch eine Asymmetrie gibt, die herausfallt. Es ist eben jenes umstrittene Stuck (I55e-157b), das bald als Synthese der zwei ersten Gange, bald als ein bloBes Corollar zum zwciten Gang aufgefafit wird und das die Zeitlichkeit aller Bewegung, den Ubergang, im itfliipv!^, d. h. in »keiner Zeit« ansicdclt. Was sol] dieser Nachtrag? Eine solche Asymmetric kann bei einem derart k o m ponicrten Werk nicht als Zufall gewcrtet werden. Sie mull etwas bedcuten. Auch ist dieser Nachtrag mit dem Folgendcn genau verstrebt. Nachdem ausdiskutiert ist, was das Eine »erleidet«, wenn es »ist«, werden nun »dic Anderen« befragt, was sie »erleiden«. Der Ausdruck >dic Anderen* tritt bereits vorher ohne besondere Einfuhrung auf: 136b 3 , 146b|. Allcrdings wird dort bei der Ankiindigung nicht der Ausdruck n a a ^ t v und seine
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Ableitungen gebraucht. Vielmehr heiOt es dort ovjifirdvsiv, Doch begegnet n a o p w ab 139e haufig in der Argumentation. GewiB ist es richtig, daB die Argumentation die Teilhabc des Einen an Bewegung wic an Ruhe voraussetzt und daB darin indirekt der jeweilig wechselnde AusschluB von Bewegung oder von Ruhe impliziert ist. Das liegt der Sachc nach in der Teilhabc an der Zeit beschlossen. Aber eben hier entsteht die neue dialektische Verwicklung, sofcrn aus der Teilhabe an der Zeit die Teilgewinnung an der Zeit, aus dem persxeiv das ptiaXapflavf.iv folgt. Das wird, angefangen mit Entstehen u n d Vcrgchen, also mit der Teilhabe am Sein, iiber die Teilhabc am Einen und am Vielen, am Ahnlichen und am Unahnlichen, am GroBeren, Gleichen und Klcincrcn durchgespielt und damit in seiner universalcn Geltung erwiescn. Dann aber setzt die A r g u m e n tation ein, auf die alles hinzielt, und sic wird am U b c r g a n g von Bewegung in Ruhe u n d von Ruhe in B e w e g u n g auf den Begriff gebracht. Das scheint nnr bedeutsam. Es ist der Begriff des imajidWi iv, der uns aus dem >Sophistes< (255a u. o.) und aus Aristoteles so wohlvertraut ist. Das Wort ist ein beliebtcr Ausdruck der griechischcn Sprache seit H o m e r , der das gncchischc SeinsVertrauen und Scins-MiBtrauen ausspricht und damit auch d e m eleatischen Seins-Begriff ex negativo cntspricht. Parmenides enthiillt nun im platonischen Dialog die tcmporale Struktur dieses Umschlags als das >Plotzlichc<, das zwischen Ruhe und B e w e g u n g in keincr Zeit ist (Parm. 156e). Sie trifft fiir alle jmafioXai, alle Arten des Umschlags zu. AUc diese Obergangc v o m einen z u m anderen sind in keiner Zeit, und das heiBt, da ist ein >Zwischen<, fiir das weder die eine noch die andere B c s t i m m u n g gilt. Das schlagt alien anerkanntcn Vorstellungen v o m ausschlieBenden Gegensatz zwischen Kivtjuu, und mamc geradezu ins Gesicht. Auch im >Sophistes< wird es mit starken Wortcn fiir unmoglich erklart, daB das Sein auBerhalb dieser beiden Gegensatze erschcinen konne (Soph. 250d). Genau das wird n u n hier gefolgert: Das Sein ist weder in Bewegung noch in Ruhe. N u n frage ich: Ist das etwa das negative Gegenstiick zu der stehenden B e w e g u n g , von der Soph. 256b orakelt? M a n muB sich die Frage im Ernst stellen, und dann lautet sie so: Ist etwa die Ineinanderverschrank u n g von Kivqou; und oiaau; ein allgemeines Strukturschema, in dem Plato geradezu die Auszeichnung der fi'X1} u n d des voix sieht? Wenn das so ware, kame in der Tat heraus, daB Plotin bei aller Eigenwilligkcit und Selbstandigkeit, die er in seine Nachfolge Platos einbringt, cchte piatomsche Ansatze weitercntwickelt hat. Der Parmenidcs-Dialog gibt dafiir allerdings wenig Bestatigung, auch wenn u n d gcrade weil die Untrennbarkeit von etvai und voiiv. die Plotin entwickelt, schon fiir das Lehrgedicht gilt. Die Denkbarkeit des Scins bildet auch fiir Plato im >Sophistes< den sclbstverstandlichcn Ausgang§punkt, von dem aus er seine dialektische Diffcrcnzierung der Scinsthese entwickclt.
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Immerhin fallt auf, daB die Km/ov; nicht nur im >Sophistes<, sondern auch in jcneni umstrittenen Exkurs des Parmemdes-Dialogs die fiihrendc Rolle hat. Das fugt sich am besten in die ontologische Konstruktion, mit der Plato im >Theatet< die FluBlchre rclativicrt und dabei auf den ehrwiirdigen Parmenides Bezug n i m m t und im >Sophistes< die Starrhcit der Idccnfrcunde auflost. Im >Theatet< findet die FluBlehrc ihre lctztc Schranke an dem, was die Seele rein von sich aus erschaut (185d). Ebenso finden die Materialistcn im >Sophistcs< an der Psyche und dem im Denken gemeinten Sein (tfpdvqaK) ihre Begrenzung. Das Gegenwort, an dem die Ideenfreundc scheitcrn und das die cigenstandige Lebendigkeit der Psyche ausspncht, ist wiederum die Ktvrpm;, Was ist sic? Was ist sie fur den ldeenfreund Plato? Wirklich nur das pq ov, demgegeniiber das ov das wahre Sein ist? Ist Plato wirklich ein AntiHeraklitcer? Die Strukturformel der ptzafiabj, die Plato wahrscheinlich als erster in die philosophischc Diskussion eingefiihrt hat (alle friiheren V o r k o m m c n sind verdachtig und scheinen bloBer Riickschcin aus Aristoteles zu sein), wird im >Parmenides<-Exkurs zu einem echten Universale erhoben, das offenkundig iiber die bloBe Nichtigkeit des Nichtseins hinausweist. Tatsachlich sagt das Jalie, das Schlagartigc des Umschlags immer etwas iiber ein Gemcinsames und Eines, das die Gegensatze nicht so sehr voncinandcr abhalt als aneinander bindet. Es ist kein bloBcs Anderswerden - es ist wie ein Anderswerden seiner selbst, cine (Reflexion in sich<. Tm >Parmcnidcs< wird dariibcr keinen Schritt hinausgegangen. Es wird das auBcrzcithche Haiy v?/c rein argumentativ deduziert; nur durch dieses auBer aller Zeit seiende >Zwischen< sind das sich Ausschliefiende, oidoK und Kivqox;, miteinandcr verbunden. Bcachtct man nun, daB das univcrscllc Prmzip alien Umschlages zuerst an wn/ij/c und oiaoiK vordemonstriert wird und daB diese im >Sophistes< ahnlich fungieren, offnen sich neue Horizonte. Anderswerden in sich, B e w e g u n g in sich, das scheint mir nun 111 der Tat das Geheimnis von Selbstbewegung und damit von Leben und Seele. In der Argumentation des >Sophistcs< (249aff.) klingt das nur sehr auBcrlich an, als bloBes A r g u m e n t fiir die Anerkennung der universalen Prasenz von B e w e g u n g im Sem. Wird aber damit nicht in Wahrheit auf Implikationen hingcdcutet, die in der dialcktischeii Entfaltung des eleatischen Seinsbegnffs selber stecken? B e w e g u n g ist nicht nur, wie der Wettcrumschlag, ein Negatives, plotzlicher Umschlag, der das vcrlaBlich Anwesende desavouicrt. Solcher Umschlag kann selbst ein Erscheinen, ein Sichzcigen von Sein darstellcn, und cs ist im besonderen die Auszcichnung des Lebendigen, so zu sein, daB es das >kann<, von der Ruhe in B e w e g u n g umschlagcn, ganz von sich aus, nicht von etwas anderem aus, das es in Bewegung setzt. Fs ist das wahre Wesen des Lebendigen, Selbstbewegung zu besitzen. Plato spiclt schon friiher darauf an, wenn cr im >Channides< (168c) cinc
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solchc tivvajiK, die auf sich selbst geht, zwar ratselhaft findet, aber doch auch unabweisbar, w e n n m a n daran denke, wie das Sehen, das H o r e n , die B e w e gung, die sich selbst bewegt, und die Hitze, die zur E n t z i i n d u n g des Holzes fuhrt, auf sich selbst bezogen sind, u n d Sokrates meint, das Wissen, das sich selbst weiB, k o n n t e sich dieser Reihe anrcihen 8 . Es ist eine selfsame Rcihe, in der die Selbstbcziiglichkeit v o n B e w e g u n g u n d Bewufitheit m i t der Selbste n t z u n d u n g des iiberhitzten Holzes ineins gesehen ist. N u n haben in der Tat Selbstentziindung, Selbstbewegung und SclbstbewuBtsein den glcichen ratselhaften Z u g , prm/So.bj zu sein. Wie die Flamrue aus dem Holzscheit herausschlagt, plotzlich u n d ohne U b c r g a n g , so erscheint auch die Selbstbeweg u n g des Lebendigen ohne vermittelndcn O b c r g a n g , z. B. ini Obcrgang v o m Schlaf zum Wachen oder im Obergang v o n lauernder R u h e zur B e w e gung, w e n n die Katze anspringt. M i t dieser W e n d u n g einer dvvaptq, die a u f s i c h selbst geht, weist Plato nach riickwarts wic nach v o r w a r t s , zuriick auf Heraklit, wie sich zeigeti liefie y , u n d v o r w a r t s auf die Lehre von der Selbstbewegung der Seele, von der aus er im »Phaidros< den groBen Seclcnmythos entwickclt - und a m Ende auch auf die B e w e g u n g s lehre der >Nomoi< und auf die >Physik< und die wwc-Lchrc des Aristoteles. K o m m c n w i r damit nicht tatsachlich in die N a h e der plotinischen Lehre v o n den drei Hypostasen. die in so eigenartigcr Weise platonische Dialektik u n d aristotelische wjt;c-Lehre zu mischen scheint? HeiBt das nicht, daB Plotin eine gemeinsame Wahrheit beider zur Entfaltutig bringt? DaB die Dialektik des Einen u n d Vielen von Plato selber auf Heraklit zuriickbezogen w i r d , verrat vor allem die ausdriickliche Anspielung a u f i h n im >Sophistcs< (242c), die zu Platos eigencr M o d c l l k o n s t r u k t i o n des Hcraklitismus ganz i m Widerspruch steht. Danach hatten es die ionischen M u s e n fur sicherer gehaltcn, Eines u n d Viclcs zusammcnzuflechten und zu sagen, daB das Sein Eines und Viclcs zugleich ist. Das wird dann durch das offenbar authentische Heraklit-Zitat illustriert: tiiaqxpoptvov da oitpfipinu. In der Tat lieBe sich das als die w a h r e heraklitische Lehre v o n d e m Einen, das sich im U m s c h l a g in sein Gegcnteil als das w a h r e Eine, als das h ampdv, erweist, durchgangig bestatigen. N i c h t n u r Tag u n d N a c h t sind eines, was Hesiod nicht wuBte —das Feuer u n d der D o c h t , der anbrennt, Schlafen u n d Wachcn, Lebendig- und Totsein, Kricg u n d Frieden, H u n g e r u n d Sattheit gchen ohne Obcrgang ineinander iiber u n d bezeugen damit die Einheit, die sie sind. Am E n d e zeigt dasselbe jener alles stcucrnde Blitz 1 0 : Es ist der >Blitzschlag aus 8 Zur >Charmidesi-Stelle vgl meine Arbeit iVorgestalten der Reflexion*, jetzt in Fid. 6 der Ges. Werke. S. 116-128. '' Vgl. dazu meine >Heraklit-Studien<, in diesem Hand, S. 80ff. 10 J T A N W A U L hat bereits in seinetn Parmenides-Kommentar S. 170f. auf diese lieziehung der platonischen Analyse a u f H e r a k l i t und insbesondere auf dieses Heraklit-Wore hmgewiesen. Vgl. auch N . H A K I M A N N , Platos Logik des Seins, S. 360 ff.
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dem Absoluten<, in dem des Feiiers Wandlnngen (zivpbqzpoziai) in ihr Auficrstcs und Hochstes aufsteigen, in das zivp ippovtpov, in dem das Ratsel und Geheimnis der F I'X'J anflcnclitct. Das Eine tritt auseinander und z u s a m m e n : ev u ov mi noXXd mi ptju ev pijie noXla (Parm. 155e 5 ). Als o b Heraklit hier artikuliert wurde, heifit es im Resumee des Corollars iiber das Plotzliche, das in keiner Zeit ist: ovzeeveotivovzenoXXd, ovze StaKpivezaiOVZEavyKpiveiai (157a 5 ). Steckt in dem Plotzlichen die Seele wic der Blitz? Vvxficemi Xoyoqeavzbv avfav (Heraklit Fr. 115 D K ) . Es ist ein verbindendes M o m e n t fiir diese iiber raschenden Entsprechungen, dafi die Selbstbewegung i m platonischen >Phaidros< nicht nur als die Auszeichnung der Seele eingefiihrt, sondern letzten Endes als der A n f a n g aller B e w e g u n g ausgezeichnet wird, a u c h j e n e r B e w e g u n g , die von andcrcm bewegt ist. Z w a r felilt in der Apodcixis des >Phaidros<, die den A n f a n g v o n B e w e g u n g (appj) so entschlossen betont, in dem der U m s c h l a g vom Nicht zum Sein n o t w e n d i g impliziert ist, jede Anspiclung auf cinc dialektische Paradoxic. Aber dafi im Wesen des Anfangs die Dialektik des U m s c h l a g s steckt, ist offenkundig. Sachlich scheint es iiberzeugend, dafi sich jeder A n f a n g einer B e w e g u n g oder eines Stillstandes der Fixierung seines Zeitpnnktes entzieht, wie Aristoteles im sechsten Buch der )Physik< auch sagt (Phys. Z 5 , 236a ] 4 ff.), und dafi dies auf Spontaneitat hinauslauft, also auf Selbstbewegung und damit auf >Seele<. Jeder A n f a n g ist nur Anfang, wenn er >von selbst< anfangt. So schlieBt Plato im >Phaidros< auf die Scclc als das U n g e w o r d e n e und U n s t e r b h c h e - denn sonst w u r d e der ganze H i m m e l u n d die ganze E r d e ineins zusammenstiirzen und alles zum endgiiltigen Stillstand k o m m c n (Phaidr. 245c). Es iibcrrascht daher nicht, dafi in der ausfuhrlichcn Bewegungstheorie der >Nomoi<, wenn die Selbstbewegung als die oberste und urspriinglichste, alien Anfang von B e w e g u n g bildendc dargestellt wird, der Begriff der pszaffoXrj ausdriicklich die Fiihrung erhalt: H95a piov appj ziq ainiov 'imai n/c KivijoEiiK andorjt; o.U?/ nAfjv ij zt]c avzijc; avzijv wv?/o«fJ?/(, ptTajioXr[. Die Vorgangigkeit der durch Selbstbewegung ausgezeichnet en Psyche gegeniiber dem Korper, auf die die Beweis fiihrung der >Nomoi< hinaus will, steht nun in einem Z u s a m m e n h a n g , der starker als alles andere die Kontinuitat des griechischen D e n k e n s v o n Parmenides bis hin zu Plotin bestatigt. GewiB hat Plato selber der spater so beriihmt g e w o r d e n c n W e n d u n g Vorschub geleistet, daB Sokrates die Philosophie vom H i m m e l heruntergeholt und unter den Mcnschen gefunden habe. Das zeigt insbesondcrc sein Sokratesportrat in der > A p o l o g i e s Im Lichte unserer U b e r l e g u n g e n zeigt sich aber: In Wahrheit ist es doch ein platonischcs Erbe, das Plotin vcrwaltct, w e n n er das D r a m a der Seele als ein kosmischcs Geschehen sicht. Er m a g dabei n o c h so oft Platos mythische Erzii hi weise d o g m a t i s c h n e h m c n u n d in Psychologic verwandcln. Es bleibt dcnnoch wahr, auch Plato ordnet die menschliche Seele und ihre Verniinftigkcit in die verntinftigc O r d n u n g des U n i v e r s u m s
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ein. Das geschieht nicht nur so, daB er die groBe Analogie von Seele, Stadt und Welt durchspielt und dem hochsten Vcrmogen der Sccle, dem iwc, der das Verniinftige vernimmt, in alien Bereichen die Fiihrung zuerkennt. Bs ist immer das Ganze des Seins, das in dieser Fiihrungs- u n d Herrschaftsordnung des VOK im Blicke steht, und daher ist es auch die Rationalitat des Bewegungsganzcn, an der sich die Verniinftigkeit der Vernunft zur Darstellung bringt. Es ist das verlaBliche Kreisen der Ges time, also die Kreisbewegung, und insbesondere ist es die Vereinigung der Standigkeit des Stehens und der Bewegtheit des Sichdrehens, die der Kreiselbewegung z u k o m m t , die ihm als ein Glcichnis des verniinftigen Denkens erscheint. Z w a r begegnet bei Plato nicht geradezu dieselbe Aufteilung von Denken u n d Gedachtem auf Kinesis und Stasis, wie sie Plotin v o r n i m m t . Abcr der Kreis der Selbigkeit, der im >Timaios< (37c) dcr Erkenntnis und dem wahren Wissen zugeordnet und dem Kreis der Andersheit, der immcr anderen Ansichten und Mcinungen, gegeniibergcstcllt wird, erscheint als der gerade Kreis der taglichen Sonnenbahn ncben dem schiefen Kreis ihrer Jahresbewegung, und das wird in den >Nomoi< (898a) als ein schones Bild fur das Wesen des Denkens wieder aufgenommen, Dabei ist es die allmahliche Ausbreitung der Bewegung v o m ruhenden Zentrum iiber die langsame Bewegung der inneren Kreise bis hin zu der hochsten Geschwindigkeit der auBersten Peripherie des Kreisels, was Plato fasziniert. Dieses Zugleich von Stand und Bewegung, das der Kreisel zeigt, versinnlicht das ratselhafte Wesen des Denkens, das seinerseits wirklich in keiner Zeit ist. Bekanntlich hat Plotin sein Leben lang iiber die Entsprechung zwischen dem Denken und der Kreisbewegung spekuliert. Er hat seine Ansatze dafur bei Plato u n d Aristoteles finden konnen, und er hat den fiir die antike Bewcgungslehre ratselhaften Phanomencn, die der Kreisel mit seinem Z u gleich von Ruhe, langsamer und schneller B e w e g u n g zeigt, noch mehr abgewonnen. Es ist offenbar das Sichverteilen der Bewegung iiber das Ganze, von dem in den >Nomoi< (893d) die Rede ist, das ihm die Einheit von Leben, Seele und Geist zu sinnlicher Erscheinung bringt. So ist das Ergebnis unserer Untersuchung des platonischen >Parmcnides< als Vorbcrcitung des Neuplatonismus nicht darauf beschrankt, Lfmdeutungen und U m f a r b u n g e n platonischer Motive fcstzustellen 11 . In aller Verset-
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Die Forschung iiber die Anfange des Neuplatonismus, die 1928 von D u n n s eingeleitet und von T H E I T E R , M E R L A N und K R A M E K weitergefiihrt worden ist, hat gewiB diese Anfange naher an Plato herangefuhrt, hat aber fiir den >Parmemdes< zu keinem klaren Resultat gefiihrt. In dieser Hinsicht scheint mir meine hier vorgelegte Studie ein Schritt vorwarts zu sein. Vgl. auch W. D E U S E , Untersuchungen zur mittelplatonischen und neuplatonischen Seelenlehre (Akademie der Wissenschaften u n d der Literatur, Mainz 1983), bes. S. 118.
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zung in ein neucs M e d i u m sind cs doch echte platonische Impulse, die bei Plotin ihre F o r t e n t w i c k l u n g finden. Dazu paBt, daB schon unter den u n m i t telbarcn N a c h f o l g e r n Platos, wic v o r allem Merlan gezeigt hat 1 2 , die Rolle der Seele i m m e r m e h r ins Z e n t r u m riickt. Dafi jetzt Plotin auf den Parmcnides-Dialog ganz selbstverstandlich in dieser Weise Bezug n i m m t , muB zwar nicht auf eine altere Tradition zuriickgchen. Aber i m m e r Inn hat cin gewisser M o d c r a t u s 1 3 bereits die drei Einheiten - das I'v, den vovc, u n d die y'VX'j — xaia wvc rivbayopfAovt; unterschieden. Das klingt sehr nahe an Speusipp an, der nach Aristoteles (Met. Z 2 , 1028b2i) fiir das mathcmatische, physische u n d psychische Sein eine j e eigene ap\T/ a i m a h m . Wenn sich in den platonischen Dialogen n u r verstreute Anspielungcn finden u n d weder im >Parmenides< noch im >Sophistcs< bei der Dialektik v o n MiT^fTzcund f77«(j?t,cinc klare B e z u g n a h m e auf die 'fi>x>l oder den vovc begegnct, so entspricht das dem Anspiclungs-Stil der platonischen Schriften. Hier durfen wir o h n e weiteres mit ungeschriebenen Lehren rcchncn. jcdcnfalls steht fest, der Parmenidcs-Dialog als solcher k o n n t e schwerlich den AnlaB geben, das T h e m a der ipvxj in ihn hineinzutragen. D a r i n scheint die Folgczcit (Plotin) gefolgt zu sein, o h n e die b e s o n d e r e Brisanz des Begriffs des e&ifvqc. zu nutzen. Der einzige K o m m e n t a r z u j e n e r Diskussion des e^aiipvric, den wir besitzen, Damascius 1 4 , ordnet den hier anklingenden Zeitbegriff ganz selbstverstandhch der Problematik der Seele ein. Die christhche Wendung, die beim P s e u d o - D i o n y s i u s (im dritten Brief an Cajus) begegnet, gebraucht den Begriff zwar, aber doch n u r als einen unter anderen Bcgriffen, die das christliche M y s t e r i u m der M e n s c h w e r d u n g Gottes umschreiben. - Bezichungcn zu dem »Nu« der Mystik sind m i r nicht bekannt. Die voile Problematik des ffofyw/c ist erst von Kierkegaard im >Begriff der Angst* mit den dialektischen Mitteln des deutschen Idcalismus und in der Kritik an diesem entfaltet w o r d e n . Eincs ist frcilich auffallend, u n d das ist, daB Plotin die dialektische Z u s p i t zung, die im Wesen des U m s c h l a g e s liegt, o f f e n k u n d i g ganz zuriickgedrangt hat. Selbst der Begriff des U m s c h l a g s spielt bei i h m keine Rolle. Darin liegt ein bedeutsamcr H i n w e i s auf sein Eigenstes u n d N c u c s . Wcr von U m s c h l a g spricht, m a g in seinem Gcheimnis n o c h soviel an verborgener Wahrheit gewahrcn, er halt gleichwohl an dem Begriff v o n Sein fest, den Parmenides formuliert hat: Sein ist das, was nicht umschlagt. Plotins Seelenbcg riff dagegen hat den Begriff des Seins ganz in den Begriff eines auf sich selbst bezogenen K o n n e n s , einer bvvapic, die sich selbst meint,
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MtKLAN, From Platonism to Neoplatonism, a.a.O. Nach Simplicius in Phys. 230.36ff. (Diels). Da ma sei us, Dub. et solut. II, 262ff. (Ruelle).
PHILIPP
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aufgehoben 1 5 . £ r hat damit der Reflcxivitat im Feldc ontologischer Fragen crstmals die Prioritat eingcraumt. Er steht an der Schwelle eines neuen Zeitalters. - N u n stehen auch wir heute an der Schwelle einer neuen Epochc, die wir erst langsam h e r a u f k o m m e n sehen. Aber sie weist in die u m g e k e h r t e Richtung, auf eine Riickbildung des souvcranen SelbstbewuBtseins der M o derne und der Begriindung aller Erkenntnis auf die Subjektivitat. So k o n n t e uns Plato heute m a n c h m a l naher erscheinen als das m o d e r n e Subjektivitatsdenken und vielleicht gar naher als der Platonismus der Spatantike, die sich dem christlichcn Zeitalter der Innerlichkcit zuneigt 1 6 .
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ZLI einem weiteren Bedeutungsaspekt, den der Begriff der 5vvap.ic; bei Plotin hinzugewinnt, vgl. meine Abhatidlung (Denken als Erlosung*, in diesem Band, S. 414f. Uber die theologische Wendung, die der Begriff des bei Pseudo-Dion ys Areopagita gefunden hat, ist W F . R N E R B E I E H W A L T E S , Die Paradoxic des Augenblicks (Philos. Jb. der Gorresgesellschaft 74 [1966/67J) zu vergleichen. O b hier wirklich der Passus aus dem >Parmcnidesi nachgewirkt hat? £ i n e klare Bezugnahme auf den (Parmenides. liegt gewifi bei Damaseius (Dub. et solut. II, 264, 25) vor, hat aber der Sache nach kemen Anhalt: i'ai-p-ifi: — ex nl-r ayavziw Doch beachte man das Vorkommen des tmtologisehen Problems des zeitlosen Ubergangs und des >Parmenidesi-Zitats in den Tischgesprachen bei Aulus Gellius (VII, Cap. XIK, 10f.).
12. Zur platonischen >Erkenntnistheorie<* (1988)
Wenn ich einer Sammlung von PI a to-Studien in der englischcn Ausgabc den Titel >Dialog und Dialektik< gegeben habe, so hatte ich ein Doppeltes im Auge. Einmal mochte ich damit im Begriff der >Dialcktik< die fiir ein richtiges Verstandnis Platos unerlafiliche Dimension der offentlichen Rede und Gegenrede betonen, in dcr Plato selber den sophistischen MiBbrauch der neuen Kunst der Argumentation erfahren hat. Er weiB u m das ayiymv itudoqiwvMyiov (Phileb. 15d) und weiB doch auch, daB die >Logoi< der einzige Weg zu wissender Erkenntnis sind. Das war die Wendung, die das griechische Leben mit Sokrates nahm, und so sah Platos eigene historische Situation aus, als er die sokratische Frage neu zur Geltung zu bringen unternahm und seine eigenc neue wissende Unwissenheit, die menschliche Weisheit der Dialektik, entwickelte. Alle Fragen, die man sinnvoll an Plato richten kann, konnen nur eine A n t w o r t fmden, wenn sie in dieser Perspcktivc fragen. Wir sind also hier von der GcwiBhcitsforderung weit entfernt, der fur das wisscnschaftliche BewuBtsein der M o d e r n c Aussagen oder Urteile als solche genugen miisscn. Was in dieser lebensweltlichen Dimension dcr Logoi der GcwiBheit entspricht, ist nur v o m anderen aus, dem Partner des Gesprachs, uberhaupt zu beschreiben, vielleicht am besten durch die deutschen Ausdriicke >Unbeirrbarkcit< und >Unverwirrbarkeit<. "Aniwot; ist das bezcichnendc griechische Stichwort fiir den Sinn des >Wissens<, das im dialogischdialektischcn Gcsprach auf die Probe gestellt ist. Das wird mit dem crkenntnistheoretischen Begriff des Fallibilismus, den White hier gebraucht, nicht voll getroffen. Uberhaupt macht der crkcnntnisthcoretische Ausgangspunkt das Eingehen auf die mir von seiner Kritik gestellten Fragen schwierig. Mir ist, als sollte ich von dem alten N a t o r p , der mem Lehrer war, auf den jiingeren N a t o r p zuriickgehen, der in Plato cbcnfalls nichts als >Erkenntnistheorie; suchte. Dabei geht es mir bei meinem Widerstreben nicht so sehr um den Mangel an historischem Sinn, den ich bei diesem MaBstab der Epistemologie empfinde, sondern positiv um ein Sachproblem, das ich in * Dcr Aufsatz ist fiir eine von Griswald veranstaltete Sammlung gesclirieben, in dcr jeweils eine Kritik von den Kritisierten bcantwortet wird.
Zur platonischen >Erkenntnistheorie<
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Plato wiedcrzuerkennen meine und das in der erkenntnisthcoretischen Vcrf r e m d u n g unkenntlich wird. Fiir mich ist es nicht nur die historischc Situation, in der die Sophistik den Sinn fiir Wahrheit durch ihren gleiBenden Schein verunsichcrt hatte. Es ist eine bis heute fortdaucrnde Anfechtung aller philosophischen Rede, die unser Denken als Menschen bedroht und verfolgt. Wir konnen es viellcicht >lceren Scharfsinn< nennen. Das gibt es besonders in der von Sokrates geiiffneten Dimension der Frage nach dem Guten, die alles Wissen von Realem uberfragt und hinterfragt. Auf dieser >transzendenten< Idee ist durch Aristoteles ein Weltbild crrichtet worden, das zwei Jahrtausende lang unser Wissen von der Welt war und Philosophie hieB. Damit ist es vorbei. Da aber Philosophie auch im engeren modernen Sinne reine Vernunftwissenschaft ist - bleibt sic als solche dem dialektischen Verwirrungsspiel weiterhin ausgesetzt. Nicht umsonst hat Kant im zweiten Hauptteil der >Kritik der reinen Vernunft*, in der transzendentalcn Dialektik, die unvermeidbarc Antinomik der reinen Vernunft aufgedeckt. Er tat es im Blick auf die moderne Wissenschaft, die den methodischen Weg zu gcsicherter Erfahrung s-Erkenntn is ausgebautund zugleich den Endursachen ihre Lcgitimitat bestrittcn hat. Sie erst hat iiberhauptjencn anderen Begriff von Wissenschaft in die Welt gesetzt, der durch methodisch gcsichcrte Objektivitat ausgezeichnet ist. Was scitdcm als Philosophie oder Metaphysik betrieben wird, ist u m seine Legitimation vcrlegen und hat cs unvermeidlichcrweise schwer, sich nicht Sophistik schelten zu lassen, ebenso schwcr, wie es Plato hatte, wenn cr sich den Biirgcrn seiner Stadt verstandlich machen und das FehlUrteil des attischen Gerichts, das Sokrates vernichtet hatte, rcvidieren wollte. So erkennen wir in Plato auch uns selbst. Das ist der Grund, w a r u m Platos Dialoge uns wie cin Grundbuch der Philosophie ansprechen. DaB Plato nur in gedichtctcn Gesprachen seine eigene Selbstabgrcnzung gegen das bloBe Gcrcde und seine Sclbst-Unterschcidung v o m Tun der Sophisten hinterlassen hat, ist kein Zufall. So okkasionell auch seine Schriftkritik im >Phaidros< motivicrt ist 1 , sofern sic geschriebene Redcn im Auge hat, und ahnlich im 7. Brief, sofern dieser den plagiatorischen Vorwitz Dionysius' II. bloBstellt - sein eigenes Verhalten stimmt dazu, N o c h seine eigene >Wcisheit< nemit cr Kunst des Gcsprachs, Dialektik, so daB das wirkliche Denken in seinen Augen immer wie cin zu fiihrendes Gesprach ist. Sogar die von semcm Sokrates emgefuhrte Lehre von den Ideen (fiir die im Englischcn die ungliickliche aristotelisiercnde Obersetzung (forms* iiblich ist - als ob Plato cine Matene kanntc) wird im Parmcnidcs-Dialog dem Sokrates von seinem groBen und iiberlegenen Inquisitor Parmenides entwunden und in cincm wahrcn Taumcl wilder Argumcntationsreihen zer1
Ausfiihrhcher da?u >Unterwegs zur Schrift?!, in diesem Band, S. 262ff.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
setzt. Wir miissen cs ernst nehmen, daB aoxpia, c o m p l e t e knowledge of all of its - the thing's - relations with all other things*, nur fiir Gotter ist - und trotzdem ist mcht all unser Reden leercs Gerede. Es sind drci Fragen, die White stellt und diehclfcn sollen, Platos Ansichten dariiber zu bestimmen, in wie weit philosophische Einsicht, die im Dialog, d. h. im M e d i u m der Xoyot, gewonnen worden ist, in diesem M e d i u m auf Dauei auch verbindlich festgehalten werden kann: 1. Wie weit reicht f u r Plato die prinzipielle Unsichcrheit u n d Atigrcifbarkeit, der sich alles sprachlich Formulicrte ausgesetzt sieht? Gibt es iiberhaupt »infallible" philosophische Satze. die j e d e r W i d e r l e g u n g standhalten k o n n e n ? 2. Wenn nicht, liegt datin dieser a m ivcr stile Fallibilismus* aller R e d e an der Schwache des M e d i u m s , den Logoi, in denen sich f u r u n s M e n s c h e n die Einsicht zu vollziehen hat? O d e r liegt es an der Sache selbst. die sich cincr gesichertcn Erkenntnis a u f g r u n d ihrer eigenen U n b e s t i m m t h e i t (»mde ter mir lateness«) entzicht? 3. Falls es nicht an der Sache selbst, den Jdecn und Ideenvcrhiiltnissen, sondern doch am M e d i u m der Erkenntnis liegt, gibt cs d a n n in Platos A u g e n nicht tur d e n Menschen noch die M o g h c h k e i t einer anderen Z u g a n g s w e i s e zur Sache selbst, sei es d u r c h ein geeigneteres M e d i u m , als cs die Logoi sind, sei es - w o r a u f W h i t e hinaus will - durch cmcn u n m i t t e l b a r c n , >unverstclltcn< Z u g a n g zur Welt der ' d e e n (»a c o m p l e t e dircct apprehension of the Forms")?
Die erste dieser Fragen schcint mir nun aus den in diesen cinleitenden Bemerkungen dargelcgten Griindcn iiberhaupt nicht an Plato gerichtet zu sein, und wenn wir das >Gute< im Auge haben, auch nicht an uns. Die crkenntnistheoretische Frage, die den universellen Fallibilismus impliziert, fragt hier ins Leere. Die Widerlegbarkeit, die Plato gewiB aller Rede nachsagt - darin hat White durchaus recht - , will gerade nicht ebenso unbedmgt eine Widerlegung der Seele sein. So sagt es der 7. Brief (vgl. 343d). Die zweite Frage kann iiberhaupt nicht an Plato gestellt werden, wenn man ihn selber ernst n i m m t . SchlieBlich ist das antipov nach Plato cin Wesensm o m e n t des Seins, o b das nun als Prinzip der Zweiheit oder als die \vpa oder sonstwie in tnythischer Rede in seinen Dialogen eingefuhrt wird. So ist der crkenntnisthcoretische Ausgangspunkt von White auch hier schwer mit dem Text zusammcnzubnngen. Ganz sicher meint Plato mit seinen >Idcen< nicht >facts about reality*. Plato weiB nur in mythischer Rede von so etwas wie >facts< zu sprechen. Wovon cr Wissen sucht, muB etwas sein, was Menschen aus Griindcn wissen konnen, so daB sic dafiir Rede und A n t w o r t zu stehen vermogen. Das sind gewiB, wenn wir in Folge die englische Obersctzung von >Idee< mit >Form< annehmcn, Fnrmen der Rcalitat. Das mag man dann in seltsam modernistischer Rede mit White tacts about the forms* nennen. Ich stimme gewiB zu, falls White damit nur sagen will, daB bei Plato keine Spur dessen zu finden ist, was der Verfasser KonzcptuaHsmus nennt. Wenn m a n wahlen miiBte, und das dcutet Plato im >Parmenides< selber an
Z u r platonischen -Erkemitrustheoric
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(132b ff.), waren die ideen immcr noch eher als standige Vorbilder (napaiirlypaia eoiwia) zu vcrstchen denn als blofic vmjpaza. Freilich will der Parmcnidcs-Dialog zeigen. daB das kcinc wirkliche Alternative ist. Wer die Flucht in die Logoi und das fkaXeyeodat ernst nimmt, wird weder mit dem Begriff des Konzeptualismus noch mit dem Begriff des Realismus hier etwas anfangen konncn. Die Ideen sind fiir Plato dcr eigentliche Granit des Scins. GewiB darf m a n die >ldcc< nicht zur bloBen Hypothese v e r k o m m e n lassen. Ebensowenig darf man aber die Welt dcr Formen, der Ideen, fiir die Gotter vorbehalten und von ihr getrennt fiir die Menschen die Welt der Erscheinungen reserviercn wollen, wie das wohl dem Nominalismus der modernen Wissenschaftstheorie noch mchr cntsprache. Der Parmenides-Dialog lehrt unwiderlcglich, daB die Zwei welt en lehre nicht Plato ist. Vielmehr ist vorauszusetzen, daB die Erschcinungen an den >Formein teilhaben. Aber wie sie es tun, ist fur Plato kein Problem. Es definiert vielmehr die Rede voti Idee, daB die Erschcinungen an ihr teilhaben. Plato war kein Platoniker, dcr zwei Wclten lehrte. Fiir diesen Punkt sei mir erlaubt, auf meine Akadernieabhandlung >Dic Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles* 2 zu vcrwciscn. Die dritte Frage, ob es em Schauen solcher Formcti oder Ideen ohne die Logoi und getrennt von lhncn gibt, wird von White am Exkurs des 7. Briefes genaucr ausgcarbeitet und verlangt dahcr an diesem Text Priifung. Dieser Text, an dem White seine Frage entwickelt, gibt uns in der Tat in Gestalt weniger kostbarer Seiten festen Boden unter den FiiBen. Ich habe die Bestimmung und die Absicht dieses Textstiickes in meiner Abhandlung iDialektik und Sophistik im sicbcnten platonischen B r i e f 3 aufzuklaren versucht. Aber das ist hier nicht so wichtig. Es geht vielmehr wiedcrum um cin Sachproblem. Hier muB ich dem geschatzten Kollegcn mit aller Entschiedenheit widersprechen. >Dircktc<, >unvertnittelte< Erkenntnis soli das sein, was hier v o m ersten bis zum letzten Wort als notwendige Vermittlung und unvermeidhche Schwache aller vermittelnden Faktorcti eingefiihrt wird? Der ganze Text will doch zeigen, wieviel Vermittlung die Erkenntnis des Fiinften braucht und wie leicht dadurch Vcrwirrung entstehen kann, daB cs dieser Vermittlung bedarf. M6)k, >kaum<, >mit Miihc<, >gcrade noch<, >am Ende<, >viclleicht<, mag auf diesem Wege der Vermittlungen wirkliche Erkenntnis in die Sache zum Aufleuchtcn k o m m e n . Es ist der Weg des Erkennens selbst, die Sache durch alle diese Vermittlungen hindurch festzuhalten als das, was sic ist, und sich nicht voreilig einnehmen zu lassen durch das, wic sie einem v o r k o m m t . Das ist der Unterschied von li und noiox, von dem Plato hier spricht (343c). Das lieBe sich mit Hilfc unserer Kenntnisse iiber die gnechischcMathetnatik sehr schon illustricrcn, und so habe ich es in 2 5
Vgl. in diesem Band, S. 136ff. Jetzt in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 90-115.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
mciner Abhandlung getan. Der Beweis fur die Quadratur des Zirkcls etwa, der durch den Augenschein gefiihrt wird, ist ein solches Beispiel. Ein anderes ist, wenn einen die eigenen emgewurzelten Vorurtcile blind machen, so daB einem der gute Wille zur Einsicht fehlt. So ist cs in der Protagoreischcn Polemik gegen die Mathematik der Fall, wenn er dort von dem Tangenten-Winkel spricht. Da ist es fiir uns sofort deutlich, daB dieses Gebildezu Unrecht >Winkel< heiBt und daB daraus das Sophisma entsteht. Bei all dem muB man iiberdics im Auge behalten, daB das Beispiel >der Kreis< nur ein Beispiel ist, und zwar fiir weit schwiengcr Festzuhalten des, namlich fur die apm\ und Kama und die dXr/deta und das yevdos »des ganzen Seins«. So sagt es der Brief ausdriicklich (vgl. 344b). Es scheint mir daher nicht gliicklich oder besser uberfliissig, eine gute Episteme (imaifytti) von einer schlechten Episteme zu unterscheidcn. Es gibt keine schlechte Episteme. Wenn man eine tnathcmatische Figur, die bloBe Abbildung sein soli, fiir die Sache n i m m t , ist das eben keine Episteme. Ebenso gibt es keine gute oder schlechte Definition. Die richtige Definition des Kreises, die Plato anfiihrt, ist an sich eine gute. Sie fiihrt aber zur Erkenntnis nur dann, wenn man sich vom Blick auf die Sache, den Kreis selbst, nicht ablenkcn laBt. Sie selbst ist und bleibt >schwach<, wie alle Rede. Eine Sonderkraft, ohne Wort und Anschauung und priifendes Gesprach die Sache selbst unmittelbar wahrzunehmen, sozusagen einen rcinen VOIK, gibt es fiir uns Menschen gerade nicht. Das scharft Plato uberall ein, im >Kratylos< wie im >Symposion<, wo Diotima die Schwache der inim'qpTj und die Notwendigkeit immer erneuter U b u n g und Wiederholung betont. Vollends gilt cs fiir den Parmenides-Dialog im ganzen, w o 111 fast wortlichem Anklang an den 7. Brief die uncrmtidliche O b u n g des Hin und Her geschildert wird, durch die allein Einsicht zustande k o m m t . Ncin, der reine N o u s muB auch, sofern er >in der Seele* ist, verfiihrbar sein. Plato w-eifi wohl, daB N o u s bei uns nic ohne die Seele ist. Als N o u s in der Psyche erscheint er auch im Argumcntationszusammenhang des 7. Bricfes. Ebenso ist es anderswo. Mit den Gottern, die ungestort von ihren Himmelswagen aus das Firmament der ewigen Formen anschauen diirfen, mag cs anders sein. Wir M e n schen brauchcn die wohl wollen den Argumentationcn, die F.vprvtk e~\t:yj(ot, die in langem, gemeinsamem Gesprachsleben (nvCf/v) zu bestchen sind, und das so gut wie all die anderen Faktoren von Sprache und Anschauung. Beirrbarkcit und Verwirrbarkeit aller vier Faktoren, die der 7. Brief aufzahlt, ist die unabwendbare Bcdingnis unserer Zeitlichkeit. Das heiBt keineswegs, daB Verfiihrung immer gelingen muB. Der Macht des Geredcs steht die in den Reden gclegenc dialektische Encrgie gegeniiber. Sie ist nnstande, i'pyv, nicht Aoyip die Verfiihrung letztlich zu bannen. Auch Aristoteles weiB das. Der vov c, der auf die dpx"i geht, ist nicht wic ein f r o m m e s Aufschlagen des Auge.s. Dies >Auge der Seele< ist nur im Logos da,
Z u r platonischen >Erkenntnistheorie<
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und kann nur mit dem Logos >sehen<. Das 6. Buch der Nikomachischen Ethik zeigt das deutlich. D o r t ist wirkliches Wissen als ooxpia ausgezeichnet, wenn in ihm >Nous< ist. Diese Vollcndung von Wissen, die dort >Sophia< heifit. gibt es aber nur mit mioitftin oder • Ebenso ist N o u s auch in der Vollendung der ypovijau; nur mit dem Logos da, der zur konkreten Realisierung der cthischcn Arete fiihrt (vvfiovXia). So werden im 6. Buche der N i k o machischen Ethik die Weisen des Wissens, in denen sich der Mensch bewcgt, streng unterschieden. Aber der N o u s hat seine Besondcrheit. Er begegnet nicht >fiir sich*, sondern nur in der > Sophia* und in der >Phronesis<. Auch >Metaphysik< <9 10 ware meines Erachtens miBverstanden, wenn m a n das Bcrtihrcn, das dem N o u s dort zugeschricben wird, von dem Logos trennen wollte, in dem es statthat (Met. <910, 1051b24). Der 7. Brief zeigt das gleiche. Wenn es da heiBt, daB der N o u s immerhin der Sachc am nachsten k o m m t , so offenbar deshalb, weil er von sich aus keine andere Bestimmung hat, als die durch die Sache. Wir kennen das seit Anaxagoras und erst recht bei Aristoteles und erkennen es bei Aristoteles wieder, wenn der N o u s tma$?i<; heiBt. Das schlieBt keincswegs aus, dafi auch er vom Verdunkeln bedroht ist, z u m Beispiel durch emotionalc Stiirme, so daB der Blick auf die dpycii nicht festgchalten wird 4 . Es gilt daraus zu Icrnen. Logos und Logoi sind nicht nur das Ausgesagte in ihrem Sachgehalt und in ihrer Schliissigkeit. Es darf nicht nur ausgesprochcn sein. Es mufi auch verstanden sein. Der Exkurs des 7. Briefes handelt genau davon, wie das napayiveodai der tnian\p!} geschicht (Ep. VII, 342a). Wir haben die gleiche Erfahrung. Mit d e m Schreiben und dem Nach-Schreiben und d e m Nach-Rcden ist es nicht getan, wenn es sich um Philosophie handelt. Man mag das in unscrer auf Sicherheit und GewiBheit eingeschworencn wissenschaftlichen Welt von heutc ungern horen, aber cs ist doch so: Sprache bleibt mit dem, was sie zu sagen vermag, notwendig hinter d e m zuriick, was sie meint. Das Kai (hope/ SIUKEIV gait schon fiir Plato als die grofic Verfiihrung, die im Logos lauert. Die Erfahrungswissenschaften, die wir Wissenschaft nennen (wie hatte Plato sie cigenthch genannt? Doch gewiB nicht intozripii!), haben ihre eigenen, anderen Formen der Bcglaubigung, bzw. der Falsifikation. Das reine Denken ist aber auch nicht einfach ein vages Hinphantasieren. Auch es bedarf der Beglaubigung. Sic baut sich, gefahrdet genug, im Miteinandcr von Rede u n d Gegen rede auf, u n d am Ende in der Kontinuitat eines nie endenden Gespraches. Erkennen meint, an diesem Gesprach teiigewinnen. Deshalb nennt Plato das Denken >DiaIektik<. So stimme ich White durchaus zu, dafi Platos Kritik an der Schwache der Logoi mcht z u m Skeptizismus fiihrt, sondern zur Reinigung von allem Dogmatismus. Darin bin ich ganz seiner Meinung. Ich bin auch weit ent4
ENZ5, 1140biS: tv&ixov ifafanm q apy^.
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fcrnt zu leugncn, daB der Weg der Philosophic, den das Abendland eingeschlagen hat, die U b e r w i n d u n g des rhctorisch-sophistischen Schcines cinschlieBt und daB dafiir die Mathematik und ihre Oberbietung durch die platonischc Dialektik cincn entschcidcndcn Schritt darstcllt. Gleichwohl steht Plato sozusagen noch vor der Trennung der >Wissenschaft* von dem. der sie >han. Mathematik stellt zwar fiir ihn bereits ein wundcrbares Vorbild klarer Rationalitat dar. Die Artikulation des Wcltganzen, die in Sprache nicdergelegt ist, kann kein besseres Vorbild finden als dies Ideal der Rationalitat, das die Mathematik ist. U n d doch bleibt auch sie ein Weg der Seele. Sie dient, denken zu lernen und f u r seine Ansichtcn Rede und A n t w o r t stehen zu lernen. U n d so ist und bleibt es die Schwache der Logoi, die Plato immer im Auge hat und nicht erst im Alter, im 7. Brief, erkennt. Sein ganzes Ideal der Dialektik ist von dem Wissen um die Schwache der Logoi begleitet. Wenn man meinen sollte, der logische Genius des Aristoteles habe dern ein Ende gemacht, verwechselt man meiner Meinung nach >die Mathematik* mit der Weise, wie auch sic allein durch Sprache vermittelt wird und damit also mit Rhetorik und Dialektik vcrbunden ist. N o c h mehr verwechselt man aber die thcoretische Einsicht m die logischc Funktion des Denkens und Rcdens, die Aristoteles sowohl in der wissenschaftlichcn Argumentation der Mathematik wie in den Mitteln der Rhecorrk analysiert hat, mit d e m Denken der D m g e selbst. Dieses bleibt der Bannung durch die fortdauernde Faszination ausgesctzt, die von Rhetorik ausgeht. >Rhctor< heiBt der Mcister der Obcrzcugungskraft (Gorgias). Bis in die beginnende Neuzeit hinein hat daher die Dialektik (im herabgesctzten Sinne des aristotelischen Gebrauchs des Wortcs) und die Rhetorik die bestimmendc Rolle fiir die Schulwissenschaft der artes libcrales gespielt. Das von Euklid aufgestellte Ableitungssystem blicb zwar unangetastet, aber eben auf sich begrenzt. In ihm war kcinc Wirklichkeitserkenntnis cingeschlossen. Wenn ich nun in Whites eigenen Plato-Studicn zum besseren Verstandnis seiner ohne Frage gehaltvollen Kritik an meinen Plato-Studicn Rat suche, bin ich in einer schwierigcn Lage. Es ist betriiblich genug, daB ich mehr als cin halbes Jahr brauchtc, bevor ich in Deutschland sein Buch 5 iiberhaupt erstmals einschcn konnte. Soviel Wasser flieBt noch immer zwischen unserem klcinen Kontinent u n d der englischsprcchenden Welt. Auch geht mir die Auskunft, die ich aus seinem Buch gewann, wiederum nicht lcicht ein. Sein Leitmotiv ist >epistcmological realism*. >Realismus< kann hier, wie der Zusatz zeigt, nur im modern en, nachkantischen Sinne verstanden sein. Dann ist mir seine A n w e n d u n g auf Plato unvcrstandlich und ebenso die A n w e n d u n g des Begriffs auf die anderen groBen Dcnkcr der Tradition. Wer ist in diesem Sinne nicht Realist, daB die Realitat der Welt nicht v o n uns, von unserem Denken oder unserem 5
N . P.
WHITE,
Plato on Knowledge and Reality. Indianapolis 1977.
Z u r platonischen >Erkenntnistheorie<
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Meinen abhangt? Dcr transzcndcntalc Idealismus kantischcr Provemcnz jcdenfalls kann in diesem Sinne nur n u t Kant als empirischer Realismus bezeichnet werden. Mir schcint cs bei der Lektiire von Whites cigenem Buch so: Der von White zum Erkenntnistheoretiker stilisierte Plato ist selber in der schlimmen Lagc, auf Fragen antworten zu sollen, die er nicht stcllt. Mein eigeuer Versuch, Plato zu verstehen, befindet sich gegeniiber Whites Rezension in der gleichen schlimmen Lagc. Von meinem Verstandnis Platos aus stcllt sich die Sache so dar: White n i m m t die Flucht in die Logoi, von der Sokrates in seiner Autobiographic im >Phaidon< (98 ff.) spricht, fiir cine blofie Phase in dcr Reihe der platonischen Versuche, mit d e m episternologischen Problem der Ideenlehre fcrtigzuwerden. Er erkcnnt darin nicht die epochale Wendung, die Platos ganzes Denken bezeichnet u n d die zur Entwicklung der Physik und der auf dem theologischen Ansatz begriindctcn Mctaphysik des Aristoteles und einer Tradition von zwei jahrtausenden geflihrt hat. So n i m m t er auch den 7. Brief als eine blofie Phase. Sie soil die Zweifel bezeugen, die Plato g e k o m m e n scicn, ob der sprachliche Zugang zur Welt wirklich zuvcrlassig ist. White scheint alien Ernstes zu meinen, dafi der >Kratylos< so etwas j e hatte sagen wollen. Jcdcnfalls kann ich mir nur so erkiaren, dafi dcr vcrdicntc Plato-Forscher in einem aufiersprachlichen, unmittclbaren Zugang zu den Ideen einen Ausweg sucht. Ich will nicht dariiber urteilen, ob nicht eine solche idcaltypische K o n struktion, wie sie hier vorgelegt wird, indem die behandelten Dialoge in eine logische Folge von Problcmlosungsversuchen gegliedcrt werden, ihre eigenc hcuristischc Fruchtbarkeit besitzt. Ich futile mich in dcr angelsachsischen Denkweise auch wenig zu Hausc. Aber cs wundert mich, dafi ein so kluger, solider und gelchrtcr Forscher wie White ausgerechnct den 7. Brief unter dem hcrmcneutischen Druck seiner erkenntnisthcoretischen Voreingenommenheit so umdreht, als ob Plato hier an der Dialektik vorbei eine >unmittclbare< Erkenntnis dcr Realitat a n g e n o m m e n hatte. Es ist fiir Plato die Realitat der >Formen< all ein, der Ideen, um die es sich in der Erkenntnis handeln kann, und von ihnen mochtc ich doch festhalten, dafi diese Formen ihrer eigenen Definition nach nie >der Fall sein< konnen. Sie fallen uns nicht zu, wie es die Realitat unserer Wirklichkeitserfahrung tut. Aber sie sind auch nicht eine Welt fiir sich oder fiir die Gotter. Das Wissen der Gotter hat Plato fur den Menschen nicht in Anspruch nehmen wollen. Dcr Mcnsch ist auf den Weg bestandiger Vermittlungen angewiesen, die Plato Dialektik nennt. Dabei bleibt es. N u n will ich nicht verkennen, dafi das Inceressc dcr modernen Erkenntnistheorie an Plato dazu verftihrt, in Plato solche Positioncn hincinzulcscn, wie etwa den erkenntnistheorecischen Sensualismus und Rclativismus, den man in der Gestalt des Protagoras zu finden meint. In der Tat steht Protago-
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ras als der Ahnherr der antiken Skepsis vor uns, seit Plato ihn im >Thcatct< so stilisiert hat. Indessen glaube ich inzwischcn, insbesondere durch die Arbeit von Hermann Langerbeck 6 , mehr iiber Plato gelernt zu haben 7 . White geht wic N a t o r p v o n der modernen Wissenschaft aus, wenn er auch nicht, wie N a t o r p allenthalben tat, in Plato Kant zu erkennen sucht u n d in der Idee das Naturgesetz. Aber daB >Wisscnschaft< mathematische Naturwissenschaft ist, das ist fur ihn so selbst verstandlich, wie es das fur N a t o r p war. Ich verkenne nicht, daB es die groBe Tat der Gricchcn war, die Mathematik als Wissenschaft zu entwickeln, u n d ich finde es durchaus begreiflich, daB die antike Skepsis sich vorwiegend gerade gegen die Mathematik richtet. Jedenfalls richtet sie sich nicht gegen die E rfah run gs wissens chaften, wie auch immer sic das genannt hatte — wahrschcinlich iowpiTi —. So etwas lohnt keine Widerlegung. Wenn man Plato in seinem wirklichen Beitrag zur Philosophie verstchcn will, muB man im Auge behalten, welche Funktion das Vorbild der Mathematik fur ihn hat. Sie beruht darauf, daB die M a t h e matik Vernunftwisscnschaft ist und nicht Erfahrungswissenschaft. Deshalb bildet sie den ersten Schritt zur eigenthchen Wissenschaft, namlich zur Dialektik der reinen, aller Erfahrung iiberlegenen und von aller Erfahrung unabhangigen Vernunftwissenschaft. GewiB meint cine solche Wissenschaft die >Realitat<, aber die >wahre< Wirklichkeit, das heiBt diese gemeinsame Welt, wie sic in Worten und in Reden begegnet, die eben die Ideen verniitteln. Ich muB erneut daraufhinweisen, daB das, was wir Realitat nennen, bei Plato als ein >Gemisch< von nepaq und aniipov gedacht wird, also von den Ideen her, die in ihrem Inncnsein in den Dingcn begegnen. Das ist im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft keine wirkliche Erklarung und gestattet kein Wissen von der >Reahtat<. Was wir Realitat nennen, wird nur in mythischen M e t a p h e m vermittelt, etwa in der Tatigkeit des Demiurgen im >Timaios< oder in der Mischung des Lebenstranks im >Philebos<. Es bleibt dabei, das Sein der Ideen in den Erscheinungen, diese sogenannte Teilhabe, ist f u r Plato eine nie befragte, weil selbstverstandliche Bcdingung fiir die Annahme von Ideen. Wenn man fiir Ideen im Englischen >Formen< sagt, kann man nicht genug betonen, daB das Aristoteles ist u n d nicht Plato, und nur dann versteht man die aristotelische Kritik an der Ideenlehre. So mochte ich mcin Interesse an der Begegnung mit dieser Stellungnahme zu meinen Studien damit beschlieBen, die allgemeine Aussage zu machen: Wenn man an einen Text eine Fragestcllung herantragt, auf die er keine A n t w o r t enthalt, dann entstehen Scheinprobleme. Als Schiiler N a t o r p s habe
* H. L A N G E R B E C K , A O S 1 Z E I 7 I P Y Z M I H . Studien zu Dcmokrits Ethik und Erkenntnislehte. Berlin 1935. Vgl. dazu meme Rezension in Ges. Werke Bd. 5, S. 341-343. 7 Vgl. da2u meine Arbeit >Mathematik und Dialektik bei Platoi. in diesem Band. S.290-312.
Z u r platonischen >Erkenntnistheorie<
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ich mich miihsam und cin Leben lang von diesem Vorgehcn freizumachen bemulit. O b die Forschung, der ich in der Gestalt der Arbeit von White aus AnlaB seiner Kritik bcgcgnet bin, ahnlich groBe Verdienstc hat, wie sie N a t o r p ehedem unleugbar hatte, kann ich leider nicht beurteilen. Es ist schlimm genug, daB ich das eingestehcn muB. Aber em Vierteljahrhundert der Isolation, wie wir cs durchlebt haben, hinterlafit in memcr Generation seine Spuren. Ich mull dabei bleiben, daB bei Plato von Dialektik die Rede ist, ob im >Phaidon<, in der >Politeia< oder im >Phaidros<, >Sophistes<, >Parmenidcs< oder im 7. Brief. I m m e r handelt es sich darum, die sophistischen Verwirrungskunste im Gebrauch von Argumenten zu bestehen und das, was in der Rede wirklich gemeint ist, als Idee festzuhalten. Das scheint mir platonisch zu scin, und es scheint mir unser philosophischcs Erbe. Es liegt jenseits der Frage des modcrncn crkenntnistheoretischen Gegensatzes von Idealismus oder Konzeptualismus und Rcalisinus, und ich meine, Philosophie tut gut, nicht nur Philosophie der Wissenschaften scin zu wollen, sondern sich auch in diesem Jenseits bewegen zu lernen, das zugleich das Diesseits unscrcr >Lcbenswelt< ist.
13. Dialektik ist nicht Sophistik Thcatct Icrnt das im >Sophistes< (1990)
Der >Sophistes< gehort zu den sogenannten eleatischen Diaiogen, die man ebensogut die >dialektischen< Dialoge nennen konnte. Der >Theatets der >Parmenides<, der >Sophistes< und der >Pohtikos< stellen cinc Rcihc dar, die vielleicht von dem >Phaidros< eroffnet wird. Die platonische Dialektik, die sich in dicscr Reihe entfaltct, fiihrt die sokratische Gcsprachskunst fort. Sie n i m m t aber auch ausdriicklich auf die Argumentationsweise der Eleaten Bezug. Sokrates weist im >Theatet< auf Parmenides hin und kniipft im Dialog > Parmenides* an die Zenonischen Paradoxien an. Dialektik kann eben beides heiBen, vor allem die Kunst der Gesprachsfuhrung selber, die in besonderer Weise mit der Gestalt des Sokrates verbunden ist, der sein gauzes Leben lang unablassig Gcspriichc mit den Menschen auf den StraBen und den offentlichen Platzen Athens gefiihrt hat. N o c h der lctztc Lcbcnstag des Sokrates war von einem Gesprach iiber die letzten Dinge ausgefullt. Das hat Plato im >Phaidon< geschildcrt. Auf der anderen Seite aber sind es die platonischen Dialoge, die man fiir die spateren halt und in denen die Person des Sokrates zuriickzutreten beginnt. Sie sind mit Nachdruck auf die Verfahrensweise der clcatischen Dialektik bezogen. So faBt die platonische Dialektik bis in das Wort hincin die sokratische Frage nach dem Guten und die eleatisch-platonische Frage nach dem >Scin< in eins. Das ist ein enger Zusammenhang, der von Plato cifters betont wird (z.B. ausdriicklich Rep. VII, 534b). M a n darf sich das kaum als eine biographische oder gedanklichc Entwicklung des Dcnkers Plato zurechtlegen, wic cs lange Zeit iiblich gewesen ist. Zw r ar hat die PlatoForschung unseres Jahrhunderts iiber die Chronologie der platonischen Schriften im groBen einen Konsens erreicht. Eine gcnaucrc A n o r d n u n g der iibcrliefertcn Schriften zu rckonstruieren oder gar sie in einen biographischen Rahmen zu spannen ist aber nie zu cincm sichcrcn Ergcbnis gelangt. Derartiges konnte auch bei einem so maskenkundigen und spielfreudigen Schriftstellcr, wie Plato war, nie gelingen. Was man mit Recht als gesichert ansehenkann, i s t - n e b e n den Ergebnissen der Sprachstatistik - die Rolle, die Sokrates in den platonischen Schriften spielt. Da sind zucrst die friihen
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sokratischen Dialoge, die 1111 allgemeincn aporctisch enden 1 . Dann folgen groBe mythische Gebilde, wie vor allem die >Politeia<, in dcr Sokrates als inspirierter Sprccher figunert. In einigen anderen Schriften ist die Gestalt des Sokr3tes zu besonders plastischer Darstellung gelangt, und was das fiir Platos philosophischc Aussagen bedeutet, habe ich am >Phaidon< und am >Symposion< unter dem Titel >Plato als Portratist* aus gegebenem AnlaB behandelt 2 . In einem dritten T y p u s platonischer Dialoge tritt die Gestalt des Sokrates gegeniiber der methodischen Konscqucnz des Gedankens so zuriick, dab inzwischen sogar die Ftihrung des Gespraches anderen iibcrtragcn ist. Im Z e n t r u m der philosophischcn Interpretation stchen seit langem die eleatischen Dialoge. Nach dem Vorgang von Hegel und seinen Schiilern hat auch die spatere deutsche Plato-Forschung, vor allem durch Paul Natorp, Nicolai Hartmann und Julius Stenzel, viclcs bcigetragen, und ebenso die franzosischc, die italienische und englischsprachige Forschung. In dicscti eleatischen Dialogen scheint nicht nur die Gestalt des Sokrates zuriickzutreten, sondern auch die Ideenlehre selber. Man hat geradezu von einer >Krisis der Ideenlehre* gesprochen, die sich in der Spatzcit, vor allem 1111 Parmenides-Dialog, ihren Ausdruck geschaffen habe. Demgegeniiber habe ich von fruh an geltcnd gemacht, daB die platonische Wendung zur Idee immcr schon die Unterscheidung verschiedener Ideen voncinandcr mitdenkt. So geht es ausdriicklich im >Protagoras< um die Unterscheidung derTugenden, im >Phaidon< u m die Zusammengehorigkeit von Seele und Lcbcn und den AusschluB des Todes von der Seele, und in aller sokratischen Gesprachsfiihrung ist methodischc Ziclsichcrheit des U n terscheidens am Werk, die Plato 111 den spateren eleatischen Dialogen bis zur Dialektik entwickelt hat. Es ist die >Methode der Dihairesis*. dcr U n t c r scheidung, die jetzt die Gesprachsfiihrung bchcrrscht. Wenn Stenzel das Prinzip der Dihairesis als die Wendung ansah, die nach dem Aufstieg zur Idee des Guten die Wendung z u m Abstieg brachte, so war daran gewiB etwas Richtiges. Aber was ware der Aufstieg zur Idee ohne das Beziehungsgefiige der Ideen, durch das dcr Logos fiihrt? Das gilt fiir die aporetische Gesprachsfiihrung des platonischen Sokrates so gut wie fiir die Hinfuhrung zur Unterscheidung des Sophisten vom philosophischen Dialektiker, die der Eleatim platonischcn >Sophistcs< vollbnngt. So tritt uns die innere Einheit der platonischen Dialektik und die Konti-
1 Das hat mit Sicherheit AnstoR gegeben und Kritik geweckt. U n t e r Platos Namen spricht sich das im >Kleitophon< aus, und vielleicht sollte man dem spiel freudigen Geiste Platos zutrauen, daii er wirklich der Verfasser war. Als Vorspiel zur >Politeia< Platos durchaus nicht unwiirdig. 2 Jetzt in diesem Band, S. 228-257.
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nuitat ihrer Entfaltung i m m e r niehr ins BewuBtsein. Die Welt der Zahlen spielt dabei eine besondere Rolle, fiir deren grundlegende Bedeutung die >ungeschriebene Lehre< Platos zeugt 3 u n d die als Paradigma fiir die Idee immer mit itn Blick ist. Auch muB m a n sich, was bisher k a u m geschchen ist, den inneren Z u s a m m e n h a n g der mythisch cingefiihrtcn Lehre von der Anamnesis, der Wiedererinnerung, im >Phaidon< (72cff.) nnd im >Menon< (81cff.) mit der Dialektik der Dihairesis bewuBt machen. Aristoteles hatte ganz recht, wenn er an der Dihairesis vermiBtc, daB sie als eine bloBe BegrifTsunterscheidung nicht den Charaktcr eines logischen Beweiscns besitze 4 . In Wahrheit macht cs die Auszeichnung der Dihairesis aus, daB sie das gar nicht sein will, sondern die N a h e zur Kunst des Gespraches wahrt. Die Dihairesis bildet das Gcsprachsgeschchen selber ab, das schrittweise von einem Einverstandnis zum nachsten Einverstandnis fortschreitet. Die Logik, die in diesem Verfahren liegt, flndet sich im >Menon< angedeutet. D o r t wird auf die Verwandtschaft der ganzen N a t u r zuruckgcfuhrt 5 , daB mit dem A u f k o m m e n einer Erinnerung ein ganzer ProzcB des Fragcns, Suchens und Erkennens einsctzt. Spater wird dann seit dem >Phaidros< und vor allein in den eleatischen Gesprachen das Verfahren der Dihairesis geradezu vorexerziert. Was jeweils zur weitcren Verstandigung fiihrt, ist dabei i m m e r Wiedererkennung, auf die die Z u s t i m m u n g des Partners zu alien Begriffsunterscheidungen gegriindet ist. In der platonischen Dialektik lebt der sokratische Dialog fort. Das hat bisher in der philosophischen Diskussion der platonischen Dialektik kaum eine Rolle gespielt. Es ist ja auch verstandlich, daB m a n angesichts des esotenschen Charakters dieser Dialoge den dialogischen Aspekt der platonischen Dialektik wenig beachtct. Man hat sie mehr wie eine philosophische Lehrschrift zu lesen gesucht. Es k o m m t hinzu, daB sowohl Aristoteles im Altcrtum wic die im Altcrtum wurzelnde platonische Tradition in der Neuzeit einen wirkungsgeschichtlichen Z u s a m m e n h a n g eroffnet haben, dem die neuere Plato-Forschung am Ende gefolgt ist. So hat man mehr von Aristoteles und von Hegel aus als von Sokrates und dem Dialoggeschehen aus das philosophische Gesprach mit den eleatischen Dialogen gesucht. N u n ist die neuere Plato-Forschung, wic es nicht anders sein kann, obendrein durch das Faktum der modernen Erfahrungswisscnschaften m entscheidender Weise bestimmt gewesen. Das gelangtc bis zu scinem Extrem, als die ncukantianische Marburgcr Wiedcrerneuerung des kantischcn D e n kens sich sogleich auf Plato berief (H. Cohen, >Platos Idecnlehre u n d die
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Vgl. meinen Beitrag .Platos ungeschriebene Djalektik<, jetzt in Bd. 6 der Gcs Werke, S. 129-153. 4 Anal. pr. A 31; vgl. auch Anal. post. B 5. s
Men. Hlc—d: rrjt; if/iiottcc, itnnaric. />vyyrvov( ovatjt;.
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Mathematik;, 1878) und dabei insbesondere fur den Begriff der Idee den Begriff der Hypothesis in Anspruch nahtn, mit dem im (Phaidon*, wie es scheint z u m ersten Mai, die Theorie der Ideen eingefuhrt wird. Damals (1903) hat Paul N a t o r p auf diesen Begriff der Hypothesis aufbauend die Idee als das Naturgesetz interpretiert und die Konstruktion eines Plato errichtet, der em Kant vor Kant gewesen ware. Er stutzte sich dabei auf bckannte Passagen im >Phaidon< (lOOaff.), in denen Sokrates die (Hypothesis des Eidos< einfiihrt. Aber der platonische Sokrates tat das, u m sich den Verfangnissen und Widerspruchhchkeiten zu cntziehen, die bei jeder Erklarung des Entstehens von etwas und seines Vergehens, also auch bei dem Problem des Todcs, ins Spiel k o m m e n . Wenn er etwa die (Hypothesis* der Zwei einfuhrt (101c), will er vermcidcn, dafi der Widerspruch zwischen Entstchung durch Addition und Entstehung durchTeilung den Geist verwirrt. In Wahrheit hat Sokrates damit erstmals die eidetische Dimension aufgeschlossen, die der Sache nach die eleatische und pythagoreische war. Der wahre Sinn dieser (Hypothesis*, die sich im (Phaidon* findet, ist im Text klar genug ausgesprochen, Wenn wir der aristotelischen Darstellung in E N A 4 und in EE A 8 folgen, hat Plato von den Zahlen als solchen uberhaupt keine Ideen angenommen, und er hat sie auch wirklich nicht annehmen konnen, da sie j a nach dem Gesetz der Scrie, dem np&iov und vowpov, von uns crzcugbar sind. Es handelt sich also bei dem Wortgcbrauch von i'nwkoK an dieser Stelle ganz allein u m das Argumentationsverfahren, wie cs eben in der Mathematik bereits bekannt war. Was folgt aus einer Annahme? Dieses Verfahrcn ist noch ganz von der selbstverstandlich.cn Voraussetzung frei, mit der neuzeitliches Denken von Hypothesen Gebrauch macht, namlich von der Bewahrung an der Erfahrung. Die neukantianische U m d e u t u n g , die wir bei N a t o r p finden, konnte sich freilich auf den platonischen Text berufen. Wenn man den Satz im (Phaidon* liest, dann heifit es da: ((Wenn sich aber einer an die Voraussetzung selbst hiclte, wiirdest du den nicht gehen lassen und nicht eher antworten, bis du das, was von ihr abgeleitet wird, betrachtet hattest, o b cs miteinander stimnit oder nicht stimmt.« (l()ld). Ein solcher Satz ist in seinem Bezug des >es stimmt* (mrprpuvzi i) thm/wei) zweideutig. D e r Satz crhalt einen der platonischen Mcinung ganz fremden Sinn, wenn m a n solches Priifcn im Sinne der Priifung an der Erfahrung versteht, wie das im modernen Gebrauch des Hypothesebegriffs selbstverstandlich ist. (Una instantia ncgativa* entscheidet iiber die Unhaltbarkeit einer T h e o rie. Das gehort zu den Grundsatzcn der Erfahrungslogik, die schon Bacon formuliert hat. Plato bzw. der platonische Sokrates meint dagegen hier, wie der Zusammenhang zeigt, Prufung der Hypothese an ihrcn Folgerungen, ob diese miteinander (7/.U//.lwO stimmen. Sie soli vcrhindern, dafi man eine Annahme zur Diskussion stellt, deren Sinn, d. h. deren logische lmplikationcti einem nicht klar sind, so dafi cs auf leichte Weise moglich ist, durch lccrc
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A r g um en t at i o n sk iin s t e im Stile der Streitkunst jener Zeit Vcrwirrung zu stiften. So wird als ausdriickliche Konsequenz des hypothetischen Verfahrens bezeichnet, dafi der wahre Dialektiker eben mir Annahmen iiberhaupt zur weiteren Diskussion stellen darf, nachdem iiber deren Implikationen bereits voile und gepriifte Klarheit besteht. Es ist etwas fundamental anderes, ob die Priifung eine logische Priifung sein soil, die die innere Konsistenz eines Argumentationszusammenhangs garantiert, o d e r o b sie in ihrem sachlichen Gehalt an der Erfahrung gepriift werden soli. Letzteres ist in der Tat die selbstverstandliche Voraussetzung bei dem Begriff der Hypothese, welche die moderne Wissenschaft macht. So hat auch die Marburgcr ncukantianische D e u t u n g sich besonders auf Kepler berufen, der in einem beriihmt gewordenen Traktat die wohlmeinende A b m i n d e r u n g zuriickwies, mit der die Freunde des Kopernikus die revolutionise Wendung im astronomischen Weltbild auf cinc bloB mathematische Hypothese zu rcduzicren u n t e r n o m men hatten 6 . N u n ist bekannt, daB der Begriff der Hypothese zuerst und ausschlieBlich in der Mathematik A n w e n d u n g gefunden hat. Der >Menon< Platos spiegelt das ganz unzwcidcutig (86e). Aber es ist ebenso klar, daB seit Galilei und Kepler der Anspruch auf Erfahrungsgcltung und damit auf Realitatsgeltung den urspriinglich nur mathematischen Hypothcscbegriff zum Fundament moderner Wissenschaftsthcoric hat werden lassen. So haben dann auch N a t o r p und Cassirer und die Marburger Schulc immer unter Bcrufung auf Kepler diesen modernen Begriff der Hypothese im Sinne, und das heiBt, dafi sic Plato zu einer Art Vorlaufcr der modernen Erfah rungs wissenschaften umstilisiert haben. Das neukantianische Unternchmcn steht in einem noch viel weiter reichenden Zusammenhang, der die philosophische PI a to-Interpretation bestimmt hat, namlich in dem Wirkungsbereich des deutschen Idealismus, des letzten grofien Vcrsuches der Modcrnc, das Erbe der Metaphysik mit der modernen Erfahrungswissenschaft zu vcrsohnen. Schon Fichte und erst rccht Schelling und Hegel stimmtcn darin iibcrcin, daB die Dcduktion der Grundbegriffe, der apnonschen Begriffe des Verstandes, am Ende das Apostcriori der Erfahrung voll cinholeund deren Wahrheit sozusagen a p n o risch festige. Auch H e r m a n n Cohen hat auf diese Weise die Anpassung an die moderne Forschung v o r g e n o m m c n , indem er die Konstruktion des Gegcnstandes der Erfahrung mit Hilfe der Tnfinitesimalmcthode als die eigentliche Auszeichnung und Bewahrung des Idealismus erkllirte und N a torp hat das in Plato hineingelesen. Der transzendentale Idealismus hat fiir das ganze philosophische Plato-Verstandnis weitreichende Folgen gehabt 7 . f, J . KEPLEK, Mysterium Cosmographicum (1^96), Cap. I. In: Gcsammclte Werke, Band I. Munchcri 1938, S. 14ff. 7 Die Beitrage der historischen Schule (von SciiLEitRMACHEit bis WIT AMOWTTZ) lasse
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So sail m a n das entsclieidendc Problem der platonischen Ideenlehre, v e r fiihrt durch Aristoteles, in der Teilhabe des Einzelnen an der Idee. Meine T h e s e ist: Das ist u b e r h a u p t kein platonisches P r o b l e m , sondern eine platonischc Voraussetzung. Plato hat i m m e r die Teilhabe des Einzelnen an der Idee als eine Selbstverstandlichkeit angesehen, die die A n n a h m e von Ideen u b e r h a u p t erst sinnvoll m a c h t . Er w a r deswegen auch in dcr sprachlichcn K c n n z c i c h n u n g dieses Verhaltnisses iiberaus unbefangen, ob er nun A n w e senheit, Gemeinschaft, Teilhabc, Vcrflcchtung, M i s c h u n g oder wic i m m e r nennen mag, was das Verhaltnis des Einzelnen z u m Allgemeinen ist (vgl. Phaid. 100d 5 ff.). Wenn m a n bedenkt, daB Plato, der v o n Aristoteles mit Bedacht zu den P y t h a g o r e e r n gerechnet wird, das Paradigma dcr M a t h c m a t i k im A u g e hat, so ist fiir ihn das Eine u n d das Viele fia UAXXA, IDXXA) und nicht das jeweils Einzelne Gegenstand der Erkenntnis. Es i s t j a o f f e n k u n d i g , daB die mathematischen Gegenstande einer besonderen B c g r i i n d u n g dcr Vcrvielfachung iibcrhaupt nicht bedurfen. Es ist vielmehr, wie Plato etwa im >Sophistes< von einem so formalen Begriff wie dem i'.ir.pox sagt, daB cs ins Einzelne zerteilt ist. D c r A u s d r u c k dafiir ist KaiaKSKeppauopEvov (258ej). Die Vielfachheit ist ebenso ursprimglich wie die Einheit, und das schimmcrt selbst noch durch die aristotelische Beschreibung der zwei Prinzipien der Eins u n d der Z w e i heit durch. Es war erst Aristoteles und seine Kritik an der Mathematisicrung der Wirklichkeit, die er in Plato sah und noch an der mythischen Beschreibungswcisc der >Physik< des >Timaios< kritisierte, durch die er die Teilhabe des Einzelnen a m Allgemeinen u b e r h a u p t erst zum Problem erhob. Wie wenig Plato das tat, geht vor allem aus dcr einleiteiiden Sektion des Parmcnidcs-Dialogs hervor. Da w i r d die Frage gestellt. wie die Erscheinung an der Idee teilhaben soli, u n d alle A n t w o r t e n d e s j u n g e n Sokrates w e r d e n ad a b s u r d u m g e f u h r t . Dagegen w e r d e n diese Fragen durch den alten Parmenides selbst offenbar als u n b e d e u t e n d beiseite gesetzt. Der alleinige Sinn des Problems der Methexis besteht in dem Verhaltnis dcr Ideen zucinander. Das, u n d n u r das, ist das w a h r e Problem der Teilhabe bei Plato. Dainit wire! deutlich. daB die v o m N e u k a n t i a n i s m u s - aber nicht n u r von ihm - vcrsuchccn Erklarungen der platonischen Dialektik an einem entschcidenden P u n k t an den D i n g e n vorbcigchcn. Nicolai I l a r t m a n n hat in scharfsnmiger Ausarbeitung eine T h e o r i e der absteigenden Methexis entwickelt s . H a r t m a n n s gehenncs Zicl lag darin, auch noch die Schranke zu iibcrschrciten, wclche das unteilbare Eidos, das awpov EJSCK, fiir Plato u n d fiir Aristoteles u n d damit ich hier ebenso wie die entsprcchetide ausliindische l : orschung unerwiihnt und verweisc auf den Sammelbencht von E. M. M A N A S S E (Bcihehe 1 [1957J, 2 [1961J und 7 [1976J der Philosophischen Rundschau). 8 Platos Logik des Scins ( 1 9 0 9 ) , die N A I O I ; I < in dcr 2 . Auflage von Platos Ideenlehre ( 1 9 2 1 ) ausdriicklich zitiert.
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fiir die Dialektik und die Philosophie unbcstreitbar darstellt. Die Neukantianer muBten, wic es in Natorps beruhmter Formulicrung ganz deutlich ist, Kant im Sinne des nachkantisch.cn Idealismus umdeuten. N a t o r p kann den einzigen Sinn des >Dingcs an sich< nur darin sehen, daB es die unendliche Aufgabe des Bestirnmens des Geg ens tan des darstelle. Das entspricht den Erfahrungswisscnschaftcn der Neuzeit, daB die Annaherung an das Einzclnc bis zur vollen Bestimmung und Beherrschung der Erfah rungs wirklichkeit den eigentlichen Richtungssinn von Erkenntnis bildet. DaB es in Wahrheit immer nur ein Eidos, das unteilbare Eidos, ist, bei dem das Verfahren der Spezifikation notwendig zu scinem Ende k o m m t , ist fiir jemanden, der ganz von der Dimension der Rede und der Sprachc ausgeht, wie fur Plato und Aristoteles, eine Sclbstvcrstiindlichkeit. Unter Voraussetzung des m o d e r nen Erfahrungs- und Wissenschaftsbegriffs haben die >idola fori< dagegen keinen Erkenntniswcrt, wcil fiir ihn das konkret Einzelne das eigentliche GcwuBtc scin soli. So war Plotins bekannte Frage, ob cs nicht auch v o m Emzelnen Ideen gebe (Enn. V7), dem Denken des 19. und 20. jahrhunderts besonders sympathisch. Natiirlich stand bei Plotin nicht die moderne Naturwissenschaft im Hintergrund und deren B e g r i f f d e s Prinzips der Individuation durch Raum und Zeit. Wohl aber gilt das fiir die gesamtc Neuzeit und damit fur den Seinsbegriff der Wissenschaft. Das hat die moderne Plato-Forschung beirrt. Es gilt auch noch fiir Stenzels bedcutende Abhandlung iiber >Arete und Dihairesis< und fiir die allgemcine Pcrspcktive, die Stenzel daran schloB. Er hat ein gauzes Kapitel in seinem bahnbrechenden Friihwerk darauf verwandt, als Ziel der Dihairesis das AWJTOV CISOc in cincr Weise auszuzeichncn, die mehr der von Xenokrates und Aristoteles betriebenen Einschrankung der Ideenlehre auf die ywoet ovia entsprach. Ahnlich w u r d e von der m o d c r nen Forschung ja auch das Verhaltnis der >Politeia< zu den >Nomoi< verstanden, indem man die Bucher iiber die Gesetze als eine Anpassung an die Wirklichkeit interprctierte — obwohl dicsc Anpassung, wenn m a n schon so sieht, nicht gerade uberzeugend weit geht. Ganz cntsprcchcnd sah dann auch das Bild aus, das man sich von der Entwicklung des Aristoteles machte, und das von H e r m a n n Usener u n d dann durch Werner Jaeger gezeichnet worden ist. Danach war Aristoteles anfangs noch Platonikcr und hiclt an der Ideenlehre fest, bis er mehr u n d mehr ein empirischer Forscher wurde. Dieses Schema folgt in Wahrheit der selbstverstandlichen Analogie zu den Erfahrungswisscnschaftcn, die das Denken der neuzeitlichen Wissenschaft bchcrrscht. Auch nach der Preisgabc desjaegerschen Schemas ist cs durchaus noch nicht in seiner grundsatzlichen Unangemessenheit ancrkannt. In meinen Augen ist der Parmenides-Dialog cin unwiderleghches D o k u m c n t fiir die Tatsachc, daB Plato das Problem der Teilhabe des Einzelnen an der Idee fiir gcgenstandslos halt. So hat er die
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Dialektik zum eigemlichen Trager des philosophischen Verfahrens erklart, gerade weil sie sich in der Dimension des Eidos und der cidetischen Verbal tnisse, das heiBt also der Verhaltnisse der Idccn zueinander, bewegt. Das schlieBt aber ein, daB nicht die Trcnnung der Idee v o m Einzeinen, sondern erst die Verbindung von Ideen miteniander Wissen und Erkcnntms ausmacht. Der cigcntlichc Sinn des >Chorismos< ist die Trennung des Wissens von der Zufalligkcit ungewisser Erfahrungen. N u r weil die Idee des Wartnen mit der Idee des Feuers wesenhaft verbunden ist, kann, wie der >Phaidon< ausfiihrt, Schncc niemals ohne zu schwinden die Anwesenheit von Warme und Feuer aushalten. Auf dieser Basis wird im >Phaidon< der SchluB auf die wcscnhaftc Verbindung von Seele und Leben gezogen und der AusschluB des Todes und damit der Bewcis der Unsterblichkcit der Scclc der Seele dieses Mcnschcn hier (!) - begriindet. Das erst sind die eigentlichen Schritte der Erkenntnis. Die bloBe A n n a h m e des Eidos als solchcn ist, wie wir schon im >Phaidon< lernen, eine einfaltige Sache. Sie ist freilich eine Voraussetzung fur alle wirkliche Erkenntnis, aber sic ist nicht selbst eine solche. Wenn man das in seiner vollen Tragweite ermiBt, dann ist die spaterc Wendung der eleatischen Dialoge und die ausdriicklicheThematisierung der Dihaircsis in Wahrheit nur die Folge und richtige Ausarbeitung dessen, was die Wendung zu den Logoi und die Wendung zum Eidos im >Phaidon< meinte. In den Dialogen >Menon< und >Phaidon< tritt die Wendung in der mythischen Form der Anamnesis auf. Schon die Einfiihrung der >Anamnesis< im >Menon< zeigt, daB es bei der >Anamnesis< um die Abwehr des cristischen U n f u g s geht und um die Abwehr solcher Scheinargumente, mit denen die Moglichkeit des Suchens, Fragcns und Erkcnnens iiberhaupt bestritten wird. Auch im >Phaidon< zielt die Hypothesis des Eidos, wie oben gezeigt ist, darauf, daB sich Denken gegeniiber alien sophistischen Verwirrungskiinstcn in seiner Sachgerechtigkeit erhalt. Denken ist nicht allein das Z u s a m m e n schauen von Viclem zur Einheit des Eidos, das in der Bcdeutungseinheit der Worter begegnet, sondern es ist dariiber hinaus dies, daB das Gcmcintc von andcrcm auf bestimmte Weise unterschieden wird. Damit ist das gegenseitige Verhaltnis zwischen Ideen impliziert. Der cristischc Mifibrauch des Argumentierens beruht eben a u f b e w u B t e r oder unbewuBter Begriffsverwirrung. Denken und Wortgebrauch schlieBt ein, daB man das Viele auf die Einheit des Gemeinten zusanimensieht {ijvvopuv eiqeveiSoc). Diese Wendung zur Idee fiihrt, wie der >Phaidon< zeigt, in Abwcndung von dem Irrgarten der Erfahrungsvielfalt, zu den Logoi, die man seither Dialektik nennt. Fur das Denken der modernen Wissenschaft liegt darin freilich eine Art Erkenntnisschrankc. Erkenntnis beschrankt sich hier auf das Verhaltnis von Ideen und die Durchglicderung des Gemeinten, die in einem jcwcils letzten unteilbaren Eidos das von alien geteilte Ziel der Verstandigung erreicht. Das
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ist in Wahrheit das Grcnzzicl, auf das wir alle angcsichts der Gemcinsamkeit der gedeuteten Welt jcwcils ziistreben. Es liegt im Wesen der Sprache. Ich vermag nicht zu sehen, wic m a n diese Grundverfassung alles Sprcchens anders anschen kann, als wie Plato sic als ein Verhaltnis von Ideen beschrieben hat. Das m a g >idcalistisch< klingen. Aber die Ersctzung des Eidos oder der anschaulichen Einheit des Gemeinten durch den Begriff der Regel u n d ihre Verwendung, die man dagegen gcltcnd macht, scheint mir nur eine andere Beschreibungsweise fiir die gleiche eidetische Wendung, die wir alle in Wahrheit vollziehen, wenn wir auch nur Zcichcn verwenden oder den M u n d aufmachen. Was m a n in der modernen Wissenschaftsthcorie als >IdeaHsmus< oder als >Essentialismus< abwehrcn mochte, ist von dem modernen Wissenschaftsbegriff aus gedacht. Das, w o r u m es sich bei Plato und Aristoteles handelt, hat aber einen grundsiitzlich anderen Stcllenwert in der >Lebenswelti. Wissen meint da nicht ein Wissen im Sinne des Hcrrschaftswissens, das einen Erfahrungsbcreich bchcrrscht. Es ist ein Ordnungswissen, das weiB, daB im Geschehen U n o r d n u n g und unbeherrschbare Zufalligkeit v o r k o m m t , so daB allem sogenannten Wissen eine andere Grenze gesetzt ist als die Erfahrung. An der entscheidenden Stelle in der platonischen >Politeia<, w o von dem Absticg, der von dem voraussetzungslosen Anfang ansgcht, die Rede ist, endet dieser Abstieg nicht bei dem »Dieshicr«, sondern endet in Ideen {icXvvia viqliSrj Rep. VI, 5IIC2). N i m m t man das Dialoggeschehen, das im >Sophistcs< dargestellt wird, i m Sinne dieses Wissenszicls, so lcuchtct sofort ein, daB sich die sokratische Dialogik in der platonischen Dialektik vollcndct. Der Parmenides-Dialog liest sich von da aus bcreits als eine Art eleatischer Selbstkritik. Sie klingt durch die geheime Einigkeit der Eleatcn mit dem jungen Sokrates und mit der platomschcn Dialektik durch. Das gleiche gilt von der Situation, mit der das Gesprach im >Sophistes< zwischcn dem Fremden aus Elea und den anderen Teilnchmcrn einsetzt. Da wird glcich am Anfang, bei der BegriiBung des Gastes aus Elca, die damonische Macht der Dialektik fuhlbar gemacht. In der Tat wuBte m a n in Athcn, was da aus GroBgnechenland heriibergekommen war, ob es nun die R h e t o n k des Gorgias oder die mit Antithesen arbeitende negative Dialektik des Zenon war, welchc die sophistische Kukurrevolution auslosten. So wird einem gleich zu Beginn des >Sophistes< der ganze Ernst des Themas bewuBt gemacht. Gibt es iibcrhaupt einen Unterschied zwischen dem Sophisten u n d dem Philosophen? Es kann nicht verwundcrn, daB sich mit dieser Frage die Frage nach dem wahren Politiker vcrbindet, die in dem anschheBenden Dialog, dem >Politikos<, seine Ausfiihrung gefunden hat. In beiden Fallen kann m a n sich fragen: Sind alle Dialektiker Sophisten und sind alle Politiker Dcmagogcn? In den griechischen Stadtstaatcn spieke die Kunst der Rede und die Kunst des Streitgespraches eine so f u n d a m e n t a l politische Rolle, daB m a n sich w i r k -
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lich fragen muBte: Geht es in diesen Kunsten iiberhaupt u m Wahrheit? Driickt nicht Protagoras mit scinem pragmatischen Relativismus genau das aus, was im politischen Leben von dam als gcspiclt wurde, und kamen nicht die ehrgeizigenjungen Leutc gerade deshalb zu Protagoras, weil eben diese neuen Kiinste, Rhetorik und Dialektik, ihnen politischen Erfolg versprachen? So werden bei Plato ja auch die Meister der Redekunst ihrer U n w i s senheit uberfiihrt, u n d die Rhetorik wird im >Gorgias< als Schmeichelkunst angeprangert. Man glaubt sich doch in einer ganz anderen Welt, wenn es sich um wirkliches Wissen handelt, und wirkliches Wissen war in der damals aufbliihenden Mathematik vorbildlich errcicht. Die Kunst bloBer Redcn und leeter Dialektik gchoren einer Welt des Scheins an. So kann man auf keinen festen Grund von Wahrheit gelangen, weil der Wcllenschlag der Reden alles iiberschwemmt. Das muB sich der fragen, der eine Wisscnschaft wic die der Mathematik kennt, wo in solchen bloBen Rcden Wissen sein soil. Theatet ist es so gcgangen. Er und sein Lehrer, der Mathematiker Theodoros, haben sich aufgrund dieser Erfahrung von der frcundschaftlichcn Beziehung zu Protagoras und von der Kunst der bloBen Rede abgewandt, u m sich auf das feste Land mathematischen Wissens zu rettcn. Auch der Parmenides-Dialog liiBt es nicht an Andeutungen fehlcn, wie gefahrlich der MiBbrauch der Dialektik scin kann, wenn einen die Wellcn der Argumente betauben. Die Vorfiihrung, die der alte Parmenides in dctn platonischen Dialog gibt, kann das noch heute vcranschaulichen. Hat diese Dialektik iiberhaupt einen Gehalt? Der Leser befindct sich in volligcr Hilflosigkcit. Die spatantike allcgorische Interpretation dieser Dialektik konnen wir gewifi nicht im Ernst annehmcn. Auch der m o d e r n e Interpret und Forscher hat an dem Sinn des Ganzen seine Zweifel. Ist es am Ende reine Spielerei? Fiir Plato muB es etwas anderes gewesen sein. Das zeigt schon die respektvolle Art, 111 der Parmenides und Zenon geschildert werden, und insbesondere das Wohlwollcn, das sic dem j u n g e n Sokrates entgegenbringen. So spielerisch die Argumentationen ausschen, die Parmenides da vortragt, so soil man gewiB nicht zweifeln, daB auf diese Weise sacherschlieBende Rede eingeiibt wird. Das findet ausdriickliche Bestatigung darin, daB der greise Parmenides den jungen Sokrates ermuntert und ermahnt, er solle sich nur i m m e r weiter fleiBig in solchen dialckti sehen Gesprachen iiben, auch wenn sic wie bloBcs Geschwatz aussahen (aboXcnyia Parm. 135ds). Mit der Zeit werde er zu besserer Einsicht in das Wesen der Logoi gelangen. Das ist der Hintcrgrund dialcktischer Kiinste, vor dem sich das Gesprach iiber den Sophisten abspielt. Wenn Sokrates an den Gast aus Elea eingangs die Frage stellt, wic man in Elea iiber den Unterschied zwischen dem Philosophen, d e m Sophisten und dem Polidker denke, dann zeigt sich der Fremdc fur diese Frage wohlvorbereitet. Es ist offenkundig eine zweifelhafte
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Kunst, u m die es hier geht, die viel mifibraucht wird. Schon hinter dem Gesprach des Sokrates mit dem jungen Theatet stand die gleiche Frage, wenn es u m den Begriff des Wissens ging. Im >Sophistes< k o m m t am Ende des Gespraches bcdcutsam genug heraus, wie nahe sich der Sophist und der Demagoge stehen (Soph. 268b), und das lcitct zu dem folgenden Dialog iiber den wahren Politik er iiber. Es gibt auch noch andere Andeutungcn dieser Art, die den allgemeinen Hintcrgrund erkennen lassen, zum Beispiel die Frage, ob man auch auf zahme Wesen Jagd machen konne (Soph. 222b). Bei dieser Frage mufi m a n sowohl an den Sophisten wie an den Demagogen denken. Vollends stellt die Unterscheidung desjagers und des Hirten beide in Frage, den falschen Dialektiker u n d den falschen Politiker. Es ist ein weitreichendes Beziehungsgefiige, in dem die Unterscheidung des Sophisten vom wahren Dialektiker steht. Das sind wahrlich keine leeren Spiele des Scharfsinns, um die es hier geht. Es bedeutet etwas, wenn der j u n g c Thcatet seinem wissenschafthchcn Genie zum Trotz in dem Gesprach mit Sokrates nicht zu sagen wufite, was wirkliches Wissen eigentlich ist. Das Gesprach mit dem Fremden aus Elea wird erst den jungen Theatet zurKlarheit dariibcr ftihren, dafi es auch in blofien Logoi wirkliche Erkenntnis geben kann. Freilich mufi man daraufgefafit sein, dafi es eine schwere Aufgabe sein wird, ihm (und uns) den Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Sophisten kenntlich zu machcn. A m Ende wird sich herausstellen, dafi cs nicht in dem erhofften Sinne ein festes Unterscheidungsmerkmal gibt, etwa, dafi eine Argumentation philosophischen Gehalt hat (und das meint Wahrheitsgehalt) oder ob sie einen bloften Schcin eines wirklichen Wissens erzeugt. Es wird sich herausstellen, dafi es sich bei der Unterscheidung des Philosophen v o m Sophisten (iibrigens auch v o m Politiker) um Lebensentscheidungen und u m Lebenshaltungen handelt. Es empfiehlt sich daher auch im Falle des >Sophistes< gegeniiber den wissenschaftstheoretischen Interessen der bishcrigen Plato-Deutung Abstand zu halten. Damit soil nicht unterschatzt werden, welch einen Fortschritt an mcthodischem Bewufitscin das klassifikatorische Vorgehen bedeutet, das zur Begriffscinteilung fiihrt. Paul Friedlander hat mit Rccht darauf hinge wicscn, dafi sogar die wis sens chaftliche Glanzleistung des j u n gen Theatet (die Theat. 147dff. erwahnt wird) auf dem glcichcn Vorgehen der Einteilung bcruht, und erst recht gilt es fiir das klassifikatorische Genie des Aristoteles, dafi seine Begriffseinteilungen zu seinen Mcistcrlcistungcn gehoren. All das hat fiir das Zeitalter des Hellenistnus eine grofie Rolle gespielt — auch w e n n die Aufienstebenden dariiber spotten mochten (wie die K o m o d i e zeigt). In Wahrheit mufi man dieses Verfahrcn der Bcgriffseinteilung von dem naturlichen und selbstverstandlichen Vorgehen her verstehen, mit dem jedermann Verwirrung und Verwicklung und falschen Schein zu ubcrwinden sucht. Das kennen wir aus vielen Anfangcn sokratischer Ge-
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sprachc, die Plato geschrieben hat, wic sie ausdriicklich die Aufgabe stellcn, Begriffe zu untcrscheiden. Etwa im 'Protagoras' setzt das Gesprach mit der Frage der Einheit u n d Vielheit der Tugenden ein. D a verstcht man sofort, dafi es sich nicht um eine blofie Klassifikation u n d auch nicht um eine Methode der Wissenschaft handelt, mit der die Wissenschaft ihre Befunde ordnet oder Begriffsbestimmungen v o r n i m m t . Hier geht es um etwas, was viel tiefer liegt und aus der sprachlichen Vorpragung aller Erfahrung in die Lebensfiihrung hinabreicht, und so ist cs im ganzen. Dialog und Dihairesis sind zwei Vollzugsformen der denkenden Vernunft des Menschen und ihrer sprachlichen Artikulation. Beides heifit bei Plato ; Logoi', das Denken und das Reden, i n d e m man seine Untcrscheidungcn trifft. Es ist der ganze weite Raum, dcr sich in Rede und Sprache offnet und unser Sein und Verhalten bestimtnt. Schon blofies N e n n e n schliefitja ein Idcntifizicren ein und ebenso der Bcdeutungssinn, der Worten z u k o m m t . Jedes Gesprach bewegt sich in dem Frageraum des Unterscheidens, das sich sowohl in den Worten darstellt, die zur Verfiigung stehen, wie in dem, was mit diesen Worten gesagt und ausgczcichnet wird. Es fallt auf, wie bei Plato Prodikos als cin Sophist gcschildert wird, der in Unterscheidungen von Wortbedcutungen schwclgt und der doch in den Dialogen Platos nicht ganz ohne Wohlwollcn behandelt wird und eine gewissc ironische Prascnz geniefit. Etwas von Ironie ist gewift auch in den Unterscheidungen, die im >Sophistes< vorgefiihrt werden. Das gilt sowohl fiir die Worte, die fiir die Unterscheidungen vorgeschlagen werden, als auch fiir die Sachen selber, die dadurch klarcr werden. Immcr driickt sich darin so etwas wie ein Vorwissen aus. Wenn man etwas zu bestirnmen oder zu benennen sucht, dann mufi man schon wissen, was das Gesuchte ist. Hinter aller Einteilung von Begriffen und Sachen steht das uralte Verhaltnis von Frage und Antwort, des Suchens und des Findcns, das Sokrates mit dem Begriff der Anamnesis im Auge hat. In der gleichcn Weise miisscn wir im >Sophistes< auf die Vorgreiflichkciten achten, die sich in den dortigen Definitionsversuchen und Bcgriffseinteilungen abzeichnen. Dafi die Unterscheidung des Philosophen v o m Sophisten eine aufierst schwicrige Sache sein wurde, war von Anbeginn deutlich, u n d offenbar gibt es mannigfaltige Moglichkciten, hier begriffliche Einteilungen vorzunehmen. Da sind viele Vorurteile und Vorbegriffe im Spiel, die ein ungenaues und schwankendes Vorvcrstandnis anzeigen. Das ist ganz natiirlich und entspricht dem, wie sich Ansichtcn bilden u n d in Sprache niederschlagen. Der Sophist ist daher ein schwer zu fassendes Etwas. Eines ist abcr alien diesen Ansichten uber den Sophisten gcmcinsam, und das ist, dafi er stcts als der Wisscnde erscheinen will. Wer iiber cine verwirrendc Erscheinung zu einer klaren Vorstellung k o m m e n will, wic es etwa der Mathematiker in seiner Wissenschaft g e w o h n t ist, wird sich zunachst an aufierlich.cn Dingen orientieren, vor ailem an dem Gewerbehaften, das im Treiben des
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Sophisten liegt. Der kluge eleatischc Gesprachsfiihrer weiB, was fur Vorurteile in seinem Gesprachspartncr bereitliegen mogen. Fur den Leser bedarf es auch keines Hinweises, daB schon die Muster definition des Anglers einen ironischen Ton tragt. In den Augen eines Mathematikers ist ja ein professioneller Sophist wirklich so etwas wie ein Angler. Er fischt nach Menschen, von deren Unterricht er lebt, wie der Angler nach Fischen, von denen er lebt. So sind in dem Gesprach manche witzigc Anspielungen darin. Gleichwohl wird am Ende die Gestalt des Sophisten bei diesen Bestimmungs versuchen immer deutlicher. Ein gemeinsamer Zug tritt, der schillernden Vielfalt der Erschcinung des Sophisten z u m T r o t z , heraus. Das ist die Antilogik, die virtuose Fahigkeit, Gegenreden zu finden und den anderen zu verwirrcn und zu widerlegen. Dieser Zug scheint tatsachlich dem Sophisten und dem Dialektiker, den man einen Philosophen nennt, gemeinsam. In Wahrheit ist da ein wesentlicher Untcrschicd. Der Sophist tritt als einer auf und stellt sich als einer dar, der alles zu widerlegen weiB und der deshalb so aussieht, als ob er alles wisse. Nicht ohne N a c h d r u c k wird der Anspruch, alles zu wissen, der darin liegt, von Theatet entschieden zuriickgewieseii (Soph. 233a). Jemand, der wirkhches Wissen besitzt, weiB stcts u m die Grenzen seines Wissens. Das ist eine der Grundvoraussetzungen, auf denen von dem Eleaten das Gesprach mit dem jungen Mathematiker gefiihrt wird. Theatet ist jemand, der echtes Wissen kennt. Eben das war es, was Sokrates im >Theatet< und was hier dem Eleaten den AnlaB gibt, nicht eigentlich die Sophistik bloBzustcllcn, wie Plato so oft tut, sondern die Dialektik als wirkliches Wissen zu verteidigen. Was Plato Dialektik nannte, ist etwas anderes als das Scheinwisscn derer, die fur alles verbliiffende Gcgenargumcnte haben und dadurch alles zu wissen scheinen. Die beiden platonischen Gesprache, der >Theatet< und der >Sophistes<, haben die einheitlichc Aufgabe, die Dialektik als Philosophie sichtbar zu machen. Unsere Oberlegungen haben uns damit d e m eigentlichen Z e n t r u m des Dialogcs nahergefuhrt. N o c h sieht es gar nicht so aus, daB darin cine besondere Schwierigkeit liegen soil, wenn m a n doch sicher ist, daB der Sophist sich vom Philosophen dadurch unterscheidet, daB er nur scheinbares Wissen pratendiert. wahrend der andere wahrcs Wissen sucht. Oder ist Dialektik i m m e r nur Sophistik? M a n soil sich das nicht so einfach vorstellen, die Frage auf iiberzeugendc Weise zuriickzuweisen. Das Gesprach tritt vielmehr jetzt in sein ernstes Stadium. Es ist ein wahres Meisterstiick von Seelenfiihrung, die der Frcmdc n u n an dem jungen Theatet tatigt. Sie sind sich beide darin cinig, dafi es kein wahres Wissen sein kann, was der Sophist zur Schau tragt. Aber w a r u m iiben dann diese Sophisten eine solche Wirkung aus? Das muB sich auch Theatet fragen, der diese Wirkung ehedem an sich selber erfahren hatte und ringsum an den j u n g e n Lcuten beobachten konnte (233b). DaB es sich da nicht u m wirkliches Wissen handelt, steht fiir
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ihn absolut fest (233c). Das Beispiel des Schaustellers, der schlechterdings alies nachzuahmcn weiO, macht die Ungeheuerlichkeit des sophistischen Anspruchs deutlich. So liegt es doch nahc, anzunehmen, daB cs Nachahmungskunst durch Rede und Argumentation im Sinne der Schaustellerci ist, von der die jungen Lcute getauscht werden, solange es ihnen an Erfahrung fchit? Damit fallt das Lcitwort fur das spatere Gesprach. Auch dem jungen Theatet fehlt es noch, wic er selber weiB, an Erfahrung der Wirklichkeit (234c). So willihn der Fremde aus Elea nahcr an die Sachen bringen, dannt er auf den Gaukler, Darstellcr und Nachahmer nicht mehr langer hercinfallt. AufSachnahe k o m m t cs an, wenn man tauschende Fern wirkung vermeiden will. Darin liegt ein entschcidcnder Unterschied, namlich der zwischen dem Abbild, das etwas Wirkliches wicdergibt, und einem tauschenden Scheinbild. Das ist fur Theatet anscheinend ncu (235d4). Dieser Unterschied von Abbild und Scheinbild wird nun auf eine anschaulich-groteske Weise verdeutlicht. Da gibt cs Skulpturen, die mafigerecht sind, und dann gibt cs auch andere, iiberlebensgroBc Statuen. Damit diese in ihrer Wirkung mafigerecht und richtig ichcinen, miissen sic^c^eti die wahren MaBc gearbeitet werden. Die von der Feme zu sehenden Teile mufi man iibermaBig vergroBem. Man kann es dahingestcllt sein lasscn, ob Plato und auch nur der Fremde aus Elea solchc Statuen im Ernst Scheinbilder nennen wiirden. Vicllcicht nehmcn sie aus der vcrdcutlichendcn Absicht das Verfehlcn wirklicher asthetischer MaBstabe in Kauf, wic Plato ja auch sonst tut, zum Beispiel bei der beruhmten Dichterkritik. Hier wird von dem Elcatcn in Wahrheit allerhand zugemutet, wenn cr die gesamtc Malerei als Kunst der Scheinbildnerci (ifMvmoimi) zurechnet, weil sic nur schon erscheinc (FOA RR/V OVK I:K KVater< Parmenides zwingen. Das wird sich bald hcrausstellen. Sind nicht alle blofien Reden tiiuschend, sofern sie etwas fiir gegenwartig vor Augen stellen, was man in Wahrheit nicht vor Augen hat oder nicht n u t so anschauhcher Evidcnz vor sich hat, wie das mathematischc Wissen sic crbringt? Offenbar ist bei den Aoyot, den bloBen Reden, der Unterschied zwischen sachgerechtcr Abbildung und solcher, die nur dem Anschein nach sachgcrechten Eindruck macht, nicht so leicht fcstzustellen und handgreiflich zu
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machen, wie das etwa gegeniiber einer Bildsaulc moglich ist. D o r t brauc.ht man nur naher an die von F e m e geschene Statue heranzutreten, um die Proportionsverzerrung einwandfrei fcstzustellen, die im groBeren Abstand den richtigen Eindruck vortauschte. So crklart sich, w a n i m selbst der Eleat nicht recht sicher ist, ob cr das Tun des Sophisten zur sachgcrecht abbiidenden Argumentationskunst oder zu bloBcr Scheinkunst rcchncn solle. T h e atet scheint vollends gar keine anderen Abbilder zu kennen als mafigercchtc (235e 3 ). Aber selbst w e n n Abbilden i m m e r nur Abbilden ware - ist nicht jedes Bild selber das nicht, was cs abbildet? Das ist das Problem, das hier die Schwierigkeit bildet, und das wird von dem Eleaten mit Nachdruck als die starkste Position des Sophisten bezcichnet. Wenn man dem groBen Parmenides folgen will, kann es iiberhaupt kein Nichtsein geben, das man mit Sinn behauptcn konnte. Aber was >Logos< ist, davor weicht Theatet aus. Er versteht nicht, noch immer nicht, was >Logos< eigenthch ist. Als ihm der Eleat vordemonstriert, daB man das Nichtsein nicht sagen konne, weil man dann iiberhaupt nichts sage, halt er das fiir das Ende {irXoqliley) aller Schwierigkeitcn. Doch nun fiihrt ihn der Eleat in eine neue, noch groBcre Schwierigkeit. Wenn das Nichtsein sagen Nichtsagcn, also iiberhaupt kein Sagen ist, dann ist damit durchaus nicht, was die Eleaten doch tun, das Sagen des Seins unangrcifbar gesichert. Hier beginnt vielmehr, wie es ausdriicklich heiBt, die allergrdBte Schwierigkeit (238a). D e m Seienden k o m m t wohl auch noch anderes Seiendes zu, aber gewiB doch nicht dem Nichtseienden. Das ist nun das neue T h c m a , das itpooyiyrsodm, an dem die Struktur des Logos vage zum ersten Mai auftauclu. D e m jungen Thcatet geht das leicht ein, weil er ja g e w o h n t ist, Zahlen an das Seiende heranzutragen (npoatpepiiv 238b 3 ). Ja, das gilt nicht nur fiir alles Seiende, cs gilt sogar fur die Nichtseienden, daB ihnen Zahl hinzugefugt werden kann. Was ist dann aber mit der Unaussagbarkeit des Nichtseins in Wahrheit gewonnen? M a n muB es wiederholen: Theatet versteht noch i m m e r nicht, was >Logos< ist. Das neue Argument ist namlich, daB man das Nichtsein selbst dann in der Rede annehmen miisse, wenn m a n es abweisen wolle. Das ist diecrnsteste Frage, wie der Eleat sich ausdriickt, weil es alle A r g u m c n t e gegen das Nichtsein mit einer vollcn Niederlage enden laBt (239b). Damit ware aber der Sophist wieder ganz obenauf und konne sich bei jeder Bchauptung sicher fiihlen, weil es so etwas wie Schemkunst und so etwas wie Nichtsein iiberhaupt nicht gebe. Der ironische Appell, den der Eleat an dieser Stclle (239d) an Theatet richtet, fiihrt weiter. Z w a r , cs ist eine naive Gegenrede, wenn Theatet die Wirklichkeit des Schcins dadurch zu bewcisen sucht, daB er auf Spiegclungen hinweist, die in der Natur v o r k o m m e n und ein wahres Nichts sind. Die Radikalitat der sophistischen Einrede hat er damit wahrlich nicht erfaBt.
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Aber nun kann Theatet nicht mchr ausweichen, sich dariiber klarzu werden, dafi all das ei5u)Xa sind - und was d a n n liegt (240aff.)- U n d ebenso ist es mit falschen Reden, deren Anschein m a n erliegt, wie Theatet aus Erfahrung wcifi - o b w o h l nichts dran ist (240d). Es geht doch darum, dafi im Abbild, was i m m e r es sein mag, das Nichtsein m i t dem Sem unlosbar vcrkniipft ist. Das Abbild ist ja nicht das, was cs nur abbildet, und doch ist das wirklich da, was wir cin Bild nennen. Die sophistische Einrede bestreitct nun aber gerade, dafi man etwas, das nicht es selbst ist, also Nichtsein ist, uberhaupt meineri und sagen konne, und damit konne es Schein und falsche Ansicht in den \6yoi gar nicht geben (241a ff.). Das ist ein recht negatives Hindernis, und Theatet weifi nicht weiter. N u n will ihm der Fremde aus Elea zu Hilfe k o m m e n (241c). Damit beginnt das philosophische Hauptstiick des ganzen Dialogcs, das der Prufung und U b e r w i n d u n g des parmenideischen Verbots des Nichtsseins gewidmet ist. Dieses Hauptstiick ist eine gcschlossene Partie, die den Versuch, den Sophisten dingfest zu machen, vorlaufig weit hinausschiebt. GewiB soil dcr j u n g c Theatet durch dieses Gesprach in die rechte Sachnahe gebracht werden, abcr dcr Gang dieser Argumentation ist iiberaus schwierig. Es ware vcrmcssen, ein solchcs philosophisches Meisterstiick lehrhaften Gespraches auf wenigen Seiten zu behandeln. Man liest den platonischcn Text immer wieder. Alles ist voll subtiler Wendungen und vcrstecktcr Anspielungen. Man hort Parmenides dahintcr, und man kann gar nicht anders, als den zur Herrschaft k o m m e n d e n Aristoteles und seine Kommentatoren mitzudenken, und am Ende den so vielcs beendeiiden und beschlieBenden Hegel. Dabei sehe ich ganz von der modernen Logik ab, deren blankcs Riistzeug das logische Problem dcr Pradikation aufs subtilste bearbeitct hat und an das platonische Gesprach wie an eine logische Abhandlung herantritt. Ich sehe meine Aufgabe ganz anders, weit eher so, die Argumente, die in dem platonischen Gesprach gebraucht werden, auf ihre Oberzeugungskraft hin zu entwickeln, die sie fur einen solchen haben, der erst lernen soli, was ein Begriff ist - und ein solcher ist nicht nur der j u n g e Theatet. Es ist keine leichte Aufgabe, der Gesprachsfiihrung durch den Eleaten so zu folgen, daB das Gesprach als H i n f u h r u n g des Gcsprachs partners zur richtigen U n t e r scheidung von Sophist und Philosoph verstanden wird. Es ist knayu-yq. Theatet soil jetzt zum Verstandnis dessen gefiihrt werden, was ein wirklichcrPhilosoph ist. Das stdfitbei ihm auf die groBtcn Sch wierigkeiten. Z w a r steht es fur ihn fest, dafi der Sophist nur ein Schein-Wissender sein kann, aber was ein wirklichcr Philosoph ist und was sein Wissen ist, ist fur den abtriinnigen Schiiler des groBen Sophisten Protagoras und den jungen Forscher, der Theatet ist, ganz unklar. Fiir ihn klingt all solches Argumentieren wic bloBes Schein-Wissen. So muB er iiber sich selber hinausgefuhrt werden und zu dem Eingestandnis gelangen, daB er selber etwas nicht weiB, was er
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unbedingt wissen miiBtc. Was bloBer Schein sein soli, ist damit nicht verstandlich, und das zu wissen ist uncntbchrlich, wenn man das Schein-Wissen des Sophisten a b w e h r e n will. So ist die Komposition des Dialoges im groBen klar. Die kritische Frage wird sein: Was ist Schein? Was f u r eine Art Schein ist cs, durch die der Sophist sich in einer so fatalen Ahnlichkeit mit detn Philosophen und Dialektiker zu bewegen weiB? Es wird schwicrig sein, den j u n g e n M a t h e m a t i ker, der ganz auf das Wissen von unwandelbaren und unveranderlichen Vcrhaltnissen, von Zahlen und Figuren, gcrichtct ist, zu einem angemessenen B c g r i f f v o n Wissen und zum BewuBtsein seines eigenen Tuns zu fiihren. Der Weg, auf dem der Eleat dafiir gehen muB, kann nicht einfach sein. Als Leser diesen Weg vcrstehen und mit ihm nhtgehen, verlangt einen behutsamen Abbau fester Selbstvcrstandkchkeitcn. Aber das mull Theatet doch iiberzeugen: Das Nichtsein (TO PRJ BV) ist nicht als es selbst antreffbar (238b«, 239a 9 ). U n t e r Zuriicksetzung der m der Forschung am meisten behandelten Partien m o c h t e ich die Lehrstunde nachzeichnen, die Theatet e m p f a n g t . Es gclingt dem Fremdcn, ihm klar zu machcn, daB er sich selber in MiBlichkeiten verstrickt hat (t'v ooi 239b 5 ). Theatet muB das einschen. Wenn er das Schcinwissen des Sophisten behaupten will, muB er mit dieser Mifilichkeit fertig werden. Er kann nicht vermeiden, daB er sich damit gegen das eleatischc Vcrbot vergeht, das in seiner eigenen mathematischen Welt, in der cs wirklich keine B e w e g u n g gibt, strenge Geltung hat. Daher erscheint cs i h m zwar scltsam (ihonov) und doch unvermeidlich, Nichtsein mit Sein zu verflechten (240c]). D a m i t ist Theatet selber in die Aporie geraten und ist hilflos, wie er der Einrede des Sophisten begegnen soil, w e n n dieser bcstrcitct, daB man Nichtsein und >Pseudos< iibcrhaupt denken komie. Der Fremde sucht nun dem j u n g e n Theatet beizustehen, wenn sich der Sophist hinter die Unmoglichkeit des Nichtscins vcrschanzt, und auf diese Weise bringt er Theatet zum N a c h d e n k e n dariiber, was >Sein< bedeutet. N u n gehort die UnfaBlichkeit des Nichtseins zu dem wesentlichcn Erbe der eleatischen Philosophie. Das ist an sich kein neues Thenia. Aber im Verfolg des Gespraches wird nicht nur das D e n k e n des Nichtscins, sondern auch das Denken des Seins als problematisch erkannt. Das k o n n t e man selber am Lehrgcdicht des Parmenides schon merken, wenn es durch so vielc Verse hindurch behauptct, daB es das Viele nicht gebe. I m N e n n e n wie im Meinen, wie 1111 Sagen des Seins als des Einen, liegt i m m e r schon das Viele. Das Sein sagen verwickelt sich in Selbstwiderspruch. Das cine Sein wird dadurch zu Viclcm. Das wird im folgenden zum T h e m a erhoben. Es ist cine ironische Pointe, daB der j u n g e Theatet selber verlangen wird, erst einmal zu fragen, was TO or, was >Scirx tneint (243d:)). Wir befinden uns an dem kritischen H o h e p u n k t e , an d e m das Bediirfnis nach der Frage nach dem Sein unausweichlich w e r d e n wird. Plato markiert
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diesen Hohepunkt, indem er den Eleaten drei Bitten auliern laBt (241 cff.), und als drittc die verriickte (ihic — mm 242ab) Argumentation in Kauf zu nehmen. Man denkt dabei an den platonischen >Parmenides<. Der ParmemdesDialog stellt, wic cs in der antikcn Uberlicfcrung wie fiir die moderne wissenschaftliche Denkwcise offenkundig ist, eme wahre Herausforderung dar. M a n fragt sich, was das ist: Komodie? U n f u g ? Mystizismus? Sophistik? Oder ein elementares Ubungsstiick in Dialektik? - U n d das hat Hegel als das grolite Kunstwerk der antiken Dialektik gcriihmt! N u n ist die ParmenidesKritik im platonischen >Sophistes<, u m die es sich hier fiir uns handelt, kein ebenso ratselhaftcs Spiel wie der Parmenidcs-Dialog. Gleichwohl ist der Argumcntationsstil des From den aus Elca vergleichbar, insbesondere wenn die groBten Gattungen (neben >Scint Begriffe wTie >Bewegung< und >Ruhe< und so formale >Reflexionsbegriffe< w-ic Tdentitat und Differenz) durchvariiert werden. So gilt es, der Botschaft aus Elca ihre geheime Logik abzulauschcn. N u n scheint cs wohlmotivicrt, w a r u m sich das Gcsprach dem Scinsb e g r i f f d e s Parmenides zuwenden muB. In dem unfatflichen Verhaltnis von Sein und Scheincn, von Erscheinung, Schein und Anschein, verbirgt sich eine Verflcchtung von Sein und Nichtsein. Dahinter steht viclleicht sogar das schier unauflosliche Verhaltnis, das schon das ganze Lehrgedicht des Parmenides durchzieht, namlich das Verhaltnis von gottlichem Wissen und menschlichcm Wissen und Meinen. Parmenides hat cs in homcrische Verse gcsctzt. Ahnlich n i m m t sich die Eleaten-Kritik des >Sophistes< fast wie cin iti Dialogversc gesetztes Lehrstiick aus. Die Aufgabe wird sein, dem Gang des Gespraches zu folgcn und den Schritt v o m iiberzeugten Meinen, das sich an das clcatische Noein halt, z u m platonischen Logos zu vollziehen. Das Gcsprach n i m m t seinen vorsichtigcn Gang, u m die in dem Gesprachspartner wirksarnen Vormcinungen und Vorurtcile bewuBt zu machen und seine Widerstande allniahlich zu uberwinden 9 . Wer das, was da zur Sptachc k o m m t , in schliissige Argumentation en zu verwandcln sucht, versteht nur die Halfte dessen, was da geschieht und was der Text zu verstehen gibt. Man muB sehen, wic der j u n g e Mathematiker zum Reflcktieren gezwungen wird. Die Dingfestmachung des Sophistcn scheint ohne den Schritt zum Begriff unmoglich. Dieser Schritt ist offenbar bei den Friiheren, die ra ov/a '' Kin neuer Rcitrag von C. D. C. RHLVI: (Archiv t. Gcsch. d. Philosophic, Bd. 67, 1985) gibt einen guten Einblick in die neuere Forschungslage. Die hartnackige Betoming des ausschliellhchen Gegensatzes von Kh-qoK und ovuweund seine Auflockcrung, die schon in der Gegcnuberstellung der Materia lis ten und Ideenfrcunde begann, erschcmt in der sorgfaltigcn Analyse nicht als die grotie Leistung, durch die Plato aus dem M u n d e des Eleaten jemanden zum Verstandnis der Dialektik fiihrt. sondern als cine falle (Imp), und das Spiel zwischen Identifikation und Pradikation auf seitcn Platos als dessen eigene Koiifusion. Sosieht Philosophic aus, wenn man sie wie eine Wissenschaft. die sie nicht ist, an ihr en Ergebnisscn mi lit.
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zu untcrscheiden suchten, wie viele und was fiir wclche es gibt (242c), nocb nicht wirklich vollzogen. Der Fremde bezeichnet es selbst als >Mythos<, was friiher iiber das Sein gesagt worden ist, offenbar, weil der Sinn von Sein dabei wie etwas Selbstverstandlichcs vorausgesetzt wird. Auf den ersten Blick sieht cs zwar so aus, als hatten wir hier eine erste Doxographic vor uns, das heiBt eine Oberschau iiber die Lehren der anderen, die Plato seincm Gcsprachsftihrcr wic einem, der weiB, in den M u n d legt. Ahnlichcs kennen wir aus den spateren Lehrschriften des Aristoteles, durch die Aristoteles seit Theophrast die gesamte Oberlieferung iiber die griechische Philosophic beherrscht. In Wahrheit ist Aristoteles' Doxographic etwas sehr anderes als diese platonisch-eleatische Oberschau. Aristoteles wendet seine Lehre von den vier Ursachen auf seine Vorgangcr einfach an. Dicsc Lehre hatte er in der >Physik< und fiir die Physik entwickelt (Phys. B 7), und von dieser Grundlage aus unternimmt er es, den Sinn von Sein in der >Metaphysik< auf den Begriff zu bringen. Plato wendet kenic Lehre an. Er laBt zwar den Eleatcn einem pythagoreischen Schema folgen und fragt nach der Anzahl des Sei enden. Die wirklichc Frage nach dem Scin laBt er erst langsam aus der kritischen Analyse der Fruhercn hcrauskommen. Der Gesprachs partner zeigt sich entsprechend liilflos, da er die ontologischen Valcurs von Sein und Scheincn iiberhaupt nicht zu meistern vermag. Dabei zeigt er sichjcdoch mit dem Lehrgedicht des Parmenides vertraut, und ebenso mit den Lehren der ionischen Physiologen, gegen die sich die cleatische K n t i k wandte. Die konstruktive Obcrsicht iiber die friiheren Lehren dicnt in Wahrheit dazu, bewuBt zu machen, dafi > Seins ob es nun Eines oder Viclcs ist, ein Drittcs scin muB (243c 2 ). Theatet spielt in dem Gesprach gewiB eine bescheidenc Rolle. Dennoch ist es kein bloBcs Festhalten an der Dialogform, w o eigentlich ein Lehrvortrag am Platze ware 1 0 . Das Frage- und Antwortspiel, das der Eleat mit Theatet spielt, mag recht elemental scheinen. In Wahrheit bildct sich darin etwTas cntschcidend Neucs ab, namlich das Herauswachsen des Begriffs und der Rechenschaftsgabe durch Dialektik, zu der Theatet noch gar nicht imstande ist. Das Problem ist aus Plato wohlbekannt. Es geht u m den Schritt von den Ansichten (den 8o(cn) zum Logos. Im Lehrgedicht des Parmenides war das nur erst ein Ncbeneinander und war als eine gottliche O f f e n b a r u n g eingcfuhrt, die dem Erwahlten zutcil wird. Ich habe in meinen Bcitragcn z u m Lehrgcdicht 1 1 zu zeigen versucht, wie sich gleichwohl der Schritt zum 10
Inzwischen wurde auch fur den >Sophistes< das dialogische Geschehen ernst g e n o m men, so von S E T H B E N A R D E T E , The Being of the Beautiful. Chicago 1 9 8 4 , der freilich nicht Theatet, sondern Sokrates fur gemeint halt. 11 Vgl. die unter dem Titel >Das Lchrgedicht des Parmenides' vereinigten Beitrage in Bd. 6 der Ges. Werke, S. 30-57, so wie > Parmenides oder das Diesseits des Seins<, in diesem Band. S. 3-31.
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Begriff im Gebiauch des Singular lb bv andeutet. Ebenso habe ich untcrstrichcn, daB cs den Singular von im Lehrgedicht iiberhaupt nicht gibt. Das Untcrwegs zum Begriff ist noch mcht so weit gediehen, dies Viele auf das Eine zusamtnenzusehen. Plato ist sich dessen w o h l bewuBt, u n d so sind es nur lcise und vorsichtige Schritte, die der Eleat dem jungen Partner zutnutet, u m ihn auf den Weg z u m Begriff zu fiihren. Die kritische Priifung ergibt zunachst, daB die eleatische Lehre von dem >einen Sein< sich nicht halten laBt. Theatet versucht es zwar noch, das Einssein als den Sinn von zwei Bcnennungen fiir das Eine zu retten (244c d). Aber das bleibt ebenso vergeblich wic mit dem angeblichcn Ganzsein des Scins, So ergibt sich, daB das Sein nicht leichter zu bcgreifen ist als das Nichtsein (246a). Dcr Weg zum Begriff scheint noch steinig - und doch, ein erster Schritt auf diesem Wege ist getan, wenn >Sein< weder als eines seiend noch als zwei, noch als Ganzes, noch als Nicht-Ganzes gedacht wird. Es ist kein Erzahlen von M y t h e n mchr. Der Begriff k o m m t in Sieht. Ein weitcrer Schritt auf diesem Wege kiindigt sich nun in der Vcrwandlung des Schauplatzcs an, wenn der Titanenkampf zwischen den Materialisten (die man fast auch Herakhtcer nennen kann) und den Idccnfreundcn geschildert wird (246aff.) 1 2 . Man ahnt, daB beides extreme Positionen sind, die i m Grunde schon einen Begriff von Sein impliziercn. Darauf deutet die Einscitigkeit dieser Positionen, die das Gesprach an den Tag bringt. Es kann doch wohl nicht so sein, daB die ruhelose Veranderung des Werdens und die unantastbarc Bestandigkeit der O r d n u n g der Ideen und Zahlen einen unversohnlichen Gegensatz bilden. Da es sich um eine >Gigantomachie< handelt, wird m a n auf eine endgiiltige Entscheidung gespannt sein. So war es ja auch bei der mythischen Gigantomachic des Hesiod und ihrem Nachklang im Prometheus-Drama des Aischylos, die beide auf die Begriindung der dauerhaften Hcrrschaft des olympischen Zeus abzielen. Man wird darauf gefaBt sein, daB nicht nur die Ideenfreundc nicht unterliegen, sondern auch, daB eine wirkliche Vcrsohnung der Gegncr intendicrt ist. In der Tat wird die Position dcr Materialisten nicht in d e m kruden Sinne gcschildert, dem schon im >Theatet< eine hochst raffinierte Bewegungstheorie iiberstiilpt worden war. Jetzt, im >Sophistes<, ist der j u n g c Theatet sogleich bereit, den Materialisten entsprcchende Verbesserungen zuzutrauen. Offenbar hat die U n t e r richtsstunde, die Theatet bei Sokrates empfangen hatte, bcreits ihre Friichte gctragen. Das Sein der Bewegung und das Anderswerden haben fiir die Frage nach dem wahren Sein an Gewicht gewonnen. Im iibrigen fallt auf, daB die Idcenfreundc von Theatet in der Wir-Form geschildert werden— so sehr gehort der j u n g c Mathematiker zu ihncn. Auch > [.
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11
Vgl. dazu auch .Plato und die Vorsokratiker' ill B d . 6 der Ges. Werke. S. 68 ff., sowie iDer piatomsche > Parmenides' und seine N a c h w i r k u n g s in diesem Band, S. 319f.
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beachte man, daB, wenn die universale Kinetik auf ihren gcmcinsamen Begriff gebracht wird, namlich auf den Begriff der Dynamis (247e), Theatet nur sehr zogernd zustimmt. Ahnlich ist es 248c ]( ). Da besteht Theatet auf seiner unwandelbarcn ideenwelt, und wenn ihm der Begriff der >Dynamis< zugemutet wird, kann der Fremde die Z u s t i m m u n g des Theatet uberhaupt nicht bekommen. Er muB auf das Argument der Dynamis verzichten (248e) und zu einem Argutnentum ad h o m i n e m seme Zuflucht nehmcn. Das Sein konnc doch nicht starr undleblos sein (249a). Da muB auch der ideenfreund Bewegthcit zugestehen, weil es Leben und Dcnken geben muB. Beide Positionen lassen sich also nicht halten. So scheint am Ende die Wahl zwischen den beiden gegnerischcn Seiten schwer, was man wahlen soil. Man mochte es wie die Kinder machen, wenn sie wahlen sollen. Sie mochten am licbsten »bcides«. Das bewegtc Werden und die unantastbarc O r d n u n g scheinen sich n u n aber vollig auszuschhefien. Die Handgreiflichkeit der Realitatserfahrung und die Ungreifbarkeit der unvcranderlichen Ideen enthalten keine befriedigcnde A n t w o r t auf die Frage, was eigentlich >Sein< heiBt. Das aber bedeutet, daB der Sinn von Sein zwischen dem faBlichen Bcwegtsein und dem unfaBhchcn Unveranderlichen genausowenig faBlich ist wic das Nichtsein (250cc>). Wenn Sein entwcder bewegt oder unbeweglich ist, was soil es dann uberhaupt noch fur Sein geben? Wohin soil man den Blick richten? Gibt es denn ein Drittes? (250^). Dieser Satz hat wohl ehedem Heidegger beim Aufgreifen der Seinsfrage vor Augen gestanden. Hier leitet der Satz den Schritt cin, der am Ende zum Denken des >Logos< (und des Seins als des Logos) fiihrt. Wenn das Sein und das Nichtscin beide gleich unfaBlich sind, dann weist das auf ihre unzertrennhche Zusammengehdrigkeit hin, also auf ihr Verhaltnis zueinander (251a). >Vcrhaltnis< ist aber die Struktur des Logos selber. Das ist der neue Horizont, in dem sich die L e g i t i m i s t der Dialektik in ihrem sachlichen Recht erweisen wird. Hier hat Theatet abermals groBe Miihe zu verstehen. Man sieht, wie schwierig es ist, den Mathematiker Theatet zur Reflexion auf sich selbst zu notigen. Er weiB noch i m m e r nicht, was > Logos* ist. Der Fremde aus Elea hat es sehr geschickt angefangen, indem er das Verhaltnis von Sein und Nichtsein zum T h c m a macht und damit den Begriff des >Logos< em fuhrt, mit dem Theatet aus seiner Wissenschaft als mathematischem Terminus (fiir 'Proportion;) wohlvertraut ist. Denn, w o r u m cs sich auch immer handeln mag, das Verhaltnis von zwci GroBen ist offenbar von den bestimmten GroBen, die jeweils in dem Verhaltnis zueinander stehen, unabhangig. DaB es sich wirklich um eine solche Zusammcnfiigung, also um ein solches Verhaltnis handelt, das war im Gesprach schon bestiindig gegetiwartig' 3 . 13
238b 3 itpooyeptir. 2D0b lo ii/moeineiv, 245dj nponayopctkiv so wie auch 238 c npo<mM\ai,
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Gleichwohl muB es dem Theatet erst an einem Beispiel klargemacht werden, was A/iyix hier meint. Das Beispiel des Menschen (rjvdpunot;) wird unter dem formalen Gesichtspunkt eingefiihrt, dafi das Eine mit vielen moghchen Attnbuten verbunden wird (251a b). Dabei schimmert fast so etwas wie eine platonische Kategoricnlehre durch. Eines, das Vieles ist, zwischen notov und nooov. Wichtiger ist aber, daB Plato hier ausdriicklich neben dem AI'IO, dem Menschen selbst, im selben Sinne {-KARA TOV avzov Xoyov) auch das andere, za HXXa, jeweils als das andere des Einen nennt, das zugleich Vieles ist. Sonst kennen wir aus Plato wohl den Sprachgebrauch des >Was< (ii) und des >Wie< (itoinv), wobci das >Poion< das Variable und nicht zum Wesen Gehorige meint. Hier aber wird ausdriicklich gemacht, daB auch noch diese Uruntcrschcidung von ii und notov ganz als Form zu nehmcn ist, und das heifit: austauschbar, so dafl man ebeusoschr nach dem Wesen des >Was<, wic nach dem Wesen des >Wie< fragen kann 1 4 . Bei Plato driickt sich das aber so aus: Was auch immer >Scin< bedeuten moge, jcdenfalls muB ovota etwas sein, das allem, das ist, angeheftet werden kann und mit ihm zusammen da sein kann. Das ist durchaus nicht die aristotelische Lehre von der Substanz als dem vnonsvptewv, dem alles zugesprochen werden kann. In aristotelischen BegrifFen gesprochen ist >Sein< vielmehr npik u, ein Terminus, der sich. nicht wie ri, iioiov und nooov bei Plato schon findet - wohl weil er allgcgenwarrig ist. So ist ein universaler Zugang gewonncn, und das wird auch (251c d) ausdriicklich ausgesprochcn. Damit ist der ganzen t'oigenden Untcrredung ihr T h e m a gegeben. Es ist die Svvapit; Koivavtac;, die Moglichkcit oder Fahigkeit oder wie immer man dies >Kontien< des Zusammenseins nennen will, das i m Xoyoc ausgesprochcn wird. Das ist wahrlich noch keine wirkliche Einsicht in das Wesen des Xoyoc - und in der Tat, Theatet bleibt in einem Punktc ganz entschicden: »Aber jedcnfalls konnen nicht Bewegung und Ruhe zusammen miteitiandcr dascirv* (2S2d). Das wird mit verdachtiger Eile und Betonung von dem Eleatcn zugestanden. »Nach den groBtcn N o t w c n digkeitcn« sei das unmoglich. Indessen bleibc als das Verbindende das Sein (ID OV), das sich mit allem verbinden laBt. GewiB laBt sich nicht alles mit allem verbinden. Das wird von dem Elcaten sofort zugestanden. M a n sieht, wie vorsichtig er den jungen Mathematiker fiir das wahre Wesen des Logos, Zusammenschau und Untcrschcidung zu scin, vorbereitct. Ganz langsatn wird unter dem Stichwort der >groflten Gattungen* >Kinesis< und >Stasis< einandcr genahcrt (und damit am Ende sogar Physik und Mathematik, was sich im >Philcbos< (26d) in der dritten Gattung, der yhwic, t k ovoiav, ebenfalls iipooyiyvcodai, kurz, von dem npbc n, das Aristoteles spater so nennen wird, ist stiindig die Rede. 14 Genauso verlauft ja bei Aristoteles in Met. 2 5 die Analyse des Wesens-Was fr; ;}v
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andeutet). A m Beispiel der Vokale und ihrem Unterschied zu den iibngen Buchstaben des Alphabets werden die umfassendsten Gattungen illustriert. Es ist doch wohl kein belicbigcs Beispiel, wenn hier auf das Alphabet Bezug g e n o m m e n wird. Die alphabetischc Schrift ist eben eine ganz gewaltige Abstraktionsleistung, die wic die Schriftkunde und die musikalischc H a r monielehre dem Begriff des Wissens eine spezifischc Pragung gibt. In diesen beiden Bereichen haben wir es offenbar mit einer Sachbeherrschung zu tun, die auf geglicderter Manmgfaltigkeit beruht, in dcr man sich auskennt. Es fallt auf, daB in diesem Zusammenhang crstmals in diesem Gesprach der Begriff dcr }TW(, der Gattungen, auftritt und von da an festgehaken wird. Wic in diesen Konnerschaften des Schreibcns und der Musik wird nun auch in dem universalen Aufgabenbereich der sachgercchtcn Rede, das heiBt in dcr Konnerschaft dcr Logoi, das dazugehonge Wissen als die allergroBte, allumfassende Wissenschaft bezeichnet und ausdriicklich der Philosophic zugesprochen. Von ihr, der >Dialcktik», heiBt es, sie bestiinde im m i a yevrj SimpewDcn (253d). Das bedeutet, daB Worte und Begriffe nicht wie eiSmka Xty&fieva (234cf.) zur Schau gestellt werden, sondern daB an ihnen folgerichtig und sachgcrccht gliedernde Unterscheidungen getroffen werden. Wie man auch die vieldiskutiertc Bcschrcibung des dialcktischen Konnens des Philosophcn (253b) sich im einzelnen erkliiren mag, jedenfalls beschreibt sie die wahre Dialektik statt dem MiBbrauch dcr Sprachc zu eristischcn Kunststiicken, dcr den Sophisten kennzeichnet. Das wird mit Nachdruck betont (254a). Wenn man das Wesen des Sophisten aufzusuchen bestrebt ist, erfahrt man, wie dieser ins Dunkel des Nichtscins fliichtet. Dieser Schwierigkeit, den Sophisten ausfindig zu machen, entspricht eine ahnliche Schwierigkeit, wenn es um den Philosophen geht. Von ihm wird gesagt, daB auch cr schwer zu erkennen sei, weil er allzu sehr in der Helle des Seins steht. Was damit gemeint ist, wird hochstens angedeutet. So ist etwa in diesem Z u s a m m e n h a n g davon die Rede, dafi die meisten Menschen so unfrci sind (2b$cj), daB sie n k h t zu dem Gottlichen aufzuschauen vermogen (254b;). Mchr wird nicht dariiber gesagt. Die Aufgabe ist ja nicht, den Philosophen zu suchen, sondern den Sophisten, der im Dunkel des N i c h t scins steht. Man braucht aber wohl kein Hellseher zu sein, u m diese Trennung d e s T h e m a s des Sophisten von d e n i T h c m a des Philosophen geradezu ironisch zu finden. Als ob m a n sagen konnte, was den Philosophcn v o m Sophisten unterscheidet und was das Sein vom Schcin unterscheidet, ohne daB man beides kennt, den Schein und das Sein. Auf dem Wege dcr Verticfung in die groBten Gattungen des Seins, die Theatet cinlcuchten und die uns wcgen ihrer anschcincnden Ungleichartigkeit befremden, wird es dann gelingen, dem Nichtscin so weit Sein zuzusprechen, daB auch dcr z o g e m d e Partner zustimmcn kann (256b 8 ). Damit wird ohne Zweifel ein ncucr H o r i zont geoffnet. Die Vcreinbarkeit von B e w e g u n g und Ruhe, v o n Werden
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(bzw. Vcranderhchkeit) mit Sein (bzw. Bestand), wird die cntscheidende neue Einsicht. Es wird zwar nicht wciter verfolgt, was das bedeutct, aber man wird an die wechselseitige Annahcrung der beiden Gegner in der Gig a nten schlacht dcnken. Da wiirde von den einen, angcsichts der Ungreifbarkeit der Phronesis, Sein als >Dynamis< verstanden, und auf der anderen Seite wird den Idccnfreunden die Anerkennung von Leben und N o u s und damit B e w e g u n g abgefordert. Wenn m a n da Bewcgtheit u n d Bewufitheit in der Einheit von Leben und Seele erkennt, dann erinnert m a n sich auch, dafi die gleiche Konstruktion der Weltseele im >Timaios< den gesamtcn Aufbau der Kosmogonie b c s t i m m t l s . Auf jeden Fall wird die Ein rede des Sophisten iibcrwindbar. Damit ist die Aufgabe freilich noch nicht gelost, den Sophisten vom Philosophen zu unterscheidcn, wenn m a n auch die Verflechtung von Sein mit Nichtsein und Schein am Ende zu rechtfertigen weifi. Es wird sich erst am Ende des ganzen Gespraches zeigen, dafi damit das Umvesen des Sophisten, aber auch das wahre Wesen des Dialektikers, noch nicht ausgemacht ist. Es ist dafiir nur eine Vorbcdingung erfiillt, namlich die Wegraumung des sophistischen Mifibrauches der eleatischen These, dafi man Nichtscin weder denken noch sagen konne. Den Sophisten dingfest zu machen, dazu wird das Gesprach noch eine ganz andere Wendung einschlagen miisscn, wie sich spater zeigen wird. Die Auswahl der grofiten Gattungcn (OV, oiamc,, KIVIJOK, UXVTOV, ftmepov 255dff.) erscheint einigermaficn willkiirlich. Was sie sein sollen, ist freilich aus der Analogie klar. Sie sollen wic die Vokalc des Seins sein. Die Vokale bedeuten nicht etwas fiir sich, sondern sie ermoglichen lediglich Silben, Wortcr und Satze, die etwas bedeuten. So stellen sie das Band aller Rede dar. Wenn sie die grofiten Gattungen hcifien, so schcint das zu meinen: Sic konnen mit allem mit da sein - wie ja auch die Zahlen mit allem mit da sein konnen, was i m m e r es auch sei, das so und so viel ist. Das Mitdasein dieser grofiten Gattungen ist also nicht, dafi da eine hochste allgemeine Gattung ist, etwa das Eine, das sich vielfaltig differenzicrt und i m m e r mehr spczifiziert. Was hier die grofiten Gattungen sind, hat eine andere Art von Allgemeinheit. Husserl wiirde sie etwa >formal-ontologisch< nennen. Plato nennt sie aina, Ursachen von allem. Als allverbindbare sind sie das Verbindendc, wie die Vokale. Auch das Sein (uvma 250b9) wird hier nicht als die obcrste Gattung eingefiihrt. Es ist mit da, wenn auch mit allem, so wie Selbigkeit und Verschicdenheit, wie sich spater zeigt, mit jedem Seienden mit da sind. Man bemerke aber, dafi hier nun auch B e w e g u n g und Ruhe, Vcranderlich-
1S Fiir die Beziehungen des >Timaios< zum »Sophistes< vgl. meine Studie -Idee und Wirklichkeit in Platos >Timaios«, Ges. Werke Bd. 6, S. 249ff.
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keit und Unveranderlichkeit, und zwar mit dem Sem, dem ov, als etwas akzeptiert wird, das allem z n k o m m t und alles verbindet. Man sicht daran wieder, wic sehr der Eleat auf die Vormeinung des Partners Riicksicht n i m m t . M a n fragt sich aber, was Theatet jetzt bewegen kann, zuzustnnmen, nachdem er i m m e r auf dem Gcgenteil bestanden hatte. O f f e n b a r ist er im Mitgchen mit der D e n k b c w e g u n g des Eleaten l m m e r h i n so weit gclangt, dafi er sieht, daB zu allem, zum Vcranderlichcn wie zum Unveranderlichen, Sein gchoren kann. Was es bedeutet, der B e w e g u n g , diesem Nichtsein, Sein zuzusprechen, ist ihm gewiB zunachst n o c h gar nicht klar. Vermutlich denkt er noch i m m e r so, wie er die Ideenfreunde vertrcten hatte: nur die Ideen sind oviwc ovnia (248an), rpepovv (248e 4 ), omoiq (249ci), alles Werden ist aXXoie aUtx (248a! 2 ). Was ich hier meist mit >Mitdascin( wiedergebe, umschrcibt der Fremde zunachst mit >Mischung< (pJ(K) u n d fiihrt erst langsam den platonischcn Ausdruck der pide&q, der Participatio, der Teilhabe ein. Auch dieser Ausdruck wird bei Plato oft mit anderen Ausdriickcn abgewechselt, wie M i schung, Gemcinschaft, Dasein usw. >Tcilhabe< u n d >Teilnahmc< bedeutet hier nicht ein Haben oder cin N e h m e n , sondern cin Sein 16 . O b es sich dabei u m das Mitsein des einen Begriffs, der einen Idee mit der anderen handelt, oder ob cs sich um das Mitsein der Idee mit einem jeweils einzeinen Seienden handelt, oder ob cs sich u m das Mitsein der Idee mit der Psyche, also mit dem Erkcnnenden handelt, man hat mit Recht diese drei A n w c n d u n g c n der Begriffe bei Plato untcrschicden 1 7 —jedenfalls handelt cs sich hier u m ein allgemeines Strukturverhaltnis eigener Art. M a n kann das weder mit T u n und Leiden beschreiben, noch mit N a c h a h m u n g oder wic i m m e r , als ob diese Gattungen eigene Seinsbereiche waren. So sind diese Gattungen nicht. Sie sind a'hta. So wird etwa auch v o n der Bewegtheit gesagt, daB sie >verschieden ist von der Vers chic denheit< (ebenso wic v o n der Selbigkeit und von der Stasis, 256c s ). A u f der anderen Scitc ist alles Seiende Verschiedenes. Jedes Seiende hat an der Vcrschiedenheit teil, sofern cs anderes nicht ist. »Dic N a t u r der Verschiedenheit zeigt sich vielfaltig ausgeteilt wie das Wissen« (nada/up tnt07r/)t!j 257cgl. So crgibt sich (258e), daB die Verschicdenheit nichts anderes ist als das Sein des Verschiedenen in seiner eigenen Ausgeteikheit. N u r 111 diesem Sinne ist Verschicdenheit nut allem Verschicdenen mit da, Wieder ist es m e h r als cin bloBer Vergleich, w e n n hier Verschiedenheit mit den Wissenschaften verghchen wird. Die Verschiedenheit ist so in allem Verschiedenen mit da und nirgends sonst, ebcnso wie 16 Das T h e m a der begegnet seit 1930 vielmals in meinen PI a to studien. So auch besonders neuerdings in >Plato als Portratist.. in diesem Band S. 245 ff. 17 Vgl. E R N S T H O U M A N N . Methexis und Metaxv bei Platon ( 1 9 1 8 ) . In: DF.RS., Drei Schriften zur griechischen Philosophie. Heidelberg 1 9 6 4 , S. 2 9 - 5 1 .
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Wissen heiBt, daB rnanjeweils unterscheiden kann, oder, wie unsere Sprache cs sagt, daB m a n Bescheid weiB. Wir haben festzuhalten, daB diese )gro6ten< Gattungen >rranszendental<, d. h. nicht nach der O r d n u n g von Gattung u n d Art gcdacht werden diirfen. Sie sollen vielmehr das sein, was alle U n t e r scheidung, Spezifikation, Identifizierung und damit alles Wissen und Erkennen uberhaupt moglich macht, so wie die Vokalc die artikulierte Rede moglich tnachen - und sogar Kivr/oK und mame gehoren dazu. Diese Feststellungen werden bedeutsam fiir einen weiteren Schritt. Dcr Fretnde zeigt namlich, daB der Logos als solcher, in dem sich alle diese >groBten< Gattungen verflechten, insofern selber ein allumfassendes >Gcschlccht* ist, eine eigene groBte Gattung. O h n e sie gabe es uberhaupt keine Philosophie (260a). Wieder versteht Theatet kaum, was damit eigentlich gesagt ist (QVK Zfiadov 260b 4 ). Da muB ihm erst gezeigt werden, daB es von Nichtsein und Tauschung und falschcm Anschcin im Logos und in der Doxa formlich wimmelt (260c 8 ). Das wird ihm mit Hilfe der Unterscheidung gram m a ti scher Begriffe, von H a u p t w o r t (ovojta) und Zeitwort if'filial, verdeutlicht. Mit dieser grammatischen Strukturanalyse von Logos ist der entscheidende Schritt markiert, den Plato iiber Parmenides hinausfiihrt. GewiB spiegelte schon das Lehrgedicht die Untrennbarkeit von >Sein< und >Nocin<. Sie bekraftigte dort, was Parmenides stcts im Auge hatte, namlich daB Sein >Prascnz< ist. N u n aber zeigt sich: Nennen ist noch kein Sagen. Ancinandergereihte Worter sind noch keine Rede, die etwas besagt und sichtbar macht {fhjXomia 261de). Eine Aussage ist es erst, wenn dem ovojia, dem )Hauptwort*, das prjjia, das Zeitwort, nicht fehlt. Zeit? Wie in der Verdcutschung von pf}pa mit >Zeitwort<, w u r d e in dem griechischcn Worte zweifellos das FlicBcn der Worte gehort, also Kinesis und damit auch Zeit. All das k o m m t dem sonst nur den U m g a n g mit Zahlen gewohntcn Theatet offenbar recht unverstandlich vor. Es haufen sich Antworten wie: >Wic?<, >Das habe ich nicht vcrstanden* (Soph. 262ff.). Logos ist hier eben eine andere Art von Fugung als die Reihung von Zahlen. Nicht nur, daB Logos das ZucinandcrPasscn von zwei Ideen cinschlieBt oder ausschlieBt. Es liegt darin auch noch die Zeitigung der Aussage selber, die im gegebenen Beispiel diesen Theatet hier meint, diesen in die Zeit geworfenen Menschcn. Wenn cs da heiBt > Theatet fliegt;, dann kann m a n nicht zweifeln, daB das falsch ist, weil Theatet ein Mensch ist und kein Vogel. Die Unvcrtraglichkeit der Idee Mensch mit der Idee des Fliegens macht klar, daB hier etwas Unmogliches ausgesagr ist, nicht cigcntlich etwas Unrichtiges, obwohl cs zweifellos auch unrichtig ist. Ausdriicklich wird deswegen auch diesem >Theatet fliegt< hinzugefiigt >der hier sitzt*, gleichsam utn das Unmogliche von dem Unrichtigcn zu unterschcidcn. Auch das konnte falsch sein, daB dieser Theatet hier sitzt. Er konnte ja auch vor ihm stehen. Nicht umsonst
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scheint mir dieser Satz (Theatet fliegt< als u ode M y x , als >Dein Satz< bezel chnet. Die Unmoglichkeit des Fliegens komrat diesem Einen so gut zu wie die Richtigkcit oder Unrichtigkeit des Sitzens oder Stehens. Es k o m m t diesem Einen zu wie jedem anderen. Sein Menschsein mit alien seinen wcsenthchcn Moglichkeitcn u n d Unmoglichkeiten sind die seinen. Es ist dieser Theatet, der hier sitzt. Das ist also die Funktion des gewahlten Beispiels fur die eigentliche Dcnkhandlung des Gespraches, namlich die Hinfiihrung des Theatet, der der leeren Streitkiinste miide geworden war. Wenn er hier die Schrift des Protagoras iiber den Ringkampf zitiert, tut er das sichtlich nicht mit Begeisterung (Soph. 232d). Damit gewinnt die Wendung, die das Gesprach zum Logos als Gattung g e n o m m e n hat, besondere Aussagekraft. Der grammatische O b e r g a n g von dem Z u s a m m e n der Ideen zu der von dem Z u s a m m e n von O n o m a u n d Rhema gcbildeten Aussagc tut in Wahrheit einen wichtigen Schritt (261 d). Die Selbstverstandlichkeit der Teilhabe des Einzelnen an der Idee, oder besser der Gegenwart der Idee in dem Einzelnen, wird damit illustriert. Sie ist in alle Rede von ideen eingeschlossen und bildet daher gar kein besondcres T h c m a der Dialektik. Sic ist mit der lebensweltlichen Erfahrung zusammengeschlossen, die von d e m lernbaren Wissen, den >Mathcmata<, nic ganz cingcholt werden kann, O b cs dieser Theatet ist und ob er sitzt oder steht, das muB man sehen. Das kann man nicht wissen, wic man weiB, daB cin Mensch nicht flicgen kann, ob es nun dieser einzelne ist oder ein anderer l s . U n d siehe da, auf einmal ist das Pseudos, dessen Erweis Theatet im Gesprach mit Sokrates (im Theatet-Dialog) nicht gelungcn war, an ihm selbst demonstriert worden. Er erkennt an dem Beispiel mit sich selbst, daB sogar Vermischung von W a h r n e h m u n g und Ansicht falsch sein kann (264b 2 ), und so ist erst recht das Falschseinkonnen einer Aussage oder eines Logos unbestrcitbar. Die Ausflucht des Sophisten ist gescheitert. Der letzte Gang zum Dingfestmachen des Sophisten kann beginnen. Denken wir zuruck, wie am Anfang des Gespraches die schon deutlich sichtbarc Gestalt des Sophisten wieder ins Ungreifbare zu e n t k o m m e n schicn, weil die Untcrscheidung zwischen abbildender und scheinbildender Rede an den ungelosten Riitseln von Bild und Schein ganz ins Stockcn geraten war. Jetzt liegt nach allem die Einrede des Sophisten hinter uns, daB es uberhaupt keinen Schein geben kann. So ist es einfach zu sehen, daB cs sich bei dem Sophisten nur u m falschen Anschein handeln kann, also u m Gaukelei (yavmamcii). Wir hatten gesehen, daB es sogar fiir den Frcmdcn aus Elea
16 Ich erinnere mich zahlreicher scharfsinniger Arbeiten 7um ifliegenden Theatet' (einige Bei spiel e sind erwahnt in Bd. 6 der Ges. Werkc, S. 147f. A. 24). Man m o g e meine >einfache< Losung priifen.
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schwicrig war - und nicht nur fur den jungen Theatet - das so ahnlichc Erscheinungsbild des Philosophen und Sophisten, die beide es blofi rait den Logoi zu tun haben, zwischcn Abbild und Scheinbild aufzuteilen. A u c h j c t z t bereitet der Fremdc aus Elea den Theatet sorgfaltig vor, damit es einleuchtet, im Unterschiede zu den gottlichen Bildungen den menschlichen Nachbildungen den bloBcn falschen Anschein zuzuweisen. So leitet die A n w e n d u n g der grundlegenden Unterscheidung von Abbild und Scheinbild die nahere Differenzierung der den Anschein von Wissen erweckenden Kunst ein. Hiermit vollzieht sich die letzte, entscheidende Wendung, den Sophisten dingfest zu machen, die die Spharc der XOYM hinter sich laflt. Von der Reihc der weiteren Differenzierung en sagt namlich der Eleat, da (3 uns dafiir die Bczcichnungen im allgemeinen fchlcn (267d). Das ist ein wichtiger Hinweis, daB wir uns hier in einer Richtung bewegen, der man doch wohl nicht zufallig nicht die rechte Aufmcrksamkeit gcschenkt hat. Am Ende wird erst diese Wendung zur wirklichen Unterscheidung des Philosophen und des Sophisten fiihrcn. DaB m a n da nicht einmal Bezeichnungen besitzt, macht deutlich, wie die Verkcnnung der wahren Dialektik und ihre Vcrwechslung mit der bloBcn Scheinkunst der Eristik allgcmein verbreitct war. Was zu der siegreichen sophistischcn B e w e g u n g gefuhrt hat, war in Wirklichkeit eine allgemeine Verwirrung. Ihre Aufklarung kann sich nicht auf verfiigbare Begriffe sttitzen, die sich wie Kaih yhij einandcr unterordnen. Die U n t e r scheidungen fehlen hier (267d5). Es geht eben u m eine Unterscheidung, die noch hinter unsere Begriffe zuruckgeht. Es ist die Frage, ob einer als cin Wisscnder oder aus Unwissenheit den Anschein des Wissens vortauscht. Jedenfalls handelt es sich hier nicht mehr um N a c h a h m u n g durch Rcden, sondern u m Selbstdarstellung. Der Unterschicd liegt nicht in Argumenten, sondern in der Intention des so Argumentierendcn. Darin allein lassen sich die Philosophen von den Sophisten unterscheiden. Aristoteles hat diesen Punkt richtig verstanden, wenn er in Buch / der >Metaphysik< den Sophisten v o m Dialektiker (was er so nennt) nur durch die Grundhaltung des Lebens unterscheidet (zov fiiov zij itpoaipeoei Met. T 2 , 1004b?4). Sie ist es, die den die Wahrheit suchcnden Dialektiker gegeniiber dem Sophistcn auszeichnct. Das bestatigt der SchluB des platonischen Gesprachs. Es sind nicht iiberlegene Argumente, durch die die Unterscheidung schlieBlich gelang. Es war durch Mitgehen mit dem Gesprach, das der Eleat fiihrte. Er hat den skeptischen Mathematiker so in die N a h e zur Sache gefiihrt, daB er falschem Anschein kiinftig nicht mehr erliegt. So wird er auch fortan der Rechcnschaft fahig sein, die er in dem Gesprach mit Sokrates schuldig blieb. Er weiB jetzt besser, was Logos ist und was wirkliclics Wissen ist und wie es sich v o m sophistischen Scheinwerk unterscheidet. Was die Schrift von der tdealen Stadt in groBen Linien zum T h e m a erhoben hatte, den Aufstieg iiber die Mathematik hinaus zur Dialektik (Rep.
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Sokratischer Dialog unci Platonische Dialektik
VI), hier w u r d e er nicht nur angekiindigt, sondern hat sich in Theatet in persona, und vor den Augen des Lesers dieses Dialogs, vollzogen. Die Fiihrung durch den Elea ten hat geholfcn. Theatet wie der Leser laOt die herrschenden Vorurtcile iiber den Sophisten an sich verstandnisvoll voriibcrgehen, wenn er dort den Sophisten als Angler nach Mcnschen u n d j a g e r auf Menschen oder als Handler mit Wissen oder als bloBen Gaukler charakterisiert sieht. Er hat gelernt, d e m Anschcin nicht mehr zu vcrfallen, als o b cs aufnichts anderes ankamc als auf Argumentationskunst. Das ware nochmals die Verwechslung des Sophisten mit einem wirklichen Philosophen, der im Helldunkel von Frage und A n t w o r t Wahrheit sucht. Es bleibt dabei, die beiden sehen einander ahnlich, aber wie der Wolf und der H u n d (231 ae). A m Ende weiB es Theatet, und nicht, weil er nun den Sophisten zu definiercn gelernt hat, sondern weil er mit d e m Mitgehen in diesem Gesprach zu unterscheiden gelernt hat. Damit hat sich cine ganz andere Dimension geoffnet als die der Logoi als solche, des Erscheinenlasscns von Sachverhaltcn, wahren oder falschen. Es geht diesen Redekiinstlern gar nicht um Wahrheit. Plato nennt das den sich verstellenden Nachahmer und unterschcidet abermals zwei Formen dieses sich verstellenden Nachahmers, also dieser Unwissenden, die sich als Wissende darstcllen, ohne deshalb Betruger oder Liigner zu sein. Das ist auf der einen Seite der Demagogc, der vom Beifall lebt und sozusagen hingerissen ist. Er ist dem vcrfallen, was ihm die Redckunst jeweils zufallen liiBt. Es ist das, was der >Gorgias< als Schmeichelkunst charakterisiert (Gorg. 463b, 501c). Auf der anderen Seite ist es der Sophist, der im Diskutieren und Argumentieren siegreich dastehen und das letztc Wort behalten will. Beide gehoren eigentlich nicht in die Dimension der Logoi, die denkende Rechenschaft geben, sofern ihrc Rede N a c h a h m u n g von Wissen und Scheindarstellung im Anschein des Wissens ist. Ihre Rede hat bloB einen tauschenden Anschein und bleibt in Wahrheit ein Nichts. Auf diesem langcn U m w e g e iiber die Anerkennung des >Nicht< weist der Fremde aus Elea am Ende auf die Scheinhaftigkeit und Nichtigkeit der Sophistik, diesen falschen Schein der wahren Dialektik. Man muB schon hinter Parmenides zuriick oder iiber Hegel hinaus nach vorn blicken bis zu Nietzsche, wenn man mit Plato nochmals die Z u g e h o rigkeit der Nichtigkeit des Scheins z u m Scin wirklich ernst nehmen will und nicht mehr meint, sic mit Hilfc von >Wissenschaft? als eine bloBe Beirrung von sich abhaltcn zu konnen. In Wiederaufnahme der Radikalitat Nietzsches hat Heidegger von da aus einen Schritt zuriick versucht und eben damit einen Schritt nach vorn getan. Er hat die Grenze des griechischen Denkens der Aletheia erkannt und damit auch die Pragungskraft, die fiir die neuzeitliche Weltzivilisation von diesem griechischen Anfang des Denkens ausgegangen ist. -
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Mein eigenes Interesse am >Sophistes< u n d iibcrhaupt an dem platonischen Dialogwerk ist vor allem durch die Diskussion motiviert, die Heidegger iiber die Metaphysik und insbesondere unter dem Stichwort >Uberwindung der Metaphysik* ausgelost hat. In seinen spateren Arbeiten hat nun der lang vorbereitete Schritt, hinter die aristotelische Ontologie zuriickzukommen, zur Folge gehabt, dafi Heidegger aus den Triimmern der vorsokratischen Uberliefcrung Winke und Spuren des anfanglichen Denkens der Griechen hcrauszuhorcn gesucht und zu denken gewagt hat. Da unsere Berichte durch Aristoteles gepragt sind, ist das cine auficrordentlich schwierige Aufgabe, die vielleicht nur mit Gewalt zu losen war. In Wahrheit hat da Heidegger etwas ganz Ungewohnliches gewagt, indem er eine schriftlose Uberlieferung beschworen hat, eine nur in dem Nachhall der griechischcn Sprache, ihrer Worte u n d U r w o r t e , sich abzeichnende Vorzeit. Er hat sie wie ein Wiinschelrutcnganger nach verborgencn Wasscradern abgeschritten. Das macht seine Studien zu Anaximander, Parmenides und Heraklit ebenso bedeutungsvoll fur seinen eigenen, ganz heutigen und zukunftweisenden Weg. Sie verbliiffcn uns freilich durch die Kiihnheit seiner Deutung fragment ariseher Texte. D e n ersten festen Boden, den wir mit ahnlichem Interesse crreichen konnen, bietet mir nun in meinen Augen das platonische Dialogwerk. Platos Denken der Idee scheint mir nicht, so wie Heidegger Plato zeichnet, den Schritt zur aristotelischen Metaphysik vorzuzeichnen und, wie Heidegger sagt, durch diese Wendung die A b w e n d u n g von dem Denken der >Aletheia<, der Wahrheit, zur blofien >Richtigkeit<, der opdoir^, eingelcitet zu haben. Diese von Heidegger als Vorbereitung der aristotelischen Metaphysik verstandene >Wendung zur Idee< findet sich jedenfalls nicht gerade im >Sophistes<, der ja bekanntlich von Vielen geradczu als ein Abriicken von der Ideenlehre verstanden wird. Heideggers Marburger Vorlesung iiber den >Sophistes* v o m jahre 1924, die ich nur in vagcr Erinnerung eines unreifen Zuhorers kennc, der ich war, schien mir nicht so sehr auf diese einzige Funktion hin stilisiert gewesen zu sein wie das, was Heidegger spater in >Platos Lehre von der Wahrheit* erstmals offentlich dargestellt hat. Meine eigenen Arbeiten an Plato hatten mich umgekehrt i m m e r mehr an die dialektischen Dialoge der Spatzeit verwiesen, und meine Vertiefung in den >Sophistes< zeigtc sich mir mehr und mehr als eine Offnung von Horizonten, innerhalb deren sich zwar die Frage nach dem Sein u n d dem Logos in verschiedenen Belcuchtungen zeigt, aber kaum als blofie Vorstufe zu der aristotelischen Physik u n d der auf sie gcgriindeten Metaphysik angesehen werden kann. In der platonischen Dialektik liegt vielmehr eine eigene Perspektive auf die Belebung der Seinsfragc, die nicht in der Ontotheologie des Aristoteles gipfclt. Man darf nicht wie Heidegger in der Anmessung an das Eidos den entschcidenden Schritt Platos sehen, sondern in der Offnung fiir die Logoi, in denen Verhaltnisse zwischen den Ideen ans Licht gehoben werden 1 9 .
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Ein platonischer Dialog ist i m m e r vielsinnig, und wohl keiner unter den platonischen Dialogen ist so vielsinnig wie der >Sophistes<. Die ganze Kunst des Denkers Plato ist hier im Reichturn der Anspielungcn und im Offenhalten der Deutungsmoglichkciten wahrhaft auf ihrem H o h e p u n k t . Man kann die Wirkung eines solchen platonischen Dialogs geradezu daran messen, welche Vielfalt das platonische Erbe im Kreise der Akadcmie gezeitigt hat, zu dem ja nicht zuletzt die iiberwal tig ende Prasenz der aristotelischen Physik und Metaphysik gehort. Es scheint mir weder richtig noch moglich, aus dem bloBen Studium des >Sophistes< und der anderen erhaltenen Schriften Platos oder denen des Aristoteles oder gar aus der Doxographie eindeutige Lehrcn ableiten zu wollen, die den AnstoB des Dialoges >Der Sophist* erschopfen. Was man aber fcststcllen kann, das ist, daB auch im Erbe der Akademie das Verhaltnis von Logos und Sein liberal] mitspielt, das den Dialog >Sophistes< beherrscht. Man kann die Logos-Analyse des >Sophistes< u n d den ihm nahcstchenden Begriff der >Methexis< in alien Zeugnissen, die wir besitzen, wiedererkennen und sie alle als Ansatze zur Vorgeschichte der Metaphysik verstehen. D o c h will mir scheinen, daB der platonische Standort dieser Frage nach d e m Sinn von Sein jcdenfalls nicht in dem Substanzbegriff des Aristoteles zu suchen ist, d e r i m Sein das Vorhcgcnde, das Subiectum denkt, auf das sich Pradikationen bezichen. Es scheint mir auftieferliegende Bezugehinzuzeigen, wenn der Frcmde aus Elea die grammatische Wahrheit aufgreift, daB eine Aussage sich erst im Zeitwort vollendet. Darin liegt ein bedeutsamer Wink, daB der Sinn einer Aussage und damit auch der Sinn von Sein, den sie voraussetzt, jeweils davon abhangt, unter welchem Gesichtspunkt das Seiende gesehen und angesprochen ist. Erst in diesem Bezug, also einem a/Jik ri, tritt Sein uberhaupt heraus, und wie auch immer, vollendet cs sich erst durch seine Verzeitlichung. Wenn dieser Theatet hier sitzt, dann ist es dieser gegenwartige Mensch. Zugleich ist aber darin gegenwartig, daB ein Mensch sitzen kann. Das zu wissen, braucht man Theatet nicht einmal zu kennen. Die ganze Amplitude des Scinsdenkens zwischen dem >Dieshier< und seinem >Was-Sein< spiclt hier hinein, die bereits die Kategori en schrift festlegt und die von den aristotelischen Begriffen von >Dynamis< u n d >Encrgeia< durchmessen wird. Die Kontingenz des Partikularen ist zwar nie im Logos grcifbar, aber der Logos umfaBt auch diese, indem er »Dieses« sagt. So hat es einen guten Grund, daB Aristoteles in seinem Sprachgebrauch >Sein< im Sinne der Kategorien und >Sein< im Sinne von Energeia und Dynamis unterschcidet und doch gerade nicht voneinander trennt. Die Bcwegtheit des Seienden, das im Logos herauskommt, und die Bewcgtheit " Sowcit ich sehe, hatte W H I T E H E A D ahnlichcs im Auge, wenn er Relation als Perzeption v e r s t a n d - eine >FuBnote 2u Platoi.
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des Partikularcn, das in die Bewegungsordnung der N a t u r eingelassen bleibt, sind ineinander verzahnt. Das zeigt sich dcutlich in der Analyse von Buch /I der aristotelischen >Metaphysik<. Da wird zunachst das analogische Verhaltnis von Ursachc und Verursachung ausfiihrlich dargelcgt, und dann wird auf einmal das durch die Feststellung iibcrholt, sofern es notwendig ein hochstes Scictides geben muB, das als der unbewegte Bewcger die ganze Bewegungsordnung erhalt. Der aristotelischc E n t w u r f der Ontologic endet geradezu damit, in der Kritik an dem Plato-Nachfolger Spcusipp als Konsequenz einzuklagen, daB nur Einer Hcrr sein kann. Das hat sogar in Plato eine gewisse Entsprechung, sofern Plato das Sein des Faktischen nicht anders als durch einen Demiurgen denkbar findet 2 0 , so im )Sophistes< (265cf.), im >Philcbos< (28cff.), im >Tirnaios< (30dff.). Dariibcr hat Aristoteles gespottet, das sei eine leere Metapher, und doch hat schon Theophrast ihn selber vor die Frage stellen miissen, ob nicht das Bcwcgende, das durch Geliebtwerden bewegt, die Scclc des Liebenden voraussetzt. Gerade dazu haben wir im obigen Durchgang durch den >Sophistes< Andeutungen finden konnen. Das Sein ist in seinem hdchsten Seienden die Verkorpcrung rcincr Bcwegtheit, und als das schlechthin Seiende (if) navu-Xwc ov) ist es Psyche und Nous, und doch ist cs so, daB Sein immer nur im Logos auflcuchtet, der jeweils eine Idee mit einer anderen zusammcnschlieBt und von einer anderen ausschlieBt. Am Ende handelt es sich hier u m die Lcbcnsspannung unseres Denkens selber, wic ich im Laufe meiner griechischen Studien immer klarcr erkannt zu haben meine. Das Gottliche, das in allem ist, und der Gott, der von allcm getrennt das Ganze in B e w e g u n g halt, sind zwei Seinsaspekte, die als Platonismus oder als Aristotelismus das ganze Denken der Mctaphysik bis in die Neuzeit und iiber sie hinaus in Atem halten.
20 Vgl. dazu a u d i >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles*. in diesem Band, S.216f.
III. Im Zeichen Platos
14. Die sokratischc Frage und Aristoteles (1990)
Jedes Verstandnis dcr Entwicklung der Idee eincr praktischen Philosophic bci den Gricchcn hangt d a v o n ab, zu sehen, daB hier zwci gattungsmaBig grundsatzlich verschicdcne F o r m e n philosophischer Texte in Plato u n d in Aristoteles auf uns g e k o m m c n sind. Kunstvolle Gesprache, die Sokrates oder cinen ihm Glciclienden in lcibhafter Gegcnwart heraufrufen, und auf der anderen Seite kunstlose Zeilen eines in Denkarbeit und lehrendcn W o r ten sich artikulierendcn Geistes. Das eine ist Litcratur im hohcn Sinne des Wortes. Das andere ist ein schwer zu entzifibrndes, z u m gedanklichen Lcben erst zu crweckendes Material. Aber beidem gegcnuber ist es die gleiche Aufgabe. Die zwei Arten von Text, wie zwci F o r m e n des Sagens, begcgnen als die gleiche Bcmiihimg, Rechcnschaft zu geben u n d datnit die sokratische Frage ihrcr Wahrheit entgegenzufuhren. D e n Arten von Text entspneht die Art ihres Inhaltes. Auf der einen Seitc haben w i r in Platos Dialogen die l i e w c g u n g des Gesprachs wie einc lebendige Anamnesis, eine Weckung v o n Vorwisscn u n d eine G b u n g im Festhaltcn des GewuBten, das sich erst in solchem Festhaltcn aus einem u n b e s t i m m t e n Z u s a m m c n h a n g zu seiner Eigenbestimmtheit erhebt. Die innerc Einheit von >Anamnesis< und >Dihaircsis<, v o n Weckung u n d H e r v o r h o l u n g der Idee aus einem noch nicht erhellten G r u n d e , u n d auf der anderen Seite die differenzicrende D u r c h f u h n i n g dieser denkenden E r i n n c r u n g , prascntiert sich nicht n u r in dcr Satzform v o n Frage und A n t w o r t , v o n A r g u m e n t und Aporie, sondern zugleich als ein Miteinander v o n Mcnschen, dercn Worte einander zugesprochcn werden u n d darin auch eine letztc Beglaubigung finden. Es ist ein kommunikatives Geschehen, das nicht n u r die W o r t e erst durch den Austausch und die Gemeinsamkeit des Gesprachs in ihre cigentlichc Wahrheit bringt, sondern auch die Mcnschen, die sich so begegnen, erst in ihr EigentLiches fiihrt. Alles schcint wie behcrrscht v o n der sokratischen Frage nacli dem Guten. Wie in einer w u n d e r b a r e n Incinanderspiegelung begcgnen diesem platonischen E r i n n e r n Seelc, Stadt u n d All als grofie Bilder jcncs Guten, nach dem die sokratische Frage fragte und auf die unter seinen Zcitgcnossen die Antworc stets ausblieb. So ist es ein in cine neue Wirklichkeit ausgezogener Fragehorizont, dcr sich halb im Logos, halb i m M y t h o s
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Im Zeichcti Platos
darstellt. Nicht erst Logos, der dann in einem Mythos seine K r o n u n g findct. In jedem seiner Schrittc ist beides, Gedankc utid Geschichte, Logos und Mythos. Auf der anderen Seite steht das aristotelische Werk. Auch hier begegnen zuweilen Argumentationsreihen und Analysen von hinreiBender Konsequenz und zugleich von stilistischer Kraft. Von den philologisehen Forschern sind solche Passagen vielleicht mit Recht als Zitate aus echtcn, uns verlorcnen Litcraturwerkcn des Aristoteles diagnostiziert worden. Sein (flumen orationis aureunn war im Altertum beriihmt. Was wir lesen, sind aber in der Regel ein sorglos-elliptisches Geflecht von Notizen, die alle von der lebcndigcn Sprachc ausgehen und innerhalb derselbcn Bedeutungsfclder umgrenzen, Bedeutungsrichtungen auszeichncn und den Gedanken auf diese Weise auf den Begriff zu bringen strcbcn. Soweit es sich u m die A u f n a h m e der sokratischen Frage nach dem Guten handelt, sind diese Texte bestrebt, das Gute im menschlichen Leben als cin npaKi&v, das heiBt, in der ganzen Konkretheit von Praxis, auf den Begriff zu bringen. Z w e i T e x t f o r m e n , zwci Werkgestalten des Dcnkens stehen hier vor uns, die auf die gleiche Frage A n t w o r t suchen. Schon als Beginncndetn war mir die hier licgcride Aufgabe bewuBt, die Frage nach dem menschlichen Guten, wic sie der platonische >Philebos< in der kunstvollen Fiktion eines Mischens des Lcbcnstrankes stellt, mit der aristotelischcn Analyse der Selbstauslegung des menschlichen Dascins in seinem Streben nach dem Guten zusammenzudenken. Es geht u m die Gcgenwart der sokratischen Frage in Aristoteles. Danach habe ich mich insbesondere im Blick auf die Arbeiten von Leo Strauss oft gefragt und vcrsuche hier eine Antwort. Man muB sich der aristotelischcn Ethik nicht so sehr mit der Frage nahern, worin Aristoteles sich gegen Plato und den platonischen Sokrates abzugrenzen sucln, sondern vielmehr, wie Aristoteles das geistigc Erbe, das er durch Plato von Sokrates cmpfing, aufzunehmen und in sein Denken einzubegreifen unternimmt. Wie sehr diese Fragcstellung ein angcmessener Zugang zu der praktischen Philosophic des Aristoteles ist, zeigt sich schon am Begiim der Nikomachischen Ethik. D o r t wird das P r o g r a m m einer praktischen Philosophie entwickelt, und darin spricht sich das voile BewuBtsein aus, daB Aristoteles hier cin sokratisch-platomschcs Erbe zu verwalten hat, wenn er nach dem Guten fragt, das in aller menschlichen Verrichtung, des forschenden Geistes wie des praktisch handclndcn Menschen, das ist, worauf es a n k o m m t . Das Gute erscheint als das Worumwillen des menschlichen Wissens und Wahlens. Aristoteles verlangt nicht, wie Plato im Munde des Sokrates, von diesem oder j e n e m , der ihm begegnet, Rechenschaft. Aber er sucht sich selbst und denen, die ihm zuhoren oder ihn lesen, Rechenschaft zu geben. Rcchcnschaft geben heiBt Rede stehen. Die Weise, wie Aristoteles Rede steht, laBt uns unsere eigenen Fragen in ihm
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wiedcrerkenncn. Es handelt sich u m cine doppcltc Frage, die hier noch immer, wic bei Sokrates, als eine erscheint. Es ist offenkundig cinerseits die Fragc, die sich im Vollzug des praktischen Lebens stcllt u n d das Gute, das Richtige in der eigenen Wahl und Entscheidung, zu treffen sucht. Auf der anderen Seite steht eine Art BcwuBtmachung dessen, was richtigcs Handeln und vcrniinftiges Wissen iiberhaupt sind u n d was sic allcin sein konnen. So zerfallt unsere Besinnung von vornhercin in diese beiden incinandergefiigtcn u n d doch auch wieder voncinander abgehobencn Fragen nach dem praktischen Wissen des Mcnschen und nach der denkenden Besinnung, die menschliche Praxis, Verhalten und Wissen, zum Gegenstand hat. Lctztcres ist das Geschaft einer philosophischen Ethik. Die Rechtfertigung des philosophisch-theoretischen Unternehmcns gegeniiber der nicnschlich.cn Praxis ist eine die Philosophie bcgleitende Aufgabe. Wic kann Philosophie der praktischen Vernunft dienen und zugleich Wissen des Allgemeinen sein? O d e r soil sie sich bloB in einem konsiliatorischen Lebcnswissen erfiillen, wie es spater im Zeitalter des Hellenismus die Signatur der Ethik wurde? So sind wir veranlaBt, zu Aristoteles zuriickzukehrcn und von ihm Aufklarung iiber den Sinn einer philosophischen Ethik und einer Begrundung oder Rechtfcrtigung einer solchen zu erbitten. Da hat m a n gewiB mit der Frage nach dem praktischen Wissen selbst zu beginnen. DaB >Arete< Wissen sei, glaubt man als sokratische >Lehre< seit Plato zu wissen. Was sagt uns Aristoteles dariiber? Dafiir ist mit dem 6. Buch der Nikomachischen Ethik zu beginnen (oder war cs urspriinglich ein Text der uns nur so verstummelt iiberlieferten Eudemischen Ethik?). Das 6. Buch stcllt sich die Aufgabe, den Faktor des Logos, auf den die genaueren EthosAnalysen i m m e r wieder hinausliefen, in seiner eigenen Begriffsstruktur auseinanderzulcgen. So ist es iiberzeugend, daB m a n keine allgemcin anwendbarcn Regeln aufstcllenkann, wenn es u m die Frage des rechten Lebens fiir einen selbst geht und man handeln muG. Da erscheint es doch zunachst als unbefriedigend, da(3 als letzte Antwort i m m e r nur herauskommt: >wie der richtige Logos es anwcist<, oder: >wie es der onovSaioc; sagen wird<, oder gar >wic es sichpaBt<. Was heiBt denn hier Logos, und wie vcrhaltsich dieser Logos zum Ethos? Das Verhaltnis zwischen Ethos und Logos priigt die Architektur der Ethikvorlesung. Es ist das Rcsultat einer analytischcn Arbeit, wie sie bereits durch Plato und in der platonischen Akademic z u m festen Bestand seiner Aufgaben geworden zu sein scheint. Aristoteles bczieht sich ausdriicklich aut diese platonische Vorbereitung, wenn er 1111 13. Kapitel des ersten Buches der Nikomachischen Ethik auf die >Exoterikoi Logoi. verweist, in denen der Unterschicd zwischen dem Xoyov fym und dem r/Xoyov durch Unterscheidung zweier Tcile der Seele cingefiihrt wird. Es ist dabei bedeutsam, was Aristoteles an andcrer Stelle noch viel ausdriicklicher einscharft,
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daB die Rede von Tcilen der Seele i m Grunde ungenau u n d unangemessen ist. In Wahrheit kann man wohl mit Sinn von Teilen des Korpers sprechen, obwohl m a n selbst da sich fragen muB, ob es angemessen ist zu sagen, man rieche mit der Nase. M a n riecht wohl mit Hilfe der Nase, aber nicht die Nasc ist es, die riecht. Das hat Plato schon im >Theatet< zu letzter Klarheit crhobcn. N o c h deutlicher ist cs abcr jcdcnfalls bei den Teilen dcr Seele, daB sich immer die ganze Seele, der ganze lebendige Mensch, in die eine oder in die andere seiner Seinsmoglichkciten hincinlegt. Man ist jeweils ganz darin, wenn man fiihlt, strebt oder denkt. Selbst bei dcr Eintcilung der Seele, die Plato in der >Politeia< mit kunstvollem Nachdruck begriindet, sollte man nicht vergessen, daB die mogliche Entzweiung der ideal-cinen Burgerschaft und derideal-einen Stadt zugeordnet ist. Das heiBt namlich, daB im Grunde das Ideal einer Stadt dann besteht, daB in ihr dieTeile, die Klassen oder wie immer man das bezeichnen mag, was die Biirgerschaft einer Stadt bildct, in Eintracht leben und nicht in Zwist und Entzweiung und in den Schrecken des Biirgerkrieges. Genau in dcmsclbcn Sinne ist von dem Einklang der Seele und von der Einheit des Menschen auszugchcn, der sich seinen n o r m a tiven Orientierungen nach eincrscits in der Weise des Ethos, andcrcrseits in der Weise der Phronesis begrifflich auslegen laBt. Auch hier ist nicht die Entzweiung, sondern die Einheit das Wcsentliche. Aristoteles selber gibt zur Veranschaulichung des reinen Aspektcharaktcrs dieser beiden Aspekte die Unterscheidung der konkaven Seite und konvexen Seite einer Wolbung. Die Aufgabe, die sich Aristoteles fur die Bcgriindung der praktischcn Philosophie gestellt hat, ist also in erster Linie, diesen inncrcn Z u s a m m e n h a n g aufzuklarcn, der zwischen einem Wissen dessen, was praktisch das Rechte ist, und dem Ethos, dem gewordenen und schon vorgeformten Sein des Menschen, besteht. Es handelt sich also nicht u m ein Wissen fiir jedermann. Es ist nicht ein Wissen, zu dem einer durch Lernen gelangen kann. Dies Wissen begegnet nur jeweils in der Orientierung, in der sich der handelnde Mensch schon i m m c r befindet und als cin durch die Gesellschaft bcrcits Erzogcner sich befindet. Insofern ist die Unterscheidung der dianoetischen und der ethischen Tugcnd eine analytische Trennung von Untrennbarcm, und das ist die cigentliche Wahrheit der sokratischen Frage nach dem Sein und Wissen des Guten 1 . Wenn das so ist, dann ist bei den notwendigen Unterscheidungen in der Weise des Wisscns, u m die es hier gehen wird, eine doppelte Unterscheid u n g zu machen. Die eine ist die Unterscheidung der Art des theoretischen ' DaB der Ausdruck npumpsou; am Ende auf die gleiche Untrennbarkeit von tJJK und tfpimpK, zielt, hat kiirzlich L . C O U L O U B A R I T S I S , Leproblcme de laproairesis chez A ristole. In: Annales de l'lnsritut de Philosophie. Bruxelles 1972, S. 7-50, wie mir scheint, bestatigt.
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Wissens, die das, was ist, in semcr unveiandcrlichen Wahrheit zu erkenncn wcifl, von dcr anderen, eben der praktischen Art des Wissens, in dcr dasjenige Gegenstand des Wissens ist, was einer zu tun hat. Dabei mul! es sich urn Scicndes handeln, das sich vcrandern lafit. Das ist sichcrlich die erstc U n t e r scheidung von theoretischem Wissen und praktischem Wissen. Das klingt ganz unverfanglich, fast wie die Ncuauflagc der klassischen platonischen Unterscheidung von Sein und Werden. Aber geniigt sie? Werden wir nicht durch diese platonische Unterscheidung auf cine falsche Bahn gefuhrt? Ist das praktische Wissen, nach dem wir fragen, wirklich cin Wissen von Verandcrlichem u n d Veranderbarem? Da wird cs einetn doch dringlich, dasjenige Wissen, das wir so wesentlich mit dem Ethos vcrschmolzcn finden, von jenem anderen Wissen zu unterscheiden, das das Hcrstellen von ctwas im Augc hat. D e r Handwerker niacht etwas kraft seines Wissens und Konnens, i n d e m e r ein Material, ein veranderbares Material, vcrandert. Der Handelnde hat das Gute im Auge. So schalcn sich diese zwei Schwcrpunkte heraus, die Unterschcidung des thcoretischen vom praktischen Wissen und die Unterschcidung des technischen v o m praktischen Wissen. Bcide U n t e r scheidungen werden von Aristoteles an einem Wortbestand cntwickelt, den Plato selbst wohl gewiB mit Bedacht noch ohne wirkliche Unterscheidung gebrauchte. Sie zu untcrscheiden ist die eigentliche Aufgabe der Begriffsbildung, die Aristoteles sich hier im 6. Buch der Nikomachischen Ethik vornimmt, Wir werden aus der Analyse selbst ersehen konnen, was Begriffsbildung an Gewinn bringt. U n d vicllcicht auch, was sie an Verzicht und Verlust einschlieBt. Folgen wir i m kurzen Blick auf das Ziel der Besonderheit des praktischen Wissens der genauen Analyse der flinf Formen, in denen die griechische Sprache von ciner vollkommenen Art des Wissens zu reden wufite. Das sind die >Tcchne<, das wissende Konnen, die >Episteme(, die Wissenschaft, die ;Phronesis<, das praktischc Wissen, die >Sophia<, die Weisheit, und schliefilich der >Nous<, die Vernunft (wenn es crlaubt ist, dieses fragwiirdige Aquivalcnt fur das griechische Wort vow; hier zu verwenden). In der Behandlung dieser flinf Leitworte fur vollkommenes Wissen bewahrt sich die aristotelische Unterscheidungskunst. Sie bietet Gelegcnheit, Gewinn und Verlust dcr Wendung auf begriffliches Sprcchen mit zu erwagen. Was vcrloren geht, ist ohne Zweifel die unausschopfbarc Vieldeutigkcit, die etwa das Wort der Dichtung i m m e r an sich hat, und das in detn platonischen Kunstwerk des sokradschen Gesprachs Wahrheit einschliefit, die der B e g n f f nie voll wird ausschopfen konnen, auch wenn das Begriffswort etwas von der Bedcutungsausstrahlung an sich hat, das ein in der Sprache lebendiges Wort besitzt. Aristoteles' Unterscheidungskunst hat an Platos Dihairesis, seiner dialektischcn Unterscheidungskunst, die im Gesprach gipfclt, ihr Vorbild. Aber diese bleibt bei Plato jeweils in ein oft ironisch gefarbtes
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Verstandigungsgeschehen gebundcn. Aristoteles' Begriffsanalyse will ihrerseits gewiB nicht als eine Form des Beweisens, als > Apodeixis<, verstanden werden. Sie k a n n j a auch nur Hinfuhrung, >Epagoge<, auf den jeweiligen Sinn der in Rede stehenden Dinge sein. Aber sie muB abscheiden und muB einem verscharften Anspruch bcgrifflicher Fixicrung geniigen, mehr als es im platonischen Dialoggeschehen am Platze und erforderlich ist. So wird Aristoteles hier dazu gefiihrt, seine Sache zur Klarhcit zu bringen, indem er Episteme, als Wissenschaft, von Techne, d e m Machenkonnen, d e m Wissen, wie man etwas macht und herstellt, trennt. Plato hatte dagegen die feste Verschrnclzung beider Bcgnffe, die er im Sprachgebrauch vorfand, in seinen Dialogen beibehalten. N o c h klarer wird das aristotelische U n t c r n e h men, wenn er Phronesis und Sophia voneinander abzutrennen sucht, o b wohl >Sophiai zweifellos im Sprachgebrauch der Griechen keine ausschlieBlichc Bindung an das thcoretische Verhalten besitzt. So geht hier verlorcn, was die Sprache wuBte, wenn sie die innere Zusammengehorigkeit von Episteme, Techne, Sophia und Phronesis aufgibt. Was dabei als Gewinn herausspringt, ist aber, daB sich das praktische Wissen, das >Fur-sich-Wissent als cine ganz andere Art des Wissens klar abhebt. N u r in d e m Dunkelbegriff des N o u s , der als die gemeinsame Wurzel alles wissenden Inneseins auch noch dem Logos vorauslicgt, klingt in der aristotelischen Analyse das Gemeinsame nach. Das aristotelische Grundanliegen zeigt sich aber vor allem in der Abhebung von Techne und Phronesis. Da lesen wir z. B. den herausfordernden Satz: »Es gibt von der Phronesis keine Af^j;, kein Vergessen.« (EN Z5, 1140b29). Als o b man bei der Tugend des praktischen Wissens iiberhaupt eine solche intellektuelle Leitvorstellung hatte, wie sie in der Tat dem crlcmbaren Wissen sonst und gerade auch dem der Techne z u k o m m t . Hier wird offenbar die A b h e b u n g der Phronesis v o n der Techne dadurch unterstiitzt, daB Vergessen und Verlernen der Phronesis abgesprochen werden, die eben nur lembarcm Wissen z u k o m m e n konnen. Damit wird gewiB auf die Richtung der sittlichen Vernunftigkeit, der Empfindlichkeit f u r das Verbindliche, gewiesen, die wir >Gewissenhaftigkeit< nennen konnten, ohne damit doch einen angemessenen Begriff anbicten zu konnen. Einmal habe ich llting erzahlt, daB Heidegger 1923 in dieser Unterscheidung von Phronesis und Lethe, derzufolge Phronesis kein Vergessen kenne. bemcrktc: »Das ist das Gewissen.« Das reiztc llting zum Widerspruch, u n d doch machte diese damalige provokatorische Bemerkung sichtbar, wie es Aristoteles schwer hatte, eine angemessenc Begriffsbildung fiir das praktische Wissen herauszuarbeiten. Der uns vertraute Begriff des Gewissens ist bekanntlich erst im Hellemsmus u n d mit der christlichen Wciterbildung durch das Wort >Syncidesis<, conscientia, zur Pragung gelangt und bleibt selbst da noch von allem christlich-pietistischen Beiklang frei. U n d doch wird, wer sich an die
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sokratischen Dialoge erinnert, den Z u s a m m e n h a n g zwischen sokratischer Rcchcnschaftsgabc und der Verinncrlichung des moralischen Selbstverstandnisses in der chris tlichen Lehre an erkennen miiss en. Ein Vorgang ahnlicher Art, m dem sich Schwierigkeiten der Begriffsbildung bei Aristoteles zeigen, liegt in der bewufitcn Verschicbung, die er detn Begriff der >Synesis< zumutet. Hier greift Aristoteles offenkundig einen Ausdruck fiir rein intcllcktucllc Fahigkeit auf, fiir Icichtcs Lernen, also fur das Verstehen, das im Lernen vor sich geht. Aristoteles verschicbt nun die Bedeutung von »Syncsis< in cine ganz andere Richtung, namlich die, dafi es einsichtsvoiles Verstandnis meint. Verstandnisvoll zu sein, wenn ein anderer einen braucht, hat im Bereich von Phronesis und moralisch-sittlichen Verhaltnissen seinen Platz. Das will Aristoteles zeigen. Dafiir k o m m t ihm die Nahe anderer Ausdriickc zu Hilfc, namlich yvwjiri und die wir auf deutsch etwa mit >Einsicht< u n d >Nachsicht< wiedergeben konnen. All das bringt den Bereich des imeiw^Q, des Billigen, d. h. die Billigkeitserwagung ins Spiel und das Urteil iiber menschlich-sittliches Verhalten. So gclingt es der neuen aristotelischen Unterscheidungskunst, die poetischen Mittel, mit denen Plato den sokratischen Elcnchos vorfiihrt und seine sittliche Wirkung spuren lafit, zu ersetzen und alles zu begrifflicher Aussage zu bringen. Das beruhmte Tugendwissen des Sokrates wird damit zu seinem wahren Sinn gebracht. Das wird am Ende des 6. Buches der Nikomachischen Ethik iiber die Phronesis vollig klar. Blicken wir auf die kritische Auseinandersetzung mit Plato, die Aristoteles im Bereiche der Metaphysik, der >Ersten Philosophie*, fiihrt, wird die begriffliche Unterscheidungskunst des Aristoteles besondcrs wertvoll, sofern er in seiner Kritik zu deutlicher Evidenz bringt, dafi der wahre Sinn des >Eidos< nur darin bestehen kann, im Seienden sein Sein auszurnachen. So lost er in Wahrheit nur eine falsche Hypostasierung der Idee auf. Durch seine Art der Kritik hat er uberdies das richtige Lesen der platonischen Dialoge sehr langeblockiert. In einer ganz anderen, spaten, innerlich gewordenen Seelenhaltung hat dann Plotin die Zweiweltenlehre, die Aristoteles polemisch zuspitzt und die cr eben dadurch, dafi er sie bekampft, dogmatisch verfestigt hat, ganz neu gedeutet und zum Schauplatz eines grofiartigen Welt- und Seelendramas erhoben 2 . Der Platonismus Plotins und seine U b e r n a h m e durch Augustin ist dadurch zu neuer produktiver Wirkung gelangt und hat auch die Schulform der chris tlichen Philosophic, die im Zeichen des Aristoteles ihre Vollendung erfuhr, i m m c r noch unterschwellig begleitet. D o r t wird sogar ausdriicklich, wie Aristoteles die sokratisch-platonischc Einsicht in die Einheit aller Tugend mit den aristotelischen Mitteln legitimiert. Der aristotelische Entwurf einer prakrischen Philosophie bleibt der sokratisch2
Vgl. dazu >Denken als Erlosung<, in diesem Band. S. 407-417.
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platonischen G r u n d m t e n d o n weit nahcr. als auf der anderen Seite die a n s t o telische Kritik an der Ideenlehre Platos v e r m u t e n laOt. D o r t haben wir es mit einem Stil aristotelischer A r g u m e n t a t i o n v o n b e w u f l t kritisch-argumentativer Art zu tun, der sozusagen grundsatzlich d a v o n absicht, den A u t o r , in diesem Falle Plato, in seincn eigenen wirklichen Intentionen a u f z u n e h m e n . Das groBe Vorbild alien echten Gcspraches, den A n d e r e n nicht in seincn Schwachcn, sondern in seinen Starken zu n c h m e n und p r o d u k t i v wciterzufiihren, ist ja gerade Plato. Aristoteles f u h r t seine Kritik am >Chorismos< dcr Ideen v o m B o d c n seiner Physik aus. A b e r m a n w i r d doch nicht auf den phantastischen A u s w e g zuriickfallen, den platonischen >Parmenides< f u r unplatonisch zu erklaren (ctwa f u r eine megarische Gegenschrift) - u n d m a n mtiBte w o h l dann auch n o c h den >Politikos< prcisgeben, dessen Lehre v o m jiczpiov, dem rechten MaB, und alien seincn A n w e n d u n g e n auch nicht zu der Kritik des Aristoteles pafit. Es ist also nicht Plato, sondern Aristoteles der U r h e b e r der Zweiweltenlchrc, und auf ihn geht zuriick, was iibcr den N e u p l a t o n i s m u s das Platobild daucrhaft entstellt. So bleibt cs s o w o h l ftir Plato wie auch f u r Aristoteles n o c h i m m e r zu leisten, mit ihnen ein p r o d u k t i ves Gesprach zu fuhrcn. Das N i v e a u , auf dem Hcgcl dieses Gesprach angesetzt hatte, scheint mir bis hcutc nicht wicdcr erreicht.
15. Aristoteles und die impcrativische Ethik (1989)
Gcwifl ist der impcrativische Charakter in der moralischcn E r f a h r u n g des Menschen ein wesentlicher Gesichtspunkt fiir j e d e Besinnung. >Saggezza< dagegen m o c h t e als die praktische T u g e n d der Phronesis und als Verniinftigkeit, Besonnenheit oder Klughcit (prudentia) wiedergegeben werden. Wie diese Entsprechungen deutlich zeigen, k o n n t e die >Phronesis< wie eine bloBe pragmatische Modifikation erscheinen, in der sich die strcnge Verbindlichkeit des sittlichen Gebotes in die lockcrc Ratsamkeit einer K l u g heitsregel herabmildert. So hat K a n t in seiner beriihinten Begriindung des Sittengesetzes u n d seiner Verbindlichkeit den >kategorischcn< Imperativ als ein H o h e r e s den Imperativcn der Klugheit oder Geschicklichkeit cntgegengesetzt, M a n k a n n diese Z u s a m m e n h a n g e aber auch anders akzentuieren. Wer, wie ich selber, seine ersten Denkschritte in der Tradition des N c u k a n tianismus zu m a c h e n hatte u n d w c r in der Folge die umstrittene Figur des kantischcn Formalism us mit kritischen A u g e n anschen lerntc, mufite den Reichtum u n d die Weite sittlicher Wahrheit und Wirklichkeit vermissen, die m a n bei Aristoteles findet. D e r aristotehsch.cn Herausarbeitung des rationalen Elementes i m sittlichen Verhalten steht das Ethos in seiner ganzen diffcrcnzierten Mannigfaltigkcit zur Seite. Das mit dem griechischen N a m e n ypovrpic Bcnannte ist ein W e s e n s - M o m e n t des sittlichcn Seins, das zu allem, was wir >Tugend< nennen, mitgehort. Seit Sokrates gezeigt hat, dafi das G u t e u n d die T u g e n d sich nicht v o n selbst verstehen, nicht in blofier Wahl hcroischer Vorbilder u n d in ihrer N a c h f o l g e bestehen, w i r d die Frage nach d e m Guten in neuer Bewufitheit gcstcllt u n d die F o r d e r u n g erhoben, das eigene Sein u n d Verhalten zu rechtfertigen und zur Rcchenschaftsgabe bcreit zu sein. D a n n mufi m a n sich aber cingestehen, dafi j e d e r Versuch cincr A n t w o r t auf die sokratische Frage nach d e m G u t e n i m m e r die innere Verbundenheit zwischen E t h o s u n d Logos enthalt und damit auch den A u s gleich zwischen der gcwachsenen G e w o h n u n g durch Erziehung und Gesittung u n d d e m Logos bewufiter Rechcnschaftsgabe. D e r N a m e >Ethik<, den Aristoteles, der Begriinder dieser philosophischen Disziplin, cingefuhrt hat, sollte nicht vergessen lassen, dafi Aristoteles selber wie Plato in der N a c h f o l ge der sokratischen Frage stand. Er hat die sokratische Gleichsetzung v o n
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T u g e n d und Wissen in dem Sinne in sich a u f g e n o m m e n , daB er die R e c h e n schaftsgabe in das sittliche Sein des E t h o s cingliederte. E r hat damit eine Tradition begrundet, die unter d e m Titel (Ethik* oder >praktische Philosophic* bis in die Neuzeit fortlebt. In ihr ist nicht n u r die B e s i n n u n g u n d die O r d n u n g des Lebens des einzelnen in der Gesellschaft cingeschlossen, sondern gerade auch die O r d n u n g der gcscllschaftlichen Einrichtungen selber, die das Z u s a m m e n l e b e n der Menschen im gesellschaftlichen Gefiige regeln. Die praktische Philosophie u m f a f i t also neben der E t h i k auch die sogenanntc Politik und meint beides, w e n n sic (praktische Philosophic* hciBt. Da besagt es nun etwas, daB der Titcl >Politik*, der den zweiten Teil der praktischcn Philosophic bei Aristoteles bezeichnetc, im Laufe des 19. J a h r hunderts seine B e d e u t u n g gewechsclt hat. Die aristotelische Vorlesung uber die Politik k o n n t e und muBte als ein Teil der allgemeincren Frage der praktischen Philosophie nach dem rechtcn Leben gelten. Bis in die Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s hinein haben dcutsche A u t o r e n n o c h i m m e r (und v e r m u t lich ebenso A u t o r e n anderer Sprachen) unter >Politik< dieses Teilgebiet einer philosophischen Wissenschaft verstanden. Es spiegelt sich darin der ebenso intime wie unbestreitbare A n s p r u c h der Philosophic, die Praxis, auch die der Politik, m i t z u b e s t i m m c n . D e r skizzierte B e d e u t u n g s w a n d e l im Begriff von >Politik* laBt aber einen H i n t e r g r u n d andcrcr Art noch erkennen. Die Politik bant sich wie die Ethik auf einer Voraussetzung auf. Die Ethik, d. h. die qbt-K^ oder im aristotelischen Sprachgebrauch m fjdiKu, setzt das Ethos, die Sitten, voraus. Die Politik setzt die Polis voraus und all das, was in dieser G c g c b e n heit enthalten ist. Das aber ist vor allem, daB eine Polis ihre Gotter hat. Spater setzt sich das im G r u n d e fort, da das romische Imperiutn die sakrale G r u n d o r d n u n g des griechisch-romischen Lebens weitcrpflegtc. So gehort selbst noch die (civitas Dei* in diesen W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g . D a h e r hat unter christlichen Voraussctzungcn auch die (prudentia* nicht nur den Sinn des Wissens von den Mitteln des politischen Handclns, sondern ist eine der groBen (Tugcnden*, die auch in der Kirchenlehre ihren Bezug auf das Heil des Menschen und auf das Gottliche nicht verleugnet. Erst mit der beginnenden Neuzeit schwand dieser H i n t e r g r u n d und damit w u r d e (prudentia* als bloBes Wissen u m die rechten Mittei technisch verstanden. D a m i t w u r d e sie aber am E n d e v o n d e m ununterscheidbar, was nach Aristoteles keine (ipritj, sondern eine bedenkliche Fahigkeit (Seivonjc) ist ( E N Z 13, 1144a > 3 ff.). D e m cntspricht bei Kant die U n t e r s c h c i d u n g der technischen Imperative der Klugheit v o n den Geboten der Sittlichkeit. Dahinter liegt w i e d e r u m die U n t e r s c h c i d u n g des Sinnes der Kausalitat und ihrer kategorialen Scinsgeltung von der (Kausalitat aus Freiheit*. Freiheit ist aber bekanntlich bei Kant k e m F a k t u m schlcchthin, son d e m ein V c r n u n f t f a k t u m , also keine E r f a h rungstatsachc fiir die Wissenschaft. A u f diese U n t e r s c h e i d u n g der kantischcn Moralphilosophic geht der neue Gegensatz von Sein und Sollen z u -
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ruck, der die nachkantischc Wisscnschaftstheone behcrrscht. Wenn etwas ein reines Faktum ist und selber uberhaupt keinenBezug mehr auf das Gute enthalt, nur dann ist es bcliebig durch Wissen verfugbar. Dcr Bcrcich des Sollens, dem der Bezug auf das Gute eingeschrieben ist, hat es nicht mit Tatsachcn zu tun, sondern mit iWcrten' 1 . So w u r d c in dcr Nachfolge Kants von der modern en Wissenschaft her der Bereich des Sollens und der Wertc aus dem WiGbaren ausgeschlossen. Das fuhrte schhcBlich zu der strengen juristischen Abgrenzung der sog. Tatsachenurtcile gegen die >Wcrturteile<, vcrkam aber uberhaupt in dem semantischen Wandel. Inzwischen trat an die Stellc dicscr Philosophic der >Politik< die Bezeichn u n g >politische Wissenschaft< oder >Politologie<. Darin spricht sich dcr radikale wisscnschaftlichc Wandel aus, dcr im Zcitaltcr der modernen Wissenschaft zum Zusammenbruch der metaphysischen Tradition des Aristotclismus gefuhrt hat. Ein neuer B e g r i f f v o n Wissenschaft, von >science<, setzte sich durch. So hat J o h n Stuart Mill im abschlieBcndcn Kapitcl seiner >Induktiven Logik< die praktische Philosophic dcr Tradition unter der Bezeichnung »moral scicnces« als eine Art von Erfahrungswissenschaft, freilich sehr ungenauer Art, behandelt. Die Ubcrsctzung dieses Titels in das deutsche »Geistcswissenschaften« hat in Deutschland tief Wurzeln geschlagcn. Darin klang noch ein andcres M o m e n t an als das der methodischen Wissenschaftlichkeit, und das ist das 1111 Hegelschen B e g n f f des objektiven Geistes gelegene Erbc. Dadurch hat sich in Wahrheit der moderne Wissenschaftsbegriff modifiziert und bereichert. Dogmatikcr werden sagcti »verwassert«. Die Gcisteswissenschaften sind in Wahrheit nicht nur eine Scktion dcr Wissenschaftcn. Sic sind, aller ihrer »Ungenauigkeit« zum Trotz, der eigentliche Trliger der grofien Traditionslast, die in dem Hcgclschen Begriff des Geistes und seiner Bildungeri ihre Sprache gefunden hat und in anderen Sprachen als (humanities* oder als >lcttres< weiterlebt. Von hier aus gesehen erscheint der Ausgangspunkt v o m Impcrativischcn wahrlich als zu schmal. Es stellt sich die Frage, ob die Rolle der Pflichtenlehre fur die Ethik so bestimmcnd sein darf und ob die impcrativische Ethik uberhaupt das Ganze sein kann. Sie ist ja in Wahrheit nur das aus dcr klassischen Antikc fortlcbendc Erbtcil dcr stoischen Tradition. Die Stoa hattc den Riickzug von allem gelehrt, was nicht bei uns steht. Sonst sind wir dem Wechscl von Gliick und Ungliick hilflos ausgeliefert. Das Ideal des stoischen Gleichmuts schlielk daher am Ende auch den Riickzug von alien
1
Vgl. meine Arbeiten zur Geschichte und Grenze des Wertbegriffs in Gcs. Werke Bd. 4: >Das ontologischc Problem des Wertes<, S. 189-202. und >Wertethik und praktische Philosophies S. 203-215.
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o ffent lichen Dingen cin, wie das ja auch tatsachlich fiir die Gnechen im hellcnistischen Zeitalter und im Zeitalter der romischcn Kaiser gehen muBtc. Das sollte sich obendrein gut in die Wissenschaftsgesinnung der Neuzeit fiigen, die frcihch in der Folge in dieEngpassc des modernen Subjektivismus fiihrtc. Sicherlich ist der Gegensatz von Sein und Sollen von jeher ein Aspekt der Moral. Aber er hat erst in der Neuzeit seine Formnlierung gefunden. Denn erst jetzt ist >Scin» (oder heutc >Tatsachc<) ohnejeden Bezug auf das Gute. Im Blick auf die Enge aller imperativischen Ethik muBtc sich der Blick immer wieder auf das Ganze der sittlich-politischen Welt richten und dabei auf Aristoteles, den Begriindcr der praktischen Philosophie, zuriickkommcn, der zugleich eine >teleologische< Physik geschaffen hat, die ein u n d ein halbes Millenium die Physik war. Bei Aristoteles findet sich weder cin Begriff der Pflicht noch auch ein vemiinftigcs Wort dafiir, ebensowenig fiir den Begriff des Sollens. Z w a r wird gelegentlich ein etwas iiberraschendcr griechischer Ausdruck gebraucht, fiir den man gcrnc >Sollen< einsetzt: d-xdei, >wie es notig ist<. Das Wort fieov begegnet auch in Gesellschaft mit dyadbv, dem Guten, in der Verbindung tiyadov kui Sim (>gut und bindend<). To 8eov meint das Bindcndc, das Verbindliche. Es zeigt weniger auf cinc Forderung, die an den einzeinen als verbindliche gcstcllt wird, als auf die gemeinsame Basis von Bindung, auf die sich alle Sitte und Gestaltung des sozialcn Lebens griindet, Der spatere stoische Begriff, das Knthjuov, das, was einem z u k o m m t und was sich pafit, klingt auch weniger nach einem Sollen als nach einem Haben. Der Wandel von xa&tjKOv und xaXov zum romischen >offmum< spiegelt, wie mir scheint, den Niedergang der frcicn Polis und den O b e r g a n g zu einer zunehmenden Abhangigkcit und Amtlichkeit. Er hat dann die neue Integration des stoischen Gedankens in die sakral und politisch lebendigc romische Welt der Republik herbeigcfiihrt u n d dem Pflichtbcgriff seine zentrale Rolle in der Ethik zugewiesen. Erst seit Cicero wird dafiir das Wort >officium<, die >Obliegcnheit<, allgcmcin. Das deutschc Wort >Pflicht< ist eine Eindcutschung, die im 18. Jahrhundcrt einsetzt, u n d die Garvcsche Ubersetzung fiir >officium< bei Ciccro fiihrt zur Pragung des Pflichtbegriffes, in dem seine romische Herkunft, das )Offizielle< und die Gcgcnwart des Politischen noch nachklang. Kants A u f n a h m e dessclbcn und seine Analyse hat dann in einem weitcren Schritt iiberhaupt erst den Begriff des Imperativischen aus der Grammatik in die Ethik iiberfiihrt. Von dem cigentlichen Herrschaftsgcbiet theoretischer Erkenntnis, wie sie im Beweisideal der Mathematik und ihrem mcthodischcn Aufbau von den Griechen vorbildlich entwickelt worden ist, sind wir hier weit entfernt. A u d i die sogenannte >dcontische< Logik, von der heute viel die Rede ist, kann es in Wahrheit n u r dazu bringen, die fiir alles technische Denken giiltige Struktur mit logischen Mitteln zu beschreiben. Sie bleibt dem praktischen
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Wissen das Entscheiden.de schuldig. So zeigt auch der Gebrauch, den Aristoteles in der Ethik von dem sogenannten praktischcn Syllogismus und von seiner logischen SchluBlehre macht, daB es in Wahrheit i m m e r ein tcchnischer Syllogismus ist. Vollends gilt es von dem bedeutenden N e u b e g i n n dcr ncuzcitlichen Mathematik selber. Seit die Mathcmatik fiir die ncuzeitliche Verarbcitung dcr menschlich.cn Welterfahrung die moderne mathematische Naturwissenschaft hat cntstehen lassen, karn es dazu, daB die Syllogistik uberhaupt an ihrer wissenschaftlichen Bedcutung verlor (man denkc an Licbigs Bacon-Kritik). Dcr Begriff von Wissenschaft, der von der Mathcmatik ausgeht und das griechische Denken bcherrscht, hat die Logik des Bewcises entwickelt, und das heiBt die Ableitung aus einem Ersten, dem Prinzip. Unter der Hcrrschaft des Allgemeinen wird das Einzelne zum Fall und in der ncuzeitlichen Naturwissenschaft zum Fall des Naturgesetzes. Damit laBt sich weder in den Naturwisscnschaften der Logik der Forschung gcrecht werden, noch im Bereich der Kultur, wenn es gilt, im Forschungsund Erkenntnisbcreich der sogenannten Geistcswissenschaften die praktische Philosophie zureichend als Wissenschaft zu rcchtfertigen. D c r Ruckgang auf Aristoteles erhalt aus diesem Grund einen neuen Sinn. Aristoteles w a r ja zum Begriinder der praktischen Philosophie geworden, als er diese gegeniiber dem Ideal der Wissenschaft, der >Mathemata<, und der von Aristoteles umfassend ausgebauten >Physik< ganz auf sich selber stcllte und nicht als cine Spezifikation von theoretischer Philosophie behandelte. Das mcnschlichc Gute, nach d e m Aristoteles fragt, grenzte cr in ausdriicklicher Polemik gegen die universale Idee des Guten ab, nach der in dem platonischen Dialogwerk vielfaltig aus sokratischem M u n d e gefragt wird. Wenn Plato das Gute der Seele, das Gute der Polis und das Gute des Universums cinheitlich zusammcnschlieBt, so ist diese grofiartigc pythagoreischc Weltvision auf einer zahlen theoretischen Basis ernchtet. Das konnte dem u m seine Aufgaben und Ziele ringenden menschlichen Leben auf seiner Suchc nach dem Gliick keine rechte Befriedigung gewahren, wie die ber u h m t e Anekdotc iiber die platomschc Vorlesung >Uber das Gute- und ihre A u f n a h m e durch das attische Publikum bestatigt. Aristoteles crrichtet in seiner polemischen Gegenkonstruktion die praktische Philosophic nicht auf der allgemeinen Idee des Guten, sondern sein Ausgangspunkt (Prinzip, f'pX'h Erstes) ist das >Dafi< (ib on). Daruntcr ist freilich nicht eine feststellbarc Tatsache, cin 'factum brutum<, zu vcrstehen. Worauf die sittliche Bcsinnung und insbesondere die Besinnung der Philosophic zu griinden ist, wenn cs sich u m die Freilegung der sittlichen Dimension handelt, ist vielmehr das Verstandnis der Menschen, das sie von ihrem Lcbcn und ihrem Z u s a m m e n leben i m m e r schon besitzen. Das hatte in der gnechischen Gescllschafc in einer Reihe von Lebcnsentwiirfen seine Ausfiihrung gefunden, an die Aristoteles ankniipft (EN A 3). Da
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gibt es als Hedonismus den E n t w u r f eines Lebensziels auf das lustvoll Vergniigliche. Da gibt es den E n t w u r f auf das pragmatisch Erfolgreichc als Ziel des politischen Lebcns, das seine Erfiillung in den auf einen fallenden Ehren findct. SchlieBlich gibt es nochtnals cine Entwurfsrichtung, die alles Zweckhafte ganz iibcrschreitet. Das ist der E n t w u r f auf das %AX6V, das Schone, das von aller Berechnung frci ist und daher >an sich< gut ist. So ist die >AretcS an sich gut - ob einer nun sein hochstes Ziel im Handeln oder 1111 Bctrachten sehen mag. Das meint der Ausgangspunkt von dem >DaB<. Es beruht auf den Selbstetitwiirfen des menschlichen Das ems. Mit dem Ideal eines bewcisbaren Wissens oder einer Ableitung des Spczielleren aus dem AUgemeineren hat das nichts gemein, Der Begriindungsgedanke und das GewiBheitsideal der M o d e r n e sehen sich auf diesem Gcbiet vor ein ganz anderes Forum gcstcllt. Doch zeigt sich der Druck des hier an seine Grenze stoBcnden Beweisideals noch in der Philosophic von heute allerorten. Das zeigt sich etwa in dem Ausdruck >Letztbegriindung<, den selbst Husserl wieder aufnahm, um seine phanomcnologische Forschungsgesinnung unter den Systembegriff des deutschen Idealismus und seines neukantianischcn Nachlebens einzuordnen - und zu beugen. O b aber Ethik oder praktische Philosophic cinc solclic wissenschaftliche Begriindung und Rechtfcrtigung uberhaupt vertragen kann? Wiirde nicht eine bloBe A n w e n d u n g eines Allgemeinen auf den einzelnen Fall angesichts der Forderung der Situation eine falsche Entlastung anbieten, statt den Mcnschen zu verantwortlicher E n t scheidung zu tiotigen? Als ob es in diesem Bereich mit Rcgclbefolgung getan ware! Aber muB man die Frage nicht noch allgemcincr stcllcn? Welche Aufgabe kann die Philosophic im Bereich der sittlichen und politischcn Praxis uberhaupt haben? Das ist die eigcntlichc Lcbensfrage der praktischen Philosophie. Philosophischc Reflexion ist eine theoretischc Dcnkbewegung. Diejenige Reflexion, die die praktische Philosophie ware, muB gleichwohl mit inncrer Notwcndigkeit den Anspruch erheben, nicht nur zu wissen, was das Gute ist, sondern zu ihm beizutragen. So jedenfalls gilt es fiir die Entscheidung, die der Mensch mi Handeln oder Unterlasst^n trifft, daB er wissen will, was das Beste ist. Von hier aus muB man die Grundfrage der praktischen Philosophie verstehen, die ebenso im Zeitalter einer philosophischen Gesamtwissenschaft - was die aristotelische Weltdeutung sein wollte - als auch im Zeitalter der modernen Wissenschaft gcstcllt ist. Daher ist unsere Aufgabe eine doppelte, nicht nur den Horizont des aristotelischen E n t w u r fes seiner Wcltorientierung bewuBt zu machcn und dabei unsere eigenen Begriffe notgedrungen ins Spiel zu bringen. Auf der anderen Seite gilt cs auch, die kantischc Moralphilosophie wieder aufzunehmcn und in ihrcm Rechtc zu sehen. Denn Kant hat im Zeitalter der modernen Wissenschaft u n d ihrer glanzvollcn Anfeuerung durch die Ideale der modernen Aufkla-
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rung die Grundfrage der praktischen Philosophic erstmals wieder aufgcdeckt. Kant hat von sich bekannt, Rousseau habc ihn zurechtgcbracht. In derTat dient seine Begriindung des >kategorischen Imperativs< nicht d e m Zwccke, dcr A u t o n o m i c des Subjektes ein neues Reich eigencr souveraner Gesetzgebung zu eroffnen, sondern im Gegenteil, gegeniiber der Vermesscnheit einer universalcn, wisscnschaftlich crleuchteten Lcbensklugheit sittliche Verbindiichkcit auf die sittliche Freiheit zu griinden. Freilich, was hier griinden und begriinden lieiBt, kann nicht den Sinn von Grund und Begriindung haben, der in theoretischen Erklarungen gilt, Wie Kant gezeigt hat, ist die Freiheit nicht ein Faktum der theoretischen Vernunft, das man beweisen konntc. Sie ist ein Vcrnunftfaktum, das man annehmcn muB, wenn man sich seiber als Menschen verstehen will. Freiheit beweisen zu wollen ist in den Augen Kants ebenso verfehlt, wie es in den Augen des Aristoteles verfehlt ist, die Ethik aus einem hdchsten Prinzip des Guten abzuleiten. Kants >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten<, sein tiefsinnigstes moralphilosophisches Werk, stellt ausdriicklich die Frage, was philosophische Reflexion dort uberhaupt zu suchen hat, w o das menschliche Herz und die Subtilitat des menschlichen Ge wissens cine Gcnauigkeit der Selbstpriifung und dcr Besinnung aufbringen, die durch nichts iibertroffen werden kann. Daher geht es auch bci Kant, wrie bei Aristoteles, nicht darum, sittliche Verbindlichkeit durch theoretischc Reflexion begrifflich zu begriinden. Moralitat und Sittlichkcit verlangen nicht besonders hohe Vcrstandesgabeu odet eine geschulte Denkfahigkcit. Worauf griindet sich dann iibcrhaupt das Recht philosophischer Reflexion, praktischen Gewinn fiir die sittliche Existenz des Menschen zu beanspruchen, wic die Philosophic doch offcnkundig behauptet? Die A n t w o r t liegt darin, daB Menschen i m m c r schon, wenn auch zumcist in unklarer Wcise, ihrc konkretcn Entscheidungcn einer generellen Zielsetzung unterordnen, also praktische Phiiosophie haben. So erklart sich, was fiir einen Sinn richtigcres Dcnkeri haben soil. Wir sehen, dali Kants >GrundIegung zur Metaphysik der Sittcrv auf diese Frage A n t w o r t gibt. Aristoteles war sich dessen wohl bewuBt, daI3 die praktische Philosophic nichts andcres tun kann, als diesen Drang nach Wissen und Selbstverstandnis, der sich in menschlichem Handeln und Entscheiden inirner schon betatigt, fortzusetzen und das vage Vorschwcbende zu groBerer Klarheit zu erheben - wie durch das Zeigen auf ein Ziel, das dem Schutzen bcim Treffcn hilft (EN A 1, 1093a23f.). oder in genauerer Durchglicderung der einem selbst schon bewuBten Zielc (EE A 2, 1214b n ,). Die deutsche Situation war am Ende des Ersten Wcltknegcs fiir diese Fragen besonders vorbereitct. Die phanomenologische Schule hatte untcr der Leitung Husserls und dank seiner deskriptiven Geduld und Meisterschaft den Fragchorizont dcr Lebcnswelt wicdergewonnen und gezeigt, daB
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man hinter den das 19. Jahrhundert ganz umschlieficnden Wisscnschaftshorizont und seine crkenntnistheoretischc Durchleuchtung zuiiickgehen m u s se. Wissen von dcr Lebens welt ist i m m e r eine Art Fortsetzung und Ausgcstaltung einer im Leben selber wurzelndcn Besinnung, die sich in dcr Lebenspraxis cntfaltet. Es muB also ein praktisches Wissen sein, das hier allcin in Frage k o m m c n kann, mag m a n die >Tugend< dieses Wisscns Besinnung, Besonncnheit, Klughcit oder >prudentia< nennen. Die Kritik, die ehedem schon Kierkegaard an Hegels totalisierender dialcktischer Synthese geiibt hatte, gewann nun auf die phanomcnologische Bcreitschaft EinfluB, die Lebenswelt in sich selbst zu crhellcn. Es wird sich zeigen, daB bei alien Verschiedenheitcn es eben dieses Motiv war, fiir das Aristoteles wie Kant den begrifflichcn Ausdruck zu geben gesucht hatten. Die Kritik an dem Wissenschaftsglauben des liberalen Zcitalters bediente sich des Kierkcgaardschen Begriffs der >Existenz<, den dieser gegen Hegels allvermittclndc Synthese aufbot. Jetzt, in unserem Jahrhundert, ging es freilich nicht wieder um eine Kritik am spekulativen Idealismus Hegels. Jetzt ging es eher um die erkenntnistheorctische Methodik des herrschenden Neukantianismus. Demgegeniiber begann man sich zu fragen, was cigentlich die Rationalist ist, die sich in der Hellc des praktisch lebenden M e n schen betatigt und sich offenbar grundsatzlich von der theoretischen Rationalitat der Wissenschaft unterscheidet. Dafiir konnte - noch mehr als Kierkegaard - Aristoteles hilfrcich werden. Ist doch die ganze aristotelische Ethik von der Frage nach dem ctWo FAOUQ yviboeicq beherrscht 2 , nach der »anderen Art von Wissen«, u m die cs im Leben geht. Hier muB cine hermeneutische Besinnung eingeschaltet werden. M a n verfallt einem naiven Dogmatistnus, wenn m a n all die uns durch die Zufallc der antiken Oberhcferung erhaltcnen Texte auf die Reflexionsebene m o d c r ner wissenschaftlichcr Literatur hcraufnotigt. Weder fugen sich die platonischen Dialoge dieser Einordnung noch die aristotelischcn Lehrschriften. Uber das Denken Platos vermitteln uns die platonischen Dialoge weitrcichende Kenntnis, auch wenn wir kritische Berichtc iiber das platonische Denken und Lchren bei Aristoteles und in anderen spatcren Zeugnisscn besitzen. Das andert nichts daran, daB die Dialoge in ihrer mimetischen Stilgebung Sokrates vorfiihren und fiir die Sprache des Begriffs i m m e r nur einen begrenzten Raum offnen. Dagegen geht es Aristoteles u m Begriffsbildung. Doch stcllt sich die aristotelische Ethik die Aufgabe, den lebendigen Sprachgebrauch in die Sprache des Begriffs umzusetzen. So setzt Aristoteles, insbesondere in seiner Lehre von den gcistigen Tugenden, den >dianoetisclien Tugenden*, mit einer Priifung von fiinf Ausdruckcn em, die alle fiinf bei Plato synonym, das heiBt vollig ohne Unterschied gcbraucht werden. Es 2
Vgl. ENZ9, 1141b33, 1142av., EE 01, 124T,bv
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sind das Techne, Episteme, Phronesis, N o u s und Sophia. Diese fiinf Begriffe sind bei Aristoteles als c lav dXiideveiv charaktcrisicrt, als Scinsweisen des Wissendseins oder des Verwahrens des Wahren. Alle Formen des Wissens, die bloBc A n n a h m e oder Ansicht oder M e i n u n g sind, konnen, weil sic auch den Irrtum zulassen. nicht wirklich Wissen heifien. Diese funf Wissensweisen sind fiinf Formen der Standfestigkcit gegeniiber alien Beirrungcn und Verdeckungen. Es wird sich herausstellen, daB fiir Aristoteles unter ihnen nur die >Sophia<, die Weisheit, und die >Phronesis<, die praktische Vernunft, wahre >Bestheitcn<, wahre Tugenden sind. Die Einsicht in die zentrale Bedeutung 3 dieser Analyse der dianoetischcn Tugenden vcrdankc ich Heideggers Freiburger Seminar vom Sommersemester 1923. O f f e n k u n d i g dient die ciugehende Analyse der so ausgedriickten Begriffe letztlich dctn Zwccke, die Phronesis, die besondere Art praktischen Wissens, gegen die anderen Formen des Wissendseins abzuheben, die in theoretischcr oder technischcr Absicht ihre Erfullung finden. Setzen wir mit dem griechischen Ausdruck Xoyov eyrtr cin. Das ist cin Ausdruck, der sowohl im theoretischen wie im praktischen Sinne gelaufig und gebrauchlich war. Aoyov tgi'iv kann hciBcn >cinen Bcweis besitzen<. Damit wird das Wissenschaftsideal der Mathematik bestens bezeichnet. Die Mathematik war ja bei den Gncchcn durch ihr Bcweisidcal und ihre Bcweislogik die erste Wissenschaft iiberhaupt geworden, und gerade durch ihre Bewcislogik machten die Griechen die mathematischen Erkenntnisse der Agypter und Babylonier erst zur Wissenschaft. Das wird durch das Kapitel voll bestatigt, das als drittes im 6. Buch der Nikomachischen Ethik den Begriff der >Episteme< im Blick auf die Mathematik, insbesondere die spatere cuklidische Geomctrie, beschreibt. Episteme ist eine Weise des Wissendseins, die auf dem Haben von Beweisen beruht. N u n gibt cs aber noch einen anderen Sinn von Xoyov fjwv, einen moralischcn Sinn, auf den Aristoteles bewufit anspiclt, sowohl im 13. Kapitel des ersten Buchcs wie im ersten und zweiten Kapitel des 6. Buches der N i k o m a chischen Ethik. Aoyov i\r/r ist >Rede stehen< und wird auch von der Art gesagt, in der man auf den Vater hort. Das ist: mit Respekt. Respekt ist nicht etwa bhnde U n t e r w e r f u n g unter den Willen eines anderen. Es ist vielmehr eine Teilhabe an der Uberlegenheit eines Wissens, das man als Autontat
' Manche meiner spateren Arbeiten in den Biinden 5 itnd 6 der Ges. Werke zeigen das deutlieh. Inzwischen habe ich neuere Deobachtungen zur ansrotelischen Beg riffs bild Ling sowohl hier (aus Anlafi eines italiemsch gehakenenVortrags in Gallarate) vorgetragen und unter anderem Gesichtspunkt zum Andenken an K.-H. UTIN<. im vorstehenden Aufsatz iDie sokratische Frage und Aristoteles* neu bcleuchter. Diese Arbeiten schheBen sich an die grundlegende Arbeit >Uber die Mogliclikeit einer philosophischen E t h i b in Bd 4 der Ges. Werke, S. 175-188 an.
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Im Zrichen Platos
anerkermt. Respekt haben heiBt nicht, einen anderen gegen meine Oberzeugung gel ten lassen, sondern sich in der eigenen Oberzeugung durch den anderen mitbestimmen lassen. Das wird bei Aristoteles vollends in der genauen Interpretation deutlich, die er der Bildung der rechtcn Oberzeugung und damit der Findung der rechtcn Entscheidung w i d m e t und als >Prohairesis< auszcichnct. Sie defmiert geradezu das freie Verhalten des praktisch-sittlichen Menschen, der Burger seiner Stadt ist. (Sklaven haben keine Prohaircsis.) Man muB sich vor d e m Dogmatismus doxogra phi seller Schulbctrachtung hiiten. Die Hermeneutik lehrt uns, auf den Unterschied zu achten, der zwischen einer philosophischen Lehrschrift besteht und auf der anderen Seite einem literarischen Kunstwerk, wie es die platonischen SokratesDialoge sind. Das laBt sich etwa an der Behandlung der Seelenteile zeigen, die in beiden Formen literarischer Oberliefcrung, bei Aristoteles wie bei Plato, begegnet (Dc an. A 5, Rep. IV). Die Lehre von den Seelentcilcn wird in der platonischen >Politeia< ausftihrlich entwickelt. Sie wird dort am Ende dem Zwecke dicncn, die Einheit der Seele in ihrer gcgliederten Mannigfaltigkeit und ebenso die Einheit der Polis zu erweisen, auf deren harmonischem Z u s a m m e n s t i m m e n sowohl das Wohlsein der Seele wie das der Stadt beruht. Nichts ist so heillos wie ein Burgerkrieg oder ein hcillos zerrissencr Mensch. Nicht sehen begegnet bei Plato in mythischer Vergleichung, wie das Innere der Seele von Entzweiung bedroht ist und wie cs auf die Einheit und Z u s a m m e n s t i m m u n g a n k o m m t . Das Labyrinth des menschlichen H e r zens war den Griechen von alters her gcgenwartig wic die Schrecknisse des Burgcrkrieges. Es ist keineswegs eine Kritik, wenn sich Aristoteles in der Nikomachischen Ethik der Begriffe des Xoyov des aAoyov u n d dergleichen bedient und den Sinn ihrer Unterscheidung abschwacht. Er findct dort das elegante Bild von dem TJnterschied von konvex u n d konkav. Es driickt aus, daB hier unter verschiedenem Aspekt das gleiche bcschrieben ist und der ganze Unterschied in der Beschrcibungsweisc besteht. Die Seele ist so sehr eine, wic die K r i i m m u n g eine ist, die von der einen Seite als gehohlt und von der anderen Seite als gebogen gesehen ist. So hat Aristoteles in der Schrift >De amma< (B 4) ausdriicklich darauf bestanden, daB es nicht in demselben Sinn Teile der Seele gibt, in dem es Teile des Korpers, seine Glieder und Organe, gibt. Die Seele ist vielmehr immer cine und legt sich als die eine, die sie ist, in die verschiedenen Richtungen ihrer Moglichkeiten hinein. Das gilt es bei dem Verstandnis des Aristoteles zu beherzigcn, Wenn da die Unterscheidung der ethischen Tugenden von den dianoetischen Tugenden begegnet, so hat das einen methodischen Sinn. Aristoteles will ganz eindeutig zeigen, daB es kein Ethos gibt olmc Phronesis und keine Phronesis ohne Ethos. Die beiden smd zwei Aspckte derselben grundsatzlichen Ausstattung des Menschen. Er hat Prohairesis, er mull wahlen. Er hat freie Wahl, aber er
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ist nicht frei, nicht zu wahlen. So kann cr von der Prohairesis sagen, sie sei ein Drang, in dem Dcnken ist, oder auch, sie sei ein Denken, in dem D r a n g ist {o/)f,b< (H'TYorjTiKrj oder oiaxoia dpeKfixtj E N Z 2 , 1139b s ). Es ist von vornhercin verkehrt, diese Art von Denken (und damit Wissen) v o m Ethos abzutrennen. Die ganze Thematik der Phronesis ist unter die Frage gestellt, was es eigentlich heilit, wenn das Ethos als etwas, das Logos enthalt, beschricben wurde. Was ist Logos? Aristoteles n i m m t das sokratische Erbe mit vollcm Bewufltsein auf. Er betont geradezu, dafi Tugcnd ein Verhalten mit Logos ist und daf! dies nicht nur heifit, dafi unser Verhalten einem Logos, einem Gesetz, cntspricht (wia mv Xoymj. Es heifit vielmehr, dafi dieses Verhalten jit'ca lovXoyw ist, dafi es also nicht nur dem Denken entspricht, sondern dafi Denken mitten darin ist. Aristoteles steilt sich nun die gewaltige Aufgabe, dieses Denken, diese Wissensfortn, dieses Wissen der die Praxis leitenden Phronesis, gegen die anderen Wissensformen abzugrenzen, die als theoretisches Wissen oder als wissende Beherrschung von Herstcllen und handwerkhchem Konnen ain Wcrke sind. Aristoteles sucht bei solchen begrifflichen Pragungen den Winken des Sprachgebrauches zu folgcn. So bcgegnct das Wort ypnvt/OK und ebenso das Eigenschaftswort fpovipuc vorwicgend in Zusammenhangen praktischer Art und bedeutet dann Verniinftigkeit und Verstandigkeit. •Phronesis-. unterscheidct sich dadurch von >Sophia< (bzw. omf-6Episteme<, das ich >Wissendscin< nannte. Natiirlich sind solche Begriffspragungen kcine bindenden sprachlichen Regeln fiir den Sprachgebrauch. Im lebensweltlichen Gebrauch der Sprache gleiten diese Ausdriickc oft incinandcr, wie sie eben auch bei Plato begegnen. Gerade deshalb untetnahm Aristoteles seine begnffliche Analyse, und es ist ganz unzweideutig, wie er hier der Sprache etwas abzulauschen sucht, wofiir ihm die rechten begrifflichen Mittel noch fehlen. Das laBt sich besondcrs schon an dem der Phronesis nahen Bcgriff dcr >Syncsis< illustrieren. Wir konnen dafiir auf deutsch »Verstandnis< sagen. Auch wir werden darin eine Tugcnd seh.cn, wenn j e m a n d verstandnisvoll ist. Wenn wir das im Deutschen sagen, u n d wahrschemlich gibt es in anderen Sprachen gute Aquivalente dafiir, meinen wir eigentlich nicht, dafi einer gut versteht und gut auffaBt, sondern dafi er gewillt ist, den anderen zu vcrstehen, das heifit, >ilin< wirklich zu verstehen. Aber avvanc begegnet im griechischen Sprachgebrauch zunachst nur fiir die Fahigkeit zu lernen, also als bloBe Auffassungsgabe im theoretischen Bereich. In der N i k o m a c h i schen Ethik ist Aristoteles dagegen auf der Suche nach dieser anderen Art des Wissens, die das praktische Verhalten und Sein des Mcnschen bestimmt. So stellt er hier Syncsis in den Z u s a m m e n h a n g einer Reihe, an deren Spitze die Phronesis steht, welchc politischeund menschliche Besorgtheit u m das Gute
Im Z a c h c n Platos
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und u m die >Arete-: bedeutet. In dersclben Reihe treten Dinge wie yvu•}&] (Einsicht) und avyyvwfiij (Nachsicht) auf. So bestimmte Aristoteles die gauze R e i h e ypovtjoic
(wvrmc,
yvaijiTi, ovyyviijiri
cindeutig nach der Richtung auf
jenes ahlo ridoq pawKC, jene andere Weise des Wissens, die offenbar nicht ein bloBes Wissen ist, sondern ein Wissen, das aus dem Sein des Menschen, seinem menschlichen Wesen, seinem Charakter, dcr F o r m u n g seiner ganzen menschJichen Haltung aufsteigt. Das ist das Wissen, das Aristoteles sucht und das fiir das menschliche Lcbcn und sein Wohlcrgchen und Gliick bcstimmend ist. Hier ist von Imperative)! im eigentlichen Sinne des Wortes uberhaupt nicht die Rede. Es gilt nun, den Bcitrag Kants richtig zu bestimmen und auf unsere Frage zu bezichcn. Es kann kein Zweifel sein, daB Kant nicht dcr Erfindcr einer Pflichtenlehre war. Im Gegenteil. Er hat sich innerhalb der schon voll ausgcbildcten Tradition der Pflichtenlehre bewegt, die man letzten Endcs doch als eine stoische und nicht primar als eine mosaische Tradition ansehen muB. D c r Begriff der Pflicht bcschrcibt im Grunde nur die einfache Selbstverstandlichkeit, mit der ein festgegriindeter Charakter die Maximc seines Handcins festhalt. Er spielt dahcr, wic Kants Darlegung im ersten Abschnitt der >Grundlegung< zeigt, keine begriindende Rolle. Kants Anliegcn war, das Wesen der sittlichen Vernunft zu bestimmen, auf die sich alle Verbindlichkeit griindet. Wir sahen schon, daB er es nicht unternahm, auf die Allmacht und Vollmacht dcr Subjcktivitat das Ganze der sittlichen Selbstbestimmung zu griinden - wie ihn dann vor allem Fichtc verstanden hat und Schiller, wohl auch sogar schon Reinhold, und jedenfalls die gesamte nach-kantische Tradition. Kant gcbraucht bekanntlich den Ausdruck >Autonomie<. Gerhard Kriiger hat gezeigt, in einem leider inzwischcn nicht mehr genCigend gelesenen und beherzigten Buch 4 , daB >Autonomie< nicht etwa Hcrkunft u n d Geltung des Sittengesetzes begriinden will, sondern bei der Benrteilung dessen, was fiir mich dcr Fall ist, leiten soli. Sic gchort zurTypik der >Urteilskraft<, die Kant selber in der >Kritik der praktischen Vernunft' in diesem Z u s a m m e n h a n g erortert. Sie meint lediglich cine Art Veranschaulichung, die unserem Urtcil dicnt, wenn wir an dem festhalten wollen, was in diesem Falle das Sittengesetz verlangt. >Autonomic erlautert die Verallgcmcincrungsfahigkeit unserer Maximc und die Ausnahmslosigkeit, die im Begriff des Gcsetzcs liegt. Das wird durch den Vcrgleich mit dem Naturgesetz, mit der gesellschaftlichen Rechtsordnung oder mit einem metaphysischcn Reich der Zwccke veranschaulicht. Dcr >Typus< dcr Autonomie muB also so verstanden werden, daB er sich gegen die Tcndenz dcr menschlichen N a t u r richtet, die Kant am SchluB des ersten Abschnittcs der >Grundlegung< als die Sophistik der 4
G.
KHUGER,
Pliilosopmc und Moral in derKantischen Kritik. Tubingen 5931.
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Leidenschaft charaktcrisiert oder als den H a n g zum Vemiinfteln. Kant geht dabei davon aus, daB an sich Tugend und Rechtschaffenheit nichts sein konne, das erst durch hohere Vcrstandesgaben oder gar begrifflichc Klarheit und Priizision erreichbar wird. Es ist ein vermesscnes Untcrfangen der Aufklarung, an cine Perfektibilitat des Menschen mit Hilfe seines Verstandes und der Wissenschaft zu glauben, Der moralische Fortschritt der Mcnschhcit, sofcrn m a n von einem solchen uberhaupt sprechen kann, muB auf anderem Wege als auf dem des gesteigcrten Wissens u n d Konnens des Menschen gesehen werden. N u n ist es so, daB in jedem Menschen so viel Vernunft, gerade auch in seinen sittlichen Entscheidungsuberleguiigen, wirksam ist, daB er seine Vernunft immer auch gegen die Verbindlichkeit des als richtig Erkannten ins Fcld zu fuhren vcrsucht ist. Das meint Kant mit )Vemiinfteln<. Es ist wohl so, dafi man die Verbindlichkeit des sittlichen Gesetzcs anerkennt, aber im besondcrcn Falle u n t e r n i m m t man, eine Ausnahme zu begriinden. Es geht also darum, die >Dialektik der Ausnahme< zu widerlegen, die etwas als giiUig behauptct und doch sich selbst davon ausnimmt. Das ist ganz genau das gleiche, was an den anderen Modellen, die Kants Formulierungen des kategonschen Imperativs gebrauchen, dem N a turgesetz und dem Rechtsgesetz, handgreiflich ist, und wie es auch fiir die vielleicht unverganglichste Bestimmung von Moralitat, die Kant gefunden hat, zwingend sein sollte, wenn er sagt, dafi man niemals einen anderen Mcnschen nur als Mittel gebrauchen diirfc, sondern ihn immer zugleich als Zwcck an sich selbst anzuerkennen habe. Dieser Grundsatz der Humanitat, w o h l das schonste Erbe der christlichen Kultur an die Menschheit, hat noch heute eine ebenso starke Evidenz, wie sie das Naturgesetz und das Rechtsgesetz durch ihre eigene Definition besitzen. Es ist daher ganz verfehlt, die beriihmte Eudamonismuskritik Kants auf die groBe Tradition der praktischen Philosophie zu beziehen, die mit der aristotelischen Griindung dieser Disziplin anhebt. Es ist auch nach Kant eine nattirlicheTendcnz des Mcnschcn, sichum sein Wohlergchen, sein Gliick zu bemiihen. N u n ist bei Aristoteles gar keine Rede davon, daB etwa die Tugend die Forderung der Sittc als ein Mittel z u m Zwccke solchen Wohlergehens befolgen wiirde. Es ist nicht eine iiberlcgene Lcbensklugheit, die Aristoteles cmpfiehlt, wenn er die Tugenden als den Mittehveg zwischen den Ubcln auszeichnct. Freilich gehort zur N a t u r des Menschen und seinem Streben die Bern till ung um das eigene Wohlergchen, so weit er nicht durch die hohere Pflicht moralischer Art genotigt wird, seine eigenen Neigungen zuriickzustellen, und zwar aus Achtung vor dem Anderen und aus Achtung vor dem >Sittengcsetz<. Der von Kant kritisierte Eudamonismus dagegen meint, dafi m a n alles mit Lcbensklugheit so einrichten soil, daB man sein hochstes Wohlergehcn und damit das sogenannte Gliick erwirbt. Gegen diese Bchauptung und angesichts der offenkundigen Vielfalcigkeit mensch-
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licher Gliickstraume und mcnschlicher Gliicksrechnung hat Kant die Universalitat des kategorischen Imperativs kritisch aufgeboten. M a n wird seiner Stellung nicht gerccht, wenn m a n ihn rucht in der polemischen Auseinandersetzung mit dem Aufklarungsgedanken der Epoche sieht. Er bietet nicht eine Begriindung der Moral an, sondern die A b w e h r der Bezweifhingen, die vom Wissenshochmut der Aufklarung in d e m von Rousseau kririsierten Sinne ausgchcn. Kant bleibt damit hinter dem Ehrgeiz und d e m Glanz seiner Nachfolger zuriick. Sie haben den Primat der praktischen Vernunft auf den Bereich thcorcdscher Erkenntnis ausgedehnt und damit auf die gcsamtc Wissenschaftskultur der Moderne, nach Galilei und seinen Folgen, und sie noch einmal unter den Primat des Zweckbcgriffes gebeugt und damit den Primat der praktischen Vernunft auch fiir den theoretischen Gebrauch der Vernunft geltend gemacht. Wir verdanken ihnen einen unendlichen Reichtum anthropologischcr und moralischer Einsichten. Aber wir konnen nicht verkennen, daB damit der eigentlichcn Aufgabe der Vernunft nicht geniigt wird, zwischcn ihrcn so verschiedenen Erkeimtnisaufgaben, die Wissenschaft und Handeln stellen, in cin konsistentes Verhaltnis zu k o m m c n . Wenn man die Resultatc naturwissenschaftlichcr Forschung unter teleologischen Gesichtspunkten a priori ablcitct und zu bestatigen sucht, vcrdcckt man sich gerade die sittlichen Aufgaben, die menschliches Wissen und mcnschliches Konnen von dem Forschcr verlangen und die im Intcrcsse des Guten und damit des mcnschlichen Zusammcnlcbcns auf dieser Erde von uns alien verlangt werden. Bei aller Kritik an der Enge der Kantschen Unterscheidungen hat er in der Hauptsache recht, die sittlichc Aufgabe gegeniiber einer wachscndcn wissenschaftlich-tcchnischen Machterweiterung zur Geltung zu bringen. Darin scheint mir Kant auch gegeniiber dem deutschen Idealismus und seinen Reichtiimern unser eigentliches Erbe am besten zu wahren. Die Welt der Wissenschaft kann sich in ihrem Forschungsauftrag nicht von sich aus den mcnschlichen Zweckcn anpassen wollen. Das kann Wissenschaft als solche nicht lcistcn, ohne sich damit zu verraten und sich in politische Abhangigkeit zu begeben. Es ist vielmehr die Aufgabe aller Menschen und ihrer praktischen Vernunft. Die Mcnschhcit wird iiberlcben, falls es ihr gclingt, die ungeheurc Zerstorungsmacht, die dank der Wissenschaft in die Hand des Menschen gelangt ist, durch eine uberlegene Verniinftigkeit, eine >Phroncsis< im alten aristotelischcn Sinne, unter Kontrollezu bringen. Politische Zwangsgcwalt kann das nicht, da sie immer zum MiBbrauch der Macht neigt. Man hat in neuerer Zeit gelegentlich von den zwei Welten geredet, in dencn die Menschheit sich befmdet, der Welt der N a t u r wissenschaft und jener anderen, die durch die menschliche Kultur und ihre Reichtiimer dargestellt wird, und der cnghsche Schriftstellcr Snow, der diese kritische Formel zuerst aufgestellt hat, glaubte noch im Ernst, den Mangel an naturwissen-
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schaftlicher Kenntnis im Bildungsleben dcr Menschheit beklagen zu m u s sen. Er hat tief gcirrt, wenn er auch viclleicht in dcr damaligen Ausbildung an den englischen Elite-Univcrsitaten eine Schwache erkannte. Nicht das ist die Frage, ob die mcnsclilichen Fertigkciten und damit die Errungcnschaften der Wissenschaft f u r unsere Welterkenntnis auch in die Gcmiiter der M c n schen geniigend Einlafi finden. Das U m g e k e h r t e ist die eigentliche Lebensfrage dcr Menschheit: ob es ihr gelingen wird, die ungehcure Steigcrung des menschlichen Konnens an verniinftige Zwecke zu binden u n d in eine verniinftige Lebensordnung zu fiigen. Das wird niemals durch blolie Stcigerung menschlichen Konnens gelingen, sondern nur durch Einsicht und zwischen den Menschen wachsende Solidaritiit, wie sie als Erbe der praktischcn Philosophic des Aristoteles fiir das Abcndland auf den Begriff gebracht worden ist und wie sic in den groficn Botschaften dcr Religionen auch anderer Kulturkrcisc ihre gesellschaftsbildendc Entsprechung hat. Es gehorte zu der besonderen Leistung Kants, dafi er die Religion >innerhalb der Grenzen der bloficn Vernunft< zu denken verstand und damit auch in einer pluralistisch gespaltencn Welt Wege gewiesen hat, eincn Schritt auf dem Wege zu dem Traum des ewigcn Friedens zu tun.
16. Freundschaft und Selbsterkenntnis Z u r Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985) Als ich zu Bcginn incincr Tatigkeit als Uni vers itats lehrer im Jahre 1928 >Die Rolle der Freundschaft in der philosophischen Ethik* zum T h e m a meincr Marburgcr Antrittsvorlcsung wahlte, waren es vor allem zwei Antriebe. Einmal Heideggers seither oft wicdcrholte Warming: » Wir denken die Griechen immer noch nicht griechisch genug.« Das konnte mir besonders bewuBt werden, als ich von der kantischcn Pflichtethik und der phanomenologischen Wcrtcthik her mit der aristotelischen Ethik konfrontiert wurde. Die Gedankenfiihrung meiner Antrittsvorlcsung ist von da bestimmt. Es war aber noch cin anderes M o d v von weitreichendcr Herkunft dabei wirksam, die Kritik am transzendentalcn Idealism us neukantianischcr Pragung, die nach dem Ersten Weltkrieg aufkam. Das begann mit friihen Arbeiten etwa von Friedrich Gogarten, von Martin Buber (und hinter ihm Franz Rosenzweig), von Ferdinand Ebner und T h e o d o r Haecker, und fand seine wirkungsvolle Verkorperung in Karl Barths K o m m e n t a r zum Romerbrief. D o r t war cs im besonderen die Einsicht, daB die Begriffe der zeitgenossischcn Transzendentalphilosophie nicht geniigten, zu erfassen, was das Reden von Gott moglich macht. Im Grunde gait cs fiir uns alle, erst emmal zu erfassen, was wir eigentlich suchten. Es gait, nach der Erschutterung des Fortschrittsoptimismus des liberalcn Zeitaltcrs, die die Katastrophe des Ersten Weltkrieges heraufgefiihrt hatte, eine neue Verfassung menschlicher (und auch staatlichcr) Gcmeinsamkeit aufzubauen. Das BewuBtsein einer tiefen Krise trafebensosehr fiir das Gottesverhaltnis des Menschen zu wie fur das >wcltliche< Verhaltnis von >Gemeinschaft und Gesellschaft*. Bis dahin hatten die bcgrifflichcn Voraussetzungen des Neukantianismus und vor allem sein Schliisselbegriff, das (BewuBtsein uberhaupt*, und die Begriindung des neuzcitlichen D c n kens auf die Gewifiheit des SelbstbewuBtseins - trotz Nietzsche und seinen Folgen - noch i m m e r die groBte Wirkung. Das hatte sich zuletzt noch an Husserls Wendung zur >transzendentalen Phanomenologie* (1913) deutlich erwiesen. In dem Unbegriff der >Intcrsubjektivitat*, der Husserls unablassiges Bemiihen zusammenfaBtc, von seinem cartesianisch-neukantianischen
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Erbc aus den Schritt zu d e m >Anderen< zu begriinden, trat das mehr und mehr ins Licht. Dann kam Heidegger. Er wies nach, dafi >Subjcktivitat< in Wahrheit cin griechisches 13 eg riffs schema festhalt, das einer Ontologie des Vorhandenen allein geniigen kann. Durch ihn w u r d e offenbar, was es bedeutet, dafi >subiectum< und >substantia< beidc auf das vaomiptvov, das itn Wcchsel und Wandel der Akzidenzicn >Blcibende< der Substanz, und das heiBt auf das ri der >essentia< zuriickweiscn. Das gricchisch bestimmte Seinsverstandnis muBte das v o m Christentum gepragte Selbstverstandnis der Menschcn verfehlen. U n d vollends war es dem Problem des historischen Relativismus nicht gcwachsen. So konnte Heideggers eigener, neuer Einsatz, die Aufdeckung des tcmporalen Charakters der >Existenz<, wahrhaft Epoche machen. Das muBte meinen Blick darauf nchtcn, daB ein Phanomen wie die Freundschaft, ihr Bestand und ihre Bcstandigkeit, v o m SelbstbcwuBtsein her nicht angemesscn zu denken ist. In der gleichen Richtung warcn aber auch AnstoBe aus der Arbeit der damaligen philologischen Forschung g e k o m m e n , insbesondere durch Karl Rcinhardt und Paul Friedlander, die Nietzsche und George (>Der Kreis, den Liebe schlieBt;) in sich aufnahmen. Auch B r u n o Snells kiilme Kritik an der A n w e n d u n g des aristotelischcn Begrittes von apoaipeov; auf die fruhe griechische Dichtung 1 , die in der Schule von Werner Jaeger wucherte, gab zu denken. Das >Handeln im Drama< wies unwiderleglich auf eine andere Erfahrungsdimension hin als die von Vorsatz und Wille. Die A n w e n d u n g der npompzaurLehifi des Aristoteles auf die friihere Epochc der griechischen Dichtung war irrefuhrend 2 . In ahnliche Richtung wies mich spater die langc nicht genug geschatztc Dissertation von H e r m a n n Langerbeck 3 . Sic offnete einem die Augen fur die iiblichen Anachronismen im Verstandnis der Vorsokratiker und ihrer Begriffe, etwa wenn man >Denken< fur weiv einsetzte. Von nun an konnte man nicht mehr begreifen, daB >hornerischc Theologies e i n j a h r h u n d e r t lang wie ein Seitenstiick zur christhchcn Theologie gait und dafi man nicht vielmehr darin die dichtensche N e u o r d n u n g erkannte, der eine vielfaltige religiose Oberliefcrung unterworfen wurde, in der ganz andere Abgriinde und Finsternisse walteten, als das heiterc Gotterspiel auf dem O l y m p ahncn laBt. Nietzsches Gedankenrausch konnte msofern inspirieren, als wir zu erkennen beganncn, wie mit H o m e r ein bedeutender Schritt zur Hellc des Denkens getan war. U m g e k e h r t muBte auf der anderen 1 B. S N E L L , Aischvlos und das Handeln im Drama. Leipzig 1928 (Philologus Suppl. X X 1). 2 Vgl. dazu meine Kritik an E. Woi.rF, Platos >Apologie< Berlin 1929, in Bd. 5 derGes. Werke, S. 316-326. * H . L A N C E H B E C K . dOEIl ETHPYZM1H. Studien zu Demokrks Ethik und Erkenntnislelire. Berlin 1935 (Neue Philol. Untersuchungen H. 10). Vgl. meine Rezension in Ges. Werke Bd. 5. S. 341 ff.
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Seite die sokratische Wendung und ihre platonische Ausarbeitung von alien Anbiedcrungen an die Neuzeit abgeriickt werden, von Kant wie von dcr Philosophie der Neuzeit im ganzen, ja auch von der spatcrcn hcllcnistischen Innen w e n d u n g des siqeavrov. Es kam etwa an der so unmoglichen neuscholastischen Ubersetzung von tptA ia n u t > Freu n ds ch a ft si i cbc < heraus, daB hier dcr wahren denkenden Begegnung mit dem Gricchentum falsche Anglcichungen im Wege standen. So muBte m a n sich fragen, welchen Platz die sokratisch-platonische Wendung zur > Schonheit des Inner en < eigentlich einn i m m t . Kann darauf vielleicht die ausgedehnte Diskussion des Problems der Freundschaft in der griechischen Philosophic cine A n t w o r t geben? Beim Wiederlesen meincs unveroffentlichten Vorlcsungsmanuskripts schien es mir nach 55 Jahren, daB es etwa dies war, was mich damals zu meinem Thema gefuhrt hatte. Ich mochte heute versuchen, das schon damals in den Blick geriickte Problem an den drei Frcundschaftsabhandlungen des Aristoteles neu aufzunchmcn und weiter zu klaren, Dabei kann ich an die philologische Forschung ankniipfen, die etwa durch Dirlmeier, Gigon, Fraisse 4 u. a. reprascnticrt ist, ohne mich selber anderer Mittel zu bedienen als der philosophisch-phlinornenologischen, wie ich das auch bei mcmer Antrittsvorlesung von 1928 tat. Die Herausarbeitung der Struktur der Freundschaft lehrt, daB Freundschaft ihrem Wesen nach nicht Sache des einen oder des anderen sein kann. Das macht die Selbstverstandlichkcit bewuBt, mit dcr bei Aristoteles die Ethik mit der Politik zusammen die praktische Philosophie ausmacht. Das war das erste, was gegen die vom Vorrang des SelbstbcwuBtscins beherrschte Philosophie der Neuzeit herauszuarbeiten war. Besteht doch die Verlegenheit, in der sich die philosophischen Grundlagcn dcr Sozialwissenschaften in der Neuzeit befinden, darin, daB die ontologische Grundverfassung der Gescllschaft v o m m o d e r nen Nominalismus aus, der der neuzcitlichcn Wissenschaft emgeboren ist, uberhaupt nicht recht zu begreifen ist. D e m gegeniiber gait es, dem m o d e r nen Subjektivitatsdenken abzugewinncn, daB >Gcist< auch und vor allem als objektiver gcdacht werden muB und als ein solcher Staat und Gesellschaft formt. Das hatte Hegel begriffen, und in seiner Folgc steht alles, was sich seitdem in den Wissens ch a ft cn von Staat und Gesellschaft tut. Was abcr dachtcn die Griechen daruber, fiir die es diesen Wissen s ch a fts begriff und diesen Begriff von >Gcist< nicht gab? DaB Plato Welt, Stadt und Seele in eines schaucn konnte und daB Aristoteles, bei aller Ablosung der Ethik v o n der
4 Vgl. die K o m men tare von DIRLMEIER zu den aristotelischen Ethik en, in: E. Gnu MAC H (Hrsg.), Aristoteles - Werke, Bd. 6 - 8 . Berlin 1956-1968. O . G I G O N , Die Selbstliebe m der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. In: A. SKJADAS (Hrsg.), Dorema ( F S fiir Hans Diller). Athen 1975, S. 7 7 - 1 1 4 . J. C . FRAISSE, Philia - La notion d'amitie dans la philosophic antique. Paris 1974.
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universalen Teleologie des Guten, jede Vercngung auf Gesinnungsethik zu vermcidcn wufite und die fi\in neben die apery stellcn konnte, macht die praktische Philosophic der Griechen in vielcr Hinsicht zum Paradigma einer Kritik am Subjektivitatsdcnkcn, die uns noch heute zu denken gibt. So setzte ich die Darlegung von 1928 notwendig in der Richtung fort, dafi ich der Struktur der Selbstbeziiglichkeit nachging, die nicht auf die Struktur dcr Subjektivitat eingcschrankt werden darf, sondern jcnscits ihrer zu spiclen vermag s . Vollends die Lehre von der Freundschaft kann das lehren. Da ist es insbesondere die Rollc, die Selbstliebe und Selbstgcnugsanikeit in ihr spiel en. Das hatte ich schon 1928 erkannt, aber dieser Teil meiner damaligen Vorlesung scheint mir jetzt nicht mehr zu geniigen, und so suche ich ihn zu ersetzen. Es handelt sich u m drei Fragen: 1. Was bedeuteti die A r t e n der Freundschaft fiir das Wesen der Freundschaft? 2. In welchcm Sinne kann die -fi.\rnvia, die Selbstliebe, Grutidlagc der F r e u n d schaft lictBcn? 6 3. W a r u n i muB z u g u n s t e n der Freundschaft iiber die Autarkie, die S e l b s t g e n u g sanikeit, h i n a u s g e g a n g e n w e r d e n ? 7
Fiir alle drei Fragen ist offenkundig der Hintergrund Plato, vor allem der iLysisi, aber auch die >Politeia<. Die drei aristotelischcn Traktate, die Nfikomachische Ethik, die Eudemische Ethik und die Magna Moralia, miissen wir alle drei gelten lassen. Sie sindTexte, die wenig Entwicklungshinwei.se bietcn. Sic sind alle drei auf Plato bczogen und bcfolgen alle drei die aristotelische Tendenz, praktische Philosophie nicht von der Metaphysik oder der Theologie aus zu entwerfen, sondern auf der konkreten Basis dcr sittlichpolitischen Erfahrung und lhres Ausdrucks in den herrschenden Ideen zu errichten. Es scheint mir heute nicht tnehr angangig, sie in ein entwicklungsgeschichtliches Schema zu prcsscn. Alle drei Traktate fuhren die Unterscheidung der drei Arten der Freundschaft ein, cine Lehre, die bis ins 18. Jahrhundcrt giikig gcblicben ist. NFiitzlichkeit, Annehmlichkeit und Bestheit (xprjorpuv, I\M, KQZ' apmjy) sind die drei Hinsichten, die jeweils als das filrjiov eine Art Freundschaft ermoglichen. Diese drei Arten von Freundschaft sind nicht im strengen Sinne Arten einer gemeinsamen Gattung. Das gibt Aristoteles zu verstehen. Vielmehr hat die auf die ap£ir\ gegriindete Freundschaft einen absoluten Vorrang. In dcr Eudertiischen Ethik heifit sie geradezu die >crstc< (EE H 2, 123fib 3 f.) - in offenbarer Anlchnung an die platonische Rede v o m nptcrov yiXov im >Lysis< (220d). Die anderen Freundschaftsformen beziehen sich auf diese crstc hin, 5 Vgl. dazu meine Arbeit iVorgescalten der Reflexion* in Ges. Werke Bd. 6, S. 116-128. 6 E N / 4 , l ^ a ^ E E f ^ , 1240a a ff.; M M B 11, 1210b 33 ff. 7 E N / 9 , 1169b 3 fF.;EE//12, 1244b, ff.; M M B 15, I212b 2 4 ff.
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die die Idee der Freundschaft am eigentlichstcn erfullt. Sie wird daher auch in der Nikomachischen Ethik >vollkonimen< (re.Ln'a EN 0 5 , 1156bj,4) genannt. O f f e n k u n d i g handelt es sich nicht u m die maiprmc eines yivoc, in seine f v)i[, sondern u m eine analogische Beziehung auf ein Erstes, so wie etwa das Sein der Kategorien auf das Sein der Substanz bczogen ist (Cat. 5, 2 a n und 2b s ). Tatsachlich lllustnert der Text der Eudemischen Ethik das Verhaltnis der Arten der Freundschaft durch denselben Vergleich, den Aristoteles fiir das Kategorienproblem gebraucht (EE H 2, 1236ai f l ff), wenn er sagt: >Gesund ist nicht nur der Mensch, gesund ist auch seme Gesichtsfarbe oder eine N a h r u n g und dergleichen. < Die >Metaphysik< gebraucht den Vergleich mit dem Begriff der Gesundheit ebenfalls (Met. F2, 10Q3biff), aber anders alscs in der Ethik geschieht. Hier kann es in einer anderen Variante heiBen: >Gesund ist die Seele, gesund ist der Leib, gesund ist die Mcdizin< usw. Diese Illustration der Vielsmnigkeit von >gesund< bzw. >hcilsam< (impiKoq) soli als die Differenz von ywx^ und oiqia fiir die Arten der Freundschaft gelten. Das ist besonders zu beachten. Die Abhangigkeit des Leibes von der Seele und der Seele vom Leibe ist offenbar nicht von der Art, dafi man einfach zwei Arten von Gesundsem unterschciden konnte. Nicht nur ist die Seele nichts anderes als die Entelechie des Leibes, wie Aristoteles lehrt. Auch die Gesundheit des Leibes ist von dem psychosomatischcn Z u s a m m e n h a n g unlosbar, und das hat die antike Medizin besonders gut gewuBt. Ferner hat die Unterscheidung von >Artcn< der Freundschaft keine strenge Genauigkeit. So ist die wahre Freundschaft in alien noch so begrenzten Arten von Freundschaft immer mit da. Es handelt sich also nicht, wie bei Substanz und Akzidenzien, um ein Prms in der Aussagc und in ihrcm ontologischen Korrelat, der Substanz, sondern urn die Perfektion, u m das wahre Wesen, das in den anderen Arten von Frcundschaft nur teiihaft erfullt ist, aber doch so, daB die Frage nach dem Gemeinsamen sinnvoll bleibt. Die vollkommene Freundschaft ist also nicht Gattung. Die anderen Formen von Freundschaft hangen wie Modifikationen von dem vollcn Sinn von Freundschaft ab. Aber Aristoteles zeigt, daB sie die gleiche Begriffsstruktur haben. Da ist zunachst die Gegenseitigkcit (AvnipiAyoiq). Sie ist in der auf dpenj gegriindeten Frcundschaft unbedingt erfullt. Aber auch in der Licbcsbeziehung oder in der Geschaftsbeziehung liegt etwas davon. In alien drei Arten muB ferner zur Gegenseitigkeit etwas hinzutreten, namlich, daB die Partner in ihrcm Einander-Gutscin einander nicht verborgen bleiben. Endlich konnen die anderen Formen von Freundschaft sich mehr und mehr der vollcn Freundschaft annahern. Die Liebesbindung kann von der Art sein, daB sie auf die Dauer zur echten Freundschaftsbindung fuhrt, und ebenso gilt cs fiir die Geschaftsfreunde, daB sich daucrhaftc Frcundschaft, vielleicht sogar iiber Generationen hinweg, stiftct. - Im Unterschicde davon gibt es offenbar andere Verhaltnisse, die zwar ahnlich sind und doch nicht >Freundschaft<. So
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ist klar, daB bloBe gute Gesinnung, die in dcr npoaipeotc; besteht, oder das Wo hi wollen, das einer fiir jemanden hegt. mcht Freundschaft sind. Selbst wenn die Sympathie oder das Wohl wollen tatsachlich auf beiden Seiten vorlagc und insofern Gegcnscitigkeit bestiinde, waren sie, solange sie einander nicht wirklich offenbar und raiteinandcr verbunden sind, bloBe Frcundlichkeit. Die gemeinsame Bedingung aller >Freundschaft* ist eben mehr: echte >Vcrbundcnheit*, die - in vcrschicdcncn Graden - ein >Zusarnmenleben< (ov(ijv) bedeutet. Das weiB Aristoteles. N u n gibt cs in dcr Analyse dcr wahrcn, das heiBt der vollcn Freundschaft einen Punkt von besonderer Auszeichnung, der in besonderem Grade ein platonisches Erbe in Aristoteles darstcllt: Die zfAlmiia, die Selbstliebe, von der es heiBt, daB sie erst die voile f d i a moglich mache. Sie leitct als Freundschaft mit sich selbst die aristotelischen Analysen in der Nikomachischen Ethik wie in den anderen Traktaten zu ihrem hochsten Punktc. Das ist in gewisscm Sinne paradox. DaB in der Freundschaft Gegenliebe vorliegt, die als solche offenbar ist, ist gewiB cinlcuchtend, damit man iiberhaupt von dcr Zweiheit von Partnern reden kann. Aber kann man das in bezug auf sich selbst? Sind die Scclenteile wirklich wie gctrennte Partner — mag auch Plato sie in der >Politeia* so einfiihren? Hat nicht Aristoteles Recht, wenn er (in den Biichern iiber die Seele) dieTeilc der Seele gegeniiber dcr Einheitlichkeit der Lebendigkeit zuriicktreten liiBt* und wenn er sie 111 der Ethik nur analytischkompositorisch trennt? In Wahrheit halt cr ethische und dianoetische dpeif/, dpei,K und VOIK nur auseinander, u m sie in der Einheit des Menschenwesens als untrennbar zu denken. Von der platonischen Grundunterscheidung zweier Seelentcile aus, eines rationalen und cincs >alogischern, emotionalen, liegt es freilich nahe, von einer Zweiheit auszugehen. Die frcundschaftliche Vereinigung und Einheit dcr beiden ;Seelen-Teile< mag dann wie die >eine Seele* sein, wic man zwei unzertrennlichc Frcundc nennt. In dieser Weise beschreibt die Nikomachische Ethik tatsachlich das, was er Freundschaft mit sich selbst nennt, so, daB in ihr die Einheit der Seele sozusagen voll verwirklicht ist, und crkcnnt in ihr die Struktur aller wahrcn Freundschaft 9 . N u r in dem >Guten< oder in dem onovfiaiot; kann es eine solche Frcundschaft mit sich selbst geben. Offenbar k a n n e s das nicht bei Tieren ebenso geben. Weil sic cincn moglichen Konflikt zwischen Trieb u n d Vernunft nicht kennen (EE H 6, 1240b l:l ), konncn sic auch nicht Einheit und Eimgkeit mit sich selbst vcrmissen lassen oder besitzen. Aristoteles ist sich dcr Paradoxie wohl bewuBt, die in dcr platonischen Lehre liegt, daB einer mit sich selbst Freund sein muB, wenn er der Freund 8
Vgl etwa De an. ,4 1, 403a 6 ; A 3, 407b, 7 ; « 2, 414a 20 ; J ' 9 , 432a, 2 ff. ' E N / 4 , 1166a, ff.;/8, 1168b+; ebenso EE 7/ 6, 1240b, 2 .
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von anderen soil sein konnen. D e m nariirlichen Vorvcrstandnis v o n Freundschaft u n d von Selbstliebe entspricht das durchaus nicht. Aristoteles sieht sich daher zu einer besondcren Diskussion der Aporien der Selbstliebe genotigt. O f f e n k u n d i g verteidigt er deren platonischen Sinn gegen den Sprachgcbrauch. Es ist zwar richtig, daB wir das Wort iptXaviia zucrst bei Aristoteles finden. Aber die Sache ist als moralisches Problem ganz gewiB weit alter und wohlbckannt. Mindestcns in der Form, daB dominierende Selbstliebe zur Freundschaft unfahig macht. Die Illusionen der Selbstliebe gehoren iiberhaupt, wic die egoistischc Vcrfolgung der eigenen Intercsscn, zur N a t u r des Menschen. Das wird auch dadurch bestatigt, daB die aristotelischen Tcxtc das Wort ifiXavua im kritischcn, pejorativen Sinne voraussctzen. Dafiir hat man nach Zeugnissen nicht zu suchen. Ich meine, Tragodie wie Komodic riickcn uns ihre Folge, tragischc oder lachcrliche Vcrblcndung, standig vor Augen, und Plato w a r m in den >Nomoi< (V, 731dff.) ausdriicklich vor der oipoSpa i:aviav ifiXia. Die Frage ist umgekehrt zu stellen: O b nicht erst im Zeitalter des Sokrates ein positiver Sinn von Selbstliebe iiberhaupt a u f k o m m c n konnte? Viellcicht bei den Sophisten, bei Protagoras oder bei Demokrit oder w o immer naturrechthche D e n k w e g e gewagt w u r den? Vielleicht auch erst bei den Sokratikern selber, die der Bediirfnislosigkeit und Selbstgenugsamkeit des Weisen alles opferten - oder bei einem Mannc wie Eudoxos, der das Leben der Menschen mit dem der iibrigen Lebewesen in dem Sinne zusammenriickte, daB sie alle von dem glcichen Verlangen nach i/dov)} getrieben werden. Hat Eudoxos etwa die iiptiit: eavrov so beschricbcn? Jedenfalls ist es nicht ohne Zogern, daB Aristoteles den U m g a n g mit sich selbst und die Freundschaft mit sich selbst iiberhaupt als einen moglichcn Ausdruck gelten laBt und von da aus eine Prafiguration der vollendeten Freundschaft annimmt 1 0 . Offenbar wurde die voile Freundschaft mit sich selbst fur Aristoteles dem Autarkie-ldeale zu nahe geriickt. Aristoteles weiB, wic eng Autarkie mit der Eudamonic verbunden ist, aber er weiB doch auch, daB an der wahren Vollcndung etwas Wesentliches fchlt, wenn einer sich ganz und gar selbst genug ist. Was fehlt, ist eben der Zugewinn, den .Freundschaft bedeutet. Wenn Selbstliebe einen positiven Sinn haben soil, darf sie demnach nicht so weit gehen, daB einer meint, keine Frcundc zu brauchcn. In alien drei Abhandlungen des Aristoteles wird daher im AnschluB an die Selbstliebe die Diskussion iiber die Autarkie gcfiihrt. Aristoteles versteigt sich nicht zu d e m
10 Ich habe nie verstanden, w a r u m man im allgemeinen die Rolle der Freundschaft bei Aristoteles der Rolle der Gerechtigkeit bei Plato entgegensetzt. Es scheint mir evident, dab die Freundschaft mit sich selbst dann ein kunsthcher Begriff und von sokratischplatonischer Herkunft ist, wenn der Ausdruck >Selbstliebe< in einem posioven Sinne gebraucht wird.
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E x t r c m einer solchen vollen Autarkie, wie sic etwa d e m stoischcn Ideal des Weisen z u k o m m t . Viel eher scheint es mir, dafi er das Ideal des vollendeten Selbstbesitzes gerade deshalb so nachdrucklich iiberschreitct, wcil er die Grenze gegen solchc Sokratiker markieren will, die der sokratischen M a h n u n g zur Sorge urn sich selbst ins kynische Extrern gefolgt sind. Sein H a u p t a r g u m e n t klingt nun fiir m o d e r n e D e n k g e w o h n h e i t c n scltsam genug u n d tritt gar zu unvermittelt auf. Er sagt, die Wesentlichkeit des Freundcs bcstchc darin, dafi m a n den N a c h s t e n lcichter crkcnnen konne als sich selbst. U m dieses A r g u m e n t zu verstehen, mufi man daran denken, wie stark der D r a n g zur Illusion iiber sich selbst in j e d e m Menschen ist. Das ist es offenbar, was Aristoteles im A u g e hat. Wir tadehi an anderen, was auf uns selber erst recht zutrafe. Das N e u c Testament sagt es auf seine Wcisc: Wir sehen den Splitter in den A u g e n des anderen und nicht den Balken im eigenen A u g e . In diescm Sinne ist Selbsterkenntms in der Tat cine schwere u n d nie ganz zu leistende menschliche A u f g a b e . In den M a g n a Moralia spielt Aristoteles ausdriicklich darauf an, dafi die Weisen Selbsterkenntnis f o r d e r n ( M M B 15, 1213a ( 3ff.). Da m a g er an Sokratcs mit seiner M a h n u n g denken und gewiB meint er auch die altere moralische G n o m i k . Jedenfalls gchort es zum tiefsten LebensbewuBtsein des Mcnschcn, daB er von sich wissen muB, dafi er kein Gott ist. Daran zu erinnern w a r die Absicht des delphischen Orakelspruchs. Wenn Aristoteles sich hier darauf beruft, meint er es ledighch in d e m praktischen Sinne, dafi j e m a n d , der diese M a h n u n g befolgt, fiir den U m g a n g mit anderen und fiir das >Gute< offen sein wird. D o c h scheint mir Aristoteles den eigentlichen tieferliegenden Kern seiner Freundschaftslehre durch den Vcrgleich m i t detn Gottlichen anzudeuten. D c r Hinblick auf den G o t t hat zwei Seiten. Einerseits sieht man in ihm die vollendete Existenz, u n d i n s o f e m wird jeder von uns sich an diesem H i n blick seiner eigenen Schranken bewufit. Aus dieser Erkenntnis der eigenen Schranken folgt aber unmittelbar, dafi der andere, der Freund, einen Z u wachs an Sein, Selbstgefiihl u n d Lebcnsreichtum bedeutet. - Das wendet Aristoteles n u n so, daB der in sich vollendete G o t t keinc Frcunde h a t " . In der Tat ist das aristotelische Theologie, die auch fiir die aristotclischc Ethik G e l t u n g hat. M a n inuli in dcr Differenz das G e m e i n s a m e sehen. Die ivipyi iu, in der evSaijioxia u n d ipiAta bestehen, 1st nicht so sehr in dem Sinne Tatigkeit," daB es dabei auf ein ipyov a n k a m e , als vielmehr auf den Vollzug der eigenen Lebendigkeit selbst 1 2 . 'Evrpyeia m a g i m m e r bcides cnthalten, H i n g a b e an den anderen oder das andere u n d H i n g a b e an den Vollzug selbst. A b e r auch dann bleibt das Wesen des Lcbcnsvollzugcs, dafi man des anderen inne 1st, " 12
M M B 15. 1212b 34 ff. und EEH12, Vgl. auch Pol. H 3 , 1325b, 2 ff.
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der Andersheit der D i n g e wie der anderen Menschen. Das gilt fiir Sehen u n d W a h r n c h m c n , D c n k e n u n d Erkennen. Zugleich aber ist in diesem Sclbstvollzug des Lebens das eigene Selbst m i t g e w a h r t u n d mitgcfiihlt. Es ist diese >Miti-Struktur, die mit aller Weltoffenheit m i t g c g e b e n ist. Im Weggcgcbensein an das G e w a h r t e ist stcts cin solcher R i k k b e z u g m i t i m Spiele. In ihm besteht unsere Auszeichnung (EE H 12, 1245b 1 6 ff.). A b e r hier setzt Aristoteles hinzu: So verhalt cs sich freilich nicht mit d e m Gott, sofern er noch besser ist, als dafi er neben seiner selbst noch etwas anderen innesein miifite. Des Gottes ontologischer Rang ist hoher, als daB er an unscrcm Wohlbcfindcn teilhattc. Ihm ist das Wohlsein ganz sein cigenes - uns dagegen wird es i m m e r uber ein anderes zuteil. Dieser Begriff des Gottlichen ist uns aus d e m onto-theologi sehen Buch A (7ff.) der aristotelischen >Metaphysik< w o h l b e k a n n t . D o r t tritt die Differenz von Mcnscli und Gott freilich in der u m g e k e h r t c n Absicht auf, das eminente Sein des Gottes aus der Analogic zum endlichen Menschsein begrciflich zu machcn. Hier dagegen, in der Ethik, in der Analyse der menschlichen E u d a m o n i e , n i m m t diese Differenz die - ganz positive - W e n d u n g auf den Mcnschcn. D e r Mensch wird seiner selbst auf dem Wege iiber den anderen inne. Nicht aus Bediirftigkcit oder N o t , sondern u m der eigenen Bestheit (dpLTtj) willen bedeutet der andere, der Freund, dem Menschen viel. E r ist wie ein Spiegel der Sclbsterkenntnis. Man erkennt sich i m anderen, sei es im Sinne des Vorbildes, das wir an ihm n c h m e n , sei es, u n d dies ist n o c h wesentlicher, 1111 Sinne der Gegenseitigkeit, die zwischen Frcunden spielt, so dafi sie, e i n j e d e r 1111 anderen, Vorbildliches sehen, d. h. sich auf das G e m e i n same hin vcrstehen und so zur gcgenseitigcn M i t w a h r n e h m u n g gelangen. Freundschaft fuhrt zur Stcigerung des eigenen Lebcnsgcfiihls u n d zur Bestat i g u n g des eigenen Selbstverstandnisscs, w i e es im Begriff der upn-q liegt. Das Gleichnis des Spicgels ist schon aus Flato bckannt 1 3 . Selbst erkenntnis meint nicht ein Interesse an sich selbst gegeniiber dem anderen, sondern geht gerade auf das G e m e i n s a m e zwischen dem einen u n d d e m anderen: Kara id xa.Xov. N i c h t die Rartikularitat des Eigenseins sicht einer in solchem Spiegel, sondern was fiir ihn selbst wic fiir den anderen verbindlich gilt, billigend oder tadclnd, und was cr im Spiegel erkennt, ist das, was er an sich selbst in seinen Schwachen sonst nicht richtig zu sehen v c r m a g . Das Bild des Spiegels hat hier cine mdirckte Aussagekraft. Sich selbst i m Spiegel sehen durchmiBt die ganze Skala von b e f r e m d e n d e r B c g c g n u n g bis zur fatalen Selbstbespiegelung des Narzifi. In all dem liegt ein normatives M o m e n t . Aber wic i m m e r , eine solche B e g c g n u n g i m Spiegel des Freundes ist nicht als eine F o r d e r u n g erfahren, sondern als Erfiillung. Was einem da begegnet, begeg-
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Alk. I 133a; Phaidr. 2S5d.
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net cinem nicht wic die Pflicht oder em Gebot, sondern es ist ein leibhaftes Gegeniiber. Weil dieses andere, dieses Gegeniiber, nun nicht das eigenc Spiegclbild ist, sondern dcr Freuiul, spiclcn alle Krafte steigender Vertrautheit und der Hingabe an das >bcssere Selbst* hinein, das der andere fiir einen ist, und das ist tnehr als die Innerhchkcit guter Vorsatzc oder gewissenhafter Rcgungen - alle diese wachscn z u m vollcn Strom sich bildender Gemeinsamkeiten heran, in denen m a n sich selber zu fiihlen und zu erkennen beginnt. Was sich so mittcilt, ist nicht nur E m p f i n d u n g oder Gesinnung, sondern bedeutet eine reale Einbcttung in das Gcfiige der miteiuandcr Icbcnden Men sehen. Das hat grundsatzliche anthropologische Bedcutung. Die Weisheit des Aristoteles erkannte in allem menschlichen Erkennen - wie in dcr ovj-tnddna - ein Element des >Mit<: Mitwahrnehmen, Mitcrkenntnis, Mitdenken, also Mitleben und Mitsein. Er hat daraus abcr keineswegs einen Rcflexionsprozefi gemacht, so daB das Selbst oder das Erkennen zum Gegenstand einer Reflexion wiirde. Auch wenn er in seiner Wahmehmungslchre von einer •Koivq awdrjoK redet, ist das nicht ein Sondervermogcn. Vielmehr bczcichnet Aristoteles auf diese Weise nur die Bcdcutungsdimension des Mitseins mit sich selbst, die allem Wahrnchtnen und Denken zugehort, und die sich in Gestalt der ipiXia zum Mitsein mit dem anderen erweitert. Das bestatigt sich an d e r B e d e u t u n g des >Mitlcbens< ((rv(fjv) fiir die Freundschaft sowic an der Art, wie Aristoteles die Zugehorigkcit von Freunden zur wahren Eudamonic zahlt und wie er das begriindet. Wie er >Selbstgenugsamkeit* versteht, ist diese in seinen Augen iibcrhaupt nicht zu denken ohne die dazugehorenden Freunde. Was man durch seine Frcunde tut, sagt er geradezu, tut man selber. Aber das ist noch nicht alles. Das wahre Wesen des Menschen besteht in der Anglcichung an das Gottliche. Auch diese Angleichung an das gottliche Sein k o m m t hier nur ins Spiel, 11111 die Wesentlichkeit von Freunden im menschlichen Selbst verstandnis zu begriinden. Durch den Austausch mit unseren Freunden, die unsere Ansichtcn und Absichten teilen, sie aber auch berichtigen oder bestiirken konnen, nahern wir uns dem Gottlichen, und das heiBt dem Ideal der Existenz. Wir nahern uns der kontinuierlichen Gegenwart. Denn der Freund tritt fiir uns ein. So wird moglich, was uns sonst als Menschen vcrsagt ist. Es macht die Seinsart des Gottlichen aus, daB es das dauernd 1st, was uns Menschen nur mit Untcrbrechung moglich ist: Gegenwart, Wachheit, Selbstprascnz im >Geiste<. Wir Menschen sind als Naturwcsen durch den Schlaf, als Geistwesen durch das Vergcsscn immer wieder von uns selbst getrennt. Doch kann dcr Freund an unserer Stelle wachcn und fiir uns denken. Wir blicken so v o n dcr Freundschaftslchre des Aristoteles unmittelbar auf seine philosophische Theologie hinaus, die er aus der sokratisch-platonischen Frage nach dem wahren Sein entwickelt hat. Vollendeter Selbstbesitz
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ist gewiB nicht des Mcnschen Teil. Aber wir verstehen mit Aristoteles wie mit Euripides (Hel. 560): »Denn Freunde erkennen - auch das ist Gott.« Eine SchluBbemerkung sei hinzugefiigt, die beide, Plato wie Aristoteles, m ihrer Bedeutung fur das thcologische Denken des Christentums betrifft. Plato hat gewiB nicht nur die eine Sprache der suchendcn Begriffe und des dialcktischen Gebens und N e h m e n s gesprochen, die der Tradition der griechischcn Metaphysik zugrunde liegt. Er sprach auch noch eine andere Sprache, die wir bei Aristoteles nicht vcrnchincn und die sogar noch mehr als die aristotelische Metaphysik der christlichen Religion und den Lehren der Kirche vorgcarbcitct hat. Plato wuBte die Sprache des suchenden Begriffs mit der Sprache der mythischen Oberlieferung seines Volkes zu verbinden. Neben den Logos tritt sein Gebrauch des Mythos. Auf der Sprachebene der Begriffe scheint er mir bei dem Denken des deiov bewuBt halt zu machcn. Das ist cin Begriff des Gottlichen, der durch die groBen griechischen M y then als Einheit des Gottlichen uberall hindurchschimmert. Daneben aber vermochtc Plato von den Gottcrn so zu reden, wic das in Kult und Sage im Gcdachtnis aller weiterlebt. Wie sich der Mensch, wenn er der sokratischen M a h n u n g folgt, u m seine eigene Seele sorgen und kiimmcrn w7ird, so werden ihm auch die Gotter mit ihrer Fiirsorge und mit ihren Gaben bcistehen. Auch das ist platonische Sprache, die sich in Platos cigencr mythischer Fabelrede mit seinen dialektischen Begriffen durchmischt. Plato hat freilich den Schritt des Aristoteles zu einer philosophischen Theologie nicht vollzogen, die das Gottliche als den einen oder den obersten Gott denkt, der als lebendiges Wesen das All bewegt. Insofern war es folgerichtig, daB sich die christhche Theologie hier an der aristotclischen Metaphysik orientierte. Aber tiefer noch reicht die Freundschaftslehre des klassischen Gricchcntums. Sic hat von ihren platonischcn Motiven her die Wendung in die christliche Liebeslehre nehmen konnen, deren Stimme bis in die moderne Welt cines dominierenden Sozialutilitarismus heriiberschallt. Es sind die Lebensformen v o n Ehe und Familic, von Solidaritat unter Freunden, unter Menschen aller Grade und Lagen, aller Volker und aller Staaten, die unter diesem Anruf stchen.
17. Denken als Erlosung Plotin zwischen Plato u n d A u g u s t i n (1980)
?
I
Plotin gchort nicht zu den grofien Figuren des philosophischcn Gedankens, die in aller M u n d e sind. N i c h t mit den grofien griechischen D e n k e r n v o m Schlage eines Heraklit, eines Sokrates, Plato oder Aristoteles oder mit einem der christlichen D c n k c r wie Augustin oder T h o m a s , n o c h auch mit einem m o d e r n e n D e n k e r von der Art des Descartes, Leibniz, Kant oder Hegel wird m a n ihn in einem A t c m ncnnen. Er war ein griechischer D c n k c r aus der Spatzeit des A l t e r t u m s u n d lehrte Philosophic im kaiserzeitlichen R o m , also in einer lateiniscli sprcchcnden U m w e l t , in der freilich das Griechische die Kultursprache w a r . Schon das ist cine scltsame Konstellation fiir einen D c n k c r , u n d vollends, w e n n m a n erfahrt, dafi dieser M a n n sich selber gar nicht als einen Vcrkiindcr neuer Wahrheiten verstand, sondern als einen Erneuerer des D e n k e n s Platos. D a w i r d m a n sich fragen, ob er uberhaupt in unserer A h n e n r e i h e in die vorderste Linie gehdrt, u n d w e n n so viclc ihn dahin zahlen, w a r u m w i r das tun. Wir nennen ihn einen N e u p l a t o n i k e r , u n d gewifi hcifit das nicht, dafi er n u r einer untcr viclcn glcichen Ranges war, sondern er gilt als ihr wichtigstcr Represent ant. Sein Werk ist vollstandig auf uns g e k o m m e n , und obendrein haben w i r iiber ihn selbst u n d iiber sein Leben cine genaue und w o h l v e r biirgte K u n d e wie v o n kcincm D e n k e r des Altertums sonst - w e n n wir von Sokrates absehen, dessen Bild uns v o n Plato u n d anderen Freunden und Schiilern gczeichnet w o r d e n ist. Wir verdanken unscr Wissen iiber Plotin der Biographie seines Schiilcrs Porphyrios, die uns erhalten ist. A b e r es handelt sich in Wahrheit nicht u m einen Zufall der Oberlieferung. Z w a r gibt es in dcr Philosophie eine oft hochst ungerecht scheincndc Gunst der Uberlicferung. D i e b l o B e T a t s a c h e , dafi w i r von D e m o k r i t , d e m grofien Zeitgenossen des Sokrates u n d dem B e g r u n d e r der in der Neuzcit so folgcnreichen antiken A t o m d i c o r i e , fast nichts wissen, ist bezeichncnd. Es w a r der b e s t m i m e n d e Einflufi, den Plato u n d Aristoteles auf das spjitantike und christliche Zeitalter g e w a n n c n , d e m wir unsere U b e r l i e f e r u n g ihrcr Tcxtc verdanken. "
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Hatte der spatantike Epikureismus die Folgezeit bcherrscht, ware vielleicht das Werk des Demokrit erhalten, das hiindert Bande urnfaBt haben soil, und nicht Plato und Aristoteles. N u n kann es sein, dafi die uncntziffertcn Papyri von Herkulancum, aus der Bibliothek eines Epikureers, der gewifi ein Bewunderer Demokrits war, fiir uns noch Ubcrraschungcn bereithalten, die eines Tagcs unser Bild von der griechischen Naturforschung umgcstalten konnten. Aber das ware ein Zufall. Etwas ware erhalten gcblicben wie ein Dberrest oder cine Ruinc. Aber Ubcrlieferung ist etwas anderes. In ihr sind Wille und Tat und nicht nur Zufall. Auch daB die groBen Bcgriindcr der stoisclien Schule, Zenon, Chrysipp und Poseidonios, fiir uns kaum greifbare Gestalten sind, bezeugt etwas von der Schicksalhaftigkeit des Ubcrlieferungsgeschehens. In Wahrheit ist es wohl immer noch anderes als ein blofier Zufall, was iiber geschichtlichcm Gedachtnis waltct, und ganz gewiB ist es so 1111 Falle des Plotin. Zwar, was sollte ein Philosoph im imperialen Rotn, der Hauptstadt der Welt, der nicht an der uralten Traditionsstatte der philosophischcn Schulcn - ich meine Athen - lebte und lehrte, in seiner Zeit bedeutet haben, und was konnte er in einer Welt bedeutet haben, die sich ihrcm Ende zuneigte? Man weiB von seinem Leben, daB er zum kaiserlichen Hof und zu den hochsten Kreisen der romischcn Aristokratic in nahen freundschaftlichcn Beziehnngen stand. Offenbar war es das Charisma seiner edlen Personlichkeit, das ihm solches Ansehen verschaffte. Aber sein Fortlcbcn durch die Jahrhundcrtc vcrdankt er einem anderen Umstand. Man hat Plato eine >anima naturaliter Christiana*, eine von Natur aus christliche Seele genannt. Diese Bezeichnung paBt auf Plotin mit hohcrem Recht. Denn m scmer ganzen menschlichen und geistigen Haltung spiegelte sich die Weltstimmung der spatantiken und friihchristlichen Jahrhunderte, Jenscitssehnsucht, Vcrfcincrung der Sinne und des Geistes, Weltflucht und religiose Erregbarkeit. Es waren JahrhundeTte, in denen alte religiose Oberlieferungen, die sich an die Namen des Pythagoras und des Plato kniipftcn, phantastische religiose Bcwegungen entfessclten; Magie, Orakelwesen, Wundertatertum, Astrologie fanden aufnahmebereite Scclcn. Wir reden geradczu von Neupythagoreern und N c u platonikern, wenn wir solche Wundermanner und Wanderprediger im A u ge haben. Plotin freilich war anderer Natur. Er war kein Mystagoge, sondern ein tief innerlicher, ernstcr Dcnker, der die ganze groBe Oberlicfcrung der griechischen Philosophie in sich aufgenommeti hatte und unter dem Namen Platos und in seiner Nachfolge dem Erlosungsbediirfnis des Zcitaltcrs einen denkenden und begrifflichcn Ausdruck zu geben wuBtc. Was ihn aber wirklich zu einer sakularen Figur erhob, war der Umstand, daB seine Schnften dem friihen christlichcn Dcnken zuganglich wurden, unter anderem in der Obersetzung durch Marius Victorinus. Das bedeutete in Wahrheit weit mehr als cinc bloBe Bereicherung der griechischen Erb-
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schaft, die die christliche Kirche iibernahm, durch einen bedeutenden Denker der Spatzeit. Es bcdcutete, daB auch die groBe klassische Philosophic der Gricchen, insbesondere die Platos, von den Vatcrn der christhchen Kirche mit Plotins Augen gelcsen wurde. Plotins EinfluB begegnet uns von A u g u stin an auf Schritt u n d Tritt. O f f e n k u n d i g war es nicht so sehr die Erinnerung an seine cdle Personiichkeit, an die Spur seines Lebens, als sein hinterlassenes Werk, die Spur seines Denkens, was das griechischc Erbe vermitteltc und ihm eine solche Dauerpragung verlich. Sein EinfluB blieb auch nicht auf das Zeitalter der friihen Kirche und auf die Ausbildung der christhchen Dogmatik beschrankt. Plotin hatte noch einmal cinc groBe Stundc im Beginn der Neuzeit, im Zeitalter des Humanismus. Damals suchte man sich von der Enge kirchhchcr O r t h o d o x i e mit Hilfe des griechischen Denkens zu befreien, und dafiir war Plotin, der spatantikc Verruittler des klassischcn griechischen Denkens an die friihe Kirche, nochmals die rechte Mittlcrfigur. Marsilius Ficinus hat ihn in ein klassisches Latein iibersetzt. Das war im 15. Jahrhundert. Abermals war es Plotins Denken, das von nun an die gesatnte Tradition des Platonismus pragte, bis in die neucste Zeit hincin. Es war erst das A u f k o m m e n des historischen BcwuBtseins und die Entwicklung des historischen Sinncs im 19. Jahrhundert, was diese platonisch-piotmische Wirkungscinheit zur Aufldsung brachte. Die neue Benennung >Neuplatonismus< ist ein sprechender Ausdruck dafiir, daB man jetzt erst zwischen Plotin und Plato einen wesemlichen Unterschied erkannt hatte. Selbst der Entdekker der spaten platonischen Dialoge und der wahre Vollender der groBcti griechischcn Tradition der Metaphysik, Hegel, gehort noch in vollem U m fangc in die Wirkungsgeschichte Plotins. Er sah in der neuplatonischen Bewegung, die er auch so nannte, den hochsten Punkt, den das griechische Denken erreichte. Mit Plotin w u r d e das griechische Denken nahe an die Schwelle der christlichen Wahrheit herangefuhrt. Das spicgelte sich bald auch in der christlichen Theologie des 19. Jahrhunderts. Sie muBte sich mit dem spekulativen Anspruch Hegels au sei nan der setzen, durch seine philosophische Synthesc die Wahrheit des Christentums und das Mysterium der Trinitat in den Begriff crhoben zu haben. Damals faBte man Plotin und Hegel unter dem gemeinsamen N a m e n der philosophischen Gnosis zusammen (Ferdinand Christian Baur 1 ). >Gnosis< heiBt eigentlich Erkenntnis, aber als Begriff der christlichen Theologie meint Gnosis die Irrlehrc, daB der Mensch durch sein eigenes Erkcnntnisstreben und seinen Aufstieg zu den gottlichen Wahrhcitcn seine Erlosung von dem Erdenlos und von der T o d -
1
Die ehristliehe Gnosis, Tiibingen 1835. Unci inzwiGnosis und spatantiker Geist. Gottin gen 1934.
FHRDINANT} C H R I S ] IAN B A L R ,
schen bei
H A N S J O N AS.
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vcrfallenheit selber zu vollbringen vcrmogc. Das war f u r eine O f f e n b a rungsreligion, wie sic das Christentum ist, eine Herausforderung, und durch diesen U m s t a n d gewann das Denken Plotins auch untcr religiosem Gesichtspunkt weltgeschichthchen Rang. Aber mehr noch war es die philosophische Leistung einer grofien Synthcse, wie sic durch Hegel zur Wirkung kam, die in Plotins und seiner Nachfolger Werk steckte und die Denkweise des deutschen Idealistnus von Fichte bis Hegel zu ihren riesigen Systcmbautcn inspiriertc. Nicht ohne G r a n d haben die kantianischcn wie die neukantianisehen Kritiker der spekulativen Philosophic dieselbe geradezu als Ncuplatonismus bekiimpft. Aber auch wenn man ganz von diesen ideengeschichtlichen Zusammenhangen absieht, die insbesondere die dcutsche philosophische Tradition gepragt haben, und wenn man sich als ein unmittelbarer Lescr an seine Schriften und an die Uberlieferung iiber sein Leben wendet, wird m a n seltsam u n d tief beriihrt. Was fiir ein eigentiimlicher, innerlicher Ton durchklingt das meditative Reflexionsspiel, das sich in Plotins Schriften nicdcrgeschlagcn hat. Wer da spricht, ist ein Lehrer, gewifi, aber ein Lehrer, der mit seinen Horern und Schiilern wie in einer gemcinsamcn geistigen Vcrsenkung begriffen ist. N o c h der heutige Leser wird von diesetn Klang getroffen wie von einer gchcimen Scclcnbotschaft. Es gibt noch heute solche Leser, die Plotin wie die Heilige Schrift lesen. Plotin ist von einsamer GroBe. Iinmerhin kennen wir viele zcitgenossischc Tcxtc, die dem Plotinschcn Denken nicht einmal fernstehen, und wir besitzen eine ganze gelehrte Aristoteles-Erkliirung, die sich bestandig mit Plotins Gedanken auseinandersetzt. Aber was sind das fur unpersonliche Schriftsteller, Schulmeister, Dogmatiker, Formalisten, die auch, w o sie scharfsinnig argumentieren oder hohe Gelehrsamkeit beweisen, in einem erlernten Begriffsnctz zappeln. Plotin dagegen ist ganz andcrs. Z w a r ist er nicht ohne begriffliche Subtilitat und einen Anhauch von Scholastik. Seine Sprache ist durch die grofic Bcgriffstradition Platos, Aristoteles' und der Stoa gepragt und insofem nicht ohne gelehrte Voraussetzungen. Aber es ist bei lhm soviel personliche Aneignung u n d Durchseelung 111 die Begriffsschematismen gekommen, mit dencn sich .das Zeitalter sonst hcrumplagt, dafi Plotin vollkommen einzigartig dasteht. Er ist ein wahrhaftes Phanomcn, Man mag im Zeitalter der histonschcn Aufklarung den religiosen Spiritualismus und die Wirklichkeitsflucht, die das Denken dieses grofien D e n kers farbten, lediglich historisch gesehen haben, das heil'it als einen Ausdruck jencr spatantiken Zeitstimmung, die iiber die rationale Klarhcit des griechischen Geistes wie ein triibender Ncbel hingezogen sei und dem Aufgchen des neuen Gestims dcr christlichen Botschaft vorausging. Wir werden heute anders denken. Wir werden zwar nicht bcstrcitcn wollcn, daB die religiose Erregtheit dieser Spatzek allcrorten zutage trat und so auch den
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Dcnker Plotin mit ergriffen hatte. Abcr wir werden die Voraussetzung nicht mehr ohne weiteres teilen, daB mit solcher religiosen Wendung des philosophischen Gcdankens etwas Neues, etwas Fremdes, etwas dem klassischen griechischen Denken Unangemessenes herausgekommen sei. Das Verhaltnis des philosophischen Gedankens zur religiosen Uberheferung erscheint uns nicht mehr durch eine solche simple Antithese beschreibbar. Wir sehen vielmehr die griechische Aufklarung bei aller Kuhnheit und Radikalitat ihrer Denkunternehmungen in einem bestandigen Wechselverhaltnis mit der griechischcn Religion. Es ist das groBe Schauspiel dcr gricchiscben Literatur, wie Poesie und Philosophie als zwei groBe Rivalen von friih an u m die rechte Darstcllung und Vermittlung der eigenen religiosen Wclterfahrung des Griechentums ringen. N o c h zu Bcginn unscres jahrhunderts mochte die homerischc Thcologie wie ein altester Anfang religioser K u n d e gelesen worden sein. Wir sehen heutc in ihr weit mehr cine dichtcrische D e u t u n g dcrsclben, in dcr viel Hclle und Rationalitat, viel bewuBter Ordnungswille und kritische Abweisung des Unheimlichen, an dcr religiosen Ubcrliefcrung gcstaltcte und sie zu dichterischer Botschaft formte. Uns erfullt Bewunderung vor der Kiihnheit rationalen Fragens, mit dcr die lonier die ersten groBcn Fragen nach dcin Anfang v o n allem, nach dem wahren Sein und dem Nichtsein des Nichts, nach der Ausgleichsordnung, die alles menschliche und kosmische Geschehen durchwaltct, gcstellt haben, und mit der sie den religiosen A n t h r o p o morphismus der homerischen Mythologie iiberwanden. Aber wir sehen zugleich, daB auch dieser Aufklarungszug des gricchischen Denkens mit einer bestandigen N e u d e u t u n g der mythischen Uberheferung und der K u n de v o m Gottlichen Hand in Hand ging. Man denke nur an die >Philosophie im tragischcn Zcitaltcr der Griechcn', die mit der >Geburt derTragodie< in so tiefem inneren Z u s a m m e n h a n g steht. Das war die Vision, die Nietzsche, durch Richard Wagner inspiriert, bcschworcn hatte. Sie war nicht so sehr das Gemalde eines verlorenen Paradieses, als eines Paradieses der Verlorenheit, in dem der griechische Pessimismus dichtend und denkend zu sich selber stand. Aber cs war nicht so, wie Nietzschc glaubte, daB der falsche moralische O p t i m i s m u s Platos das Ende dieses groBen Zeitalters heraufgefiihrt hatte. Wir sehen hcute, daB nicht dcr bose Sokrates den Plato vcrdorben hat - u m mich der beriihmten Wendung Nietzsches zu bedienen. Vielmehr haben Plato und Aristoteles in der Nachfolge des Sokrates das rationale Erbe des griechischen Geistes bis in die Extreme der radikalen Aufklarung hincin durchdacht und mit der Wahrhcitsticfe dcr religiosen Uberheferung ihrer Kultur wicdcrvcrcinigt. Aufklarung und Tradition gclangtcn so zu einem neuen produktiven Ausglcich. Die platonischcn M y then von der Seele u n d ihrem Scliicksal u n d von dem Walten der Gotter iiber dem Weltenlauf illustrieren diese Einheit durch die barocke Mischung ihres
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Stils, in d e m sich die Feierlichkeit sakralcr Sprache mit der ionischen Geistigkeit der Reflexion innig vermahlt hat. Die Erkenntnisfrucht dieser ausglcichenden Leistung war der teleologische Kosmos, den Aristoteles beschrieb. In i h m besitzt der Mensch als das dem Gottlichen am nachsten stehendc Wesen zwar eineti ausgezeichneten Platz, bleibt aber gleichwohl in das Ganze der kosmischen O r d n u n g cingcffigt. An der Spitze der Seinsordnung des Universums stehen die ewigen Gestirne, deren unwandelbares Sein wie ein Garant und wic ein Vorbild menschlichen Denkens und Erkennens uber d e m tumultuarischen Chaos der menschlichen Dinge leuchtet. Eine hoc hen twickclte Astronomic, die in ihrer Endgestalt als das Ptolemaische System viele Jahrhunderte hindurch giiltig blieb und erst durch die kiihne Tat des Thorncr D o m h c r r n Kopcrnikus abgelost wurde, blieb noch i m m e r mit der griechischen Volksreligion in einem letztcn geistigen Einklang. So schreibt Aristoteles, nach dem er die neuesten astronomisehen Systeme seiner Zeit dargestellt hat, daB die Vorfahren und Altvorderen dies vornchme Sein der Gestirne fiir gottlich hielten. Dann fahrt er fort (Met. A 8, 1074bo»ff.): »Man mochte diese Bchauptung selber gottlich finden. Denn wenn man annchmen muB, daB jede Kunst und jedes Wissen, wenn iiberhaupt, ofters gefunden wird und dann whedcr versinkt, wird man von solchen Lchrcn glauben mtissen, daB sie tatsachlich Uberblcibsel solch eines alten Wissens sind, die sich bis zum heutigcnTagc erhalten haben. Der Glaube der Vater und der Urzeit ist uns jedenfalls nur soweit verstandlich.« Das sagt Aristoteles, der niichtcmc Meister des Begiiffs! Blickt man auf diese Tradition religios begrundeten Denkens, erkennt man, daB es nicht cine kiinstliche U m d e u t u n g oder Verzerrung war, die den spatantiken Denker Plotin in Plato sein gcistiges wie sein religioses Vorbild erblicken lieB. Zwischen Philosophie und Religion war durch die ganze Geschichte der griechischen Rationalitat hindurch ein gemeinsamer Boden bewahrt worden. Wenn ein stoischer Denker wie Kleanthes seinen beriihmten H y m n u s an den hochstcn Gott richtet, so spncht er damit ebensosehr die Wahrheit seines eigenen Denkens wic die Wahrheit des M y t h o s aus. Wenn Epikur und sein romischcr Vermittler Lukrez die Angst vor den Gottern und die Todesfurcht mit subtiler logischer Prazision zu zcrsctzcn suchten, konnte ein Epikurecr wie Lukrez gleichwohl mit d e m H y m n u s auf eine Gottin, auf Aphrodite-Venus, seine aufgeklarte Denkbotschaft einleiten. Selbst der antike Atheismus fiigte sich dcrgestalt noch immer in die Formen der Vcrehrung der gottlichen Machte, die das gcsamtc antike Leben durchherrschtcn. Von Plotin muB man sagen, daB er in einer Epoche hoher rehgioser Erregtheit beides zugleich war, ein religioser Mensch und ein wirklicher Denker. Auch Plotin hatte seinen Sokrates. Das w a r sein philosophischer
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Erwecker, A m m o n i a s der Sacktrager, der in Alexandria offcnbar cin schr unscheinbares und genugsamcs Leben gcfiihrt hat — daher sein Beiname. A m m o n i o s bckannte sich ganz zu Plato, hat aber sclber nic cinc Zeilc geschrieben. Zu seinen intimstcn Schulern gchorte Plotin. Dieser folgte ihm so schr, daB er sich erst spat entschloB, die Lehrmeditationcn, mit denen cr sich in R o m seinen Schiilcrkreis geschaffen hatte, niederzuschreiben. Dank der Treue des P o r p h y n o s besitzen wir sein ganzes Werk, alle diese Lehrvortrage, die wie Selbstgesprache sind: Fragen stellend, abbrechend, ncu einsetzend, Einwande vorbringend und in subtilstc Dialektik ausspinnend - bis am Ende nicht so sehr cine Losung, eine Antwort, ein Resultat herausk o m m t , viclmchr eine spekulative S t i m m u n g und eine von Licht umflossene Vision ersteht. Freilich muBte man ganz auf der H o h e der philosophischcn Kultur der Griechcn sein, wenn man diesen dialektischen Subtilitaten uberhaupt folgen wollte. Doch verraten immer wieder glanzvolle Bilder und Gleichnissc die visionarc Kraft des Denkers, in dem sich noch einmal das Ganze der philosophischen Oberlieferung des Gricchcntums in originales Denken umgesetzt hat. Unzwcifclhaft waren es i m m e r wieder platonische Motive, die Plotin aufgriff und mit eindringlicher Dialektik abwandclte. DaB iiber die Vielheit der Idccn hinaus die Frage des Denkens nach dem Einen gcht, das als das Gute und als das Schone selbst, wie ein jenseitiger Ursprung, die Welt der Ideen, dieses ganze Reich des wahrcn Seins, iiberragt und es begriindet, ist auch Platos Lehre. Aber Plato weicht in seinen Dialogen vor jeder genauen Aussage iiber das Eine, iiber das Gute, das notwendig nicht nur Eines, sondern auch Vieles ist, zuriick. Wie sich die Idee zur Vielheit der Erschcinungen verhalt, und vollends, wie sich das Gute und Schone zu allem verhiilt, was gut u n d schon ist, und wie eigentlich die sinnliche Welt an der intelligiblen Welt dcr Ideen teilhat, wird ganz offengelassen. Das ist bei Plotin anders. Der Gegensatz von jener und dieser Welt tragt bei ihm einen fast religiosen Akzent. Aber das Vcrhaltnis dieser Welten zueinander ist auch bei ihm kcineswegs so platt und so massiv, wie die sogenannte Zweiweltentheorie des Platonismus es versteht. Vollends wird die Frage, in wclchcm Sinne das Gute >Ursache< oder Grund des Scins sein konnc, fast in dem Sinne gelost, daB das Gute und Schonc dem Seiendcn stets immanent ist. Aber anders als Plato richtet Plotin die ganze Wucht seines Denkens darauf, das Eine von alien dctcrminiercndcn Bcstimmungcn vollig abzulosen und es selbst von dem »Denken« ganz abzuriicken, das wesensmaBig nicht das Eine sein konne, weil es in die Zweiheit des Denkenden und des Gedachten zerfalle. Der negative Weg im Denken des Einen, den er verfolgt, macht ihn so zum Vater der negativen Theologie, zum Eroffher der sogenannten via negativa. Das Denken vermag der Eminenz des Gottlichen n u r dadurch gerecht zu werden, daB es das Gotrlichc durch univcrsclle Vcrncinungcn
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umschreibt. Das ist die neu platonische Theologie, die die erste >Hypothesc< in dem platonischen Dialog >Parmenidcs< im glcichen Sinne als ein D o k u mcnt negative!" Theologie deutete 2 . Plotins immer wicderkehrendes G r u n d p r o b l c m ist diese Notwendigkeit, das Eine zu denken und nicht denken zu konnen. M a n darf nicht beim vewe, dem sich selbst (oder anderes?) denkenden Denken, stehenbleiben, mit dem Aristoteles die Seinsweise des Gottlichen beschrieben hatte. Vielmehr mufi man iiber die Dualitat des Denkendseins noch hmausgehen. Erst in der vollkommcnen Einung und in der Verschmelzung von Denken u n d Gedachtem, die in Wahrheit kein Denken mehr sein kann, ist das Eine, das das Gute und das Schonc ist, da. Diese Transzendenz des Einen bedeutet aber zugleich die hochste Immanenz alles Seienden in dem Einen. Auch w o Seiendcs kein denkendes Seicndcs ist, manifestiert sich die Einheit des Einen in allem, was ist und Eines ist. So wandelt sich der teleologische Kosmos des Aristoteles in ein dynamisch durchstromtes All. Leben und Lcbcndigkeit war auch fiir Plato und fiir Aristoteles die sclbstverstandhche Grundverfassung des Gottlichen wie des Wcltganzcn. Aber wie sich der Kosmos in seinen O r d n u n g c n bewegte, dafiir hatte Plato, dicscr pythagoreisierende Mathematiker, nur mythisches Fabuliercn bcreit. Ein Demiurg ordnctc das Ganze nach unvcrbriichlichcn Harmonien. Der niichtcrne Aristoteles vollends, dessen Blick stets auf das Lebcndigc mehr als auf das Mathematischc gerichtet war, denkt sich eine Bewegungsordnung aus, die durch die geheimnisvolle Attraktionskraft des unbewegten BewcgcrGottes in Gang gehaltcn wird, wie durch eine Mechanik der Licbe. Plotin dagegen macht mit der Lebendigkeit des Lebendigen in einem neuen Sinne ernst. Da ist vor allem der Begriff der SvvapK, der )Macht und Moglichkeit', der bei Plotin einen neuen Akzent und eine Art ontologischen Primates gewinnt. Zwar ist fivvapu; wesenhaft auftv^y-nt/, Moglichkeit aufWirklichkeit bezogen. Das war eine der Grundlehren der aristotelischen Metaphysik gewesen. Aber der platonisch-aristotelische Begriff von Sein, in dem cin eleatisches Erbc wciterlebt und der >Sein< als das 1111 Denken Anwesende meint, gewann im hellenistischen Zeitalter eine neue, dynamische Mitbcdeutung. Nicht Anwesenheit, sondern vcrhaltenc und sich aufiernde Kraft wird darin gedacht. Kraft aber ist lebendige Kraft - nicht Kraft, die sich in der Aufierung verausgabt und geschwacht zuriick bleibt. Lebcndigc Kraft crfiillt sich u n d erhalt sich selber kraft ihrer Bctatigung. Wir konnen sie auch iiberschieficnde Kraft nennen, wie wir sie im UberschuB der Lebensfreude, 2
Dafiir ist bezeichnetid, dali der >Parmenides<-Kommeritar des Proklos nur die erste imodeaic des platonischen Dialogs kommentiert hat, die fiir solche Deutung zuganglich war. Siehe dazu meine Ahhandlung iiber den platonischen 'Parmenides' und seine Nachwirkung, jetzt in diesem Band, S. 313-327
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der Spiellust und des Tanzes sich auswirken sehen. N u n mull m a n das in seiner ganzen ontologischcn Bedeutung crmcsscn. Schon in der Stoa hatte sich dieser neue Begriff von Kraft, von A tern u n d von Spannung, vorbereitct. Es ist eine neue Wendung ini Denken des Scins, die sich damit anbahnt. Sein ist nicht mehr die strahlende Gegenwart, die sich dem denkenden Blick in ihrer VcrlaBlichkeit darstellt, als Idee, als Wesen, als Substanz - Sein ist nun die geheime Kraft, die hintcr allem schlummert, cin Sein, das sich nie gewahrcn, crmcssen oder ausschopfen laBt, sondern nur in seinen AuBerungen uberhaupt zur Erscheinung k o m m t . Es ist dcutlich, daB von einem solchen Seinsbegnff her die Vorstellung eines Schopfers des Alls, die fiir Plato mehr eine philosophischc Metapher fiir die Rationalitat des Weltenbaus gewesen war, an realer Bedeutung gewinnt. Der bekannte Ausdruck des neuen Seinsvcrstandnisses, das die Neuplatoniker in Plato hineinprojizieren, ist dcr Begriff der (Emanation*. AusfluB, UberfluB einer unerschopflichen Quelle 3 , das ist es, was die groBe Weltenarchitcktur zusammenhalt. Vom jenseitigen Einen iiber die Geisterwclt und die Geisteswelt zu der sich selbst erfahrenden Seele und bis zur organischcn Bildungskraft der N a t u r durchstromcn diese Wasser alles. Horen wir eine Probe seiner incditativen Argumentationsweisc: »Das Eine muf> aber U r s p r u n g sein und vor dem Ganzen sein, damit nach ihm auch das Ganze sein kann. Wenn es abcr jedes einzelne Seiende ware, so ware erstens ein jedes mit jedetn identisch, und dann wiirde obendrem alles zugleich sein, namlich alles in eins, und Untcrschiede gabe es nicht mehr. So folgt daraus: Es ist nichts v o m Ganzen, sondern es ist noch vor dem Ganzen. Was ist es aber dann? Es ist die Kraft des Ganzen, ohne deren Dasein auch das Ganze nicht ware und auch der Geist nicht ware, der das erste und ganze Leben ist. Was so iiber dem Lcbcn ist, ist des Lebens Ursprung. Denn der Vollzug des Lebens, der das Ganze ist, kann ja nicht das Erste sein. Er ist vielmehr selbst entsprungen wie aus einer Quelle. Denke dir namlich cine Quelle, die selber keincn anderen U r s p r u n g mehr hat und die alien Stromen diesen U r s p r u n g verliehe, die selber nicht ausgcschopft wird durch die Strome, sondern still in sich verblcibt, und so, daB die aus ihr hcrvorgegangenen Strome, bevor cm jeder in seine Richtung flicBt, in ihr noch ganz bcisammen sind, doch derart, da 1:1 jedcr sich gleichsam schon bewuBt ist, wohin er seine Gewasser crgicficn werde. Oder denke dir das Leben emes ricsig groBcn Baumes, das ihn ganz und gar durch flicBt, und zwar so, daB es Ursprung in sich bleibt, ohne sich durch das Ganze zu zerstreuen, als ob es in der Wurzel seinen Sitz hatte. Dieser U r s p r u n g verleiht dann dem Baume im ganzen sein Leben in aller Fulle und verblcibt doch in sich selbst und ist nicht 3 Vgl. meine Bcmerkungen zum Begriff der >Quellc< in Exkurs V von > Wahrheit und Methode*, jetzt in Ges. Werke B d . 2 . S. 383f
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Vieles, sondern U r s p r u n g des Vielen. Daran ist nichts zum Stauncn. Oder cs ist doch zum Staunen . . . « 4 Man sieht, Plotin liebt Gleichnisse fiir die organische Wirkungs- und Lcbenseinheit des Alls. Das Bild der Quelle ist ihm das nachste. Aber auch der gewaltige Kreislauf eines sich mit den Wurzeln in die Erdticfc senkenden und hoch in die Luft cmporragenden Baumes erfullt seine Vision. Vor allem aber das Licht, dieses ratselhafte Oberall, das von einer Quelle ausstromen mag, aber in voller Gleichzeitigkeit sich nach alien Seiten hin verbreitet, alles Sciende in seinem Lichte zeigend, alles Seiende mit seinem Lichte nahrend und alles umfassend, was ist. Es mag sich in dem unbestimmbaren Dunkel verlieren, in dem nichts ist, aber aus jedem Seienden strahlt cs seinen Widerschein zuruck. Der Kenner Rilkes wird unmittclbar rcalisieren, daB es plotinischer Geist ist, der die Engclsvisioncn der Duineser Elegien inspiricrt hat. Friihc Gcgliickte, ihr V e r w o h n t e n der S c h o p f i m g , Hohenziige, m o r g e n r o t l i c h e Grate aller E r s c h a f f u n g , - Pollen der bliihenden Gottheit, G e l e n k e d e s Lichtcs, Gange, Treppen, T h r o n e , R a u n i e aus Wesen, Schilde aus W o n n e , T u m u l t e stiirmisch cntziickten G e f u h l s und plotzlich, einzeln, Spiegel, die die e n t s t r o m t e eigene Schonheit w i e d e r s c h o p f e n zuruck in das eigene Antlirz. (Die zweite Elegie)
Das ist die andere Richtung dieses kosmischen Dramas der Ausstromung und des Ausflusscs: die Rtickkehr. In ihr erst ist Sein das wahre Sein. So wie die Engcl die wahreren Wesen sind, weil ihr Fiihlen zu sich zuriickkehrt. Damit n i m m t das urplatonische D e n k m o t i v des Aufstiegs zum Einen eine neue Gestalt an, wenn Plotin mit visioniirer Kraft die geistige Welt bcschwort, die, von der sinnlichen Welt geschieden, der suchcnden Seele den Aufstieg und den Einblick in den Weltengrund verheiBt. Es ist wie ein grofies kosmisches Drama, dem sich der Seelenweg des Denkens einordnet. Der Aufstieg vom Sinnlichen z u m Geistigcn und iiber die Mannigfaltigkeit der geistigen Welt hinaus zum Einen, Guten und Schonen ist ganz platonischen Geistes. Aber dieser Aufstieg ist ein Ruck weg, der Weg einer U m k e h r der Seele. Was ihm vorausliegt, ist ein groBes Weltgeschehen, der AusfluB der Seele und der ganzen Vielfalt des Seienden aus der ursprung lichen Einheit. Ein unbegreifheher Vorgang des AusflieBens, der Emanation, wic eine Tat bloBen Vorwitzes, aus der sich der wohlgestufte Kosmos der ins Sein entlassencn Gestalten bildet. Das Gesetz der Nahe u n d Feme zum Einen behcrrscht diese O r d n u n g . Wie eine Lichtquclle, die sich im dichtercn 4
Enn. Ill 8 [30] 9,50-10,14.
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Dunkel der Nacht verlicrt, aber solange sie v o m Dunkel noch nicht ganz aufgeschluckt ist, das von ihr Angestrahlte crschcinen laftt, das Nachstc am hells ten und klarsten, das Ferns tc ganz und gar verschwimmend, so beschreibt Plotin den grolien Weltenvorgang, in dem die vcrlorene und sich sehnende Seele des einzclnen fiir ihr eigenes irrendes Dasein ihre Heimat sucht. Die Einsicht in das grolJe Weltendrama, die der tneditativen Verscnkung des Philosophierens gelingt, ist zugleich die Zuriickfiihrung der ins Sein hinausgestoficncn Seele zu dem lebendigen G r a n d des Einen. M a n kann den christlichen Bcgriff dcr Gnosis aufdiescs Denken mit Recht anwenden. Nicht aus der Kraft der O f f e n b a r u n g eines jenseitigen Gottcs, sondern aus der Kraft dcr Vcrticfung u n d der Vergcistigung des eigenen lrdisch-menschlichen Seins offnet sich der Wcg der Erlosung. Der grofic Seelcnatem, der die verlorcnc Scclc bis zur mystischcn Eimgung mit dem U r g r u n d heraufhebt, durchweht das Ganze. Die anschauende Versenkung in das Eine, die >unio rnystica<, bezeichnet nur die letzte Stufe der Riickkehr. Alles Seiende ist in dcr Riickkehr. Die plotinischc Metaphysik ist eine Lchrc v o m Sein als dem Ruckkehrenden, das auf seinen Ursprung zuriickgcwandt ist. Man hort die Sprache der christlichen Mystik. Man crinncrt sich des Satzes von Meister Eckhart: » Warum gehet ihr aus? - U m heimzufinden.«
IB. Natur und Welt Die hermeneutische Dimension in Naturerkenntnis und Naturwissenschaft (1986)
1. Der Begriff der Natu r in der antiken
Philosophie
Wortc crzahlen eine Geschichte. Das Wort >Natun ist in unser SprachbewuBtsein so tiefeingesenkt, daB wir gar nicht realisiercn, daB es sich hier u m cin lateinischcs Lehnwort handelt, und sofern das Wort >Natur< als cin Begriffswort verstanden wird, daB das lateinische Wort scinerseits nur eine Ubernahme aus dem Griechischen ist, das den Begriff der Physis (fwnq) gepragt hat. N u n sind Wortc die Trager unserer gcistigcn Imagination. Die Mannigfaltigkcit ihrer Bedeutungsausstrahlung macht den Rcichtum unserer Vorstellungen und Gedanken aus. Die Bildung cincs Begriffes dagegen verlangt die genaue Eingrenzung und Unterscheidung, so wic etwa Aristoteles dafiir ein unvergangliches Muster in seinem Buch zl der >Metaphysikf aufgestcllt hat. Die Unterscheidung der verschiedenen Bcdcutungsrichtungen cines Wortcs hebt die Beirrung durch Aquivokationen auf und ist das Anliegen der philosophischen Analyse. Aber die Sprache selbst ist, indem sic solche Bedeutungsdifferenzen in den Wortcrn a u f k o m m e n laBt, bereits der erste Niedcrschlag einer Begriffsbildung, zu der die philosophische Analyse nur einen letzten Schritt tut. In jedem Falle bleibt es verniinftig, sich des ganzen Gedankenerbes bewuBt zu sein, das m dem Sprachgebrauch fortlcbt, und gleichsam die Geschichtc des Wortes als Zugang zu der Analyse des Begriffs zu benutzen. N u n hat das Wort 'Natur- heme geradezu den Charaktcr eines Schliisselwortes erhalten. Es ist die Krise der industriellen Gesellschaft auf unscrcm Planetcn, die mit diesem Worte angetont wird, die Anklage gegen eine Entwicklung, die eine Ausbeutung der Natur darstellt und irreversible Prozesse der Verodung oder sonstiger verderblicher Vcrandcrung cinlcitct. Das ist heute sowohl am allgemeinen Problem des Umwcltschutzes als auch an den besonderen Problemcn der Kerncncrgie, der Luft- und der Wasserverschmutzung langsam ins allgemeine BewuBtsein gedrungen und legt von
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da aus nahe, den Gedanken der N a t u r wieder starker ms BewuBtscin zu rufen und in ihr nicht nur die Lagerstatte von Vorraten fiir die U m w a n d l u n g dcr Natur in menschliche Erzeugnisse zu crblicken. Sicherlich geht die emotionale Toming des Begriffs der Natur bereits auf die Kulturkritik zurtick, die im spatcn 18. Jahrhundert ihren machtvollen Stimmfuhrer m Rousseau gcfunden hat. Er wurde gleichsam z u m Rufcr, der die Unschuld der N a t u r gegen die Verdcrbnis der menschlichen Zivilisation verkiindcte und zugleich mit Pathos die Befreiung von den Z w a n g e n eines rationalistic sehen Zivilisationsideals und die Riickkehr zur Natur predigtc. Man braucht sich zur Vcranschaulichung nur daran zu crinnem, wic die kunstvollc Gartenanlage im Gcschmack jener Epoche, diese Vcrlangerung menschlicher Architektur in die N a t u r hinaus, sich zu dem englischen Parkstil, dem >Englischen Garten* umwendete, der em Stuck N a t u r sein wollte. DaB die Riickkehr zur Natur auch eine Parole dcr Franzosischcn Revolution und der Emanzipation des Biirgertums wurde, gab dem Wort zuglcich eine weitlnn hallende sozialc Relevanz. M a n denke an die Sansculotten, und iibcrhaupt an die Abkehr von Rcifrock und Pcriicke. "Die N a t u r ist jetzt mit Waffenklang crwacht** - konnte Holdcrlin dichten. Aber hintcr dieser Pragung des Naturbcgriffs. die wir anerkennen, und die etwa fiir einen Heidelberger in dem N a m e n des Philosophcnweges fortlebt, der ja nicht den spczicllcn Spazicrwcg von Philosophieprofessorcn benenncn will, sondern auf die sondcrbare Erscheinung von Leuten zielt, die es vorziehen, ihre Spaziergange allein zu machcn, Rousseauistcn, u m sie so zu nennen: Das war damals etwas Ncues, das in der Tat angesiclits der Lebcnsgewohnhciten altercr Zeiten geradezu un verstandlich scliien. Hmter dieser Zuspitzung der menschlichen Kulturentwicklung bis zu dem kritischen Wendepunkte im Geistc Rousseaus, an dem die Gegemnacht der Natur, die Seclcnmacht dcr Einsamkeit, wieder beschworen wurde, liegt die Entstehung der modernen Wissenschaft, deren techmsch-industrielle Anw e n d u n g inzwischen bis an kritische Grenzen herangefiihrt hat. So werden wir fiir die Bildungsgeschichte des modernen Naturbcgriffs auf das grundlegende Faktum zuriickgewiesen, das im 17. Jahrhundert zur Wirklichkeit wurde, eben die Geburt der modernen, auf Mathematik gegriindetcn Wissenschaft. Dcrcn erste Vollendung stellt die Newtonsche Phystk dar, und ihre bcgriffliche Explikation verdanken wir vor allem Kant. Bei Kant finden wir den strengsten Begriff der von den Wissenschaftcn thematisicrtcn Natur: cr definiert sic als die GesctzmaBigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit. DaB d a m n eine bestimmtc Eincngung des weiten Bedcutungsfeldes von Natur, wie es in der Sprache und im mcnschlichen Geistc lebt, v o r g e n o m men wird, ist klar. Kant hat der neuen Wissenschaft von der N a t u r ihren Begriff verliehen: Was nicht Gegcnstand wisscnschaftlichcr Methode ist,
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kann als Objekt derselben uberhaupt nicht gelten. Und das fuhrt zu der provokatorischcn Formulierung: Es ist der Verstand, der der Natur ihre Gesctze vorschreibt. Es ist offenkundig, daB diese sozusagen wissenschaftstheorctische Eincngung des Naturbcgriffs nicht ohne Anerkennung eines wciter gezogenen Beg riffs kreises von N a t u r passieren konnte, und so hat Kant in der >Kritik der Urteilskraft*, der dritten seiner Kritiken, der Idee der Natur als Richtlinie der telcologischen Urtcilskraft ihren begrifflichen Platz eingeraumt. DaB wir etwas als cin nattirliches Lcbewesen ansehen und nicht als eine Maschine, setzt offenkundig a priori voraus, daB wdr den Gedanken des Zweckes und der ZweckmaBigkeit zulassen. N u r dann konnen wir von dem >Vcrhalten< von Lebewcscn reden, die nicht durch mechanische Z w a n gc gestoBen Bewegungen ausfiihrcn, s o n d e m ihre Verhaltenswcisen aus eigencr Zweckgerichtetheit einrichten. Innerhalb der Wissenschaft von der N a t u r m a g man diesen erweitertcn Naturbegriff als cine bloBe Unvollendetheit der Kausalerklarung alien Naturgeschehens ansehen und etwa alles, was wir Morphologic nennen, als eine vorlaufige, der cigentlichen wissenschaftlichen Erklarung noch nicht zuganglich gewordene, bloB beschreibcnde Erkenntnisweisc gelten lassen. M a n denke an den Physikalismus der > Unity of Sciencc<-Bewegung. In Wahrheit bedeutet auch ein so crweiterter N a t u r begriff noch eine cnorme Vercngung des Bedeutungsfeldes des Wortes >Natur*, dessen Reichtum und Fiille auf andere Quellcn zurtickweist. Das k o m m t am klarsten zutage, scit sich in der Rcnaissanceepoche der jiidischchristliche Begriff der Schopfung der Welt mit dem antiken Erbe verschmilzt, das unter dem N a m e n Platos meuplatonische* Gedanken, wic wir sagen, und d. h. vor allem auch auf stoische Elemente zuruckfuhrbare A n schauungen in die moderne Welt hiniibcrlcitete. Es ist insbesondere der Begriff der Schtipferkraft der Natur, der Natur als natura naturans, der auf diese antike Vorbereitung zuriickgeht. Der >Logos*, auf den der stoische Weise zu horen rat, ist zugleich das >Weltprinzip*, oder besser der >Wcltatem<, der durch alles hindurchweht und mit der Kraft der Sympathie den einen groBen Kosmos belebt, in dem alles mit allem zusammenhangt. »Im Einklang mit der Natur leben« ist die bcriihmte Formel der stoischen Morallehrc, in der der Begriff der >Physis< fast so etwas wie ein gchciligtes Wort wurde. Damit sind wir bis auf die urspriingliche Pragung des Begriffes rprex zuruckgckommcn, die wir Plato und Aristoteles verdanken. Das darf ich zunachst wicderum durch eine wortgeschichtliche Erortcrung befestigen. Wir kennen aus der vorsokratisehen Periodc keinen Gebrauch des Wortes yvov; in absolutcr Verwendung. Weim wir von den umstrittenen PhilolaosFragmcnten absehen, die immerhin spa teres 5. Jahrhundert warcn, ist es i m m e r die N a t u r w o n etwas*, die gemeint ist. Das heiBt im Grande, daB es noch keinen Begriff von Physis gegeben hat, der in dem abstraktcn Wortge-
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brauch v o n ipvmc seine Auspragung gefunden hatte. Die emzige scheinbare Ausnahme, die wir kennen. ist ein Satz des Heraklit: rpvav: xpvnzcadai ynAt'i (Fr. 123), »die Natur liebt es, sich zu verbergen«, Selbst wenn dieses auf Porphyrios zuriickgehendc Zitat im vollen Wortlaut echter Heraklit sein sollte, bezeugt das noch lange nicht den Begriff von Natur, dcr uns in der attischcn Philosophic begegnet. Man meint vielmehr immer die N a t u r >von ctwass insbesondere von etwas Lebcndigem. So steht es bei Empedokles, der das Wort ifvmc als iibliches Korrespondenzwort zum Ende des menschlichcn Lebens, also zu Mvara<;, nennt, u m es ausdriickhch als eine unangemessene Ausdrucksweise zu verwerfen, da weder Geburt noch Tod wirklich sei. sofern es sich um eine blofle U m w a n d l u n g handle (VS 31 B 8). Ich ziche die Stelle nur heran, u m zu zeigen, dafi damals yvaic, wohl ein gelaufiges Wort war, aber offenbar nicht die Natur meinte, sondern Geburt, Erzeugung, Pflanzung cincs Wcsens. Falls das Heraklit-Wort im vollen U m f a n g authentisch ist, meint es also vcrmutlich so etwas wie: »die eigcntlichcn Anfange eines Wesens blcibcn im verborgenen« - wahrschcinhch im Gegensatz zu dem Eklat desTodes. In die gleiche Richtung weist Eupolis (Fr. 221 Kaibel), wo fast mit Holdcrlin ubersetzt werden moclitc: »Aber das meiste vertnag die Geburt. <1 jedenfalls bliebe das Heraklit-Wort nicht ein Zcugnis fiir den Begriff von Physis u m das Jahr 500. Auch all die Wcndungen, die seit alters bei H o m e r mit dem Wortstamm erschcincn, lassen sich natiirlich verstchen im Sinne von Geburt, Same, Z e u g u n g eines Wesens. Das klingt bei Plato deutlich nach. Selbst w o es schon fast wie cin Buchtitel klingt, diese Weisheit, diese utpi ywotbx, ioropia (Phaid. 96a y ), versteht Sokrates dies sofort im Sinne von >warurn etwas entsteht (yiyveiat)<. U n d wenn Plato das, was die Leute tpvoc-i mi tp(«m nennen, dem, was (/'t'jr/ !st, und das heiBt, was aus rep?/ und VGIK ist, gegeniiberstclk (Nomoi X, 892b), meint er yhiov;. Noch Aristoteles hat das im Sinne, wenn er fi>OK - mi Gegensatz zur rs^H ~ ohne weiteres als yrvrmc charaktensiert (Phys. B 1, 193b 13 ). U m so dringlicher wird damit die Frage, was das Wort zum Begriff gepragt hat, was den ncuen Begriff von Physis heraufgefiihrt hat. Da erinnern wir uns dcr Selbstdarstellung, die Plato dem Sokrates in seiner letzten Lebensstunde in den M u n d legt, wenn er ihn im Gesprach iiber die Unstcrblichkeit der Seele vorfiihrt. Sokrates spricht da zunachst liber die »Ursachen von Werden und Vcrgehen im allgemcinen« und schildcrt seine friiheren, cnttauschenden Erfahrungcn mit den grofien Forschcrn seiner Zeit, die auf diese Frage allcrhand mteressante Antwortcn gaben, etwa dafi die Faulnis die Bcdingung des Entstehcns des Lebens ist oder dafi nicht das Zwerchfell, sondern das Gehirn der O r t ist, in dem >Bewu(iitsein< crwacht oder seinen Platz hat. Sokrates erzahlt, wie cr v o n all diesen Erkenn tins sen der damaligen Forschung unbefricdigt blieb, so daB er sich am Ende und insbesondere, nachdem selbst das Buch des Anaxagoras iiber den I Y J K sich als cine Enttau-
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schung erwies, auf cincn anderen Weg gewiesen sieht, den Weg iiber die Xoyoi, den Weg iiber die Niedcrlegung (vnodsuv;) v o n bcgrifflichen Allgcmcinheiten, die in der Bedeutung von Wortcn und natiirlich in dem Gebrauch dieser Worte gemeint sind. Diesen Weg nennt man seit Plato Dialektik. Was das gegeniiber dem bisherigen Weltzugang und seinen Fragen bedeutet, wird deutlich, wenn Sokrates auf die kosmologischen Vorstcllungen oder besser Erklamngen hinweist, durch die die friihere Forschung die niytliologischen Antworten der Tradition zu ersctzen suchte; sic crklarten die feste Zentral-Stellung der Erde nicht langer durch einen Lasten tragenden Atlas, sondern durch ein Wasscrkissen oder Luftkisscn, oder durch was fiir eine Vorstellung einer Gleichgewichtslage i m m e r sie diese Grenzfrage menschlicher Anschauungskraft nach dem Platz der Erde im All zu bcantwortcn suchten. Diesen Erklarungsversuchen setzt cr sein natiirlichcs Verstandnis von Verstehen entgegen, das in der zwischenmcnschlichen und sprachlichen Kommunikation seine feste Grundlage und Gegcbcnheit hat und das er vor allcm an seiner eigenen Lcbenssituation illustriert: Er mochte die Stellung der Erde im Wcltall so verstehen lcrnen, wie er vcrstehe, w a r u m cr - alien Fluchtangcboten zum Trotz - sich entschiedcn habe, den Vollzug der Hinrichtung auf sich zu nehmen. Diese hermeneiuische Forderung stellt offenkundig ein ganzes P r o g r a m m einer Physik dar, die alle Naturvorgange so versteht, wie die Menschen ihre eigenen Verhaltcnsweisen verstehen. Die Erfullung dieser programmatischen Forderung ist die aristotelische Physik. Das heiBt aber, der Begriff der >Physis<, der so gebildet wird, konstituiert sich dadurch, daB er sich gegeniiber dem mens chl ich en Planen, Wahlen und Machen abhebt. (Bei Plato steht dafiir die y-'fy/.) Es ist die Modellfunktion der ityyr\ und des Machens, die der gesamten Bcgriffsbildung des Aristoteles zugrunde liegt. Das Schema der vier Ursachcn, unter dem cr das Wesen der Physis begreift, ist offenkundig von dem H a n d w e r k e r und den verschiedenen Komponenten seines Tuns abgelescn. Da ist Material, da ist die Form, die das Stuck b c k o m m e n soil, da ist der Griff des Machers selber und die Antizipation der Form, die im Blick auf ihr Gutsein, ihre Tauglichkeit entworfen ist. Was so im ProzeB des handwerklichen Tuns gleichsam auseinandergcfaltet ist, geht auf eine geheimnisvolle Weise im Wesen der Physis zusammen. Das ist Natur, daB hier nicht ein ProzeB der Verfertigung einem vorgegebenen Stoff erst im schheBlichcn Resultat seine Form und voile Wirklichkeit gibt. Das Lcbewescn, die Pflanzc, das Tier oder was i m m e r cs ist, ist auf dem ganzen Wege des Aufwachsens schon N a t u r : ipi<mq ist ofitk e k yvoiv (Phys. B 1, 193bi 3 ). Das gleiche Verstandnis liegt aber schon dem platonischen Gebrauch des Begriffes 2ugrundc, wenn auch mit einer zu bcachtenden Modification, sofern cr - mindestens in seiner mythischen Schildcrung des Wei-
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tenbaus - die Gestalt eines gottlichen H a n d w e r k e r s beschwort u n d diesen i m Blick auf die O r d n u n g der Ideen und Zahlen das Weltall f o r m e n lafit. Dieses Bild des >Timaios< ist in den A u g e n des Aristoteles der Gebrauch einer lccren Mctapher. In der Tat ist der aristotelische Blick auf das Weltganzc u n d auf die N a t u r durchaus nicht mit dcr Vorstellung v o m Gcmachtsein dieses Ganzen vereinbar; es w a r lediglich in der D i m e n s i o n der auslegenden Beg n f f e , daB wir obcn die M o d e l l f u n k t i o n des Machens erkennen konnten, d. h. in den Aussagen iiber das Wesen der N a t u r als solcher. N u n geht auch Plato iiber diese m y t h i s c h e Vorstellung in gewisscr Weise hinaus, w e n n er das Wesen der Physis in der Psyche sieht, d . h . in d e m Prinzip dcr Sclbstbewegung, das das Lebendige auszcichnet. Hier ist als Begriff fiir Seele yj-i^ in d e m alten Sinne gebraucht, der sehr w o h l o h n e alle M y t h o l o g i e mit den natiirlichstcn E r f a h r u n g e n iibercinstimmt. Das ratselhafte E t w a s , was den lebendigen K o r p e r v o n d e m toten unterscheidet, ist wirklich eine ursprungliche E r f a h r u n g , u n d doch ist es etwas Unsichtbares u n d i n s o f e m m i t so ratsclhaften D i n g e n wie den Zahlverhaltnissen o n t o l o gisch gesehen in cnger N a c h b a r s c h a f t . Freilich, auf die Frage, wie sich diese Vollkommenheit mathematiseher Verhaltnisse in die Wirklichkcit cinf o r m t , in der w i r leben, gibt s o w o h l dcr >Sophistes< und der >Philebos< wie der >Timaios< die A n t w o r t , dafi dafiir eine Ursache, ein planender und wissender Geist, so etwas wie ein gottlicher D e m i u r g , mit N o t w e n d i g k e i t a n z u n e h m c n sei. D a m i t schcint cs Plato offenbar crnst, dafi eine solche O r d n u n g nicht >von selbst* zustande k o m m e n kann. Wic wenig aber das wortlich g e n o m m e n w e r d e n darf, lehrt der in der Akadeime bereits gek a m p f t c K a m p f u m den w a h r c n Sinn des D e m i u r g c n im >Tiniaios<. Selbst in den ultra-konservativen >Nomoi< weist die Explikation der yvoic; als fv\~r'( m diese Richtung: Kein von aufien k o m m e n d e r . H a n d anlcgender Werkmeister bringt die W e l t o r d n u n g ins Sein. U n d v o r allem: Die Psyche wird als die w a h r e Physis in B u c h X der >Nomoi< in urspriinglicher A b w e h r der >automatischcn* Weltentstehung cingcfiihrt. Genau das ist der P u n k t , an d e m Aristoteles cinsetzt. Sein a n t i - p y t h a g o rcischer Affekt, seine A b n e i g u n g gegen die H y p o s t a s i e r u n g mathematischer Verhaltnisse, n i m m t als d i e k e r n h a f t c Wirklichkeit das Seiende, das sich von sich aus b e w e g t , u n d baut v o n da aus seine eigene Physik auf. Das lehrt nicht zuletzt die geniale W o r t s c h o p f u n g von huXijeia u n d hi:pyvia, die seiner Grundstcllung schlagenden Ausdruck gibt. Was diese Begriffe sagen w o l len, leuchtet sofort ein: Das ivAoq, das Fertig-vollendet-Sein, w i r d nicht eincm Material v o n aufien aufgelegt, selbst w e n n es das >Telos< vollendeter Regularitat ist, wic die Griechen es in den B c w c g u n g e n der Gcstirnc staunend b e w u n d c r t e n . Das ist es nicht allein, was fiir Aristoteles die w a h r e Perfektion dcr N a t u r ausmacht. Sie hat vielmehr ihre Perfcktion sozusagen in sich selbst. N u r in einer letzten Konsequenz, die dcr B e w e g u n g s o r d n u n g
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des Alls Lhrc alles be wegen de Bewegungsart, ihre Anfangs- und Endlosigkeit garantierc, schlieBt sich daran die aristotelische >Ontotheologic< an. Fiir den Bereich der Physis ist es genug, sich den Grundtatbcstand klar zu machen, daB >Physis< als ein Gegcnbcgriff gegen die Haltung des Vcrfcrtigens und Machens konzipicrt ist. Es ist erst der ihm entsprechende Gegenbcgriff der >Techne<, der > Thesis*, des >Nomos<, der die Natur - die der natiirlichcn wie die der gesellschaftlichen W c l t - z u begnfflicher Pragung aus sich heraustreibt, so wie er die begrifflichen Mittel zu ihrer Erforschung in Gestalt der vier Ursachcn bereitstellt. Priifen wir von da aus die Weise, wie Plato und Aristoteles, sie als die ersten, ihre Vorganger in den Blick nehmen. DaB sie beide ihre j e eigenen Perspcktivcn an die Kunde iiber das Denken der Friiheren herantragen, ist selbstverstandlich. Kein antiker Denker hatte in dem Sinne, in dem wir historische Fragen stellen, Interesse an seinen Vorgangern. Aber die Perspektiven des Plato und des Aristoteles sind verschiedcn u n d machcn dadurch ihre jcweilige Position deutlich. Wir sehen etwa im >Sophistes<, wie Plato insoweit dem anthmologischen Modell der pythagoreischen Wclterfahrung treu bleibt, als er die Friiheren unter dem Gesichtspunkt der Einheit, Zwcihcit, Dreiheit oder der Einheit und Vielheit - in lhren wechsclhaften Moglichkeiten - ordnet und das sozusagen als Begriffsraster des Verstehens benutzt. Das ist sein eigcncs und das pythagoreische Problem: Zahlen sind Einheit von Viclem - Denken und Aussagen machen heiBt auch, eine Einheit aus Vielem bilden. So folgt Plato offcnsichtlich seiner eigenen Auffassungsform der Dialektik des Einen und Vielen, wenn er den Blick auf die Vorsokratiker richtet. Freilich laBt er dabei seinen Sprecher einen fiir ihn sehr bezcichnendcn Vorbehalt machen, und das ist, daB er nicht von einem iiberlegcnen Begriff aus die Unvollkommenheiten und Mangel friiheren Denkens zu iiberschauen bchauptet, sondern daB er in diesen weisen Mannern der Friihzeit die vagen Antizipationen des Wahren spiirt und uns nur als unfahig erklart, sie wirklich zu verstchen und cinzulosen. Das deutet in Wahrheit ironisch-indirekt auf Platos eigcncs, klares Wissen von dem, was Sein und Seicndes sind: Eines zu sein und doch auch Vieles. Aristoteles dagegen legt es ganz offen darauf an, die gesamte Vorlauferschaft griechischen Denkens von iiberlegcner begrifflicher Unterscheidungskunst her in sein eigencs Denken zu integricren. Das bedeutet fiir ihn, daB er gewiB auch den mathematisch-pythagoreischcn Weltentwurf in Grenzen - als die Entdeckung eidctischer Strukturen - anerkennt, und das umfaBt durchaus die platonische Annahme des irSoc und die Annahme der Zweckursache, des zcXoq. Aber die Mangel dieses mathernatischen Wcltcntwurfs sah er dann, daB die Verwirklichung der Rcgularitaten und Vollkommenheiten dieser Weltordnung ihrerseits bei Plato nicht in der rcchten Weise - namlich nur mythisch - zur Gcltung k o m m c . Dadurch werdc die unbe-
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streitbarcEvidenz mifiachtct, die von dem von N a t u r Seienden und von sich aus Bewegten her alles Verstandnis von >Scin< vorgibt. Hicrfiir nun bieten ihm gerade die alteren ionischcti Denker u n d ihrc Nachfolger, wenigstens indirekt, eine Bcstatigung, sofern das crste Sein als das Materielle, das >Woraus<, immer so etwas wie das, wo von B e w e g u n g ausgeht, in sich schlicBt, wenn Vieles sem soil. Das stellt nun in der Tat einen begrifflichen Riickgriff auf die urspriingliche Bedeutung des Wortes fvaiq dar, wie wir vor allcm von Heidegger gelernt haben: das Aufgehcn in das Anwcseti. Jetzt, im Lichte seines Cegenbildes, des gemachten Seienden, das aus uyyj[ hergestellt ist, f o r m t fvmc sich zu einem sclbstandigen Begriff und Begriffswort. Von einer anderen Seite aus mag dabei auch die in dcr Sophistik a u f k o m m e n d e Entgegensetzung von (fwiic u n d Mok bzw. v6f.UK mit hincinspielen. Der Rekurs aufdieionischen Anfange bedeutetjcdcnfalls fiir Aristoteles die wahrc Wicdcraufnahmc dcr ontologischen Denkaufgabe, die in der Dcnkf o r m der Kosmogonie und des sich von sich aus entfaltenden Naturprozesses ungedacht geblieben ist. Wer die »leeren Metaphern« einer ordnenden Werkmeisterhand durch Begreifen crsctzcn will, wird sich nicht mit einer vagen und unbestimmten Anerkennung von Intelligenz oder row als lctzter Scins-Ursache von allem begniigen, sondern wird vielmehr zu der positiven Erkermtnis genotigt, daB Natur sich gleichsam von selber vollbringt, sich aus sich selber cntfaltct und zur Rcifc gclangt. Damit aber meldet sich unwillkiirlich ein Begriff, der zur Unterschcidung und Abgrenzung gegen das kiinstlich Gemachte geradezu privilegiert scheint, das >Von-sclbst< und die Notwcndigkcit, die das natiirliche Geschchen im Gegensatz zum kunstlichen Herstellen regiert. Genau das sind nun wirklich die Schliissclbcgnffc, TO AVZOFIAMV und KM' (hri)'Ktj\\ die fur D e m o krit, den groBen unbekannten Zeitgenossen des Sokrates, bezeugt sind. DaB dieses demokritische Programm einer Welterklarung in gewisser Weise als die konscqucntcste D u r c h f u h r u n g des ionischcn Anfanges scheinen konntc, ist verstandlich. U n d es ist ebenso verstiindlich, daB insbesondere im 19. Jahrhundert mit seinem neuen Pathos der Evolutionstheorie, die sich kraft der durch D a r w i n eingeleiteten Revolution gegeniiber dem aristotelischen Kosmos unveranderlicher Arten durchsetzte, die Deutung der vorsokratischen D c n k b e w e g u n g weitgehend von der Oberzeugung bestimmt ist, Demokrit sei der eigentlich zukunftsvolle Forschcr gewesen - und es sei dem reaktionaren EinfluB dcr attischen Philosophie zuzuschreiben, daB die produktiven Ziige der neuen wis sens chaftlichen Wcltcrkcnntnis in der spatcren Oberlieferung unterdriickt wurden. Es ist genau diese Frage, die wir priifen miissen: Wie konntc sich der nctie, durch Plato und Aristoteles aufgestelltc Begriff von N a t u r gegeniiber dcr konscqucnten Entwicklung der A t o m t h e o n e als der iiberlegene behauptcn? Zu diescm Zwecke miissen wir priifen, wie der sich aufdrangende Begriff der Notwendigkeit und des >Von-
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selbst* im Denken Platos und Aristoteles' sozusagen durch iibcrgeordnete Gcsichtspunkte relativiert w u r d e u n d wie damit cine Naturauffassung bcgriindet werden konnte, von der sich erst zu Beginn der Neuzeit das Denken der abendlandischcn Menschheit freiinachcn konnte - und das nicht ohne Verluste. Unsere Aufgabe wird also sein, die innere Konscquenz des Naturgedankens, die mit der ionischen Aufklarung einsetzt u n d in der Atomistik ihre Entfaltung fand, mit der neuen Wendung des teleologischen Naturdenkens konfrontiert zu sehen und sich zu fragen, wie sich Plato und Aristoteles damit durchsetzen und eine uberlegene Perspektive gegeniiber der ionischen Weltsicht entwickeln konnten. GewiB nicht, ohne deren relatives Recht in sich zu integricrcn. Das bedeutet, welche Rolle spiclt das >Von-selbst< und die avdyKij in der Natur? Ist es nicht Notwendigkeit, was die Entfaltung alles Seienden aus sich selbst jeweils hervorbringt und was, wie auch wir sagen, mit Naturgewalt ein jedes Lebewescn bis zu seiner Reife fiihrt? Wie laBt sich das als ein untergcordneter Gesichtspunkt in einen groBcren Vcrstandniszusammenhang eingliedern? Das Problem begegnet uns bereits im platonischen >Timaios<, in dem in der Tat in iiberraschender Wendung die teleologische Meisterhand des Weltdemiurgcn durch eine Gegeninstanz begrenzt erscheint, und zwar durch die im Wesen der raumlichcn Wirklichkeit und ihrer mathematischen Grundstruktur gelegenen einschrankenden Bedingungen aller Verwirklichung. Da ist es nun die geniale Eingebung Platos gewesen, eine mathematische Entdeckung gerade seiner eigenen Zeit, n a m lich die Existenz von fiinf, und nur fiinf, regularen Korpern, die sogenannten platonischen Korper, fiir die ganze Geschichte v o m Aufbau der Wirklichkeit ins Spiel zu bringen 1 . Es ist eine Art v o n E n t g e g e n k o m m e n des Raumes, die in der Stereometric als solcher zutage tritt, daB in der Struktur des Raumes nicht alle Regularitaten fiir Korper moglich sind, sondern gerade diese fiinf rcgclmaBigen Korper, die Plato dann mit einiger Willkiir und spielerischer Imaginationskraft den vier Elementen der pythagorcischempedoklcischcn Tradition zuordnct. So wird der Gedanke der N o t w e n digkeit selber noch mit mathematischen Mitteln interpretiert und in einen hoheren Zweckzusammenhang eingelassen. Es ist eine Art gutwilliger Bercitschaft des Vorgegebenen, was hier den Ordnungsabsichten des Werkmeisters c n t g e g e n k o m m t - o b m a n das n u n Materie oder Raum nennen will, gilt gleichviel. Radikalcr, das heiBt ohne die ulcere Mctaphcr« des Demiurgen und ganz auf die begrifflichc Untcrscheidung hin artikuliert, ist die Diskussion der
1 Naheres dazu in meiner Abhandlung >Idee und Wirklichkeit in Platos >Timaios«, Ges. Werke Bd. 6. S. 242-270.
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glcichen Problcmc in der aristotelischcn Physik. D o r t gibt es keinen m y t h i schen Wcrkmeister, der die N a t u r in ihre O r d n u n g bringt. Die begriffliche Analyse der ontologischen Struktur dieser sich selbst bildenden, zu sich selbst erwachsenden Natur bildet jetzt die Aufgabe. U n d da ist n u n der entscheidcnde Gedanke der, daB wir auch die Natiirlichkeit des Naturgeschehens in Wahrheit i m m e r von unserem teleologischen Verstandnis aus verstehen, insbesondere, wenn wir die iiberlegcnc O r d n u n g des Sterncnlaufs mit der diirftigen von Menschenhand geschaffencn O r d n u n g in der Polis und im menschlichen Gemiit vergleichen. Es m a g gewiB auch einlcuchten, daB die M o m c n t e des >Von-sclbst< und des >Mit-Notwcndigkeit< im groBen Zwcckzusammenhang des Weltgcschchcns, das von niemandem >gemacht< wird, eine Rolle spielen, aber nur in einer Sekundarschicht. Angesichts der iiberlegenen Regularitat des Naturlaufs erscheint dies, daB etwas von selbst geschieht, gleichsam als der Gesichtspunkt einer Ausnahme gegeniiber dem, was 111 sich zweckvoll eingerichtct ist oder mit Absicht hcrbeigefuhrt wird. Wenn jemand zufallig jemanden trifft oder von einem Stein getroffen wird, der von selbst fiel und ihm auf den Kopf fallt, dann ist diese Erfahrung zwar sicherlich die, daB etwas sozusagen zufallig und »von selbst« geschah, aber als ob man ihn hatte treffen wollen. Eben dies hciBt, daB man auch dann noch von der moglichen Absicht her denkt und mit >Von-selbst< das Fchlen dieser Absicht meint. Erst rccht gilt das fiir den Begriff der Notwendigkcit. O h n e Z weifel gibt cs etw as, was wir notwendig nennen, z. B. gilt cs in alien beabsichtigten Handlungcn fiir das Verhaltnis der notwendigen Mittel zum Zwcck. Jeder Entschcidung im Handeln liegt zugrunde, daB man sich fragen muB, welches die Mittel sind, die zu dem Zwecke fiihren konnen, und diese Mittel miissen in der Tat als das fur den Zweck N o t w e n d i g e erkannt und anerkannt werden. Wieder zeigt sich dabei, daB es der Primat des Zweckdenkcns ist, der den Begriff der N o t w e n digkeit anerkennt und ihm eine relative Bedeutung bclafit. Dagegen ware ein Weltbild, das Zufalligkeiten oder untergcordnete Notwendigkeiten zum alleinigen Erklarungsprinzip der O r d n u n g der Welt erhobe, von einem solchcn sprachlich und anthropologisch zcntricrten Weltbegriff aus unverstandlich. DaB so iiberwaltigende Ordnungserscheinungen im Weltall wic die Regularitat der Stcrnbewegungen oder die Konstanz der Erhaltung der Arten im Lebensgeschehen von der episodischen Wirksamkeit autoniatischcr Ursachen her crklarbar sein sollten, ist fiir dieses Weltbild unvorstellbar. Man muB anerkenncn, daB das atomistische Modcll der Weltentstehutig damals keine echte E rk la run gslei stung vollbrachte, sondern die erfahrene O r d n u n g uneingestandenermafien in das eigene Erklarungsmodcll aufgen o m m c n hatte, wenn es die Hitnmclsordnung oder die Lebcns ordnung en aufklarcn sollte. Wir sehen also, daB mit der teleologischcn Naturbetrachtung nicht eine
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bloBe Unterdruckung eines fruchtbaren Erklarungsansatzes am Werke war, sondern eine auch fiir uns durchaus verstandliche Instanz. Eine Welt, die man so erklart, daB der Stein fallt, weil er an seinem eigensten O r t c zusammen mit allem anderen Gcstein sein mochtc, oder daB das Feuer nach oben schlagt, weil es sich mit dem groBen Feuerraum der Gestirnsphare sozusagen vereinigen mochtc, das mag fiir uns mehr amusant als crnsthaft klingen, aber ein solches Denken erlaubt, das Ganze der uns umgebenden Welt einheitlich zu verstehen, namlich wic wir uns selber in unserem Handeln verstehen. Die sokratische Forderung, den Weltbau so zu erklaren, wie er sein eigenes Handeln auf das Gute und Rechte hin, das ihm evident ist, einrichtct, hat hier ihre Erfullung gefunden. Freilich ist es uns nicht moglich, ein solches aus der menschlichen Lebenswelt extrapoliertes Ideal von N a t u r ordnung als Erklarungsprinzip anzuerkennen, das mit der von Galilei begrundeten Mechanik und ihren technischen A n w e n d u n g e n wetteifern konnte. Was der Aufbruch dcr modernen Wisscnschaft im 17. Jahrhundert bedeutet, ist durch den groBen Siegeszug derselben durch die ganze Neuzeit hindurch bis in unsere Tagc handgreiflich. Aber man muB auch sehen, welchen Bruch das in die Homogenitat des Weltverstandnisses brachte, das durch die aristotelische Philosophie fiir viele Jahrhunderte kanonische Geltung crhalten hatte. Seit dem Aufbruch dcr neuzeithchen Erfahrungswisscnschaften sind wir jener Spannung ausgesetzt, die unsere gesamte Kultur durchziclit und geradezu die Rede von zwei Welten moglich gemacht hat. Die eine ist die durch die moderne Wissenschaft reprasentierte N a t u r f o r schung, die durch Erkenntms dcr Naturgesetze und darauf gegriindete Meisterung der Naturkraftc ausgezeichnet i s t - d i e andere ist dieim sprachlichen Weltbild, das wir alle teilen, selbstverstandlich geltende, tcleologische Weltorientierung. Sie erlaubt uns auch nach der kopcrnikanischen Wcnde, vom Sonnenlauf, vom Sonncnaufgang und Sonnenuntergang zu sprechen und nicht von Erddrchung. Das also ist das Resultat dieses Blickes auf den Naturbcgriff der Antikc. Niemand wird die groBe Freisctzung von Potcnzen menschlichen Forschungswillens und erfindungsreichen Machenkannens iibersehen oder auch nur unterschatzen, Sie sind die unaufgebbaren Lebensbedingungen der Menschheit in unserer tcchnischcn u n d industncllen Welt geworden. DaB aber die in der Lebens erfahrung erworbene und in unserer kulturellen und sprachlichen Oberliefcrung niedergelegte Wcltdeutung neben dieser Geltung behalt und fiir unser mcnschliches Handeln am Ende cine Cibergeordnete Instanz bildet, ist die Lehre, die wir aus diesem Blick auf die Antikc zu ziehen haben, Unsere Welt, die langsam ihre U m w a n d l u n g in cine Wcrkstatt des menschlichen Machens im globalen AusmaBe durchmacht, beginnt sich dessen bewuBt zu werden. Sic wird sich dcr uniibersteigbarcn Schranken, die die N a t u r o r d n u n g selber uns auferlegt, erinnern miissen, wenn sie
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nicht in der U m a r b e i t u n g der Natur in emc kiinstliche Welt die Lebensgrundlagen unsercr selbst, die wir Naturwesen sind, zcrstoren soli.
2. Die tieuzeitliche
Wissenschaft von der Natur und ihre Komponente
hermeneutische
Man mag sich frcilich fragen, was das antikc Modell einer Naturerkenntnis fiir uns bedcuten kann, nachdcm die Entwicklung der mathcmatischen Naturwissenschaftcn, auf der unsere Weltzivilisation von hcute beruht, mit der ausdriicklich en Elimination der Z w e c k - und Endursachcn eingesetzt hat. Ist nicht damit gerade die von der attischen Philosophic aufgebaute Physik und Metaphysik desavouiert worden, und hat sich das nicht auch in der neuen Wiirdigung D e m o k n t s in unserer Zeit, vom 17. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert (z. 13. bei Popper), bis in die Geschichtsschreibung hinein, aber vor allem im Sieg der Atomtheoric in der Wissenschaft selber tiiedergeschlagen? Das Selbstverstandms der modernen Wissenschaft legt das nahe. Es sieht so aus, als ob ein unerbittlich.es Schrittgesetz die wissenschaftliche Forschung bcherrscht, so dafi sie unbeirrbar ihren Weg geht. Auch wenn sie die Menschheit zur Verfremdung von ihrer U m w e l t zwingt oder gar zur Vcrwiistung der heimatlichen Erde fiihrt, mufi sie voranschreitcn, Ihr Fortgang kann nicht aus ihr selber heraus modifiziert oder limitiert werden. Die Gel tend machung normativer Aspcktc kann offenbar nicht von der wissenschaftlichen Forschung, sondern nur v o n der politischen Vern u n f t dcrer aus, die Wissenschaft treiben oder anwenden oder von ihren Anwendungen leben, erfolgen. Es bleibt also eine ganz andere Instanz, die hier ins Spiel k o m m t und die eine cchtc Ahnlichkeit mit der praktischen Philosophie des Aristoteles besitzt. Diese Instanz allein ist imstande, die gesellschaftlich-politische Verniinftigkeit zu begriinden, wclche die Griechcn ypovtjox nannten. Sic hat alien Gebrauch unseres Wissens u n d Konnens dem allgemeinen Wohl unterzuordncn. N u n ist Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft in eine schwierigc Lage geratcn. Die moderne Wissenschaft tragt in einem solchen Grade zum allgemeinen Wohlstand bei, daB ihre Stimme, die Stimme der Experten, kaum noch einen R a u m fiir freie Entscheidungcn aus verniinftiger Besinn u n g offen lafit. ja, wenn man den kompctenten Fachmann hort, muB man noch mehr sagen: Auch nur, u m der heute lebenden Meiischhcit das nacktc Dberleben moglich zu machen, miissen wir fortfahren, die okologischc Krisis zu verscharfen. Wenn das wahr ist, bedeutet das, dafi wir wirklich in zwei Welten zu leben haben und notwendig a u f j e n e n doppelten Standpunkt gestellt sind, den Kant bezeichnet hat, wenn er die Sinnenwelt u n d die
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SittenweJt, die Welt der Naturbcgriffe und die Welt der Freihcitsbcgriffe, als einen unuberholbarcn Dualism us einfuhrte. Das soli gewiB nicht heiBen, daB der Neukantianismus mit seiner wissenschaftstheoretischen Unterscheidung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaftcn das letzte Wort zur Sache geblieben ware. Es ist jetzt bald zwei voile Jahrhundcrte, daB die kantische Zerstorung der >dogmatischcn Metaphysik* und damit die Proklamation des unausweichlichen Zwci-Welten-Standpunktes das philosophische Denken herausfordert. Der deutschc Idealismus versuchte eine letzte Erneuerung dcr Metaphysik, indem er die damaligen Resultatc der empirischen Wissenschaften bcgnfflich zu begriinden unternahm. Das war ein hoffnungsloscs Unternehtnen. Wic der deutsche Idealismus haben alle seine spateren Fortsetzer, Lotze und Bergson und Whitehead und wie sic alle hieBen, gegeniiber d e m Fortgang dcr Erfahrungswissenschaften immer als Zuriiekgebliebene oder als Voreilige crscheinen miissen. So fragt man sich, ob die aus den Wissenschaften selber aufsteigenden philosophischen Versuche dieser Aufgabe vicllcicht besser gewachsen sein mogen. N u n scheint es mir iiberzeugend, daB in diesem Falle aus Griinden, die auf der Hand licgen, diejemgen Wissenschaften einen mcthodischen Vorrang besitzen, die dem Methodenbegriff der modernen Wissenschaft nicht das letzte Wort lassen konnen, wenn sic nicht ihre eigene Wisscnsart ganz vcrlcugnen wollen. Ich meine die sogenannten Geistcswissenschaften. Sie bleiben dem als Ganzem obsolet gewordencn Wcltentwurf der Teleologie schon deshalb naher. weil sie eben v o m Modell menschlichcn H a n d lungs- und Entscheidungswisscns ausgehen, das Sokrates ehedem als U n i versalprogramm aller Erkenntnis entworfen u n d gefordert hatte. In Deutschland nennt man diese Wissenschaften deshalb Gcistcswissenschaftcn, weil sic nicht die Natur, sondern die v o m mcnschhchen Geiste geschaffene gesellschaftliche Welt und zuglcich damit i m m e r deren Wissen von sich selbst befragen. Es ist klar, daB sie selber kein einheitlichcs C o r p u s sind, und vollends im Zeitalter der Sozial wissenschaft en ist es klar, daB die neukantiamsebe Gcgcnubcrstellung von nomothetischem und idiographischem Verfahren obsolet geworden ist. Ja, es handelt sich iibcrhaupt nicht um Wissenschaftstheoric allcin, wenigstens wenn man darunter den neuzcitlichen Wissenschaftsbegriff versteht. M a n kann das Allgemeine und das Einzelne nicht so trennen, auch wenn man anerkennt, daB m a n nicht im Sinne der N a t u r g e setze von Gesetzen der Geschichte reden kann. Das war im Grunde i m m e r klar, und vollends, nachdem die aprioristische Geschichtskonstruktion Hegels ihre Ubcrzcugungskraft verloren h.itte. Wohl aber macht cs einen ticflicgcnden Unterschied, daB die menschliche Geschichte nicht nur von der N a t u r des Menschcn und den Naturbedingungen seines Lebens - u n d d e m Wissen von all dem - bestimmt wird, sondern von seinem Verhalten in
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gcsellschaftlicher Verstandigung, die zwischcn den Menschen sich wesentlich auf sprachlichem Wege vollzieht und gemeinsame Zwecke aufzunchten vcrmag. Das ist seit Aristoteles als die Besondcrheit der praktischen Philosophie ausgezeichnet worden, dafi sie dergestait mit npatK peid Xoyov u n d mit vernunftigem (oder auch unverniinftigem) Verhalten zu tun hat. Die Wissenschaft en v o m Menschen konnen von dieser Auszeichnung des M e n schen nicht absehen wollen und diirfen sich daher nicht allein auf die objektivicrcnden Methoden der Wissenschaft stiitzen und deren Ergebnisse einfach anwenden wollen. Sie miissen sic hoheren Zielsctzungen einordnen, die im sprachlich kommunizierenden Denken ausgearbeitet werden und stets normative Gesichtspunkte im Auge haben. So sind sie, wic von jeher die Handwerkskiinste, der Politik und der Ethik untergcordnet. Das ist nun freilich wiederum im antiken Rahmen gedacht, w o Bczopia und die ganzen theoretischcn Leistungen mcnschlichen Wissenwollens den u m fassenden Z u s a m m e n h a n g mit der Praxis nie ganz gesprengt haben. Doch muB sich dieses Verhaltnis auch unter dem Wissenschaftsbegriff der Neuzeit immerhin geltend machen, zunachst so, wie Charles Taylor das hcrmeneutische M o m e n t innerhalb der Sozialwisscnschaften charaktensiert hat. In seinem Beitrag 2 wird gezeigt, daB die hermeneutische Dimension eine einschrankcnde Bedingung der Wissenschaftlichkeit der Sozialwissenschaften darstellt. In Wahrheit muB m a n j e d o c h weitergehen. Auch vom modernen Wissenschaftsbcgriff aus muB man zugestchcn, daB die hermeneutische Vorbedingung der Wissenschaftlichkeit der Sozialwissenschaften den Riickbczug auf die Gesellschaft selbst mitbeeinfluBt, und zwar im Sinne einer in den Naturwissenschaften so nicht bekannten Anwcndungsproblematik. Der Grundtypus dieser Modifikation tritt schon in Platos polcmischein Begriff des (iWoipiav ayadov heraus: In der Staatsutopie Platos wird im ersten Buch gezeigt, daB es im Interesse des ungerechten Hcrrschers ist, daB sich die anderen an das Recht halten. Entsprechend ist es eine Vorbedingung etwa fur eine crfolgreiche A n w e n d u n g sozialwissenschattlicher Prognoscn, daB sie v o n der groBen Zahl aller Konkurrenten nicht ebenso w a h r g e n o m men, akzeptiert und im Handeln bcfolgt werden, wie sie aufgestellt werden. DaB die philologisch-historischen Wissenschaft en erst recht in solcher doppelten Beziehung stehen, von den Vorurteilcn ihres Standortes im gcschichtlichen Raum und in geschichtlichcr Zeit gegen lhren Will en und ihr bewuBtes kritisches Bemuhen bestimmt sind und zuglcich durch ihre Erkenntnisse auf das Selbstverstandnis ihrer eigenen Herkunft und U m w e l t zuriickwirken, diirfte heute nicht mehr vcrdrangt werden. Man mufi sich nur von der MaBstabenge befreien, die freilich im allgemeinen Methodcnbe2 C H A R L E S T A Y L O R , Interpretation and the Sciences of Man. In: The Review of Metaphysics 25 (1971/72), S. 3 - 5 1 .
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wuBtsein, das fiir alle Wissenschaft bestimmend ist, ihren An wait hat, und mufi sich eingcstchcn, daB Einschrankungen der Objektivitat, die in den Gcisteswissenschaften tatsachlich auftreten, mcht i m m e r nur Mangel im methodischen, kntischen Vorgehen sind, sondern immer dann cine Erkcnntnischance ins Spiel bringen, weim sich normative Gcsichtspunkte auch bei scharfster kritischcr H a n d h a b u n g von objektiven Methoden glcichwohl durchsetzen. Das sollteman in den Gcisteswissenschaften Wissenschaftlichkeit nennen - freilich nur das: gewollte Nicht-Objektivitat ist nicht mehr Wissenschaft. N u n mag man sich fragen, ob der Einschlag menschlicher Sclbsterkcnntnis, der in den Gcisteswissenschaften steckt und normativen Charakter besitzt, durch die Arbeit dcr Wissenschaften nicht zwangslaufig zcrsctzt wird und ob nicht insofern die Bezugnahme auf die praktische Philosophic antiker Pragung ins Lccre ziclt. Selbst auf dem ganzen Bereich auBerwissenschaftlichcr Erkenntnis, die im gcselischaftlichen Leben wie in der Kunst und Religion ihrc Rolle spielt, wirkt sich die technologischc Denkweise mehr und mehr aus, die sich auf das Wisscnschaftsideal der Naturwisscnschaften beruft. Im Blick auf diese Tendenz des neuzeitlich.cn Denkens hat Heidegger geradezu von der wachscnden Scinsvergessenheit gesprochen und dem Denken den »Schritt zuriick« zugemutet, der nicht nur hinter die Zwci-Wcltcn-Trennung zuriickfragt, die zwischen Natur wis sens ch a ftcn und Humanwisscnschaftcn besteht und zuletzt auf die Zwei-SubstanzenLehre Descartes' zuruckgeht, sondern auch noch hinter die gricchischen Anfange der abcndlandischen Wege des Wissens. Es liegt im Sinn seiner Fordcrung, hinter die Metaphysik zuriickzugehen, daB Heidegger iiber das Kunstwerk und seine Wahrheit nachdachtc, und ebenso ich selber auf meincn vorsichtigen Wegen iiber Wahrheit in den Gcisteswissenschaften. Es gilt, die hermeneutische Erfahrung nicht zu ignorieren, die in den Wisscnschaften selbst, entgegen ihrcr methodischen Selbstauffassung und Anstrengung, zutage tritt. Fragt man so, dann niufi m a n sich auch fragen, ob fur die Naturwissenschaftcn nicht ahnliches gilt wie fur die sogenannten Gcistcswissenschaften. Jede Vergcgcnstandlichung ist durch Ausklammerung anderer Zusammcnhange erkauft. In den geschichtlichen Wisscnschaften ist das wohlbckannt. Es gilt aber erst recht fiir die Naturwissenschaftcn. So muB man sich sogar fragen, ob cs sich hier nicht um ein imiversales Problem handelt, das in der menschlichen Endlichkeit seine Wurzel hat. Dieses Problem bricht i m m e r dort auf und tritt ins bcgriffliche BewuGtsein, wo die Anspruchc der Metaphysik, aus reinen Begriffen zur Erkenntnis von Wirklichkeitzu gelangen, grundsiitzlich eingeschriinkt sind, und das heiBt mindcstens: scit K.ant. Leibniz mag die allgemeinc Pcrspektivirat des Monadenreiches noch durch die zentrale Monade so iibcrhoht haben, daB er dem unendlichen Intellekt der traditioncllen Metaphysik seine Stelle wieder ein-
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raurnte. Kant dagegen hat die Restriktion des Gebrauchs unserer Verstandesbegriffe auf die mogliche Erfahrung durchgefuhrt und hat damit die Endlichkeit des Menschen gcrade auch in der philosophischen Interpretation der Erfah rungs wissenschaften zum Tragen gebracht. Wenn ich recht vcrstehe, hat sich damit in der Neuzeit und gegeniiber dem neuzeit lichen Aufbruch dcr Wissenschaft eine Frage dimension erneuert, die bereits von der klassischen griechischen Philosophie ihren Ausgang g e n o m men hat. Aristoteles hat in dcr reinen i.\'F.pyr.ia des gottlichen vwc das Ganze des Seins mitzuumfassen beansprucht. Es ist zwar undurchsichtig genug, wic sich die Selbstgegenwartigung des Gottlichen zugleich als die Gegenwartigkeit alles Seienden darstellt, aber es scheint doch in lctztcr Konsequenz des aristotelischen Scinsverstandnisscs zu liegen. Plato hat dagegen die hochstc Moglichkeit der Hingabe an das Wissen fiir Menschen 'Dialektik? genannt und hat damit die Begrenzung ancrkarmt, die gegeniiber dcr gottlichen Allweishcit dem ifiAnooyiiv, dem Streben nach dem Wahren, z u k o m m t u n d ihm eine grundsatzhche Unvollcndbarkeit zuweist. Das driickt sich bei ihm so aus, daB kcinem endlichen Verstandc jc die uncndlichc Relationalitat aller Ideen funo intuitu* gegeben sein kann. Das aneipov oder, in der Sprache seiner eigenen Lehre gesprochen, die adpunoq fivat; begrenzt die menschliche Erfahrung nicht nur als die Kontingcnz des Seins, sondern durch die Unterworfenhcit alles menschlichen Denkens unter die Zeit. Etwas denken heiBt unweigerlich anderes nicht denken. Etwas als etwas erkennen, u n d das ist das Wesen des Aoyoq, schlieBt ein, daB es in eine bestimmte Hinsicht gcstcllt und in dieser >entborgen< ist. Dagegen kann Entborgenheit von allem - und das wiirde, in platonischer Weise ausgedriickt, das Gehobensein aller Relationcn ineins bedeuten - nur ein sophistischer Schein sein. GewiB handelt cs sich bei den Grenzcrfahrungcn, denen Platos Denken Redlining tragt, nicht um den unendlichen Fortgang der Erfahrung und dcr auf sie gegriindeten Wisscnschaft wie in der Neuzeit. Es sind allgcmeinere Grenzcrfahrungcn, bei denen die Unendlichkcit dcr Zahlenreihe und gewiB auch die Unendlichkeit des dialogischen Gespriichs Pate gestanden haben. M a n wird diese Art >eidetischer< Endlichkeit gewiB nicht mit dem Pathos moderner Forschung gleichsetzen dtirfen. Abcr ganz ohne G r a n d sind solchc Affinitaten doch nicht. Jedenfalls gilt es fur die metaphysikfreie< Wisscnschaft der Neuzeit, daB sie gegeniiber dcr Weite u n d Vagheit der sprachlichen Artikulation unserer Welterfahrung eine bcwuBtc Vcrcngung v o r m m m t . Deren Ausdruck ist der Begriff der Methode und dcr ihm entsprechendc Begriff der Objektivitiit der Wissenschaft. Der Ausdruck >Objektivitat< cnthiilt den Bezug, auf den es hier a n k o m m t . N u r das dcr Methode Entgegenkommende, das >Objizierte<, kann Gcgcnstand wis sens ch a ftlicher Erkenntnis werden. Der Fortschritt dcr
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Wissenschaft und vollends ihre konstruktive A n w e n d u n g in der Technik beruht durchaus auf der mathematischcn Abstraktion und damit der Ausk l a m m e r u n g des sprachlichen Vorverstandnisses. lndessen behalten auch ausgeklammerte Zusammcnhange, die in der Sprachc lebendig sind, ihre Bedeutung, und das vor allem fiir jenes >Jenseits aller Methode<, das nicht die Logik der zu findenden Antworten, sondern die Logik der Frage betrifft, jene tacil dimension, die Michael Polanyi namhaft gemacht hat. Welche Bedeutung diese Dimension hat, ist insbesondere seit T h o m a s Kuhns Auftreten und seiner Dcbatte mit Popper ein zcntrales T h e m a der hcutigen Wissenschaftstheorie geworden. Wenn man an Moritz Schlicks glanzende Widerlegung des Dogmatismus der Protokollsatze (von 1934!) zuriickdenkt und jetzt an Kuhns Begriff des >Paradigma< oder an Toulmins Analyse des Phanomeiibegriffs, dann drangt sich der hermcncutische Aspckt hier f o r m lich auf. Erst mit der Fragestellung konstituicrt sich der Zusammenhang, in dem das sogenannte >Gegebene< seinen Sinn empfangt. Bei dem Begriff der historischen Tatsache ist das fiir jcdcrmann selbstverstandlich. Aber eben auch im Bereiche der Naturwissenschaften existicrt die gleiche Dimension, durch die sich in den Wissenschaftcn neue Fragehorizonte offnen, die weitgehend durch herrschende theoretische Vorbestinmithcitcn gebildet werden. Es ist eine offene Frage, die zwischcn den Revolutionaren und Konscrvativen unter den Wissenschaftshistorikern auszufcchtcn ist, wieweit m a n jede solche Entwicklung in der Forschung als einen Paradigmcnwechsel bcschrciben darf. Man muB sich gewiB auch fragen, wieweit dabei Mctaphysikreste wirksam sind, das heiBt: determimerende Faktorcn sprachlicher Art, die von den in den Wissenschaftcn gcbrauchten Sprachen hcrriihrcn. Aber prinzipicll wird man sagen miissen, daB zwischcn den sogenannten Wisscnschaftssprachen, das heiBt, dem Gebrauch von kiinstlichen Termini und Symbolen und mehr noch der termmologischen Priigung u m g a n g s sprachlicher Ausdriickc auf der einen Seite und dem Sprachgebrauch der natiirlichen Sprachen auf der anderen Seite, eben der Unterschicd besteht, der zwischen einem mcthodischkonstituierten Objektbereich und der unbestimmten Totalitat des Sag- und Denkbaren vorliegt. Genau das begriindet den Umvcrsalitatsanspruch der Hermeneutik, daB sich die letzte Metasprachc, die Sprache, die in der Lebenswelt jeweils gesprochen wird, nie ganz ausschalten laBt. Gerade in der Dimension der Logik der Inventio wirkt sie sich aus, wic vor allem Heisenberg immer betont hat. Es ist jene Dimension, die Polanyi als >tacit< bezeichnet hat. Das klingt nur wic ein Paradox. Wie Schweigen nur im Krcisc des Sprcchcns eintritt und nur der schwcigen kann, der zu sprechen vermag, so bleibt auch das, wofiir die Worte fehlcn und die Sprachc nicht hinreicht, i m m e r noch im Sprachkreis der Verstandigung und Selbstverstiindigung. Das gilt insbeson-
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dere fiir die immanente Zukiinftigkcit, die allem Fragen eignct. Da ist es ja i m m e r eine Art vager Antizipation, die Moglichkeiten an fruit, von der aus man erst miihsam zuprazisen Fragcstellungen vordringt. Jedenfalls liegt der methodischen Rationalitat der Wissenschaften eine ganze Dimension produktiver Imagination voraus, an der sprachliche Artikulation beteiligt ist. Es ist gewiB richtig, daB m a n die Beschreibung der Logik der Forschung als Problemlosung durch trial and error mit Popper so weit ausdehnen kann, daB sie auch alle vorwissenschaftlichc, praktische Erfahrung und ihre i m m a n e n te Verniinftigkeit umfaBt. Aber die Kunst des Fragens, in der sich erst Probleme stellcn, bleibt auch so der (Logik der Forschung* vorgcordnet. Die Abschiebung dieser anderen Dimension in die Psychologie der Invcntio (Popper) bleibt cin bloBes Auswcichen. Eine mcthodisch-kritisch vorgeliende Psychologie bediirfte ebenfalls wieder der lnventio, u m ihre Probleme zu sehen u n d zu loscn. Die Pragung wohldefinicrtcr wissenschaftlicher Begriffe oder die Einfiihrung ziinftiger Symbole in die Sprache der Wissenschaft bedarf lhrerseits des Mitteh ler natiirlichen Sprache. Insofern cnthalt alle Forschung, auch die der Naturwissenschaftcn, tine hermeneutische Komponente. Der Kraftbcgriff der modernen Physik ist zwar von dem naturlichen, vorwissenschaftlichen Verstandnis und der Erfahrung von Kraft fundamental vcrschiedcn. U n d doch ist er nicht vollig von ihr getrennt. Das hat der Newtonschcn Physik ihre humane Bedeutung gegeben, daB erst durch sie eine neue verstandlichc Einheit in das Weltbild kam, in dem die Menschen leben. Das einende Band des Universums, das chedem durch die Zentralstellung der Erde gegeben schien, wurde in New tons Physik durch die Kraft ersctzt, die, in der menschlichcn Lebenserfahrung verstandlich, nun in dem Kraftfeld des Universums als bestinimend erkannt war. D a m i t hat sich die neue Wissenschaft mit der menschlichen Lebcns erfahrung zusamniengcschlossen, und Denker wic Oetinger (in direktem AnschluB an Newton) oder Herder (im AnschluB an Leibniz) haben diese Z u s a m m e n h a n g e ausdriicklich genutzt. Es wird eben auch in der Naturforschung nicht von cincm ersten protokollartig Gcgebenen ausgegangen u n d dann konstruiert. Die (interpretatio naturae* setzt immer schon einen Problem zusammenhang voraus, der erst die Auszeichnung vonTatsachen crmtiglicht, mag man das nun als Vorverstandnis oder als Paradigma oder wie immer bczcichnen. Auch gibt es gewiB ausgezeichnete Falle in der Geschichte der Forschung, die m a n wohl als Paradigrnenwcchsel, ja geradezu als Revolutioncn bezelchnen mag. U n d andere wiederum, die mehr den Charakter einer produktiven Auswcitung u n d Ver allgemeine rung bisher schon bekannter GesctzmaBigkeiten vornehmen. Genau das ist mein eigentlichcr Fragepunkt: O b die Revolution des 17.Jahrhunderts, die mit der Mechamk Galileis cingeleitet wurde und an die sich die ganze Entwicklung der modernen Physik anschloB, mit den Revolutionen sich verglcichen laBt,
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die mnerhalb der Wissenschaft sonst auftraten, ja selbst mit der Wendung un seres Jahrhunderts zur Quantcnphvsik. Sie liegt uberhaupt nicht auf dcr gleichen Ebcne. Ist damals, im 17. Jahrhundert, nicht erstmals Wissenschaft im Sinne der mathcmatischen Naturwissenschaft, die sich auf Messung und Experimente griindete, in Erscheinung getrcten, und zwar als etwas Neues, nicht nur gegeniiber dem zeitgcnossischen Aristotclismus, sondern auch und geradc gegeniiber dem gesamten Erbc der durch Aristoteles u n d Plato begriindeten Tradition? Die Frage laBt sich nach zwei Richtungcn hin artikulicrcn. Einmal kann man sich fragen, ob sich nicht trotzdem eine Kontinuitat wissenschaftlicher Naturerkenntnis von den griechischen Anfangen bis zur Wissenschaft des 17. Jahrhunderts hindurchverfolgcn laBt - oder gar von noch friiheren Anfangen her, die aus den vordcrasiatischen Kulturen herruhren - und ob nicht gerade dies auch im Denken der klassischen griechischen Philosophie seinen Niederschlag gefunden hat. Zweitens kann man davon ausgehen, daB die Wcnde zur Quantcnphvsik ihrerscits insofern cine wahre Revolution bedeutet, als der Bruch mit einem solchen Grundprinzip wie der lex continui, also dcr Schritt von N e w t o n zu Planck und der Kopenhagener D c u t u n g der Physik, so radikal war, daB ctwa Einstein ihn nicht mehr hat mitvollzichcn konnen. Hier, so konnte m a n argumentieren, scheint sich i m Fortgang der modernen Physik eine neuc Nahe zur pythagoreisch-platonischen Zahlenthcorie herzustcllen. 1st Wissenschaft wieder griechischer gew T orden? Die diskrete Reihe der natiirhchen Zahlen und ihrer Verhiiltnisse untereinander, die die Seinsordnung des pythagoreischen Kosmos bestimmte, scheint dem Quantcnsprung logisch irnmerhin verwandt. Dem entspriiche, daB sich der Obergang vom mathcmatischen zum physikalischen Sein in beiden Fallen, in dcr Quantenphysik wie im platonischen >Timaios<, sozusagen von selbst cinstellt. Oder ist es umgekehrt, daB in Wahrheit die Physik in ihrein Fortschreiten lediglich ihre sprachliche Voreingenommenheit, sozusagen ihrc Metaphysikreste, immer weitcr abbaut? So redet sie nicht mehr von Element, sondern von >Quantum<, nicht mehr von A t o m , sondern von >Symmctric<. Wenn das so ist, dann wiirde die m o d e m e Physik die konsequente Entmetaphysizierung bedeuten, die in den Grundsiitzen dcr galileischcn Physik bcreits angclegt war und nun zu ihrer radikalcn Konsequenz gefuhrt hat. Was die erstc Frage betrifft, so w i r d gewiB nicmand leugnen, daB alles, was als Erkenntnis gelten soil, sich in der Erfahrung bewahren muB und nicht nur im allgemeinen, sondern auch in der Wendung aufs Einzclnc wahr sein will. Die Sprachc und ihrc Artikulacion des Weltvcrstandnisses, aus der wir unsere Allgemcinheiten gewinnen, ist da keine letztc Instanz. A m Ende wird sie selbst i m m e r dann wcichen miissen, wenn ihr Sprachgebrauch nicht durch genugendc Erfahrung gestiitzt ist. So hat z. B. das Wort >Walfisch<
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verschwinden miissen, sen jeder weiB, daB die Wale Saugetiere sind und Atem schopfen miissen. Im allgemeinen aber geniigt die in der sprachlichen Weltau sie g img niedergelegtc Erfahrung den g rob en Regularity ten, auf die es fiir oricntiertes Handeln a n k o m m t . Das schlieBt geradezu in sich, daB cin Bcrcich der Unbcstimmtlicit im einzeinen offenblcibt. D e n auszuschalten wiirde, wie sich am griechischen Denken zeigen lieB, dem Sinn der gesamten Bcgriffsbildung zuwiderlaufcn. Vom Einzeinen als Einzeinen gibt cs kein reines Vernunft wissen. Darin sind Plato und Aristoteles miteinander durchaus cinig. Ich erinnere nur an das unteilbare Eidos, aber auch an die Beweisfuhrung, die etwa im >Theatet< gegen cin Verstandnis von Logos als >Summe der Mcrkmale* gefiihrt wird 3 . DaB allein die Mathematik diesem Wissensbegriff in vollcm U m f a n g e Gcniigc leistet und eben deshalb im Altertum als die genaueste aller Wissenschaften gait, ja selbst noch in der Astronomie oder in der Musik mathematische Proportionenlehre war, ist nicht nur in sich evident, sondern wird von Plato in seiner Erziehungsutopic sorgfaltig und i m m e r wieder eingescharft. Nicht die A n w e n d u n g auf die Erfahrung macht den Rang solchen Wissens aus. Schwieriger ist die Sache bei anderen Wissensgebictcn, die sozusagen zwischen inimrffirf und dyyri liegen, wie etwa die Medizin oder die Rhetorik und natiirlich auch die Grammatik u n d die Musik, die sich - mit Aristoteles zu sprechcn - alle als echtes Wissen gegeniiber der Erfahrung des Praktikers dadurch auszeichneti, daB man die Grunde kennt. Die unvermeidliche Grenze solchen Bcgriffes wis sens chaftlicher Erkenntnis erkennen aber auch diese Disziplinen an, sofern fiir die Praxis des Heilens, des Rcdcns usw. der bloBe Praktikcr d e m Wisscnden gegeniiber etwas voraus haben kann, so daB cs fiir das rechtc Urteil wie fur die praktische A n w e n d u n g von Wissen immer noch zusatzlich solcher Erfahrung bedarf. DaB es Wissen nur v o n dem geben kann, was i m m e r ist, d. h. unvcrandcrlich ist oder wenigstens in der Regel so ist, wic cs ist (£< ini TO noXv), diese Grund forderung antikcr Wissenschaft ist freilich eine so formale, allgemeine Wahrheit, daB sich der fundamentale Unterschied zwischen der aristotelischen und galileischen Physik, falls man bcide iiberhaupt Physik nennen will, von da aus kaum beschreiben laBt. Der Begriff des Naturgcsetzes, das in seiner Ausnahnislosigkeit aller Naturwissenschaft zugrunde liegt, stellt jedenfalls keine wirklichc Entsprechung zu dem dar, was als Grundvoraussctzung der aristotelischen Physik zugrunde liegt, namlich die Konstanz und Unveranderlichkeit des sich gleichbleibenden Aussehens. Insofern war es ein falscher Modernismus in der Aneignung Platos, was durch die N e u k a n tianer unternonimen w o r d e n ist. So ist ctwa die Abstraktion v o m Widcr-
3
Siehe dazu -Mathematik und Dialektik bei Plato<, in diesem Band S. 310ff.
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stand des Mediums, die in den Fallgcsctzcn der Mechanik vorausgesetzt ist und ihre universale Geltung ausmacht, von den sich in der bloBen Bcobachtung zeigendcn Rcgularitaten dcr fallcndcn Korper offcnkundig verschieden. Hageikorner fallen eben nicht wie treibende Schneeflocken. Ein ebenso evidenter Unterschicd besteht zwischcn den Gesetzen der Mechanik und iiberhaupt den Naturgesetzen und etwa der Konstanz der Arten, dcr Spczics, wie sie dem Bcobachtungslcbcn vorwissenschaftlicher Epochen zu grunde lag. Der Sache nach sind es Aussagen, die verschicdcncn Erfahrungsebencn angehorcn und (mit Schelerzu sprechen) >daseinsrelativ< sind. Auf der einen Seite stehen abstrakte, so nicht beobachtbare GesetzmaBigkeitcn im N a t u r geschehen. Auf der anderen Seite ist etwa die Erhaltung der Art das plausibelste Beispiel fiir die Existenz von Naturzwecken (und war deshalb auch das fuhrende A r g u m e n t in der akadcmischcn Diskussion um die platonische Ideenlehre). Gleichwohl hat man im Zeitalter des Neukantianismus durch Cohen und N a t o r p die aus der Sprache, aus den Aoyoi abgelesene griechische vnodeou; dcr Idee von der hypothetisch formulierten Geltung der Naturgesctzc in der modernen Erfahrungswissenschaft her gedeutet. Es wiirde zu weit fiihren, die Aquivokationen aufzudeckcn, die hier im Gebrauch des Hypothesebegriffs begangen wurden. Aber auch wenn dieses Extrcni einer Angleichung Platos an Kant keine Nachfolge mehr findet, wirkt sich doch bis heute in dcr Dcutung dcr griechischen Philosophie noch immer das Vorverstandnis von Wissenschaft aus, das sich erst mit der modernen Wisscnschaft ctabliert hat. - Sie nennt sich mathematischc N a t u r wissenschaft, versteht sich aber als cine auf Mathematik gegriindete Erfahrungswisscnschaft. Die griechische Wissenschaft dagegen sieht in der Mathematik, in den padripma, ihr cigcntlichcs Modell von Wissen. Dies ist Wisscnschaft: etwas, das keiner Bestatigung durch Erfahrung bedtirftig und fahig ist. Was Plato Dialektik nennt und was selbst noch die Mathematik iibertriffr, seine Lehre von den ideen, meint das so WiBbare uberhaupt. Es stellt sich als Vcrflcchtung der Ideen dar und ist reines Wissen: um TeXeviaeit; eidrj (Rep. VI, 511 c 2 ). Es bewegt sich ausschlieGlich ini eidetischcn Bcrcich. Man verfehlt den Sinn solcher Wissenschaft, wenn,man meint, daB in der Konsequenz das Partikulare, Einzelne, in seiner Konkretion durch das Allgemcinc konstituicrt wiirde. In Wahrheit halt die Dialektik des Abstiegs, die platonische llimpeaiq, an der Orientierung an der Sprache, das heiBt an der Flucht in die Logoi, durchaus fest und endet nicht aus Inkonsequenz, sondern aus Konsequenz bei dem unteilbaren Eidos. Sie will nicht die Bcwegungsvorgange als solche erkennen, sondern die sich in ihn en aufbauenden O r d n u n g e n - nicht das Vcrhalten v o n Einzclnem, sondern das, was sich 111 Natur, Staat und Seele als das Allgcmcinc crhalt. Der in die Hohle wieder Herabgestiegene ist dem Gefesselten, nachdem die Blendung iiberwunden ist, zwar tiberlegen, abcr nur, weil cr immer schon weiB, was sich mitcinan-
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der vcrtragt. DaB Theatet nicht flicgt, das zu wissen, braucht man keine Erfahrung, wenn man >weiB', daB Menschen keine Vogel sind. Ganz anders ist es in den Erfah rungs wissenschaft en. Cohen hat den U n terschied zur platonischen Ideenlehre insofern richtig festgehalten, als er die Erzeugung der Bewegung durch die Infinitcsnnalmethode als die eigentliche Vollcndung der klassischen Naturwisscnschaft hervorgehoben hat. DaB die Quantenphysik, ja schon die Feldphysik dieses Konstruktionsideal hinter sich gclassen hat, bedeutet gegeniiber dem klassischen Denken der Griechen cine verschwindendc Nuance. Plato sieht } T V I U K nur als ytvcotq eiq ovoiav, und Aristoteles sieht in der Bewegung die ivepyeui, und das heiBt, auch er charakterisicrt sic von ihrcm r£lo<;licr. Das ist immer noch, wie Sokrates sein Handeln v o m Guten her verstand: Es ist das Ideal einer in ihrer anschaulichen Gcgcbcnhcit verstandlich en Welt, sozusagen eines >hermeneutischen< Universums, in dem sich alle Naturerkenntnisse in ein Gatizes von O r d nungsgestalten cinordnen. DaB auch das Erkenntnis ist und Wissenschaft heiBen kann, was sich in der Gestalt einer solchen universalen Mathematik oder Morphologie vollendct sahe, braucht an sich nicht bestritten zu werden. Aber ist es ini selbcn Sinne Wissenschaft, wic die ncuzeitliche Erfahrungswissenschaft? Hat Mathematik hier die gleiche Funktion ? Ist sic nicht etwas ganz anderes, wenn sic 111 den modernen Erfahrungswissenschaften die reine Bewegung aus R a u m - und Zeitwcrtcn berechnet und die MeBergebnisse der Erfahrung verarbeitet? Ganz anders war doch jene Erwartung des griechisch-pythagorcischen D e n kens, daB die Harmonien der Zahlen und Figuren, die die Mathematik entdeckt hat, in sich selber den Wesensbau des Alls ausmachen, um den das unbestinimbarc Einzelnc herumspiclt. Mir scheint das nicht einfach cin anderes Paradigma, das mit Galileis Begriindung der Mechanik iti der m o dernen Naturwisscnschaft zur Geltung g e k o m m c n ist. Es war nicht lediglich ein Paradigmenwechsel - es war eine Umgestaltung dessen, was Wisscnschaft iiberhaupt sein kann. Das schlieBt nicht aus, daB auch die Anfange der niodcrnen N a t u r f o r schung i m m e r noch an dem pythagoreisch-platonischcn Ideal eiticr O r d n u n g der Welt fcsthielten und daB Manner wie Galilei und Kepler davon gelcitet waren, als sie auf Messcn u n d Zahlen u n d Wagcn ihre Erforschung der Phanomene begriindetcn. Wei! Gott das Buch der N a t u r mit seinem eigenen Finger geschrieben hat, werde es fiir den nachrechnenden Verstand des Menschen moglich sein, es zu cntziffern. Aber dieses Nachrechnen ist auf das moglichst genaue Mcssen der Erscheinungcn und Prozcssc der N a t u r gegriindct - und ihre mathematischc Beschreibung n i m m t am Ende die Gestalt hochkomphzierter Symmetric-Gleichungen an. Es fragt sich, ob nicht erst von nun an alle Umbriichc im Fortgang der modernen Wjssenschaft als Wechsel von Paradigmen beschreibbar sind u n d ob das nicht auch
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fur die Wendung zur Quantenphysik gilt, w a h r e n d j e n e vorgalileischc teleologische Physik etwas anderes war. Wenden wir uns zu dem zwci ten Argument, das hier zu diskutiercn ist. Da geht es u m die erstaunliche Entsprechung, die zwischen der Wendung zur Quantenphysik und dcr pythagoreisch-platonischen Zahlcnlehre bzw. der von ihr aus cntworfenen Physik bcstcht, so daB die letztere als eine Art Antizipation neuestcr Einsichten erscheint. Es geht dabei um zwci Punkte. Der eine betrifTt die Begrenzung dcr Objektivierbarkcit, die mit der Einbeziehung des Beobachters in die Beobachtungsergebnisse zur Ancrkennung gclangt ist. Der andere betrifft den flicBenden Obergang von mathcmatischen Strukturcn zu Wirklichkeitsaussagen. In der Ausdeutung der modernen Physik geht etwa von Weizsacker so weit, die Untcrscheidung von Computer-Wissen und dem Wissen eines Subjektes fiir iiberwunden zu halten, sofern in jcdem Fallc eine Interaktion vorliege und diese als eine solchc von der Wissenschaft verstanden werde. D i e T r e n n u n g des Objekts v o m beobachtendcn Subjekt sei also grundsiitzlich aufgehobcn. Die Zwei-Substanzen-Lchre Descartes' und die gesamte Philosophic der BewuBtseinsimmanenz werde damit hinfallig. - Dies Rcsultat klingt tatsachlich ziemlich gricchisch. aber dort k o m m t es ganz anders zustande. D o r t sind wir sozusagen auf der anderen Seite der S u b j e k t - O b jekt-Unterscheidung, sofern dort ein Begriff des Subjektes nur in auBerst ungenauer Gestalt uberhaupt auftritt. Das BcwuBtscin und die Immanenz der Vorstellungen im BewuBtscin ist nicht das gleiche wie die Sccle, die als der O r t allcr Ideen verstanden wird, oder dcr voCc, der seiner selbst inne ist, sofern er etwas denkt. Gewifi lernt man etwas aus dem >Theiitet<, daB sich eine reine Kinetik nicht voll durchfuhrcn laBt, auch w e n n sie noch so raffinierte Systeme von langsameren und schnclleren Bewegungen incinanderschachtclt, um die erlcbte Erfahrung von Sein als unvcrandert Identischblcibendem von der allgemeinen Bcwegtheit her abzubilden. A m Ende muB man doch so etwas wie >Seele< (i/wpl) anerkennen, die mit Hilfe der Sinne, aber nicht als eine blofie Rcakdon im lnteraktionsverhiiltnis von B e w e g u n gen, crkennt. Man mag noch so ungern darin mit N a t o r p die »transzendentale Synthesis der Apperzcption« antizipiert sehen. M a n mag eher darauf blickcn, daB dcr platonische Begriff der yi'X'j in undcutlicher Weise zwischen Selbstbewegung und SelbstbewuBtscin in der Mitte steht. Bei des ist jedenfalls einleuchtend: y>vxq macht das Wunder des Lebens aus - ihr Entweichen bedeutct den T o d aber auch das Ratsel des Wachseins u n d des Geoffnetscins fur das, was ist. Das ist altestes Scelenwissen uberhaupt. Ganz nah davon ist - u n d das ist schon fiir das friihe Denken Heraklits bezeugt - das Mysterium des Schlafes u n d des zum BewuBtsein Erwachens und die in allem Wachen wirkende Beziehung auf sich selbst 4 . »Der Mensch ziindet 4
Vgl. dazu die >Heraklit-Studicm in diesem Band, S. 76ff.
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sich selbst cin Licht an in der Nacht« (Fr. 26 DK). Selbstbewegung, diese absolute Andershcit, und Denken, dieses Bestehen auf der Selbigkeit im Anderssein, scheinen voncinander schier untrennbar. Sind wir also am Ende einer iangen Geschichte der Wissenschaft, die die Geschichte der Objektivicrung der Erkenntnis ist und die Ausschaltung aller subjektiven Bedingungen im Erkennen bctreibt, auf diesen Anfang und Voranfang aller Wissenschaft zuriickgeworfen, an dem man von BewuBtsein und SelbstbewuBtsein keinen Begriff hatte? Es tnogen uns allerlci Gedanken k o m m e n , was der Subjektbegriff der modernen Erkenntnistheonc, was die Idee der Objektivitat, was der cartesiamsche Begriff der Methode, was die Abstrakdon bedeutet, die das Subjekt aus alien Weltbezugen herausgctrennt hat, die mit seiner Leibhchkeit und seiner Zugchorigkcit zur N a t u r gegeben sind. Man mag finden, dafi die moderne Physik am Ende wiedcrhetstellt, was im In-der-Welt-Sein als solchem liegt, insofern sie die Fiktion cines reinen Gegeniiber als solche zerstort. M a n m a g sich dariiber hinaus fragen, ob dem nicht auch der auf die Evolutionsthcorie gcgriindetc Erkeuntnisbegriff entspricht, namlich, daB das Subjckt selber ein Teil der Welt ist, wie es Descartes selbst zu Husscrls MiBbehagen festhielt, und kein bloBes Gegeniiber. Bei all dem kann m a n doch nicht iibersehen, daB all das in den Gleichungen selber forinuliert wird, die unser letztes Wissen von dem, was ist, darstellen. Hat die thcoretische Physik damit den Subjekt-Objekt-Gegensatz cndgiiltig eliminiert? Oder ist es nicht vielmehr so, daB zwar das Ideal der Objektivierung, der Messung und der mathematischen K o n s t r u k d o n durch die groBen Einsichten, die uns die Quantenphysik beschert hat, in sich modifiziert worden ist und die Grenzen der Ausdeutung von Messung lehrt, aber doch nur, um sie zugleich abermals bcrechenbar zu machen, u n d das nicht fiir den inessenden Beobachter, aber wohl fiir den, welcher die Ergcbnisse der Messung einer theoretischen Ausdeutung zufiihrt. Ich sehe wohl, wclchen Zauber das Eindringen in die letzten Wellenschlage des Naturgcschehens oder ein Erklaren der Evolution des gesamtcn Universum fiir den Forscher wie fiir die Phantasie des Laien besitzt. Es ist eine groBartige Einsicht, daB wir die Prozcsse im Atominnern, die die Nuklearphysik erforscht, im Stern geschehen wicdcrerkennen u n d daB wir damn die Evolution des Universums, die als solche schon langcr ihre Plausibilitat hatte, nun mit den Mittcln unserer Physik zu begreifen begonnen haben. Aber ordncn sich auch die menschlichcn Gcschickeund die menschliche Geschichte damit auf neue Weise in cin ncues, vers tan denes Ganze ein? Ich will selbst einmal annehmen, daB die Vollendung der Physik durch Vercinigung von Feldphysik und Quantenphysik k o m m e n wird und daB die wachscnden Encrgien, iiber die unsere Experimcnte verftigen werden, die Aufsplitterung der Mikrowelt nicht weiter steigern. Es will mir trotzdem
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nicht leicht einleuchten, daB der Code, durch den wir das von Gott mit sernem Finger geschriebene Universum entziffern, ausgcrcchnet durch u n sere Beschleuniger und ihre Aufschliisse eines Tages iesbar wird. Wie dem auch sein mag, es ist mir wenig plausibel, wie die Bedeutung, die die Evolutionstheorie fur die Begriindung dcr Wisscnschaften haben soli, hier etwas grundsatzlich Entscheidendes sein will. Geschichte des U m v e r sums ist ein Rahmen, dessen RiesenmaB allcs umfaBt, gewiB auch die paar Jahrtausende, die in der Helligkeit menschlichen Gedenkens, Erinnerns und Oberlieferns stehen. Ich unterschatze nicht die Bedeutung dessen fur menschliche Sclbsteinschatzung. Ich kann auch gut verstehen, daB die m o derne Physik und Biologic dergestalt zusammcnwachsen und nun ein Gesamtbild der Geschichte der Welt aufbauen. Ja sogar, daB vielleicht P r o g n o sen a la Foucault moglich werden, die sich in solchcn MaBstaben bcwegen. Aber der Menschheit Gegenwart und Z u k u n f t , die ihrem Handeln aufgegeben ist, versteht man, wenn man in solchen MaBstaben dcnkt, kcinen Dcut besser. Hier ist ein Bruch, den man nicht wegdisputieren kann. Es steht nirgends geschrieben, daB die menschliche Vernunft, die bishcr die Anpassung der Menschenrasse an die U m w e l t geleistet hat, nicht am Ende gerade so versagt, wie die Naturausstattung und Naturentwicklung bei anderen ausgestorbencn Lebewesen versagt hat. Es hat in meinen Augen seine Schwierigkeit, die Logik aus ihrer Anpassungsqualitat zu lcgitimieren und gar darauf ein A r g u m e n t fiir den Realitatsanspruch unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zugriinden. Am Ende konnte ja die Selbstzerstorung der Menschheit und ihrer U m w e l t hcrauskommcn und damit die Logik sich als eine groBe Fehlanpassung an die Lebensbedingungen der Menschheit erweisen. Das Bild, das uns die Evolutionstheorie bietet, k o m m t mir in all seiner GroBartigkeit, wenn man es auf die menschliche Erkenntnis anwendet, so vor, wie wenn ich eine Landkarte der heutigen Bundesrepublik zur Hand nchme, u m darauf crwartungsvoll nach dem Platzchen zu suchen, auf dem ich in meinem Garten ein Beet anlegen konnte, dessen Bcbauung dem Ganzen in der rechten Weise angepaBt ware. Nach allem muB ich also sagen: Es besteht ein q-ualitativer Untcrschied zwischen jcner Welt der N a t u r wissenschaft, die zwar als Wissenschaft auch cine hermeneutische K o m p o n e n t e hat, und jener geschichtlichen Welt, die sich aufgrund menschlichen Handelns u n d Leidens zu Objcktivationcn in Religion und Recht, Kunst und Wirtschaft aufbaut und die hermeneutische Dimension des Verstehcns von Zeugnissen und Uberlieferung ausmacht. Wie i m m e r diese bei den Welten ineinander verschrankt sind und ob man Theoric als eine hochste menschliche Praxis versteht oder Praxis als bloBe A n w e n d u n g von Theorie - die bcidcn Wehhorizonte flieBen nicht in einen zusammen.
Bibliographische Nachweise Genannt bind die Ersrveroffentlichungen. Alle Tcxtc sind inzwischen iiberarbeitet.
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2. Hegel und Heraklit. Erstveroffentlichung aufgrund eines 1982 in Neape! in italienischer Sprache gehaltenen Vortrags.
3. Heraklit-Studien. Erstveroffentlichung aufgrund eines am 11. Februar 1984 gehaltenen Vortrags vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Philosoph.-histor. Klasse).
4. Sokrates' Frommigkeit des Nichtwissens. Erstveroffentlichung aufgrund von Vortragen in Bielefeld am 29. Januar 1985, in Boston unter dem Titel >Religion and Religiosity in Socrates (Abdruck in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Vol.1. Hrsg. von J.J. Cieary. Lanham 1985, S. 53-75) und in Tubingen aus Anlafi der Verleihung des Ehrendoktors der Theologischen Fakultiit aril 5. Juli 1988.
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Bibliographische Nach weise
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Bibliographische Nach. weise
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18. N a t u r und Welt: Die hcrmcncutische Dimension in Natur erkenntnis und Naturwissenschaft. Vortrag gehalten 1983 in Lund und in englischer Sprachc in Boston. Abdruck der englischen Fassung unter dem Titcl 'Natural Science and Hermeneutics: The concept ot nature in ancient philosophys in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Vol.1. Hrsg. von J. j . Cleary. Lanham 1985, S. 39-52. Erstdruck der deutschen Fassung mit dem Titel >Naturwissenschafc und Hermeneutik<. in: Philosophic und Kultur, Bd. 3: Der Mensch und die Wissenschaft [Filosofi och Kultur 3: M;inniskan och Vetenskapen], Hrsg. vom Philosophiezirkel in Lund. Schwcdcn, unter der Leitung von A r n o Werner. Lund 1986, S. 39-70. Inzwischen auch in schwedischer Obersctzung ebenda 1990.