Wolfenbütteler Schriften für Geschichte des Buchwesens Herausgegeben von Paul Raabe
Band 2
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Wolfenbütteler Schriften für Geschichte des Buchwesens Herausgegeben von Paul Raabe
Band 2
Dr. Ernst Hauswedell & Co. Verlag Hamburg
Das Buch in den zwanziger Jahren Vorträge des zweiten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 16, bis 18. Mai 1977
Dr. Ernst Hauswedell & Co. Verlag Hamburg
© 1978 Dr. Ernst Hauswedell &Co. Verlag, Hamburg Composersatz: Heidi Garbereder, Wolfenbüttel Druck und Bindung: Himmelheber, Hamburg Printed in Germany
Inhalt
Vorwort Paul Raabe: Das Buch in den zwanziger Jahren. Aspekte einer Forschungsaufgabe Herbert G. Göpfert: Die „Bücherkrise" 1927 bis 1929. Probleme der Literaturvermittlung am Ende der zwanziger Jahre
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Hans Peter Willberg: Zur Situation der Buch- und Schriftkunst in den zwanziger Jahren
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Claus W. Gerhardt: Die Typographie im Deutschland der zwanziger Jahre. Ein Überblick
63
Jürgen Eyssen: Bildung durch Bücher? Volksbüchereien während der Weimarer Republik
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Siegfried Unseld: Robert Walser und seine Verleger
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Heinz Friedrich: Das Buch im Zeitalter der totalen Multiplikation. Versuch einer Standortbestimmung des Verlegers in der heutigen Zeit
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Verzeichnis der Beiträger
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Vorwort
„Das Buch in den zwanziger Jahren" war das Thema der 2. Tagung des „Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens", die vom 16. bis 18. Mai 1977 in den Räumen der Herzog August Bibliothek stattfand. Veranlaßt durch die großen Veranstaltungen in Berlin über die „Tendenzen der zwanziger Jahre", beschloß das Komitee des Arbeitskreises, das gleiche Thema zum Gegenstand einer buchgeschichtlichen Fragestellung zu wählen. Die Tagung zeigte, daß die Erforschung der Geschichte des Buches in unserem Jahrhundert noch erst in den Anfängen steht. Wir sind allzu wenig über die wirtschaftlichen und technischen, politischen und geistigen Zusammenhänge im Bilde, unter denen die Entwicklung des Buches in der Zeit der Weimarer Republik stand. So waren die Vorträge dieser Tagung mehr Aufrisse als abschließende Ergebnisse. Es sollte mehr gefragt als geantwortet werden. In den Arbeitskreisen wurden über die Rolle der Privatpressen und der literarischen Zeitschriften, über die Stellung des Privatsammlers und des Verlegers diskutiert, und es stellte sich heraus, daß für eine intensive buchgeschichtliche Forschung auf diesem Feld sehr viel zu tun ist. Die zwanziger Jahre standen unter der Faszination der technischen Entwicklung, und so war es sinnvoll, in einem öffentlichen Vortrag die Lage des Buches im Zeitalter der totalen Multiplikation darzustellen. So verknüpft der Vortrag von Heinz Friedrich die Problematik von gestern mit einem brennenden Thema von heute. Wir freuen uns, daß wir diese zweite buchgeschichtliche Publikation vorlegen können, und hoffen, daß von dieser neue Impulse ausgehen. Wolfenbüttel, April 1978
Paul Raabe
Paul Raabe Das Buch in den zwanziger Jahren Aspekte einer Forschungsaufgabe
Am 21. März 1929, am Vorabend von Goethes Todestag, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, die zu einer Krise der Weimarer Republik werden sollte, fand im Plenarsaal des Reichstags in Berlin eine Kundgebung als Auftakt zum ersten deutschen „Tag des Buches" statt. Nach den offiziellen Reden des Reichsministers a. D. Dr. Kulz und des Innenministers Carl Severing sprach der Schriftsteller und Philosoph Leo Weismantel über „Buch und Volk" und begann seine beschworende Rede mit folgenden Sätzen: „Wir sehen Bilder: wir sehen Volk in der Eisenbahn, mit Buchern und Zeitschriften in den Handen, sehen Volk in den Stadtbahnen, auf der Fahrt zur Arbeit oder nach der Arbeit, einmal in einem Buche nur wie versuchend blättern, einmal von einem Buche besessen, — sehen das Buch in einsamen abendlichen Stuben aufgeschlagen unter Lichtern, — die Buchereien der Volkshochschulheime und gelehrten Institute, — das erste Bilderbuch, über dem ein Kind jauchzt und die heiligen Bucher, über denen in einer weltabgeschiedenen Mönchszelle ein Einsamer an jenseitiger Sehnsucht verglüht, — sehen Bucher, in denen eine mondäne Frau lassig schmökert, derweilen sie dazwischen ihre Lippen schminkt und sehen die zerlesenen Programmbucher eines von den sozialen Volksnoten unserer Zeit Gerüttelten, der die „alte" Welt in Buchern zertrümmert und „neue" Welten aufbaut — in Buchern, zu denen die Menschen greifen, sehen wir die Menschen sich entlarven." So wie hier bereits der Geist der Weimarer Republik aufscheint, so laßt sich die Situation am Ende der zwanziger Jahre auch in den darauf folgenden Vortragen zum Tag des Buches herauslesen, die, in der Berliner Singakademie gehalten, langst dem historischen Bewußtsein entschwunden, die Krisis des Buches im 20. Jahrhundert beschreiben. In der Diskussion zwischen Gustav Küpper, dem Verleger der Deutschen
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Verlagsanstalt, und Alfred Döblin, dessen Roman Berlin Alexanderplatz soeben erschienen war, wird die Lage des Autors und des Lesers, des Buchhändlers und Verlegers deutlich: „Es gab früher in Deutschland eine mäßig große mittelständische Bildungsschicht. Sie war die eigentliche Abnehmerin des Buches. Für sie schrieben wir Autoren. Von ihr lebten die kulturellen Verlage. Krieg und Inflation haben diese Bildungsschicht zerschlagen. Zugleich aber damit und zugleich mit dem Untergang des alten Obrigkeitsstaates sind große Volksmassen auf der Bildfläche erschienen, und, ob durchgeführt oder nicht durchgeführt, es ist gegenwärtig ein demokratisches Prinzip in der Welt, auch in Deutschland, im Marsch. Die Bildung hat aufgehört, in Deutschland Monopol einiger Schichten oder gar nur einer Schicht zu sein". Alfred Döblin plädiert in dieser Rede, deren Text übrigens bis heute als verschollen galt, für die Buchgemeinschaften und für die Verbreitung des Buches in allen Volksschichten. Er sieht in dem privaten Kulturverleger den unentbehrlichen Partner des Autors und in dem anonymen Industrieverlag eine Gefährdung der schöpferischen Existenz. Aber er weiß auch, daß jenseits dieses Produktions- und Distributionsprozesses die kulturelle Höchstleistung entsteht, das eigentlich Schöpferische: „Die Autoren von morgen und übermorgen sitzen nirgends. Für sie sind nicht da Privatverlag, nicht Buchgemeinde und nicht Industrieverlag. Sie sind die Feinde jeder Massenproduktion, und sie sind die eigentlichen Bildner der Kultur, die eigentlichen Bildner des Volksgeistes. Sie sind die eigentlichen Fortentwickler. Ich kann nur diese drei Gruppen selbst aufrufen — sie wissen, was hier verloren gehen kann und geschützt werden muß — zum Schütze auch dieser Naturdenkmäler des Geistes, dieser Sondertype von Autoren". Man denkt unwillkürlich an Robert Musil und an Hermann Broch und auch an den damals schon verstorbenen Hugo von Hofmannsthal. Also: der 22. März 1929: Der Tag des Buches wurde veranstaltet zur Rettung eines bedrohten Kulturgutes in einer veränderten gesellschaftlichen Situation, in der die Schicht der Angestellten und Arbeiter weitgehend das Bild der Öffentlichkeit bestimmte. Man müßte Verlauf und Wirkung des Tages nachzeichnen, die Aktionen in den großen Städten
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und in der Provinz beschreiben, die Mitwirkung der Autoren, das Engagement der Buchhändler, Verleger und Bibliothekare abwägen und die Beteiligung der Verbraucher, der Leser analysieren, um so ein Bild von der Lage des Buches im Jahre 1929 zu erhalten. Eine solche Studie könnte die kulturpolitische Situation in der Weimarer Republik veranschaulichen und in der Spiegelung des Büchermarktes das Verhältnis von Autor und Verleger, von Buchhändler und Leser aufhellen, ein Stück Buchgeschichte des 20. Jahrhunderts in einer historisch entscheidenden und für Europa verhängnisvollen Konstellation darstellen. Daß dies noch nicht geschehen ist — wir werden später Thema an Thema reihen —, charakterisiert die Lage der Forschung heute. Buchgeschichte ist in Deutschland trotz der Bemühungen Einzelner und der Unterstützung buchhändlerischer Organisationen und bibliophiler Gesellschaften weitgehend eine terra incognita. Das mag daran liegen, daß Buchgeschichte am Schnittpunkt der Fachdisziplinen liegt und so eigentlich im Niemandsland der Forschung. Das hat auch wohl seine Ursache in der mangelnden Büchertradition in Deutschland, die in groteskem Widerspruch zu den Leistungen auf diesem Gebiet seit Gutenbergs Erfindung steht. Aber Tradition entsteht nur in der Treue dauernden Wirkens: die französischen und englischen Büchersammler haben über Jahrhunderte Buchgeschichte als spannende und bewegende Kulturgeschichte gefördert. In Deutschland sind solche Bemühungen vieler hervorragender Kenner und Sammler ohne Echo und Impuls geblieben. Vor hundert Jahren, als historisches Denken als Erbe klassisch-romantischer Gesinnung in Deutschland dominierte, machte die buchgeschichtliche Forschung entscheidende Fortschritte. Es wurden nicht nur die Quellen zur Geschichte des Buchwesens in Deutschland in Zeitschriften und Büchern mitgeteilt, sondern in der großen Geschichte des deutschen Buchhandels von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich wurde das damalige Wissen über die Entwicklung des Buches zusammengefaßt. Außerdem erscheinen seither zahlreiche Verlagsgeschichten und verlagsgeschichtliche Festschriften. Doch dieser Impuls hatte nicht nur die Wirkung, die man sich heute wünschte, wenn man die Entwicklung des Buchwesens in Deutschland seit der Reformbewegung der Jahrhundertwende in der Nachfolge von William Morris bedenkt. Gewiß, wir sind nicht zu-
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letzt dank des Wirkens der bibliophilen Gesellschaften über das Buchwesen im ausgehenden 19. Jahrhundert, über die Verleger und Buchkünstler, die Drucker und Buchhändler dieser Zeit einigermaßen gut unterrichtet, auch schon dank der Mitwirkung der zeitgenössischen Publizistik. Doch über die Entwicklung des Buches in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts liegen bisher allzuwenige Untersuchungen vor: im Gegensatz zu den Ergebnissen der historischen Forschung, in der Zeitgeschichte, insbesondere die Geschichte der Weimarer Republik und der Nazizeit einen Schwerpunkt darstellt, fehlt es an kritisch sichtenden Studien zur Buchhandels-, Verlags- und Lesergeschichte als Vorarbeiten für zusammenfassende Darstellungen der Geschichte des Buches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt einige Monographien über große Verlage, auch wurden Dokumente und Briefe mitgeteilt für den Insel Verlag und S. Fischer, für die Verlage von Kurt Wolff, Eugen Diederichs und Ernst Rowohlt. Monographien erschienen über die Neue Rundschau des S. Fischer Verlages, die Süddeutschen Monatshefte und die Weltbühne. Einige Spezialstudien und Quellenpublikationen beschreiben das Verhältnis der Autoren zu ihren Verlagen oder zum Buchhandel. Das gilt beispielsweise für Rudolf Borchardt und Hermann Broch. Über die Schriftstellerverbände und Volksbüchereien sind wir besser, wenn auch nicht ausreichend, im Bilde. Ähnlich schwierig ist übrigens die Lage in der Germanistik. So intensiv die Werke einzelner Autoren, insbesondere jene der ersten Linie, durchforscht sind, so unzureichend ist unsere Kenntnis von den literatursoziologischen Verhältnissen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Die Erforschung der Literatur des Expressionismus hat eine ganze Epoche ins Bewußtsein der literaturwissenschaftlichen Arbeit und des Bildungsinteresses gerückt. Nach der Kenntnis der Dichtung der Jahrhundertwende zwischen Naturalismus und Neuromantik war damit eine Periode literarischen Lebens erneut bekannt geworden, die entscheidend die Vorstellungen und Normen des 19. Jahrhunderts abgelöst hatte. Während die Literatur der Nazizeit und des Exils nach und nach als Forschungsaufgabe in der germanistischen Wissenschaft erkannt wird — von dem Interesse an der Literatur nach 1945 ganz zu schweigen —, blieben,
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wenn man vcn einzelnen bedeutenden Untersuchungen absieht, die zwanziger Jahre relativ unerforscht. Im wesentlichen also sind bis heute die zwanziger Jahre ein Mythos in den Erinnerungen der Literaten und Künstler geblieben, die verlorene Vergangenheit einer nach 1933 ins Exil getriebenen Generation, in deren Vorstellungen unter den Eindrücken einer schwer zu bewältigenden Fremde diese Dekade eine liebevolle Verklärung fand. Die zwanziger Jahre wurden zwischen 1937 und 1960 als das verlorene Paradies der deutschen Intelligenz beschrieben, die in einem ambivalenten Verhältnis zur Weimarer Republik unter dem Eindruck des unverständlichen Friedensvertrags und einer verratenen Revolution kein Vertrauensverhältnis zur jungen Demokratie fand. The golden Twenties oder The roaring Twenties wurden in der Ferne des amerikanischen Exils zu dem künstlerischen Paradies, aus dem sich eine gläubige Generation vertrieben sah. Der zeitliche Begriff deckt sich nicht ganz mit dem Zeitraum der Weimarer Republik, denn diese Dekade zwischen 1920 und 1930 wird eingefaßt von den Wirren der Revolution 1918 und ihren Folgen und nach 1930 zunehmend von den radikalen Tendenzen, die zur Auflösung der Demokratie führten. Von den zwanziger Jahren zu sprechen ist sinnvoll, weil damit die Summe kultureller Aktivitäten gemeint ist, die hinausgreift über die staatliche Kulturpolitik der ersten deutschen Republik, die ihren Namen von der deutschen Tradition klassischen Geistes übernommen hatten. Die zwanziger Jahre bezeichnen als Begriff eine internationale, zur eigenen Staatsfindung kritisch sich verhaltende Zeit in der deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn man nach den Aspekten dieser Epoche zwischen 1919/20 und 1930/32 im Hinblick auf den Büchermarkt fragt, so hat man dies vor dem Hintergrund der veränderten politischen und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse zu tun. Mit dem Zusammenbruch des wilhelminischen Reiches begann eine soziale Umschichtung; die Inflation hatte eine Verarmung der führenden bürgerlichen Schichten zur Folge und den Aufstieg der Angestellten- und Arbeiterschichten in den Städten, die immer mehr Menschen anzogen. Anna Siemsen, die
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sozialistische Schriftstellerin und Reichstagsabgeordnete aus der Zeit der Weimarer Republik, schilderte 1929 die Lage: „Deutschland hat nach seiner gesellschaftlichen Struktur (nicht nach seiner politischen und weltanschaulichen Orientierung) längst aufgehört, ein bürgerliches Land zu sein. Unter 32 Millionen Erwerbstätigen gab es 1925 nur noch 5,5 Millionen Selbständige, 2,2 von diesen Millionen aber arbeiten in der Landwirtschaft, gehören also nicht in die eigentlich bürgerliche Atmosphäre. Von den verbleibenden 3,3 Millionen umfaßt bestimmt ein überwiegend hoher Prozentsatz kleinbürgerliche Existenzen, kleine Handwerker und Ladeninhaber, die an der Grenze der Proletarisierung stehen. Und selbst wenn wir aus den rund 5,3 Millionen Angestellten eine entsprechende Zahl, die in behaglichen und gesicherten Stellen mit einem gewissen Lebens- und Luxusspielraum leben, als Ausgleich einstellen, bleibt dennoch die Basis zu eng. Das Schwergewicht des Verbrauchs, auch des Verbrauchs von geistigen Gütern, hat sich heute von der bürgerlichen Seite auf die Seite des Proletariats verschoben". In dieser verwandelten Welt vollzog sich nun vor allem in den Großstädten ein Wandel des Lebensgefühls unter dem Eindruck des überstandenen Krieges und der Inflation, die an das Heute und nicht an das Morgen denken ließ. Auch unter dem Eindruck neuer technischer Erfindungen entstand ein Spannungsfeld erregender und bewegender Ereignisse in einer unsicheren politischen Lage, die mit dem Versailler Vertrag, den Reparationen und der Ruhrbesetzung, mit Streiks und Attentaten begann und von Noske und Ebert über Scheidemann und Rathenau zu Hindenburg und Stresemann, schließlich zu Brüning und Hitler führte, in der Zeit, in der die junge Republik durch Arbeitskämpfe und zunehmende politische Radikalisierung ausgehöhlt wurde, wurden gleichzeitig die Ideen von Völkerbund und einem geeinigten Europa verfochten. Doch das Ergebnis war die bekannte Weltwirtschaftskrise mit einem Heer von Millionen von Arbeitslosen und mit dem sittlichen Verfall aller liberalen Kräfte in einer Situation, die sich die politische Rechte zunutze machen konnte, deren katastrophale Folgen das Bild nicht nur unseres Landes geprägt haben. In diesem krisenhaften Jahrzehnt wurde das öffentliche Leben von technischen Erfindungen, von Sensationen und Rekorden, von Reklame
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und Propaganda bewegt, wie man es vor dem Kriege nicht gekannt hatte. Der Amerikanismus verband sich mit einer kapitalistisch agierenden Welt: Henry Ford und Hugo Stinnes waren damals so berühmt wie der Boxer Max Schmeling und der Flieger Charles Lindberg. Sportereignisse erregten die Massen, Jazz und Tanz wurden Mode, Sechstagerennen und aufwendige Revuen prickelnde Erlebnisse der Massen. Die Presse wurde eine Großmacht, und Berlin, einst Preußens sparsame Hauptstadt, wuchs zu einer Weltmetropole. In Superlativen berichteten rasende Reporter über das neue Massenmedium, denn es war die große Zeit des deutschen Kammerspielfilms. Man braucht nur an Doktor Caligari mit Werner Krauß, an Goldrausch mit Charly Chaplin oder an den Blauen Engel mit Marlene Dietrich zu erinnern. In den Filmpalästen erlebten die Massen die Illusionen und flüchtigen Träume künstlicher Paradiese, während die Snobs in den Nachtklubs protzten. Nach dem Kino entstand der Rundfunk als neues Instrument der Massensuggestion. Die Berliner Funkstunde prägte das kulturelle Leben der zwanziger Jahre. Gleichzeitig erlebte das Theater Max Reinhardts und Leopold Jessners Welterfolge. Der Konstruktivismus in der modernen Kunst führte zu Bauhaus und funktionalem Bauen unter der Faszination technischer Möglichkeiten. In der Malerei wurde der Expressionismus abgelöst von abstraktem Funktionalismus und schließlich dem Neorealismus der neuen Sachlichkeit. In diesen Bildern werden die Menschen in den großen Städten so dargestellt, als sei der unheimliche Stillstand des „Unaufhörlichen" schon Wirklichkeit geworden. In dem breiten Panorama oft beschworener, liebevoll rekapitulierter und teilweise auch wissenschaftlich erforschter öffentlicher und kultureller Ereignisse, die das Gesicht der zwanziger Jahre geprägt haben, hatten die Schriftsteller und Verleger, die Redakteure und Kritiker von Anfang an ihren Platz. Die Generation der Fünfzigjährigen beherrschte die literarische Szene: Gerhart Hauptmann wurde zur Symbolgestalt des Dichters in der jungen Republik, Thomas Mann, dessen Zauberberg 1925 erschien, stand auf der Höhe seines Ruhms, Hofmannsthal, George, Rilke und Hesse waren die dichterischen Größen, die aus der bürgerlichen Welt der Jahrhundertwende hinüberwirkten, und in ihrem Gefolge die Vertreter eines traditionsgeprägten abendländischen Humanismus, Schriftsteller
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wie Karl Wolfskehl und Rudolf Alexander Schröder, auch Hans Carossa und Rudolf G. Binding. Die Vertreter der expressionistischen Generation, die noch 1920 triumphierten, wandten sich neuen, zeitbezogenen Gattungen zu: sie schrieben Reisebücher und Reportagen, Satiren und Chansons, Komödien und Romane an Stelle weltfreudiger und weltverachtender Lyrik und Dramatik, hymnischer und pathetischer Prosa. So wurden Fritz von Unruh und René Schickele, Ernst Toller und Walter Hasenclever gefeierte Autoren der zwanziger Jahre. Vor allem aber war es neben Gottfried Benn und Carl Zuckmayer Bertolt Brecht, mit dem man später die zwanziger Jahre schlechthin identifizierte. Es war auch die große Zeit der kurzen Prosa und der satirischen Gedichte von Kurt Tucholsky und Walter Mehring, von Klabund und Erich Kästner. Antikriegsbücher und Generationsromane, so von Frank Thieß und Alfred Döblin, von Erich Maria Remarque und Ernst Gläser erregten die Gemüter. Eine neue Sachlichkeit hatte den Expressionismus abgelöst. Dada ging in Surrealismus über. Freilich: neben den linksradikalen Schriftstellern wie Johannes R. Becher und Erich Weinert sowie allen Vertretern des Bundes proletarischrevolutionärer Schriftsteller wirkten besonders in der Provinz — dort fielen letzten Endes die weittragenden politischen Entscheidungen — die konservativen Autoren, die sich dem Erbe, der Heimat, der Scholle verbunden fühlten. So groß der Erfolg von Döblins Berlin Alexanderplatz war, so groß war gleichzeitig jener von Hans Grimms Volk ohne Raum. Man kann sich diese reaktionäre Literatur nicht kraß genug' ins Gedächtnis zurückrufen, so wie man ja auch wissen muß, dal> nicht nur Remarques Im Westen nichts Neues ein Beststeiler war, sondern auch die vielen Bücher, die den Krieg verherrlicheten. In den Büc1 ern und Autoren ist der Geist der zwanziger Jahre lebendig geblieben wie in den literarisch-politischen Zeitschriften, deren Lektüre das Bild der Szenerie der Weimarer Republik vermittelt: die Literarische Welt von Willy Haas zum Beispiel, die erste literarische Zeitung in Deutschland, die Weltbühne von Siegfried Jacob söhn und später von Carl von Ossietzky, der Querschnitt von Hermann von Wedderkop oàçr Die Linkskurve von Johannes R. Becher. Eingebunden in diesen literarischen Betrieb, aber weit darüber hinaus wirkend, ist die Rolle des Buches in den zwanziger Jahren zu sehen und
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zu verstehen. Als Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik hat man den Büchermarkt und die an ihm beteiligten Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten zu untersuchen, eine Aufgabe, die, wie gesagt, noch vor uns liegt und für die zu werben Sinn dieses Vortrags und dieser Tagung ist. Fragen wir nach den Quellen für eine solche Forschungsaufgabe, so sind es zunächst gedruckte Zeugnisse, die nicht sehr zahlreichen Autobiographien von Verlegern und Buchhändlern, auch von Autoren und Kritikern, von Sammlern und Bibliothekaren, die ein sehr subjektives Bild der Epoche vermitteln; man denke so an Reinhard Pipers Vormittag und Nachmittag. Auf diesem Felde wünschte man sich viele Werke. Das gilt auch für Brief Sammlungen nach dem Beispiel der Veröffentlichungen aus den Korrespondenzen von Eugen Diederichs und S. Fischer, von Kurt Wolff und Anton Kippenberg. Grundlage unserer Kenntnis des Büchermarktes ist das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, in dessen redaktionellem und Anzeigenteil eine Chronik des Buchhandels vorliegt. Andere Fachblätter kommen hinzu, das Archiv für Buchgewerbe zum Beispiel oder die Periodika bibliophiler Gesellschaften, so die Zeitschrift für Bücherfreunde, das Philobiblon und die ersten Jahrgänge des Imprimatur, selbstverständlich auch die bibliothekarischen Fachorgane insbesondere des Volksbüchereiwesens. Auch vom literarischen Wirken vermitteln die genannten Zeitschriften ein Bild. Hilfreich ist in dieser Hinsicht die Literarische Welt, von Willy Haas 1925—1933 herausgegeben, die seit kurzem durch ein vorzügliches Register von Manfred Burschka erschlossen ist. Auch Verlagsalmanache, Verlagszeitschriften, Prospekte und Bücherkataloge so wie statistische Jahrbücher hat man als Quellen zur Erforschung des Buchwesens in dieser Zeit heranzuziehen. Unerschlossen, meist auch nicht mehr erhalten, sind die handschriftlichen Quellen: Verlagskorrespondenzen, Geschäftsunterlagen der Buchhandlungen und der graphischen Betriebe sowie die Bibliotheksarchive, von denen man vor allem auch Auskünfte über Bücherverkauf und Leserschichten erwarten kann. Eigentlich müßte eine Sammlung und Sichtung dieser buchgeschichtlichen gedruckten und ungedruckten Materialien zur Geschichte des Buchwesens, zu denen noch mündliche Zeugnisse kom-
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men, der erste zu leistende Schritt sein. Aber da man historsiche Forschung nicht planen kann, wird wohl jede spezielle Untersuchung mit der Quellensammlung und -sichtung von vorn anfangen. Grundlegende Bedeutung kommt zunächst der historischen Buchmarktforschung zu, der Frage nach der statistischen Entwicklung der Buchproduktion in der Weimarer Republik. Man hat sich zu vergegenwärtigen, daß 1927 mit 31 026 Neuerscheinungen und Neuauflagen ein Rekord in dieser Hinsicht aufgestellt wurde. Lassen Sie mich dazu ein paar statistische Details einbauen: der Anteil der schönen Literatur in der gesamten Buchproduktion betrug 1927 mit 5 066 Titeln 16,33 %. Dann folgen die Schulbücher: 2 097 Titel = 9,66 %, die religiösen Schriften mit 2 566 Titeln = 8,27 %, die Jugendschriften mit 2 034 Titeln = 6,55 %, und die wirtschafts-, sozialwissenschaftlichen und politischen Schriften an fünfter Stelle mit 1 985 Titeln = 6,39 %. Fast an letzter Stelle unter den 27 Gruppen stehen Werke klassischer Literatur mit 172 Titeln, das heißt einem Marktanteil von 0,55 %. So ändern sich die Zeiten. (Börsenblatt 1929, S. 265 ff. Ludwig Schönrock, Der deutsche Buchmarkt im Jahre 1928). Das Bild des Büchermarktes hatte sich in den zwanziger Jahren gegenüber der Vorkriegszeit, besonders auch nach der Inflation, geändert. Die Diskussionen über die Bücherpreise verstummten in dieser wirtschaftlich schweren Zeit nicht. Eine Untersuchung wäre sehr notwendig, denn was bedeutete es, daß 1927 der Durchschnittspreis 5,55 Reichsmark betrug? Das broschierte Buch spielte eine immer größere Rolle, also das billige Buch, für das die Autoren kämpften, das die Verleger teilweise mit Skepsis betrachteten. Wie sah überhaupt dieser Büchermarkt aus: es dominierten die oft geschmähten, als amerikanische Unsitte dargestellten Bestseller, über die man sich oft moralisch entrüstete, die aber entscheidend zum Bild der zwanziger Jahre gehören: so die Biographien von Emil Ludwig, aber auch Carl Ludwig Schleichs Besonnte Vergangenheit. Die Buchhändler und Verleger sahen sich ungewohnter Konkurrenz gegenüber, und was S. Fischer 1926 sorgenvoll über die Bücherkrise schrieb, wird vielen Bücherfreunden aus der Seele gesprochen sein: er fand es „bezeichnend, daß das Buch im Augenblick zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens gehört. Man treibt Sport, man
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tanzt, man verbringt die Abendstunden am Radioapparat, im Kino — ist neben der Berufsarbeit vollkommen in Anspruch genommen und findet keine Zeit, ein Buch zu lesen". Diese Bücherkrise war ein einschneidendes Ereignis in einer Krisenzeit, über die nicht nur Karl Jaspers und Ortega y Gasset im kulturkritischen Sinn damals schrieben. Gewiß hatte es auch schon früher schwere Zeiten für den Buchhandel gegeben, und doch will es scheinen, als wenn jetzt zum ersten Mal die enge Verflochtenheit mit dem gesamten Wirtschaftssystem sichtbar wurde. Der Buchmarkt wurde in den zwanziger Jahren geprägt durch neue, populärwissenschaftliche Büchertypen. So sind es vor allem die Sachbücher, die damals aus dem Interesse an sachlicher Information entstanden. Das Sachbuch war die wesentlich neue literarische Form in diesen Jahren. Heinrich Eduard Jacobs Buch über den Kaffee wurde in Deutschland der erfolgreiche Vorreiter für diese Gattung, die man in Verbindung zum Stil der neuen Sachlichkeit setzen könnte. Daneben wurde die Nachfrage nach Reisebüchern größer. Sie hing mit beginnender Mobilität zusammen. Auch Kriminalromane, Detektivgeschichten und Unterhaltungsromane erschienen in immer größerer Zahl. Abteilungen für Jugend- und Kinderbücher entstanden und veränderten so das Bild der Buchhandlungen, die sich auf einen Massenkonsum einstellten. Auch die Schriftenreihen, vor allem die billigen Romanserien, trugen der veränderten Lage im Buchhandel der zwanziger Jahre Rechnung. In einer Analyse und Darstellung des Büchermarktes in der Weimarer Republik müßte dieses weitgefächerte Bücherangebot gesichtet werden, wobei nicht nur die Anzeigen im Börsenblatt, sondern auch die Angebote in den Weihnachtskatalogen auszuwerten sind. Der Zeitschriftenmarkt zeigt ebenfalls ein verändertes Bild. Auch er ist vielseitiger geworden, mehr am Bedürfnis einer breiteren, auch flüchtigeren Leserschicht, als an den Wünschen einer Oberschicht orientiert. Illustrierte Blätter und auch Familienzeitschriften in der Tradition des 19. Jahrhunderts erscheinen in modernerer Aufmachung; daneben spielen die bunten, mit Fotos und Zeichnungen ausgestatteten, oft sehr frech redigierten Magazine eine immer größere Rolle: das Leben, Uhu usw. In diesem Zusammenhang ist auch der Querschnitt zu nennen, heute eine der interessantesten Zeitschriften der zwanziger Jahre, ein aktuelles und
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spannendes Kulturmagazin der Zeit. Die literarische Zeitung die Literarische Welt unter der Leitung von Willy Haas, ebenfalls eine Novität auf dem deutschen Büchermarkt, war der erfolgreiche Versuch, literarisches Leben zum Tagesgespräch zu machen. Die großen literarisch-politischen Zeitschriften wurden schon erwähnt, die Weltbühne und die Linkskurve, auch die Süddeutschen Monatshefte und das Hochland, die Horen und die Tat usw. Über diese Zeitschriften, ihren Inhalt, ihre Wirkung, ihren Anteil am geistigen Leben zu forschen ist notwendig, denn so würde man wesentliche Aufschlüsse über die Entwicklung literarischen Lebens in der Weimarer Republik erhalten. Ohne die Kenntnis des Büchermarkts ist das Wirken aller an ihm beteiligten Berufsgruppen nicht zu begreifen. Da sind zunächst die Schriftsteller, denen das Buch immer mehr bedeutet hat als eine Ware, nämlich das in ein materielles Gewand gekleidete Werk. In den zwanziger Jahren waren die Autoren nicht mehr die weltfremden Poeten, sondern die in Schriftstellerverbänden organisierten, an den Fragen der Zeit mitwirkenden, politisch orientierten Persönlichkeiten, die besten von ihnen im PEN-Club, der 1921 gegründet wurde. Für die Autoren, die den wirtschaftlichen Zwängen wie jede andere Berufsgruppe unterworfen waren, bedeutete das Buch wohl Lebenserfüllung, aber auch oft die materielle Lebensbasis. Das kommt in Rudolf Borchardst berühmter und umstrittener Bremer Rede von 1929 am eindrucksvollsten zum Ausdruck. Wie die Autoren über Bücher, Büchermachen und Büchermarkt, über Buchhandel und Bücherkäufer, über Verleger und Leser dachten, laßt sich in den vielen Aufsätzen und Vorträgen, Rundfragen und Äußerungen nachlesen, die gerade in den zwanziger Jahren das Verhältnis des Autors zum Buch dokumentieren. Solche Beiträge aus der Feder von Stefan Zweig und Walther von Molo, Thomas Mann und Rudolf Alexander Schröder, Franz Thieß und Walter Benjamin usw. könnte man in ein Lesebuch aufnehmen, aus dem man lernen könnte, wie der Autor an der Schwelle des technischen Zeitalters das Buch als Werk und Ware betrachtete. Aufschlußreich wären darüber hinaus Studien über einzelne Schriftsteller in ihrem Verhältnis zu Buchhandel und Verlag, zu Käufer und Leser. Man würde eine differenzierte Antwort finden auf die sozialen und wirtschaftlichen, geistigen und materiellen Probleme des Schriftstel-
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lers und seiner Partner. Es ist seltsam: wir sind über Lessings und Wielands, über Goethes und Schillers Verhältnis zu ihren Verlegern ausgezeichnet im Bilde, aber noch wissen wir allzuwenig über Brechts oder Döblins, Tucholskys oder Kästners Beziehungen zum Buchhandel ihrer Zeit, ganz abgesehen von den Fragen, wie sich der Autor zur Zensur, zum Staat und zur Freiheit des Wortes verhielt. So ist das literarische Leben der zwanziger Jahre ein ebenso spannendes wie weites Forschungsgebiet, erst in Umrissen bekannt. Die Schriftsteller liefern die Ideen, die Verleger, die das Geld zur Veröffentlichung dieser Ideen vorlegen, also das Kapital. Die Verlagsgeschichte der zwanziger Jahre ist auf literarischem Gebiet geprägt durch das Wirken alter und neuer Verleger, durch S. Fischer und Eugen Diederichs, Ernst Rowohlt und Paul Zsolnay, durch Gustav Kiepenheuer und Jakob Hegner, durch Erich Reiss und Carl Reissner, durch InselVerlag und Deutscher Verlags-Anstalt, durch Propyläen und Ullstein, durch den Paul List Verlag und den linksradikalen Malik Verlag. Über die Arbeit der meisten dieser Verleger sind wir in der Forschung noch unzureichend informiert. Viele Fragen bleiben offen; Quellen gibt es in großer Fülle: neben der Buchproduktion selbst die Verlagsalmanache und Verlagskorrespondenzen, die Verlagszeitungen und -anzeigen. Man wird insgesamt wohl feststellen, daß neben den älteren Verlagen besonders der Jahrhundertwende auch junge Verleger wie die Gebrüder Enoch in Hamburg und Leopold Jess in Dresden zum Bild der deutschen Verlagslandschaft der Weimarer Republik beitrugen, in der Anton Kippenberg und S. Fischer, Eugen Diederichs und Ernst Rowohlt populäre Kulturträger waren. Auf der anderen Seite aber wird eine Analyse der Statitstik doch ein anderes Bild vom Verlagshandel und den Schwerpunkten der Buchproduktion vermitteln. Die Schulbuchverlage hatten damals wohl zum ersten Mal den zahlenmäßig größten Anteil am Buchmarkt, allein Teubner in Leipzig, Diesterweg in Frankfurt, Velhagen & Klasing in Bielefeld, Quelle und Meyer in Leipzig mit 590, 378, 305 und 239 Neuerscheinungen allein im Jahre 1927. An zweiter Stelle folgte der Fachbuchhandel: Julius Springer mit 436, C. Heymann mit 307, de Gruyter mit 279 Neuerscheinungen. Danach kamen in der Reihenfolge der Produktionszahlen und des Um-
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satzes die Jugendbuchverleger wie H. Hillgner in Berlin, Enßlin & Laiblin in Stuttgart, Ferdinand Hirth in Breslau mit 251, 237 und 215 neuen Buchern im Jahr. Im Vergleich dazu rangierten die gesamten schongeistigen Verleger — das ist auch noch heute so — im Mittelfeld der Produktionszahlen. An der Spitze lag übrigens die Deutsche Verlagsanstalt mit 155 und der S. Fischer Verlag mit 112 und an dritter Stelle endlich der Insel-Verlag mit 91 neuen Titeln. Man sieht, das Verlagswesen der zwanziger Jahre hatte einen vorher nie gekannten Umfang angenommen. Man war auf dem Wege zu Betrieben in der Ablösung der kleinen, privat geführten Verlage, von denen es, wie Ernst Heimerans Erinnerungen zeigen, noch manche in sympathischer Gestalt gab. Außerdem entstand eine neue Berufsgruppe, die der Lektoren, die besonders in schongeistigen Verlagen die Geschicke mittrugen. Moritz Heimann und Oskar Loerke, S. Fischers literarische Lektoren, sind die offenkundigen Vorbilder fur das Niveau einer neuen Vermittlerschicht im Buchhandel. Das Verlagswesen also war das zentrale Gebäude in der Bucherstadt der zwanziger Jahre: fur die Rekonstruktion hat die buchgeschichtliche Forschung noch viel zu leisten. Das gilt auch fur die Erforschung des graphischen Gewerbes in der Weimarer Republik, das in industrieller Form und individueller Leistung die Bucher produzierte, deren Gesamtbild uns heute in ihrer soliden Gestaltung und Wirkung fasziniert. Man sieht, wie sehr die Buchkunst der Jahrhundertwende als Vorbild hinter diesen Werken der Typographen und Schriftgießer, der Graphiker, Drucker und Buchbinder steht, die insgesamt an der Publikation der Bucher beteiligt waren. Die Internationale Buchkunst-Ausstellung in Leipzig 1927 sollte eine Bilanz der Leistung des deutschen Buchgewerbes seit der BUGRA von 1914 sein, aber doch war es lediglich eine Bestandsaufnahme in einer im Stil sich wandelnden Phase. Doch als 1930 der erste Wettbewerb der 50 bestgedruckten Bucher ausgeschrieben wurde, kam darin der Wille zum Ausdruck, auch in einer Krisenzeit den Qualitätsanspruch in der Buchherstellung nicht aufzugeben und sich ganz den neuen Formen zu offnen. Damals wurden zum ersten Mal nicht nur vorzugliche typographische Spitzenwerke, bibliophile Meisterstucke wie die Ausgabe des Hamlet in der Cranach-Presse ausgezeichnet, sondern auch gut gedruckte Ge-
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brauchsbucher, fur die die technische und künstlerische Gestaltung der alleinige Maßstab in der Bewertung war. In den Festschriften der großen Schriftgießereien und Buchdruckereien kann man die Fortschritte in der technischen Vervollkommnung nachlesen, auch in den Zeitschriften des graphischen Gewerbes. Nachdem die ersten Nachkriegsjahre mit ihren auf holzhaltigem Papier gedruckten Buchern vorüber waren, erschienen solide gefertigte und gebundene Druckerzeugnisse auf gutem Papier in sorgsamer Typographie als Standard der Zeit. Das auf maschinellem Wege hergestellte Buch fand eine vollendete äußere Gestaltung. Die Entwicklung erlebte seit der Erfindung von Setzund Druckmaschinen einen Höhepunkt. So können wir heute, in einer Phase der technischen Buchproduktion, die Gutenbergs Methoden hinter sich gelassen hat, zweifellos urteilen. Es war auch die Endzeit der großen Typographen, die im Dienst bekannter Schriftgießereien wie Bauer, Klingspor und Stempel standen. Man braucht nur die Namen von F. H. Ehmke und E. R. Weiß, von Rudolf Koch und F. W. Kleukens ins Gedächtnis zu rufen. Mit den zwanziger Jahren ging der Aufbruch der Reformbewegung der Jahrhundertwernde zu Ende. Dieser Wettstreit um die beste Typographie fand nach dem zweiten Weltkrieg kaum noch statt. In ihm spiegelte sich noch einmal die damals schon seit fast fünfzig Jahren erbittert geführte Auseinandersetzung über die Frage, ob man in Fraktur oder Antiqua drucken sollte. Es war der Kampf zwischen Tradition und Moderne, den darzustellen sicherlich nicht nur eine Forschungsaufgabe ist, sondern der zugleich ein Stuck deutscher Mentalitatsgeschichte ist. In den zwanziger Jahren jedenfalls war der Streit noch unentschieden: 1928 erschienen 56,8 Prozent der Neuerscheinungen in Fraktur, 43,2 Prozent in Antiqua {Börsenblatt 1930, Nr. 33). Die Jugend vertrat eine moderne, sachliche Typographie: die konstruktivistische Kunst mundete ein in eine Gestaltung neuer Sachlichkeit. Die Erfahrungen der Werbung, wie sie beispielsweise Kurt Schwitters als Werbechef von Günther Wagner in Hannover machte, leiteten über zu einer Buchgestaltung, die alle Elemente einer abstrakten Sehweise aufnahmen. Paul Renner und Jan Tschichold stellten die Typographie in eine Linie mit Foto und Film, und sie kamen zu der funktionalen Typo-
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graphie, der die Futuraschrift in ihrem Verzicht auf jedes Ornament im klarsten entsprach. Zweckmäßigkeit war das Schlagwort in einer Zeit, in der Technik noch überschaubar war. (Die Untersuchung der Typographie der zwanziger Jahre und die Einordnung in die Geschichte des Buches gibt zweifellos den Blick frei auf ein weites Forschungsfeld, das in Deutschland bisher allzuwenig betreten wurde.) Die Opposition gegen die Buchkunst und auch gegen die Internationale Buchkunst-Ausstellung von 1927, die in den Protesten von Jan Tschichold und Georg Mendelssohn 1927 zum Ausdruck kam, betrifft auch die konventionelle Buchillustration der Zeit. Die Bauhausbücher, in fetter Grotesk gedruckt , mit Fotos ausgestattet, waren das Ideal der neuen funktionalen Buchgestaltung. Sie stand im Gegensatz zu den illustrierten Büchern, die, von Max Slevogt und Alfred Kubin, von Hans Meid und Emil Praetorius, von Fritz Kredel und Adolf Schinnerer mit Zeichnungen oder originalgraphischen Blättern versehen, nach wie vor die Bücherlust der Sammler waren. Auch auf diesem Gebiet entstand also ein Gegensatz zwischen traditioneller und moderner Buchgestaltung. Die Bücher von Frans Masereel und George Grosz in ihrer zeitkritischen Einstellung entsprachen mehr der Avantgarde als die konventionellen Liebhaberausgaben impressionistischer Abkunft. Dazwischen lag ja die expressionistische Buchillustration, die den Wandel einleitete, den darzustellen eine der Aufgaben der Buchgeschichte sein sollte. Dennoch waren die zwanziger Jahre auch trotz der wirtschaftlichen Krise eine Blütezeit der Pressendrucke: die großen Werke der Bremer Presse und der Cranachpresse, der Officina Serpentis und der Werkstätten der Kunstschulen waren Meisterleistungen der Buchkultur in Deutschland. Auch die Veröffentlichungen der bibliophilen Gesellschaften und die Jahresgaben der Schriftgießereien gehören in diesen Zusammenhang. Diese Werke vermitteln sehr bewußt das künstlerische Vermögen einer Zeit, die sich, wie das auch vorher immer der Fall gewesen war, an der Qualität des Gutenbergzeitalters orientierte. Der Handdruck ist immer ein Korrektiv gewesen, eine Übung und ein Maßstab. In dieser Hinsicht bieten auch die Werke aus den zwanziger JahrenVollendetes, man denke nur an die Homer-Ausgabe der Bremer Presse und an den Vergil, den Harry Graf Kessler in der Cranachpresse unter Beteiligung von Aristide
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Maillol und Rudolf Alexander Schröder herausgab. Daß übrigens auch der Handeinband in dieser zweiten Phase der Reformkunst die Aufmerksamkeit der Forschung verdient, versteht sich von selbst, denn erst das künstlerische Gewand macht ein Buch zu einem Gesamtkunstwerk, das zu ergründen eine unablässige Aufgabe der Bücherfreunde bleibt. Zweifellos hat sich die buchgeschichtliche Forschung auch der Darstellung der Geschichte der Buchdruckereien im technischen Zeitalter zuzuwenden, die vorliegenden Firmengeschichten unter speziellen oder übergreifenden Gesichtspunkten zu sichten und ein Bild von dem Druckwesen und der Druckindustrie zu vermitteln, ihren Bedingungen und ihren Wirkungen nachzugehen und so Materialien zum Gesamtbild der Buchgeschichte in den zwanziger Jahren zu liefern. Typographen und Schriftgießer, Buchgraphiker und Buchillustratoren, Buchdrucker und Buchbinder sind die Berufsstände, die als Bindeglieder zwischen Autor und Leser dem Buchhändler und Verleger die Realisierung ihrer Pläne ermöglichen. Die Arbeitsteilung im Buchwesen, seit der Zeit Gutenbergs geübt, ist freilich von Periode zu Periode verschieden. Das Industriezeitalter hat den Herstellungsbereich zu einem Industriezweig ausgeweitet, dem die Papierindustrie und auch die Investitionsindustrie (Setz-, Druck- und Verarbeitungsmaschinen) zugeordnet sind. In der Geschichte des Buchwesens gibt es diesen Zweig der Industriegeschichte noch nicht. Mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Methoden müßte man die Buchdruckindustrie der Weimarer Republik untersuchen, um zu sehen, daß der Faktor Buch ein wesentlicher Produktionsbereich der Wirtschaft war. Zur Handelsgeschichte dagegen liefern die Darstellungen des Buchhandels und des Buchhändlers Beiträge. Für die zwanziger Jahre ist es aufschlußreich, daß bisher kaum Buchhändlerpersönlichkeiten in das Allgemeinwissen der Buchgeschichte eingegangen sind im Gegensatz zum 19. Jahrhundert. Bekannt ist das Wirken des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in allen Einzelheiten, doch über die Rolle und die kulturellen Aktivitäten der Buchhändler, die vor Ort Bücher verbreiteten, haben wir uns allzuwenig Klarheit verschafft. Man müßte die Buchhandlungen in den großen Städten, aber auch in der Provinz beleuchten und die Situation im Vergleich zu anderen kaufmännischen Berufen
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darstellen. Man wünschte, das Archiv des Börsenvereins in Frankfurt würde die noch überlieferten Quellen des Buchhandels aufnehmen und für die spätere Forschung bereithalten. Die tägliche Arbeit in der Buchhandlung, die Umwandlung des Tresengeschäfts zur Bücherstube sind Vorgänge, die auch die Stellung der Buchhandlung in einer Stadt veränderten. Man hat nach der Beteiligung der Buchhändler am kulturellen und literarischen Leben der Zeit zu fragen. Waren sie avantgardistische Förderer der modernen Dichtung, oder waren sie mehr Hüter der Tradition, lebten sie noch in den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, oder waren sie Wortführer des neuen Geistes? Versuchten sie, das Moderne zu fördern, oder mehr, das Alte zu bewahren? Man sucht nach Antworten. Allein der Versuch, den Anteil der Buchhandlungen an den Tagen des Buches oder am Goethe-Jahr 1932 darzulegen, könnte Aufschlüsse geben über die Mitverantwortung des Buchhändlers an den geistigen Fragen der Zeit. Die Geschichte des Buchhandels läßt sich auch von der Seite der Kunden betrachten. Man könnte die Rolle und das Verhalten der Bücherkäufer untersuchen. Sie bildeten ja keine homogene Schicht mehr. Bis ins 18. Jahrhundert waren allein die Gelehrten, vielleicht auch noch einige Adlige die Kunden der Buchhändler. Mit dem Aufkommen des Bürgertums änderte sich die Lage, und die Käuferschichten wurden breiter. Beamte und Lehrer, Kaufleute und auch Handwerker lasen Bücher zur Vertiefung des Wissens oder auch zur Unterhaltung. Diese bürgerliche Schicht ist seit 1918 nicht mehr allein die tragende Kundenschicht des Buchhandels. Auch die ungelehrten Leute, die Angestellten und Arbeiter, lesen und gehen in die Buchhandlungen oder lassen sich über Buchgemeinschaften Bücher schicken. Diese neue Verbrauchsform ist übrigens ein Signal für die Umschichtung in den Käuferkreisen. Die Untersuchung der Buchgemeinschaften in den zwanziger Jahren könnte über Leseschichten und Leseverhalten neue Aufschlüsse geben. Die Literarische Welt veranstaltete 1926 eine Umfrage über die Veränderungen im deutschen Buchhandel gegenüber der Vorkriegszeit (1926, Nr. 45, S. 11) bei hundert führenden Sortimentsgeschäften. Man stellte fest, daß der Käufer meist an der Novität, dem Bestseller, dem Verkaufsschlager interessiert war und die moderne Literatur lieber als die ältere
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kaufte. Die von vielen Buchhändlern bedauerte Einstellung der Käufer, nur das Neueste zu erwerben, hing zweifellos mit der beginnenden Schnellebigkeit unseres Zeitalters zusammen. Ludwig Ey, der bekannte hannoversche Buchhändler, klagte: „Ein Buch, das heute ein Vierteljahr alt ist, gilt bei dem Publikum schon als veraltet und überlebt. Wenn ein Buch während eines ganzen Jahres geht, so ist das ein Ausnahmefall". Bibliophile Werke gingen so wenig wie Kunstbücher, dagegen bevorzugten die Käufer Abenteuer- und Kriminalgeschichten, auch Biographien vom Schlage Emil Ludwigs. Die Käufer gehörten, so das Ergebnis der Umfrage, vor allem der älteren Generation an. Die Jugend, die im Expressionismus Hauptkunde avantgardistischer Buchhandlungen war, betrat kaum die Buchläden. Die Bücherkäufer als Gegenstand buchgeschichtlicher Untersuchung: man könnte so über den Konsumenten einiges erfahren, dessen Haltung ja heute das allgemeine Bild prägt. Eine Analyse schriftlicher Äußerungen wäre ein Weg, aber auch die Befragung heute noch lebender Buchhändler, die aus ihren Erinnerungen den Kundenkreis ihrer Buchhandlungen charakterisieren könnten, gäben Aufschluß. Vielleicht würde man auf diesem Wege den Bücherkäufer als Leser kennenlernen und so auch mehr über das Lesen in den zwanziger Jahren erfahren. Unter den Käufern gab es damals wie eh und je die Außenseiter, die Idealisten, die Bücherliebhaber, die meist Büchersammler waren. Sie sind Leser und Nichtleser zugleich, vom Inneren der Bücher wie vom äußeren Gewand fasziniert. Nicht unbedingt mit den Leserschichten identisch, bilden sie im Gefüge der am Buch und seiner Verbreitung Beteiligten eine eigene Kaste, die nicht auf neue Bücher ihr Augenmerk richtete, sondern vor allem alten und kostbaren Büchern nachging. Sie waren Freunde und Kunden der Antiquare, denen Bücherleidenschaft zum Beruf geworden war. Es gab große Büchersammler auch in den zwanziger Jahren in Deutschland. Carl Georg von Maaßen und Hans von Müller beispielsweise, bibliophile, skurrile Käuze, legendäre Figuren aus dem Land der Bücher. Es gab auch Schriftsteller, die leidenschaftlich Handschriften und Bücher sammelten, wie zum Beispiel Karl Wolfskehl und Stefan Zweig, Paul Ernst und Hermann Hesse, und es gab solche, denen die Bibliotheken
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Arbeitsinstrumente waren wie früher den Gelehrten. Man könnte an Namen wie Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, an Bertolt Brecht und Walther Benjamin erinnern. Es scheint, als hatten diese Sammler — Goethe sagte, sie seien gluckliche Menschen — eine bedeutende Rolle im kulturellen Leben der zwanziger Jahre gespielt. Sie waren geschätzte und bewunderte Vorbilder fur Viele. Manche dieser Bibliotheken sind nach 1933 zerstreut worden, und mancher Besitzer konnte seine Sammlung, so wie es Walther Mehring in seinem Buch Die verlorene Bibliothek tat, nur aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Viele Buchersammler schlössen sich den bibliophilen Gesellschaften an. Rudolf Alexander Schröder ist dafür ein besonderes Beispiel. Es scheint, Bibliophilie in den zwanziger Jahren ist ein faszinierendes, alles umgreifendes Thema. Es erhellt die Rolle des Buchermarktes ebenso wie die Funktion der Handpressen. Man konnte in der Rekonstruktion dieser Sammlungen den Geist der zwanziger Jahre besser gespiegelt sehen als in den Weihnachtskatalogen und Empfehlungslisten. Beispielsweise vermittelt die Betrachtung der Bibliothek von Kurt Pinthus, einem Wegbereiter des literarischen Expressionismus und Theaterkritiker der zwanziger Jahre, eine vorzugliche Physiognomie der Weimarer Republik. Auch die Untersuchung der öffentlichen Bibliotheken wird zur Aufhellung eines Buchzeitalters beitragen, denn in den Bestanden und in den Aktivitäten der Bibliotheken spiegelt sich ja die Bedeutung und die Aufgabe des Buches in seiner Zeit. Die Bibliothekare sind die Buchersammler ex officio und so auch Kinder ihrer Zeit. Ihr Tun ist abhangig von Zeitgeist und Zeitstromung. In der Geschichte der wissenschaftlichen Bibliotheken war die Periode zwischen 1918 und 1933 die Zeit der Neuorientierung einer konservativen Verwaltung in einer veränderten politischen Welt. Die Landesbibliothek war eine neue Bezeichnung fur die ehemals fürstliche Bibliothek. Verbunden damit war eine neue Aufgabe,nämlich das Sammeln der Literatur eines bestimmten Landes, das Sorgen fur die wissenschaftlichen Leser einer Region, die Forderung von Ausstellungen. Es will scheinen, daß diese Phase, in der die Berliner und Munchener Staatsbibliotheken ohnehin die herausragenden Rollen spielten, auch die aktivste der Landesbibliotheken war. Ihre Zerstörung im zweiten Weltkrieg und ihre
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Vernachlässigung danach hat es bewirkt, daß der Begriff einer Landesbibliothek nie wieder mit dem Leben erfüllt wurde, das diesen Institutionen in der Weimarer Republik zufiel. Aber auch die Rolle der Universitätsbibliotheken nach 1918 wird Aufschluß geben über das Verhältnis zu Staat und Universität. Man mußte eine Antwort suchen auf die Frage, was die Bibliothekare zur Konsolidierung der jungen Republik getan haben. Waren sie überhaupt politisch engagiert, oder blieben sie reaktionär auf dem Boden der Vorkriegszeit stehen? Anders mag die Beurteilung der Volksbuchereien aus den zwanziger Jahren ausfallen. Daß die Bibliothekare, die an ihnen wirkten, von Anfang an auch kulturpolitische Ziele und bildungspolitische Aufgaben verfolgten, liegt ja auf der Hand. Wie dieses Wirken in der Weimarer Republik aussah, bedarf sicherlich sorgsamer Einzeluntersuchungen. Gerade die Volksbuchereien und die im Kreis der Volksbibliothekare vertretenen Ideen und geübten Praktiken sind ein Spiegel fur die politische und kulturelle Lage nach dem ersten Weltkrieg. Wenn man nach dem Lesen und den Lesern in der damaligen Zeit fragt, hat man die Ausleihjournale der Volksbuchereien als Quellen heranzuziehen, denn sie konnten in begrenztem Maße Aufschluß geben über Lektüre und Interesse breiter Bevolkerungsschichten. Man konnte das auch an Hand der Unterlagen von Leihbibliotheken versuchen, die allerdings, im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, schon ein Schattendasein führten. Dennoch ware es interessant zu erfahren, welche Schichten mit welchen Buchern in den Leihbibliotheken versorgt wurden. Das Buch in den zwanziger Jahren: der summarische Überblick zeigt, daß diese Forschungsaufgabe in der Tat viele Aspekte hat und daß mit ihr Fragen und Aufgaben angesprochen werden, die zum Verstandnis der Weimarer Republik und der kulturellen Lage in den zwanziger Jahren von Wichtigkeit sind. Wenn wir abschließend nach dem Neuen fragen, das das Buch in den zwanziger Jahren in seiner Bedeutung und Wirkung von vorangegangenen und auch folgenden Perioden unterscheidet, so sind es doch wohl drei wesentliche Gesichtspunkte, die man, abgesehen von der Fülle der Detailfragen, hervorheben mußte:
30 PaulRaabe 1. Das Buch wird zu einem Unterhaltungsstoff und Bildungsmittel breiter Massen. Das Buch ist nicht mehr allein ein bürgerliches Statussym bol, sondern zugleich greifen alle Bevolkerungsschichten zum Buch. Damit wird in gewissem Sinne die Demokratisierung des Lesens eingeleitet, die dann nach 1945 den Buchermarkt bestimmt Der Kampf um das billige Buch, die Plädoyers fur das broschierte Buch zeigen diese Tendenzen ebenso wie die Proklamation der Dichter und Schriftsteller über Buch und Volk In dieser Öffnung des Buchhandels hegt freilich auch gleichzeitig die Gefahr einer Manipulation, die das Buch zur politischen Waffe extremer politischer Kräfte machen kann. Unter Ausnutzung der Bucherknse konnte so 1933 der Buchmarkt einseitig in Bahnen gelenkt werden, die dem Regime genehm waren. 2. Das Buch wurde in der jungen Republik zu einem kulturpolitischen Faktor Der Tag des Buches zeigt nicht nur das Engagement der Politiker fur das Buch, sondern zugleich das Bestreben aller an der Verbreitung des Buches Mitwirkenden, das Buch als kulturellen Wert zu ver mittein Das Buch soll ein Beitrag zum Aufbau demokratischen Denkens sein. Der Kampf gegen das Schmutz- und Schundgesetz wird zugleich als Kampf fur das gute Buch verstanden Zitieren wir unter diesem Gesichtspunkt den Journalisten Karl Tschuppik, der i926 unter dem provokativen Titel Stiehlt Bucher' m der Literarischen Welt (Nr 46, S 1) schreibt: „Es gibt nur ein einziges Mittel, dem literarischen Machwerk den Weg zu sperren, die Propagierung der guten Literatur. Wie hat der Staat diese Pflicht bisher erfüllt? Meint man wirklich, diese Aufgabe damit zu erschöpfen, daß man ein paar von bürokratischen Drahtverhauen umzäunte Bibliotheken aufrechterhalt, einige armselige Dotationen spendet und sonst nur schone Worte hat fur die Forderung der Volksbildung? In keiner Nation wird mit den Namen der Großen so viel Mißbrauch getrieben und zugleich deren Wort so gänzlich mißachtet, wie unter Deutschen, sonst ware es unmöglich, m einer der wichtigsten Angelegenheiten des Volkes zu so erbärmlichen Auskünften zu greifen, wie es jetzt geschieht. Der Staat, der Soldaten und Bureaukraten besoldet, besinne sich endlich, Bucher zu kaufen, und sie, wo immer, zur Verfugung zu stellen Es muß nicht der schone
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Plan Nietzsches sein, der von einer ,Architektur der Erkennenden' geträumt hat, von den stillen, weitgedehnten Hallengangen, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt, von Bauwerken und An lagen, die auch dem einfachen Mann das Gefühl geben, Gast des Geistes zu sein. Es ist nicht wahr, was Walther Rathenau vom verarmten demokratischen Staat befurchtet hat, daß dessen von der Arbeit zermürbte Sklaven kein Verlangen nach einem Buch haben wurden. Das Gegenteil ist eingetreten; es ist Bedürfnis, Sehnsucht nach Wissen, Belehrung, Unterhaltung, aber es sind nicht die Mittel da, sie zu befriedigen". In der wirtschaftlichen Not wird das Buch umso nachhaltiger als kulturtragendes und kulturforderndes politisches und geistiges Werk gesehen. Die gemeinsamen Bemühungen der Autoren und Buchhändler, der Verleger und Sammler gelten diesen Werten des Buches Weder vorher noch nachher, scheint mir, ist über das Buch als Kulturmacht so viel geschrieben worden. 3. Mit dem Kampf um das gute Buch steht ein letzter Gesichtspunkt in Zusammenhang. Das Buch gerat zum ersten Mal in eine Konkurrenz zu anderen Medien Radio und Kino sind Vermittlungstrager, die in dieser Hinsicht den Unterhaltungsstoff und Bildungsstoff bequemer, schneller und einsichtiger den Interessenten zugänglich machen Die Sorge der Autoren, Verleger und Buchhändler war sicherlich in dieser ungewohnten Situation nicht ganz unbegründet Umso starker mußte also das Engagement fur das Buch sein. Auch andere Freizeitbeschaftigungen wurden zum Einbruch in das Monopol des Buches als Unterhaltungsmoghchkeit breiter Schichten Sportveranstaltungen und Tanzvergnugungen fanden ja nie zuvor so großen Zulauf wie in den zwanziger Jahren Sie entsprachen mehr dem Lebensrhythmus des modernen Menschen als das traditionelle Lesen eines Buches, das Alleinsein mit den Gedanken und der Phantasie eines abwesenden Schriftstellers „Hoffentlich verlernen wir nicht völlig das Lesen im Tempo unserer Gegenwart" heißt es 1927 im Zwiebelfisch (Jg. 20, Heft 3/4, S. 137). Der Herausgeber zitiert ein paar Verse von Herbert Eulenberg
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„Heut', wo man meistens nur vom Boxen spricht, Vom Fußball allenfalls und noch vom Schwimmen, Heut' wird ein Buch mit geistigem Gesicht Nur mühsam über tausend Leser klimmen." ... Die Krise des Lesens ist also ebenfalls ein Novum in der Weimarer Republik. Noch erwies sich das Buch als kräftiger Faktor im Bewußtsein und Handeln des Menschen, noch war es in seiner Bedeutung für die Kultur unerschüttert, noch war die Tradition stärker als die Veränderung in der Gegenwart. Das Buch in den zwanziger Jahren, so läßt sich abschließend feststellen, gerät unter die Bedingungen eines technischen Zeitalters. Es findet als Unterhaltungsstoff und Bildungsgut eine vorher nicht gehoffte Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung. Zugleich bleibt es ein durch Tradition geprägtes Kulturgut. Es wird in der Weimarer Republik als kulturelles Symbol verstanden. Hinter solchen pauschalen Feststellungen verbergen sich Fragen über Fragen. Zum Verständnis unserer heutigen Lage — fünfzig Jahre später — ist es wichtig, die Rolle des Buches gerade in dem öffentlichen und privaten Wirkungsfeld der Weimarer Republik näher zu untersuchen und kennenzulernen. Deshalb ist das Buch in den zwanziger Jahren eine faszinierende, vielschichtige und umfassende Forschungsaufgabe.
Herbert G. Göpfert
Die „Bücherkrise" 1927 bis 1929 Probleme der Literaturvermittlung am Ende der zwanziger Jahre Buchkrise, Bücherkrise: Dieses Wort war Ende der zwanziger Jahre, wohl etwa ab 1925, häufig zu hören, auch im Ausland. Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze, Bücher erscheinen unter diesem Titel, in den jährlichen Registern des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel taucht es regelmäßig auf. Was ist darunter zu verstehen? 1926 beginnt S. Fischer seine Bemerkungen zur Bücherkrise mit den Worten: „Der Buchhandel wird sich in der Geschichte dieser Zeit das Jahr 1926 besonders merken müssen. Es zeigt einen Höhepunkt der Wirtschaftskrise und eine unheimliche Stille auf dem Büchermarkt. Es liegt nahe, die Wirtschaftskrise dafür verantwortlich zu machen. Aus manchen Symptomen darf aber der Schluß gezogen werden, daß das Übel tiefer sitzt." Von einer „Bücherabsatzkrise" schreibt im März 1927 der Wiener Direktor Theodor Bäuerle in den Jungbuchhändler-Briefen, und im selben Jahr, im Dezember, berichtet an der gleichen Stelle Cornelius Bergmann aus Jena (ein Mitarbeiter im Eugen Diederichs Verlag) über eine Arbeitsgemeinschaft in Schlierbach, die sich mit der „wirtschaftlichen und geistigen Bücherkrise" befaßt habe. Am 13. November 1927 äußert sich Kurt Wolff in der Frankfurter Zettung besorgt über den Rückgang des Bücherkaufs, insbesondere, was die nicht ganz brandneuen Bücher betrifft, er sieht darin ein Phänomen, das alle angehe, welche am geistigen Leben der Nation interessiert seien, und Verlagskollegen wie Gustav Kiepenheuer, wiederum S. Fischer u. a. stimmen ihm im Börsenblatt zu. Zudem erscheint im Sommer 1927 im Verlag G. Braun in Karlsruhe eine wirtschaftswissenschaftliche Schrift von Edmund Winterhoff von 108 S. mit dem Titel Die Krisis im deutschen Buchhandel als Folge seiner Kartellierung, die alsbald eine gründliche Diskussion zur Folge hat, vor allem mit Prof. Gerhard Menz, dem Inhaber des Lehrstuhls für Buchhandelsbetriebslehre an der Handelshochschule in Leipzig und
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Hauptschriftleiter des Börsenblatts. Menz setzt sich im Börsenblatt auf mehreren Seiten scharfsinnig mit Winterhoff auseinander; 1928 läßt der Berliner Buchhändler Nitschmann eine eigene Gegenschrift im Verlag der Deutschen Buchhändlergilde in Berlin erscheinen Die Krisis im Deutschen Buchhandel, die jedoch viel weniger sachlich als Winterhoffs Buch und als die Ausführungen von Menz gehalten ist. Ist die Buchkrise also eine Buchabsatzkrise — oder ist sie eine geistige Krise, ist sie eine Krise des Buch h a n d e i s , eine Organisationskrise, oder signalisiert sie, wie S. Fischer am Schluß seiner Bemerkungen schreibt, eine „verminderte Teilnahme für das Buch"? Vor genauerer Betrachtung der Argumente und Fakten, die in den verschiedenen Äußerungen enthalten sind, kurz eine Vorüberlegung. Was kann das Wort Buchkrise, das zuvor wohl nicht benutzt worden ist, eigentlich bedeuten? Das Buch als materielles Gefäß für Immaterielles, das seit dem 10. Jahrhundert für jeden zu einem unentbehrlichen Medium geworden ist, so daß keiner mehr ohne irgendein Buch auskommt, das aber in weiten Kreisen über das Notwendige hinaus zum Erfreulich-Nützlichen, Angenehmen, Erwünschten, Geliebten gehört, das Buch kann in eine Krise doch nur dann kommen, wenn es seine Funktion nicht mehr voll oder befriedigend erfüllt. Das kann der Fall sein, wenn Bücher z. B. für die Interessenten — wegen schlechter Versorgung — nur schwer oder — wegen zu hoher Preise — gar nicht erreichbar sind oder wenn sie wegen schlechter oder unangemessener Ausstattung, der Typographie z.B., ihren Zweck nicht erfüllen und dergleichen, wenn also eine Diskrepanz zwischen dem Buch als materiellem Objekt und seiner Verbreitungsweise einerseits und dem Interessenten andererseits besteht. Eine Buchkrise anderer Art würde bestehen, wenn der Inhalt von Büchern dem Bedürfnis oder der Erwartung der Leser nicht entspräche oder für Leserbedürfnisse überhaupt kein entsprechendes Angebot vorhanden wäre oder wenn nicht genügend oder kein Bedarf für vorhandene Bücher bestünde. Daß Bücherkrisen angesichts der Bedeutung des Mediums Buch auch geistige Krisen bezeichnen können, ist evident, desgleichen, daß sie bei der starken gesellschaftlichen Gebundenheit des Buchwesens vor allem in Zeiten gesellschaftlicher Wandlung auftreten werden. Da Buchhandel ja aber nicht ein Wert für sich ist, sondern seinen Wert stets nur durch
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die Erfüllung seiner Vermittlungsfunktion erhalten kann, müssen wir — und das sollte als fester methodischer Grundsatz gelten — alle den Buch h a n d e l betreffenden Fakten stets unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für die Wirkungsmöglichkeit des Buches selbst untersuchen. Nun zu den Argumenten der Diskussion. Zunächst ein Hinweis auf die Größenordnung der Buchproduktion in jenen Jahren. Für 1927 rechnet man mit rund 31 000 Titeln (ohne Zeitschriften), für 1928 mit ca. 27 800 Titeln, fur 1929 mit ca. 27 000 Titeln. (Dazu würden noch rund 7 000 Zeitschriften kommen.) Zum Vergleich hierzu die Produktionszahl von 1913, also dem letzten Vorkriegsjahr (mit dem noch erheblich größeren Reichsgebiet): 28 000. Die Produktion zeigt also von 1927 bis 1929 eine fallende Tendenz, ist insgesamt aber sehr hoch . Innerhalb dieser Zahlen beläuft sich die B e l l e t r i s t i k auf rund 16 %, das bedeutete für 1927 rund 5 100 Titel; jedoch erlitt die Belletristik einen starken Rückschlag: 1928 wurden nur noch ca. 4 500 Titel registriert, also ca. 11 % weniger als im Jahr zuvor. Wiederum eine Vergleichszahl, diesmal aus neuerer Zeit: seit 1951 betrug der prozentuale Anteil der Belletristik an der Gesamtproduktion in der Bundesrepublik und Westberlin bis 1976 im Durchschnitt etwa 19 %. Winterhoff in seinem Buch bringt einen internationalen Vergleich der Buchproduktion aus dem Jahr 1925. Daraus ergibt sich, daß Großbritannien, die USA, Schweden, Ungarn, Norwegen und die Schweiz z u s a m m e n etwa ebenso viel Titel produziert haben wie Deutschland allein, nämlich etwa 31 600. Natürlich wäre zu fragen, (wie bei allen solchen Statistiken), ob die Berechnungsbasis dieser Zahlen in den verschiedenen Ländern dieselbe ist. Wie das aber auch vielleicht zu modifizieren sein mag: die deutschen Produktionszahlen sind sehr hoch und zweifellos wesentlich höher als in vergleichbaren anderen Ländern. Ü b e r p r o d u k t i o n ist denn auch einhellig das häufigste Stichwort, das uns in unseren Quellen als Symptom der Bücherkrise begegnet, für Kurt Wolff z. B. ist das der Ausgangspunkt dieser Krise überhaupt. Aber: wieso ist — trotz fallender Produktionstendenz — eine Überproduktion in solcher Höhe überhaupt möglich, wenn Bücher offenbar
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nicht genügend gekauft werden? Und: handelt es sich um eine Überproduktion nach Titeln oder nach der tatsächlich hergestellten Büchermenge, die wir infolge der nicht bekannten Auflagenzahlen nicht kennen? Schließlich: was heißt „Überproduktion" überhaupt? Klagen über „Überproduktion" sind uns in der Buchgeschichte seit dem 16. Jahrhundert mit nur geringen Unterbrechungen wohlbekannt. Wann aber gab es je Klagen über „Unterproduktion"? Abgesehen von Kriegs- und ausgesprochenen Mangelzeiten wie etwa bis 1948 sind sie nicht bekannt. Allenfalls in Staaten oder Zeiten mit starker Zensureinwirkung kann über unzureichende Produktion solcher Buchgruppen gesprochen werden, die völliger Zensur unterliegen oder zumindest zahlenmäßig reglementiert werden. Was aber wäre überhaupt „Normalproduktion"? Ein Zustand, in dem alle Bücher innerhalb einer bestimmten Zeit so gut wie ausverkauft wären? Wenn das aber eine Utopie ist: wo liegt dann die Toleranzgrenze? Ist also eine gewisse Überproduktion nicht das Normale, muß sie nicht sogar das Normale sein, und zwar, wie mittlerweile oft genug betont worden ist, um unserer unreglementierten geistigen Freiheit willen? 4 Käme es also mithin darauf an, den Toleranzraum zu bestimmen, den Überproduktion braucht, der aber nicht überschritten werden sollte? Diese Fragen wurden damals nicht gestellt, von niemandem, merkwürdigerweise, vielmehr wurde sogar Produktionsdrosselung verlangt, ja, ausgerechnet ein Verlagsvertreter plädierte für einen zeitweiligen Produktionsstop, dem aber — als dem Wesen geistigen Lebens nicht gemäß — widersprochen wurde. Eng mit dem Phänomen der „Überproduktion" verbunden sieht man die N o v i t ä t e n s u c h t des Publikums, die in diesem Maße offenbar etwas Neues, Ungewohntes war. Immer wieder lesen wir, daß Bücher, die einige Monate alt wären, nicht mehr verkäuflich wären, daß nur nach Neuem gefragt würde — so Kurt Wolff, so Gustav Kiepenheuer, S. Fischer und andere. Ein großer Teil der Produktion lande im Ramsch. „Ehedem" — gemeint ist die Zeit vor 1913, mit der allein ja ein Vergleich möglich ist — hätte man als Sortimenter dem Kunden zuerst die
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älteren Bücher vorgelegt, etwa den Grünen Heinrich oder Jürg Jenatsch, dann erst die neuen, heute sei es umgekehrt. Diese Novitätensucht des Publikums wirke aber auf den Verlag zurück, veranlasse ihn zu immer rascherer permanenter Produktion, so daß das eine Schraube ohne Ende wäre. Genau im gleichen Sinne hatte sich Gustav Küpper, der Chef der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, geäußert: es handle sich um Überproduktion nicht aus Fülle, sondern aus Not. Hierzu später einige Bemerkungen, zunächst die weiteren Gründe, die sich in unseren Quellen für die sogenannte Buchkrise finden. Nicht auseinanderzusetzen brauchen wir uns mit Winterhoffs These, daß die Kartellierung des Buchhandels eine der Hauptursachen der Krise sei, obwohl diese These seinerzeit sehr gründlich diskutiert wurde: Winterhoff wendet sich gegen die seit der Krönerschen Reform von 1889 bestehende Verpflichtung des Buchhandels zur Festsetzung und Einhaltung fester Ladenpreise, weil mit der Einhaltung dieser Verpflichtung allein eine Mitgliedschaft im Börsenverein und eine Belieferung mit Büchern verbunden sei. Von der Aufhebung des festen Ladenpreises und der Abschaffung jener Kartellierung erhoffte sich Winterhoff eine erhebliche Besserung der Situation vom Autor bis zum Käufer. Es liegt auf der Hand, daß die Reduktion einer so komplexen und im wesentlichen zeitgeschichtlich bestimmten Situation auf monokausal gesehene Verbandsorganisationsfragen die Probleme nicht treffen kann, soviel bemerkenswerte Details im Zusammenhang mit dieser Diskussion auch zur Sprache gekommen sind. 6 Daß die allgemeine Wirtschaftslage und die Bücherpreise als Gründe für den als zu gering empfundenen Bücherkauf angeführt wurden, versteht sich. Dabei stellte sich heraus — Ernst Rowohlt etwa und Nitschmann belegen das —, daß die Preise von Büchern seit 1913 viel weniger stark gestiegen waren als die anderer Wirtschaftsgüter, daß aber Gehälter und Löhne n o c h viel weniger gewachsen waren, daß zudem die Inflation alle Resourcen aufgebracht hatte, daß also die Kaufkraft der Bevölkerung ganz erheblich geringer war als vor dem Krieg. Gerade wegen des starken Preisanstiegs der lebenswichtigen Güter sei der Erwerb eines modernen Romans, etwa im Preis von 6 bis 8 Mark, oft dem, für den dieses Buch geschrieben sei, nicht möglich. Das wäre zwar
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ein Krisenzeichen, aber ein zeitbedingtes, nicht ein strukturelles oder substantielles. Neu, verwirrend sind drei andere Phänomene. Das Buch und die Zeit, die man für Bücher hat, haben Konkurrenten bekommen: den Sport, den Film und das Radio. Das sind drei für die zwanziger Jahre typische Erscheinungen, die es vorher nicht oder nicht entfernt in diesem Ausmaß gegeben hat. Natürlich wendet man sich nicht gegen den Sport überhaupt, sondern gegen den „verkrampften" Sport, man empfindet die Massenhypnose, die er auszuüben vermag, als negativ. S. Fischer konstatiert, daß „leider viele große Zeitungen auf Kosten der Buchkritik wie überhaupt des geistigen Lebens den sportlichen Veranstaltungen einen übergroßen Raum" einräumen. Film und Radio werden zwar in unseren Quellen regelmäßig und prononciert genannt, man setzt sich aber nicht genauer mit ihnen auseinander. Der Film mit seiner Spannweite vom süßesten oder sauersten Kitsch bis zum angestrebten Großkunstwerk — die Marbacher AusStellung „Hätte ich nur das Kino" hat uns davon viel vor Augen geführt — ist erstmals sozusagen „Kunst für alle". Und zwar nicht nur dadurch, daß er an vielen Orten gleichzeitig für so viele zugänglich ist, sondern daß er für alle ohne Unterschiede jederzeit, ohne jede äußere Form, freiweg von der Straße her zugänglich ist, und noch dazu für wenig Geld> das Dunkel seiner Räume, die Beliebigkeit des Kommen- und Gehenkönnens sind typische Äquivalenz der modernen anonymen Masse. Das Radiohören hingegen findet normalerweise zu Hause oder im Restaurant statt, hier handelt es sich aber nun um ein wahrhaft omnipräsentes Medium. Zweifellos hat das Radio auch für das Buch, für die Literatur alsbald seine konstruktive Bedeutung — regelmäßig wird im Börsenblatt auf literarische Sendungen hingewiesen —, typisch aber ist die Dauerberieselung mit Musik vor allem — schon Werner Mahrholz vermerkt in unsern Quellen, daß man keine Tasse Tee mehr ohne eine Ouvertüre serviert bekommen könne —, und der typische Radioeffekt ist folglich der einer weitgehenden Nivellierung, man hört so viel, daß man nicht mehr hinhört. Klaus Günther Just ist zuzustimmen, wenn er sagt, daß der durch die neuen Medien Film und Rundfunk, er nennt
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außerdem noch die Schallplatte, mitbedingte „atmosphärische Wandel größer ist als jeder epochale Wandel zuvor". Doch zurück zu jenem Argument der „Novitätensucht", das stets als ein Symptom der Buchkrise genannt wurde. Nur selten bemüht man sich, die Ursachen der.Symptome zu erkunden, meist begnügt man sich — wie auch heute oft — mit rhetorisch getarntem Kulturpessimismus oder stirnrunzelnder Resignation. Zu den wenigen, die tiefer zu dringen versuchen, gehören die Jungbuchhändler, die meist klarer und nüchterner denken als ihr Zieh- und Nährvater Eugen Diederichs. Sie sagen, das „Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage" und was damit zusammen hänge, sei eine Folge „ferner liegender Bedingungen, die weder einem korporativen noch einem individuellen Willensvorgang unterliegen". Sie — und einige andere auch — fragen, ob und welche „Strukturverlagerung" innerhalb unseres Volkes stattgefunden habe. Die Antworten darauf sind unsicher. Zwar läßt sich nachweisen, daß es in Deutschland 3 1/2 Millionen Erwerbstätige mehr als früher gibt, vor allem auch durch die Zunahme der Frauenarbeit, andererseits verdienen 60 % der Steuerpflichtigen, das sind 19 Millionen, nicht mehr als 1 200 Mark im Jahr. Man beobachtet einen starken Absatzrückgang früherer Lieblingswerke — das kann, muß aber nicht soziologische Gründe haben. Heutige Historiker sind der Ansicht, daß das Bürgertum — beim Militär auch z. T. noch der Adel —, also die gesellschaftlich tragenden Schichten der wilhelminischen Zeit weitgehend auch die zwanziger Jahre bestimmten. Ein Buchhändler macht bei der jungen Generation einen Unterschied zwischen den noch von der Jugendbewegung berührten und von ihr nicht mehr beeinflußten Jugendlichen: die einen seien stärker an Problemliteratur interessiert als die anderen. Das Wort „Problemliteratur" scheint — auch bei den Jungbuchhändlern — eher negativ als positiv besetzt zu sein, sie habe, wie Goethe schon gesagt habe, nur eine kleine Gemeinde. 1 0 Deutlich ist der Ruf nach Schriftstellern, die einen Weg aus den „entwurzelten Verhältnissen" wiesen, die der „entgeistigten Haltung der breiten Kreise dem Leben gegenüber" entgegenwirkten. S. Fischer jedoch bezeichnet „das neue Buch" — das literarische — „als ein Ereignis", das der Öffentlichkeit „in seinem ganzen Gewicht" erst zum Bewußtsein gebracht werden müsse.
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Was er darunter genau versteht, ist leider nicht auszumachen, vielleicht hat er Autoren der sogenannten „Neuen Sachlichkeit" im Sinn, deren Hauptwerke freilich erst etwas später erschienen, etwa Döblin, dessen Roman Berge, Meere und Giganten 1924 herausgekommen war. So gibt es also Kreise, die die Buchkrise nicht nur mechanistisch aus der Überproduktion oder organisatorisch von der Kartellierung des Buchhandels her erklären, sondern — freilich mehr dumpf als klar — aus gesellschaftlichen wie geistigen Wandlungen. Auf einer Freizeit im Winter 1926/27 haben Jungbuchhändler, wie Eugen Diederichs schreibt, Thesen formuliert, von denen eine so lautet: „Der Mensch als Buchbebedarfträger steht nicht isoliert, sondern in vielerlei Sozialverbänden. Aufgabe des Buchhandels im Sinne der von echtem Ethos getragenen Anpassung ist daher entweder Dienst am Zweck eines Sozialverbandes oder Organisation eines eigenen Sozialverbandes, der rein am Buch orientiert wäre: gewissermaßen eine Büchergemeinde". Hier wird, recht unbeholfen zwar, eine Beobachtung ausgesprochen, die auch von andern, Pädagogen und Bibliothekaren, geäußert wird, daß die soziale Gruppenbindung des Lesers oft stärker zu spüren sei als seine Individualität. Waren Verleger wie S. Fischer, der vor allem die „Amerikanisierung" unseres Lebens — so damals! — mit Sorge betrachtete, und der von ihm so verschiedene Diederichs von einer Krise des Buches überzeugt, so gibt es auch zweifelnde Stimmen. Der Wiener Unterrichtsminister Schmitz hielt es — 1929 — für vorzeitig und übertrieben, von einer Buchkrise zu sprechen, und ebenfalls 1929 fragte Willy Haas in der Literarischen Welt: „Gibt es eine Buchkrise? ", ja, er reiste mit dieser Frage nach Leipzig zu Reclam, Felix Meiner, E. A. Seemann, dem Insel-Verlag, Paul List — man klagte zwar hier und da etwas, aber nirgendwo wollte man von einer Buchkrise etwas wissen. War das verlegerischer Zweckoptimismus oder Wahrheit? Oder steckt hinter der Auswahl der befragten Verlage eine List des literaturbesessenen Willy Haas? Von den Leipziger Verlagen ist Reclam allenfalls mit dem Absatz seiner modernen deutschen Autoren nicht ganz zufrieden — aber Verlage, die vor allem zeitgenössische deutsche Literatur brachten, etwa die entsprechenden Berliner Firmen, hat Willy Haas nicht befragt. Immerhin: von einer
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generellen Buchkrise kann wohl kaum gesprochen werden, sondern von einer partiellen und natürlich von einer durchgehenden Verarmung oder Beengung gerade der an Büchern besonders interessierten Schichten, zu denen die damals fast ohne öffentliche Unterstützungen lebenden Studenten gehörten. Für diese Kreise aber sowie für die „neu aufsteigenden Schichten", wie man sie nannte, wurden zwei Wege der Versorgung mit Literatur gefunden, die zwar beide nicht neu, aber in dem nun praktizierten Umfang ungewohnt und für viele schockierend waren: Buchgemeinschaften und billige Volksausgaben. Die Geschichte der Buchgemeinschaften ist noch nicht genau erforscht, 1 3 feststeht, daß sie bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückgeht, daß die Buchgemeinschaften in den 20er Jahren einen ras chen Aufstieg nahmen und eine große Verbreitung fanden. Etwa 8 bis 10 Buchgemeinschaften existierten; zwei weltanschaulich neutrale: der Volksverband der Bücherfreunde und die neugegründete Deutsche Buchgemeinschaft, letztere auf eindeutig kommerzieller Basis, waren die größten, dazu kam die von der Gewerkschaft Druck gegründete Büchergilde Gutenberg, dazu kamen noch einige kleinere, meist konfessionell oder politisch bestimmte. Für alle, wohl mit einer Ausnahme, galt Direktversand der Bücher an die Mitglieder, gab es keine Zusammenarbeit mit dem Buchhandel, alle hatten niedrige Einheitspreise für ihre Bücher, aber qualitativ erstaunlich gute und anspruchsvolle Programme, die Mitglieder mußten eine Anzahl von Pflichtbänden abnehmen, hatten anfangs meist keine Wahlmöglichkeit unter verschiedenen Büchern, später war Wahl möglich, aber die Angebote der Buchgemeinschaften waren im Vergleich zu heute schmal. Angeboten wurden moderne und klassische Literatur, nicht selten auch Originalausgaben. Die Mitgliederzahl schätzt man für 1928/29 auf etwa 800 bis 900 000. 1 4 Von den professionellen Literaten wurden die Buchgemeinschaften zunächst wohl etwas geringschätzig behandelt, die Mitglieder seien „kleine Leute", Hochschulbildung hätten sie höchst selten — was gewiß nicht stimmte —, sie seien kleine Beamte, kaufmännische u. a. Angestellte, besser gestellte Arbeiter, aber sie seien alle echte Leser. So Julius Bab, 1 5 er vermißte übrigens bei diesen kapitalistischen Unternehmungen, daß die Mitglieder ein Mitspracherecht bei der Produktion hätten. Der offizielle Buch-
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handel reagiert zunächst — wie so häufig bei Neuerungen — scharf negativ, es kommt zu Prozessen, die aber fast alle mit Vergleichen beendet werden müssen — man arrangiert sich , man erkennt die Bedeutung der Buchgemeinschaften n e b e n dem herkömmlichen Buchhandel und Verlag an und erkennt, daß sie dessen Funktion nicht ersetzen können und wollen. Die zweite Sensation, die vielen billigen Volksausgaben, mit denen vor allem der Knaur-Verlag sich rasch vorgearbeitet hatte, scheint zunächst in K ä u f e r kreisen einige Verwirrung gestiftet zu haben, weil dem Laien für den Preisvergleich von 2,85 Mark für die in Leinen gebundene Volksausgabe und etwa 15 Mark für die bisherige Originalausgabe die nötigen Fachkenntnisse fehlten. Knaur und andere Verlage, die eine große Serienproduktion hochwertiger und weniger anspruchsvoller, literarischer und nichtliterarischer Werke, zum Teil auch in billigen Ganzlederausgaben aufbauten, mußten sich harte Kritik gefallen lassen: hoher Umsatz mit vielen einzelnen Büchern bedeute keine angemessene Rendite fürs Sortiment, der Käufer werde verunsichert, die notwendig teurere moderne Literatur werde in der Verbreitung, ja in der Existenz gefährdet — aber die Volksausgaben blieben bestehen, und ein besonders großer Erfolg wurde dann die 2,8 5 -M- Ausgab e der Buddenbrooks bei S. Fischer. Wandten sich diese Ausgaben meist an anspruchsvolle, aber nicht gerade begüterte Leser, so stellt sich die Frage, was denn in dieser Zeit anspruchslose Unterhaltungsliteratur für breitere Kreise kosten durfte. Natürlich wäre die Frage nur auf Grund zahlreicher Preisvergleiche der entsprechenden Literatur zu beantworten. Daß hier aber Überraschungen möglich sind, zeigt folgendes Beispiel. Im Februar 1927 wurden Sortiment und Presse durch Anzeigen im Börsenblatt zur Beachtung des sechzigsten Geburtstages der Hedwig Courth-Mahler aufgerufen: intensive, breite Öffentlichkeitswerbung wird angekündigt, die gangbarsten Romane (also Wenn Wünsche töten könnten usw.) würden vorliegen, und zwar sowohl broschiert wie in Leinen wie in Seide wie in Ganzleder: „flexibel, mit gespannten Deckeln, mit Goldschnitt, mit Rückenaufdruck und Faksimile auf dem vorderen Deckel in echt Gold". Diese Bände kosten b r o s c h i e r t nicht etwa 2,85 Mark
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oder, wie man annehmen könnte, noch weniger, sondern viel mehr: broschiert 3,50 Mark, in Leinen 5 Mark, in Seide 6 Mark und in Ganzleder 7 Mark — ein literatursoziologisches Kuriosum in der Zeit der „Buchkrise". — Keineswegs erschöpft sich der Buchhandel aber in Protest oder Resignation. Vielmehr versucht man auch, die sogenannte Buchkrise als neue, veränderte Situation zu erkennen, ihre Ursachen zu analysieren und ihr zu begegnen. Intensiv befassen sich die Jungbuchhändler mit dem Problem. Sie werden unterstützt u. a. durch Prof. Gerhard Menz, der in seinen Seminaren in Leipzig und in Diplomarbeiten und Dissertationen wissenschaftliche Grundlagenforschung zu betreiben beginnt, und zwar vor allem in Hinblick auf Käufer- und Leserverhalten. Derartiges geschieht für den deutschen Buchhandel erstmalig. Es finden sich weitere Ansätze zu einer empirischen Leserforschung, z. B. auf volksbibliothekarischer Seite von Walter Hofmann in Leipzig; Horst Kliemann, Vertriebsdirektor des Verlages R. Oldenbourg, der von Diederichs herkommt, veröffentlich 1928 ein Buch Wie und wo erfasse ich Käuferschichten?, auch erste offizielle Repräsentativuntersuchungen über Ausgaben bestimmter Bevölkerungsschichten für kulturelle Zwecke 1 ft
werden unternommen. Es kam -» wohl ebenfalls erstmals — zu einer Zusammenarbeit von Buchhandel und Volksbüchereien, der Jungbuchhandel erreichte eine intensivere, zeitnähere Aus- und vor allem Weiterbildung als bisher, 1928 wurde im Börsenverein eine satzungsmäßige „Reorganisation" durchgeführt. Und es kam schließlich — ebenfalls erstmals — zu einer bewußten Öffentlichkeitsarbeit, nun nicht für den Buchhandel, sondern für Buch und Lesen insgesamt. Diese Öffentlichkeitsarbeit erreichte ihren ersten großen Erfolg in dem gemeinsam vom Börsenverein und dem Reichsverband des deutschen Schrifttums, dem Dachverband der Schriftstellerverbände, betriebenen Plan eines Tages des Buches. Der erste Tag des Buches wurde von der Reichsregierung und einem großen Teil der öffentlichen kulturellen Repräsentanz auf den 22. März 1929 (Goethes Todestag) testgelegt und dann unter Beteiligung von nicht weniger als 72 Verbänden, darunter auch Sportverbänden, im gesamten Reichsgebiet durchgeführt. Die Gestaltung dieses Tages war in den einzelnen Orten recht unterschiedlich, die Spielarten reichten
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vom ausgesprochen feierlichen Festakt bis zum Büchersignieren von Autoren auf der Straße. Bei aller besten idealistischen Absicht der staatlichen Stellen, die die Veranstaltungen dieses Tages ohne politische Tendenz durchführten, wurde doch gerade hier die politische Zerrissenheit und geistige Divergenz der Weimarer Republik bedrängend deutlich, am deutlichsten bei den großen Berliner Veranstaltungen, bei denen in dem offiziellen Festakt im Reichstag für die deutschen Schriftsteller und Dichter ausgerechnet Leo Weismantel und Walter von Molo, tags darauf in einer thematisch enger begrenzten Veranstaltung in der Singakademie außer Verlegern, Kritikern, Bibliothekaren jedoch Alfred Döblin sprachen. Aber diese Veranstaltungen in Berlin wie im Reich verdienten ihre eigene genaue Darstellung, sie würde tief in jene Zeit und damit in unsere Geschichte hineinführen.
Dieses Referat kann nur einige Aspekte aufzeigen, keinesfalls mehr, die Hauptarbeit bleibt noch zu tun. Als Quellen wurden vor allem benutzt: Das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1927 bis 1929, die Jungbuchhändlerrundbriefe 1927 bis 1929, Die literarische Welt 1929. Natürlich ließe sich der Quellenbereich erweitern. — Die Ergiebigkeit des Börsenblattes als literarhistorischer Quelle wurde wiederum evident. — S. Fischers Bemerkungen ... nach: In memoriam S. Fischer. Frankfurt/Main 1960. — Als Vorarbeit ist nützlich: Hanns-Rainer Strobl: Die „Bücherkrise" in den Jahren 1927 bis 1929. (Untersucht auf Grund von Edmund Winterhoff, Die Krisis des deutschen Buchhandels und einschlägiger publizistischer Diskussionen). (Magisterarbeit München 1975). — Winterhoff erneuerte sozusagen den „Bücherstreit" (Karl Bücher: Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft, Leipzig 1903): s. die bibliographischen Angaben bei Horst Kliemann/Peter Meyer-Dohm: Buchhandel. Eine Bibliographie. Gütersloh 1963, S. 98-102 und: Hans Widmann, Geschichte des Buchhandels..., Teil I. Wiesbaden 1965, S. 141-143. Wolfgang Strauß in: Lesen und Leben... hrsg. v. H. G. Göpfert, L. Muth, R. Meyer, W. Rüegg. Frankfurt/Main 1975, S. 333. Nach: H. Widmann, a. a. O. (Anm. 1), S. 174 ff. und „Buch und Buchhandel in Zahlen", Frankfurt/Main, seit 1952 jährlich. Winterhoff nennt in diesem Zusammenhang einige erstaunliche Zahlen: Scheffels Eckehart erschien nach Ende der Schutzfrist (1917) in 33 verschiedenen Ausgaben, Storms Immensee (seit 1919) in 29, Kellers Romeo und Julia auf dem Dorf e (seit 1921) in 23 Ausgaben — bis zum Erscheinen von Winterhoffs Buch 1927 gerechnet.
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Siehe Widmann, a. a. O. (Anm. 1), S. 135 f., 139 f. Eine Darstellung des Problems des festen Ladenpreises ist hier nicht möglich; s. hierzu Widmann, a. a. O. die im Register genannten Seiten. Außerdem: Reinhard Wittmann: Streifzüge zur Geschichte des festen Ladenpreises für Bücher. In: Buchhandelsgeschichte 9 (Beilage zum Börsenblatt f. d. Deutschen Buchhandel — Frankfurter Ausgabe — Nr. 73, vom 10. Sept. 1976), S. B. 385-392. Vgl. Verfasser: Vom Autor zum Leser. München 1977. S. 141. So der Titel des Katalogs des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 1976. Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart, Bern 1973, S. 388. Bevorzugte Autoren des mittleren Bürgertums in jener Zeit waren z. B. Paul Schreckenbach, Paul Keller, Rudolf Stratz, Walter Bloem. Als „Neues Buch" empfinden wir heute Berlin Alexanderplatz, 1929 erschienen. Daß nicht eine Person, wie in sonstigen Berliner Romanen, sondern eine topographische Bezeichnung den Titel abgab, war ungewöhnlich, und zudem daß das nicht etwa die Linden oder die Friedrichstraße, sondern der Osten, die Arbeitergegend war. Nach der Absicht des Autors sollte das Buch überhaupt nur diesen Titel tragen. Der Untertitel Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist erst auf ausdrücklichen Wunsch von S. Fischer hinzugekommen (vgl. Peter de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt/Main 1970, S. 1175 f.). S. Börsenblatt 1927, Nr. 106, S. 560. S. Widmann, a. a. O. S. 251, 256 ff. Außerdem: Michael Bühnemann und Thomas Friedrich: Zur Geschichte der Buchgemeinschaften der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. In: Wem gehört die Welt — Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik. Berlin 1977, S. 364-397. S. Widmann, a. a. O. S. 257. Die Zahl dürfte wohl zu niedrig angesetzt sein. Für 1940 schätzt Widmann etwa 1,7 Millionen Mitglieder, was eine ganz enorme Steigerung bedeuten würde. Literarische Welt. 5 (1929), S. 372-374. Vgl. Gottfried Bermann Fischer: Bedroht - Bewahrt. Frankfurt/Main 1967, S. 65—71. — In zwei Monaten wurden 700 000 Exemplare verkauft, „eine Million Exemplare wurde (insgesamt) weit überschritten". Über die Lehrveranstaltungen von Gerhard Menz in Leipzig und die von ihm bearbeiteten und zur Bearbeitung vergebenen Themen s. die beiden Beiträge von Friedrich Uhlig. In: Buchhandel und Wissenschaft, hrsg. von Friedrich Uhlig. Gütersloh 1965, S. 31-72 (= Schriften zur Buchmarkt-Forschung. 5). Vgl. hierzu Gerhard Menz: Kulturwirtschaft. Leipzig 1933, S. 253, 255.
Hans Peter Willberg
Zut Situation der Buch- und Schriftkunst in den zwanziger Jahren
Im Gegensatz zur Situation des Buchhandels kann die Situation der Buchkunst der zwanziger Jahre im Wesentlichen als erforscht gelten. In der Fachliteratur sind alle wichtigen Daten und Hinweise zu finden, die Aufschluß über die erste Blütezeit der Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert geben. Statt einer Bestandsaufnahme kann deshalb der Versuch einer Würdigung aus der Sicht eines Buchgestalters, der jene Zeit nicht miterlebt hat, unternommen werden. Die Blütezeit war nicht eine Periode des Aufbruchs, sondern der Ernte. Was mit den „zwanziger Jahren" bezeichnet wird, beginnt bereits vor dem ersten Weltkrieg und endet mit dem Dritten Reich. Die Blüte ist auch kein eigenes Produkt der deutschen Kultur, sondern importiert. Der Ort des Aufbruchs ist Hammersmith (London), die Zeit des Aufbruchs ist das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Die Zusammenhänge sind vielerorts ausführlich beschrieben, deshalb kann hier ein stichwortartiger Überblick genügen. William Morris gründet 1889 die Kelmscott-Press. Sein Ziel ist die Erneuerung der Buchkunst; seine Arbeitsweise ist streng handwerklich, gegen industrielle Massenfertigung gerichtet; sein Vorbild sind die Handschriften des späten Mittelalters und die Drucke der Renaissance; sein Ergebnis sind prächtige, kostbare Drucke, üppig geschmückt und illustriert. In engstem Zusammenhang mit der Kelmscott-Press steht die DovesPress von Thomas James Cobden-Sanderson und Emery Walker. Sie hat die gleiche handwerkliche Zielsetzung, ihr Ideal ist aber eine strengere Form des Buches, die vor allem auf die Wirkung von Material, Schrift und Typographie gestützt ist. Wesentlichen Anteil an der Erneuerung der Buchkunst hat die Erneuerung der Schriftkunst. Der Schriftschneider Edward Prince versucht unter Anleitung von Morris die Schriften der Renaissance neu zu schaffen;
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der Arzt Edward Johnston, ebenfalls von Morris angeregt und befruchtet, erforscht die Kunst des Schriftschreibens. Er wirkt bald schulbildend über England hinaus, vor allem auch in Deutschland. Natürlich gab es auch an anderen Orten Ansätze und Bemühungen, dem Verfall der Schriftkunst und Buchkunst entgegenzusteuern, wie in Wien Rudolf von Larischs Schreibschule oder die „Münchner Renaissance" von Otto von Hupp. Aber die eigentlich dauerhaft wirksamen Einflüsse gehen von England aus. In Deutschland besteht eine große Aufgeschlossenheit für die neuen Ideen. Die Daten der Pressengründungen beweisen das: 1907 Janus-Presse in Leipzig (C. E. Poeschel und Walter Tiemann), 1907 ErnstLudwig Presse in Darmstadt (F. W. Kleukens), 1907 Cranach-Presse (Harry Graf Kessler), 1909 „Drucke für die Hundert" in München (Hans von Weber), 1911 Bremer Presse (Willi Wiegand), 1911 Die Rudolfinischen Drucke in Offenbach (Rudolf Koch), 1914 Ruprecht-Presse in München (F. H. Ehmcke, der schon um 1900 mit F. W. Kleukens und Georg Belwe zusammen die Steglitzer Werkstatt gegründet hatte), 1921 Juniperus-Presse in Stuttgart (F. H. Ernst Schneidler). 1932 arbeiteten in Deutschland 32 Privatpressen. Die Pressenbewegung ist nicht der einzige Träger der „Neuen deutschen Buchkunst", daneben sind es einige Verlage (vorab der Insel-Verlag in Leipzig), Druckereien (vor allem Poeschel und Trepte, Haag Drugulin, Spamersche, Leipzig), Schriftgießereien (Georg Hartmann mit der Bauerschen Gießerei in Frankfurt am Main, Gebr. Klingspor in Offenbach), die bibliophilen Gesellschaften (Maximilian-Gesellschaft, Berlin Gesellschaft der Bibliophilen in Weimar u. a.) und einige Kunstgewerbeschulen, die buchkünstlerisch aktiv sind. Die beiden großen Ausstellungen, die Bugra 1914 und die iba 1927 in Leipzig sind Signale aller dieser Bemühungen. Die Neue Deutsche Buchkunst ist in ihren Anfängen, die wie bei Morris vom Kampf gegen den vertrockneten Historismus des 19. Jahrhunderts bestimmt sind, noch stark vom Jugendstil beeinflußt. Doch setzt sich bald, vor allem durch den Einfluß der Ideen des Werkbundes, eine gegen den Subjektivismus des Jugendstils gerichtete Haltung allgemein durch. Vermittler sind Schlüsselfiguren wie Behrens, Ehmcke und auch C. E.
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Poeschel. Auch die Ideen des Werkbundes haben viel mit der ErneuerungsBewegung zu tun, die mit Morris begann. „Der Gehalt bestimmt die Gestalt" heißt es beim Werkbund. „Das Gesicht eines Buches wird wesentlich von seinem Inhalt bestimmt" hat Morris gesagt. Den englischen Einfluß darf man sich nicht allgemein und verschwommen als ungreifbare Verbreitung einer Idee, die in der Luft liegt, vorstellen. Er beruht auf direkten Kontakten. So versucht Peter Behrens, der große Anreger und Vermittler, Edward Johnston an die Kunstgewerbeschule nach Düsseldorf zu holen. Der Plan gelingt nicht, doch kommt statt dessen die bedeutende Jonston-Schülerin Anna Simons, die zunächst in Düsseldorf, später in München als Lehrerin und durch die Vorbilder ihrer Titelseiten und Initialen für die Bremer Presse Johnstons Einsichten verbreitet. C. E. Poeschel erwarb seinerseits grundsätzliche Anregungen und Einsichten bei seiner England-Reise im Jahre 1904, vor allem durch Emery Walker, den Mitarbeiter von William Morris und CobdenSanderson. Die Bindung der Neuen Deutschen Buchkunst an England war intensiv und direkt. Der bestimmende Einfluß ging vor allem von Cobden-Sandersons Doves-Press aus. Ein kurzer Abriß der zwanziger Jahre kann die Entwicklung der Buchkunst nicht in allen Facetten schildern. Doch sind alle genannten Institutionen mehr oder weniger mit den gleichen Namen verbunden oder, durch die Wahl ihrer Mitarbeiter, voneinander getrennt. Im Rückblick kann man durchaus von „Schulen" sprechen, die sich herauskristallisierten. Schulen im eigentlichen Sinn der Lehranstalt, wie Schulen der Arbeitsweise und der künstlerischen Auffassung. Die Schul-Begriffe sind an die Namen der dominierenden Buchkünstler und zugleich an den Ort ihrer Wirksamkeit geknüpft. Man kann sich also an einige Namen und Orte halten, um Übersicht zu gewinnen. Dabei können nur die herausragendsten, typischsten und folgenreichsten Einflüsse genannt werden. Nicht in diesem Sinne schulbildend wirkte F. H. Ehmcke, trotz seines großen Einflusses und trotz der großen Zahl bedeutender Schüler, die er an den verschiedenen Stätten seiner Arbeit unterwies. Er ist eher eine Schlüsselfigur, Anreger, Vermittler, Förderer. Ehmckes Schule hat nichts Doktrinäres, sie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie bedeutende Buchkünstler hervorbringt, die ganz unterschiedlich arbeiten, denen man keine
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stilistische Gemeinsamkeit ansieht, wie F. H. Ernst Schneidler, Rudo Spemann, Karl Rössing. Emil Rudolf Weiß war nicht als Lehrer an einer Kunstschule tätig. (Auch er war übrigens, wie auch Ehmcke, von Anna Simons unterrichtet worden.) Durch die Drucke der Mareés-Gesellschaft, die Zusammenarbeit mit wichtigen Verlagen (Insel, Diederichs, Georg-Müller und vielen anderen) und durch die Ausstattung der Tempel-Klassiker wirkte er jedoch in einem Maße prägend auf seine Epoche ein, daß man durchaus von einer E. R. Weiß-„Schule" sprechen kann, die — bei aller Verschiedenartigkeit der einzelnen Arbeiten, — auf den ersten Blick zu erkennen ist. Sein Werk trägt wesentlich zur Überwindung des Jugendstils bei. Das Problem aller deutschen Buchkünstler, die Zweischriftigkeit, bewältigt er durch die ausdrückliche Individualisierung jeder einzelnen Arbeit. Er trägt diesen Zwiespalt im eigenen Werk aus, und zugleich den Zwiespalt zwischen Subjektivität und Klassizität. Er, der„Eigenbrödler vonDachau", strebt äußerste Individualisierung an, ohne dabei je die strenge, buchgerechte Form zu sprengen, wie es die Buchkünstler des Jugendstil getan hatten. Seine Weiß-Antiqua gehört zu den zeitlosen Schriften, sie gehört zu den ganz wenigen Schrift-Entwürfen der zwanziger Jahre, die noch heute lebendig sind, sie wird demnächst auch im Fotosatz zu haben sein. Sein Individualismus ist nicht mit gewollter Subjektivität, nicht mit der marktgerechten Pflege der „eigenen Handschrift" zu verwechseln. Nicht der Buchkünstler E. R. Weiß (der sich übrigens vor allem als Maler verstand) ist Ziel der von ihm geforderten „äußersten Individualisierung", sondern der Charakter, der Inhalt jeder einzelnen Buch-Aufgabe. Darin ist er Walter Tiemann und seiner Leipziger Schule verwandt. Auch Tiemann ist vielen Verlagen und einer wichtigen Schriftgießerei (Klingspor) tätig verbunden und wirkt so als schulbildendes Vorbild in die Breite. Vor allem ist er aber Lehrer. Seit 1903 unterrichtet er an der Leipziger Akademie, 1920 übernimmt er deren Präsidentschaft. Nobel, zurückhaltend, distanziert, sachlich, das sind Begriffe, die Tiemanns Person, sein Werk wie die Art seines Unterrichts kennzeichnen. Auch der Begriff „funktionalistisch" würde treffen, wenn er nicht besetzt wäre. Das schließt Reichtum der gestalterischen Mittel, Differenziertheit, Vielfalt der Möglichkeiten nicht aus. Aber alle Vielfalt, aller Reichtum ist
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bei Tiemann immer gebändigt, immer dem intimen Charakter des Mediums Buch entsprechend gefaßt, kurz: klassisch. Auch Tiemann bewältigt das Problem der Zweischriftigkeit im eigenen Werk. Er entwirft Schriften beider Gattungen, Antiqua und Fraktur, die in ihrer Durchformung als zeitlos gelten können, auch wenn sie heute nicht mehr zur Verfügung stehen. Tiemanns Schule war — darin fast allen Schulen der Zeit gleich — eine Schule der Schrift, bei ihm speziell des Schriftzeichnens, nicht des Schriftschreibens. Der Umgang mit vorhandenen Satzschriften, die Typographie, stand im Hintergrund bei seinem Unterricht. Hier wirkte ergänzend die Tätigkeit C. E. Poeschels. Man kann nicht von Tiemann, von der Leipziger Schule, man kann nicht von der Neuen Deutschen Buchkunst sprechen, ohne von C. E. Poeschel zu sprechen. Bei zahllosen Vorhaben steht er als Helfer, als Drucker, als Ratgeber im Hintergrund, bei technischen, gestalterischen, organisatorischen und verlegerischen Plänen. Nicht als die Figur des Meisters, der eine Schülerschar um sich sammelt, sondern als kluger, auf die Sache konzentrierter Förderer. Auch er eine Schlüsselfigur. Als Buchkünstler arbeitet er mit noch sparsameren Mitteln als Tiemann, noch mehr auf „reine" Typographie ausgerichtet, ohne viele Ornamente und Vignetten, ganz der Funktion, der Lesbarkeit des Textes verpflichtet. Poeschel und Tiemann stehen für den Begriff „Leipzig". Der englische Ansatz ist bei ihnen verarbeitet, der deutschen Tradition und SchriftSituation angepaßt. Durch die enge Zusammenarbeit von „Leipzig" mit bedeutenden kommerziellen Verlagen dringen die bei elitären Pressendrucken erprobten Stilmittel und gewonnenen Erfahrungen in die Massenproduktion ein. Erst diese weite Verbreitung erlaubt es, von einer allgemeinen Blüte der Buchkunst in den zwanziger Jahren zu sprechen. Im Gegensatz zu „Leipzig" steht „Offenbach". Dort wirkt seit 1908 Rudolf Koch als Schreiber und Lehrer. Auch Rudolf Koch hat Generationen von Schülern ausgebildet, doch nicht im Sinne einer ausgewogenen, distanzierten Unterweisung in der Schrift- und Buchkunst, sondern in einer innig aufeinanderbezogenen Werkstattgemeinschaft. Koch wollte in dieser Gemeinschaft nur einer von vielen Mitarbeitern sein, aber die Intensität und Ausstrahlung seines Lebens und Schaffens ließ ihn so stark dominieren, daß man seine Schüler und Anhänger geradezu als Jün-
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gerschaft bezeichnen kann, die bis heute, bis ins Alter seiner früheren Schüler anhält. Für die Offenbacher Schule ist Schrift und Typographie nicht Mittel zum Zweck der Mitteilung, sondern Mittel zum Zweck des Ausdrucks, der subjektiven persönlichen Aussage. Nicht das Schriftzeichnen steht im Mittelpunkt, sondern das Schriftschreiben. Nicht die gepflegte, immer aufs Neue überarbeitete Form des Buchstabens und des Wortes wird in Offenbach angestrebt, sondern das spontan und kraftvoll hingesetzte Schriftbild, oft ruppig und scheinbar zufällig, immer ausdrucksgeladen. Träger des Ausdrucks ist vor allem die Fraktur. Nicht in ihren späten, verfeinerten und kultivierten Formen, wie bei Tiemann und Schneidler, sondern durchs Schreiben vereinfacht, zusammengedrängt, subjektiviert, handfest. Rudolf Koch versuchte, diesen spontanen, kräftigen, handwerklichen Umgang mit der Schriftform auch auf die Satzschriften zu übertragen, bei einigen sogar, indem er selbst die Funktion des Schriftschneiders übernahm. Diese, ebenfalls bei den Gebr. Klingspor herausgebrachten Schriften, hatten großen Erfolg im Akzidenz-Bereich. Als Werkschriften konnten sie nur bei speziellen Themen (wie bei Bibelausgaben und bei Gesangbüchern) und bei Liebhaberausgaben eingesetzt werden — im Gegensatz zu den Schriften von Tiemann, Schneidler und E. R.Weiß. Die stilbildende Breitenwirkung der Offenbacher Schule war dennoch außerordentlich groß. Der dritte wichtige Ort einer Schule der Schrift- und Buchkunst ist Stuttgart. Dort lehrt seit 1921 F. H. Ernst Schneidler. Die Stuttgarter Schule sucht nicht im Leipziger Sinne zu klären und zu kultivieren. Hier wird experimentiert, Neuland gesucht, unsicherer Boden betreten. „Anfangen, anfangen, anfangen" ist Schneidlers Devise. Bei den unzähligen Studien, den unendlich variierten Schriftzügen, Buchstabenkombinationen und wie Bilder komponierten Schriftblättern ist Schneidler mit seinen Schülern auf der Suche nach der Form, die durch die eigene Spannung lebt und spricht, (im Gegensatz zu Rudolf Koch, der auf der Suche nach dem formalen Ausdruck ist, der einer inhaltlichen Aussage gerecht wird). Auch Schneidler geht zunächst vom Schreiben aus, auch er versucht die Direktheit des Schreibens in der Satzschrift zu erhalten. Aber während Koch den direkten Weg wählt und selbst zum Stempelschneider
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wird, der die technischen Unvollkommenheiten als Stilmittel einsetzt, der die Werkspuren ganz bewußt erhält, überarbeitet Schneidler in engster Zusammenarbeit mit den Fachleuten der Schriftgießereien, vor allem der Bauerschen Gießerei, immer aufs Neue die Buchstabenform, bis sie die Geklärtheit einer klassischen Schrift haben und doch die Geschmeidigkeit des Geschriebenen behalten. Auch bei den Schriften, die nicht unmittelbar von der geschriebenen Form abstammen — Schriftschreiben und Schriftzeichnen sind in Stuttgart gleichbedeutend — bleibt diese Sensibilität des Schreibens in der geprägten und gegossenen Schrift erhalten. Schneidler ist wie Tiemann „zweischriftig". Fraktur wie Antiqua sind ihm gleichermaßen vertraut. Die „Experimente" der Stuttgarter Schule sind intensiv, nicht extensiv; spielerisch, virtuos, nicht handwerklich-bieder und auch nicht geglättet Die Stuttgarter Schule hat — wie Leipzig und Offenbach — eine Reihe von bedeutenden Schülern hervorgebracht. Auch Schneidler-Schüler standen in einem Jünger-Verhältnis zu ihrem Meister. Doch nicht in einer warmen Werkstatt-Atmosphäre, sondern in einer Atmosphäre voll Spannung, Blitz und Donner. Die Auswirkung Stuttgarts während der „zwanziger Jahre" auf die deutsche Buchkunst-Landschaft war vielleicht geringer als die Wirkung von Leipzig und von Offenbach. Die Bedeutung, d. h. die Nachwirkung, aber war gewiß nicht geringer. Diese drei wichtigsten Schulen der Schrift und Buchkunst, Leipzig, Offenbach und Stuttgart, wirkten in ihrer Eigenart so stark auf ihre Schüler ein, daß man sie noch nach Generationen, noch bei den Schülern der Schüler, auf den ersten Blick erkennen kann. Das Verhältnis zwischen den Schulen war unterschiedlich. Zwischen Leipzig und Offenbach bestand ein gegenseitiges Achtungs-Verhältnis, das sicherlich manchesmal mit ebenfalls gegenseitigem Unverständnis gepaart war, doch davon sprach man nicht. Das Verhältnis zwischen Leipzig und Stuttgart war eher kühl, was wohl mehr mit persönlichen als mit künstlerischen Problemen zu tun hatte. Das Verhältnis von Offenbach und Stuttgart dagegen kann man als schlecht bezeichnen. Schneidlers Art, mit Schrift umzugehen, war für Rudolf Koch schlechthin unverständlich, seiner Wesensart völlig fremd. Umgekehrt empfand und artikulierte Schneidler Offenbach gegnüber ge-
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radezu eine gewisse Verachtung. Auch dieses gegenseitige Verhältnis hat sich auf die folgenden Generationen vererbt. Natürlich waren auch andere Schulen und Persönlichkeiten aktiv und wichtig für die Schrift und die Buchkunst, wie die Brüder Kleukens in Darmstadt und Mainz, Hugo Steiner-Prag, Emil Preetorius u. a. , doch die Begriffe Leipzig, Offenbach und Stuttgart decken die wichtigsten schulbildenden Richtungen ab. Nicht im eigentlichen Sinne schulbildend, wohl aber maßstabbildend und von großer Bedeutung für die Neue Deutsche Buchkunst ist der Verleger, Drucker und Buchgestalter Jakob Hegner. In seiner Offizin in Hellerau bei Dresden entstehen Bücher, die durch eine fast asketische typographische Einfachheit und zugleich durch äußerste Sensibilität und Sicherheit der gesamten Gestaltung und der Schriftwahl im besonderen sich auszeichnen. Hegner war einer der ersten deutschen Drucker, die nicht nur die Schönheit scheinbar vergessener Drucktypen wiederentdeckten, sondern sie wieder aktivierten, nicht durch Nachschöpfung, sondern durch Neuguß aus den alten Matrizen. Hegners Bücher sind in noch höherem Maße zeitlos als die Tiemanns und Poeschels. Die buchkünstlerischen Strömungen der „zwanziger Jahre" in Deutschland sind also höchst gegensätzlicher, einander widersprechender, einander ausschließender Natur. Die Schulen gehen verschiedene Wege und steuern verschiedene Ziele an. So sieht es von innen, aus deutscher Buchkunst-Perspektive, aus. Das Urteil von Buchkunst-Kennern aus dem Ausland lautet anders. Sie empfinden Stuttgart und Offenbach, E. R. Weiß und sogar Walter Tiemann als „typisch deutsch". Die Durchsicht der sieben Bände von „Fleuron", der führenden, von Oliver Simons und Stanley Morison herausgegebenen Buchkunst-Veröffentlichung, macht diese Sicht anschaulich und verständlich. Die Beiträge über englische, holländische und'amerikanische Buchkünstler der zwanziger Jahre (der letzte Band von Fleuron erschien 1930) wirken ruhig, gelöst, wohl als individuelle Leistung erkennbar, aber erst auf den zweiten Blick. Sie atmen samt und sonders gewissermaßen einen weltläufigen „Antiqua-Geist", der das humanistische Erbe, das sich in der Form der Bücher des 17. und 18. Jahrhunderts niederschlug, ohne harten Bruch fortsetzte. Die scheinbare Revolution von William Morris mündete bald, spätestens bei Stanley Mo-
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rison, in Kontinuität. Dessen Schrift- und Buchkunst-Forschung und seine Arbeit bei der Monotype, die als Ergebnis dieser Schriftforschung die Klassiker der Schrift wieder lebendig machte, verknüpfte das „Neue", das sich gegen Historismus und Subjektivismus stellte, unmittelbar mit dem Bewährten. Stößt man in,,Fleuron" jedoch auf einen Artikel über einen deutschen Buchkünstler, ist die Wirkung ganz anders, fremd in diesem Zusammenhang. Die Aussage wird verständlich: „die Deutschen machen sogar mit historischen Antiqua-Schriften Fraktur-Typographie". Und in der Tat, den subjektiv-formverändernden, ausdruck-suchenden Eingriff in die gewachsene, gewissermaßen kanonisierte und nur in Details veränderbare Schriftform findet man in den „großen" Schriftkultur-Ländern wie England, Holland und Amerika nicht. Die gedrängten Titelblätter von E. R. Weiß zu den Drucken der Mareés-Gesellschaft, die vor lauter Ausdrucksstreben manchmal fast unlesbaren Schriftblätter Rudolf Kochs und die kühnen, virtuosen Schreibstudien Schneidlers wirken auf einen nüchternen Angelsachsen sehr ähnlich und gleichermaßen befremdlich. Das soll nichts über die Qualität dieser Arbeiten aussagen, nur über ihre Wirkung in den klassischen Schrift-Ländern. Die intensive Beschäftigung mit der deutschen Buchkunst macht manchmal vergessen, das wir aus internationaler Sicht kein zentrales Buchkunst-Land sind. Nicht nur die Mutter England, sondern auch Amerika hat die neuen Wege früher und gültiger beschritten, als wir. Ein Schrift-Vergleich mag das illustrieren: von den Werkschriften, die von den führenden deutschen Buchkünstlern der zwanziger Jahre entworfen wurden, lebt, aus internationaler Sicht, nur noch die Futura. Die Weiß-Antiqua hat Überlebenschancen. Alle anderen Schriften jener Zeit gehören der Schriftgeschichte an (abgesehen von kurzlebigen Neuentdeckungswellen der Headline-Moden). Dagegen sind zahlreiche Schriften englischer, holländischer und amerikanischer Schriftkünstler jener Zeit, wie Eric Gill, Jan van Krimpen, Bruce Rogers oder F. W. Goudy weltweit im Gebrauch, ohne daß man über ihre Herkunft nachdenkt, sie sind Klassiker geworden. Natürlich hat diese Sonderstellung Deutschlands innerhalb der englischen Buchkunst-Welt (von den romanischen Ländern ist im Zusammenhang unseres Themas in keiner Phase die Rede, dort entwickeln sich die
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Dinge anders) mit der deutschen Zweischriftigkeit zu tun. Wahrscheinlich würden Tiemanns und Schneidlers Frakturschriften im engeren nationalen Umkreis ähnlich zeitlos wirken, wenn die Fraktur nicht vom Dritten Reich umgebracht worden wäre. Es fragt sich allerdings auch, ob im Zeitalter weltweiter Kommunikation eine nationale Schriftentwicklung überhaupt noch möglich wäre. Die Anknüpfung an die Antiqua-Welt war unausweichlich. Der Anschluß wurde bei uns erst nach und nach gefunden; die Buchkunst der zwanziger Jahre war von der Zweischriftigkeit, von dem Bezug auf zwei verschiedenartige Traditionen geprägt. Die von England beeinflußte, sich auf die großen Vorbilder berufende, bei allen Gegensätzen der Schulen doch einheitliche „Neue Deutsche Buchkunst" ist nicht allein typisch für die typographischen Bestrebungen der zwanziger Jahre. Daneben, fast ohne Berührungspunkte, entwikkeln sich Bestrebungen, die sich nicht auf große Vorbilder berufen, sondern Neues schaffen wollen, die aus einem neuen Verständnis ihrer Zeit die neue Architektur, die neue Kunst und auch die neue Typographie schaffen wollen. Ausgangspunkte sind der Futurismus, Dada und Stijl, deren typographische Vorstellungen in höchst unterschiedlicher Weise auf ein neues Lesen, ein neues Ordnen gerichtet sind, jedoch kaum Bezug zum Buch finden, sondern vor allem auf das einzelne Blatt als Träger inhaltlicher und formaler Aussage gerichtet ist. Das gleiche gilt für Hendrik Werkman, den holländischen Drucker-Maler, der erst nach Jahrzehnten indirekt die Buchgestaltung beeinflussen wird. Stärker wirksam ist der Einfluß El Lissitzkis und der russischen Konstruktivisten, entscheidend für Deutschland ist die Konzeption des Bauhauses. Dort beschäftigen sich Moholy Nagy und Herbert Bayer, Josef Albers und Joost Schmidt („Schmidtchen") intensiv und ernsthaft mit grundlegend neuen Konzeptionen der Typographie und der Schrift. Sie beginnen vom Punkt null an, ihre Aussagen sind radikal, ihre Vorausschau ist fast prophetisch zu nennen. Das Stichwort ist: Funktionalismus. Doch sind sie keine Profis, keine Erfahrenen Handwerker; die Diskrepanz zwischen der Zielsetzung und den konkreten Ergebnissen ist mitunter erheblich — und oft genug Anlaß rückblickender Kritiker, wegen mißlungener Anfangsergebnisse den gesamten Denkansatz des Bauhauses in Be-
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zug auf die Typographie als Irrweg und Sackgasse zu verurteilen (bei der — der Typographie eng verwandten — Architektur würde das keiner wagen). Was als Befreiung von verknöcherten typographischen Traditionen verstanden wurde, die aktive Gliederung und Akzentuierung des Textes, die aggressive Seitengestaltung, das extreme Hervorholen einzelner Worte und Zeilen, die Steuerung des Blicks durch geometrische Zeichen, der Einsatz ungebrochener Farben in der Typographie, geriet oft genug als neues, andersartiges Korsett: Texte wurden in Blöcke gequält, statt Übersichtlichkeit wurde Verwirrung gestiftet. So etwa das Urteil der BauhausKritiker. Für die genannten Bauhaus-Meister war der Umgang mit Typographie und Schrift nur ein Randgebiet. Der eigentliche Sprecher der Neuen Typographie ist der junge Jan Tschichold, der dem Bauhaus zwar nicht angehörte, doch den Denkansatz des Bauhauses am präzisesten auf die Typographie anwandte und formulierte. Das Ziel war das gleiche, wie bei der Neuen Deutschen Buchkunst: Kampf gegen den Verfall der Typographie. Doch nicht die Berufung auf das Bewährte, sondern das Schaffen von Neuem sollte das Rezept sein. Beide Wege sollten sich in der Folge als tragfähig erweisen. Nur daß beim Bauhaus-Tschichold-Weg ein Umweg nötig war. Erst die OffsetMontage-Technik, letztlich erst der ausgereifte Fotosatz (ein Stand, der noch nicht erreicht ist) machen Gedanken einer lebendigen, das Lesen aktivierenden Typographie praktikabel. Darum blieb der Einfluß des Bauhauses auf die allgemeine Verlagspraxis zunächst minimal. Die entschiedenen Vertreter der ,»Neuen Deutschen Buchkunst" und der „Neuen Typographie" nahmen einander kaum zur Kenntnis. Wohl wies Ignaz Wiemeler, der große Buchbinder der Leipziger Schule, seine Schüler auf das Bauhaus hin, aber daß in Leipzig auch nur andeutungsweise in solcher Richtung gearbeitet werden könnte, war undenkbar. Umgekehrt nahm das Bauhaus vor lauter Begeisterung über den eigenen Weg gar nicht wahr, was andernorts geschah. Anders beim jungen Tschichold, der ja ursprünglich ein „Leipziger" war, anders auch bei Paul Renner, der in München lehrte. Beide kannten die Qualitäten früherer Buchgestaltung, beide kamen nicht durch sie bilderstürmerische Vorstellung, daß jetzt alles anders werden müsse, zu ih-
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ren Vorstellungen von der Neuen Typographie, sondern durch die Analyse der Situation. Paul Renner ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen den beiden typographischen Richtungen; Jan Tschichold ist der Exponent beider Richtungen: als junger Mann der kompromißlose Verfechter des Neuen, als reifer Mann der ebenso kompromißlose Verfechter des Bewährten, des durch die Jahrhunderte gültigen. Paul Renners epochale Tat ist die Entwicklung der Futura. Die Bauhaus-Typographen hatten zwar eine vorausschauende Zielvorstellung, aber nicht das nötige Instrumentarium, vor allem fehlte eine Satzschrift, die ihrer Typographie entsprach. Die eigenen Versuche, Schriften zu entwerfen, erbrachten wohl kühne Entwürfe, aber kaum praktisch anwendbare Ergebnisse, und schon gar nicht Schriften, die von den Schriftgießereien hätten ohne weiteres realisiert werden können. Auch die Futura mußte sich Umformungen gefallen lassen, die sie von einer stilistisch konsequenten zu einer praktisch brauchbaren Schrift sich entwickeln ließ, die dennoch ihre Herkunft aus der strengen Konstruktion, aus dem Geist der „mechanisierten Grafik" nicht verleugnete. Für die Bauhaus-Typographie kam die Futurajedoch schon zu spät, die Symbiose zwischen der Neuen Typographie und der neuen Schrift kam praktisch nicht mehr zustande. Noch eine weitere typographische Richtung muß genannt werden, die kennzeichnend für die zwanziger Jahre war, obwohl sie weder im eigentlichen noch im übertragenen Sinne schulbildend war (wenigstens nicht damals). Sie war weder auf handwerkliche noch auf ideologische Reform oder Revolution aus, sie benützte einfach das vorhandene Instrumentarium an satztechnischen Möglichkeiten und Schriften für die eigenen Zwecke. Der Zweck war, zu agitieren, die Leute auf eine ganz bestimmte, vom Autor und seinem Typographen gewünschte Art zum Lesen zu bringen, d. h. auf die inhaltliche Aussage in genau der beabsichtgten Weise hinzuführen. Die Rede ist von John Heartfield, der berühmt für seine Fotomontagen ist, der aber, vor allem mit dem Werk „Deutschland Deutschland über alles" (der Autor ist Kurt Tucholsky) auch als Buchgestalter wegweisend war. Die Kunst, Text und Bild zu einer suggestiven Aktionseinheit zu fügen, die heute von der Werbung wie von der manipulierenden Berichterstattung in den Nachrichtenmagazinen wie der Boulevard-Presse meisterlich beherrscht wird, hat hier ihren ersten Meister.
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Die Entwicklung der verschiedenen Richtungen der Buch- und Schriftgestaltung der zwanziger Jahre kann nicht weiter verfolgt werden, sie brach allenthalben mehr oder weniger abrupt ab. Das Dritte Reich bedeutet für die deutsche Buchkunst den fast vollständigen Bruch mit der Entwicklung der ersten dreißig Jahre des Jahrhunderts. John Heartfield emigriert, Hendrik Werkman wird in Holland umgebracht, das Bauhaus wird aufgelöst, alle wichtigen Mitarbeiter emigrieren, Renner muß gehen, Tschichold emigriert, „Stuttgart" vermag sich zu arrangieren, auch in München, wo ein Ableger der Stuttgarter Schule entsteht, bleibt aber ohne größere Öffentlichkeitswirkung, Tiemann zieht sich zurück, Hegner emigriert. Fast das schlimmste Schicksal erleidet Offenbach: die Offenbacher Schule wird mißbraucht, Rudolf Koch ist tot, mehrere seiner Schüler müssen emigrieren, doch „Offenbach" gilt als Ort und als Stil weiterhin als Zentrum der deutschen Schriftkunst, wird von den Nazis geistig in Besitz genommen und pervertiert. Die sturen gebrochenen Schriften der Plakate und Anschläge des ersten Nazi-Jahrzehnts, bis zum Verbot der Fraktur als „Schwabacher Juden-Lettern" demonstrieren diese Perversion. Im getrennten Deutschland, nach dem Zusammenbruch, versuchte man an die abgerissene eigene Tradition anzuknüpfen. In Stuttgart konnte Schneidler noch wenige Jahre wirken, dann unternahm sein Schüler Walter Brudi den Versuch, Schneidlers Lehre und Schneidlers formale Welt zu erhalten und weiterzuführen. In München konnte der Schneidler-Schüler Georg Trump sein Werk im Geist der Stuttgarter Schule fortführen und bald, als Schriftkünstler, gewissermaßen die Ernte der Stuttgarter Schule einbringen. In Leipzig stand Walter Tiemann bereit, um von Neuem zu beginnen. Doch er paßte nicht in die kulturpolitische Konzeption der damaligen „SBZ" und zog sich abermals zurück. In Offenbach bemühte sich Herbert Post rechtschaffen um innere Werte der Offenbacher Schule und um das Erbe Rudolf Kochs. Es könnte scheinen, als ob das Dritte Reich nur eine Episode war, ein Loch, das man überspringen könne um dort weiterzumachen, wo man aufgehört hatte. Und in der Tat, eine zweite Blüte der Buchkunst, die sich in der Mitte der fünfziger Jahre abzuzeichnen begann und für die neben den genann-
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ten Namen Gotthard de Beauclair, Carl Keidel, Richard von Sichowsky und HermannZapf stehen, schien zu bestätigen, daß die Anknüpfung über das „kulturelle Loch" hinweg gelungen war. Die Ideen des Bauhauses hingegen fanden, wie es schien, keinen neuen Anknüpfungspunkt. Gleichzeitig mit der beruhigenden neuen Blüte kamen von außen befremdliche, wenn nicht bedrohliche typographische Einwirkungen. Unterkühlte, extreme typographische Flächengliederungen, die „Schweizer Typographie", die „integrale Typographie" aus Basel; eine für unsere Augen geradezu verrückte, laute, undisziplinierte „dynamische" Typographie, der kein Schriftmischungs-Gesetz mehr heilig war, aus Amerika, ganz zu schweigen von der unseriös-manipulierenden Gestaltung der Illustrierten und Magazine. Zwar tobte sich diese Typographie vor allem im Bereich der Werbung und der Kataloge aus, aber das Buch blieb nicht verschont von diesen Einflüssen. Was für deutsche Buchkünstler auf der Suche nach der eigenen Kontinuität wie ein Schock wirkte, war in Wahrheit Kontinuität, Kontinuität auch im Sinne und auf dem Boden der früheren deutschen „Schulen", nur an anderen Orten. Die zahlreichen Emigranten hatten zum großen Teil im Exil wieder in ihrem Fach Fuß fassen können, sie entwickelten sich weiter, während in Deutschland nichts mehr ging, ihre Typographie veränderte sich und kam uns nach dem Krieg unerkennbar wieder vor die Augen. Am augenfälligsten wird das beim Bauhaus. Die Zeit in Weimar und in Dessau war zu kurz, die technische Entwicklung war noch nicht weit genug fortgeschritten gewesen, um die revolutionäre Denkweise des Bauhauses auch in der Typographie zu gültigen Vorbildern reifen zu lassen. Diese Reife wurde, z. B. durch den Bauhaus-Schüler Herbert Beyer, in den USA vollzogen. Was beim Bauhaus gewalttätig erzwungen werden sollte, war nun, nicht zuletzt unter dem Einfluß der neueren reproduktions- und drucktechnischen Möglichkeiten, auf gelöstere Weise erreicht: die aktivierende Gliederung des Lese'stoffes. Alles, was heute an didaktischer Typographie beim Schulbuch, bei Lernprogrammen, aber auch bei der „kühlen" Schweizer Typographie (die bei uns in der Folge in Ulm schulbildend wirkte) und bei der aktiven Gestaltung von Illustrierten, Magazinen etc. selbstverständlich ist, hat seinen Ursprung bei den re-
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volutionären Ideen des Bauhauses und auch, vor allem was den Umgang mit dem Bild in Magazinen anbetrifft, bei John Heartfield. Der Einfluß Werkmans wurde in den sechziger Jahren durch eine neue, ganz anders geprägte Pressenbewegung, die mit dem Begriff V. O. Stomps zu kennzeichnen ist, indirekt wieder spürbar; die typographische Agitation der studentischen Jugend der Apo-Zeit hat von Heartfield und von Dada gelernt (wenngleich sie auch eigenständige Gestaltungsformen entwickelt hat) die „konkrete Poesie" hat eine ihrer Wurzeln bei Dada. Alle diese Entwicklungen gingen zunächst an Deutschland vorbei, es dauerte, bis sie erkannt, integriert und als eigenes kulturelles Erbe akzeptiert waren. Doch auch die „Neue Deutsche Buchkunst" der zwanziger Jahre hat sich weiterentwickelt in der Emigration. Die Stuttgarter Schule erfuhr durch Imre Reiner, der im Tessin arbeitet, eigenständige Fortführung, äußerst persönlich in der Schriftgestaltung, zugleich fundiert und mit der Tradition der europäischen Buchkunst verbunden durch seine theoretischen Arbeiten. Für die Offenbacher und Leipziger Emigranten, vor allem aber für Jan Tschichold gilt: sie sind „englischer" geworden. Den Leipzigern fiel das nicht so schwer, sie waren immer schon typographisch gesehen, halbe Engländer. Viele Offenbacher Emigranten aber, wie z. B. Berthold Wolpe oder Hans Schmoller, haben durch den angelsächsischen Einfluß so viel an Sachlichkeit und Distanziertheit gewonnen, daß man ihnen die Herkunft nicht mehr ansieht. Die augenfälligste Metamorphose hat Jan Tschichold durchgemacht, der — allerdings nicht so sehr durch neue äußere Einflüsse, sondern durch das eigene Studium und die eigene Auseinandersetzung mit der Typographie — in Basel und im Tessin wirkend sich vom Apologeten des Neuen zum Anwalt des Bestehenden wandelte. Durch seine zahlreichen theoretischen Arbeiten und durch sein fachliches Vorbild kanonisierte er gewissermaßen das, was in Leipzig und in England — dem er durch aktive Zusammenarbeit verbunden war — als neu erworbene Tradition erprobt worden war. Aber auch die deutschen Buchkünstler der „zweiten Blüte" in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelten sich, welcher Schule sie auch direkt oder indirekt entstammten, je länger je mehr zur klassischen, zur „englischen" Form der Schrift- und Buchgestaltung hin. Sie bewegen
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sich auf dem Weg, der seinerzeit von „Leipzig" vorgezeichnet war. Auch im heutigen Leipzig, wo nach wie vor eine bedeutende Schule der Buchkunst tätig ist, haben sich „Stuttgarter" Einflüsse mit dem genius loci verbunden zu Buchgestaltungen, die in ihren besten Ergebnissen sachlich und unaufdringlich sind, also dem alten Leipziger Ideal entsprechen. Heute, wo der Anschluß an die internationalen typographischen Strömungen wieder gefunden ist, wo die Probleme durch die technische Revolution, in der wir uns befinden, sich neu und andersartig stellen, läßt sich resümierend sagen, daß sich zwei der zahlreichen buchkünstlerischen Ansätze der zwanziger Jahre in Deutschland als dauerhaft, tragfähig und zugleich entwicklungsfähig erwiesen haben, die beide mit dem Begriff funktionalistisch zu beschreiben sind: Bauhaus und Leipzig. Das Bauhaus ist der Ausgangspunkt der „neuen", aktiv gliedernden Typographie, „Leipzig" ist die, dem englischen Vorbild folgende typographische Konsequenz aus der Lese-Erfahrung von Jahrhunderten.
Claus W. Gerhardt
Die Typographie im Deutschland der zwanziger Jahre Ein Überblick
Im Anschluß an sein Referat über „Schrift und Typographie in den zwanziger Jahren" wollte Herr Professor Hans Peter Willberg am folgenden Tag auch den Arbeitskreis zum gleichen Thema leiten. Da er überraschend vorzeitig abreisen mußte, übernahm Dr. Claus W. Gerhardt unvorbereitet diese Aufgabe. Dank seiner Gesprächsleitung und der lebhaften Mitarbeit der kundigen Teilnehmer wurde die Sitzung dennoch fruchtbar. Der folgende Beitrag faßt die Ergebnisse im Überblick zusammen, (d. Red.) Über das Wesen der Typographie schrieb der italienische Schriftschneider und Buchdrucker Giambattista Bodoni (1740—1813): „Ein Buch wird umso mustergültiger, je reiner die einfache Schönheit der Typen in ihm zur Wirkung kommt. Aus ihr spricht, in ihr beruht der Ruhm der Buchkunst. Und das mit Recht; denn einzig die Typen bestehen notwendig ganz durch sich selbst, alles übrige aber erst durch sie". Der englische Typograph Stanley Morison (1889—1967) definierte so: „Typographie ist die Kunstfertigkeit, das Druckmaterial dem jeweils gegebenen Zweck entsprechend zu benutzen, die Drucktypen so anzuordnen und den Raum so einzuteilen, daß der Leser den Text mit größter Leichtigkeit erfassen kann. Zweck und Ziel jeder Typograhie beruhen im wesentlichen auf praktisch-nützlichen Erwägungen, mit denen sich beiläufig auch einmal eine ästhetische Absicht verbinden kann ... Daher ist jedes typographische Erzeugnis nicht gut, das, in welcher Absicht auch immer, den Leser von der Lektüre ablenkt". ^ Jan Tschichold (1902—1974) schließlich, der in den zwanziger Jahren zu den Verfassern des Programms der Konstruktivisten gehört hatte, schrieb später: „Vollkommene Typographie ist eher eine Wissenschaft denn eine Kunst ... Vollkommene Typographie ist ursprünglich ... In einem typographischen Meisterwerk erscheint die Handschrift des Künstlers ausgelöscht ... Vollkommene Typographie beruht auf vollkommener
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Harmonie aller Teile ... Da Typographie sich an jedermann wendet, bietet sie keinen Raum für umwälzende Änderungen. Die Form nicht eines einzigen Buchstabens können wir wesentlich verändern, ohne das Satzbild unserer Sprache zu zerstören und damit unbrauchbar zu machen. Bequeme Lesbarkeit ist die oberste Richtschnur aller Typographie". 3 Man sieht, wie die Auffassungen sich decken; man findet sie bestätigt, wenn man alle vorbildlichen Drucke aus fünfhundert Jahren Druckgeschichte darauf überprüft. Im Zentrum steht dabei immer die Gestalt der Einzeltype einer Schrift. Schriftentwurf bedeutet Entwurf des einzelnen Zeichens unter besonderer Berücksichtigung der Harmonie aller Zeichen einer Schrift untereinander. Schriftentwürfe können durch Schreiben oder Entwerfen oder Malen oder Konstruieren entstehen. Unter den an der Erneuerung der Typographie im 20. Jahrhundert beteiligten Schriftentwerfern finden sich Vertreter aller vier Gestaltungsmöglichkeiten: so waren etwa William Morris, Edward Johnston, Anna Simons, Rudolf Koch und Ernst Schneidler ausgesprochene Schreiber, Walter Tiemann und Paul Renner dagegen Zeichner; Otto Eckmann und Emil Rudolf Weiss waren Maler, während Männer wie El Lissitzky, Kurt Schwitters, der frühe Tschichold und der Bauhauskreis Typographie konstruierten. Ohne Frage bestimmt die handwerkliche Gebundenheit meistens auch den individuellen Duktus, häufig gewinnt sie darüber hinaus Ausdruck in einer ganz bestimmten Gesinnung. (Besonders deutlich wird dies etwa bei Morris, Johnston, Koch und im Bauhauskreis.) Um das Resultat unserer Bestandsaufnahme in der Arbeitsgruppe Typographie gleich vorweg zu nehmen: Paul Renners Futura-Schrift von 1927 kommt eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der Vorgange zu. Denn in ihr findet man Wasser aus allen typographischen Strömen der Zeit und Geist aus allen Kunst-Ismen jener Jahre. Sie ist Neuschöpfung und (ungewollte? ) Synthese zugleich. Und sie markiert die endgültige Trennung in Buchtypographie einerseits und Werbe(bzw. Akzidenz-)Typographie andererseits, weil sie als erste neue Schrift fur beide Richtungen akzeptabel war. Die Buchtypographen schätzten die klassische Proportion der Versalien und die mit großem Einfühlungsvermögen durchgearbeiteten Kleinbuchstaben; für die Werbetypogra-
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phen — als besonderen Anhangern der Bauhaustypographie — paßte diese endstrichlose Schrift (Serifenlose / Sans Serif) ins Bild der sogenannten Neuen oder Elementaren Typographie. Bis heute gehort Renners (mehrfach überarbeitete und ergänzte) Futura zum Grundmaterial typographischen Schaffens. Über die Ursachen, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa einen Wandel der Buchgestaltung hervorriefen sowie über die wesentlichen Trager dieses Wandels berichtete Prof. Hans Peter Willberg in seinem Referat. In der spezifisch deutschen Entwicklung markierten die BUGRA in Leipzig 1914 und die Internationale Buchkunstausstellung Leipzig 1927 zugleich Abschnitte und Höhepunkte. In den 20er Jahren nahmen die verschiedenen, bereits in Gang befindlichen typographischen Entwicklungen einen neuen Verlauf. 1. Die Schuler der Schreibmeister der Jahrhundertwende waren inzwischen selbst zu Lehrern geworden: Peter Behrens, Emil Rudolf Weiss, Fritz Helmut Ehmke, Rudolf Koch, Walter Tiemann, Ernst Schneidler (Abb. I und II). Gleichzeitig wirkten sie als Berater von Schriftgießereien, Druckereien, Verlagen. 2. Hatten am Jahrhundertbeginn die Arbeiten und Veröffentlichungen von William Morris und Edward Johnston zur Besinnung auf die traditionelle Schriftkultur gefuhrt und im weiteren Verlauf den neuen Stand des Buchkunstlers hervorgerufen, ja sogar das Buch generell zum Kunstwerk erklart, so setzte sich daneben nun eine sachlichere Beurteilung der Problematik durch. Gebildete und künstlerisch einfühlsame Drucker — wie etwa Heinrich Wallau in Mainz, Carl Ernst Poeschel in Leipzig, Jakob Hegner in Dresden-Hellerau — und Verleger wie Georg Muller und Eugen Diederichs hatten die typographische Oberleitung auch vorher nicht aus der Hand gegeben. Nun begann diese Handhabung wieder zur Regel zu werden; denn sie liegt einem künstlerisch begabten Menschen, der in den Techniken des Buchermachens zu Hause ist, naher als einem Kunstler, der die vielfaltigen und komplizierten Vorgange nachtraglich erlernen muß. Die große Bedeutung der technischen Vorgange, die wir gerade in der Gegenwart beim Übergang vom Blei- zum Fotosatz wieder einmal besonders deutlich erkennen, hat Julius Rodenberg eindring-
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The Procession having arrived at the Memorial, The Dean says NEAR his memorial and not far from the Almonry where he established his printing press in 1476 we remember William Caxton; we give thanks for the originality of his genius which inspired him to see the significance of a more widely diffused learning. In paying this tribute we remember the delight and stimulus which comes to us through the reading of books, whether it be the book that lays bare 'the precious life blood of a master spirit embalmed and treasured up for a life beyond life'; or that more homely which is 'the best of friends, the same today and for ever'. As we give thanks, we cannot but reflect upon the danger yet promise of the printed word, ranging widely, knowing no frontiers, speaking to all. We grieve for the world's illiterate millions in their deprivation; and for those forbidden to read what others write, and for authors 'cabin'd, cribb'd, confin'd' by unjust principalities and powers. Where William Caxton sold books, here on this site within the precincts of the Abbey, we rejoice that the creative Word was with God in the beginning, that it became flesh in Jesus, and dwelt among us: and in that faith I ask you to lay the wreaths.
After the wreaths have been laid by the Masters of the Mercers ' and Stationers ' Companies and Representatives from Belgium, France, Germany and the Netherlands, the Dean says a Prayer adapted from Dean Stanley's Address at the 400th Anniversary Service O LORD of Light, grant to us and to our children that, when another five hundred years have passed, England may not cease to be a land of light and the home of truth, and that we may be foremost among the champions of freedom, the servants of him who is the Light of the world and of Truth by which mankind is set free, through Jesus Christ our Lord. Amen.
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Seite einer 1976 gedruckten Broschüre (Commemoration of the Introduct of Pritning into England by William Caxton in 1476), S. 11.
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lieh formuliert: „Im Buch entwickelt sich die Kunst aus dem Technischen; die Technik macht die Kunst im Buch erst möglich. Das klingt paradox und liegt doch auf der Hand. Ein Buch nennen wir schön, wenn der technische Prozeß, dem es seine Herstellung verdankt, nicht sichtbar ist, so daß der Betrachter dem Buch ... die große Sorgfalt, die man auf die Herstellung verwandt hat, gar nicht anmerkt". 4 Gutenbergs 42zeilige Bibel von 1455 (Abb. III), Type für Type handgesetzt, und eine Seite aus einem vorbildlichen Druck von 1976, im Fotosatz mit tausend Zeichen pro Sekunde hergestellt (Abb. IV), mögen die Gültigkeit dieser Aussage bestätigen. 3. Morris' Wiederbelebung des Handwerklichen ist seither nicht wieder vergessen worden, wenn auch seine anachronistische Ablehnung der Technik auf die Dauer nichts fruchten konnte. Die „Versöhnung von Technik und Kunst" auf handwerklicher Grundlage war die Maxime des 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründeten Bauhauses. Der belgische Architekt und Kunstgewerbler Henry van de Velde, der von Anfang an dabei war, hatte schon seit der Jahrhundertwende in Deutschland wesentlich zur Verbreitung der Kenntnis von Morris' Wirken für Schrift und Buch beigetragen. Doch die Kräfte, welche die Bauhaustypographie schufen, waren andere. Zwei Zitate mögen die Richtung weisen: Herbert Bayer: „Die Typisierung der Buchstabenelemente auf Quadrat, Kreis und Dreieck verringert das Setzmaterial". (Bayers Entwürfe sind nie realisiert worden — Abb.V). Josef Albers: „Wir entfernen uns vom Buch. Damit von der Schriftform des Buches. Die meisten Druckerzeugnisse sind nicht mehr Bücher. Mit rationalen Zeiten kommen konstruktive Betonungen". Auch der Konstruktivist Laszlo Moholy-Nagy befaßte sich am Bauhaus mit Typographie. Sehr lesenswert und aufschlußreich ist sein reich illustrierter Beitrag in der Gutenberg-Festschrift von 1925. Er besitzt für die Entstehung der Akzidenz- und Werbetypographie (oder sollte man besser Werbegraphik sagen? ) ähnlich große Bedeutung wie Jan Tschicholds Veröffentlichungen über die ,Elementare Typographie'. Moholy-Nagy glaubte aber 1925 noch immer an die Möglichkeit, Buch- und Werbetypographie nach einheitlichen Regeln gestalten zu können und forderte sogar eine „Einheitsschrift ohne
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Minuskeln und Majuskeln" — wenn auch wenigstens in verschiedenen Schriftgraden. Zum eigentlichen Mittler des Konstruktivismus in der Typographie ist Jan Tschichold geworden. Er war der einzige aller Modernisten des Bauhauskreises (siehe oben) und auch Außenstehender (z. B. Kurt Schwitters, van Doesburg, Piet Szwart, Man Ray, John Heartfield), der eine spezielle und sehr qualitatvolle Ausbildung als Typograph und Kalligraph und dazu schriftgeschichtliche Kenntnisse besaß. Er konnte selbst setzen und drucken, kannte und bewunderte C. E. Poeschel und Karl Klingspor und verabscheute Buchkunstler wie E. R. Weiss, der Anfang der zwanziger Jahre Korrekturanweisungen noch in Millimeter angab, statt in typographischen Punkten. 9 Von El Lissitzky 1 0 erfuhr er die Grundlagen der neuen Typographie: Marinettis Futurismus, n Malewitschs Suprematismus 1 2 und die konstruktivistischen Grundideen der neuen Sowjetkunst. 1 3 (Abb. VI). Neue literarische Formen (Futurismus, Dadaismus, Expressionismus) verlangten nach neuen typographischen Formen. Zwei Jahre spater — im Oktober 1925 — konnte Tschichold seine inzwischen verarbeiteten und formulierten Gedanken zur »Elementaren Typographie' ausführlich in einem Sonderheft gleichen Titels darlegen, das eine weitverbreitete Buchdruckerzeitschrift herausgab. Ruari McLean schrieb in der 1975 erschienenen Tschichold-Biographie: „Sein Manifest ,Elementare Typographie' hatte eine sofortige Wirkung und wurde weithin diskutiert. Jeder Setzer im Lande lernte den Namen Tschichold kennen. Seine Vorschläge wurden leidenschaftlich gelobt und ebenso leidenschaftlich verurteilt; aber bereits nach wenigen Jahren wurden die Resultate sichtbar. Nach und nach verschwanden Schnörkel und haßliche alte Schriften. Die Herrschaft der Mittelachse war gebrochen: ein großes Aufräumen hatte begonnen" 1 5 (Übers, d. Verf.). Aufräumen ist das rechte Wort. Man räumte fort, was im Wege stand. Man lernte eine andere, offenere Art zu sehen hinzu. An die Stelle der über hundert Jahre alten, steifen englischen Grotesk trat Renners Futura (Abb. VII). Das ganze weite Feld der Typographie war betroffen, doch es hatte sich geteilt. Werbe- und Akzidenztypographie gewannen
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die für sie erforderliche Freiheit und erste eigene Regeln. Dagegen kann die Typographie fur das Buch mit seiner ganz besonderen, klar definierten Funktion immer nur den Spielraum nutzen, der in den vergangenen fünfhundert Jahren von Meistern des Faches bereits abgesteckt worden ist. Daß sich diese Einsicht durchsetzte und bis heute akzeptiert wird, durfte der größte Erfolg aller Bemühungen im ersten Jahrhundertviertel gewesen sein. Als Resümee stellte die Arbeitsgruppe fest, daß — nachdem die Geschichte der Typographie bis etwa zum Jahre 1930 gut dokumentiert sei — nunmehr die Bearbeitung der anschließenden Zeit ein dringendes Desiderat ist. Es wurde vorgeschlagen, möglichst umgehend jetzt noch lebende Beteiligte und Augenzeugen — wie z. B. Buch- und Schriftkunstler, Drucker, Verleger, Auftraggeber fur Gebrauchsgraphik — zu befragen sowie Nachlasse und Archive dieses Personenkreises aufzuspüren, um sie bewahren und zur Veröffentlichung vorbereiten zu können.
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Deutsche Übersetzung und weiteres bei Karl Klingspor: Über Schönheit von Schrift und Druck. Frankfurt/M. 1949. S. 9. Stanley Morison: First Principles ot Typography, zitiert nach Julius Rodenberg: Große und Grenzen der Typographie. Stuttgart 1959, S. 3 f. Jan Tschichold: Ausgewählte Aufsatze über Fragen der Gestalt des Buches und der Typographie. Basel, Stuttgart 1975, S. 9—11. Rodenberg: Große und Grenzen, S. 18. Josef Albers: Zur Ökonomie der Schriftform. In: Offset-, Buch- und Werbekunst. (1926) Heft 6 (Bauhausheft). - Beide Zitate nach Albert Kapr: Schriftkunst. Dresden 1971, S. 212 f. Ladislaus Moholy-Nagy: Zeitgemäße Typographie — Ziele, Praxis, Kritik. In: Gutenberg Festschrift. Hrsg. v. A. Ruppel. Mainz 1925, S. 307-317. Zur Geschichte des Werbe- und Akzidenzdruckes sei ferner auf das Wirken der Steglitzer Werkstatt von F. H. Ehmke, F. W. Kleukens und Georg Behoc verwiesen, die sich fast ausschließlich damit befaßte. Ebenda S. 314. Ruari McLean: Jan Tschichold: Typographer. London 1975, S. 19-30. Der Russe Eleasar Markowitsch Lissitzky (1890—1941) studierte von 1909— 1914 an der Technischen Hochschule Darmstadt Architektur, wurde dann von Marc Chagall, dem Leiter der Kunstschule Witebsk, nach dort als Lehrer
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(u. a. fur die Druckwerkstatten) berufen und 1922 als Beauftragter fur sowjetisch-deutsche Kunstbeziehungen nach Berlin entsandt. Lissitzky war ein Idealist des Fortschritts, besonders in bezug auf neue technische Möglichkeiten. Sein Beitrag „Unser Buch" im Gutenberg-Jahrbuch 1926/27 zeigt seine Ideenfulle, prophetische Gabe, ja, Besessenheit in bezug auf die Möglichkeiten des neuen Buches. Zuletzt abgedruckt in: Typographie und Bibliophilie. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 1971, S. 183-188. Füippo Tommaso Marinetti (1876—1944), Begründer des literarischen Futurismus. 1909 schrieb er: „Das Buch soll der futuristische Ausdruck unseres futuristischen Bewußtseins sein. Ich bin gegen das, was man die Harmonie des Satzbildes nennt. Wenn es notig ist, werden wir drei oder vier Farben auf einer Seite verwenden und zwanzig verschiedene Schriften. Zum Beispiel: durch Kursive werden wir eine Reihe von gleichmaßigen und schnellen Empfindungen bezeichnen, fette Schrift wird Aufschreie ausdrucken usw. usw. So entsteht eine neue malerisch typographische Vorstellung von der Druckseite". Zitiert nach Lissitzky: Unser Buch. In: Typographie und Bibliophilie, S. 185. - Kurt Schwitters (1887-1948) hat in ahnlicher Weise gearbeitet. Als Beispiel sei genannt: „Die Scheuche". Hannover 1925. (Privater Nachdruck fur die Neue Sammlung durch die Akademie fur das Graphische Gewerbe, München 1961). Kasimir Malewitsch (1878—1935): Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus. Moskau 1915. Die Suprematisten versuchten, die malerischen Elemente auf den Nullpunkt zurückzuführen (z. B. schwarzes Quadrat auf weißem Grund). Der Konstruktivismus ging ursprunglich von sowjetischen Kunstlern um W. Tatlin aus: die künstlerische Plastik sollte durch raumliche Konstruktionsgebilde aus modernen industriellen Materialien (Metall, Glas Beton etc.) abgelost werden. Tatlin stellte zuerst sog. Konterreliefs her, entwarf sodann fur die Dritte Internationale (Moskau 1918) einen über 500 Meter hohen Turm als Spirale aus Glas und Eisen; 1920 Realistisches Manifest; 1922 Programm der Konstruktivisten. Siehe Jan Tschichold in Fußnote 14, unten. Typographische Mitteilungen. Zeitschrift des Bildungsverbandes der deutschen Buchdrucker. Sonderheft Elementare Typographie. Leipzig, Oktober 1925. 1928 erschien im gleichen Verlag Tschicholds Buch: Die neue Typographie. McLean: Jan Tschichold, S. 30 und 32. Nachtrag: Zu unserem Thema vergleiche man auch die erst nach Drucklegung dieses Berichtes in meine Hände gelangte Veröffentlichung von Paul Renner: Der Der Kunstler in der mechanisierten Welt. Sonderdruck der Akademie fur das Graphische Gewerbe, München 1977. Das Manuskript soll Renner bereits Mitte der 1930er Jahre verfaßt haben; es wurde jetzt anlaßlich des öOjahrigen Jubiläums der Akademie veröffentlicht.
Jürgen Eyssen
Bildung durch Bücher? Volksbüchereien während der Weimarer Republik
„Ich sehe beinahe als die Geste unserer Zeit den Menschen mit dem Buch in der Hand — wie der knieende Mensch mit gefalteten Händen die Geste einer anderen Zeit war. Naturlich denke ich nicht an die, die aus bestimmten Buchern etwas Bestimmtes lernen wollen. Ich rede von denen, die je nach der verschiedenen Stufe ihrer Kenntnisse ganz verschiedene Bucher lesen ohne bestimmten Plan, unaufhörlich wechselnd, selten in einem Buch lang ausruhend, getrieben von einer unausgesetzten, nie recht gestillten Sehnsucht ... aber es ist ihnen keine Dialektik gegeben, subtil genug, um sich zu fragen und zu sagen, was sie suchen; keine Übersicht, keine Kraft der Zusammenfassung: Das einzige, wodurch sie ausdrucken können, was in ihnen vorgeht, ist die stumme beredte Gebärde, mit der sie das aufgeschlagene Buch aus der Hand legen und ein neues aufschlagen". Hugo von Hofmannsthals Satze aus seiner Rede „Der Dichter und diese Zeit" aus dem Jahr 1906 waren gewiß nicht auf unser Thema gemünzt. Sie umreißen dennoch sehr genau die selbst gestellte Aufgabe der deutschen Volksbucherei in den Zwanziger Jahren, ging es ihr primär doch immer um die Vermittlung von Buchinhalten an die Leser. „Weder durch Festreden, noch durch Bußpredigten wird eine Not gewendet", sagte Walter Hofmann, Direktor der Leipziger Bucherhallen am ,Tage des Buches' im Jahre 1929. „Gewendet wird die Not nur durch die Tat, in unserem Falle durch weitausgreifende, unermüdliche, sich Tat fur Tag erneuernde praktische Arbeit". 2 Den Boden fur ihre praktische Arbeit hatte die Bucherhallenbewegung kurz vor der Jahrhundertwende bereitet. Auf den Erfahrungen fußend, die deutsche Bibliothekare aus der Arbeitspraxis angloamerikanischer Public Libraries gewonnen hatten, gipfelten die Forderungen der Bucherhallenbewegung in drei Punkten:
76 Jürgen Eyssen 1. Die Volksbücherei ist aus ihrer ungesicherten Abhängigkeit von privaten Vereinen oder Stiftungen zu befreien und in die Verantwortung der Städte und Gemeinden zu überführen. 2. Die in vielen Städten noch aus ihrer Gründerzeit im Humanismus her existierenden Stadtbibliotheken sind mit Volksbüchereien möglichst in e i n e m städtischen Büchereisystem zusammenzuschließen und haben diesem als Zentralbibliothek zu dienen. 3. Die Leitung der Institute ist ausgebildeten Fachleuten anzuvertrauen. Der enthusiastische Schwung, mit dem die Bücherhallenbewegung angelaufen war, verebbte freilich trotz einiger beachtlicher Erfolge angesichts der wachsenden Widerstände und dem Ausbleiben der notwendigen Finanzierungsbereitschaft recht schnell und mündete in eine erneute Diskussion organisatorischer wie inhaltlicher Fragen, nachdem 1912 Paul Ladewigs Buch „Die Politik der Bücherei" erschienen war. Dieses Werk liest sich heute in vielen seiner Kapitel wie der vorweggenommene „Bibliotheksplan" von 1973. Ladewig unterscheidet zwischen der wissenschaftlichen oder archivalischen Bibliothek für den gelehrten Zweck und der allgemeinen öffentlichen Bücherei als der Norm einer modern konzipierten Bibliothek. Beide Einrichtungen sind für ihn absolut gleichrangig. Den Erfolg und die Wirtschaftlichkeit der öffentlichen Bibliothek mißt er an den erreichten Ausleihzahlen. Endlich stellt er die reine Volksbucherei als eine dritte Stufe der Büchereiarbeit neben die beiden erstgenannten. Sie habe der allgemeinen öffentlichen Bibliothek sozusagen als Vorhof und zugleich als „Grundlage für das Aufsteigen der Nation" 3 zu dienen. Organisatorische Phantasie und romantisches Wunschdenken aus der Perspektive des Rembrandtdeutschen Ludwig Langbehn verschwistern sich auf bemerkenswerte Weise in den Vorstellungen nicht nur Ladewigs. Anders nämlich als in den USA oder Großbritannien, wo eine pragmatische Unvoreingenommenheit den Bestandsaufbau nicht als eine Art weltanschauliches Bekenntnis mißverstand, entbrannte der Streit um die r i c h t i g e Buchauswahl in der deutschen Volksbücherei in der Folgezeit in voller Schärfe. Die Männer, die diesen Streit ausfochten, waren als Kinder ihrer Epoche in ihrem Denken naturge-
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maß von den Tendenzen beeinflußt, die sich mit Namen wie Langbehn, Lagarde, Avenarius oder Wolgast verbinden. „Die Nationalität der Deutschen erhalten kann nur der, welcher einsieht, daß sie ganz und gar. noch zu wecken ist". Dieser Satz aus der der Feder Paul de Lagardes stammt zwar nicht von einem der Pioniere der Bücherhallenbewegung, jedoch hätte er von ihnen geschrieben sein können. Und wenn Lagarde dann fortfahrt: „Wir erhalten diesen Baum nur, indem wir von den höchstens eben wieder aus der am Boden abgehauenen Wurzel ausschlagenden Schößlingen den geradesten, kräftigsten in die Höhe pflegen und gegen das Schwarzwild wie gegen die naschenden Ziegen so einhegen, daß Gottes Sonne, Regen und Wind ungehindert ihre Säugammendienste an ihm tun können", dann liest sich das wie eine vorweggenommene These für das Programm, mit dem etwa Walter Hofmann, immerhin eine Generation nach Lagarde, in seiner volkstümlichen Bücherei die „seelische Gesunderhaltung unseres Volkes, die geistige Durchbildung und Aufwärtsentwicklung unseres Volkes ... durch außerschulmäßige Volksbildungsarbeit" bewirken wollte. Während Ladewig, wie Benjamin Franklin 100 Jahre vor ihm bei der Gründung der Public Library in den USA als der Bibliothek für jedermann, auch noch im Kaiserreich Deutschland auf dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen potentiellen Benutzern bestand, selbst auf die Gefahr „planlosen Bücherverschlingens" und der „Verschleuderung höchster geistiger Güter" hin, galt für Hofmann in der Weimarer Republik diese Art von falschverstandener Toleranz, um mit Lagarde zu reden, als eine „Erfindung des Teufels". Auch für Walter Hofmann war — in Übereinstimmung mit Ladewig — die Volksbücherei eine Institution, die „dem Selbsterhaltungs- und Selbstentfaltungswillen der Nation dient". Im Unterschied zu Ladewig jedoch setzte er für die Literaturauswahl eindeutig und unübersehbar seine Grenzpfähle: „Volksbildung ist Formung des Volkes zur Volkheit. Was Volkheit, Volksform schafft, ist der Volksbildung willkommen. Was Volkheit nicht schafft, ist ihr gleichgültig, was Volkheit zerstört, lehnt sie ab". So steht es programmatisch in der Schrift „Volksform und Bildungsform" aus dem Jahre 1923 zu lesen. Die eigentlich bewegende motorische Persönlichkeit der deutschen
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Volksbucherei zwischen 1910 und 1930 ist eben dieser Walter Hofjnann gewesen. An ihm und seinen Ideen schieden sich die Geister. Die Kompromißlosigkeit, mit der er sie gegen alle und jedermann verfocht, das Sendungsbewußtsein, mit dem er auftrat, besaß allerdings etwas von dem Anspruch eines Religionsstifters, der nur seiner Lehre alleinseligmachende Kraft zuzuerkennen bereit war. Dieses Sendungsbewußtsein spricht noch aus den letzten Sätzen seiner Autobiographie „Mit Grabstichel und Feder", wenn er dort die Summe seines Lebens zieht: „Auch mir war es ergangen wie jenem, der auszog, seines Vaters Eselin zu suchen, und der ein Königreich fand. Nur, daß ich damals nicht wußte, daß es ein Königreich war, was ich gefunden hatte". Man kann diese Selbstdarstellung des Lebens eines deutschen Handwerkersohnes auch heute noch nicht ohne innere Bewegung und Anteilnahme lesen. Hier hat sich ein Mann mit zähem Willen aus den beengten Verhaltnissen seiner Kindheit herausgearbeitet und sich als Autodidakt in ungezählten abendlichen und nachtlichen Lesestunden die Grundlagen einer umfassenden Bildung erworben. Neben den Werken der Bildenden Kunst waren es vor allem die große Literatur, das Erlebnis der Dichtung, — sei es im geschriebenen, sei es im auf der Buhne gesprochenen Wort, — das ihn aus geistiger Unmündigkeit befreit hatte. Dieses individualistische Erlebnis wollte er, getreu seiner Maxime „Das richtige Buch im richtigen Augenblick fur den richtigen Mann" 1 0 auch anderen Burgern seines Volkes vermitteln. Seit 1913 Direktor der Leipziger Bucherhallen, fand er dort Gelegenheit, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Der Streit zwischen seiner, der „Leipziger Richtung" und seinen Gegnern Eugen Sulz und Erwin Ackerknecht, nach ihren Wirkungsstätten als Wortführer der „Essener" und „Stettiner" Richtung apostrophiert, entbrannte bereits vor dem Kriege und steigerte sich nach dessen Beendigung zu einer Heftigkeit, die selbst vor personlichen Verunglimpfungen nicht zurückschreckte. Zeitweilig war das Lager der deutschen Volksbibliothekare in zwei derart extrem verfeindete Parteien gespalten, daß sich die beiderseitigen Stellungnahmen wie Kriegsberichte lesen. Erst gegen Ende der Zwanziger Jahre trat eine allmähliche Beruhigung ein, fand man zu einer Angleichung der Standpunkte, such-
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ten die Angehörigen der jüngeren Generation nach neuer Gemeinsamkeit. Worum war nun eigentlich der „Richtungsstreit" gegangen? Walter Hofmann wollte allein künstlerisch einwandfreie, oder, wie er es formulierte, „werthafte" Literatur in seinen Buchereien vertreten wissen. Erwin Ackerknecht, aus liberalem schwabischem Hause stammend und im geistigen Höhenklima des Tübinger Stifts erzogen, verfocht dagegen auch in der Buchereipraxis seine Theorie vom „Kitsch als kulturellem Übergangswert". Niemand soll sich bereits von vornherein durch eine rigoros gehandhabte Auswahlpolitik ausgeschlossen fühlen. Genau das Gegenteil wollte Walter Hofmann. Er träumte von einer geistigen Leserelite quer durch alle Schichten der Bevölkerung, von jenem Kreis der „wahrhaft Empfanglichen", die, „ohne zu dem engen Kreis der wissenschaftlich und literarisch Arbeitenden zu gehören — denen steht die wissenschaftliche Bibliothek offen —, von geistigem Leben und Streben erfüllt sind ..., die aus eigener Kraft nicht durch das Wirrsal der modernen Bucherproduktion finden können". Wer fühlt sich nicht an die Diagnose Hofmannsthals erinnert? Leibnizens Vorstellung von der idealen Bibliothek als einer „assemblée des plus grands hommes de toutes les nations et de tous les siècles, qui nous disent leurs plus grandes idées", schien sie hier, so mochte es anmuten, nicht eine zeitgemäße Abwandlung unter einer freilich veränderten Prämisse gefunden zu haben? Leibnizens Bibliothek war freilich fur den engen Kreis urteilsfähiger Connaisseurs bestimmt gewesen, die des Rates des Huters der Sammlung notfalls entbehren konnten. Anders Hofmann. Er formulierte: „Aber das Buch weiß nicht, welches sein Leser, der Leser, der nicht Buch- und Literaturkenner ist, weiß nicht, welches seine Bucher sind". F.uhrung und Geleit blieben unverzichtbar. Als gleichberechtigt neben die Auswahl trat die Vermittlung. In dieser Hinsicht war sich Walter Hofmann sogar mit seinen Gegnern einig. Fur die zentrale Aufgabe bibliothekarischer Buchvermittlung diente der Leipziger Richtung eine perfekte Ausleihorganisation. In ihr wachte der Bibliothekar wie ein Gralshuter über die ihm anvertrauten Schatze hinter einem Schalter (der spater zur Theke umgewandelt wurde) und beriet seine Leser mit Hilfe eines Buchkartenapparates,
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der Bewertungshinweise fur jedes einzelne Buch enthielt. Irgendwie erinnert das Verfahren an Kurt Tucholskys Maxime: „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen". Der Leser hatte sorgfaltig ein Lektureprotokoll in Gestalt eines Leseheftes zu fuhren, das ihm und dem beratenden Bibliothekar Rechenschaft über die getätigte Lektüre leistete. Zeitweilig war in Leipzig sogar ein zweites Protokoll fur jeden Leser üblich, um dem Bibliothekar hinter der Theke Vorinformation fur die Beratung bereits zu einem Zeitpunkt zu liefern, wo dieser Leser noch geduldig in der Schlange wartete. „Bereitwilligkeit zu Auskunft und Rat" gehorte zu den sieben Geboten der „kleinen Ausleihschule". Diese sorgfaltige und methodisch vorbildliche Ausleihorganisation diente der Verwirklichung des zweiten Kernstucks der Lehre Hofmanns: der richtigen Buchauswahl, die allein der perfekten Buchvermittlungsorganisation ihren Sinn gab in jener bereits zitierten Maxime: „Das richtige Buch im richtigen Augenblick fur den richtigen Mann". Der Satz klingt überzeugend. Allein welcher Art waren die „richtigen Bucher" und welche gehorten nicht dazu? Hier nahern wir uns der Kernfrage fur die Beurteilung des Werkes von Hofmann, der wir einfach nicht ausweichen dürfen. Nur jene Literatur hatte fur ihn Daseinsberechtigung und einen Platz auf dem Regal, die das erstrebte Ziel einer „Gesundung des Volkes" erreichen half. Sie wurde in Mehrexemplaren gestaffelt, um jederzeit verfugbar zu sein. Gustav Freytags „Soll und Haben" gehorte zu den Favoriten. In Leipzig war dieser Titel in 143 Exemplaren vorhanden. Mit leidenschaftlicher Entschlossenheit wandte sich Hofmann gegen jede Pseudo- und Afterliteratur. Allein ästhetischliterarische Wertkategorien ließ er gelten. Der Rigorismus, mit dem er gegen die sogenannte Schundliteratur zu Felde zog, verschwisterte sich bei ihm freilich mit einer bedenklichen Geringschätzung der Literatur, die formal oder inhaltlich neue Wege einschlug oder nicht seinen Vorstellungen volkhaften Schrifttums entsprach. Hofmann zielte, ich wiederhole es, auf eine Elite, oder, — um es mit seinen Worten zu sagen —, auf die fur das „echte Schrifttum Empfanglichen". Erst die „Auswahl schafft fur den Kreis der Empfanglichen den Bestand der ihnen gemäßen Bucher". Auswahl bedeutet immer
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aber auch Verzicht. Auf welche Bucher war Verzicht zu leisten? Der Katalog „Deutsche Erzähler" , dessen Manuskript in zwei Jahrzehnten von den Mitarbeitern des von Hofmann gegründeten „Instituts fur Leser- und Schrifttumskunde" 1932 abgeschlossen wurde, darf mit Fug und Recht als das literarpadagogische Testament der Leipziger Richtung gelten. Es nennt 120 Namen von deutschen und „verwandten nordischen, niederländischen und englischen Erzählern", denen jeweils ein Einfuhrungstext in das betreffende Erzahlwerk vorangestellt wurde. Viele dieser Charakteristiken, — wie etwa die über Wilhelm Raabe —, haben bis heute kein Jota von ihrer Aussagekraft verloren. Dieser Literaturfuhrer sollte als Hausbuch, als beratende Lesehilfe fur die Benutzer dienen. Neben den Klassikern und allen bedeutenden Realisten (einzige Ausnahme: Wieland und Heine) enthalt er bedeutende Erzähler der Gegenwart von 1932 wie Emil Strauß, Ricarda Huch, Wilhelm Schafer, Lulu von Strauß und Torney oder Wilhelm von Scholz. Literarischen Rang wird gewiß niemand diesen Autoren wegdisputieren wollen. Anders steht es schon bei Namen wie Hans Friedrich Blunck, Will Vesper, Adolf Bartels oder Erich Edwin Dwinger. Aufschlußreicher freilich scheint mir die lange Reihe von Autoren, die dieses Verzeichnis nicht nennt. Ich sehe mich in dieser Meinung durch zwei Kronzeugen aus der Schar jener zeitgenössischen Autoren bestätigt, die den Katalog „Deutsche Erzähler" damals mit der Bitte um ihre Stellungnahme ubersandt bekamen. Paul Ernst betonte in seinem Antwortschreiben: „Es genügt schon, daß man das Register durchsieht und merkt, welche Namen stillschweigend ausgelassen sind, um den hohen p r a k t i s c h e n Wert des Buches zu erkennen". Erich Edwin Dwinger wird noch deutlicher: „Wie wertvoll ist es, wenn ein Mann wie Sie immer wieder darauf hinweist, wo Surrogate stecken und wo das Echte zu finden ist". Welche Namen wurden nun stillschweigend Übergängen, um dem „Echten" gegenüber den „Surrogaten" den Vorzug zu geben? Es fehlen Thomas und Heinrich Mann, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka und Robert Musil, Annette Kolb, Alfred Döblin und Jakob Wassermann, Hans Henny Jahnn und René Schickele, Lion Feuchtwanger und Leonhard Frank, Stefan und Arnold Zweig, Carl Zuckmayer und Anna
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Seghers, Franz Werfel und Erich Kastner, Joseph Roth und Hans Fallada, Kurt Tucholsky, E. M. Remarque, Georg Hermann und Oskar Maria Graf. (Hermann Hesse fiel der Streichung in der 2. Auflage zum Opfer. Zwar waren die Werke dieser Autoren in den Bestanden großenteils vorhanden, aber unter den insgesamt 120 „Erzählern von deutscher Art", die der Katalog als besonders empfehlenswert heraushob, hatten sie keinen Platz. Den fanden sie dafür geschlossen spater auf den Verbotslisten und Scheiterhaufen der Nazis oder, um es weniger bitter und mit der glaubigen Naivität einer Auguste Supper auszudrucken, die der von ihr festgestellten Tendenz des Katalogs „Deutsche Erzähler" 1933 auf folgende Weise Ausdruck verlieh: „Daß nicht erst die nationale Revolution den Anstoß dazu, wie zu Ihren ganzen Bestrebungen gab, beweist wieder einmal, daß große Dinge, ehe sie sich zu Ereignissen zusammenballen, schon in der Atmosphäre sind und in Bruchstucken da und dort aufgefangen werden". 1 9 Walter Hofmann war naturlich kein Nationalsozialist. Er hat sogar mit beachtlicher Zivilcourage das Ansinnen abgelehnt, nach 1933 in die zweite Auflage seines Katalogs „Deutsche Erzähler" ausgesprochene Parteidichter aufzunehmen. Wenige Jahre spater jagte man ihn aus seinem Amt. Die Wurzeln seiner Auffassung von „werthafter" Literatur reichten jedoch in die gleiche trügerische Humusschicht eines „volkischen" Empfindens, aus der dann auch die Saat des Nationalsozialismus aufging. Hier lag sein tragischer Irrtum. Unter ausdrucklicher Berufung auf Paul de Lagarde, einem der ersten Wortführer des Antisemitismus, hatte er seine Vorstellung von der Volksbucherei als dem „Gedächtnis der Nation" formuliert. „Zweck dieser Buchpolitik: das echte Gedächtnis der Nation aus der Umklammerung durch die Pseudoformen zu befreien". 2 0 Oder, um es mit anderen Worten zu wiederholen: „Was Volkheit nicht schafft, ist ihr (der Volksbildung) gleichgültig, was Volkheit zerstört, lehnt sie ab". 2 1 Ware es nicht Aufgabe einer deutschen Volksbucherei gewesen, die sich als „Gedächtnis der Nation" verstand, gerade mit Hilfe ihrer so mustergültigen Ausleihorganisation ihre Leser teilhaben zu lassen an einem Veranderungsprozeß literarischer Formen und Traditionen, ihr Verstandnis zu schulen fur moderne Ausdrucksformen der Prosa, fur
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veränderte Inhalte und Methoden des Erzanlens? Und stellt sich nicht ferner die Frage, ob Bucher wie Oskar Maria Grafs „Kalender-Geschichten", Leonhard Franks „Die Rauberbande", René Schickeies Romantrilogie „Das Erbe am Rhein", Hermann Hesses „Peter Camenzind", Thomas Manns „Buddenbrooks", Jakobs Wassermanns „Der Fall Maurizius", Joseph Roths „Radetzkymarsch" oder Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Gnscha" dem Generalthema des Katalogs „Deutsche Erzähler", namhch mustergültige Prosaleistungen vorzustellen, die von Schicksalen deutscher Menschen berichten, eher und besser entsprachen als die Produkte eines Blunck oder Dwinger, ganz zu schweigen von denen des Judenhassers Bartels? In seiner Fixierung auf „volkhaftes" und „werthaftes" Schrifttum hatte Hof mann offensichtlich übersehen, daß literarische Werte sich nicht an inhaltlichen Kategorien festlegen lassen, daß die Traditionskette der deutschen Literatur, die doch auch er beispielhaft belegen wollte, sich in der Gegenwart unseres Jahrhunderts anders fortsetzte und eben mit jenen Namen, die sein Verzeichnis „Deutsche Erzähler" einfach übersah. Thomas Mann und nicht Hans Grimm bildet die Fortsetzung von Theodor Fontane, nicht Hans Heinrich Waggerl, sondern Oskar Maria Graf die von Ludwig Thoma. In den Werken der braven Hamsun-Epigonen Burte, Busse, Dorfler, Griese, — die Kette dieser Schollendichter ließe sich mit weiteren Namen aus dem Katalog leicht noch vervollständigen —, in diesen Werken jedenfalls sah sich doch wohl kaum jener „Deutsche Genius" verkörpert, den es dem zeitgenossischen Publikum zu entdecken galt. Und was hatte die literarische Tradition deutschsprachiger Dichtung mit Vokabeln wie „arteigen" und „artfremd" zu tun, wie sie zur Begründung der Auswahl so häufig herangezogen wurden? Hier, in einem auf der Rassenlehre Gobineaus fußenden „volkischen" Biologismus ist offenbar der Grund dafür zu suchen, daß nicht ein einziger judischer Autor einen Platz unter Hofmanns „Deutschen Erzählern" beanspruchen durfte. Wie grotesk derartige Vorurteile bei Mitarbeitern der „Leipziger Richtung" die literarische Urteilsfindung beeinflußten, zeigt das Beispiel einer Besprechung von Joseph Roths „Hiob". Sie stammt nicht von irgendwem, sondern von Hildegard Pieritz, einer fur literarische Werte durchaus
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empfänglichen Frau, die selbst eine begabte Romanautorin war. Sie zeigt sich in ihrer Rezension zwar spürbar erschüttert, ja mehr noch, überwältigt von der sprachlichen Kraft und Verdichtung des Themas. Ihr Schlußurteil jedoch lautet, und man muß den Satz wirklich langsam lesen: „Ein Buch von einem Juden für Juden geschrieben". Hier lagen die weltanschaulichen Grundlagen einer Büchereiarbeit, die, wie der Katalog „Deutsche Erzähler" nachweist, unter Ausschluß nahezu aller Autoren von wirklichem Rang, Leseerziehung unter einer bedenklichen, ja gefährlichen Einschränkung des geistigen Spektrums betreiben wollte, eine Elitebildung von Lesern quasi unter Verzicht gerade auf die Mithilfe der damals schreibenden Elite der Nation. Die spätere Gleichschaltung der Volksbüchereien durch den Nationalsozialismus jedenfalls und die Ausmerzung unerwünschter Literatur ließ sich umso leichter vollziehen, — wie Friedrich Andrae in seiner Studie „Volksbücherei und Nationalsozialismus" nicht ohne Bitterkeit bemerkt —, als die „Geführten subjektiv überzeugt waren, einer ,guten Sache' zu dienen". 2 3 Diese Entwicklung lag natürlich keineswegs in Hofmanns Absicht. Seine Auffassungen resultierten aus einer tiefen Sorge, entsprangen letztlich den zivilisationskritischen Überlegungen und Befürchtungen, wie sie in Deutschland um die Jahrhundertwende erstmals formuliert worden waren. Sie wurzelten tief in der Geisteshaltung der deutschen Romantik und äußerten sich bei Hofmann in einer gleichsam nach rückwärts gerichteten Utopie. Sie entsprachen jedoch weitgehend der Auffassung breiter Teile eines Volkes, das nach Hermann Nohl „nicht nur die Revolution, sondern vorher bereits die Aufklärung versäumt habe". 2 4 Das nicht zu übersehende Schwergewicht, das die Volksbücherei in den Zwanziger Jahren in ihren Buchbeständen auf die Schöne Literatur legte, die Entschiedenheit, mit der ihre führenden Männer den „Richtungsstreit" bis zu grotesker Polemik hin ausfochten, sieht sich von einer vergleichsweisen Enthaltsamkeit auf dem Felde demokratischer Bewußtseinsbildung begleitet. „Die Volksbildungsarbeit", formulierte Ackerknecht, „ist eine Aufgabe, deren Grund und Ziel in dem Reiche liegt, das nicht von dieser Welt ist". 2 5 Aber klingt die Frage
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unberechtigt, ob die deutsche Volksbücherei in der jungen Weimarer Republik mit ihrer freiesten Verfassung, die das deutsche Volk jemals besessen hatte, sich nicht zur Stärkung aller demokratischen Elemente hätte aufgerufen fühlen müssen? Hier aber verstellte wohl jene Auffassung, nach der Volksbildungsarbeit nicht in „dieser Welt" verwurzelt sei, ebenso wie Hofmanns literarisch-,,volkhafte" Wertkategorien die Chance, die Leser der Zwanziger Jahre in ausreichendem Maße mit dem Gedankengut der kämpferischen Humanisten auf Seiten der Republik vertraut zu machen. Alle jene Autoren, die ich im Verzeichnis „Deutsche Erzähler" vermißte, zählen zu diesem Kreis. Bis auf Ricarda Huch und Ernst Wiechert gehören die in diesem Verzeichnis genannten zeitgenössischen Autoren andererseits zu jenen, die 1933 die neuen Herren mit Ergebenheitsadressen begrüßten. Das kann und darf Walter Hofmann nicht angelastet werden. Aber er hatte offensichtlich für seine Heilslehre die falschen Propheten zeugen lassen. Bei der Prüfung der Gegenwartsliteratur versagte ihm sein kritisches Scheidewasser.oft den Dienst. Es mußte versagen, weil eben nicht „literarisch-ästhetische" Kategorien, wie Hofmann meinte, seine Ingredienzen bildeten, sondern inhaltlich-weltanschauliche Wertmaßstäbe. Hans Grimms „Volk ohne Raum" erhielt beispielsweise in einer ausführlichen vergleichenden Wertung ausdrücklich den Vorzug vor Thomas Manns „Der Zauberberg" und John Galsworthys „Die ForsyteSaga". „Aber mit ,Volk ohne Raum' ", so schloß er seine Betrachtung, „sind wir bei unserem Volk und bei unserer Zeit, ... sind wir seit langer Zeit zum ersten Male ganz selbst bei uns zu Hause". 2 6 Auswahl bedeutet Wertung. Sofern sie sich bei der Erstellung von literarischen Wertkategorien auf das Feld von Weltanschauungen begibt, birgt sie für die Bibliothek immer Gefahren. Lassen Sie mich dies an diesem Ort mit einigen Sätzen Lessings belegen: „Ein andres ist ein Pastor, ein andres ein Bibliothekar. So verschieden klingen ihre Benennungen nicht: als verschieden ihre Pflichten und Obliegenheiten sind. Überhaupt denke ich, der Pastor und Bibliothekar verhalten sich gegeneinander, wie der Schäfer und der Kräuterkenner. Der Kräuterkenner durchirrt Berg und Tal, durchspähet Wald und Wiese, um ein
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Krautchen aufzufinden, dem Linneus noch keinen Namen gegeben hat. Wie herzlich freuet er sich, wenn er eines findet! Wie unbekümmert ist er, ob dieses neue Krautchen giftig ist oder nicht! Er denkt, wenn Gifte auch nicht nutzlich sind — (und wer sagt denn, daß sie nicht nutzlich waren? ) — so ist es doch nutzlich, daß die Gifte bekannt sind. Aber der Schafer kennt nur die Krauter seiner Flur — und schätzt und pflegt nur diejenigen Krauter, die seinen Schafen die angenehmsten und zuträglichsten sind!" Der glaubenseifernde „Richtungsstreit" der Zwanziger Jahre ist mittlerweile in die Distanz eines historischen Ereignisses deutscher Bibliotheksgeschichte entruckt, so mochte es scheinen. Immerhin haben jedoch auch nach Ende des 2. Weltkrieges wahrend der Aufbauphase der heutigen öffentlichen Bibliothek bestimmte Denkmodelle noch eine Rolle gespielt. Bis weit in die Sechziger Jahre hinein, wie ein Blick in die Fachzeitschrift „Bucherei und Bildung" beweist, führte man literarische Nachhutgefechte etwa über die Frage, ob ein Buch wie „Die Blechtrommel" von Gunter Grass in die Bestände eingegliedert werden dürfe oder nicht. Die Vorstelung von der öffentlichen Bibliothek als einer Art Gesundheitsquelle oder, um mit Lessing zu reden, als einer Wiese, auf der nur Heilkrauter wachsen dürfen, machte erst langsam einer anderen liberaleren Auffassung Platz. Doch heute erleben wir, merkwürdig genug, das Wiederaufflammen eines Richtungsstreites unter geänderten Vorzeichen. Namentlich jüngere Kollegen wollen die öffentliche Bibliothek nunmehr als ein emanzipatorisches Instrument fur die Entwicklung eines klassenkampferischen Bewußtseins der unterprivilegierten Massen verstanden wissen. Difficile est satiram non scribere! 1 2 3 4
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II. Frankfurt 1959, S. 23 7f. Walter Hofmann: Buchpolitik. Vortrag zum Tag des Buches 17.3.1929. In: Hefte fur Buchereiwesen 13 (1929), S. 212 ff. Paul Ladewig: Die Volksbucherei. In: Politik der Bucherei. 2. Aufl. Leipzig 1917, S. 73. Paul de Lagarde: Deutsche Schriften. Gesamtausgabe letzter Hand. Gottingen 1903, S. 356.
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Walter Hofmann: Um Buch und Volk. In: Buch und Volk. Gesammelte Aufsatze u. Reden zur Buchpohtik u. Volksbuchereifrage. Hrsg. v. Rudolf Reuter. Köln 1951, S. 16. Paul Ladewig: Die Volksbücherei. In: Politik der Bucherei, a. a. O., S. 57 ff. Walter Hofmann: Das Gedachntis der Nation. In: Buch und Volk, a. a. O., S. 73. Walter Hofmann: Volksform und Bildungsform. In: Hefte fur Buchereiwesen 8 (1923), S. 13-15. Walter Hofmann: Mit Grabstichel und Feder. Geschichte einer Jugend. Stuttgart 1948, S. 618. Walter Hofmann: Vom „richtigen" Buch. In: Buch und Volk, a. a. O., S. 353. Erwin Ackerknecht: Der Kitsch als kultureller Ubergangswert. Bremen 1950. (Schriftenreihe „Bucherei u. Bildung". H. 1.) Walter Hofmann: Um Buch und Volk, a. a. O., S. 17. Gottfried Wilhelm Leibniz: Aus einem Brief an Stein. Abgedruckt in: Zeitschrift des Historischen Vereins f. Niedersachsen 1880, S. 80. Walter Hofmann: Um Buch und Volk, a. a. O., S. 31. Walter Hofmann: Die kleine Ausleihschule. In: Buch und Volk, a. a. O., S. 411. Deutsche Erzähler. 120 Erzählungen von deutscher Art. Ein Fuhrer zu Buchern. Leipzig 1932. Institut fur Leser- und Schrifttumskunde. 4. Bericht (1933), S. 57. Ebd. S. 64. Ebd. S. 60. Walter Hofmann: Das Gedächtnis der Nation. Ein Wort zur Schrifttumspflege in Deutschland. In: Buch und Volk, a. a. O.,S. 63. Walter Hofmann: Volksform und Bildungsform. In: Hefte für Buchereiwesen 8 (1923), S. 13-15. Hefte fur Buchereiwesen 16 (1932), S. 44 f. Friedrich Andreae: Volksbucherei und Nationalsozialismus. Materialien zur Theorie u. Politik des öffentlichen Buchereiwesens in Deutschland 1933— 1945. Wiesbaden 1970, S. 44. Zitiert in: Hans Harald Breddin: Über Wertung u. Wirkung der Unterhaltungsliteratur. In: Bucherei u. Bildung 4 (1952), S. 885. Erwin Ackerknecht: Bucherei und Politik. In: Bucherei u. Bildungspflege 5 (1925), S. 21. Walter Hofmann: Drei Zeitromane. In: Hefte fur Buchereiwesen 12 (1928); S. 14. Gotthold Ephraim Lessing: Die Bitte. Samtliche Schriften. Hrsg. Karl Lachmann u. W. v. Maltzahn. Bd 10. Leipzig 1956, S. 121. Bucherei und Bildung 12 (1960). A S. 110, 236.
Siegfried Unseld
Robert Walser und seine Verleger
Am 19. Juni 1933 wurde Robert Walser in der Heil- und Pflegeanstalt seines Heimatkantons Herisau eingeliefert. Es war das Ende seines Lebens als Schriftsteller. Noch wenige Tage zuvor bot er einer Redaktion Prosastücke aus der jüngsten Zeit an. Nach diesem Tage schrieb er keine Zeile mehr. Es gibt auch keine Manuskripte oder Konzepte. Zu Seelig sagte er: „Es ist ein Unsinn und eine Roheit, an mich den Anspruch zu stellen, auch in der Anstalt zu Schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein Dichter produzieren kann, ist die Freiheit". Ich kann und möchte hier këne Psychographie Robert Walsers versuchen, sie muß einmal geleistet werden. Weil die Gründe, die zu Walsers Krise und zu seiner Art Kranksein führten, jedoch, wie ich festzustellen glaubte, eng mit unserem Thema der Beziehung Autor — Leser zusammenhängen, möchte ich fünf Vermutungen näher belegen. Erstens: Robert Walsers generelle Lebensangst. Zweitens: Sein Nichtvertrautwerden mit dem Nebenmenschen, mit der Gesellschaft. Drittens: Sein Verhältnis zu Verlegern. Viertens: Sein Verhältnis zu den Schriftstellerkollegen Fünftens: Seine von ihm als tötend empfundene Erfolgslosigkeit. Ad 1. Walsers generelle Lebensangst Ein genauer Leser von Walser, Elisas Canetti, sieht dies von heute aus so: „Die Besonderheit Robert Walsers als Dichter besteht darin, daß er seine Motive nie ausspricht. Er ist der verdeckteste aller Dichter. Immer geht es ihm gut, immer ist er von allem entzückt. Aber seine Schwärmerei ist kalt, da sie einen Teil seiner Person ausläßt, und darum
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ist sie auch unheimlich. Alles wird ihm zu ä u ß e r e r Natur und das eigentliche an ihr, das Innerste, die Angst, leugnet er ein ganzes Leben. Erst später bilden sich die Stimmen heraus, die sich über alles Verheimlichte an ihm rächen. Seine Dichtung ist ein unabhlässiger Versuch, die Angst zu verschweigen". (Canetti: Die Provinz des Menschen, S. 250) Walsers Lebensangst ist in vielen, wenn nicht in all seinen Texten zu belegen. So sein Versuch kühner Verstellung: „nichts ist mir angenehmer als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein falsches Bild von mir zu geben. Das ist vielleicht ungerecht, aber es ist kühn, also ziemt es sich". (JvG) In der Geschichte Fidelio heißt es: „heute bin ich egoistisch, doch nein, zu arg will ich mich nicht verleugnen. Ich nehme das Wort zurück, indem ich es als unzulässig bezeichne. Ich fand für Hingabe nur noch immer keinen passenden Anlaß". In dem Bildnis eines Mannes, das sicherlich auch als Selbstbildnis anzusehen ist, lesen wir: „Am stärksten sind immer die gewissenhaften, treuen, redlichen Menschen von innen her überwacht, und auch die wahrhaft wissenden, mitfühlenden. War' er gleichgültiger gewesen, so hätte er umgänglicher, fröhlicher scheinen können, und es würd' ihm ein leichtes gewesen sein, sich das Ansehen eines Warmherzigen zu geben. Demnach war er, was er nicht scheinen mochte, und schien oft, was er nicht war". Am Schluß von Helblings Geschichte erfahren wir Walsers Lebensangst überdeutlich: „Ich sollte eigentlich ganz allein auf der Welt sein, ich, Helbling, und sonst kein anderes lebendes Wesen. Keine Sonne, keine Kultur, ich nackt auf einem hohen Stein, kein Sturm, nicht einmal eine Welle, kein Wasser, kein Wind, keine Straßen, keine Banken, kein Geld, keine Zeit und kein Atmen. Ich würde dann jedenfalls nicht mehr Angst haben. Keine Angst mehr und keine Fragen ...". Deutlich verrät Walser hier seine Angst. „Bin ich eigentlich krank? Mir fehlt so viel, mir mangelt eigentlich alles. Sollte ich ein unglücklicher Mensch sein? " heißt es in derselben Erzählung. Er ist und bleibt der Einzelgänger. Er nimmt auch seine Bindungslosigkeit auf sich. In seinem letzten Buch Die Rose ist ein Dialogstück versteckt, das mir den größten Aufschluß gibt. Es ist ein Gespräch: „Der Liebende und die Unbekannte". Sie gehen aneinander vorbei, sie halten ein, ihm wäre es „unnatürlich" vorgekommen, an
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der Unbekannten vorbeizugehen. Die Unbekannte fragt ihn, ob er stets allein ginge. Er antwortet: „Es ist wahr, ich bin für kein Mädchen gefährlich. Ich gehöre mir nicht, geh' nie allein, bin gekettet und dabei zu glücklich, als daß ich Unrechtes tun könnte. Eine begleitet mich beständig, die sich nicht um mich kümmert. Was und wie sie ist, schwebt um mich. Sie spricht mit mir, bald heiter, das heißt, ich lasse sie nie anders mit mir reden. Ich habe sie so, wie ich sie mir am liebsten denke, mache mit ihrer Erscheinung, was ich will, jage sie oft weg, brauche nicht zu fürchten, ich verlöre sie. Wenn sie wüßte, wie lieb sie mir ist, wie ich mit ihr verfahre, würde sie unwillig, aber kann sie mir das Denken verbieten? Jeder mit ihr zusammenhängende, kleinste Gedanke stärkt mich". Hier spricht ein Dichter nicht von seiner Muse, sondern von der Kraft der Dichtung, von der Poesie als seinem eigentlichen Gegenüber. Für ihn ist diese Beziehung real, der Umwelt mußte sie als irreal erscheinen. Überhaupt war spielerische Paradoxie seine Stärke. Seine Briefe noch mehr als seine Aufzeichnungen sprechen davon, wenn er seine Briefpartner ,,aus der Höhe meiner unsäglichen Wenigkeit herunter" anredet, oder wenn er einen Brief an Max Rychner einmal mit „Ihr diensteifriger Herrscher, Ihr hochgeborener Diener" oder einen anderen „in treuer Untertanenhuld ehrfurchtsvoll und gnädig, das heißt vollendet freundlich", schließt. Seine Übertreibungen, sein Spott, sein Hohn, seine Verdrehungen, seine Skurrilitäten, ja seine gelegentlichen Unwahrheiten sind Schutzschilder solcher Lebensangst. Als er 1949 einmal mit Carl Seelig wanderte, kamen die beiden vor ein Kloster, aus dem ein junger Geistlicher herausschaute; Walser bemerkte „Er hat Heimweh nach außen, wir nach innen". Ad 2. Sein Nichtvertrautwerden mit dem Nebenmenschen, mit der Gesellschaft Das eben Erwähnte hängt ganz eng auch damit zusammen, daß es für Walser schwierig war, Beziehung zum Nebenmenschen zu finden. Ein Grundzug seines Wesens war sicher das Mißtrauen, das er von Anfang an hatte. „In meiner Umgebung hat es immer Komplotte gegeben, um Ungeziefer wie mich abzuwehren". An anderer Stelle: „Zurückhai-
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tung ist die einzige Waffe, die ich besitze und die mir in meiner geringen Stellung zukommt". Der Einzelgänger und der um das Absolute Ringende weiß, daß er diese Bindung an die Gesellschaft nicht finden kann. In dem Prosastück Kutsch vom Jahr 1907 liest man, Kutsch habe drei unfertige Dramen im Kleiderschrank, er sei eine Art Höhenmensch, „er ist mißtrauisch und er hat vielleicht Ursache dazu, denn er erstrebt das Höchste, und alle, die ganz Hohes erstreben, mögen nicht recht vertraulich zu dem Nebenmenschen sein ... Kutsch ist so arm, so weltverlassen ... Er ist nicht ein Mensch wie andre Menschen, gerade so, wie die meisten Menschen nicht Menschen sind wie andere Menschen". Auch diese Stelle ist aufschlußreich. Die meisten Menschen sind eben nicht Menschen, und daran leidet Robert Walser. Das ist seine Verzweiflung. Robert Mächler hat das in seiner Biographie so gesagt: „Freilich hat er das Gesellschaftsleben krank gefunden, und wahrscheinlich, weil er gesund war, ist er davon krank geworden". Seine Distanz zur Gesellschaft war überdeutlich. Für die Künstler forderte Walser sogar ein „gespanntes Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft". Ist das nicht vorhanden, würden sie schnell erlahmen. Sie dürfen sich von dieser Gesellschaft nicht verhätscheln lassen, „weil sie sich sonst verpflichtet fühlen, sich den gegebenen Verhältnissen anzuschmiegen". Auch dies war ein kennzeichnender Satz für Robert Walser, der wie Gottfried Keller der Meinung war, daß der Schriftsteller dem Volk den Spiegel vorhalten und „kommende Ereignisse" spüren müsse. „Nie", vertraut er Carl Seelig an, „auch nicht in Perioden der größten Armut hätte ich mich von ihr (der Gesellschaft) kaufen lassen. Immer war mir die persönliche Freiheit lieber". Dieses Sich-nicht-kaufen-lassen war ebenfalls ein Grundzug, eine Protesthaltung bei Walser. Seine „Honoraransprüche" sind wohlerwogen, dosiert, angemessen, aber er läßt eher einen Abdruck scheitern als daß er bereit wäre, ein unangemessenes Honorar entgegenzunehmen. Einmal, gegenüber dem Schweizer Rundfunk, gibt er nach. Aber er findet scharfe Worte. „Einstweilen ist halt noch überall, was Dichtkunst anbelangt, Ausbeutungssystem. Es besteht n o c h keine Möglichkeit, dem zu widerstehen". (Mächler, 193). An den Präsidenten der Kunstgesellschaft Thun, Adolf Schaer-Ris, schrieb er am 4. Oktober 1926, er stünde heute „in einem
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Kampf um seine Existenz ... Hätte ich Geld, wäre ich reich, so würde ich überzeugt sein können, achtungsvoll behandelt zu werden. Da dies aber nicht der Fall ist, ich zudem noch im anrüchigen Junggesellenstand lebe, über den man- so gern moralisch herfällt, so fürchte ich, wie ein poverer diabel angeschaut zu werden. Sie selbst wissen, wie sehr gerade heute auf alles Äußere geschaut, wie lediglich danach der Mensch beurteilt wird ... Daß ich Ihnen zu bedenken gebe, daß mein Name durchaus keinen Schild, kein festes Haus, keine Burg bildet ... was die materielle Seite unserer Angelegenheit bildet, so veranlassen mich meine bürgerlichen Gegner, die Miene machen, mich für einen Bettler zu halten (und die Verunglimpfungen sind ja das Mächtige in der Welt), Ihnen zu eröffnen, daß ich den Anstand zu beeinträchtigen fürchtete, wenn ich für das Lesen in Ihrer geschätzten Stadt weniger als Franken 200 Honorar forderte. Gerade mein Dichtertum ist ja vor einigen Jahren in Bern, das ich seither bewohne, auf eine geradezu zerschmetternde Art und Weise in einer hiesigen, ersten Zeitung angegriffen worden". Als Carl Seelig ihm im Mai 1944 erzählt, er habe für den Dramatiker Georg Kaiser, der in Not sei, eine Geldsammlung eingeleitet, äußerte Robert Walser die Ansicht, daß man grundsätzlich nur große Beträge annehmen sollte. „Kleine Beiträge reizen zu Spott und zur Entwürdigung. Ich persönlich hocke lieber im Dreck, als schäbigen Spendern ,merci!' sagen zu müssen. Selber Dienste verrichten ist immer besser, als sie annehmen". Walser hatte seine Maßstäbe; als er einmal gefragt wurde, wieviel er brauchen würde, um als Schriftsteller leben zu können, antwortete er, daß er sich mit 1800 Franken jährlich einrichten können. Er hatte Maßstäbe aber auch bei Schriftstellern studiert, so bei Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. „Zwei Demokraten und Erzähler, wie es hierzulande vor- und nachher keine mehr gegeben hat". „Lesen Sie einmal bei Goethe und Mörike nach! Da kann man lernen, sich mokant zu belächeln", sagt er am 10. September 1940 zu Carl Seelig. Er studierte immer wieder Goethe, den er in einer Hinsicht besonders bewunderte: „Etwas vom Großartigsten bleibt doch Goethes gesellschaftlicher Instinkt und sein Genie, für alle Lebensperioden die passenden Arbeitsräume herzuzaubern. Das hat nicht seinesgleichen. War er vom Dichten ermüdet,
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so hat er sich im Raum der Geologie und Botanik, an ministeriellen und theatralischen Betrieben neu erfrischt. Immer entdeckte er andere Quellen, um sich wieder zu verjüngen". Ad 3. Sein Verhältnis zu Verlegern Seiner „kläglichen Erfahrung mit den Messieurs les éditeurs" ist unsere ganze Untersuchung gewidmet. Wir erinnern uns, daß er die Haltung der Verleger, ihn zum Erfolgsschriftsteller machen, ihn zu einer Karriere bringen und zu Vorbildern überzeugen zu wollen, als „verführerische Ohrenbläserei" bezeichnet hat, die „schon manche schwächliche Natur r u i n i e r t hat". Er klagte die Verleger an, daß im Verkehr mit ihnen „eine geradezu epidemische, krankhafte, krankheitsähnliche Unzuverlässigkeit" herrsche. Überall geriete man bei Verlagen in „Mäuse- oder Wolfsfallen", es verschwänden Manuskripte oder man werde betrogen. Verleger, so schreibt er 1927, „die von mir Sachen haben wollen, sind dumme Cheibe, denn sie bekommen nichts, d a s i e ' s u n r e d l i c h m i t m i r m e i n e n " . Zsolnay ist ein „Romaneditorschurke", Rowohlt wegen seiner „Unartigkeit" ein „ächter Germane". Die meisten Verleger verstünden ohnehin nichts von Literatur. Das ist der eine Robert Walser, der produzierende, der schöpferische, der gekränkte, enttäuschte, verzweifelte. Der andere Walser, der aus dem Produktionsprozeß ausgeschieden ist, läßt sogar den Verlegern ihr Recht widerfahren. Es ist, wieder am 10. September 1940, eine der großartigen Eintragungen in Seeligs Wanderungen mit Robert Walser. Walser erinnere sich exakt an weit zurückliegende Ereignisse, an Dutzende von Namen und an Einzelheiten aus dem Leben Friedrichs des Großen, an Napoleon, Goethe, Keller und viele andere. Und dann kommt die Eintragung: „Haben Sie schon bemerkt, wie jeder Verleger nur in einer bestimmten Epoche gedeiht? Die Offizinen Frobenius und Froschauer im Mittelalter; Cotta im aufkommenden Bürgertum, die Herren Cassirer im dulci jubilo der Vorkriegszeit; Sami Fischer im jungen, vom Kaisertum sich losgürtenden Deutschland, der abenteuerliche Ernst Rowohlt in der Vabanque-Nachkriegszeit. Jeder hat die Atmosphäre, die er für sein Unternehmen braucht und in der er saftig
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verdient". Selten hat ein Autor dies Geheimnis verlegerischen Erfolges so treffend beschrieben. Der Verleger ist an seine Zeit gebunden, an die Autoren dieser seiner Zeit. Wenn er seinen Verlag richtig angelegt hat, so korrespondiert die Geschichte seines Verlages mit der Literaturgeschichte der Zeit. Walsers Urteil ist frappierend und gerade nach seinen Erfahrungen, die er zeit seines schreibenden Lebens mit den Verlegern gemacht hat, erstaunlich. Ist es das Urteil eines Kranken, eines Irren? Die Eintragung vom 10. September 1940endet noch einmal frappierend. Seelig und Walser unterhalten sich, warum ausschließlich Einzelstehende in der Heilanstalt seien. Wirke verdrängte Sinnlichkeit ungünstig 'auf das Gehirn? „Vielleicht haben Sie recht", sagte Robert Walser zu Carl Seelig, und fuhr dann fort: „Ohne Liebe ist der Mensch verloren". Auch an diesem Abend kehrte Robert Walser wie immer in seine Irrenanstalt zurück. Ad. 4. Sein Verhältnis zu den Schriftstellerkollegen Dieses war überaus merkwürdig. Den Schriftsteller, der ihn am meisten förderte, der sich öffentlich am häufigsten und am rühmendsten über ihn äußerte, der aktiv für ihn und sein Werk eintrat, Hermann Hesse, ihn traf Walsers Spott am meisten. Doch er ging auch nicht zimperlich mit anderen Autoren um. Da ist der „Dichter" Hans Mühlenstein, dieses „Genie", das auf Kosten seiner reichen Frau die fruchtbringendsten Reisen mache und seine „allerhöchsten" Gedanken einem Phonographen anvertraue. — Albin Zollinger, der ihn früh lobend rezensierte, bleibt von seinem Spott nicht verschont. Auch nicht Carl Spitteler, der „Große" und „Vorbildliche", der sich aber in einem Brief an Cassirer sehr abfällig über Walser geäußert hat, wird kritisiert. An Thomas Mann ironisiert Robert Walser die „Hygiene des Erfolgs": „Alles hat Thomas Mann schon von Jugend auf gehabt: Bürgerruhe, Sicherheit, Familienglück, Anerkennung. Nicht einmal die Emigration konnte ihn umwerfen. Er hat auf fremdem Boden weitergeschrieben wie ein fleißiger Prokurist in seinem Kontor, so die Josefsromane, die trocken und erschwitzt wirken, lange nicht so schön wie die erstaunlichen Frühwerke. Irgendwie merkt man den späteren Sachen die Stubenluft an, und so sieht ihr Verfertiger auch
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aus: wie einer, der immer fleißig hinter dem Schreibtisch und den Kontorbüchern gesessen ist. Aber seine bürgerliche Ordentlichkeit und seine fast naturwissenschaftliche Bemühung, jedes Detail an die rechte Stelle zu setzen, hat etwas Respektgebietendes". Es ist ganz deutlich, wie sich hier Walser gegen Thomas Mann entwirft, wie er ihn bewundert, beneidet, wie er doch nicht sein möchte wie er — und doch ist hier einer, der es geschafft hat. Ein Erfolgreicher. Unmittelbar daran anschließend lesen wir Robert Walsers Satz: „Wie manchen l e g t d e r N i c h t e r f o l g v o r z e i t i g ins G r a b ! " Weihnachten 1952 räsonierten Seelig und Walser über „Anna Koch, die Mörderin von Gonten". Diese Mörderin habe nicht aus unedlem Affekt heraus gehandelt, sie sei hingerichtet worden. Er, Robert Walser, sei ein scharfer Gegner der Todesstrafe, sie sei eine Anmaßung, die er verabscheue. Dann, während des Mittagessens, als er die Seezunge zerlegte, „Wer ist überhaupt ein Mörder? — Können Sie's mir sagen? " Seelig antwortete: „Nein, die Grenze ist viel zu flukturierend". Robert Walser nach längerer Pause: „Ist in seiner Art nicht auch e i n e r f o l g r e i c h e r S c h r i f t s t e l l e r e i n M ö r d e r ? " Aus der Stelle geht nicht hervor, wen Robert Walser gemeint haben könnte. Aber es läßt sich vermuten, welchen erfolgreichen Schriftsteller er als seinen „Mörder" sah, der den Nicht-Erfolgreichen „vorzeitig ins Grab" brachte. Am entschiedensten sind seine Aggressionsgefühle gegen Hermann Hesse. 1904 erschienen Peter Camenzind und Fritz Kochers Aufsätze. Während es der Camenzind war, der Hermann Hesses Namen, wie Hugo Ball berichtete, „mit einem Schlage durch ganz Deutschland trug'' und „Hesse jetzt dort stand, wo er hingehörte: auf dem Forum weithin vernehmbar", waren Fritz Kochers Aufsätze ein totaler Mißerfolg. Hermann Hesse aber schrieb über Robert Walser, „Wenn er hunderttausend Leser hätte, wäre die Welt besser". Aber Walser fand diese hunderttausend Leser nicht, und irgendwie hat man bei seinen Bemerkungen über Hermann Hesse den Eindruck, er mache Hesses Erfolg für seinen Mißerfolg verantwortlich. Ganz spontan spricht er im Mai 1943 von den „Zürchern". „Die Zürcher haben von meinen Gedichten überhaupt keine Notiz genommen. Die schwammen damals doch alle in der Begeisterung für Hesse. Auf seinem Buckel ließen sie mich lautlos herunterrutschen". Diese Wen-
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dung ist sehr deutlich. Es ist fast ein Feindbild, das hier auftaucht. Und gerade weil Hesse die falsche Adresse ist, sind diese Boshaftigkeiten doch sehr kennzeichnend. Aber es ist mehr als Spott, und seine Äußerungen sind mehr als Bosheiten. An einem Tag, am 27. Juni 1937, Seelig und Walser haben ihr Mittagessen in der Wirtschaft „Zum steinernen Tisch" eingenommen, von wo man weit ins Bodenseegebiet hinaus sah, wo Hesse einst wohnte, stellt Walser abrupt die Frage: „Wissen Sie, was m e i n V e r h ä n g n i s ist? " Und er nimmt dies nun ganz ernst, sein Verhängnis und seinen Grund, warum er in der Anstalt gelandet sei: „Passen Sie gut auf! All die herzigen Leute, die glauben, mich herumkommandieren und kritisieren zu dürfen, sind fanatische Anhänger von Hermann Hesse. Sie vertrauen mir nicht. Für sie gibt es nur ein Entweder-Oder: »Entweder du schreibst wie Hesse oder du bist und bleibst ein Versager'. So extremistisch beurteilen sie mich. Sie haben kein Vertrauen in meine Arbeit. U n d d a s i s t d e r G r u n d , w e s h a l b i c h i n d e r Anstalt gelandet bin". Kein Vertrauen zu seiner Art, kein Vertrauen zu seinen Arbeiten. Er solle nicht Robert Walser, sondern solle Hermann Hesse sein. Auch dieser Tag in den Aufzeichnungen von Carl Seelig endet mit einer großen Bemerkung. Erfolglosigkeit war sein Unglück, aber an ihm kann man produktiv werden. „Das Glück ist kein guter Stoff für Dichter. Es ist zu selbstgenügsam. Es braucht keinen Kommentar. Es kann in sich zusammengerollt schlafen wie ein Igel. Dagegen das Leid, die Tragödie und die Komödie: sie stecken voll Explosivkräften. Man muß sie nur zur rechten Zeit anzünden können. Dann steigen sie wie Raketen zum Himmel und illuminieren die ganze Gegend". Auf zwei Seiten dieser „Aufzeichnungen" werden Verhängnis und Leid als Abgrund, als Versagen, als Grund, „weshalb ich in der Anstalt gelandet bin", gesehen. Aber auch Verhängnis und Leid als Träger von Explosivkräften, die man zur rechten Zeit anzünden und mit denen man die Welt illuminieren kann. Eine ungewünschte Heirat, nur um verheiratet zu sein, ein Kind zu zeugen, um dies einem Verlag zu schicken, der dies kaum ablehnen wird: deutlicher läßt sich sein von ihm empfundenes Schicksal, dauernd als unausweichlich und unabhänderlich Erfolgloser von Verlegern abgelehnt zu werden, kaum schildern. Selbst Koketterie über Erfolglosigkeit ist
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bei ihm noch bezeichnend: „Uns ist ein junger Mann bekannt", heißt es in dem Prosastück Die Ruine vom Sommer 1925, „der die Kaufmannskarriere zugunsten der poetischen preisgab. Der Himmel und die menschliche Gesellschaft straften ihn hart dafür. Er wurde Schriftsteller und blieb als solcher bodenlos erfolglos". Schriftsteller und „als solcher" erfolglos, das mußte ihn zu Boden drücken. Dabei wußte er sich Berufskritikern durchaus zu erwehren. Am 17. Juli 1946 sagte er zu Carl Seelig über literarische Kritik: „Lachen und schweigen, das ist das beste,was sich in einem solchen Fall tun läßt. Man muß auch ein bißchen Gestank vertragen können". Und doch sind Kritiker eine Gefahr: „Wie eine machtbewußte Boa constrictor ringeln sie sich um die Leiber der Autoren, drücken und ersticken sie, wann und wie sie wollen". In einem Punkt war Walser besonders empfindlich: wenn seine Sprache kritisiert wurde. Diese Sprache zu verstehen und zu schätzen bedurfte es vielleicht auch einer gewandelten Zeit, in der die Menschen die Erfahrung der modernen Kunst dieses Jahrhunderts machen konnten. Wie sehr mußte es ihn damals verletzt haben, als eine Schauspielerin, der er eines seiner Bücher geschenkt hatte, es ihm zurückgab mit den Worten: „Lernen Sie erst Deutsch, bevor Sie Geschichten schreiben wollen". Und selbst noch in der Anstalt mußte er eine Kränkung von seinem „hochwohllöblichen" Chefarzt Dr. Hinrichsen hinnehmen: dieser Arzt, der selbst als bedeutender Schriftsteller gelten wollte, rügte ihn scheinbar schonungsvoll wegen der Sprache der Geschwister Tanner, die ersten Seiten seien gut, der Rest „unmöglich". So blieb Walser noch innerhalb der Anstalt von seiner Erfolglosigkeit verfolgt. Mit Recht konnte er Carl Seelig gegenüber folgern: , Ja, die Erfolglosigkeit sei eine bitterböse, gefährliche Schlange. ,Sie versuche unbarmherzig das Echte und Originelle im Künstler zu erwürgen". Hier haben wir wohl das zentrale Motiv. Für seinen ersten Anstaltseintritt hatte Robert Walser noch „Krankheitseinsicht", er, der Erfolglose, der von „Ohrenbläserei" Ruinierte, ließ sich von seiner bitterbösen und gefährlichen Schlange bestimmen. Doch als sie auch sein Echtes und Originelles würgte und die Welt ihm keine Gelegenheit mehr gab, sich zu befreien, indem sie ihn mit Gewalt in die andere Anstalt steckte, da hörte
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Robert Walser mit Schreiben auf. „Ich werde mit mir zu Ende sein, sobald ich mit Dichten fertig bin, und das freut mich. Gute Nacht". Am 19. Juni 1933 wurde er in die Anstalt Herisau eingeliefert. 23 Jahre wohnte er dort. Mit dem Dichten war er fertig. Er starb am 25. Dezember 1956 auf einer Wanderung. Aus der Vorlesung „Robert Walser und seine Verleger". Enthalten in: Siegfried Unseld „Der Autor und sein Verleger". Frankfurt 1978.
Heinz Friedrich
Das Buch im Zeitalter der totalen Multiplikation Versuch einer Standortbestimmung des Verlegers in der heutigen Zeit Bucher, so heißt es, hatten ihre Schicksale. Dieser Satz, der tief klingt und wenig aussagt, gehort seit den Tagen der Spatantike zum Hausschatz bildungsbeflissener Kreise. Wer ihn in den Mund nimmt, gilt als geistvoll, ohne dafür den Beweis antreten zu mussen. Er erweist durch ihn dem Kulturgut „Buch" Reverenz in dem Bewußtsein, das Seine zwar nicht getan, aber doch wenigstens gesagt zu haben. Herausfordernde Originalität gewinnt der Gemeinplatz von den Bucherschicksalen erst in einer Variation, die besagt, daß Bucher nicht nur (was eigentlich auf der Hand hegt) Schicksale hatten, sondern auch und vornehmlich Schicksal seien, und dies keineswegs nur im kulturell Guten. Denn schließlich ist jedes Buch, ob gut oder schlecht geschrieben, ob bedeutsam oder lappisch, ob wahr oder lügnerisch, ob mitreißend oder langweilig, ein geistiges Ereignis, das zumindest den etwas angeht, der sich damit beschäftigt. Jedes Buch ist ein Faktor in der geistigen Energie-Versorgung der Menschheit ... Warum dem so ist und gar nicht anders sein kann, davon soll nachfolgend gesprochen werden — und auch von der Verantwortung, die somit denen zufallt, die vom Schicksal, das Bucher zumessen, betroffen werden, das heißt: die sie schreiben, die sie herstellen und vertreiben und — die sie lesen. Verantworten bedeutet: begründet-schlüssige Antwort geben können und auch geben auf die Frage nach dem Sinn dessen, was man tut. Man sollte annehmen, dies sei eine Selbstverständlichkeit, über die sich kaum zu reden lohne, zumal Verantwortung die Grundlage sozialen Zusammenlebens überhaupt und des demokratischen im besonderen ist. Je freier eine Gesellschaft sich selbst zu verwirklichen wünscht, um so großer ist die Verantwortung, die der Einzelne an seinem Platz fur sich und fur die anderen auf sich nehmen muß. Verbal zögert natürlich niemand, sich zu
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derartigen Selbstverständlichkeiten , die fast schon wie Gemeinplätze anmuten, mit idealistischem Augenaufschlag zu bekennen; de facto jedoch läßt gerade dies Verantwortungsbewußtsein in jenem Teil der Welt, der sich stolz die „freie" nennt, von Jahr zu Jahr mehr zu wünschen übrig. Was stattdessen Besitz ergreift von den Hirnen der Menschen, die in dieser freien Welt leben, das ist ein Individual-Egoismus, der sich mit fragwürdiger Moralheuchelei zu drapieren und auch zu rechtfertigen versucht. Wer sich nicht bereit zeigt, dieses Spiel mitzuspielen, wird entweder als weltfremd belächelt oder als Sympathisant sozialistischer Ideen etikettiert. Auch der Vorwurf des „Kulturpessimismus" ist in solchen Fällen schnell zur polemischen Hand — und zwar vor allem dann, wenn eine besondere Spielart der gesellschaftlichen Verantwortung, nämlich die des Verlegers zur zeitgeistigen Debatte steht. Das heißt: wenn man sich anschickt, statt von Schicksalen der Bücher von den Büchern als Schicksal zu reden. Verantwortung, ernst und beim Wort genommen, ist unbequem. Sie setzt Gewissen voraus und Mut zur unzeitgemäßen Verweigerung. Beantworten läßt sich mit intellektuellem Geschick vieles, ja fast alles, verantworten wenig. Sophistische Rabulistik und virtuose Spitzfindigkeit vermögen sogar den Unsinn als Sinn zu rehabilitieren; das Einstehen für das, was man als „wahr" zu erkennen glaubt, jedoch erlaubt keine verbalen Ausflüchte, sondern erfordert festen Boden unter den Füßen; es bedarf des Standortes. Und es bedarf sogar der idealistischen Maxime, um der Realität näher zu kommen und für sie zu plädieren, und zwar insbesondere dann, wenn es um Bücher geht. Just hier schürzt sich bereits unser Thema, kaum angeschlagen, zum Problem-Knoten. Denn in unserer westlichen Welt, deren Freiheiten immer entschiedener zur Hybris totaler wirtschaftlicher Enthemmung und zu privatem Besitz-Egoismus pervertieren, kann der Standort, von dem her eine verbindliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn der verlegerischen Arbeit zu erwarten wäre, kaum mehr ausgemacht, geschweige denn kulturverbindlich vermessen werden. Stattdessen bereitet sich zunehmende Standort-Ratlosigkeit aus. Es heißt nicht: „Am Anfang war das Geld", sagte einmal der große Verleger Kurt Wolff, „sondern: Am Anfang war das Wort". Das ist ein
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vortrefflicher buchhändlerischer Leitspruch. Er hat nur den einen Nachteil, daß er von denen, an die er sich richtet, teils ignoriert,-teils ins Gegenteil verkehrt wird — von denen nämlich, die durch ihre wirtschaftliche Macht die Tendenzen des freien Buchmarktes entscheidend bestimmen. Gerade solche Verleger fühlen sich oft von der Standort-Ratlosigkeit am wenigsten beunruhigt und noch weniger verunsichert. Im Gegenteil: sie verdanken gerade diesem Zustand sogar recht spektakuläre geschäftliche Erfolge. Deshalb zögern sie auch nicht, die Standortlosigkeit als den Inbegriff demokratischen Kultur-Verständnisses mit liberaler Bonhomie zu bejubeln und sie durch die soziologische Wunderformel „Pluralismus" im wahrsten Sinne des Wortes ,,gesellschafts"-fähig zu machen. In der Tat: was sollte auch einzuwenden sein gegen ein verlegerisches Selbstverständnis, das keines ist, wenn dies offensichtlich mehr wirtschaftliche Vorteile als Nachteile erbringt —ja: wenn es sich den althergebrachten Praktiken der Buchproduktion und des Buchvertriebs sogar eindeutig überlegen erweist? Hat hier die „normative Kraft des Faktischen" nicht bereits längst das letzte pragmatische Wort gesprochen? Was mich dennoch ermutigt, gegen diese normative Kraft faktischer Erfolgsbeweise anzutreten und anzureden, das ist mein Vertrauen in die Maxime, daß eine gute Sache erst dann wirklich verloren sei, wenn man sie aufgibt. Als eine gute Sache aber begreife ich die ideelle Seite der Buchproduktion, weil sie zu deren Realität unabdingbar gehört. Ohne die kulturschöpferische Komponente verliert der Handel mit Büchern nämlich seinen Sinn und erniedrigt sich zum rein wirtschaftlichen Selbstzweck. Das heißt: der geistige Dialog der Gesellschaft mit sich selbst und über die Grenzen hinweg mit anderen Völkern und Nationen entartet zum quantitativen Buchstaben-Konsum, sobald der Widerstand kulturellen Qualitätsanspruchs dahinschwindet oder sogar systematisch abgebaut wird. Gerade weil in diesen Jahrzehnten mit bekennerischer Inbrunst und mit rhetorischem Eifer Humanität, Menschenwürde und die Aufklärung beschworen werden, sind nicht zuletzt die Verleger aufgerufen, das, was sie tun, auch an diesen Werten, die ja keine Scheinwerte sind, zu messen und zu überprüfen. Schließlich handhaben die Verleger ein bedeutendes Medium, durch das sich die Epoche mitteilt. Folglich hat die Gesellschaft
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auch ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieses Medium wie einsetzt und nach welchen Zeitgeist- oder weltgeist-akustischen Gesetzen es tönt ... Neu sind die Probleme keineswegs, die das Buch jenen ebenso aufdrängt, die Bücher machen, wie der Gesellschaft, an die es sich richtet. Die Notwendigkeit, geistige Herausforderung mit wirtschaftlichen Erfordernissen, das heißt: mit Geld in einen einigermaßen erträglichen Einklang zu bringen, war von jeher durch das Medium Buch selbst vorgegeben. Seitdem nämlich zu Texten formierte Buchstaben und Worte nicht nur gesprochen, sondern auch aufgeschrieben wurden, stellte sich unweigerlich die Frage, die in modernem Soziologen-Jargon lautet: Wie erreiche ich damit die ins Auge gefaßte ,,Zielgruppe"? Die Publizisten der frühesten Kulturen waren zugleich deren oberste Repräsentanten, nämlich Könige oder Priester. Sie lösten das Problem der Veröffentlichung auf höchst einfache Weise, indem sie ihre Texte, die ohnehin kurz und bündig waren, in Steintafeln meißeln und aufstellen ließen. Wobei man wohl gleich hinzufügen muß, daß dieses Verfahren auf „Veröffentlichung" im heutigen Sinne gar nicht abzielte, sondern primär nur der Fixierung und Bewahrung des Verlautbarten diente. Für die abendländische Antike war diese Publikationsform bereits undiskutabel. Zur denkerischen Erkundung des Menschen und der Welt aufgebrochen und von Erkenntnisdurst wie von geistigem Mitteilungsdrang gleichermaßen überwältigt, suchten und fanden die Griechen zum Beispiel (nach ägyptischem Vorbild) eine Form der Veröffentlichung ihrer differenzierten gedanklichen und poetischen Evokationen, die der „lapidaren" Aufzeichnung weit überlegen war — nämlich das Buch, und zwar in Gestalt von Schriftrollen. Mit diesen Schriftrollen wandten sich die antiken Schriftsteller an Individuen der Gesellschaft, und das heißt: an Leser. Daraus ergaben sich die ersten Praxisprobleme in Sachen Buch, nämlich: Wie können die Originaltexte vervielfältigt und wie können die Vervielfältigungen verteilt werden? Ohne Einsatz von Geld, Material und Arbeit — und ohne den Handel waren diese Probleme nicht lösbar. Dementsprechend also mußte der schriftlich fixierte Geist Warencharakter annehmen, um Verbreitung zu finden und um zur Wirkung zu kommen. Bis heute hat sich an dieser Grundvoraussetzung nichts geändert.
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Mit ihr muß sich seither jeder auseinandersetzen, der mit Büchern umgeht — vom Autor bis zum Leser. Im alten Griechenland avancierte diese Vernunftehe zwischen Geist und Geschäft allerdings ebensowenig zum gesellschaftlichen Dilemma wie im europäischen Mittelalter oder in den ostasiatischen Hochkulturen. Die Griechen und Römer behalfen sich mit Schreibstuben, in denen zahlreiche Sklaven nach Diktat eines Vorlesers Kopien der Originaltexte gleichzeitig auf Papyrusrollen schrieben. Die Auflagen, die auf diese Weise zustande kamen und von den Buchhändlern verkauft wurden, waren für damalige Verhältnisse durchaus beachtlich. Das europäische Mittelalter konnte damit Jahrhunderte später weder wetteifern noch aufwarten. Während dieser Epoche erfolgte eher ein Rückschritt im Vervielfältigen von Büchern. An die Stelle der antiken Schreibstuben traten nun die Klosterzellen, in denen Mönche in mühsamer, jedoch liebevoller Kleinarbeit jene buchkünstlerischen Meisterwerke schufen, die heute zu den größten Kostbarkeiten der Kulturwelt zählen. Der Vervielfältigungs-Effekt dieser mönchischen Handschriften-Praxis war denkbar gering; oft gab es nur Unicate — und wenn von dem einen oder anderen Text später doch noch weitere Abschriften angefertigt wurden, so war deren Zahl klein und fiel im Hinblick auf publizistische Breitenwirkung überhaupt nicht ins Gewicht. Gelegentlich wird dieser mangelnde gesellschaftliche Effekt der mittelalterlichen Buchproduktion als Musterbeispiel geistiger Unterdrückung durch eine herrschende Bildungsmacht angeführt; auf diese Weise habe die katholische Kirche die Emanzipation des absichtlich verdummten Volkes verhindern wollen. Dem war primär jedoch nicht so. Weder die angebliche oder auch tatsächliche Verdummungsstrategie der Priester noch das kostbare und in Mengen nur schwer beschaffbare Pergament als Schreibmaterial waren der Grund für den elitären Charakter der Handschriften; vielmehr lag zunächst schlicht Mangel an allgemeinem Interesse vor für das, was die hervorragenden Köpfe des Mittelalters geistig-kulturell bewegte. Mitteleuropa mußte sich erst aus dem Bildungsdunkel, in das es nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreichs zurückgesunken war (oder aus dem es sich noch gar nicht erhoben hatte), befreien und jenes geistige Potential über Jahrhunderte hinweg anreichern, mit dessen Sprengkraft schließlich, zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert,
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die Pforte zur Epoche der Neuzeit aufgebrochen wurde. Das heißt: vorausgesetzt, der Vorwurf priesterlicher Volksverdummung träfe zu, sohätte diese Strategie, wie die Tatsachen bezeugen, dennoch nichts genutzt. Geist, der erwacht und sich befreien will, sprengt alle Fesseln. Die Buchhistorie wurde hier in wenigen Stichworten nur deshalb noch einmal repetiert, um die grundstürzenden Veränderungen umso greller zu beleuchten, die sich nunmehr seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in fünfhundert Jahren europäischer Neuzeit ereigneten und in deren Bann heute die gesamte Bücherwelt steht. Dementsprechend leiden wir heute global auch an dem ersten Massen-Medien-Erfinder, durch den die Neuzeit sich zu Wort meldete, nämlich an Gutenberg. Natürlich war Gutenberg nicht der Urheber dieser Entwicklung; als Werkzeug seiner Epoche folgte er lediglich deren Fortschrittsbefehl. Jede Zeit nämlich fordert, wenn die Epochen-Stunde schlägt, die Genies heraus, deren sie zu ihrer Verwirklichung bedarf. So bedurfte das 15. Jahrhundert Gutenbergs; es forderte den Buchdruck als Erfindung geradezu unnachgiebig heraus, um jene aufklärerischen, emanzipatorischen Gedanken in die Hirne der Zeitgenossen einpflanzen zu können, die zu neuen geistigen, politischen und gesellschaftlichen Ufern lockten. Die Vision dieser Ufer war für die damalige Zeit ungeheuerlich: sie ließ vor dem Blick jenes Menschenbild erscheinen, das inzwischen als Erfüllung der menschlichen Existenz schlechthin gilt: das vor sich selbst, vor anderen und vor Gott in Freiheit sich verantwortende Individuum. Umwälzende Ideen bedürfen der Konspiration; sie müssen Bundesgenossen aktivieren, um Bewegung auszulösen und Macht zu gewinnen, Macht über Köpfe und über Herzen. Das vervielfältigte Wort war für diese Konspiration ein Nachrichten-Vehikel von unschätzbarem Wert. Im Zeitalter der Reformation errang dieses neue Vehikel Buch bereits seinen ersten epochalen Triumph: ohne Gutenbergs Erfindung wäre Luthers Reformation kaum das Ereignis geworden, das sie de facto wurde. In Europa blühte im Zeitalter der Reformation der Handel mit Texten wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit — und es wurde immer offenkundiger, wieviel Glanz, aber auch wieviel geistiges Elend dieser Umbruch in der Technik der Buchherstellung zu verbreiten imstande war. Seit fünfhundert Jahren nun rollt bedrucktes Papier über die zivilisierte
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Menschheit hinweg und wächst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu ungeheuren Informations-Lawinen an. Die Produktion und der Verkauf von Büchern avancierte schließlich zu einer Industrie, die sich an ihren Wachstumsraten berauscht und die den quantitativen Bücherfortschritt als der kulturellen Weisheit letzten Schluß propagiert. Selbst die neuen Massenmedien des 20. Jahrhunderts (Rundfunk, Film und Fernsehen) konnten die Vormacht der Bücher nicht brechen. Im Gegenteil: immer entschiedener setzt sich das Buch auch als Status-Symbol der gesellschaftlichemanzipierten Massen durch, der alten sozialistischen Devise eingedenk, das Wissen Macht sei. Und daß Wissen aus Büchern quillt, das hat sich inzwischen weltweit herumgesprochen. Fragt sich nur: welches Wissen aus welchen Büchern ... Aber davon etwas später. Vorerst drängt sich angesichts der fünfhundertjährigen Geschichte neuzeitlicher Buch-Revolution nochmals die schon eingangs angesprochene Frage auf: Na und? Haben wir es nicht herrlich weit gebracht? Steht bei so viel Fortschritt nicht alles zum besten in der Buchlandschaft? War es etwa nicht sehr an der Zeit, daß die Bücher aus der elitären Bildungsreserve herausgelockt und demokratisiert, ja: proletarisiert wurden? Immerhin, so könnten die fortschrittlichen Frager noch hinzufügen, wehe dadurch überall dort, wo heute Meinungsfreiheit herrscht, der Geist wo und wie er wolle. Der Informationsstand der freien Gesellschaft sei derzeit überwältigend. Alles sei potentiell mitteilbar, und fast alles werde auch mitgeteilt. Es liege nur am mündigen Leser, von diesen Mitteilungen den rechten wählerischen Gebrauch zu machen. Die Freiheit dazu habe er schließlich. Was will man eigentlich mehr? Solche Argumente wirken auf Anhieb fast überrumpelnd. Denn: kann man wirklich mehr wollen als dies: totale Information in totaler Freiheit? Nun: man kann es. Ja: man soll sogar mehr wollen, wenn man die Sache und damit auch deren Probleme ernst nimmt. Was solcher Opportunismus nämlich unbeantwortet läßt, das ist die Frage nach der anthropologischkulturellen Qualität und Wirkungskraft der multiplizierten Information — oder, schlichter ausgedrückt, die Frage nach dem Inhalt der Bücher. Selbstverständlich stehen die Inhalte von Büchern auch heute zur verlegerischen Debatte, wie könnte das anders sein. Aber diese Debatte wird bereits beängstigend freimütig unter dem absoluten Primat ökonomischen
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Kalküls geführt. Die Präpositionen geistig-kritischer Urteilsfaktoren erscheinen dabei eher hinderlich als förderlich, weil sie bequeme und ertragreiche Geschäfte zu stören drohen. Entsprechend bedenkenlos werden sie oft eliminiert — und diese Bedenkenlosigkeit, die gelegentlich bereits Formen von Rücksichtslosigkeit annimmt, scheint noch nicht einmal Folgen zu haben. Wenn geistige Güter in die Luft gejagt werden, gehen nämlich keine Fensterscheiben zu Bruch. Noch nicht einmal rote Lichter leuchten auf. Und selbst die Versorgungsleitungen bleiben heil. Nichts geschieht, nichts klirrt. Statt dessen klettern die Pegelstände der Bestseller-Listen, Umsatzsteigerungen werden wie Schlachtensiege verkündet und Marktanteile wie imperiale Besitzstände verteidigt und ausgebaut. Auf diese Weise wird der Geist zu Prostitution gezwungen — und diese Zuhälterei wirft sogar Erkleckliches ab. Wo kein Wille mehr zu kultureller Sinngebung der menschlichen Existenz jenseits materieller Sachzwänge vorherrscht, breitet sich, und zwar schleichend wie eine heimtückische Krankheit, eben geistige Anarchie dieser Art aus mit allen Folgen moralischen und gesellschaftlichen Verfalls. Was schließlich bleibt, ist Nihilismus, dessen einzige geistige Perspektive darin besteht, daß er sich selbst interessant findet. Wir reden von Geist. Aber was ist das eigentlich, was wir mit dem Begriff „Geist" zu erfassen versuchen? Und warum bekommt ihm ökonomischer Opportunismus angeblich so schlecht? Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, muß man sich durchaus nicht erst zu platonischen Höhen emporschwingen. Eine vergleichsweise einfache Erklärung genügt, um das anzudeuten, worum es hier anthropologisch geht; sie lautet: Geist ist diejenige Sphäre der menschlichen Existenz, die über den reinen animalischen Erfahrungs- und Erlebnisbereich des Lebens-Notwendigen hinaus Erkenntnis nicht nur ermöglicht, sondern die den Menschen auch befähigt, diese Erkenntnis zu reflektieren und sie, indem er sie mit anderen Erkenntnissen und Erfahrungen vergleicht, nach ihrem Wert zu beurteilen. Mit anderen Worten: Geist ermöglicht Denken. Und Denken gilt nach wie vor als das eigentliche Signum der Humanitas. Mit gutem Grund wird daher der Mensch im zoologischen Ordnungsschema auch als n homo sapiens" etikettiert. Eng verknüpft mit dem menschlichen Denken ist das Gedächtnis, denn
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durch Erinnern wird Denken erst möglich. Das heißt: das menschliche Hirn speichert Erkenntnis- und Erfahrungsdaten, auf die es zurückgreift, wenn es neue Informationen denkend verarbeitet und beurteilt. Da nun aber der homo sapiens das neugierigste Lebewesen dieses Planeten ist und in seiner Gier nach Neuem alles ergreift, was sich seinem Erkenntnisdrang anbietet, gerät das Gehirn dieses Neugier-Wesens in einen Notstand: es kann nicht alles fassen und speichern, was ihm die Sinne signalisieren. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, reagiert das Hirn verblüffend einfach: es schafft Platz für neue Daten, indem es alte löscht. Dadurch gehen dem Menschen natürlich viele Erfahrenswerte wieder verloren, die er potentiell für behaltenswert erachtete. Auch der höchste Intelligenzgrad kann diese physiologische Grenze der Wissenskapazität auf natürliche Weise nicht überwinden. Aber der schlaue homo sapiens fand einen künstlichen, einen technischen Weg, um mit dem vorliegenden Gedächtnisproblem fertig zu werden: mit Hilfe von abstrakten Buchstaben-Kürzeln schrieb er die gewonnenen Erfahrungsdaten und Denkergebnisse auf und bewahrte sie damit vor dem Vergessen. Das heißt: er konstruierte ein schier unerschöpfliches künstliches Gedächtnis. In ihm häufte er nun einen Erfahrungsschatz auf, der ihn innerhalb kürzester Erdzeitfrist zum Herrn, aber auch zum Peiniger des Planeten aufsteigen ließ. Angesichts dieses Sachverhalts kann man durchaus aus gutem anthropologischen Grund behaupten, der Umgang mit Büchern erweitere den Horizont, und auch der Slogan: Bücher seien Erfahrungen, die man kaufen könne, gewinnt aus diesem anthropologischen Grund einen tieferen Sinn. Deshalb muß, wer über die Probleme der Bücher redet, zugleich auch über das Problem der menschlichen Wirklichkeit reden, von der die Bücher als Bewahrer und Vermittler geistiger Informationen ein wesentlicher, nicht abspaltbarer Teil sind. Man könnte sogar sagen: ohne Buch wäre der Mensch kein Mensch. Wenn es darum geht, Absatzmärkte für Druckwaren zu erschließen, zögern die Werbe-Auguren auch keinen Augenblick, mit kulturfrommem Augenaufschlag dieses Thema aufzugreifen und aus ihm Kapital zu schlagen. Wagt dann jedoch jemand, die angepriesenen Produkte moderner Buchstaben-Multiplikation beim kulturbewußten Wort zu nehmen und an diesem auch zu überprüfen, so wirft sich diesem Wagnis geistigen Warentests
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jedoch sofort empörter Interessen-Egoismus entgegen. Romantisch oder idealistisch sind noch die geistvollsten Adjektive, mit deren Hilfe geschäftsschädigende Einmischungen dieser ideellen Art in die inneren Angelegenheiten des Buchmarktes zurückgewiesen werden. Da dem leider so ist, besteht allerdings um so dringender der Anlaß, derart offenkundiger KulturSchizophrenie nachzugehen und nach jenen wesentlicheren Bezügen der verlegerischen Arbeit bohrend weiterzufragen, die nicht von deren ad hoc sorgfältig polierter Oberfläche rückgespiegelt werden — was bedingt, daß wir noch mit einigen Sätzen im Bereich der Denkphysiologie ververweilen müssen. Im Zusammenhang mit dem, was über Erkennen, Erinnern und Vergessen — und auch über den von der Menschheit künstlich angehäuften Erfahrungsschatz gesagt wurde, darf nämlich nicht verschwiegen werden, daß die Denkfähigkeit und die ihr entsprechende hohe Intelligenz den Menschen nicht nur auszeichnet, sondern ihn zugleich auch bis zur Selb st Verneinung und Selbstvernichtung gefährdet. Die Geschichte der menschlichen Vernunft verzeichnet denn auch Katastrophen genug. Einerseits zwar fühlt sich der Mensch aufgerufen, die höchste und edelste Ausprägung seiner Existenz anzustreben, andererseits aber verleitet ihn sein großartig funktionierender Verstand auf teuflische Weise, dieses Streben unentwegt zu sabotieren und mit den raffiniertesten Gedankenmitteln dem brutalen Willen zur Macht zu huldigen und ihn durchzusetzen. Denn Denken befähigt dieses kluge planetare Wesen nicht nur zum Erkennen der Wahrheit, sondern auch zum Gebrauch der Lüge. Das heißt: was der homo sapiens äußert, muß mit höchstem Mißtrauen zur Kenntnis genommen werden. Dies gilt in erhöhtem Maße von dem, was der homo sapiens gedruckt aufbewahrt und verbreitet; denn dadurch, daß sie aufgeschrieben werden, gewinnen Lügen, Halbwahrheiten, Irrtümer, Flachheiten und Pseudoweisheiten erst menschliche Dauer und wirken wie schleichendes Gift, das um so intensiver wirkt, je mehr gedruckt wird. Denn je mehr gedruckt wird, um so wahlloser und sinnloser wird notgedrungen gedruckt, und um so fataler potenzieren sich auch die gedruckten Lügen, Halbwahrheiten, Irrtümer, Illusionen und Beschränktheiten: die politischen, die wissenschaftlichen, die metaphysischen, die theologischen und die philosophischen — von den Lebens-
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lügen und den politischen Schwindeleien ganz zu schweigen. Beschwert wird die Sachlage noch dadurch, daß viele Lügen sogar guten Glaubens vorgebracht werden, aus Unvermögen, Engstirnigkeit oder anderen menschlichen Schwäche-Gründen. Denn, schreibt Marcel Proust mit bitterer Ironie — denn: „Nicht dadurch, daß man andere, sondern auch daß man sich selbst belügt, verliert man schließlich das Gefühl dafür, wann man eigentlich lügt." Allerdings sind Spätzeitkulturen, was die eigenschöpferische Leistung angeht, auch ziemlich frustriert. Der Freiraum für große kreative Gedanken und Entwürfe ist eingeengt. Wohin der prüfende, suchende Blick der Spätgeborenen schweift, er trifft auf kühne Erfüllungen der Altvorderen, deren Existenz ihn bereits demütigt. So benutzen diese Spätgeborenen schließlich ihre unerschöpfliche Intelligenz nur noch dazu, das Leben intellektuell bis zur Lebensunwürdigkeit zu verkomplizieren. Das heißt: sie setzen zunächst ihre gesamte Verstandeskraft ein, um ihre Irrtümer und Selbsttäuschungen kühn zu verwirklichen, um diese dann mit ebenso großem intellektuellen Aufwand wieder als Fehlkonstruktionen entlarven zu können. So entsteht ein circulus vitiosus geistiger Selbstbefriedigung, dem die darin Eingeschlossenen schließlich nur noch hemmungslosen materiellen Besitz- und Lustgewinn als Sinngebung eines sinnlos gewordenen Daseins abzuzwingen vermögen — und zwar vornehmlich in Form der trivialsten Trivialität. Nun: auf den anthropologisch-kulturellen, also den eigentlich humanen Bezirk der Bücherwelt werfen solche vergleichsweise kultur-apokalyptischen Perspektiven natürlich kein strahlendes Licht. Wenn nämlich Bücher, wie der vorhin zitierte Werbespruch verheißt, Erfahrungen sind, die man kaufen kann, so besagt dies keineswegs, daß diese Erfahrungen — nach dem, was soeben vorgebracht wurde — eo ipso auch wahr und damit anthropologisch sinnvoll seien. Viele Leser (und keineswegs nur die unbedarften) bringen allerdings trotz gehäufter negativer Leseerfahrungen „dem Buch" als dem Inbegriff menschlicher Gedanken- und Phantasiemächtigkeit immer noch einen erstaunlichen Vertrauensvorschuß entgegen, der manchmal geradezu irrationale Züge annimmt. Hier scheinen tatsächlich noch Erinnerungen an jenes geistige Urerlebnis der frühen Menschheit wach zu werden, das damals die Entstehung der
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Schrift herausforderte. Vielleicht glaubt unbewußt der homo sapiens, sobald er ein Buch in die Hand nehme, pflücke er wie weiland Adam noch Äpfel vom Baum der Erkenntnis. Das mag sogar stimmen; denn in der Tat wiederholt jedes Buch so etwas wie jenen Erkenntnisakt, den die Bibel als den „Sündenfall" bezeichnet ... Um so größer, und ich möchte hinzufügen, um so irrationaler dieses Vertrauen ist, um so einfacher läßt es sich manipulieren — zumal dann, wenn die Anfälligkeit selbst bildungswilliger Menschen für geistige Bequemlichkeit in das Kalkül eingebracht wird. Denn gerade diese geistige Bequemlichkeit ist der günstigste Nährboden für flachen literarischen Geschmack (im weitesten Sinn), und dieser hinwiederum stellt einen der sichersten Faktoren dar, auf die ein geschäftstüchtiger und nichts anderem als dieser Geschäftstüchtigkeit verpflichteter Verleger bauen kann. Die menschen- und gesellschaftsfreundlichen Vorwände, durch die sich solche Spekulation zu legitimieren versucht, unterstreichen nur um so deutlicher den eigentlichen Sachverhalt. Sie bezeugen nämlich das schlechte Gewissen derer, die sie vorbringen; offensichtlich wissen sie, was sie tun. Denn im selbstkritischen Ernst nehmen ja wohl auch sie kaum an, daß allein schon die unterschiedslose Produktion von bedrucktem Papier und dessen totale Vermarktung jenen gesellschaftlichen Zustand schaffe, der das Etikett „Kultur" verdient. Und ebensowenig wird, wer auch nur eine vage Vorstellung von geistigen Prozessen sich bewahrte, jenem oft vorgebrachten Argument folgen wollen, es komme zunächst einmal darauf an, daß einer lese; das Bedürfnis nach geistiger Qualität stelle sich dann schon von selbst ein. Wo dies verlautbart wird, läßt die nächste zeitgeistige Patentformel meist nicht lange auf sich warten, die den Leser kurzum für mündig erklärt und ihm dementsprechend auch gleich die alleinige Verantwortung für das, was er liest, aufbürdet — etwa nach dem Motto: „Du, verehrter Leser, bist selbst daran schuld, wenn ich deinen schlechten Geschmack bediene ...". Letztlich handelt nach dieser rabulistischen Maxime die gesamte liberalisierte Wirtschaft. Setzt sie doch viel Kraft und Geld ein, um die gerade erst emanzipierten Zeitgenossen wieder zu unmündigen Konsumenten zu degradieren — wobei diesen Konsumenten eingeredet wird,
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darin eben bestehe ihre Mündigkeit. Die Buchproduzenten fallen also durchaus nicht aus dem Rahmen. Auch sie tun alles, um ihren liebevoll gehätschelten mündigen Leser wieder seiner Mündigkeit zu berauben, indem sie mit einem bedrückenden Aufwand an Public relation, Promotion und Marketing ausgerechnet jene kritische Urteilsfähigkeit des Bachkäufers auszuschalten oder doch zumindest zu manipulieren sich bemühen, die sie angeblich in ihm wachzurufen gedenken. Das erscheint zwar grotesk, aber es hat Methode. Alle diese Symptome sind zweifellos alarmierend. Der Buchmarkt der'freien Welt droht insgesamt zu pervertieren (wie die sogenannte freie Wirtschaft überhaut) zu einem Catch as catch can der egoistischsten wirtschaftlichen Interessen und Mächte, die sich längst nicht mehr um die Notwendigkeit dessen sorgen, was sie produzieren, sondern die nur noch den begehrlichen Blick auf Bedarf sweckung und Marktanteile, auf Umsatz und Renditen richten. So artet zum Beispiel der Handel mit Buchrechten inzwischen bereits zur Börsenjobberei, ja: zum Pokerspiel aus, bei dem die Beteiligten gelegentlich den tatsächlichen Einsatz, nämlich das Buch, um das es dabei geht, gar nicht oder nur vom Hörensagen kennen. Ein internationales Netz von literarischen Agenten sorgt überdies dafür, daß jener Erregungszustand, den das magische Wort „Bestseller" in der Nervenzentrale jedes Verlegers auszulösen vermag, durch ständige Stromzufuhr gesteigert wird, weil nur er die RouletteLeidenschaft garantiert, die große Einsätze wagt. Schon entstanden und entstehen nach Industrievorbild Verlagskonzerne mit entsprechenden ,,Managements" zwecks industrieller Fertigung kultureller Güter zu jedem geistigen Schleuderpreis. Kultur-Industrie ist dementsprechend längst kein kulturkritisches Schimpfwort mehr, sondern wird als Werkwort kulturwirtschaftlichen Fortschritts notiert. Diese Kulturindustrie bringt nun auch die Buchstaben erst so richtig zum Tanzen ... Der Grund für dieses gestörte Verhältnis zur Kultur in allgemeinen und zur Literatur im besonderen ist zweifellos dort zu suchen, wo derzeit schlechthin die Wurzeln unseres geistigen und gesellschaftlichen Übels deutlich hervortreten, nämlich im Primat von Wirtschaft und Technik. Die beherrschende Macht, die gerade diese Faktoren über die Menschen in der Alten und Neuen Welt ausüben, züchtet nämlich eine
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Gesinnung, die in der Ausbeutbarkeit und Vermarktbarkeit aller Güter dieses Planeten, die geistigen eingeschlossen, den eigentlichen Daseinszweck des Menschen zu erkennen glaubt. Dementsprechend mobilisert sie alle schöpferischen Kräfte des homo sapiens auch fast nur noch zu diesem einzigen Geschäft, und zwar rücksichtslos. Der partielle Wohlstand, den eine derart unvernünftige, weil kurzsichtige Verhaltensweise zunächst garantiert, läßt diese materielle Sinngebung des existentiell Sinnlosen sogar für eine Weile als menschenfreundlich erscheinen. Aber Schlaraffenländer sind keine Landstriche, in denen Menschen ohne Verrottung ihrer besten Eigenschaften auf die Dauer zu leben vermögen, ganz abgesehen davon, daß für die gebratenen Tauben der hochindustrialisierten Zonen eher über kurz als über lang eine mit Sicherheit unbezahlbare Rechnung präsentiert werden wird. Die ersten Anzeichen dafür leuchten bereits wie ein Menetekel am Horizont des Jahrhundertendes auf. Für die Kultur ist die Ideologie von der totalen Vermarktbarkeit der Welt tödlich. Denn unter dem Anhauch des materiellen Anspruchs muß sie unweigerlich zum Konsumgut pervertieren und sich selbst zum Gespött werden: nur als Zerr- oder Abziehbild ihrer selbst läßt sie schließlich noch die Kassen zum Jahrmarkt klingeln, auf dem sie zur Belustigung einer sich selbst zersetzenden Epoche vorgeführt und feilgeboten wird. Entsprechend hoch stehen derzeit die Surrogate und der geistige Kitsch, der saure ebenso wie der süße, im Kurs dessen, was man die „kulturelle Szene" nennt und die leichtsinniger oder auch sträflicher Weise gemeinhin schon für Kultur gehalten wird. Kulturen lassen sich weder per Regierungs- oder Ideologie-Dekret aus dem Boden stampfen noch mit Einsatz von Geldmitteln fabrizieren. Sie sind lebendige Organismen, die auf dem Boden der humanen Tradition nur langsam wachsen und sich entwickeln. Sie erneuern und verwandeln sich von Epoche zu Epoche, indem sie sich selbst schöpferisch immer wieder infrage stellen und infrage stellen lassen. Erlahmt dieser Erneuerungs- und Verwandlungsprozeß, weil die Sozietät nicht mehr die Kraft und vielleicht auch nicht mehr den Willen aufbringt, sich der eigenen Geschichte und der geistigen Herausforderung durch sie zu stellen, dann welkt die Kultur und stirbt schließlich ab. Zwar kann man
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absterbende Kulturen durch intellektuelles Beatmen noch eine Zeitlang vor dem Exodus bewahren; aber mehr als einen lebenden Leichnam versorgt man auf diese Weise kaum. Und natürlich kann man Kultur auch museal oder descriptiv mumifizieren und speichern — nur sollte man sich dann vor der Illusion hüten, man sei kulturell produktiv, wenn man die Front dieser Mumien abschreite oder sie feinsinnig beschreibe ... Kurzum: Kultur markiert den Pegelstand, den eine Gesellschaft in gestalterischer Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung erreicht. So gesehen, eignet sie sich weder zum ästhetischen Genußmittel noch zur schöngeistigen Draperie, und als Turngerät für intellektuelle Akrobatik hat sie ebensowenig Überlebenschancen wie als geistiges Waschmittel oder als Status-Symbol. Und dies alles aus dem einen zwingenden Grund, weil Kultur die geistige Wirklichkeit der Gesellschaft nicht etwa nur spiegelt, sondern weil sie diese Wirklichkeit selbst verkörpert und dementsprechend auf die kulturschöpferischen Impulse der Sozietät angewiesen ist. Diese Impulse können durch Machtkämpfe um Marktanteile und Bestseller-Listen gewiß nicht ersetzt werden —, es sei denn, es werde hier um geistige Marktanteile gerungen. Aber davon kann ja wohl kaum die Rede sein ... Es mutet geradezu wie eine weltgeist-ironische Paradoxie an, daß der universale Dialog der Weltkulturen miteinander, der global neue schöpferische Impulse für die Gestaltung der humanen Wirklichkeit hätte aktivieren können, erst einzusetzen imstande war, nachdem das industrielle Zeitalter die Verkehrs-, nachrichten- und medientechnischen Voraussetzungen dafür geschaffen hatte. Dadurch wurde diese sich anbahnende Zwiesprache zwischen den Völkern von vornherein schicksalhaft der technisch-industriellen Revolution und deren Tendenzen unterstellt und auf dem ökonomischen Weltmarkt entschiedener in Gang gebracht als auf dem geistigen. Allein das Beispiel Japan zeigt, wie durch diese Auslieferung an den technisch-ökonomischen Fortschritt ein Volk mit großer kultureller Tradition in kürzester Frist vor die geistigen Hunde zu gehen droht. Entsprechend dieser Entwicklung, die nach dem zweiten Weltkrieg vornehmlich durch die Vereinigten Staaten und deren Vorstellungen
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vom großen Weltgeschäft angeheizt und beschleunigt wurde, sank der Kulturaustausch auf ein Niveau, auf dem die touristische Erschließung innerafrikanischer Negerkrale sowie die Ankurbelung der SouvenirProduktion und die industrielle Ausbeutung der Folklore entschiedener betrieben wird als der Dialog der Geister. Was hier zur Debatte stand und steht und sich weltweit begegnet, das ist lediglich der schlechte Geschmack derer, die aus diesem schlechten Geschmack den höchstmöglichen materiellen Nutzen ziehen. Das heißt: wo sich Kultur dem Konsum ausliefert, wird sie trivial. Aber nach soviel Räsonnement über die Kultur-Welt, die nicht so ist, wie sie vielleicht sein sollte und vielleicht auch sein könnte —, nach soviel Räsonnement zurück zum Thema, und damit zugleich auch vor zu der Frage: was kann der Verleger tun angesichts dieser ungeistigen Turbulenzen in den kulturellen Höhen des späten 20. Jahrhunderts? Oder noch entschiedener gefragt: kann er überhaupt etwas tun? Es gibt Stimmen, die behaupten: sich dem Geist der Zeit auszuliefern, gerade darin bestehe das Geschäft, das kulturelle ebenso wie das ökonomische, des Verlegers. Aus dem Blätterwald dessen, was er publiziere, könne nicht mehr herausschallen als hineingerufen werde. Und wenn der literarische Zustand einer Zeit verrottet sei, dann bleibe dem Verleger gar nichts anderes übrig, als ihm das Echo der Vervielfältigung zu verschaffen; seine Verantwortung vor der Zeit bestehe eben in dieser Service-Leistung. Das klingt rabulistischer und zynischer als es in Wirklichkeit ist. Denn in der Tat wird die Rolle und damit auch Verantwortlichkeit der Verleger oft überschätzt. Viele sehen in ihnen (wenn nicht gar Kultur-Päpste, so doch zumindest) so etwas wie Kultur-Kardinäle, die das Maß des literarischen, ja: des gesamten geistigen Lebens der Gesellschaft bestimmen und zumessen. Dem ist gottlob nicht so; de facto nämlich können die Verleger, falls sie nicht staatlich gelenkt werden, viel weniger dirigistisch ausrichten, als der verkannte Autor von nebenan oder der Soziologie-Student im dritten Semester, aber auch Zeitgeistvertreter höheren Ranges gelegentlich glauben machen möchten. Dieses Maß verantworten noch immer vorrangig diejenigen,
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die selbst schreiben. Der Naturalismus wäre auch ohne S. Fischer zum Durchbruch gekommen, und Goethe brauchte nicht Cotta, um seinen Rang zu behaupten. Daß sich andererseits bedeutende Verleger zum Fürsprecher und publizistischen Dialogpartner geistiger Bewegun1 gen und großer Autoren machten und ihnen die öffentliche Plattform schufen, von der aus sie zur Wirkung kommen konnten, spricht nicht nur für den Spürsinn dieser Persönlichkeiten, sondern liegt auch in der Natur des Berufes, den sie ausübten: Das Aufspüren von geistigen Qualitäten ist nämlich dessen bestes und vornehmstes Teil. Vornehmlich aus dieser Perspektive muß deshalb verlegerischer Rang und verlegerische Verantwortung beurteilt werden — und nur aus dieser Perspektive läßt sich auch die Frage nach dem verlegerischen Standort beantworten. Das Dilemma des Verlegers im Zeitalter der totalen Multiplikation liegt nämlich nicht etwa darin, daß er kulturelle Macht, über die er de facto in entscheidendem Umfang nicht verfügt, tendenziös mißbraucht, sondern daß er sich von den multiplikatorischen Mitteln, die ihm das technisch-industrielle Zeitalter unter dem Signum des Fortschritts bedenkenlos zur Verfügung stellt — daß er sich von diesen Mitteln dazu verführen läßt, die geistigen Kriterien seiner Arbeit quantitativer Erfolgseuphorie, ja quantitativem Erfolgszwang zu opfern. Das heißt: daß er sich aufgibt, indem er die Maxime, am Anfang sei das Wort, ins Gegenteil verkehrt; ihm ist das Wort jenseits des eigenen Urteils schließlich nur noch Mittel zum Zweck des Geschäfts, und zwar des möglichst schnellen und großen. Die Tatsache, daß sich inzwischen schon Kaffee-Röster, Zigaretten-Hersteller und andere buchfremde Unternehmungen dieses quantitativen Umsatzbringers bemächtigen, spricht in diesem Zusammenhang eine symptomatische Sprache. Unter dem Primat des großen Geschäfts nämlich werden die Inhalte austauschbar; bilanzmäßig gesehen ist es völlig gleichgültig, ob die erzielten Umsätze und Gewinne mit Büchern oder mit Heringen erzielt wurden; die Hauptsache, sie wurden erzielt und die betriebswirtschaftliche Rechnung ging auf. Mit anderen Worten: Hier scheinen, was den Handel mit Büchern angeht, die Prioritäten nicht mehr zu stimmen. Die Auseinanderset-
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zungen um den festen Ladenpreis bestärken diesen Verdacht, denn der feste Ladenpreis wurde schließlich einzig und allein nur für den Buchhandel aufrechterhalten, weil der Staat die Priorität: erst Wort, dann Geschäft als schutzbedürftig anerkannte. Die Stimmen, die jetzt gegen diesen Schutz ziemlich laut werden, bezweifeln energisch, ob die Eigenart der Ware Buch, gemessen an der geschäftlichen Praxis, noch gegeben sei. Wirft man einen Blick auf den Text mancher BuchAnzeigen oder überfliegt man die Berichterstattung mancher buchhändlerischer Gazetten, so möchte man diesen Widersachern fast recht geben: banaler läßt sich kaum vorführen, auf welchen geistigen Hund ein Teil der Branche inzwischen bereits gekommen ist. Ich sage: ein Teil der Branche. Denn das Beklagenswerte an der aufgezeigten Symptomatik und Problematik ist, daß sie für den überwiegenden Teil des Buchmarkts (zumindest in Deutschland) entweder noch gar nicht oder nur zum Teil zutrifft. Hierzulande ist noch immer ein kostbares Potential verlegerisch-buchhändlerischen Verantwortungsbewußtseins aktiv und bewahrt sozusagen in Form von Selbstreinigung den buchhändlerischen Kulturhaushalt vor dem Umkippen in Fäulnis. Dieses Potential meldet sich allerdings selten öffentlich zu Wort, zumal dessen Vertreter befürchten müssen, dem Verdikt anheimzufallen, reaktionäre Großväter ihrer Branche zu sein. So stellen sie denn eine Art schweigende Mehrheit dar, die ohne viel öffentlichen Aufhebens das Ihre noch zur Sache tut, indem sie den eigenen geistigen Anspruch als Kriterium in das Buchgeschäft einbringt, anstatt sich an der Verramschung der Kultur zu beteiligen. Indes huldigt die resonanzstarke Minderheit, vom Scheinwerferlicht materieller Erfolge bestrahlt und zeitgeistig beklatscht, der rabulistischen These, daß Megatonnen von bedrucktem Papier bereits Literatur und damit der Buchweisheit letzter geschäftlicher Schluß seien. Wir kommen zum Schluß: Die Gefahren der geschilderten Sachverhalte sind hervorstechend, zumal dann, wenn wir uns zu der Einsicht bekennen, daß Bücher nicht nur Schicksale haben, sondern auch menschliches Schicksal sind. Die Verleger ihrerseits sind zwar keine Nornen, die dieses Schicksal unabdingbar zumessen. Aber sie moderieren schon viel und entscheidend, wenn sie sich bei ihrem
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ohnehin schwierigen, manchmal entsagungsvollen, manchmal kompromißlerischen und immer riskanten Geschäft mit dem Geist der Hybris positivistischer Fortschrittshysterie ebenso verweigern wie der materialistischen Wirtschaftseuphorie, die sich an betriebswirtschaftlichen Zahlenspielen anstatt an der Faszination ergötzt, die der Handel mit Büchern auslöst. Daß man dabei des ökonomischen Erfolges durchaus nicht entraten muß, dafür gibt es mehr Beispiele als es nach außen hin den Anschein hat. Irgendwann, wahrscheinlich schon in vergleichsweise naher Zukunft, wird diese materialistische Euphorie mit Sicherheit in metaphysischen Katzenjammer umschlagen; dann spätestens wird man sich auch dankbar jener erinnern, die der bedenkenlosen Multiplikation von bedrucktem Papier nicht den Vorrang gaben vor dem Gebot des eigenen geistigen Gewissens und auch ihres guten literarischen Geschmacks. Insofern halte ich das, was ich hier vorgetragen habe, auch für durchaus realistisch. Nur wenn man weiß, um welche Einsätze man spielt, überlegt man sich vielleicht doch, ob man es endgültig verspielen soll. Und was hier, gerade weil derzeit eine kulturschöpferische Epochenflaute herrscht, in der sich der Bazillus des Ungeistes auszubreiten beginnt, schicksalhaft auf dem Spiel steht, ist ungeheuer: es ist unser kulturelles Grundkapital. Daher die Mahnung: Verleger, hört die Signale ...