Jean Grondin Von Heidegger zu Gadamer
Jean Grondin
Von Heidegger zu Gadam.er Unterwegs zur Hermeneutik
Wissenschaft...
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Jean Grondin Von Heidegger zu Gadamer
Jean Grondin
Von Heidegger zu Gadam.er Unterwegs zur Hermeneutik
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2001 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de .
ISBN 3-534-15618-8
INHALT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition
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11. Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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111. Heidegger und Augustin zur hermeneutischen Wahrheit
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IV. Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Was heißt verstehen? Von Heidegger zu Gadamer
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VI. Was heißt "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache"? . . . . . . . . . . . . . 100 VII. Die Weisheit des Stammelns
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VIII. Gadamers anti-ästhetische Wiedergewinnung der Wahrheit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 112 IX. Spiel, Fest und Ritual. Zum Motiv des Unvordenklichen beim späten Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 X. Das innere Ohr in Gadamers Ästhetik. Distanz und Selbstreflexion in der Hermeneutik . . . . . . . . 126 XI. Hans-Georg Gadamer und die französische Welt
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Anmerkungen
145
Quellennachweise
163
Personenregister .
165
I
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EINLEITUNG Im 20. Jahrhundert ist die Hermeneutik weitgehend die Sache von Heidegger und Gadamer gewesen. Die beiden sind aber weder selbst ins Gespräch getreten, noch recht ins Gespräch gebracht worden. Der im Falle Heideggers fortgeschrittene und im Falle Gadamers so gut wie abgeschlossene Stand der Gesamtausgabe macht diese Konfrontation nicht nur möglich, sondern auch geboten: Das komplexe, vielfältige Verhältnis Gadamers zu seinem Lehrer blieb nämlich in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960), wohl aus persönlichen Rücksichten, eher unentfaltet und damit schwer zu bestimmen. War das Werk eine Fortsetzung des heideggerschen Unternehmens mit anderen Mitteln oder gar ein Gegenentwurf? Die spätere Edition der Gesammelten Werke Gadamers, die seit dem Jahre 2000 in einer Taschenbuchausgabe vorliegen (die man sich für das Werk Heideggers wünscht, das ansonsten uferlos und für die jüngeren Generationen abschreckend zu werden droht), gestattet es gleichsam zum ersten Mal, Wahrheit und Methode als eine geschlossene Antwort auf Heidegger zu verstehen, die völlig neue Akzente setzt. Heidegger reagierte seinerseits sehr zögernd auf Gadamers Opus, obwohl er lange vorher Gadamer als einen seiner besten Schüler erkannt hatte, was wir aber erst seit kurzem wissen'! Er hatte selber in den 70er-Jahren in einem oft zitierten Brief an Otto Pöggeler die Hermeneutik als "die Sache von Gadamer" charakterisiert und damit von sich abgewiesen. 2 Damit verband sich zweifelsohne ein gewisser Abschied von der eigenen "hermeneutischen" Vergangenheit, hatte doch der jüngere Heidegger sein philosophisches Programm unter dem verheißungsvollen Titel einer "Hermeneutik der Faktizität" vorgetragen. Bereits in Sein und Zeit hatte dieses Programm einer Fundamentalontologie Platz gemacht, die sich der Seinsfrage entschiedener zukehrte. Diese Fundamentalontologie wurde selber alsbald als ein "Holzweg" verlassen, als sich Heidegger zunehmend einem "seinsgeschichtlichen" Denken hingab, das im Grunde eine Auseinandersetzung mit der Metaphysik wurde. Die theoretische Basis seiner neuen Vision erarbeitete er in den 19361938 konzipierten, aber erst seit 1989 zugänglichen Beiträgen zur
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Einleitung
Philosophie. Der Umstand, dass er sie zeit seines Lebens nicht für publikationsreif hielt, sollte uns vor der Versuchung hüten, in ihnen ein neues Hauptwerk oder Lehrgebäude zu sehen. Gadamer schloss sich gewiss an Heidegger an, als er von Hermeneutik sprach. Heidegger blieb aber für ihn ein so überragender und bewunderter Lehrer, dass er sich scheute, in seinem Hauptwerk das direkte Gespräch mit ihm aufzunehmen. Von der "hermeneutischen Erfahrung" und damit vom Verstehen war da auf jeder Seite die Rede, aber es war nicht immer leicht, sie mit Heidegger in Verbindung zu bringen, obwohl sein Schatten überall zu spüren war. Aber nur sein Schatten. Gadamer sprach zwar im ersten Teil seines Werkes vom Wahrheitsgehalt und von der ontologischen Valenz der Kunst, aber ohne die leiseste Anspielung auf die Ausführungen Heideggers in seinem bekannten Text über den Ursprung des Kunstwerkes, den Gadamer bereits 1935 gehört hatte und der 1950 den Sammelband "Holzwege" und damit die zweite gigantische Heidegger-Rezeption einleitete. Im letzten Teil von Gadamers Opus war heideggerisch genug von einer ontologischen Wende der Hermeneutik die Rede, die am Leitfaden der Sprache erfolgen sollte, aber erneut ohne einschlägigen Bezug auf Heideggers Bemühungen "unterwegs zur Sprache" als "Haus des Seins". Allein im zweiten Teil des Werkes bezog sich Gadamer an entscheidender Stelle auf seinen Lehrer, und zwar auf die wichtige Konzeption vom Zirkel des Verstehens in Sein und Zeit, aber Gadamer tat so, als ob die dort entfaltete Verstehensproblematik von selbst auf die Geisteswissenschaften zugeschnitten sei, während Heidegger doch offenbar in erster Linie das Seins- und damit das Selbstverstehen des um sich selbst besorgten Daseins im Auge hatte. 3 Nicht nur versäumte es Gadamer, diese Seinsfrage als solche wieder aufzunehmen, er tendiert später dazu, in ihr eine Heideggers grundlegenden Einsichten zutiefst fremde Anlehnung an der aristotelischen Tradition und der Transzendentalphilosophie zu sehen. Gadamer witterte wohl in ihr eine entfernte Affinität zur katholischen Scholastik, die ihm als Protestanten auch fern lag. Der späte Gadamer hat immer wieder auf das religiöse Motiv bei seinem Lehrer hingewiesen. Heidegger hätte zwar erkannt, dass der aristotelisch-scholastische Rahmen fragwürdig geworden und damit zu destruieren sei. Aber von Destruktion konnte Heidegger nur sprechen, weil er immer noch nach einer angemesseneren Sprache für die religiöse Bedrängnis des Menschen suchte. In Hölderlin erst hätte er diesen Propheten des abwesenden und just in dieser Abwesenheit kommenden Gottes gefunden, mit
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dem er den Bereich einer Antwort auf Nietzsches epochale Proklamation des Nihilismus eröffnen wollte. Gadamer hielt seinerseits immer daran fest, dass "die Rolle des Propheten, des Warnherrn, des Predigers" dem Philosophen schlecht stünde. 4 Während Heidegger hoch gespannte eschatologische und zuweilen auch politische Hoffnungen hegte, beharrte Gadamer seinerseits - sicherlich durch Heideggers Irrgänge belehrt - auf der "politischen Inkompetenz der Philosophie".5 Einen grundlegenden Unterschied zu Heidegger darf man somit in dem Bekenntnis sehen, das auf den Verzicht auf jegliches philosophische Prophetenturn folgt: "Wessen es für den Menschen bedarf, ist nicht allein das unbeirrte Stellen der letzten Fragen, sondern ebenso der Sinn für das Tunliche, das Mögliche, das Richtige hier und jetzt. "6 Es ließe sich nicht sagen, dass dieser gut aristotelische Sinn für das Tunliche Heideggers Stärke gewesen sei, in dem er nur eine unbeholfene Halbheit sah. In seinem Abschied von den Halbheiten dieser Welt blieb Heidegger platonischer als der Aristoteliker Gadamer. Im Herzen der Hermeneutik und damit des Gespräches zwischen Heidegger und Gadamer klaffen somit zwei Grundmöglichkeiten der Philosophie: einerseits die platonischutopische, die uns vom tobenden Gerede dieser Welt abwenden und den Menschen an seine letzten Fragen erinnern will, andererseits die aristotelisch-realistische, die eine andere Welt für irreal hält und den Sinn für das Machbare und Verständigungsfähige anmahnt. Auch wenn sie von derselben Tradition der Hermeneutik herkommen, sind die tatsächlichen Quellen von Gadamer und Heidegger oft sehr verschieden. Während Heidegger für seine Destruktion der Sicherheiten des neuzeitlichen Bewusstseins die Seinsfrage der aristotelischen Metaphysik neu aufrollt, schließt sich Gadamer viel lieber - frühe Impulse von Heidegger aufarbeitend - an die aristotelische Ethik an, weil sie eine ganz andere Art von Wissen vor Augen führt, die der praktischen Wahrheit. Dabei beruft sich Gadamer, und zwar zu Beginn seines Hauptwerkes, ausgerechnet auf die Tradition des Humanismus, den Heidegger in seinem berühmten "Brief über den Humanismus hinaus" (wie der Titel beinahe lauten sollte) hinter sich zu lassen versprach. Hofft Heideggers hermeneutische Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik auf einen völlig neuen, aber doch unwahrscheinlichen Anfang unserer Geschichte, setzt Gadamer auf die in unserer Tradition nie ganz eingeschlummerten Motive der humanistischen Bildung. So kann sich Gadamer stillschweigend von Heideggers Bruch mit dem Humanismus trennen, um in der Tradition der Rhetorik einen Widerstand gegen die
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Einleitung
Monopolstellung der wissenschaftlichen Wahrheit zu erblicken und zu erneuern. Durch diese Wiedergewinnung weist seine Hermeneutik einen eigenen Weg über die Ausweglosigkeit unserer verwissenschaftlichten Welt hinaus und gewinnt Anschluss an die ältere, ja die älteste Tradition der Philosophie, die auf die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen antwortet. Aber diese Orientierung gilt für Gadamer nur für diese Welt, wie sie nun einmal ist, mit all ihrem Gerede und ihren Halbheiten. Das hatte bereits Jürgen Habermas - darin Platoniker und Heideggerianer - zum verständlichen Widerstand herausgefordert: Durch seine Sprachhermeneutik lehre uns doch Gadamer, dass es möglich sei, über die Begrenztheit der jeweiligen Horizonte und die eventuell nur scheinhafte Verständigung hinauszusehen! Aber dies sei nur möglich, konterte der Aristoteliker Gadamer, wenn man wiederum einen neuen Sprachhorizont bezieht, den man nicht von der Warte eines desinkarnierten Denkens und idealisierten Sprechens aus restlos hinterfragen kann. Der Horizont der Sprache und der jeweils hergestammelten Sprache lässt sich nicht transzendieren. Sein, das verstanden werden kann, bleibt auf Sprache und das Gespräch angewiesen. Die Unterschiede zwischen Gadamers und Heideggers Unternehmen sind also unverkennbar, aber für die Entfaltung des hermeneutischen Problembewusstseins eher fruchtbar. Ein philosophisches Gespräch setzt ja nicht nur einen gemeinsamen Boden, sondern auch den Unterschied der Denkansätze voraus. Sowohl die Konsequenz des hermeneutischen Weges als auch die Akzentverschiebungen auf dem spannenden Wege von Heidegger zu Gadamer wollen beachtet werden. Denn man braucht im Grunde beides: sowohl die in ihrer unüberbietbaren Radikalität durchgeführte geschichtlichontologische Destruktion Heideggers, weil sie uns über die Grundlagen und die Herkunft unserer begrifflichen Mittel aufklärt und an die Grundfragen des Daseins und damit der Philosophie erinnert, als auch die spezifisch gadamersche Wiedergewinnung des Sinnes für das Tunliehe und des Verständigungsfähigen. Es ist Gadamers Überzeugung, dass der herrschende Nihilismus, d. h. die u. a. den zeitgenössischen Postmodernismus bestimmende Lehre, dass es keinen verbindlichen Halt mehr gebe, an einem fundamentalistischen Begriff von Wahrheit (und Halt) orientiert bleibt, der von der modernen Wissenschaft stillschweigend genährt bleibt.? Stimmt es wirklich, dass nur das schlechthin Gewisse, d. h. das von der methodischen Wissenschaft Gesicherte sich als Wahrheit behaupten kann? Dann wäre in der Tat der Nihilismus die unabweisbare Konsequenz.
Einleitung
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Deshalb liegt der spezifisch gadamerschen Hermeneutikkonzeption alles daran, Wahrheitserfahrungen zurückzuerlangen, die von unserer verwissenschaftlichten Kultur teils verdeckt, teils verdrängt worden sind. Bildet die Wissenschaft den einzigen Ort und Hort der Verbindlichkeit in unserer modernen Welt? Gibt es nicht auch eine Wahrheit des Dabeiseins, die den Verstehenden impliziert und die sich vom herrschenden Paradigma der methodischen Distanzierung nicht fassen lässt? Um diese Wahrheit des beteiligten Verstehens zurückzugewinnen, bezieht sich Gadamer am liebsten auf die geheimnisvolle Erfahrung der Kunst: Wer sich von einem Gedicht, einem Gemälde oder einem Bühnenstück hinreißen lässt, wird von einer Wahrheit ergriffen und in ein Spiel einbezogen, das sich seiner Kontrolle entzieht. Einem werden dabei die Augen aufgemacht, so dass man auch hier von Erkenntnis sprechen darf. Trotz eines hartnäckigen Vorurteils erweist sich diese Wahrheit ferner von dauerhafterem Wert als die wissenschaftliche, die sehr bald und ständig durch neue Ergebnisse überholt und ersetzt wird. Nichts ist vergänglicher als die wissenschaftliche Wahrheit. Aber wann wurde die Wahrheit von Sophokles, Leonardo oder Mozart je überholt? Sie hat nichts mit methodischer Distanz und Kontrolle zu tun, da man sie nur erfährt, wenn man "dabei ist" und sich mitnehmen lässt. Wahrheit beruht also nicht nur auf objektivierender Regelbefolgung, sondern auch auf Anteilnahme. Diese Wahrheit ist nach Gadamer auch die des sprachlich Ausgesagten. Das sprachlich oder rhetorisch Treffende manifestiert eine Verbindlichkeit, die nicht die der Wissenschaft ist. Beruht aber nicht die Verbindlichkeit, der Halt und damit die Solidarität zwischen Menschen auf der verbindenden Kraft der Rhetorik und der Sprache? In der Erfahrung der Kunst, der Rhetorik und der ihr Erbe verwaltenden Geisteswissenschaften bemüht sich also Gadamers Hermeneutik, eine Wahrheits erfahrung zurückzuerobern, die nicht die der Wissenschaft, aber auch nicht die der heideggerschen Aletheia ist. Im Vordergrund unserer der Profilierung beider Ansätze dienenden Rekonstruktion werden somit ebenso Heideggers hermeneutische Wiederentdeckung der Seinsfrage im Namen einer kompromisslosen Destruktion der abendländischen Metaphysik wie die gadamersche Transformation des hermeneutischen Programms, die sich am Leitfaden der Kunst und der Rhetorik vollzieht, stehen. Die Literatur zur Hermeneutik ist immens, aber gerade ihr Bezug zur Rhetorik wurde selten richtig erkannt, weil die rhetorische Tradition von der neuzeitlichen Wissenschaft so erfolgreich zurückgedrängt
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Einleitung
wurde, dass es sich kaum noch um eine lebendige Tradition handelt. Deshalb steht am Anfang unserer profilierenden Rekonstruktion ein Kapitel über "Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition", das an die entscheidende Solidarität der Hermeneutik mit der Tradition, in der sie bis einschließlich Schleiermacher gepflegt wurde, erinnert. Es ergänzt eine frühere Skizze der Hermeneutikgeschichte8 , in der diese rhetorischen Bezüge unterbelichtet blieben. Die folgenden Studien zu Heidegger versuchen von zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus, nämlich vom provozierenden Vorrang der Seinsfrage in Sein und Zeit und von Augustin her, das hermeneutische Motiv hinter Heideggers Destruktion der abendländischen Ontologie zu erkennen. Von der Seinsfrage und Augustin her lässt sich nämlich zeigen, dass es der heideggerschen Destruktion darum geht, das "verfallende" Selbst- und Seinsverständnis des Menschen aufzurütteln und die es tragende Tradition zu erschüttern, um ein ganz anderes Seins- und Daseinsverhältnis vorzubereiten. Diese beiden Ausgangspunkte machen den Schritt zu Gadamer natürlich umso schwieriger, lassen dafür seinen hermeneutischen Ansatz in seiner Spezifizität umso deutlicher hervortreten. Deshalb bemüht sich das 4. Kapitel ("Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her"), die Fragwürdigkeit der Anlehnung Gadamers an Heideggers Hermeneutik-Konzeption herauszustellen. Bei allem offenbar Verbindenden, das die Hermeneutiker und Kritiker immer schon erkannten, wird sich erweisen, wie problematisch es erscheint, Gadamer mit der Hermeneutik-Konzeption Heideggers zu verbinden. Der Klarheit halber werden drei Hermeneutik-Konzepte bei Heidegger unterschieden: die frühe Hermeneutik der Faktizität, die fundamentalontologische Hermeneutik von Sein und Zeit und die spätere Hermeneutik der Seinsgeschichte. Mit keinem dieser Projekte hat sich Gadamer recht solidarisiert. Der Anschluss an Heidegger wird anhand des Verstehensbegriffs wieder hergestellt, aber zunächst um den Preis seiner verkürzenden Anwendung auf die Problematik der Geisteswissenschaften. Es handelte sich im Grunde um eine Rückgewinnung, da ja das "hermeneutische" Problem des Verstehens urs!,rünglich in der Fragestellung der Geisteswissenschaften beheimatet war. Heidegger hatte sich freilich von diesem diltheyschen Horizont verabschiedet, als er das hermeneutische Verstehen für die radikalere Problematik des Seins- und Selbstverständnisses in Anspruch nahm. Er entfernte sich erst recht von Diltheys Forderung, eine Allgemeingültigkeit des geisteswissenschaftlichen Verstehens epistemologisch zu fundieren,
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die vom Standort des Verstehenden unabhängig sei. Sein und Zeit führte nämlich beredt vor Augen, aus welchen Wesens gründen das Dasein immer schon in dem impliziert ist, was es versteht: Verstehen ist nun einmal Sich-Verstehen. In diesem Lichte erschien es völlig witzlos, die Objektivität des Verstehens unabhängig von einem Sach- und Daseinsbezug sicherstellen zu wollen. Es lage nahe, diese umwälzende Einsicht auf die brachliegende Problematik der Geisteswissenschaften anzuwenden. In dieser Rückanwendung erblickt man des öfteren Gadamers grundlegende Leistung. Den Boden dafür hatte aber bereits der Theologe Rudolf Bultmann vorbereitet, als er den heideggerschen Verstehensbegriff für das hermeneutische Problem der Theologie fruchtbar gemacht hatte. Heideggers Verstehensbegriff ließ sich ja nur zu gut mit der Mahnung der dialektischen Theologie von Karl Barth in Einklang bringen, nach der sich das Verstehen der Bibel immer auf die mich unmittelbar betreffende Sache der Schrift bezieht. Damit wurde das objektivierenddistanzierende Verstehen der liberalen Theologie ad absurdum geführt. Es hat keinen Sinn, von Gott als einem Gegenstand zu sprechen; man kann nur von einem Gott reden, der mich unmittelbar anredet: "Will man von Gott reden, so muss man offenbar von sich selbst reden. "9 Bultmanns Heidegger-Rezeption war natürlich theologisch bestimmt. Ihm war es aber gelungen, Heideggers Verstehenskonzeption auf das klassische Gebiet der Schriftauslegung zurückzubeziehen. Ein Weg von der heideggerschen Existenzhermeneutik zur Texthermeneutik zurück war damit gewiesen, den das gadamersche Projekt einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik nur radikalisieren würde. Bultmann hatte nicht zuletzt die gadamersche Kritik an der Einseitigkeit der epistemologischen Fragestellung von Dilthey vorweggenommen. Das zeigt sich am deutlichsten in seinem Aufsatz von 1950 über "Das Problem der Hermeneutik",1° Geht es wirklich im Verstehen, macht Bultmann gegen Dilthey geltend, um den "Nachvollzug der seelischen Vorgänge, die sich im Autor vollzogen haben", oder um die "Versetzung in den inneren schöpferischen Vorgang, in dem sie entstanden sind"?l1 Diese nach Bultmann einseitige Fassung des hermeneutischen Problems sieht von zweierlei ab: 1. vom Sachbezug des Verstehens, d.h. vom Umstand, dass das Verstehen der Sache und nicht dem Autor bzw. seinen redaktionellen Umständen gilt, und 2. von der Tatsache, dass dieses Sachverstehen in ein Vorverständnis des Interpreten eingebettet ist. Die Grundvoraussetzung des Verstehens bildet also "das Lebensverhältnis des Interpreten zur Sache [ ... ], die im Text
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Einleitung
[ ... ] zu Worte kommt".12 Diese neue Sicht des hermeneutischen Problems sei erst durch Heideggers Bestimmung des Verstehens möglich geworden: "Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Verstehens als eines Existentials gebracht worden und durch seine Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens. "13 Mit verblüffend ähnlichen Worten wird sich Gadamer auf Heideggers Bestimmung des Verstehens als eines Existentials in Wahrheit und Methode berufen. 14 Richard Palmer hatte seinerzeit die in der Sache völlig richtige Vermutung geäußert,15 Gadamer habe in Wahrheit und Methode das Motiv der Selbstbetroffenheit, das Bultmann aus nahe liegenden Gründen für die Theologie herausgearbeitet hatte, auf alle Geisteswissenschaften ausgeweitet. Gadamers Verstehensbegriff setzt jedoch neue, seine Hermeneutik auszeichnende Akzente: Während die Auffassung des Verstehens als Selbstverstehen und damit als Anwendung in der direkten Kontinuität von Heidegger und Bultmann steht, liegt Gadamers wirkliche Originalität in der Auffassung des Sich-Verstehens vom Leitgedanken der Verständigung her. Zweierlei wird damit in die Wege geleitet: zum einen die Hervorhebung der Sprachlichkeit eines jeden Verstehens, die der älteren Hermeneutik nicht völlig unbekannt war, aber im ursprünglichen Ansatz von Heidegger und Bultmann weitgehend unterbetont, wenn nicht völlig absent war, zum anderen die Fassung dieses wesentlich sprachlichen Verstehens von der Erfahrung des Gesprächs her. Oft und gern wird diese dialogische Natur des Verstehens im Sinne einer (natürlich auch für unheideggerisch erachteten) Kommunikationsphilosophie aufgefasst, und so wurde sie gelegentlich vom späten Gadamer selber geschildert. Ein anderes Moment schien aber bei der Betonung des Gesprächscharakters in Wahrheit und Methode ausschlaggebend, nämlich die Erfahrung, dass die Gesprächführenden in Wahrheit weniger die Führenden als die Geführten sind. Dies ist für Gadamer wichtig, weil sein ganzes Buch darauf abzielt, das Verstehen weniger als eine Handlung der selbstbewussten und sich selbst beherrschenden Subjektivität als ein Geschehen der Wirkungsgeschichte darzuSotellen. Im Gespräch, wie in jedem Verstehen und jeder Sprachhandlung, "geschieht" etwas mit uns, über das wir nicht Herr sind. "Verstehen und Geschehen" sollte deswegen der ursprüngliche und treffendere Titel von Wahrheit und Methode lauten.1 6 Diesen Geschehenscharakter des Verstehens und seine Verbindlichkeit arbeitet Gadamer vorzugsweise und originell an der Erfah-
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rung der Kunst heraus: In ihr wird uns eine Wahrheit zuteil, weist Gadamer nach, die auf anderem Wege unerreichbar wäre, weil wir durch sie verwandelt werden. Gadamer spricht gern in diesem Zusammenhang vom medialen Charakter des Verstehens. Gemeint ist die mediale Verbform im Griechischen, die zwischen einem aktiven und einem rein passiven Vorgang die Mitte hält. Das nicht mehr als autonome Handlung der Subjektivität zu konzipierende Verstehen ist dafür nicht als reine Passivität zu deuten: Die Verstehenden werden anders und können sich über das, was ihnen geschieht, aussprechen und austauschen. Die Sprache wird ihrerseits "medial" gefasst, d.h. als ein Geschehen, das die Sache und die Verstehenden gleichermaßen involviert. Gadamers Hermeneutik ist der Versuch, das Geschehen des Verstehens zu verstehen und Geschehen sein zu lassen. Im Unterschied zu Heideggers früher Hermeneutik der Faktizität, die der Selbstentfremdung des Daseins den Kampf ansagt, und der späteren, auf einen neuen Anfang setzenden Hermeneutik der Metaphysikgeschichte lässt sich das gadamersche Werk als eine Phänomenologie des Verstehensgeschehens charakterisieren. Seine kritsche Pointe liegt in der Warnung vor allen Formen der heute gängigen Auffassung des Verstehens als eines Beherrschens, wo man erst dann eine Sache zu begreifen meint, wenn man sie in der Hand hat oder auf einen Schirm bekommt. Im Verstehen sind wir weniger die Begreifenden als die Ergriffenen. Das Wesentliche, unser Sein, beherrscht man nie. Von verschiedenen Horizonten und Hintergründen herkommend, sehr verschiedene hermeneutische Wege beschreitend, treffen sich Heidegger und Gadamer schließlich im Wesentlichen. Indem sie sokratisch vor der Selbstentfremdung des Daseins und der Illusion des Alles-machen-Könnens warnt, erinnert ihre Philosophie an das schier Unverfügliche, dass wir sind und verstehen.
I. DIE HERMENEUTIK UND DIE RHETORISCHE TRADITION
Als Kunst der Auslegung bezog sich die klassische Hermeneutik ursprünglich auf die Interpretation religiöser Texte und Sinngebilde. Die gilt sowohl für die griechische Orakel- und Homer-Interpretation wie für die Bibelinterpretation im rabbinischen Judentum (bei Philo) , in der Patristik (Origenes, Augustin) und der frühprotestantischen Hermeneutik (Luther, Melanchthon, Flacius). Das originelle Tätigkeitsfeld der Hermeneutik liegt damit in der Exegese im weiten Sinne (griech. exegesis; lat. enarratio, die ursprünglich ein Bestandteil der alten Rhetorik war17 ). Die Hermeneutik ist aber nicht identisch mit der Exegese; sie beschäftigt sich vielmehr mit den kunstgerechten Regeln ihres Tuns. Als Hilfswissenschaft trat sie vor allem in Erscheinung bei der Interpretation dunkler Stellen (ambigua). Später entwickelten andere Wissenschaften, die es mit der Interpretation von halbwegs kanonischen Texten zu tun haben, ihre spezifischen Hermeneutiken. Das gilt seit der Renaissance für das Recht (hermeneutica juris) und die Philologie (hermeneutica prQjana) und im 19. Jh. für die Geschichtswissenschaft. Da schließlich alle Wissenschaften eine Interpretationsleistung vollziehen, wurde ihnen die Notwendigkeit einer hermeneutischen Grundbesinnung immer bewusster. So ist etwa das Interesse an der Hermeneutik in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft beträchtlich. Der Gedanke, dass Interpretation und Verstehen allen Auslegungwissenschaften zugrunde liegen, führte Dilthey am Ende des 19.Jh. zu der Hypothese, die Hermeneutik könne als eine allgemeine Methodologie der Geisteswissenschaften fungieren. Er ließ sich von der Idee leiten, eine hermeneutische Methodologie könnte den sonst angezweifelten wissenschaftlichen Status dieser Disziplinen sichern helfen. Auch wo das angeblich szientistische Ideal einer solchen Methodologie preisgegeben wurde, wird Hermeneutik heute oft als Grundlagenreflexion über die Geisteswissenschaften praktiziert. Eine Wendung ins Philosophische und damit ins Universale nahm die Hermeneutik erst im 20.Jh., als Verstehen und Auslegung zu Wesenszügen des geschichtlichen Menschen erhoben wurden. Anzeichen davon lassen sich zwar in der Lebensphilosophie des späten Dilthey, aber auch in
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Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition
Nietzsches Potenzialisierung des Interpretationsbegriffes ("es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen") finden. 18 In diesem Sinne bewusst befördert wurde jedoch der Hermeneutikbegriff erst bei Heidegger und Gadamer. Während die Hermeneutik bei Heidegger eine Philosophie anzeigen soll, die auf das Selbstverständnis des faktischen Menschen abhebt, setzt Gadamer bei den Geisteswissenschaften an, um die Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit unserer Welterfahrung hervorzukehren. Auch wo Gadamer nicht maßgebend ist, werden heute allgemeine Philosophien der Auslegung als Hermeneutik vertreten bzw. bezeichnet. Die Identifikation der Hermeneutik mit einem gewissen sprachlichen und geschichtlichen Relativismus ließ sie auch neuerdings in die Nähe des sog. Postmodernismus (Vattirno, Rorty) und ins Gespräch mit der französischen Strömung der Dekonstruktion treten.1 9 Negativ gewendet: Jede philosophische Theorie, die die Möglichkeit einer übergeschichtlichen Wahrheit verteidigt, muss sich mit der universalen Hermeneutik auseinander setzen bzw. vor ihrem Hintergrund profilieren. Wenngleich sie vor kurzem als solche wenig diskutiert wurden, haben sich thematisch und historisch mehrfache Beziehungen zwischen der Hermeneutik und der Rhetorik verknüpft. Das liegt zunächst in der Ähnlichkeit ihres Gegenstandes begründet. Beide haben es nämlich mit der Sinnvermittlung zu tun, wobei die Rhetorik um die Vermittlung des intendierten Sinns auf den überredenden Ausdruck bemüht ist und die Hermeneutik vom Ausdruck auf den intendierten Sinn zurückgeht. Es empfiehlt sich also, zwischen der rhetorischen und der hermeneutischen Sinnvermittlung zu unterscheiden: Während die erste ad extra geht, verläuft die andere umgekehrt vom Ausdruck auf seinen "inneren" Gehalt hin, oder - um psychologistische Verengung zu vermeiden - auf das, was ein Ausdruck zu sagen hat (Gehaltsinn). Es springt zweitens ins Auge, dass manche hermeneutische Regeln direkt der Rhetorik entlehnt wurden, u. a. die Tropenlehre und der sog. hermeneutische Zirkel, wonach das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen sei. Die wichtigsten Vermittler waren dabei Augustin und..Melanchthon, die die Auslegekunst am Vorbild des reicheren Rhetorikcorpus orientierten. Diese Anleihen verdanken sich auch dem Umstand, dass Rhetorik und Hermeneutik auf aristotelische Termini und Traktake gleichen Namens - die Rhetorike und den Peri hermeneias (dt. oft: "Hermeneutik", obgleich der Titel nicht von Aristoteles stammt)zurückgehen, was im Laufe der Geschichte zu gewissen Parallelisierungen verlocken musste. Ferner hatten Rhetorik und Hermeneutik
Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition
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denselben Kampf gegen einen einseitigen, methodenorientierten Wissenschaftsbegriff zu bestreiten, wenn auch aus verschiedenen Anlässen (Isokrates gegen den Platonismus, Vico gegen den Cartesianismus, Dilthey gegen den Positivismus, Heidegger und Lipps gegen die Herrschaft der Aussagelogik, Gadamer gegen das Methodenparadigma in den Geisteswissenschaften). Aus diesem Grund finden sie sich auch bis heute denselben Vorwürfen ausgesetzt, nämlich dass sie sinn- oder effekt- anstatt wahrheitsorientiert seien. Dieser Vorwurf gegen die Rhetorik geht bekanntlich auf Platon zurück. Dazu kommt, dass der platonische Corpus, bei dem das Wort hermeneutike erstmals belegt ist, auch von Hermeneutik in diesem Sinne spricht (Epinomis 975 c, die wohl nicht von Platon selber stammt): Sie könne ermitteln, was gemeint, aber nicht, ob es wahr sei. Rhetorik und Hermeneutik haben fernerhin eine ähnliche Entwicklung ihres Selbstverständnisses erleben müssen. Zunächst als technische Regelwissenschaften konzipiert, die gleichsam Rezepte vermitteln sollten, um zu einem Ergebnis (Überredung bzw. Verstehen) zu gelangen, sind sie zunehmend von diesem eng normativen Selbstverständnis abgekommen. Obwohl gewisse Berufe sie noch als technische Wissenschaften brauchen und unterhalten, verstehen sie sich theoretisch zunehmend als Reflexionen über eine schon geübte Praxis und vertreten einen verwandten Universalitätsanspruch. 2o Schließlich kann man auf einen stillschweigenden geschichtlichen Ablösungsprozess von Rhetorik und Hermeneutik hinweisen. Ausgewiesene Rhetorikkenner sprechen von einem Tod der Rhetorik um das Jahr 1750,21 um ihren allmählichen Autoritätsverlust als Wissenschaft und Lehrgegenstand seit der Aufklärung zu kennzeichnen. Die Beförderung der Hermeneutik als Disziplin, die bis dahin als Hilfwissenschaft nach außen hin wenig sichtbar geblieben war, folgte unmittelbar auf diese relative Entthronung der Rhetorik, als ob die Hermeneutik in ihrem Widerstand gegen den Exklusivitätsanspruch des Methodendenkens das Erbe der Rhetorik in der Anwaltschaft des menschenmöglichen Wissens angetreten hätte. Auf diese Ablösung bzw. Nachfolge hat Gadamer selbst angespielt: Indem "die Hermeneutik, statt sich der 'Logik' unterzuordnen, auf die ältere Tradition der Rhetorik zurückorientieren musste, mit der sie ehedem [... ] eng verknüpft war, [ ... ] nimmt sie einen Faden wieder auf, der im 18. Jahrhundert abgebrochen war"22. Erst aus der jüngsten Hochkonjunktur der universalisierten Hermeneutik heraus ließen sich in neuerer Zeit für das allgemeine Bewusstsein das vergessene, von der neuzeitlichen Rationalität unterdrückte Gedan-
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Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition
kengut und die Aktualität der Rhetorik wieder entdecken, als ob die Hermeneutik auf diese Weise ihre alte Schuld der Rhetorik gegenüber beglichen hätte. Dass es in der Antike eine Hermeneutik im Sinne einer Kunst der Auslegung gegeben hat, ist alles andere als evident. Namhafte Historiker der Hermeneutik (darunter Dilthey) sehen erst im Frühprotestantismus das Geburtsdatum der Hermeneutik. 23 Die lateinische Wortbildung hermeneutica begegnet zwar erst im 17. Jh. bei J. C. Dannhauer. Dennoch lassen sich zwei Anhaltspunkte in der Antike für eine Rückbesinnung der Hermeneutik auf ihre eigene Vorgeschichte ausmachen. 24 Der erste ist sakraler Art und verbindet sich mit der Aufgabe der allegorischen Mytheninterpretation. Der zweite ist profaner Art und knüpft an den Traktat Perl hermeneias von Aristoteles an. In seiner sakralen Bedeutung tritt das Wort hermeneutike zum ersten Mal im platonischen Corpus (Politikos 260 d, Epinomis 975 c) auf. Was Platon darunter versteht, ist nicht unmittelbar zu eruieren, weil Hermeneutik jeweils im Zuge einer Wissenschaftsaufzählung erscheint. An beiden Stellen wird sie jedoch neben der mantike oder Wahrsagekunst erwähnt. Sind beide Termini gleichbedeutend, wie oft angenommen wird? Schwerlich, wenn Platon dafür zwei distinkte Begriffe verwendet. Platons Ansicht von der Wahrsagekunst ist vom Timaios (71-72) her gut dokumentiert. Dem Wahrsager wohnt ein Wahnsinn (mania), ein Außersichsein inne, der es ihm verwehrt, über den Sinn seiner Erfahrung klar zu werden. Nach dem Timaios ist es die Aufgabe des Propheten (prophetes), den Sinn der manischen Erfahrung zu erklären. Als Deuter des im Wahnsinn Gesehenen wird der Prophet auch Hermeneut (hermeneutes) genannt. So legt sich der Schluss nahe, dass die hermeneutike die Wahrsagekunst ergänzen soll, indem sie über den Sinn des Erfahrenen befindet. Der Hermeneut funktioniert also als Sinnvermittler. So bezeichnet Platon im Ion (534 e) die Dichter als hermeneutes ton theon, als Interpreten der Götter. Diese Verbindung hat bereits in der Antike dazu geführt, die vermittelnde Aufgabe des Hermeneuten etymologisch mit dem Götterboten Hermes in Verbindung zu bringen. So einleuchtend sie klingen mag, gilt heute diese Etymologie als unhaltbar. Die Aufgabe der Sinnvermittlung bedingt auch die "profanere" oder rein sprachliche Bedeutung von Hermeneutik, die sich vor allem an den Begriff hermeneia anlehnt. Obwohl hermeneia im aristotelischen Perl hermeneias nicht vorkommt, war der Terminus Aristoteles und Platon sehr vertraut, um den ausgesprochenen
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Logos (den "Satz") zu bezeichnen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die hermeneia nichts anderes ist als die Veräußerlichung eines Innerlichen, der pathemata der Seele, wie sich Aristoteles im Perl hermeneias (16 a 4) ausdrückt. So wurde hermeneia im Lateinischen durchweg mit interpretatio übersetzt. Die Aussage ist insoweit eine "Interpretation", als sie Gedachtes in Worte zu übersetzen versucht. In De interpretatione ist freilich nicht von Interpretation im modernen Sinne die Rede. Gleichwohl erkennt man, dass es Aufgabe einer jeden Interpretation sein muss, zu dem hinter oder mit den Worten (oder Aussagen) Gedachten vorzustoßen. Die interpretierende Tätigkeit ist damit die Umkehrung des Aussagevollzugs, der vom Gedachten zum Wort ging. Diesem Grundbestand verliehen die Stoiker Prägnanz mit ihrer Unterscheidung zwischen dem 16gos proforik6s und dem 16gos endüithetos, dem inneren und äußeren Logos: Hinter jeder sprachlichen Veräußerlichung gilt es, den intendierten Sinn nachzuvollziehen. So waren es die Stoiker, die wohl als Erste25 eine allegorische Interpretation der anstößig gewordenen Mythentradition ausarbeiteten. Der Ausdruck allegoria stammt ursprünglich aus der Rhetorik und wurde von einem Grammatiker, dem Pseudo-Herakleitos (1. Jh. n.Chr.), geprägt. Er definierte die Allegorie als einen rhetorischen Tropos, der es ermöglicht, etwas zu sagen und gleichzeitig auf etwas anderes hinzuzeigen. 26 Mit dem öffentlich oder buchstäblich Geäußerten kann ein zunächst Verborgeneres gemeint sein. Wenn ein buchstäblicher Sinn anstößig erscheint, kann ein allegorischer Sinn vermutet werden. Für die allegorische Deutung sakraler Dokumente wurde dies sogar zu einer Regel erhoben: Da ein vom Göttlichen handelnder oder gar direkt inspirierter Text keinen Unsinn erzählen könne, muss buchstäblicher Widersinn allegorisch gedeutet werden. So bezeichnet die Allegorese (im Unterschied zur Allegorie als rhetorischer Redefigur) den Interpretationsvorgang, der vom geäußerten Wort auf ein Verborgenes hingeht. Den Stoikern ging es dabei um den rationalen bzw. moralischen Kern des Mythos. Zwielichtige Stellen sind allegorisch umzudeuten, um die Vernünftigkeit des Göttlichen zu retten. Die allegorische Praxis der Stoa fand einen fruchtbaren Nährboden im Werk von Philo von Alexandrien (ca. 25 v. bis 40 n. Chr.), der sie auf den Kanon der jüdischen Bibel anwendete. Auch Philo ging es wohl zunächst um eine rationale Deutung der hebräischen Texte. Er wurde jedoch von der griechischen Mystagogentradition stark geprägt, als er in den hl. Schriften die Offenbarung von esote-
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rischen Mysterien zu finden unternahm. Die Allegorese ging damit nicht mehr auf den rationalen Kern anstößiger Texte, wie bei der Stoa, sondern auf einen Eingeweihten vorbehaltenen Sinn, der den bornierten Verstand der Menge übersteigt. Diese gnostischen Züge machten indessen Philo in seiner eigenen palästinensischen Tradition verdächtig, zumal die Allegorese dem Primat der biblischen Literalinterpretation zuwiderlief. Umso nachhaltiger wirkte dafür die philonische Allegorese im Christentum. Die Weichen dafür hatte bereits das Auftreten Christi gestellt. Er hatte eine zwiespältige Haltung der Bibel gegenüber eingenommen, die damit für die Christen zum "Alten Testament" wurde. Einerseits hatte sich Christus gelegentlich über den Buchstaben der Tora hinweggesetzt ("der Sabbat ist da für den Menschen, nicht umgekehrt"), andererseits hatte er sich auf die Prophetentradition berufen und sie nach dem Zeugnis seiner Jünger auf sich selbst bezogen: "Durchforscht die Schriften [ ... ], sie sind es, die Zeugnis von mir geben" (Joh 5,39). Jesus galt schließlich als die Erfüllung der messianischen Erwartung der alten Bibel. Dass dies der Fall war, war von der hebräischen Tradition her alles andere als einleuchtend. In seiner Relativierung der Tora erschien Jesus eher als Gotteslästerer. Von messianischer Erfüllung der Schrift im wörtlichen Sinne konnte angesichts des Kreuzestodes Jesu auch nicht die Rede sein. Um die Beziehung zu den hl. Schriften aufrechtzuerhalten und vor allem die messianische Erfüllung glaubwürdig zu machen, musste eine allegorische Deutung mithilfe des hermeneutischen Schlüssels, den die Person Jesu lieferte, aufgebaut werden. Diese allegorisierende Deutung des auf Jesus bezogenen Alten Testamentes erhielt später - und erst im 19. Jh. - den Namen der Typologie. Sie bestand darin, im Alten Testament "Typoi", d.h. Vorprägungen der Gestalt Christi ausfindig zu machen, die vor der Erscheinung Jesu als solche unkenntlich bleiben mussten: Das Opfer von Isaak durch Abraham sollte z. B. den Opfertod Christi durch seinen Vater, die drei von Jona im Fisch verbrachten Tage den Zeitraum zwischen Tod und Auferstehung Christi vorausspiegeln. Diese typologische Lesart der Bibel, die Jesus selbst empfohlen haben soll (Joh 5,39), nannte sich damals dem Zeitgeist entsprechend "allegorisch". Der Erste, der hier von Allegorie sprach, war sogar Paulus in seinem Brief an die Galater (4,21-24). Dort erarbeitet er eine "typologische" Interpretation der Geschichte von den zwei Söhnen Abrahams, den von der Sklavin (Hagar) und den von der Freien (Sara). Dies, erklärt Paulus, sei allegorisch gesagt worden (allegoroumena).
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Denn der von der Sklavin geborene Sohn meint das jetzige Jerusalern, das sich in der Sklaverei, d. h. unter dem Gesetz befindet. Der von der Freien geborene hingegen ist nicht Sklave des Gesetzes (oder des Fleisches), sondern frei, weil er Erbe des Geistes ist. Damit wurde das gesamte Alte Testament zu einer Allegorie des Neuen. Die allegorische Interpretation erwies sich auf diese Weise als ein unentbehrliches Instrument für die messianische Legitimierung des Frühchristenturns. So spielte sie bei den Kirchenvätern eine hervorragende Rolle. Ihr wohl bedeutendster und eifrigster Praktiker wurde Origenes (ca. 185-254). Im vierten Buch seines Traktates Über die Prinzipien entwickelt er in Anlehnung an Phil0 27 seine berühmte Lehre von den drei Sinnschichten der Heiligen Schrift: dem körperlichen, seelischen und geistlichen Sinn. Diese Dreiteilung entspricht der philonischen Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist. 28 Origenes legt Wert auf die geistige Progression, die diese Lehre markiert. Der körperliche oder buchstäbliche Sinn (auch somatisch oder historisch genannt) ist da für die einfachen Menschen. Der seelische Sinn richtet sich an die Adresse derer, die im Glauben schon fortgeschrittener sind. Nur den Vollkommenen erschließt sich der geistliche Sinn, der die allerletzten Mysterien der göttlichen Weisheit, die im Buchstaben verborgen liegen, offenbaren soll. Die drei Schichten des Bibelsinnes seien so von Gott gewollt, um den Christen einen Fortschritt vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Körperlichen zum Intelligiblen zu ermöglichen. So hat der Heilige Geist (der als Verfasser der Schrift gilt) gezielt Unstimmigkeiten und Diskordanzen in seiner N arration verstreut, um den Geist des würdigen Lesers auf die Notwendigkeit einer Überschreitung des Buchstaben aufmerksam zu machen. Die Allegorese war zwar für die Etablierung des Christentums wichtig, doch sie geriet aus zwei Gründen in Verruf. Erstens schien sie der Willkür bei der Bestimmung des über buchstäblichen Sinnes Tür und Tor zu öffnen. Durch die mystagogisch geprägte Gewagtheit ihrer Einzelinterpretationen haben Philo und Origenes diesem Verdacht auch Vorschub geleistet. Gegen die Allegorese sprach zweitens der Umstand, dass die Bibel im Prinzip allgemein zugänglich sein wollte. Gott wollte sich gerade durch seine Offenbarung den Menschen verständlich machen. So rief die allegorisierende Deutung der "alexandrinischen Schule" (wo Philo und Origenes wirkten) den Widerstand der Antiochenischen Auslegungsschule hervor, die auf dem feststellbaren
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grammatisch-historischen Sinn der Schrift bestand. 29 So schrieb der Antiochener Theodor von Mopsuestia (ca. 350-428) fünf Bücher Contra allegorieos. Ihre Praxis der krisis im Sinne der Textkritik konnte sich auch auf die empirisch gesinnten Anweisungen des Arztes und Hippokrates-Exegeten Claudius Galenus (ca. 131-201) berufen. In der Renaissance wird Galen weiterhin als ein Vorfahr der wieder erweckten ars critica Anerkennung finden. 3D Das Erbe der allegorischen Schule wirkte in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn nach, die zu einem bleibenden Instrument mittelalterlicher Exegese wurde. 31 Sie ist zunächst bei Johannes Cassianus im 4. Jh. greifbar. Die Schrift enthält ihr zufolge einen literarischen, einen allegorischen, einen tropologischen oder moralischen sowie einen anagogischen Sinn. Im späteren Mittelalter wurde diese Lehre von Augustinus von Dakien auf den berühmten Merkvers gebracht: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia (der wörtliche Sinn lehrt, was geschehen ist; der allegorische, was du glauben, der moralische, was du tun sollst, und der anagogische, wohin du hinstrebst). Wie aus Thomas von Aquins Diskussion dieser Theorie hervorgeht,32 operierte man faktisch mit zwei Sinnmöglichkeiten, der literarischen und der geistlichen, welche ihrerseits drei Horizonte haben konnte. Der anagogische Sinn, erläutert Thomas, hat es mit der ewigen Herrlichkeit (quae sunt in aeterna gloria) und der moralische (oder tropologische) mit Handeinsanweisungen zu tun. Der allegorische Sinn drängt sich auf, wenn das mosaische Gesetz eine typologische Vorahnung des Evangeliums enthält (wo etwa Jerusalem, die heilige Stadt der Juden, die ewige Kirche versinnbildlichen soll). Der sensus tropologicus verweist direkt auf die rhetorisch-affektivistische Tradition zurück. 33 Dass die Rede eine Wirkung auf den Affekt und den Lebenswandel haben soll, ist ja eine Grundeinsicht der Rhetorik. In seiner kritischen Aneignung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn gab später Luther der Tropologie den Vorrang vor der Allegorie,34 was der Rhetorik eine zentrale Funktion in der frühprotestantischen Hermeneutik (insb. bei Melanchthon) zuwies. Eine profunde Anlehnung der Auslegungskunst an die Rhetorik lässt sich aber bereits in Augustins De doctrina christiana nachweisen, von der mit Recht behauptet wurde, es sei "das geschichtlich wirksamste Werk der Hermeneutik"35 gewesen. Zweck des Werkes ist es, Anweisungen (praecepta) für die Interpretation der Schrift anzugeben. Das Licht zur Schriftdeutung soll in erster Linie von Gott selbst kommen (1,38). So gelten Glaube, Hoffnung und Liebe als
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die drei Säulen dieser Kunst. Das vereinigende Prinzip ist aber die Liebe (caritas): Wer die Schrift auslegen will, muss zunächst alle kanonischen Bücher lesen und dunkle Stellen durch klarere Parallelstellen zu erklären versuchen. Damit werden die Grundlagen einer immanenten Deutung der Schrift aus ihr selbst (sola scriptura avant la lettre) gelegt. Die Schrift will nämlich allgemein verständlich sein. Die Zweideutigkeiten, die sich in der Schrift finden, rühren meist aus einer Verwechselung zwischen dem eigentlichen (propria) und dem übertragenen (translata) Sinne her. Für die Deutung dieser dunklen Stellen entnimmt Augustin praktische Anweisungen aus der Rhetorik, die ihm als Rhetorikprofessor gut vertraut war. Er hebt insbesondere die Bedeutung der Tropenlehre (Metapher, Katachrese, Ironie usw.) hervor. Augustin übernimmt auch sieben hermeneutische Regeln aus dem Liber regularum des Donatisten Tyconius (t um 400), was umso merkwürdiger ist, als Augustin sonst den Donatismus bekämpfte. Seine Doctrina christiana wurde zum Lehrbuch der gesamten mittelalterlichen Exegese. In der Reformation wurde die Hermeneutik erneut zum Schlüssel für eine theologische Neuorientierung, wie es schon die paulinische Allegorese als Fundierung der eigenen Legitimität des Christentums gegenüber dem Alten Testament bewirkt hattte. Luther erneuerte im Zeit~lter der Renaissance die augustinische Forderung nach einer immanenten Schriftauslegung (sola scriptura) , was man als Affront gegen die Autorität der Tradition und des kirchlichen Lehramts empfand. Einziger Maßstab der Schriftauslegung ist die Schrift selbst, sie ist ihr eigener Interpret (sui ipsius interpres). Dabei legt Luther den Akzent auf den sensus litteralis. Er verwirft zwar allmählich die scholastische Lehre vom vierfachen Schriftsinn, ist jedoch darauf bedacht, wie bereits gesagt, dem aus der Rhetorik stammenden tropologischen Sinn, der Wirkung der Schrift auf die Seele, besondere Bedeutung zuzumessen. Angesichts seiner Verwerfung des scholastischen Lehrkanons und menschlicher (Wissens-)Leistungen überhaupt bezeugt sich hier Luthers relative Hochschätzung der Rhetorik bei der Schriftauslegung. In einem Brief aus dem Jahr 1518 fordert er, nicht mehr Aristoteles solle gelehrt werden, sondern Plinius, die Mathematiker und Quintilian. 36 Die Allegorese lehnt auch er entschieden ab, verwendet sie jedoch weiterhin als Mittel der applicatio 37 , also wiederum in rhetorischer Absicht. Philipp Melanchthon (1497-1560) kommt bei der Ausarbeitung der frühprotestantischen Hermeneutik eine zentrale Funktion ZU. 38 Geschult in der humanistischen Rhetoriktradition während seiner
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Heidelberger und Tübinger Studienzeit, also vor seiner Begegnung mit Luther, entwickelte er von früh an einen Sinn für die Bedeutung der artes liberales. Er verteidigte ihre Unentbehrlichkeit in seiner Wittenberger Antrittsvorlesung (1519) in Anwesenheit von Luther (De corrigendis adolescentiae studiis). Der Verfall biblischer Studien, führt er dort aus, hängt auch mit einem Verfall liberaler Studien zusammen. Es ist nicht nur so, dass die scholastischen Künste den Intellekt schärfen helfen und damit bei der Häresiebekämpfung eine wichtige Rolle spielen können,39 die heiligen Bücher selbst seien nach den Maßstäben der Rhetorik verfasst. Rhetorik wird sich also bei der Deutung der Schrift als unabdingbar erweisen. Diese hermeneutische Akzentuierung tritt bereits in der Zwecksetzung von Melanchthons eigenen Lehrbüchern der Rhetorik (1519,1521, 1531) sehr klar zutage: Die rhetorischen Lehren sollen "junge Leute weniger zur eigenen korrekten Ausdrucksweise als vielmehr zum klugen Verständnis von Texten anderer anleiten (non tarn ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta)"40. Rhetorik wird vermittelt, "um junge Leute bei der Lektüre guter Autoren zu unterstützen (ut adolescentes adiuvent in bonis autoris legendis), die sie ansonsten nicht wirklich verstehen könnten"41. Damit erfolgt eine Wendung der Rhetorik von der (aktiven) Erzeugung überzeugender Reden zur (passiven) Lektüre oder Deutung von Texten. Die ars bene dicendi wird zur ars bene legendi: "Die Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie dient nicht dazu, Beredsamkeit zu erzeugen, sondern für die auszubildende Jugend ein methodisches Rüstzeug bereitzustellen, um elaborierte Texte kompetent zu beurteilen. "42 Wie bereits Dilthey feststellte, war diese Rhetorik "gewissermaßen auf dem Weg zur Hermeneutik" 43 .In einer wichtigen Studie von 1976 über "Rhetorik und Hermeneutik" hat H.-G. Gadamer Melanchthon an den Beginn der neuzeitlichen Hermeneutikgeschichte gestellt. 44 Die "Umwendung der rhetorischen Tradition auf das Lesen klassischer Texte"45 hat er dort damit erklärt, dass die Redekunst "seit dem Ende der römischen Republik ihre politische Zentralstellung verloren" hatte. Melanchthons humanistisch geprägte Erneuerung der Rhetorik kam auch "mit zwei folgenschweren Dingen zusammen, der Erfindung der Buchdruckerkunst und, im Gefolge der Reformation, der gewaltigen Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war"46. Dem hergebrachten Trivium von Grammatik, Dialektik und Rhe-
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torik gemäß entfaltet sich Melanchthons Rhetorik in enger Wechselwirkung mit der Dialektik, die als die Kunst der richtigen Beweisführung galt. War für Melanchthon die Rhetorik ursprünglich Teil der Dialektik, errang sie immer mehr Selbstständigkeit47 : Während die Dialektik die Sachverhalte sozusagen nackt vorstelle, füge die Rhetorik mit der sprachlichen Gestaltung das Gewand hinzu. 48 Da sich aber Sachverhalte nur sprachlich ausdrücken lassen, kann von einer zunehmenden Verschmelzung rhetorischer und dialektischer Gesichtspunkte bei Melanchthon gesprochen werden. Die Anwendung der Rhetorik auf das Lesen von Texten zeigt sich zum ersten Male in Melanchthons Behandlung der Exegese (de enarratio genere) und des Kommentars (de commentandi ratione) in seiner Rhetorica von 1519. 49 Dort erhebt sich Melanchthon gegen die allegorisierende Deutungsmethode zugunsten des sensus litteralis. Es sei verfehlt, Geschichten, die uns moralisch anstößig erscheinen, allegorisch wegzuerklären. Die Bibel wollte gerade das menschlich Anstößige schildern, um uns an die Sündenhaftigkeit und Eitelkeit unserer Natur zu erinnern. Melanchthon legt in diesem Sinne die Geschichte vom Opfer Isaaks durch seinen Vater Abraham aus. Diese Geschichte sei gar nicht gemein (ignobilis). Aus Abrahams Gehorsam Gott gegenüber könnten wir vielmehr moralische Lehren ziehen (die Läuterung der Affekte des Fleisches und ihre notwendige Vernichtung). Gegen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn macht Melanchthon geltend, dass ein Text ungewiss wird, wenn man ihm einen derart vielfachen Inhalt zuschreibt. 50 Diese künstliche Teilung zeuge von einem Mangel an rhetorischer Bildung. Melanchthon hebt insbesondere auf die seiner Ansicht nach verfehlte Auffassung des "tropologischen" Sinnes ab. Unter Tropologie werde irrigerweise eine Übertragung auf die Moral verstanden. Der Begriff tropologia bedeute ursprünglich keine Beschäftigung mit Moral, sondern etwas Rhetorisches, nämlich figurativ Ausgedrücktes. 51 An Melanchthons hermeneutischer Praxis fällt indessen auf, wie sehr ihm doch an einer moralischen Ausdeutung des sensus litteralis liegt. In der Hl. Schrift sieht er überall einen Unterricht über die heilsnotwendigen loei communes, die in seiner Theologie überhaupt eine hervorragende Rolle spielen und denen er 1521 ein eigenständiges Werk gewidmet hat. Loei communes ("Gemeinplätze") sind universal gültige Lehren über die Hauptanliegen des Menschen (Tugend, Sünde, Gnade usw.). Didaktischer Zweck der Hl. Schrift ist es demnach, Beispiele (exempla) von loei communes für unsere Erbau-
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ung vorzuführen. Die loei fungieren damit als hermeneutischer Schlüssel der Bibel. Melanchthon übernimmt dabei die hermeneutische Scopus-Regel der Aristoteles-Kommentatoren, insbesondere des Simplicius,52 indem er besonderen \Vert auf den scopus der Hl. Schrift legt: Jede einzelne Stelle muss hermeneutisch auf die Hauptabsicht der Bibel zurückgeführt werden, die im Grunde in der Vermittlung der loei über Gesetz, Sünde und Gnade besteht. 53 Es fällt dabei auf, dass die lutherische Rechtfertigungslehre den interpretatorischen Rahmen der Scopus-Lehre abgibt. Ob dabei ein theologisches Vorurteil das Schriftverständnis nicht zirkulär vorherbestimmt und damit die schlechthinnige Geltung des Sola-scripturaPrinzips in Frage stellt, wie von katholischer Seite vorgeworfen werden wird, wird von Melanchthon nicht eigens bedacht. 54 In der rhetorisch-didaktisch geprägten Rückbeziehung des Bibelsinnes auf den allgemeineren Scopus der Schrift gelangt Melanchthon indessen zu Vorahnungen des hermeneutischen Zirkels von Teil und Ganzem: "Da Unerfahrene keine ausführlichen und komplizierten Abhandlungen verstehen können, wenn sie den Text nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen, ist es nötig, ihnen das Ganze des Textes (universum) und seine Bestandteile (regiones) zu zeigen, so dass sie fähig werden, die einzelnen Elemente in den Blick zu nehmen und zu prüfen, inwieweit Übereinstimmung herrscht. "55 In dieser noch rein didaktisch gehaltenen Schilderung der hermeneutischen Zirkularität kommt ein Bewusstsein ihrer erkenntnistheoretischen Fragwürdigkeit offenbar nicht auf. Erst im 19. Jh. wird hier aus einem positivistisch überspitzten Kartesianismus heraus ein zu vermeidender Kurzschluss vermutet. Melanchthons Rhetorik war eine enorme, hier nicht nachzuzeichnende Wirkungsgeschichte beschieden (zu seinen Lebzeiten allein kamen die verschiedenen Versionen seiner Rhetorik in achtzig Einzeldruckausgaben heraus 56 ). Sie ermöglichte u. a. eine Versöhnung zwischen der Reformationsbewegung und der antiken Bildungstradition, die der protestantischen Hermeneutik von Flacius bis Schleiermacher und darüber hinaus den Weg wies. Die sichtbarste Frucht dieser rhetorisch fundierten Hermeneutik findet sich im Werk des Melanchthon-Schülers Matthias Flacius Illyricus (1520-1575). Seine Clavis scripturae sacrae von 1567 entstand als Antwort auf die Angriffe des Tridentiner Konzils, das die Unzulänglichkeit des Sola-scriptura- Prinzips bei der Entzifferung dunkler (ambigua) Stellen bekräftigte. Die Dunkelheit der Schrift, erwiderte Flacius, läge nicht an ihr, sondern an den mangelnden
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Grammatik- und Sprachkenntnissen, die sich die damalige katholische Kirche hatte zuschulden kommen lassen. Damit wurde auch in der Nachfolge Melanchthons das Gewicht rhetorisch-sprachlicher Kenntnisse für die protestantische Hermeneutik unterstrichen. Der erste Teil der Clavis wird ein reines Bibellexikon sein, das eine ausführliche Konkordanz der Parallelstellen bietet. Gegen die rein grammatikalische Schwierigkeit der Schrift schlägt Flacius im 2. Teil eine Reihe von Heilmitteln (remedia) vor. Flacius schwebt damit eine strikt immanente Deutung der Schrift, nämlich durch das Heranziehen von Parallelstellen vor, gleichsam als Konkretion der lutherischen Einsicht, dass die Schrift sui ipsius interpres sei. Wie die meisten Anweisungen, die Flacius gibt, findet sich das Prinzip der Parallelstellen bereits bei Augustinus. Flacius beruft sich im Übrigen häufig auf die Autorität des Augustinus und anderer Kirchenväter, wohl aus dem ihn kennzeichnenden 57 Bestreben heraus, das Neue des Protestantismus durch Aufweis von Vorgängern als alt und damit als wohlbegründet nachzuweisen. Von Melanchthon übernimmt er auch die aus der alten Rhetorik stammende Scopus-Lehre. Dabei verwendet er oft die platonische Metapher des Textes als eines organischen Körpers: "Es ist nämlich unmöglich, dass irgendetwas vernünftig geschrieben ist, was nicht einen sicheren Gesichtspunkt und eine gewisse Körperlichkeit (um es so auszudrücken) aufweist und bestimmte Teile oder Glieder in sich umfasst, die nach gewisser Ordnungsweise und gleichsam Proportion sowohl untereinander als auch mit dem ganzen Körper, und zumal mit ihrem Gesichtspunkt, verbunden sind. "58 Obwohl es als der erste wirkliche Hermeneutik-Traktat des Protestantismus gelten darf, zeigt das Lehrbuch von Flacius doch Kompendiumcharakter. Die Nützlichkeit seines Bibellexikons und seine glückliche Zusammenstellung hermeneutischer Regeln aus vielen Traditionen der Patristik und des Luthertums ließen es zum Grundbuch der altprotestantischen Hermeneutik bis hin zum späten 18. Jh. werden. 59 Im Sog dieser Tradition konnte das Auftauchen des Begriffs hermeneutica nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er begegnet zum ersten Mal bei dem Straßburger Theologen J. C. Dannhauer, der mit seiner Hermeneutica sacra von 1654 auch als Erster ein Buch unter dem Titel "Hermeneutik" verfasste. Den Neologismus hermeneutica hatte er jedoch viel früher, und zwar erstmals in seinen RhetorikVorlesungen von 1629 verwendet. 60 Aufgabe der Hermeneutik, wie er 1630 in seiner Programmschrift Idea boni interpretis ausführte, ist es, bei dunklen, aber einsehbaren Stellen den wahren vom falschen
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Sinn zu scheiden. In der Hermeneutik geht es allein um den intendierten Sinn, nicht um die sachliche Wahrheit selber, mit der sich die Logik beschäftigt. Die Notwendigkeit einer Hermeneutik, die den sensus des Ausgedrückten zu bestimmen hat, erläutert Dannhauer durch einen ausdrücklichen Hinweis auf die Erfindung der Typographie und die damit einhergehende Verbreitung des schriftlich fixierten Deutbaren. 61 Wie die Logik gehört eine solche Wissenschaft in die Propädeutik allen Wissens. Das bedeutet, dass sie in allen höheren Fakultäten (Theologie, Recht, Medizin) Anwendung wird finden können. Damit erlangt die Hermeneutik eine der Logik und der Grammatik vergleichbare Allgemeinheit. 62 Dies verdient eigens hervorgehoben zu werden, denn oft wird Schleiermacher das Verdienst zugesprochen, als Erster eine allgemeine Hermeneutik entfaltet zu haben, die aller speziellen Hermeneutik voranstünde. Dieser Sicht hat Schleiermacher selber das Wort geredet, als er gleich zu Beginn seiner Notizen zur Hermeneutik glaubte bemerken zu müssen: "Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken. "63 Originell ist bei Schleiermacher, wie wir sehen werden, eine neue Wendung in der Selbstreflexion des Verstehens, nicht jedoch die Transzendierung der speziellen Hermeneutiken auf eine allgemeine Hermeneutik hin. Eine weitere brisante Frage ist, inwiefern man in Dannhauers Konzept die Krönung der Idee der Hermeneutik erblicken darf. Für diese Sicht der Dinge hat insbesondere H.-E. Hasso Jaeger in seinem äußerst gelehrten, aber stark polemischen Aufsatz von 1974 plädiert. Das Geschäft einer streng wissenschaftlichen Hermeneutik würde allein in der Sinnerschließung des Gedachten unabhängig von dessen sachlichen Wahrheits anspruch bestehen. Hasso Jaeger hat einen solchen eng gefassten, gleichwohl Allgemeinheit heischenden Hermeneutik-Begriff gegen modernere, seiner Ansicht nach verschwommene und relativistische Hermeneutik-Konzeptionen auszuspielen versucht. In zwei wichtigen Erwiderunen von 1976 hat Gadamer 64 Hasso Jaeger eine mangelnde Berücksichtigung der Rhetorik vorgeworfen. 65 Dies führt Gadamer zur Frage, ob man einen Sinn erschließen könne, ohne seinen Wahrheits anspruch auf uns mit in Rechnung zu stellen: "Es ist in Wahrheit eine verkürzende Perspektive, wenn man die Aufgabe der Interpretation von Texten unter das Vorurteil der Theorie der modernen Wissenschaft und unter den Maßstab der Wissenschaftlichkeit stellt. Die Aufgabe des Interpreten ist in concreto niemals eine bloße logisch~teCchnische Er-
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mittlung des Sinnes beliebiger Rede, bei der von der Frage der Wahrheit des Gesagten ganz abgesehen würde. "66 Ein weiterer moderner Hermeneut, Odo Marquard, hat neuerdings Dannhauers Erfindung des Wortes hermeneutica in den Kontext des Dreißigjährigen Krieges gestellt. 67 Dieser Krieg sei ein "Bürgerkrieg um den absoluten Text" gewesen, der zwei hartnäckige, Recht haben wollende Hermeneutiken entgegengesetzt habe. Grundannahme der Krieg führenden Hermeneutiken sei es, dass der hl. Text nur einen Sinn haben könne. In beiden Fällen habe man es mit einer "singularisierenden" Hermeneutik zu tun. Dannhauers Einführung des Begriffs hermeneutica nach diesem fruchtlosen Bürgerkrieg um den einen Sinn der Hl. Schrift würde das Aufkommen einer anderen, pluralisierenden Hermeneutik signalisieren: "Der Augenblick, in dem die singularisierende in die pluralisierende Hermeneutik umkippte, kam erst dort, wo dieser hermeneutische Streit blutig wurde, und zwar generationenwierig: im konfessionellen Bürgerkrieg, der - zumindest auch - ein hermeneutischer Krieg war: ein Bürgerkrieg um den absoluten Text. "68 Anstatt Blut zu vergießen über die Einheitlichkeit des Sinnes ("Die Rechthaberei des Wahrheits anspruches der eindeutigen Auslegung des absoluten Textes kann tödlich sein"69), trete eine unter dem Prinzip hermeneutica initiierte Denkweise für die Annahme der Pluralität der Sinnesdeutung. Marquards Suggestion ist freilich eine Modernisierung, denn Dannhauer vertrat wie wohl seine meisten Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger eine "singularisierende" Hermeneutik. Dennoch weist Marquard mit Recht darauf hin, dass das "Prinzip Hermeneutik", wie es wohl erst im 20. Jahrhundert zum Durchbruch kam, einen gelasseneren, toleranten Umgang mit der Pluralität der Auslegungen zur Konsequenz hat. Dannhauers Entwurf einer allgemeinen Hermeneutik fand zahlreiche Nachfolger im Rationalismus, etwa bei J. Clauberg und G. F. Meier. Die wichtigste allgemeine Hermeneutik der Aufklärung wurde die von J. M. Chladenius (1710-1759) verfasste Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742). Die allgemeine Hermeneutik wird weiterhin parallel zur Logik als der andere große Bereich menschlicher Wissensleistung angesetzt. Die Tätigkeiten der Gelehrten lassen sich nämlich in zwei Grundsparten einteilen: Zum Teil vermehren sie die Erkenntnis durch Selbstdenken und ihre eigenen Erfindungen, zum anderen aber sind sie mit dem beschäftigt, "was andere vor uns nützliches oder anmuthiges gedacht haben, [ ... ] und geben Anleitung, derselben Schriften und
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Denkmale zu verstehen, das ist, sie legen aus"70. Für beide Möglichkeiten des Wissens, die ihre eigenen Verdienste und Abwege haben, gibt es zwei Arten wissenschaftlicher Regeln. Die ersten lehren uns, richtig zu denken und machen die "Vernunftlehre" aus, während die Regeln, die uns richtig auszulegen helfen, die allgemeine AuslegeKunst, die Chladenius auch "philosophische Hermeneutick" nennt, beschäftigen. Bei der Auslegung geht es vornehmlich darum, die zum richtigen Verständnis notwendigen Hintergrundkenntnisse herbeizuschaffen: "Auslegen ist daher nichts anderes, als diejenigen Begriffe beybringen, welche zum vollkommenen Verstand einer Stelle nöthig sind." Dabei weist Chladenius mit Nachdruck auf die Bedeutung des "Sehe-Punktes" hin, den er ausdrücklich Leibniz' Perspektivenlehre entlehnt. Von der Sache her erinnert dieser Begriff offenbar an die ältere Scopus-Lehre der Rhetorik und der Hermeneutik. Dennoch weist er zunehmend subjektivische Konturen auf: "Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, dass wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punckt nennen." Die subjektiven Zustände der Seele spielen auch in den pietistischen Hermeneutiken des 18. Jh. eine wichtige Rolle. Gegen die logisch-scholastische Ausrichtung der protestantischen Orthodoxie will der Pietismus der affektiven Dimension der Interpretation zu ihrem Eigenrecht verhelfen. Er konnte sich dabei auf die rhetorische Affektenlehre berufen. Jede Rede, so lehrt 1. 1. Rambach in seinen einflussreichen Institutiones hermeneuticae sacrae von 1723, ist die Übertragung eines Affektes. Man kann "unmöglich die Worte eines scriptoris gründlich einsehen und erklären [... ], wenn man nicht weiß, was für Affekte in seinem Gemüt damit verbunden gewesen, da er diese Worte gesprochen"71. Der Affekt ist dabei nicht eine Begleiterscheinung, sondern auch "anima sermonis cc , die Seele der Rede,72 Wer etwa die Hl. Schrift richtig verstehen will, muss auf dieses Affektive hin zielen. Diese rhetorisch-affektive Dimension der Hermeneutik ist in der pietistischen Applicatio-Lehre sehr klar zu erkennen. Die Aufgabe der Hermeneutik ging traditionell in der doppelten Ausübung des intelligere (Verstehen) und explicare (Erklären) auf. Das 18. Jh. sprach hier von einer subtilitas intelligendi et explicandi. Ein Interpret muss seinen Text zunächt verstehen und dann erklären können. Das war dem Pietismus nicht genug oder noch zu intellektuell. Dem Interpreten muss es auch um die applicatio des Verstandenen gehen. Dem Pietismus war die rhetorische
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Herkunft dieser applicatio bewusst. Eine erfolgreiche Interpretation muss auch die Hörer durch unmittelbare Anwendung für sich gewinnen, d.h. überzeugen. Diese Applicatio-Lehre fand ein bedeutsames Echo in einem zentralen Kapitel von Gadamers Wahrheit und Methode (1960), das anhand der Anwendung, wie sie von der pietistischen Hermeneutik thematisiert wurde, das hermeneutische Grundproblem wiederzugewinnen versuchte,73 Bei Gadamer ist freilich die Applikation "nicht eine bloße Anwendung des Verstehens, sondern dessen wahrer Kern"74. Jedes gelungene Verstehen ist von Hause aus ein auf uns angewendetes. Gadamer folgt dabei Heidegger, dem zufolge Verstehen stets ein Sich-Verstehen impliziert. Die reflexive Dimension des Verstehens wird auch in der Epoche machenden Hermeneutik von Friedrich Schleiermacher (17681834) ein zentrales Moment sein. Wie gesehen, lässt sich dessen origineller Beitrag zur Hermeneutik nicht allein darin erblicken, den partikulären Hermeneutiken eine allgemeine Hermeneutik voranzustellen. Schleiermachers Originalität liegt vielmehr in der spezifischen Ansetzung dieser Hermeneutik als einer "Kunstlehre des Verstehens". Er trifft eine folgenreiche Unterscheidung zwischen einer laxeren und einer strengeren Praxis der Interpretation. Die laxere (in der bisherigen Hermeneutikgeschichte übliche) Praxis geht davon aus, "dass sich das Verstehen von selbst ergibt, und drückt das Ziel negativ aus: Missverstand soll vermieden werden". Schleiermacher spielt hierbei auf die herkömmliche Stellenhermeneutik an, die Anleitungen zum Verständnis von dunklen Stellen (ambigua, obscura) vermitteln wollte. Schleiermacher selbst zielt hingegen auf eine strengere Praxis ab, die eher davon auszugehen hätte, "dass sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden"75. Was hier "laxere" Praxis genannt wird, wird mit einem kunstlosen Verfahren gleichgesetzt,76 Die Hermeneutik als Kunstlehre hat die Aufgabe, kunstgemäße Regeln zu entwickeln, um das vom Missverständnis ständig bedrohte Verstehen möglichst sicherzustellen: "Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniss unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehn zu wollen. "77 So verlangt Schleiermacher: "Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein. "78 In diesem "mehr Methode" liegt nahezu der Wahlspruch der modernen Hermeneutik, die Schleiermacher einführt. Damit gewinnt die Kunst des Verstehens eine betont rekonstruktive Funktion. Um eine Rede richtig zu verstehen, muss ich sie möglichst von Grund auf in ihrer eigenen
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Konsistenz rekonstruieren. Daher kommt Schleiermachers berühmtes Diktum (von dem es verschiedene Fassungen gibt), wonach es gelte, "die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber"79. Schleiermacher-Kritiker wie Gadamer haben in solchen Formulierungen den Einfluss des neuzeitlichen Methodendenkens gewittert. So unbestreitbar das erscheinen mag, so darf die rhetorische Herkunft und Tragweite derartiger Formeln nicht in Vergessenheit geraten. In der Rhetorik und lange vor der Methodik der Neuzeit ging es immer darum, eine Rede zu konstruieren (dispositio). Schleiermacher ist sich über diese Zusammenhänge völlig im Klaren, wie er ausdrücklich feststellt: "Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, dass jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewusstsein kommen muss, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen. "80 Insofern ist "die Auslegungskunst von der Komposition abhängig".81 Schleiermacher erweist sich damit weniger als ein Sohn neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit als ein (bewusster) Erbe antiker Rhetorik. So kann es nicht verwundern, dass Schleiermacher auf den Zirkelverlauf des Verstehens zu sprechen kommt. Dies geschieht in seinen Berliner Akademiereden von 1829, "Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch", allerdings seiner einzigen öffentlichen Stellungnahme zur Hermeneutik (die Notizen aus seinen Heften und Vorlesungen zur Hermeneutik wurden postum veröffentlicht). Friedrich Ast hatte in seinen Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (Landshut 1808) diese Zirkularität, deren rhetorischer Charakter schon bei Melanchthon und Flacius erkannt war, zu einem Grundprinzip der Hermeneutik erhoben: "Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen. "82 Der SchellingSchüler Ast hatte jedoch diesem Zirkel eine idealistische Wendung gegeben. Das Ganze, aus dem sich das Einzelne begreifen lasse, sei ein idealistischer Geist, der sich durch alle Epochen der Menschheit hindurch erstreckte. So lasse sich ein griechisches Werk aus dem Ganzen des antiken Geistes und dieses wiederum aus dem allumfassenden Geist heraus verstehen. Diese idealistische Potenzierung dessen, was später hermeneutischer Zirkel genannt wird, ist Schleiermacher zu überschwänglich. So bemüht er sich, die Zirkelbewegung nach zwei Endrichtungen, nämlich nach der objektiven Seite der Literaturgattung und der subjektiven Seite der schaffenden In-
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dividualität hin zu begrenzen: "Es ist leicht zu sehen, dass jedes Werk in zweifacher Hinsicht ein solches Einzelnes ist. Jedes ist ein Einzelnes in dem Gebiet der Literatur, dem es angehört, und bildet mit andern gleichen Gehaltes zusammen ein Ganzes, aus dem es also zu verstehen ist in der einen Beziehung, nämlich der sprachlichen. Jedes ist aber auch ein Einzelnes als Tat seines Urhebers und bildet mit seinen anderen Taten zusammen das Ganze seines Lebens, und ist also nur aus der Gesamtheit seiner Taten [ ... ] zu verstehen. "83 Es ist schwer zu sagen, inwieweit Schleiermacher in dieser Zirkularität bereits ein gravierendes epistemologisches Problem erkennt. Auch bei ihm scheint die Zirkelstruktur noch rein deskriptiv gehalten zu sein. Sie beschreibt das ständige Hin und Her des zirkulär verfahrenden Verstehens, das Schleiermacher konsequent als eine "unendliche Aufgabe" hinstellt. Dass er jedoch von "Aufgabe" spricht, zeugt von einem aufkeimenden epistemologischen Problembewusstsein, das noch ungelöst bestehen bleibt: "Jede Lösung der Aufgabe erscheint uns hier immer nur als eine Annäherung. "84 Diese zweifache Ausrichtung des Zirkels nach der sprachlichen und individuellen Seite hin entspricht übrigens der thematischen Einteilung der Hermeneutik Schleiermachers in eine grammatikalische und eine psychologische. Während sich die erste um den Gesamtzusammenhang der sprachlichen Gattung kümmert, geht es der psychologischen Interpretation um das Verständnis der individuellen Seele. Als Mittel der Interpretation nennt Schleiermacher die komparative Methode,85 die in der sprachlich-grammatikalischen Deutung maßgebend ist, und die "divinatorische", die bei der psychologischen Interpretation überwiegen muss. Dass Schleiermacher an dieser psychologischen Interpretation besonders lag, lehrt seine späte Definition der hermeneutischen Tätigkeit: "Die Aufgabe der Hermeneutik [besteht] darin, den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das Vollkommenste nachzubilden. "86 Selbst wenn neuere Interpreten (insbesondere M. Frank87 ) zu Recht an das Eigengewicht der grammatikalischen Interpretation erinnert haben, ist es die psychologische Orientierung der Hermeneutik Schleiermachers, die am stärksten auf die Nachwelt (positiv bei Dilthey, negativ bei Gadamer) gewirkt hat. In der unmittelbaren Nachfolge von Schleiermacher steht das Werk seines Schülers August Boeckh (1785-1867), der Altertumswissenschaftler war. In seinen Vorlesungen zur Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften entwickelte er eine einflussreiche "Theorie der Hermeneutik". Ihr Ertrag war es,
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der Hermeneutik (neben der Kritik) methodologische Grundlagenfunktion bei der Selbstbesinnung der philologischen Wissenschaften zuzuerkennen. Von da aus wird es nur noch ein leichter Schritt sein, ihre methodologische Kompetenz auf die Historie (der Sache nach bei Droysen) und schließlich alle Geisteswissenschaften (bei Dilthey) auszudehnen. Es ist nämlich fraglich, ob Schleiermacher, der gleichwohl die begrifflichen Grundlagen dafür gelegt hatte, eine derartige methodologische Funktion der Hermeneutik im Auge hatte, zumal für ihn die Problematik der im 19. Jh. entstandenen Geisteswissenschaften und ihrer Beziehung zu den Naturwissenschaften kein Thema war. Erst bei Boeckh wird ein solches erkenntnistheoretisches Bedürfnis nach "geisteswissenschaftlicher" Methodologie richtig spürbar. In der Tradition humanistischer Altertumswissenschaft geschult, ist Boeckh die von Schleiermacher herausgestellte Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik noch sehr präsent. Sie lässt sich unmissverständlich heraushören aus seiner berühmten Definition des philologischen Verstehens als eines "Erkennens des vom menschlichen Geist Producierten, d.h. des Erkannten"88. Das Verstehen ist die Wiederaneignung des in schriftlich fixierten Denkmälern niedergelegten Geistes, also die Umkehrung des Aktes der Elokution. 89 Auch für Boeckh lässt sich der hermeneutische Zirkel "nie vollständig vermeiden"90. Daraus ergibt sich nur, dass der Auslegung "Grenzen gesteckt"91 sind, die damit zusammenhängen, dass das Erkennen des Erkannten stets approximativ bleiben muss. 1. G. Droysen (1808-1884) folgt dem Muster seines Lehrers Boeckh, wenn er seine Vorlesungen zur Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte hält, die später in einem Grundriss unter dem Titel Historik erscheinen werden. Dennoch spielt überraschenderweise bei ihm der Begriff der Hermeneutik so gut wie keine Rolle. Seine "Theorie der Interpretation" bildet auch nur ein entlegenes Kapitel in seiner Historik. Dafür verwendet er den Begriff des Verstehens häufig und in einer neuartigen Weise, indem er es dem "Erklären" der Naturwissenschaften entgegenstellt. Neu ist vor allem diese Entgegensetzung. Früher, etwa in der oben gesehenen Lehre von den subtilitates, gestalte sich das Verhältnis des Verstehens (intelligere) und des Erklärens (explicare) als ein komplementäres: Das Verständnis muss auch in der Lage sein, das Verstandene zu erklären. Bei Droysen hingegen bezeichnen Verstehen und Erklären die jeweiligen und spezifischen Verfahren der Geistes- und der Naturwissenschaften. Erklärt wird eine gegebene Tatsache
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durch Rückführung auf ein allgemeines Gesetz. Verstanden wird unterdessen ein Sinn, der aber nicht unmittelbar gegeben ist und sich nur in Ausdrücken zu erraten gibt. Das Verstehen hat es also überhaupt nicht mit Tatsachen, sondern mit dem, was hinter den Tatsachen liegt, zu tun: "Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. "92 Historisches Verstehen ist "forschendes Verstehen" in dem präzisen Sinne, dass es stets hinter das Gegebene, etwa die erhaltenen Zeugnisse der Vergangenheit, zurückbohren muss, um zu einem Sinn vorzudringen, der sich aber nie dinghaft geben lässt. So ist der verstehende Forscher an der Gestaltung seines eigenen Gegenstandes mit beteiligt. Die recht tastenden methodologischen Bemühungen des 19.Jh., in denen wohlgemerkt die Hermeneutik meist eine sekundäre Rolle als Hilfsdisziplin der Philologie (neben der Grammatik und der Kritik) spielt, münden in das Werk von Wilhelm Dilthey (1833-1911) ein. Seine Lebensaufgabe war die einer Methodologie der Geisteswissenschaften, die er unter dem Leitstern einer "Kritik der historischen Wissenschaften" heraufbeschwor. Prüft man die vorhandenen Quellen seines verstreuten Werkes genau darauf hin, ist es schwierig auszumachen, ob, inwiefern und ab welchem Zeitpunkt die Hermeneutik einen Beitrag zu dieser Methodologie leisten soll. Die Hermeneutik wird z. B. kein einziges Mal im ersten historischen Band seiner "Einleitung in die Geisteswissenschaften" von 1883 (den zweiten, systematischeren Band befördert er nie zum Druck) erwähnt. Die Grundlage der Geisteswissenschaften scheint Dilthey in dieser mittleren Periode seines Denkens eher in einer (allerdings "verstehenden") Psychologie zu sehen. Die Beschäftigung mit der Hermeneutik liegt vielmehr am Anfang und am Ende seines Denkweges. Seine Dissertation und seine ersten Forschungen waren Schleiermacher gewidmet. Seine von der Schleiermacher-Stiftung geförderte, auch nach heutigen Maßstäben erstaunlich gelehrte Jugendarbeit über "Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik" (1860) ließ er unveröffentlicht. Er plante damals eine Schleiermacher-Biographie, von der nur der 1. Band erschien. Den angekündigten zweiten, systematisch angelegten Band veröffentlichte er nie. Erst am Ende seines Lebens kam er auf Schleiermacher und die Hermeneutik zurück: zunächst in seinem wichtigen Vortrag von 1900 "Über die Entstehung der Hermeneutik"93 und in seinem letz-
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ten programmatisch-fragmentarisch gelassenen Werk: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (191094 ). Hauptsächlich aus diesen zwei Quellen ergeben sich zwei distinkte Hermeneutik-Konzepte beim späten Dilthey, soweit man von ausgearbeiteten Entwürfen sprechen darf: Hermeneutik steht erstens - im Vortrag von 1900 - für den Entwurf einer wissenschaftlichen Methodologie der Geisteswissenschaften und zweitens - in den im Band VII seiner Gesamten Schriften versammelten Studien über den Aufbau der geschichtlichen Welt - für eine allgemeine Philosophie des geschichtlichen Lebens, von dem die Geisteswissenschaften lediglich der beredtste Ausdruck sind. Es steht aber so gut wie fest, dass Dilthey selber diese allgemeine Lebensphilosophie nie Hermeneutik genannt oder als hermeneutisch qualifiziert hat. Unzweifelhaft ist freilich, dass Dilthey in seiner Schule so gewirkt hat. Sein Schüler Georg Misch war es vor allem, der die Arbeiten des späten Dilthey als Vorbereitungen einer hermeneutischen Philosophie ausgab. So wurde in den 20er-Jahren Hermeneutik zu einem Modewort für eine Philosophie der Geschichtlichkeit, an die ein Autor wie Heidegger sich anlehnen konnte. In Diltheys Texten überwiegt indes ein noch rein technisches Verständnis von Hermeneutik (meist erörtert als philologische Grunddisziplin neben der Kritik). Im Zeitalter des Historismus wächst natürlich einer normativen Disziplin wie der Hermeneutik "eine neue bedeutsame Aufgabe" zu, die Dilthey darin sah, "die Sicherheit des Verstehens gegenüber der historischen Skepsis und der subjektiven Willkür" zu verteidigen. 95 So formulierte Dilthey das Programm, das an sein Vorhaben einer Methodologie der Geisteswissenschaften gemahnt: "Gegenwärtig muss die Hermeneutik ein Verhältnis zu der allgemeinen erkenntnistheoretischen Aufgabe aufsuchen, die Möglichkeit des Wissens vom Zusammenhang der geschichtlichen Welt darzutun und die Mittel zu seiner Verwirklichung aufzufinden. "96 Dilthey geht von Schleiermachers Ansetzung des Verstehens als eines "Vorganges, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen" aus und definiert die Hermeneutik als eine "Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen"97. Sie könnte für alle Geisteswissenschaften Relevanz erlangen, sofern allen dieselbe "Richtung auf die Selbstbesinnung" hinter den fixierten Ausdrücken gemeinsam ist: In allen Verstehensakten - somit in allen Geisteswissenschaften - geht es darum, hinter dem Ausgedrückten das innere Gespräch der Seele, wie Platon das Denken nannte, zu erreichen. Dilthey hat selber eine Kunstlehre solchen
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Verstehens nicht herausgearbeitet, und es mochte vielen seiner Nachfolger fraglich erscheinen, ob es so etwas gibt. - Eine späte Verwirklichung fand jedoch sein Programm im Werk des italienischen Juristen Emilio Betti (1890-1968) unter dem diltheyschen Titel "Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften"98. Für den unmittelbaren Fortgang der Hermeneutik wurde unter Vernachlässigung des ursprünglich methodologischen Vorhabens die radikalisierte Richtung auf die "Selbstbesinnung" zum wesentlichsten Erbe Diltheys. An Dilthey konnte der junge Heidegger anknüpfen in seinen frühen Vorlesungen um die "Hermeneutik der Faktizität", die die Selbstauslegung des faktischen Menschen zum Thema hatten. Heideggers Grundeinsicht ist dabei, dass uns die Welt stets und primär im Modus der Bedeutsamkeit begegnet. In diesem Sinne spricht er von "hermeneutischer Intuition" - dies ist wohl das erste Vorkommen des Begriffs Hermeneutik in seinem Frühwerk. 99 Die Deutungen kommen nicht zu den Dingen hinzu, sondern gehören ihnen ursprünglich an. So erfährt jedenfalls ein um sein eigenes Sein besorgtes Dasein meist und zumeist seine "Lebenswelt" . In der langen Vorbereitungsphase seines Hauptwerkes Sein und Zeit (1927) verfolgte Heidegger das Programm einer dieser sorgenden Bedeutsamkeit nachgehenden Hermeneutik der Faktizität in enger Anlehnung an die alte Rhetorik. So hielt Heidegger im Sommersemester 1924 eine demnächst erscheinende (GA 18) Vorlesung über die Rhetorik des Aristoteles. Eine Erinnerung an diese rhetorische Herkunft der Hermeneutik Heideggers erhält sich noch in Sein und Zeit: "Aristoteles untersucht die pathe im zweiten Buch seiner ,Rhetorik'. Diese muss - entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffs der Rhetorik an so etwas wie einem ,Lehrfach' - als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefasst werden. "100 Damit stellt Heidegger seine Hermeneutik in die direkte Nachfolge der aristotelischen Rhetorik. In Anlehnung an Kants berühmtes Urteil über die formale Logik bemerkt auch Heidegger, dass "die grundsätzliche ontologische Interpretation des Affektiven überhaupt seit Aristoteles kaum einen nennenswerten Schritt vorwärts hat tun können"101. So wird das Affektive (1927 unter dem Sammelbegriff "Befindlichkeit" gefasst) zu einem grundlegenden Merkmal, d.h. zum "Existenzial" in der Konstitution des Daseins erhoben. Da "Befindlichkeit je ihr Verständnis [hat], wenn auch nur so, dass sie es niederhält", wird das Verstehen zum zweiten grundlegenden Existenzial
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des Daseins. Der aus den methodologischen Diskussionen des 19.Jh. bekannte Terminus des Verstehens wird damit seines rein kognitiven Charakters entkleidet: "Verstehen ist immer gestimmtes."102 Wie in der umgänglichen Formel "sich auf etwas verstehen" bedeutet ferner Verstehen ein Können "in der Bedeutung von 'einer Sache vorstehen können', 'ihr gewachsen sein'''103. Im Verstehen geht es vordringlich um ein mögliches Seinkönnen des Daseins: Verstehend entwirft sich das Dasein auf Möglichkeiten seiner selbst hin. Da sie aber immer schon faktisch vollzogen werden, bleiben diese Verstehenshorizonte meist unthematisch. Das sich auf Möglichkeiten entwerfende Verstehen kann sich aber selbst "ausbilden". Diese Selbstaufklärung des Verstehens nennt Heidegger "Auslegung"104. Dieser selbstkritische Auslegungsbegriff führt unmittelbar zur Problematik des sog. hermeneutischen Zirkels, denn: "Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muss schon das Auszulegende verstanden haben. "105 Dieser circulus sei nicht vitiosus, führt Heidegger aus, weil es die ursprüngliche Aufgabe allen ernsthaften Erkennens sei, sich über die eigenen Voraussetzungen (nach Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff) klar zu werden: "Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen. "106 Heidegger geht es unverkennbar um eine Sicherung der Verstehensentwürfe "von den Sachen her", wie er sich betont phänomenologisch ausdrückt. 107 Die Schwierigkeit einer solchen Aufhellung verbirgt sich jedoch bereits in der Ansetzung des Verstehens als eines Entwerfens. Findet sich nicht das faktische Dasein in Möglichkeiten seiner selbst geworfen, über die es nicht ganz Herr werden kann? Diese Einsicht wird infolge einer Kehre im Denken des späten Heidegger zu einer Radikalisierung der geworfenen Endlichkeit des Daseins führen. 108 Nunmehr wird eine epochale "Seinsgeschichte" zum Ursprung aller Verstehensentwürfe. Heidegger wird dabei konsequent sein hermeneutisches Programm fallen lassen, weil es zu sehr um das menschliche Dasein zu kreisen schien und damit den neuzeitlichen Subjektivismus zu befestigen drohte. Selbst wenn Heideggers spätes Seinsdenken manchen abstrus oder unnachvollziehbar vorkommen mag, lassen sich doch hermeneutische Lehren aus seiner Radikalisierung der geschichtlichen Geworfenheit und ihrer Überwindung des modernen Subjektivismus ziehen. Bei Heidegger selber sind sie in der Hinwendung zum Selbstgespräch der Sprache (Unterwegs zur Sprache, 1959) und zur Kunst als "Ins-Werk-Setzen der Wahrheit" (Vom Ursprung des Kunstwerkes, 1935) bereits augenfällig.
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Die rhetorisch gestimmte Hermeneutik von Sein und Zeit fand eine erste Fortpflanzung in den Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (1936) des Göttinger Phänomenologen Hans Lipps (18891941). Aufgabe dieser hermeneutischen Logik ist es, eine pragmatische Typik der wirklich gesprochenen Rede anstatt eine starre Morphologie des Urteils zu entwickeln. Die klassische Logik hätte nämlich immer vernachlässigt, dass eine jede Rede dazu da ist, um "jemandem etwas zu erkennen zu geben". Die Wahrheit einer Rede haftet also nicht an der Aussage selber,109 sondern an der Situation, in der eine Bemerkung für jemanden aufschlussreich wirkt. "Lipps will den Anderen, dem ich etwas zu erkennen gebe, von Anfang an in die Bestimmung des Logos mit hineinnehmen. "110 In dieser hermeneutischen Logik wird allgemein eine Antizipation der Sprechakttheorie von Searle und Austin gepriesen. Ihre Destruktion der herkömmlichen Logik im Namen eines situationsbezogenen pragmatischen Wahrheitsbegriffs lässt sich aber ursprünglicher noch aus dem bis Heidegger verdrängten Erbe der Rhetorik heraus verstehen. Hans-Georg Gadamer wird die Einsichten des späten Heidegger in die geschichtliche Geworfenheit des Daseins mit ihrem hermeneutischen Ausgangspunkt zurückzubinden versuchen. In seiner bahnbrechenden Synthese der Hermeneutik-Tradition nimmt er aber auch den Faden der von Dilthey entfachten Diskussionen um die hermeneutisch-methodologische Eigenart der Geisteswissenschaften wieder auf. Seit dem 19.Jh. in eine defizitäre und defensive Position gegenüber den Naturwissenschaften gedrängt, hatten die Geisteswissenschaften ihre wissenschaftliche Respektabilität durch eine Methodenreflexion zu erringen gehofft. Dagegen macht Gadamer geltend, "dass der Begriff der Methode als Legitimationsinstanz der Geisteswissenschaften unangemessen ist. Es geht hier nicht um die Behandlung eines Gegenstandsgebietes durch unser Verhalten. Die Geisteswissenschaften, für die ich eine Lanze breche, indem ich ihnen eine angemessenere theoretische Rechtfertigung anbiete, gehören vielmehr selber in den Erbgang der Philosophie. Sie unterscheiden sich von den Naturwissenschaften nicht nur durch ihre Verfahrensweisen, sondern auch durch ihre vorgängige Beziehung zu den Sachen, durch die Teilhabe an der Überlieferung, die sie immer wieder neu für uns zum Sprechen bringen. "111 Bis Kant konnten sich die Wissenschaften vom Menschen (oder humaniora) noch aus den Grundanliegen des rhetorischen Humanismus heraus verstehen. In ihnen ging es in der Tat um die Bildung des Menschen, die Kultivierung des Geschmacks, der Urteilskraft und des sensus
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communis, die ebenso viele Wissensmöglichkeiten darstellen, die sich aber keinesfalls methodisieren lassen. Nach Gadamer hat jedoch Kant diesen Instanzen einen Wahrheits anspruch abgesprochen, weil sie den strengeren Standards der exakten Wissenschaften nicht genügen. Was diesen Kritierien nicht standhält, genießt nur noch eine rein subjektive Geltung. So standen die Geisteswissenschaften vor der fatalen Alternative zwischen der ästhetischen Trivialisierung und der Anlehnung an die methodischen Wissenschaften. Um dieser falschen Alternative entgegenzuwirken, versucht Gadamer eine den Geisteswissenschaften gerecht werdende Hermeneutik auszuarbeiten. Gegen das methodische Ideal der Selbstauslöschung des Interpreten wird Gadamer mit Heidegger die positive Bedeutung der Geschichtlichkeit und gar der Vorurteils struktur des Verstehens hervorheben. Er erhebt sich gegen die von der Aufklärung propagierte Diskreditierung der Vorurteile als eine weitere, vom Methodenbewusstsein nahe gelegte Abstraktion. Ein totaler Neuanfang steht unserer geschichtlichen Vernunft nicht zu. Die Geschichtlichkeit bildet kein Hindernis, sondern vielmehr eine Bedingung des Verstehens. Die Zugehörigkeit zu einer in uns wirkenden Geschichte ermöglicht es ferner, wahre von falschen Vorurteilen zu scheiden. Das vom 19.Jh. stolz entwickelte "historische Bewusstsein" ist nicht derart ein Novum, dass es diese Wirkungs geschichte unterbrechen würde. Es ist durch ein "wirkungsgeschichtliches Bewusstsein" zu ergänzen, das sich als Ergebnis einer mitzureflektierenden, aber nie in eine volle Transparenz zu überführenden Geschichte weiß. Das individuelle Verstehen "ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungs geschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln"112. Die scheinbare Passivität dieses Verstehensbegriffs schränkt Gadamer daduch ein, dass er eine kontrollierte Vollstreckung dieser Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit anmahnt. Den kontrollierten Vollzug der Horizontverschmelzung, kraft dessen man sich der eigenen Fragesituation bewusst wird, bezeichnet Gadamer als "die Wachheit des wirkungs geschichtlichen Bewusstseins"l13. Die den Geisteswissenschaften angemessene Hermeneutik ist folglich nicht von einer szientistischen oder historistischen Methodologie, sondern aus einer Logik von Frage und Antwort zu erwarten: Aus der Zugehörigkeit zu einer Tradition, einer historischen Situation und einer Fragestellung heraus ergeben sich die Wahrheits ansprüche, die in den Geistswissenschaften debattiert werden. Die Dialektik von Frage und Antwort ist
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gleichwohl nicht als ein autonomes Spiel des forschenden Subjektes zu missdeuten. Es wird gezielt vom platonischen und hegeischen Modell aus als ein Geschehen gedacht, an dem wir nur teilhaben,114 Gadamers Dialogik von Frage und Antwort wird eine Universalisierung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache in die Wege leiten. Dass jede Wahrheit eine Antwort auf eine situierte Frage verkörpert, ist nicht bloß eine Besonderheit der Geisteswissenschaften. Es ist vielmehr ein Proprium unserer sprachlichen Welterfahrung überhaupt. Es gilt aber, auch hier eine szientistisch motivierte Abstraktion zu vermeiden: den Vorrang der Aussage, die sich einer methodischen, isolierenden Behandlung unterwerfen lässt. Gadamers Hermeneutik der Sprachlichkeit weiß sich in einem "äußersten Gegensatz"1l5 zu diesem Begriff der Aussage, der insofern abstrakt ist, als er das Gesagte von seinem Motivationshorizont, d. h. von der Frage oder der Situation, auf die es die Antwort ist, abzukoppeln droht. So bemüht sie sich, Sprache von ihrem dialogischen Boden aus zu thematisieren. Eine Ahnung davon hat sich vor allem in der augustinischen Verbumslehre gerettet, die das geäußerte Wort als die prozessuale Verlautbarung eines inneren Wortes zu hören verstand. Diese universale Dimension unserer Sprachlichkeit, ihr Rückverweis auf Vorhergehendes und Darüberhinausgehendes, nennt Gadamer auch "spekulativ". Das Wort leitet sich aus der Spiegelmetapher (lat. speculum) her: Im Gesagten spiegelt sich immer eine Unendlichkeit von Sinn wider, die dialogisch mitgehört und -vollzogen werden will. Dieses Element der Sprache betrifft auch einen universalen Aspekt der Philosophie, wie Gadamer am Ende seines Werkes andeuten wird. Eine Philosophie, die sich aus einem vorgängigen Dialog und einer sie möglich machenden Frage oder Unruhe heraus versteht, wird sich auch anders reflektieren müssen, als dies vom herrschenden Methodenparadigma suggeriert wird. Sie wird hermeneutisch sein müssen. Für diese hermeneutische Selbstbesinnung der Philosophie konnte sich Gadamer auf das Erbe der Rhetorik berufen: "Woran sonst sollte auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheits anspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eik6s (verisimile) , und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewissheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt?"1l6 Es ist freilich nötig, wie Gadamer 1993 schreibt, "der Rhetorik ihre weitreichende Geltung wieder zurück[zu]geben, aus der sie in der beginnenden Neuzeit von der mathematischen Natur-
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wissenschaft und Methodenlehre vertrieben worden ist. Rhetorik meint das Ganze des sprachlich verfassten und in einer Sprachgemeinschaft ausgelegen Weltwissens."117 Lässt sich Hermeneutik "geradezu als die Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu bringen"118, so geht ihr Allgemeinheitsanspruch mit der Universalität der Rhetorik einher,119 Jürgen Habermas knüpfte positiv an Gadamers Begriff der Verständigung bei seiner Ausarbeitung einer linguistisch fundierten Sozialwissenschaft an,120 glaubte jedoch den Universalitätsanspruch der Hermeneutik und dessen zu starke Anlehnung an die Rhetorik eingrenzen zu müssen. Auf diese Weise spielte die Rhetorik eine zentrale Rolle in der berühmten Debatte zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik. So hieß Gadamers erste Erwiderung auf Habermas "Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik" (1967),121 wobei wohl auch Habermas' entflammte Rhetorik der gesellschaftlichen Emanzipation gemeint war. In seiner Diskussion des hermeneutischen' Standpunktes hat Habermas zur Geltung gebracht, dass "ein scheinbar 'vernünftig' eingespielter Konsensus sehr wohl auch das Ergebnis von Pseudokommunikation sein kann"122. Das dialogische Einverständnis könne nämlich aus einer ideologisch verschleierten Herrschaftsstruktur resultieren. Kommunikatives, d. h. reflexiv eingesehenes Einverständnis müsste von einem rein rhetorischen oder strategischen (d. h. manipulativ erzielten) Konsens unterschieden werden. Die Einsicht, dass "jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht [steht], pseudokommunikativ erzwungen zu sein"123, ist nach Habermas die einer Metaoder Tiefenhermeneutik, die "Verstehen an das Prinzip vernünftiger Rede, demzufolge Wahrheit nur durch den Konsensus verbürgt sein würde, der unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre"124, bindet. Damit wird Hermeneutik in Ideologiekritik überführt. Dagegen konterte Gadamer in einer Replik von 1970: "Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas - der Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unterschätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar."125 Es ist zu bemerken, dass Habermas in seinen letzteren Arbeiten vom rhetorischen Paradigma einer als ge-
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sellschaftlich erweiterten Psychoanalyse gefassten Ideologiekritik etwas Abstand genommen hat. Seit 1981 bemüht er sich um die Entwicklung einer Theorie des kommunikativen Handeins und einer daraus zu entwickelnden Diskursethik und Rechtstheorie,126 die immer mehr Anschluss an das in der faktischen Sittlichkeit eingespielte Verständigungsmodell sucht. Darin liegt unverkennbar eine Annäherung an die Position der Hermeneutik, die ihm ein Weggefährte wie K.-O. Apel in einem Versuch, "mit Habermas gegen Habermas zu denken", glaubte vorwerfen zu müssen,127 Kritisierte Habermas bei Gadamer eine zu große Anlehnung an die Rhetorik, so monierte die von 1. Derrida ausgegangene Dekonstruktion fast das Gegenteil, nämlich eine Unterschätzung der rhetorischen Sprachrnacht und die mit ihr einhergehende Unterminierung des Wahrheitsbegriffs. Derrida nahm zunächst Anstoß an Gadamers Rede von einem "guten Willen" bei der Verständigungssuche,128 Liegt nicht darin, so fragte Derrida, ein metaphysischer Rest, nämlich eine Fortsetzung der Metaphysik des Willens? Der weitreichende Vorwurf hat mindestens zwei Implikationen: Es wird gefragt, ob sich dahinter erstens nicht ein totalitärer Aneignungswille der Andersheit gegenüber und zweitens ein zu großes Vertrauen in den prätendierten Sachbezug von Sprache verstecke. Über Heidegger (Metaphysik des Willens) hinaus ist Derrida in dieser Hinsicht Nietzsches und Paul de Mans rhetorischem Sprachverständnis verpflichtet. Destruiert wird die Vorstellung, dass Sprache je einen Bezug zu einer feststellbaren Sachlichkeit sichern könne. Kann Sprache überhaupt etwas anderes oder mehr sein als ein rhetorisches Spiel? In ihrem Beharren auf einem Willen zum Verstehen hätte also die Hermeneutik die Tragweite der von der Destruktion thematisierten Panrhetorik unterschätzt. Postmoderne Theoretiker wie R. Rorty129 und G. Vattimo130 vertreten die Ansicht, dass auch die von Heidegger und Gadamer ausgegangene Hermeneutik einem solchen Panrhetorismus huldigen müsste. Von der philosophischen Hermeneutik aus lässt sich jedoch in der relativistischen Verabschiedung eines sachbezogenen Wahrheitsbegriffs vielmehr eine stillschweigende Nachwirkung des Historismus und ihres fundamentalistischen Wissenskonzepts wieder erkennen. Sofern die postmoderne Hermeneutik, wenngleich auf negative Weise, dabei allein den kartesianischen, wissenschaflichen Wahrheitsbegriff gelten lässt, könnte ihr Panrhetorismus unversehens ein schwer wiegendes Missverständnis der rhetorischen Tradition und ihres Wahrheitsverständnisses für die Hermeneutik verraten.
11. HEIDEGGERS WIEDERERWECKUNG DER SEINSFRAGE AUF DEM WEG EINER PHÄNOMENOLOGISCH-HERMENEUTISCHEN DESTRUKTION ,y./ir nehmen 'Sein und Zeit' als den Namen für eine Besinnung, deren Notwendigkeit weit hinausliegt über das Tun eines Einzelnen, der dieses Notwendige nicht 'erfinden', aber auch nicht bewältigen kann. Wir unterscheiden daher die mit dem Namen 'Sein und Zeit' bezeichnete Notwendigkeit und das so betitelte 'Buch'. ('Sein und Zeit' als Name für ein Ereignis im Seyn selbst. 'Sein und Zeit' als Formel für eine Besinnung innerhalb der Geschichte des Denkens. 'Sein und Zeit' als Titel einer Abhandlung, die einen Vollzug dieses Denkens versucht.)"131
Literarisch hat Heidegger sein hermeneutisches Programm allein in der Einleitung zu seinem Hauptwerk Sein und Zeit dargestellt. Diese Einleitung ist aber die Einführung in ein Werk, das wir nicht kennen. Sie versteht sich tatsächlich als die Einführung zu einem Buchprojekt, von dem "nur" zwei Sechstel vorliegen. Zeitgenossen, wenn nicht Heidegger selbst, erwarteten lange die versprochenen Teile, aber das Werk behielt hartnäckig - gleichsam als Dokument eines lehrreichen Scheiterns - seinen "fragmentarischen" Charakter. Gewiss kann man versuchen, und es wurde nicht selten getan, die Intentionen der fehlenden Teile zu rekonstruieren,132 Aber das Buch ist - trotz seiner faszinierenden 437 Seiten, die es zu einem der Hauptwerke der philosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts werden ließen - faktisch ein Torso geblieben. In die Werkstatt des Werkes bietet allein die Einleitung einen Einblick. Als solche ist sie bereits der erste Kommentar zum faktisch vorhandenen Werk. In ihr treten auch Schwerpunkte in Erscheinung, die im gedruckten Werk eher unterbelichtet erscheinen; Das gilt ganz besonders für die Seinsfrage. Das veröffentlichte Werk (d. h. die Fundamentalanalyse des Daseins) wollte sie gewiss vorbereiten, ließ sie aber unentfaltet. Das verblüffte bereits viele Zeitgenossen: Das Buch schien
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viel mehr vom menschlichen Dasein als vom Sein selbst zu handeln, sei also mehr "Existenzphilosophie" als Ontologie. Heidegger beeilte sich, darin ein Missverständnis und eine Verkürzung zu sehen, war aber meist redlich genug, einzusehen, dass er bzw. das "fragmentarisch" gelassene Werk daran schuld war. So mochte er bedauert haben, den geschriebenen 3. Teil trotz seiner Mängel nicht doch veröffentlicht zu haben, um wenigstens die von ihm angestrebte Richtung anzuzeigen (vgl. GA 66,414). Dieses Bedauern wird man jedoch relativieren dürfen: Wenn die vierzig Seiten der Einleitung es nicht vermocht hatten, die erwünschte Richtung anzumahnen, wäre schwerlich eine völlig andere Perspektive in einem fehlenden Teil zu Tage getreten. Es sieht beinahe so aus, als wäre sich Heidegger erst während der Niederschrift an seinem Werk des vollen Gewichtes der Seinsfrage, die seine Lebensfrage werden sollte, bewusst geworden. Auch wenn sie sich als Beiträge zu einer "Geschichte der Ontologie und Logik" verstanden, hielten Heideggers programmatische Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles von 1922 noch fest: "Der Gegenstand der philosophischen Forschung ist das menschliche Dasein als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter."133 Der Seinscharakter des Daseins, also nicht unbedingt das Sein als solches, stand 1922 im Mittelpunkt. Die Einleitung von 1927 wird zuweilen denselben Eindruck vermitteln, aber den Akzent doch stärker auf die Seinsfrage und ihre Vergessenheit legen. Diese Akzentuierung werden die späteren Arbeiten und die Uminterpretationen von Sein und Zeit noch verschärfen. Sein und Zeit - und selbst dieser Titel entstand, als die Arbeit beendet war markiert damit eine Wegscheide. Das gilt erst recht für die Einleitung. Sie ist emblematisch für Heideggers Denkweg, insofern sie sich unterwegs zur Seinsfrage weiß, ohne je an ein Ende gekommen zu sein, als sei hier das Unterwegssein das Entscheidende. Dafür ist die Einleitung sehr systematisch angelegt. Heidegger ist vielleicht nirgendwo anders so systematisch gewesen wie in ihr. Ein erstes Kapitel verteidigt eindrucksvoll, aber zugleich provokativ die "Notwendigkeit, Struktur und [den] Vorrang der Seinsfrage" (§ 1 bis 4). Aus der Evidenz dieser wiedergewonnenen Frage heraus entwickelt ein zweites Kapitel die Doppelaufgabe des Werkes, die einer "ontologischen Analytik des Daseins" (§ 5) und einer "Destruktion der Geschichte der Ontologie" (§ 6), die die Zweiteilung des Werkes nach sich zieht. Aus dieser Doppelaufgabe fließt auch die phänomenologische (und hermeneutische) Methode (§ 7) des Werkes und dessen Plan (§ 8). Kein Zweifel: Die Einleitung bietet eine kon-
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densierte Fassung des gesamten Konzeptes von Sein und Zeit. Es ist aber die einzige Spur eines Werkes, das es als solches nicht gibt. Die Einleitung ist Sein und Zeit bereits in nuce, aber in vielem wegweisender als das Werk selbst. Wir folgen der Zweiteilung der Einleitung, indem wir zunächst den Sinn der Seinsfrage und alsdann die vielfache Aufgabe des Werkes aufrollen.
1. Der Sinn der Seinsfrage Die Seinsfrage ist heute in Vergessenheit geraten, proklamiert die erste Zeile von Sein und Zeit. Es ist 1927 vielleicht nicht ganz klar, ob dieses Vergessen ein Versehen oder, wie der späte Heidegger betonen wird, eine Notwendigkeit darstellt (in diese Richtung weisen jedoch bereits Andeutungen der Einleitung - SZ 6, 36 -, auf die wir zurückkommen). Der späte Heidegger wird nämlich die Seinsfrage zunehmend als eine solche charakterisieren, die das abendländische Denken nicht bzw. nicht zureichend gestellt hat oder stellen konnte, sodass das Versäumnis der Seinsfrage zur Signatur der abendländischen Ontologie werden wird. Auch wenn es gegen diese Vergessenheit anrennt, malt Sein und Zeit ein etwas weniger düsteres Bild aus. Die Frage, behauptet er, habe nämlich bereits "das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem gehalten", um erst von da an zu verstummen (SZ 2). Dass diese Frage das antike Philosophieren, wie es auch heißt, "in die Unruhe trieb", ist übrigens eine historisch diskutable Sache. Daraus geht jedenfalls hervor, dass es Heidegger in der Einleitung doch um die Wiedergewinnung einer verstummten Frage geht. Auch wenn das Buch und die Einleitung historisch ansetzen, mit Platon und Aristoteles, werden sie im Allgemeinen mit historischen Nachweisen eher zurückhaltend sein (die zweifelsohne im zweiten, historisch destruierenden Teil breiter ausgeführt worden wären). Die Einleitung will zunächst in systematischer Absicht die Notwendigkeit der Seinsfrage aufzeigen. Wie argumentiert Heidegger? Der erste Absatz, der diese Notwendigkeit nahe legen will, muss als ein erster Anlauf betrachtet werden, über dessen Grenzen sich Heidegger auch bewusst war (da er sie wenige Seiten später auch vermerkte). In Wahrheit soll diese "Notwendigkeit" allein aus dem später erörterten Vorrang der Seinsfrage, ja aus dem Ganzen von Sein und Zeit, wenn nicht aus Heideggers gesamtem Opus hervorgehen. Es ist überhaupt schwer, eine solche Notwendigkeit auf we-
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nigen einleitenden Seiten darzutun. Deshalb genießen diese ersten Seiten nur eine "protreptische", d. h. eine zur Frage anleitende Funktion. Denn Heidegger begnügt sich dort weitgehend damit, gängige, in dieselbe Richtung gehende Vorurteile über die "Unnötigkeit" der Seinsfrage namhaft zu machen, wobei er sich - ob ironisch oder mit vollem Ernst, ist nicht immer auszumachen - an der herkömmlichen Definitionslogik, aber auch an der ihm näher liegenden ontologischen Tradition von Aristoteles bis Thomas von Aquin orientiert: 1) Das Sein sei der allgemeinste Begriff (und folglich der Erörterung unbedürftig). 2) Es sei zudem (aber als Konsequenz vom ersten Vorurteil) undefinierbar. 3) Es sei schließlich auch der selbstverständlichste Begriff, verstehe ihn doch jeder ohne weiteres. Alle drei Vorurteile sollen von einer ausdrücklichen Thematisierung der Seinsfrage abhalten. So einfach ist das nicht, suggeriert nur Heidegger, ohne wohlgemerkt die Gültigkeit der Vorurteile entschieden in Abrede zu stellen. Die Allgemeinheit, macht er erstens geltend, schließe nicht ein, dass der Seinsbegriff "der klarste und aller weiteren Erörterung unbedürftig" (5) sei. Das stimmt, aber es demonstriert allein nicht die Notwendigkeit einer solchen Erörterung. Zweitens dispensiere die Undefinierbarkeit nicht von der Frage nach dem Sinn des Seins, sondern fordere sie gerade heraus. Dies mag auch sehr wohl sein, aber Heidegger weicht damit der Frage aus, inwiefern eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins, die die Einleitung in Aussicht stellt, auf keinen Fall doch so etwas wie eine "Definition" im weiten Sinne wäre. Die dritte Erwiderung wird die Diskussion wenig später weiterbringen: Ein selbstverständlicher Begriff könne doch Indiz eines nur selbstverständlich gewordenen Tatbestandes sein, das es kritisch zu hinterfragen gilt. Unvermeidlich wird man dabei an Hegels berühmtes Wort in der Phänomenologie des Geistes denken: "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt." Ist aber damit die "Notwendigkeit" der Seinsfrage - im starken Sinne - wirklich erwiesen? Der Schluss, den Heidegger aus seiner knappen Diskussion zieht, geht wohl zu weit: "Dass wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die grundsätzliche Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von 'Sein' zu wiederholen" (4). Das geht zu weit, weil das doch von sehr vielen, wenn nicht von allen Begriffen gilt: Wir leben doch alle in einem gewissen Verständnis von Kunst, vom Guten, vom Gerechten, von Liebe, von Vaterschaft usw., dessen Sinn auch etwas dunkel ist, ohne dass damit die absolute Dring-
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lichkeit einer philosophischen Frage nach ihnen demonstriert worden wäre. Wieso ausgerechnet das Sein? Bislang spricht für ihre Notwendigkeit allein, wie Heidegger später auch zugeben wird (8), die "Ehrwürdigkeit ihrer Herkunft" und das "Fehlen einer bestimmten Antwort". Die Notwendigkeit der Seinsfrage wird damit nicht mehr als suggeriert, zumal die Ehrwürdigkeit einer Tradition, wie man später in Erfahrung bringen wird, einer Destruktion unterzogen werden kann! Die weiteren Erörterungen über die Struktur und vor allem den Vorrang der Seinsfrage werden diese Notwendigkeit auch einsichtiger zu machen helfen. Die Reflexionen über deren Struktur (§ 2) packen die Seinsfrage zunächst auch nicht direkt an, da sie sich von der Struktur einer jeden Frage her legitimieren lassen. Heidegger greift hier auf Erörterungen über die Struktur des Fragens zurück, die er gelegentlich in seinen Vorlesungen vorgetragen hatte. 134 Diese Struktur hat den Vorteil, die bislang etwas unspezifisch erscheinende Seinsfrage und damit den Gang der heideggerschen Untersuchung zu strukturieren. Heideggers Erörterungen werden auch besonders viel Wert auf die hier zu gewinnende Durchsichtigkeit legen. Im Fragevollzug lassen sich nach Heidegger ein Gefragtes (wonach im Allgemeinen gefragt wird), ein Befragtes (bei wem angefragt wird) und ein Erfragtes (das Intendierte) unterscheiden. Gefragt wird ganz allgemein nach dem Sein. Das Sein, führt Heidegger aus, ist aber das Sein vom Seienden, muss also vom Seienden unterschieden werden. Damit "praktiziert" Heidegger die "ontologische Differenz" von Sein und Seiendem, die als solche erst in den Schriften unmittelbar nach Sein und Zeit thematisch und zentral werden wird. Sie ist aber bereits in den ersten Seiten von Sein und Zeit präsent - und noch bevor das Dasein als solches eingeführt wird. Diese Unterscheidung impliziert vor allem für Heidegger, dass sich das Sein nicht nach der auf das Seiende zugeschnittenen Begrifflichkeit fassen lässt. Das Sein fordert nämlich "eine eigene Aufweisungsart, die sich von der Entdeckung des Seienden wesenhaft unterscheidet", "verlangt" also "eine eigene Begrifflichkeit" (6). Lässt sich die Begrifflichkeit für und das gängige Sprechen über das Seiende terminologisch als "ontisch" bezeichnen, wird die Rede vom Sein rein "ontologisch" sein müssen. Die programmatische Trennung zwischen der ontologischen und der ontischen Ebene, die sehr wohl ältere philosophische Entgegensetzungen wie die von Apriori und Aposteriori, von Fundamentalem und Abgeleitetem anklingen lässt, lässt sich nicht als die von zwei strikt voneinander geschiedenen Re-
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gionen fassen, weil dies wiederum zu "ontisch" gedacht wäre. Trotz ihres unmittelbar einleuchtenden Charakters birgt die von Heidegger praktizierte ontologische Differenz enorme Rätsel in sich. Heidegger wird sich nämlich bis zum Ende seines Denkweges fragen, ob es eine solche "ontologische" Redeweise überhaupt gibt, und immer neue Möglichkeiten erproben, darunter die der Dichtung und des Schweigens, um das Sein hörbar werden zu lassen. Diese Rätsel wohnen aber bereits der Einleitung zum Hauptwerk inne. Denn die dort konstruierte Seinsfrage bleibt auf das "Seiende" auf zweifache Weise angewiesen: Zum einen besagt Sein immer Sein vom Seienden (später wird Heidegger gelegentlich das Sein noch schärfer vom Seienden unterschieden wissen wollen 135 ), zum anderen wendet sich die Frage nach dem Sein an ein spezifisches Seiendes. Dieses Seiende, das das "Befragte" in der Fragestruktur buchstäblich verkörpert, ist nämlich das Seiende, das wir sind und das Heidegger terminologisch als Dasein fixiert. Damit fällt Heideggers wohl wichtigster und berühmtester Terminus für die Weise, in der er den Menschen anspricht. Unter Dasein soll man also zunächst gleichsam nur so viel hören wie: "Da [ist das] Sein". Da Sein "da" und nur da ist, wird dieses Dasein auf sein Sein hin (ab )befragt werden müssen. Die Frage nach dem Sein wird also den "Umweg" bzw. den Königsweg einer Herausstellung des Seins des Daseins einschlagen müssen. Wie ist aber Sein "da" im Dasein? In einem gewissen "Seinsverständnis", antwortet konsequent Heidegger. "Wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis" (5). Diese allgemeine, aber vage Seinsorientierung oder -vertrautheit wird Heideggers Leitfaden und das eigentliche "Befragte" seiner Fragestellung werden. Das Ziel seiner Untersuchung (das Erfragte also) wird es somit sein, den Sinn dieses so verstandenen (und gekannten) Seins zu ermitteln, um gleichsam dieses Verständnis zu einem besseren Verständnis seiner selbst zu bringen. Heideggers Ausführungen machen auch völlig klar, was dabei angestrebt ist. Es geht bei der Frage nach dem Sinn von Sein nicht etwa um den "Sinn des Lebens" (so sehr dies auch mitanklingen mag), sondern um die begriffliche Herausstellung des Sinnes dessen, was unter "Sein" vage und durchschnittlich verstanden wird. Darauf wird in diesem Abschnitt, es sei wiederholt, sehr viel Wert gelegt. Das unter Sein Verstandene soll zur Transparenz, zur begrifflichen "Durchsichtigkeit", zur "Aufklärung" gebracht werden. "Aus der Helle des Begriffs" (6) sollen schließlich, verkündet Heidegger, die Weisen des durchschnittlichen Seinsver-
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ständnisses und die seiner Verdunkelung (womit angedeutet ist, dass das Versäumnis der Seinsfrage alles andere als ein zu berichtigendes Versehen ist) erklärt werden. Damit scheint das Ziel der Fragestellung Heideggers deutlich abgesteckt zu sein: die Aufhellung des Sinnes von "Sein". Der Eindruck kann also entstehen, es ginge Heidegger dabei um eine analytische Worterklärung dessen, was allgemein, aber vage unter "Sein" verstanden werden darf. Heidegger würde sich hier nahezu wie ein analytischer Philosoph ausnehmen. Wenn er das nicht ganz ist, liegt es an der eigentümlichen Struktur der Seinsfrage selber, die mit immer mehr Deutlichkeit hervortreten wird. Denn diese Frage ist nicht irgendeine, die nach lexikalischer Klarheit schreit, sondern eine solche, bei der das Sein dessen, das von ihr betroffen wird, auf dem Spiel steht: "Die wesenhafte Betroffenheit des Fragens von seinem Gefragten gehört zum eigensten Sinn der Seinsfrage" (8, vgl. GA 20,200). Damit wird angedeutet, dass die Seinsfrage die dringlichste Frage eines jeden Daseins ist, dem es doch ständig um das eigene Sein geht. Damit wird übrigens die "Notwendigkeit" der Seinsfrage näher begründet. Sie liegt an der Unausweichlichkeit der Seinssorge für das Dasein. Was sich hier langsam "meldet" (8), ist ein Vorrang des Daseins für die Seinsfrage, den Heidegger im § 4 als "den ontischen Vorrang der Seinsfrage" auszeichnen wird. Diese sich aufdringende Thematik nahezu vertagend, wird Heidegger aber vorher den "ontologischen" Vorrang der Seinsfrage (§ 3) herausstellen, gleichsam um die ontologische Zielrichtung seiner Fragestellung vor die rein daseinsontische zu stellen. Wiederum wird die Problematik des Seinsverständnisses die des ontologischen Vorranges bestimmen, der sich vor allem im Hinblick auf die Wissenschaften festmachen lassen soll. Die Analyse von Heidegger nimmt dabei eine nahezu wissenschaftstheoretische, transzendentale Wende, die sich im neukantischen Kontext seiner Zeit einer gewissen Evidenz erfreute, die Heidegger jedoch geschickt ins Ontologische zurückbiegt. Der Neukantianismus, so wie ihn Heidegger zumindest verstand, ging vom Faktum der Wissenschaft aus und bemühte sich, die logischen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu rekonstruieren. Eine sehr ähnliche Argumentation führt bei Heidegger zum Vorrang der ontologischen Frage: Jede Wissenschaft hat es nämlich mit einem bestimmten Bereich des Seienden zu tun. Sie behandelt ihn mithilfe von Grundbegriffen, die meist aus der vorwissenschaftlichen Erfahrung gespeist sind. Diese Grundbegriffe oder Hinsichten auf das Seiende sind aber selber nichts Seiendes, nichts
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Ontisches. Sie beireffen nämlich das Sein des jeweils behandelten Gebietes. Grundbegriffe der Mathematik, der Physik oder der Geisteswissenschaften gründen also in einer "vorgängigen Durchforschung des Sachgebiets" (10), die nur ontologischer Natur sein kann: "Sofern aber jedes dieser Gebiete aus dem Bezirk des Seienden selbst gewonnen wird, bedeutet solche vorgängige und Grundbegriffe schöpfende Forschung nichts anderes als Auslegung dieses Seienden auf die Grundverfassung seines Seins" (10). Es ist aber nicht Aufgabe der (nur ontischen) Wissenschaften selber, diese ontologische Klärung vorzunehmen, sondern die der Philosophie. Als "produktive Logik" muss sie "den positiven Wissenschaften vorauslaufen", versichert Heidegger. Als Beweis dafür, dass dies möglich ist, weist er wieder auf Platon und Aristoteles hin,136 Damit wird so etwas wie ein ontologischer - und zudem sehr anspruchsvoller Vorrang der Philosophie behauptet. Er liegt darin, dass die Philosophie die spezifischen Ontologien auszuarbeiten hat, in denen die Wissenschaften jeweils stehen. Es geht aber Heidegger darüber hinaus um den ontologischen Vorrang der Seinsfrage selber, noch vor diesen Ontologien (Husserl sprach hier von "regionalen" Ontologien). Dieser Vorrang der Seinsfrage rührt daher, dass jede ontologische Explikation, die die Philosophie zu Diensten der Wissenschaft zu leisten hat, zuvor die grundsätzliche Frage nach dem Sinn von Sein geklärt haben muss. Eine sich als fundamental und damit ontologisch verstehende Philosophie wird darin ihre Frage par excellence erkennen müssen: "Ontologisches Fragen ist zwar gegenüber den ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ursprünglicher. Es bleibt aber selbst naiv und undurchsichtig, wenn seine Nachforschungen nach dem Sein des Seienden den Sinn von Sein unerörtert lassen. [ ... ] Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst" (11). Bei aller Ablehnung einer deduktiven Genealogie scheint Heidegger den ontologischen Vorrang doch auf dem Weg einer Reduktion auf elementarere Fragestufen zu etablieren: Vor den ontischen Wissenschaften liegen die sie fundierenden Ontologien, die die Philosophie als produktive Logik zu erarbeiten hat, und vor ihnen liegt die noch grundsätzlichere Frage nach dem Sinn von Sein, wobei erneut präzisiert wird, dass es um eine begriffliche Vorverständigung geht: "Und gerade
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die ontologische Aufgabe einer nicht deduktiv konstruierenden Genealogie der möglichen Weisen von Sein bedarf einer Vorverständingung über das, 'was wir denn eigentlich mit diesem Ausdruck >Sein< meinen'" (11). Wirkte Heidegger wie ein analytischer Philosoph, als er mit solchen Wendungen im § 2 nach dem Sinn von Sein fragte, so entpuppt er sich nahezu im § 3 als ein transzendentaler Philosoph, wenn er den ontologischen Vorrang der Seinsfrage darin erblickt, dass die Seinsfrage auf die Bedingungen der Möglichkeit einer jeden gegenständlichen und wissenschaftlichen Thematisierung abzielt. Die alsdann einsetzenden Ausführungen über den ontischen Vorrang der Seinsfrage (§ 4) werden indes zeigen, dass Heideggers Grundfaktum nicht das der Wissenschaft, sondern das des um sein Sein besorgtes Daseins ist. Wissenschaften werden ja selber von Menschen betrieben. Die Menschen zeichnen sich nicht allein durch ihre Wissenschaftskapazität, sondern durch ihren intimen Bezug zum Sein aus. In einer der rhetorisch gelungensten Passagen des Werkes legt Heidegger eine Quasidefinition des Daseins vor: "Es ist [ ... ] dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden um dieses Sein selbst geht" (12). Heidegger verwendete die Formel auch sehr häufig, um die Unabdingbarkeit der Seinsfrage nahe zu bringen. 137 Sie meint offenbar die Sorge um das eigene Sein, die das Dasein nicht nur charakterisiert, sondern auch plagt, so sehr, dass das Dasein, wie Heidegger auch magistral ausführen wird, nicht zuletzt darum bestrebt ist, der Last dieser bohrenden Frage auszuweichen. Dieses Ausweichen erweist sich aber als eine Flucht vor sich selbst, wenn sich das Dasein tatsächlich dadurch definiert, dass es vor dieser Frage nun einmal steht. "Dasein" heißt also auch für Heidegger: vor diese Frage gestellt zu sein, auch wenn man von ihr wegläuft. Denn auch wenn man ihr ausweicht, bleibt man da, nämlich im Modus der Flucht vor sich selbst, d. h. vor dem Dasein. In späteren Texten wird Heidegger das Dasein, das sich so von sich selbst ablenken lässt, genial als "Wegsein" kennzeichnen. Das Wegsein darf als der eigentliche Gegenbegriff zum Dasein gelten, wobei das "weg" eine Weise, vielleicht die primäre, jedenfalls die "gewöhnliche" Weise des "da" indiziert. 138 So plastisch und dramatisch sich diese Frage nach dem "eigenen Sein" ausnimmt, so darf man sich fragen, was sie mit der bisher erörterten Seinsfrage verbindet. Bislang ging es anscheinend nur um die Worterklärung dessen, was wir unter "Sein" verstehen, gar um die
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ontologischen Vorbedingungen der wissenschaftlichen ThemensteIlung. Auf einen Nenner gebracht: Darf die Frage nach dem eigenen Sein mit der allgemeinen Frage nach dem Sinn von Sein vermengt werden? Handelt es sich um dieselbe Frage? Die Frage stellt sich umso mehr, als der späte Heidegger dazu tendieren wird, das Gewicht der Frage "um das eigene Sein" zugunsten der reinen Seinsfrage abzuschwächen. Das Dasein, wird er beispielsweise im Brief über den Humanismus von 1946 ausführen, zeichne sich durch die "Sorge für das Sein" schlechthin aus. Vom späten Heidegger aus wirkt die Sorge um das eigene Sein eher wie ein Anthropozentrismus, zu dem das seins geschichtliche Denken immer mehr auf Distanz gehen will. Sein und Zeit redet hier aber eine klare Sprache: Dem Dasein geht es um das eigene Sein, und damit ist das "Seinkönnen" gemeint, für das sich das Dasein zu entscheiden hat. Worin besteht in Sein und Zeit das Band 139 zwischen der allgemeinen Seinsfrage und der nach dem eigenen Sein? Man findet es vielleicht nirgends mit letzter Klarheit ausgesprochen, aber es gibt wohl keinen Zweifel über die allgemeine Ausrichtung der heideggersehen Intuitionen: Der primäre Tatbestand ist der der grundsätzlichen Sorge um das eigene Sein, das eigene Selbst. Dieses Sein ist nun einmal vom Tode gezeichnet (nicht cogito sum, sondern sum moribundus ist die Grundgewissheit des Daseins, sagte Heidegger am Ende einer Vorlesung vom Sommersemester 1925, GA 20, 437). Wir sind "da", aber nur für eine Zeit (diese Intuition fasst auch der Titel "Sein und Zeit" zusammen). Das Dasein bleibt so von seinem Sein-zum-Tode beschattet, der ihm natürlich eine wahre Angst einflößt, da es kein Entrinnen vor dem Entrinnen gibt. Wenn sich die Sorge um das eigene Sein von daher gut nachvollziehen lässt, welchen Bezug hat diese Sorge zur Seinsfrage im Allgemeinen? Diesen: Das gesamte Seinsverständnis des Daseins wird sich nämlich von dieser Sorge (und der Flucht vor ihr) aus bestimmen lassen. Sprechendstes Indiz dafür ist die Tendenz des Daseins, das Sein "zeitlos", d. h. als permanente Gegenwart zu deuten. Sein ist das, was besteht und immer Bestand hat und haben wird. Geschichtliche Studien von Heidegger werden auf brillante Weise ausführen, wie sehr sich diese Deutung des Seins als stete Gegenwart durch die ganze Geschichte der Ontologie hindurch erhalten hat. Woher aber dieses Bestehen auf Permanenz und Bestand, wenn nicht aus einer Verdrängung der eigenen Zeitlichkeit? Das temporale Seinsverständnis ist also auf seine Quelle im Dasein hin zurückzuverfolgen. Die "Stellung" des Daseins zu seinem eigenen Sein diktiert nämlich das
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allgemeine Seinsverständnis und damit den Sinn von Sein überhaupt. Heidegger wird hier insbesondere die eigentliche von der uneigentlichen Zeitlichkeit (und damit die entsprechende Stellung zum Sein) unterscheiden. Die eigentliche versteht sich aus dem radikal ergriffenen Dasein in seiner unüberbietbaren Zeitlichkeit, die uneigentliche als Flucht vor dieser Zeitlichkeit in die Beruhigung des permanenten Immer-so-weiter. Am Leitfaden dieser Ergriffenheit von der eigenen zeitlichen Existenz wird sich das Programm der Destruktion der Geschichte der Ontologie orientieren. Von der Frage nach dem eigenen Sein zur allgemeinen Seinsfrage lässt sich also durchaus eine Brücke schlagen, auch wenn es die Einleitung zu Sein und Zeit meist bei sehr formalen Anzeigen belässt. Aber die formale Anzeige, die jedes Dasein mit Inhalt zu füllen berufen ist, ist nun einmal nach Heidegger eine Grundeigenschaft jeder philosophischen Begrifflichkeit (vgl. GA 29/30, 421-431). Kehren wir also zu den Anweisungen des § 4 über die Sorge um das eigene Sein zurück. Das Sein, um das es dem Dasein geht, fasst Heidegger terminologisch als Existenz auf. Das Dasein lässt sich also nicht durch eine Wesensdefinition bestimmen, sondern dadurch, dass es "je sein Sein als seiniges zu sein hat" (12). Das Dasein ist aber immer schon in Existenzmöglichkeiten geraten, die der Aufhellung über sich selbst bedürfen. Diese Möglichkeiten, sofern sie konkrete Existenzvollzüge meinen, lassen sich als existentiell charakterisieren. Sie sind von der sich als rein "existential" verstehen wollenden Analyse Heideggers zu unterscheiden. Ihr geht es nämlich nicht um spezifische, "ontische" Existenzvollzüge, sondern - neutraler - um die Strukturen, die die Existenz als solche konstituieren. Die Daseinsanalyse wird also - im technischen Sprachgebrauch, der die Einleitung charakterisiert (den Heidegger aber kurz nach Sein und Zeit fallen lassen wird) - die Form einer Analytik der Existenzialität der Existenz nehmen. Zu diesen Strukturen gehört zweifelsohne die prinzipielle Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Existenz: "Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden" (12). Der konkret gewählte Vollzug bleibt zwar dem jeweiligen Dasein ("existenziell") überlassen, aber dass er vor einer Entscheidung steht, ist nun einmal ein Existential, das es im Hinblick auf seine Bedeutung für die gesamte Seinsproblematik hin zu befragen gilt. Sicherlich kann man sich mit Autoren wie Jaspers und Löwith fragen, ob sich diese Trennung des Existentialen und des Existentiellen so streng durchhalten
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lässt. Gewiss nicht, aber sie hat einen beträchtlichen methodologischen Sinn, an dem sich Heideggers Analysen auch kritisch messen lassen dürfen. Heidegger gibt zwar zu, dass seine existentiale Analytik selber ontisch verwurzelt ist (13), aber dies will vor allem unterstreichen, dass die Ergreifung der philosophischen Seinsfrage lediglich die "Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen SeinstendeJ).z" (15) vollzieht. Damit wird in der Tat, nach Heideggers Analyse, das Seinsverständnis, das das Dasein von Hause aus praktiziert, zu sich selbst gebracht, d. h. über sich selbst aufgeklärt. Die Klärung des Seinsverständnisses des Daseins drängt sich hier als die fundamentale Aufgabe von Sein und Zeit auf. Als Fundamentalaufgabe war oben (§ 3) die Klärung des "Sinnes von Sein" nahmhaft gemacht. Beide Aufgaben scheinen in der Einleitung zu Sein und Zeit ineinander verschmolzen zu sein. Heidegger wird zwar später mit Recht den vorbereitenden Charakter der Daseinsanalyse im Hinblick auf die Seinsfrage hervorheben. Aber das Verhältnis der Fundamentalontologie zur Daseinsanalytik weist eine erstaunliche Schwankungsbreite in der Einleitung auf. Diese Vielfalt dokumentiert sich in drei wichtigen Passagen des § 4, die sich beinahe auf derselben Seite finden: 1. Es wird zunächst als Konsequenz des ontologischen Vorranges der Seinsfrage (§ 3) unterstrichen, dass "auch die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt [hängt]" (13). Die Fundamentalfrage (11) nach dem Sinn von Sein müsste demnach der Daseinsanalyse voranstehen, wie sie ja jeder Ontologie vorgeordnet ist. 2. Wenige Zeilen später erfährt man indes, dass "die Fundamentalontologie, aus der alle andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden [muss]" (13). 3. Am Ende des Paragraphen wird sich nun zeigen, "dass die ontologische Analytik des Daseins überhaupt die Fundamentalontologie ausmacht" (14). Die Vielfalt ist in der Tat unerhört,140 Einerseits soll die vorgängige Ausarbeitung der Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein (also die Fundamentalontologie ) vor der Daseinsanalyse erfolgen, andererseits soll sie sich in ihr vorfinden bzw. sie sogar ausmachen. Wie ist aus dieser Vielfalt kluger Sinn zu machen? Friedrich-Wilhelm von Herrmann, der auch vom "nicht ohne weiteres einsehbaren Übergang" von einer Bestimmung zur anderen sprach,141 hat eine elegante Lösung vorgeschlagen: Die vorgängige Ausarbeitung
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der Seinsfrage vor der Daseinsanalytik, die in 1) angedeutet war, sei von Heidegger als unmöglich anerkannt, da sich der Sinn von Sein allein von einer Ontologie des Daseins her verstehen lasse.1 42 Sachlich trifft das vielleicht zu, aber Heidegger hat diese Unmöglichkeit der direkten Ausarbeitung der Seinsfrage in Sein und Zeit nicht selber hervorgehoben. Als von dem ontologischen Vorrang der Seinsfrage (§ 3) die Rede war, schien sich diese direkte Ausarbeitung, der der spätere Heidegger ohne den Rahmen der Daseinsanalytik auch konsequent nachgehen wird, von selbst aufzudrängen. An ihr "hing" ja selbst (13) die Analytik des Daseins. Man muss also feststellen, dass der Textbefund zur Bestimmung der Fundamentalontologie in sich undeutlich ist. Aber so ist es nicht selten, wenn Philosophen ihren grundsätzlichen Projekt präsentieren (erinnert sei etwa an die knappen, aber ebenso verwirrenden Bestimmungen der Idee des Guten bei Platon, der prima philosophia bei Aristoteles, der transzendentalen Kritik bei Kant, der Wissenschaftslehre bei Fichte, der Phänomenologie des Geistes bei Hegel oder der phänomenologischen Reduktion bei Husserl). Es ist schwer zu erklären, aber es ist so: Selten scheinen die Philosophen selber über klare Begriffe zu verfügen, um das Licht, unter das sie ihren Entwurf stellen, zu beleuchten. Vielleicht liegt das in der Sache begründet: Wie kann eine Philosophie das Licht, aus dem der Denkentwurf seine Strahlkraft gewinnt, selber beleuchten? Angesichts des Wesentlichen stammelt man vielleicht immer. Denn wichtiger als die Projektbestimmung ist dessen Grundrichtung. Die der Fundamentalontologie ist in dieser Hinsicht deutlich genug und wurde von F.-W. von Herrmann sachlich zutreffend dargestellt: Soll die fundamentale Frage nach dem Sinn von Sein neu entfacht werden, so ist sie an dem Seienden zu entwickeln (und zu wecken), das dem Seinsproblem ständig ausgesetzt ist: dem Dasein. In der Ontologie des Daseins scheint somit die Grundaufgabe der Philosophie beschlossen. Heidegger warnte zwar davor, dies subjektivistisch misszudeuten (freilich ohne Erfolg, weshalb er später die direkte Ausarbeitung der Seinsfage, die die Einleitung nur erwog, doch vorzog). Aber er leistet diesem Missverständnis selber Vorschub, als er sich im selben Atemzug an den Ausspruch des Aristoteles in De anima positiv anlehnte, wonach die Seele, d.h. das Sein (I) des Menschen, alles sei. 143 Im Dasein bzw. in dessen Seinsverständnis schien nunmehr das Sein eines jeden Seienden seinen Grund und Boden zu finden. Die Ontologie des Daseins nahm sich so wie eine Art philosophia perennis
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aus. Ein so hoch gesteckter Anspruch war jedenfalls seit Hegel der Philosophie nicht mehr zugemutet worden. Fassen wir die Vielfalt der Seinsfrage zusammen, wie sie uns im ersten Kapitel der Einleitung begegnet, so lässt sich stichwortartig folgender Eindruck gewinnen: Im § 1 tritt ein Philosoph auf, der sich selbstbewusst in die Kontinuität der aristotelisch-thomasischen Tradition stellt, um provokativ und protreptisch die Wiedererweckung der Seinsfrage anzumahnen; im § 2 begegnet alsdann ein quasi-analytischer Philosoph, der sich die Aufklärung dessen, was wir unter "Sein" allgemein verstehen, zum Ziele macht; im § 3 erscheint plötzlich ein transzendentaler Philosoph, der im Seinsverständnis die apriorische Bedingung jeder wissenschaftlichen Erschließung von Seiendem festnageln will, während der § 4 einen "Existenzphilosophen" in Erscheinung treten lässt, der in seinem Programm bei allem Festhalten an dem rein ontologischen und existentialen Charakter seiner Untersuchung eine Radikalisierung der zum Dasein gehörenden Seinstendenz durchführt. Was diese Vielfalt zusammenhält, ist allein die "Einheit" der Seinsfrage. Diese findet sich im Seinsverständnis des um sein Sein besorgten Daseins verankert, aus dem sich das Seinsverständnis überhaupt - in seinen originären und abkünftigen Spielweisen - bestimmen lassen soll.
2. Die phänomenologische Hermeneutik des Daseins auf dem Weg einer Destruktion der abendländischen Ontologie
Das erste Kapitel der Einleitung zu Sein und Zeit ließ bereits so verschiedenartige Facetten der Seinsfrage in Erscheinung treten, dass Heidegger in einem zweiten Kapitel einen neuen Anlauf nimmt, um seine Aufgabenstellung und Methode straffer zu gestalten. Sehr vieles von diesen Aufgaben wurde aber bereits vorweggenommen: dass die Ontologie des Daseins (Aufgabe 1 nach § 5) den Königsweg zur Seinsfrage bildet, wurde nämlich bereits im ersten Kapitel nahe gelegt, aber ebenfalls die Tatsache, dass sie eine Destruktion der bisherigen Ontologie nach sich ziehen muss (Aufgabe 2 nach § 6). Die im Grunde einheitliche Doppelaufgabe des Werkes wird also die einer "ontologischen Analytik des Daseins" und einer "Destruktion der Geschichte der Ontologie" werden und konsequent die geplante Zweiteilung des Werkes gebieten, das es als solches aber nicht gibt. Ihnen werden sich - nahezu ex post Erörterungen über die phänomenologische Methode der Untersuchung (§ 7) hinzugesellen.
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Allen Themenkomplexen des 2. Kapitels ist eine Sorge gemeinsam, die der rechten Zugangs art zum Phänomen des Daseins. Die bisherigen Ausführungen mochten nämlich den Eindruck hervorgerufen haben, das Dasein "müsse auch das ontisch-ontologisch primär gegebene sein" (15). Dem ist nicht so, stellt nun Heidegger fest. Das Dasein ist sich selbst vielleicht das Fernste. Dies liegt an nichts anderem als dem, was wir mithilfe der späteren, aber sehr glücklichen Begrifflichkeit das "Wegsein" des Daseins genannt haben: Anstatt seinem Dasein voll gewachsen zu sein, schreckt das durchschnittliche Dasein gleichsam vor sich zurück, ist also "da" im Modus des "möglichst-davon-weg". Dieses Wegsein nimmt eine charakteristische Gestalt in den ersten Paragraphen von Sein und Zeit an: Das Dasein, das von sich "fällt", "fällt" nämlich in die Welt und versteht sich aus dieser. Dieses Fallen (von sich und in die Welt) ist freilich in Heideggers Augen ein "Verfallen", so natürlich es auch sein mag. Es besitzt aber nicht nur eine "negative" Seite. Denn aus dieser Weltverfallenheit des Daseins geht hervor - und dies wird für den weiteren Lauf der heideggerschen Untersuchung von Bedeutung werden -, dass das Dasein als In-der-Welt-Sein begegnet und sich aus diesem zu verstehen hat. Die Weltverfallenheit ist also nicht als ein "gnostischer" Abfall zu deuten. Diese Bedeutung schwingt nichtsdestoweniger mit, sofern das Dasein dazu verführt wird, sich nur aus der Welt und das heißt rein "dinghaft" zu verstehen. So kommt das Dasein dazu, sich als ein vorhandenes Seiendes, als Substanz oder Subjekt mit Eigenschaften und Relationen zu von ihm unabhängigen Objekten zu denken. Diese "Kategorien", wie man sie gut aristotelisch und kantisch nennen kann, sind nach Heidegger auf die ontische Welt zugeschnitten, dem Dasein als Dasein aber höchst unangemessen. Warum? Weil sie den Existenzcharakter des Daseins verfehlen, nämlich die Aufgabe, die Sorge, den jeweiligen Vollzug, der das Dasein für sich selber immer ist. Etwas plakativ ausgedrückt: Im Dasein liegt die Tendenz, sich rückstrahlend aus der Welt zu verstehen, anstatt die Welt aus dem Dasein zu begreifen: "Das Dasein hat [ ... ] gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der 'Welt'. Im Dasein selbst und damit in seinem eigenen Seinsverständnis liegt das, was wir als die ontologische Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung aufweisen werden" (16). Die "Weltlichkeit" des Daseins erscheint also auf doppelte Weise besetzt bei Heidegger: Einerseits gehört sie unabdingbar zum faktischen Da-
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sein, andererseits verleitet sie es dazu, sich dinghaft und damit inadäquat zu konzipieren. So wird es eine der vordringlichsten Bemühungen der Ontologie des Daseins sein, eine rein auf das Dasein zugeschnittene Begrifflichkeit zu entfalten, die die Kategorien des dinghaften Seienden tunlichst vermeidet und sie sogar aus dem Daseinsvollzug heraus ableitet, wenn sich die These bewahrheiten lassen soll, wonach alles Seinsverständnis im Dasein gründet. Diese Ontologie des Daseins wird dabei nicht zufällig auf die das Dasein konstituierende Zeitlichkeit zusteuern. Die "Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit hin" bildet somit die erste Aufgabe dieser Ontologie. Sie umfasst auch die veröffentlichten zwei Drittel des Buchkonzeptes. Dem Programm nach war sie aber kein Zweck an sich, da sie in einem dritten Teil (geplant unter dem Titel "Zeit und Sein", das man nicht mit der Abhandlung gleichen Titels aus dem Jahre 1962 verwechseln wird) eine "Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" vorbereiten wollte. Dazu kam es literarisch nicht. Ein erneuter Anlauf zum damals zwar niedergeschriebenen, aber anscheinend sofort verbrannten 3. Teil wurde in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 über Grundbegriffe der Phänomenologie unternommen. Sie gewährt Einblick in die damalige Werkstatt Heideggers, aber der § 5 ließ bereits keinen Zweifel über den springenden Punkt des heideggerschen Programms. Er greift auf früher Erörtertes zurück sowie in die historische Aufgabe der Destruktion vor. Die im Hinblick auf die Seinsfrage konzipierte Analytik des Daseins setzte sich zum vorläufigen Ziel, alle Strukturen des Daseins als Modi seiner Zeitlichkeit herauszustellen - gemäß den Spielarten der eigentlichen und der uneigentlichen Zeitlichkeit. Aus dieser Zeitlichkeit heraus werde nämlich das Sein verstanden. In Heideggers Worten, die das Beweisziel von Sein und Zeit auch bündig zusammenfassen, sollte also gezeigt werden, "dass das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist" (17). Wie ist aber hier "die Zeit" zu verstehen? Eine komplexe Frage, da diese Zeit selber von einem gewissen Existenzvollzug abhängt. Das "positive" Zeitverständnis, auf das Heidegger aus ist, wird von einem "vulgären" Zeitverständnis abgekoppelt. "Vulgär" meint hier nicht etwas Unziemendes, sondern einfach das gängige, übliche, aber dingliche Verständnis der Zeit als reine Abfolge von Jetztmomenten, die sich ewig wiederholen und fortsetzen. Die philosophische Basis für dieses "vulgäre" Zeitverständnis hätte Aristoteles in seiner Physik erbracht, die seitdem die gesamte Geschichte der Ontologie
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durchherrscht habe. Das Zeitverständnis, das Heidegger dem vulgären entgegensetzt, bleibt etwas im Dunklen, aber man vermutet unschwer, dass es eine Zeit wäre, die die (übrigens in der Einleitung nicht namentlich auftretende) Endlichkeit ernst nehmen würde. Die Zeit würde sich nicht mehr als endlose Reihe von Jetztpunkten, sondern aus der radikal gefassten Sterblichkeit heraus verstehen lassen. Man kann auch unschwer erraten, warum in dieser Konzeption die vulgäre Zeit als "abgeleitet" gilt: Um seine intime, radikale Zeitlichkeit zu verdrängen, vergegenständlicht das Dasein eine Zeit, die sich ewig fortsetzt. Aber so eine Zeit ist ja keine Zeit mehr, sondern nahezu ihr Gegenteil. Diese Ableitung scheint aber Heidegger in diesem Kontext weniger zu interessieren als die daraus zu ziehende ontologische Konsequenz. Heidegger trennt nämlich mit mehr oder weniger Künstlichkeit zwei Schritte in seiner Ausarbeitung der Zeitlichkeit des Daseins als des Horizontes, aus dem her Sein aufgefasst werden soll. Die Problematik der Zeitlichkeit, erfährt man nun, bleibe auf das Dasein "beschränkt". Herausgehoben wird aber darüber hinaus die Zeitlichkeit des Seins selber. Um sie von der Zeitlichkeit des Daseins getrennt zu halten, bezeichnet Heidegger diese rein ontologische Problematik mit einem lateinischen Terminus als die der Temporalität des Seins. Handelt es sich aber sachlich um eine andere Thematik, wenn anders das Sein nur im Seinsverständnis des Daseins begegnet? Bleibt es doch nicht bei Zeitlichkeit des Daseins als des Horizontes eines jeden Seinsverständnisses? Es ist schwer zu sagen, inwiefern sich die Aufrollung der Temporalitätsproblematik von der Zeitlichkeitsanalyse wirklich abgehoben hätte, da der der Temporalität gewidmete 3. Abschnitt ("Zeit und Sein") unveröffentlicht blieb. Man findet zwar Überlegungen zur Temporalität des Seins in der als Fortsetzung zu SZ gemeinten Vorlesung vom Sommersemester 1927 (GA 24), aber sie sind offensichtlich von einem kantischen Schematismus der Zeithorizonte stark geprägt, von dem sich Heidegger sehr bald distanzierte (und der übrigens die Abhängigkeit der Temporalitäts- von der Zeitlichkeitsproblematik eklatant bestätigt). Hätte der 3. Teil eine anschaulichere Entfaltung der Temporalitätsproblematik geboten? Das Ausbleiben seiner Veröffentlichung bezeugt eher ein Scheitern in dieser Hinsicht,144 Die Nichtveröffentlichung ist aber umso bedauerlicher, als Heidegger explizit versprochen hatte, just in der Exposition der Problematik dieser Temporalität "allererst die konkrete Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins" (19) zu geben. Insofern man Sein und Zeit an
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seiner präzisen Frage und deren Antwort misst, wie sie übrigens in der allerletzten Zeile des Buches noch einmal anklingen, darf man an dieser Stelle von einem gewissen "Scheitern" des Unternehmens sprechen. Es handelt sich aber eher um ein literarisches Versagen vor dem, was Heidegger ausführen wollte und nur andeuten konnte. In aller Gerechtigkeit muss man in der Tat anerkennen, dass Heidegger, als er die Einleitung niederschrieb, nicht wissen konnte, dass der ihm damals vorschwebende 3. Abschnitt nie zur Veröffentlichung gelangen würde. Deshalb ist es eine historische Aufgabe der Heidegger-Forschung, sein damaliges Vorhaben zu rekonstruieren, denn die Grundzüge dazu liegen sehr wohl vor. Philosophisch bedeutete aber die Preisgabe des horizontschematischen Konzepts des 3. Abschnitts nicht unbedingt ein Scheitern, denn sie führte Heidegger vielleicht besser zu seiner eigenen Frage. Das Scheitern machte damit die Kehre möglich. 145 Das "Scheitern" der "konkreten Antwort" von "Zeit und Sein" im Jahre 1927 mochte auch damit zusammenhängen, dass Heideggers Stärke weniger in der systematischen Konstruktion als in der historisch-phänomenologischen Destruktion lag, die er vor und nach Sein und Zeit mit sicherem Instinkt praktizierte. Die im § 6 dargelegte Aufgabe der Destruktion bezeichnete ferner wohl auch Heideggers ursprünglichste Forschungsaufgabe, ehe sich die Aufgabe einer Ontologie des Daseins vor sie schaltete. Die Entwürfe zu einer Geschichte der Ontologie, als die sich die Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles von 1922 empfahlen, beschrieben sich ja ursprünglich als eine destruktive Hermeneutik, d.h. eine Auslegung der ontologischen Tradition auf ihre verborgenen Motive hin. Großartig hieß es dort: "Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität sieht sich demnach, sofern sie der heutigen Situation durch die Auslegung zu einer radikalen Aneignungsmöglichkeit verhelfen will - und das in der Weise des konkrete Kategorien vorgebenden Aufmerksammachens -, darauf verwiesen, die überkommene und herrschende Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen aufzulockern und im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der Explikation vorzudringen. Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion. "146 Diese damals Heidegger offenbar voll in Anspruch nehmende Aufgabe der Destruktion wird 1927 zur zweiten, nach der Analytik. Die Konzeption von Sein und Zeit ist insofern reifer, als sie in einer eigens ausgebildeten Ontologie des Daseins auf die Zeitlichkeit hin
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den Leitfaden festgemacht hat, an den sich eine solche hermeneutische Destruktion allererst zu halten hat. Die Destruktion lässt sich nicht als eine rein historische Aufgabe beschreiben, die der Daseinsanalytik von außen aufgeschraubt worden wäre, als diente sie lediglich der geschichtlichen Veranschaulichung. Denn das Dasein zeichnet sich nun einmal durch seine Zeitlichkeit aus. Zu ihr gehört eine wesentliche Geschichtlichkeit. Mit diesem Thema der Geschichtlichkeit knüpft Heidegger natürlich an ein Grundkonzept von Dilthey (der in diesem Zusammenhang aber nicht namentlich erwähnt wird) an, das sich auch einer großen Wirkungsgeschichte in Gadamers Hermeneutik erfreuen wird. Heideggers Problematik der Geschichtlichkeit bleibt aber - im Unterschied zu Dilthey und Gadamer - strikt im Hinblick auf die Seinsproblematik hin konzipiert: Die Seinsfrage ist selbst durch eine Geschichtlichkeit charakterisiert (20), wobei Heidegger die Grundeinsicht seiner späteren Seinsgeschichte vorwegnimmt. Konzentrierte sich Heidegger früher auf die "Weltverfallenheit" des Daseins, so wird ihn in diesem Zusammenhang vor allem die "Traditions verfallenheit" des Daseins interessieren: "Das Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und sich reluzent aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition" (21). Vielleicht ist diese Traditionsverfallenheit phänomenologisch sogar einleuchtender als die Weltverfallenheit, sofern das Dasein immer schon einer tradierten Daseinsauslegung (20) oder Welterschließung verfällt, die sich etwa in den Vorurteilen (Gadamer) oder in Ideologien niederschlägt. Heideggers Akzent liegt hier durchaus auf der ontologischen Tradition. In ihr hat sich nämlich eine Seins auslegung durchgesetzt, deren Herkunft vergessen und verdeckt bleibt. Die Destruktion zielt just auf diese Verdeckung: "Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichsten Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden" (22). Und diese Destruktion trifft nicht primär die Vergangenheit als solche, dies wäre ja nur historisch, sondern das "Heute" (22), den ontologischen Schlummer der Gegenwart. Ja, es gilt, die Kräfte der
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Vergangenheit und der Tradition für das Heute neu freizulegen, um den Sinn für die Seinsfrage erneut zu wecken. Insofern ist die Absicht der Destruktion "positiv". Sie versteht sich als Abbau von Verdeckungen um einer neuen Freilegung willen. Es lässt sich gleichwohl nicht in Abrede stellen, dass Heidegger sehr wohl die Aufmerksamkeit auf Grundentscheidungen in der Geschichte der abendländischen Ontologie richten möchte, die die Seinsthematik auf verhängnisvolle Weise verdeckt haben (der Gedanke einer abfallenden Seinsgeschichte wird auch damit antizipiert). Welche Entscheidungen gemeint sind, wird in der Einleitung nur angedeutet. Heidegger hat sich aber in seinen frühen Vorlesungen so sehr mit ihnen beschäftigt, dass ihm vollkommen bewusst ist, dass er hier über einen Umriss (den die Gesamtausgabe inzwischen mit reichem Inhalt füllen hilft) nicht hinauskommt. Er lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf den ihm wichtigsten Punkt: das Verständnis des Seins aus der Zeit heraus. Denn auch die abendländische Ontologie verstand das Sein aus der Zeit. Sie tat es aber unausdrücklich, d. i. ohne sich ihres Leitfadens bewusst zu werden. So wird es eine der vordringlichsten und überzeugendsten Aufgaben der Destruktion werden, die abendländische Ontologie über ihren eigenen stillschweigenden Leitfaden aufzuklären, der in der griechischen Auslegung des Seins als Gegenwart gründet: "Diese griechische Seinsauslegung vollzieht sich jedoch ohne jedes ausdrückliche Wissen um den dabei fungierenden Leitfaden, ohne Kenntnis oder gar Verständnis der fundamentalen ontologischen Funktion der Zeit, ohne Einblick in den Grund der Möglichkeit dieser Funktion" (26). Allein Kant hätte sich diesem Bezug zwischen dem Sein und der Zeit genähert, ohne ihn angemessen zu stellen, da er der gängigen, kartesianischen Ontologie des Subjekts verfiel, anstatt eine Ontologie des Daseins auszuarbeiten und von da aus die Seinsfrage neu aufzurollen. Diese Debatte mit Kant wird in Heidegger nächstem großen Buch, Kant und das Problem der Metaphysik (1929) fortgesetzt. Der Anspruch der heideggerschen Destruktion ist also nicht gerade bescheiden (und bescheidene Philosophien sind auch selten): Erstmals in ihrer Geschichte soll die Ontologie über ihren Leitfaden aufgeklärt werden. Er wird durch einen noch weitergehenden überboten: Erstmals wird in Heideggers Buch auch versucht, dieses fundamentale Verhältnis zwischen Sein und Zeit auf den rechten Boden zu stellen. Sosehr Heidegger auf einer Rückkehr zu den Urerfahrungen der griechischen Ontologie bestehen mag, er gibt auch sehr klar zu erkennen, dass die griechische Erfahrung selber auf
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einer wenn nicht unangemessenen, so doch sehr einseitigen Seinsauslegung beruht, nämlich der Fixierung auf die Gegenwart und die permanente Anwesenheit (ousfa), die die Grundausstattung der Substanz ausmacht. Dieser Permanenzobsession will Heidegger einen Schreck einflößen, wenn er verspricht, die Zeit nicht mehr von der Gegenwart, sondern von der (endlichen) Zukunft her, also von der radikalen Zeitlichkeit her anzugehen. Zusammenfassend: Die Destruktion, die dem ontologischen Schlummer der Gegenwart gilt, klärt nicht nur die Geschichte der Ontologie über ihren verborgenen Leitfaden auf, sie will es endlich möglich machen, die grundsätzliche Frage nach dem Verständnis des Seins aus der Zeit her zu stellen. "Sein und Zeit" ist gleichsam das verborgene Thema der gesamten Geschichte der Ontologie, ja der Menschheit, auf das die abendländische Philosophie zusteuert, das aber zum ersten Mal in Heideggers Buch sichtbar geworden und gestellt worden sei,147 Es nimmt also nicht Wunder, dass die Destruktion, die Heidegger in seiner späteren Auseinandersetzung mit der Metaphysik nur radikalisierte, die primäre und originäre Aufgabe seiner Untersuchungen war. In den frühen Vorlesungen konnte es indes so scheinen, als sei die Destruktion Heideggers eigentliche "Methode". In Sein und Zeit wird sie nunmehr als "Aufgabe" gefasst, da sie die eigentliche Zielrichtung seines Unternehmens anzeigt. Die Methode seiner Untersuchung stellt Heidegger lieber unter den Titel der Phänomenologie (§ 7). Damit reiht er sich offenbar in die Denkrichtung seines "Lehrers" Edmund Husserl ein (sein eigentlicher "Lehrer" war er aber nicht, da Husserl erst 1916, nach Heideggers Habilitation bei Rickert, nach Freiburg kam). Man könnte vielleicht bedauern, dass Heidegger dabei keinen direkten oder genaueren Bezug auf Husserls eigene Methode (weder die Reduktion noch die Intentionalität werden in der Einleitung genannt) oder Schriften nimmt. Er belässt es nämlich bei einer allgemeinen Danksagung an Husserl, der ihn "während seiner Freiburger Lehrjahre durch eindringliche persönliche Leitung und durch freieste Überlassung unveröffentlichter Untersuchungen mit den verschiedensten Gebieten der phänomenologischen Forschung vertraut machte" (38). Heidegger zieht es offenbar vor, seinen phänomenologischen Ansatz eigenständig zu entwickeln. Es wäre aber voreilig, darin einen Affront Husserl gegenüber zu erblicken. Denn ein derartiges, direkt auf die Sachen zugehendes Vorgehen war durchaus auch im Sinne Husserls. Der Affront liegt vielleicht anderswo, wie wir sehen werden. Heideggers Phänomenologiebegriff soll sich also von den Sachen
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selbst her entwickeln lassen. Tatsächlich führt Heidegger seinen Phänomenologiebegriff aber zunächst mithilfe von etymologischen Auslegungen der griechischen Termini phain6menon und 16gos ein. Damit exerziert Heidegger eine "Methode" der begrifflichen Auslegung antiker Termini vor, mit der er die Zuhörer seiner Vorlesungen bezauberte. Diese Deutungsmethode erhob er zu einer wahren Kunst, sowohl in seiner Lehrtätigkeit als auch in seinen Schriften. Gemessen an diesen hohen Maßstäben lässt sich vielleicht nicht behaupten, dass die Ausführungen von Sein und Zeit über die Herkunft des Phänomenologiebegriffs zu den Meisterstücken dieser Kunst gehören. So imposant sie an sich sein mögen, gelangen sie kaum über Tautologisches hinaus: Phain6menon, erfährt man nämlich, heißt "das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende"148, während 16gos als apophafnesthai so viel heißt wie Sehenlassen von den Sachen her. Die Zusammensetzung in der Phänomenologie ergibt nicht viel mehr als die folgende, sehr wohl in Kauf genommene Tautologie: "Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen" (34). Ebenso tautologisch fällt die rein deskriptive Anlehnung an eine Maxime, die Husserl nur en passant formuliert hatte, aus: "Zu den Sachen!",149 auch wenn Heidegger den rein prohibitiven Methodensinn einer "Fernhaltung alles nichtausweisenden Bestimmens" (47) betont. Sofern jede Wissenschaft von den Sachen selbst zu sprechen vorgibt, sind nämlich Versicherungen darüber, dass sich die Phänomenologie an die Sachen selbst zu halten hat, wie Heidegger selber notiert, "reichlich selbstverständlich" (28). Vermutlich versteckt sich darin sogar ein Seitenhieb gegen die "Naivität" der husserlschen Phänomenologiekonzeption. Viel spannender wird es, wenn Heidegger sich zu bestimmen anschickt, was die Phänomenologie primär zu beschäftigen habe. Es ist schön und gut, die Sachen, wie sie von sich aus sind und sich von sich aus zeigen, auch zeigen zu wollen, aber was soll denn die Phänomenologie sichtbar machen? Was muss Thema einer ausdrücklichen phänomenologischen Ausweisu~g werden? Heideggers Antwort ist von verblüffender Kühnheit: "Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht" (35). Ausdrückliches Thema der Phänomenologie soll also das sein, was sich nicht (!) zeigt (eine Konzeption, die Husserl natürlich vor den
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Kopf stieß), was aber dennoch danach schreit, offenbar zu werden, da es den Grund von allem ausmacht. Das Phänomen, das Heidegger hier im Auge hat, ist offenbar das Sein. Es zeigt sich ja nicht, wird ja sogar als Thema verdrängt, aber die Erörterungen über das Seinsverständnis haben gerade erweisen wollen, dass allem Verstehen und Verhalten zu Seiendem ein solches Verständnis zugrunde liegt. Als Methode bildet also die Phänomenologie die Zugangsart zum Thema der Ontologie (35). Wie soll aber die Phänomenologie die Zugangs art zum Sein freilegen? Eine vertrackte, aber notwendige Frage: Wie lässt sich denn das, was sich nicht zeigt, überhaupt zeigen? Es liegt auf der Hand, dass die Phänomenologie ihre zugangserschließende Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie sich als Hermeneutik versteht. Daher erklärt sich Heideggers leider allzu knappe Bezugnahme auf die Hermeneutik am Ende seiner langen Ausführungen über die Phänomenologie. Wie ist sie des Genaueren zu verstehen? In der Heidegger-Literatur gibt es eine allgemeine Erklärung, um diese hermeneutische Wende der Phänomenologie verständlich zu machen. Die Phänomenologie sei etwa hermeneutisch, weil die "Sachen", mit denen sie es zu tun habe, interpretatorischer Natur seien. Es gebe somit keine Sachen an sich, sondern nur interpretierte. Sachlich mag das sinnvoll sein, aber diese Deutung findet keinen direkten Anhalt im Text von Heidegger. Nirgends sagt er nämlich, dass die hermeneutische Ausrichtung der Phänomenologie so zu fassen sei. Einschlägiger noch: Nirgends sagt er, dass es keinen Zugang zu den Sachen selbst gibt. Er behauptet geradezu das Gegenteil in der Einleitung, aber auch im zu Recht berühmten § 31 von Sein und Zeit über "Verstehen und Auslegung", dem hermeneutischen Zentrum des Werkes, wo er expressis verbis von der Auslegung schreibt, dass ihre "erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern" (153). Heidegger hält durchaus an einer Ausweisung "aus den Sachen selbst" fest. Es ist also verfehlt, die hermeneutische Orientierung der Phänomenologie allein aus dem interpretatorischen Charakter der Phänomene erklären zu wollen (was die Einleitung auch nicht tut). Der hermeneutische Charakter der Phänomenologie erklärt sich auch besser und einsichtiger aus dem Kontext der Einleitung, wo er explizit gefordert wird.1 50 Bei der Einführung des Grundproblems der Phänomenologie wird nämlich mehrfach darauf hingewiesen,
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dass ihr Thema "verborgen" sei. Heidegger sagt auch vielfach, es sei "versteckt", "verstellt", "verdeckt", "vergessen", "verschüttet" usw. Just gegen diese Verdeckung, die eigentlich eine Verdrängung ist, erhebt sich die Phänomenologie: "Und gerade deshalb, weil die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie. Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu ,Phänomen'" (36; vgl. GA 20, 119: "Das Verdecktsein ist der Gegenbegriff zu Phänomen, und die Verdeckungen sind es gerade, die das nächste Thema der phänomenologischen Betrachtung sind"). Um diese fehlende Phänomenologizität aber namhaft zu machen als das, was sie ist, d. h. als Verdeckung, bedarf es der Auslegung, d. h. der Hermeneutik. Aus der hermeneutisch gewordenen Phänomenologie sollen nämlich die Motive dieser Verdeckung aufgeklärt, ja destruiert werden. In diesem Sinne sprach ja der oben angeführte Natorp-Bericht von 1922 von den "verdeckten Motiven", denen die phänomenologische Hermeneutik nachzugehen habe. Dieser kritische Hermeneutikbegriff, der sich übrigens bestens in die Kontinuität der hermeneutischen Tradition stellt, die stets nach dem Motiv (scopus ) hinter dem Buchstaben fragte, bildet somit die notwendige Ergänzung einer jeden Phänomenologie. Wiederum zeigt sich hier, wie 1922, dass die Hermeneutik mit der Destruktion Hand in Hand geht. Es soll nämlich erklärt werden, warum das Dasein bzw. die Philosophie das doch dringliche Seinsthema in der Verborgenheit (bzw. Vergessenheit) hält. Darin versteckt sich nämlich eine Flucht der Philosophie und des Daseins vor ihrer primären Sorge, dem Sein. Diese Flucht ist wiederum in der Konstitution des Daseins begründet, nämlich in dessen Hang zum Wegsein, d. h. seiner Tendenz, seiner dringlichsten Frage, d. h. - augustinisch gesprochen - der Frage, die es doch für sich selber ist151 , auszuweichen. Dies hat eine beträchtliche systematische Folge. Die phänomenologische Hermeneutik der Seinsvergessenheit ist in die Hermeneutik des Daseins zurückzuverfolgen. Die Verschüttung der Seinsfrage ist eigentlich die Tat des von sich selbst fallenden Daseins. Die Hermeneutik will somit das Dasein aus seiner eigenen Verfallstendenz erschüttern. Just in dieser Erschütterung und in einem zu erweckenden Wachsein des Daseins über sich selbst sah die frühe Vorlesung vom Sommersemester 1923 (GA 63, 15) die Grundaufgabe der Hermeneutik: "Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine
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Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein. [ ... ] Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden. "152 Die elliptischen und gedrängteren Formulierungen von Sein und Zeit zur Hermeneutik fallen wohl etwas weniger dramatisch aus und beziehen sich zweifelsohne betonter auf die Seinsfrage. Aber der Einführung des Hermeneutikkonzeptes (37ff.) gingen unmittelbar Überlegungen (36) über das Verstecken, die Verstellung, Verschüttung und Verdeckung der Seinsfrage aus. Sie gründen offenbar in einer Selbstverstellung des Daseins. Die Seinsvergessenheit geht nämlich mit einer Daseinsvergessenheit einher. Aufgabe der Hermeneutik des Daseins, die sich jetzt auch als Ontologie des Daseins bezeichnen lässt, ist es, das Dasein für sich selbst und das Sein für die Philosophie zurückzugewinnen. Allein eine solche destruierende Hermeneutik kann also das Sein und das Dasein phänomenologisch sichtbar werden lassen. Wer sehen, d. h. Phänomenologie treiben will, muss zunächst die das Sehen verhindernden Verdeckungen kraft eines hermeneutischen Rückganges auf die verborgenen Motive der Verschüttung destruieren. Die eigentliche Methode der hermeneutischen Phänomenologie bleibt also die der Destruktion (die stillschweigend die husserlsche Reduktion ablöst). Deshalb wird die Hermeneutik des Daseins die Basis bilden, von der her die phänomenologische Ontologie ihren Anlauf nehmen wird. Dies ist der bündige Sinn der geschlossenen Philosophie konzeption, mit der Heidegger seine einleitenden Überlegungen faktisch beschließt: "Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt" (38). So formelhaft die Titel Ontologie und Phänomenologie klingen mögen, ihre hermeneutische Inanspruchnahme und das Zurückschlagen auf die Existenz deuten unmissverständlich auf die ethische Dimension des heideggerschen Unternehmens hin.
III. HEIDEGGER UND AUGUSTIN ZUR HERMENEUTISCHEN WAHRHEIT Was ist hermeneutische Wahrheit? In aller Kürze ist es die Wahrheit des Verstehens. Die Wahrheit des Verstehens meint sicherlich im Sinne des genitivus obiectivus die Angemessenheit, die Adäquatheit des Verstehens. Aber die Wahrheit des Verstehens ist auch hier als genitivus subiectivus zu hören, d. h. als die Wahrheit, die dem Verstehen als solchem eignet. Es ist für die Wahrheit des Verstehens konstitutiv, dass der Verstehende zu dem gehört, was er versteht. Dieses Verstehen der Wahrheit ist von einem Wahrheitsverständnis abzuheben, das Wahrheit im Gegenteil als etwas von mir Unabhängiges konstruiert, in dem Sinne etwa, wie man sagen kann, dass ein mathematischer Satz wahr ist, auch wenn und gerade weil dessen Geltung von mir unabhängig bleibt. Dies kann man ruhig eine "objektive" Wahrheit nennen, und die hermeneutische Wahrheit wollte sie nie in Abrede stellen. Zur hermeneutischen Wahrheit gehört indes, das sie sich nur im Vollzug erfahren lässt. Dies muss aber nicht im Sinne des Pragmatismus eine Wahrheit sein, die mir "passt" oder die mir nützlich ist. Denn die sog. "schmerzliche Wahrheit" - die ja für unser endliches Dasein keine entlegene Erfahrung ist - gehört auch und erst recht zur hermeneutischen Erfahrung. Sie ist eine Wahrheit, die mich betrifft und vielleicht direkter und objektiver als jede von mir unabhängige Wahrheit, auch wenn sie von keinem anderen nachvollzogen werden kann. Man kann sich etwa vorstellen, dass jemand durch eine Anspielung in einem Vortrag oder in einem Gespräch etwas sagt, was mich trifft, was mir nahe geht und mir dadurch etwas erschließt: Schmerzliches, Erfreuliches, was auch immer, aber ein Wahres, wobei es sehr wohl möglich ist, dass ich der Einzige im Saal bin, der diese Wahrheit erfährt, dem die Augen dabei aufgehen. Nichtsdestoweniger darf man auch für diese Wahrheit von Adäquatheit, von Richtigkeit sprechen: Was mir da mitgeteilt, erschlossen wird, entspricht dem, was da ist, lässt mich erfahren, wie es mit der Sache steht - auch wenn es mir nicht passt und gerade dann, wenn es mir nicht in den Kram passt. Diese Erfahrung machen wir ständig, sind wir doch selbstbekümmerte Wesen, die sich selbst fraglich
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sind und dadurch von Wahrheits erfahrungen betroffen, die uns nahe gehen, die unsere Fraglichkeit mit in die Erschließung der Wahrheit hineinziehen, ja die diese Fraglichkeit selber erschließen. Diese Erfahrung ist die der hermeneutischen \\'ahrheit. Diese Wahrheit, die zum Sinn des Daseins gehört, ist eine, die Heidegger mit Augustin teilt. Diese hermeneutische Wahrheit ließe sich auch als eine augustinische bezeichnen. Die Motivation für Augustin ist gewiss religiös: Die mich betreffende Wahrheit ist die, die den Sinn meines Lebens angeht und d. h. die, die mich sogar rettet, auch wenn ich vor ihr nicht bestehen kann. Ihren Vollzug hat Augustin deshalb in seinen Confessiones, in einem Selbstgespräch vor Gott zur Ausführung gebracht. Wenn ich behaupte, dass Augustin und Heidegger diese Wahrheit teilen, so ist das nicht nach der Richtung zu banalisieren, dass Heidegger etwa diese Wahrheit von Augustin "übernommen" hätte oder dass Augustin ihn historisch "beeinflusst" hätte. Das kann man nicht so genau wissen, auch wenn vieles dafür sprechen mag. Es ist wichtiger, die philosophische Entsprechung beider Denker zu sehen, denn sie bürgt auch für ein Philosophieverständnis, aber auch eine Praxis der Philosophie, die mit einem Daseinsverständnis zusammenhängen, das Heidegger und Augustin engstens verbindet. Denn man konnte lange die Vermutung hegen, dass Heideggers berühmte Umschreibung des Daseins in Sein und Zeit als des Seienden, dem es "in seinem Sein um dieses Sein geht", eine augustinische Quelle hatte. Hannah Arendt hatte seit langem auf die augustinische Formel, dass ich für mich selbst eine offene Frage bin (quaestio mihi factus sum), hingewiesen, als sie selber konsequent den Weg von Heidegger zu Augustin zurückging. Die berühmte Formel taucht nun so oft in der neuerdings veröffentlichten Augustin-Vorlesung vom Sommersemester 1921 auf, dass man vor der Konsequenz nicht zurückschrecken darf, dass das heideggersche Daseinsverständnis nichts anderes tut, als ein augustinisches Zitat auf den Begriff zu bringen. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkT, dass Sein und Zeit der oben genannten "Definition" des Daseins eine auch sonst in den Vorlesungen traktierte Erörterung über die Struktur des "Fragens" vorangehen lässt, aus der hervorgeht, dass das in Frage Stehende immer und primär das Dasein ist. Dieses Seiende, das "die Seinsmöglichkeit des Fragens" hat, fasst Heidegger terminologisch als Dasein. In letzter Radikalität ist es das Seiende, das für sich selbst eine Frage ist, wie es Augustin fasste: Quaestio mihi factus sum, wobei "factus" bereits eine schöne Vorwegnahme
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der "Faktizität" indiziert, die in den früheren Vorlesungen Heideggers so überragend ist und in Sein und Zeit etwas zurückzutreten scheint, und zwar zugunsten der "Seinsfrage" . So mochte es für manche verblüffend erscheinen, dass in Sein und Zeit diese radikale Fraglichkeit dem Sein zugesprochen wurde, als Heidegger etwa behauptete, dass "das Seiende vom Charakter des Daseins zur Seinsfrage selbst einen - vielleicht sogar ausgezeichneten - Bezug hat" (SZ, 8). Gemeint ist aber hier nicht das Sein der aristotelischen Metaphysik oder die semantische Frage nach dem einheitlichen Sinn des Verbs "sein", sondern die Frage nach dem Sein, das für sich selbst fraglich ist, d. h. nach dem Seienden, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht, d. h. die Frage nach unserem Seinkönnen oder nach dem, was Heidegger in seinen frühesten Vorlesungen das "Wie" der Faktizität nennt. Dieses Wie, dieses Seinkönnen lässt sich nur als Vollzug ansprechen, denn es geht nicht um eine feststellbare Tatsache, um ein "Objekt", das mir gegenüberstünde, sondern um eine Aufgabe, die ich aufzunehmen habe, die ich aber auch verfehlen kann, indem ich mich von anderen Beschäftigungen ablenken lasse, ab-lenken nämlich von der zentralen Frage, die ich für mich selbst bin. Da-sein, erläuterte Heidegger in seinen frühen Vorlesungen, heißt gerade "Nichtweglaufen",153 sondern dieses Dasein in einem gewissen "Wie" zu vollziehen. Erst recht in Augustin konnte Heidegger einen Gewährsmann für eine solche Wahrheits erfahrung finden, die sich gerade darin bezeugt, dass sie sich meist verfehlt. In der Vorlesung vom Sommersemester 1921 schließt sich Heidegger daher kongenial an die augustinische Redeweise von der defluxio, von der Zerstreuung des Lebens an: "Denn in multa defluximus, wir zerfließen in Mannigfaltiges und gehen in der Zerstreutheit auf. "154 Sehr gen au wird auch Heidegger die verschiedenen Richtungen der "Defluxionsmöglichkeit" des Daseins verfolgen, deren es drei gibt: die concupiscentia carnis, die concupiscentia oculorum und die ambitio saeculi. AbE;r Heidegger geht es nicht um die Klassifizierung der concupiscentia , als solche, denn nur "von außen gesehen sieht es so aus, als gäbe Augustin eine bequeme Klassifikation der verschiedenen Richtungen der concupiscentia"155 oder "Begierlichkeit". Es geht Heidegger nicht um eine moralisch-religiöse Verurteilung der tentatio, sondern um die Zwiespältigkeit des Lebens selber, die Augustin mit so hellen Augen gesehen hat. Denn es gehört auch zu dieser Zerrissenheit, dass man nicht einmal weiß, ob man sein Wie, sein Da eigentlich oder uneigentlich vollzieht, weil dem Dasein eine letzte Sicherheit
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abgeht. Es ist nach Heidegger gerade Augustins ungeheures Verdienst, diese radikale Unsicherheit und Zerrissenheit gesehen zu haben, auch wenn es auch bei ihm die unleugbare Tendenz gab, sie durch den Bezug zu Gott zu überwinden. In dieser beschwichtigenden Tendenz sieht Heidegger - phänomenologisch vielleicht nicht zu Unrecht - einen "Abfall" von dem Ansatz bei der Frage, die ich für mich selbst bin. Denn: "Mit dem ,quaestio mihi factus sum' steigert sich der Abstand von Gott" (GA 60,283). So verspricht Heidegger sozusagen augustinischer als Augustin zu sein und bei der radikalen Fraglichkeit, die das Dasein für sich selbst ist, auszuharren: "So ist der Erfahrungsvollzug für sich selber immer in Unsicherheit. Es gibt gar keinen medius [ocus im Erfahrungszusammenhang, wo nicht die Gegenmöglichkeiten mit da wären, sodass Augustin sagen muss: ex qua parte stet victoria nescio" (wohin das eigene Leben schließlich ausschlägt [weiß ich nicht]). Es ist eine teuflische Zerrissenheit im Erfahren als solchem aufgedeckt" (GA 60,209). Diese faktische, also unentrinnbare Verunsicherung ist gerade die phänomenologische Dimension, die Heidegger an der Erfahrung des Urchristentums wiederzugewinnen strebt. Sein erster Gewährsmann ist hier Paulus, weil er sehr wohl erkannte, dass dem Christen die Sicherheit über das neue Kommen des Herrn vollkommen entgleitet. Das zeitigt auch Konsequenzen für das Zeitverständnis, das Heidegger aus der Erfahrung des Urchristentums herauszugewinnen trachtet, dieses alles überragende Thema der Zeit, dem Heidegger und Augustin ihre prägnantesten Seiten gewidmet haben: Die Hoffnung, die Erwartung auf das Kommen des Herrn ist nach Heidegger nicht ein Warten auf ein kommendes, künftiges, punktuelles Ereignis, sondern deutet auf ein Wie der Existenz, das uns auf uns selbst und unsere radikale faktische Unsicherheit zurückweist.1 56 Was Heidegger an dieser Zeitlichkeit fasziniert, ist, dass es - entgegen der traditionellen Auffassung der Zeit als eines Kalküls des Geschehens - eine Zeit ist, mit der man gerade nicht "rechnen" kann. Das geläufige Rechnen mit der Zeit ist deshalb für Heidegger uneigentlich, weil es eine abstrakte, unendliche und lineare Zeit konstruierte, die sozusagen die grundlegendere Unberechenbarkeit der Zeit verdecken will. Diese Erfahrung der Zeitlichkeit, des Seins in der rechnungspottenden Zeit, fand Heidegger im Urchristentum. Für den Christen ginge es allein um dieses neue "Wie" des faktischen Lebens, nicht um einen festen Halt, vielmehr um das gerade Gegenteil: "Für das christliche Leben gibt es keine Sicherheit; die ständige Unsicherheit ist auch das Charakteristische für die Grund-
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bedeutendheiten des faktischen Lebens. Das Unsichere ist nicht zufällig, sondern notwendig" (GA 60, 105). Dies mag übrigens dazu beitragen, ein Licht auf Heideggers teilweise sehr scharfe Polemik - damals schon, aber auch später - gegen die katholische Weltanschauung und ihre Institutionen157 zu werfen, die er geradezu eines Verrats an ihrer Sache zieh, weil sie gerade die christliche Urerfahrung der radikalen Unsicherheit in ihr Gegenteil, nämlich in ein System der Heilssicherung verkehrt habe. So behauptet Heidegger: "Der Christ findet nicht in Gott seinen 'Halt' (vgl. Jaspers ). Das ist eine Blasphemie! Gott ist nie ein 'Halt'" (GA 60, 122). Man könnte noch weiter gehen und darin den wahren Grund für Heideggers komplexe "Entfremdung" vom Christentum, zumindest vom offiziellen, dogmatisch-kirchlichen Christentum erblicken: Indem er sich gegen das kirchliche System der Heilssicherung wandte, glaubte er vielleicht selber noch "christlicher" zu sein als die offizielle Theologie. Dass er in Paulus, Augustin und Luther Stützen für seine Abkehr von jeder rationalisierenden Theologie - im Namen einer theologia crucis, die bei Heidegger wohl fehlt, aber deren Stelle durch eine hölderlinsche und nietzschesche Theologie des Fehls Gottes gefüllt wird - finden konnte, leuchtet sachlich und historisch ein. Aber diesen theologischen Faden werden wir hier leider nicht weiterverfolgen. Uns interessiert hier primär Heideggers phänomenologische Rezeption Augustins, die darauf aus ist, philosophische Konsequenzen aus der von Augustin gesehenen radikalen Unsicherheit des Verstehens für das Daseinsverständnis zu ziehen. Die hermeneutische Wahrheit, die daraus resultiert, wird selber eine in sich selbst zerrissene bleiben, eine für sich selbst fragliche. Das zeigt sich exemplarisch an Heideggers zentralem Verstehensbegriff. Der aus den methodologischen Diskussionen des 19.Jh. bekannte Terminus des Verstehens wird bei Heidegger seines rein kognitiven Charakters entkleidet. Wie in der umgänglichen Formel "sich auf etwas verstehen" zeigt Verstehen ein Können an, "in der Bedeutung von 'einer Sache vorstehen können', 'ihr gewachsen sein'''.158 Etwas verstehen heißt nicht in erster Linie etwas theoretisch erkennen, sondern damit fertig werden, damit zu Rande kommen. Aber die Pointe dieses Verstehens ist eben, dass dieses Verstehen, das ein Können unserer selbst indiziert, immer zugleich ein Nichtverstehen, ein Nichtkönnen ist. Wir sind auf das Verstehen und das Können aus, weil sie uns auf grundsätzlichem Niveau geradezu fehlen. Einer Sache gewachsen sein bedeutet ja, dass man ihr gerade und nur "gewachsen" ist und dass dieses Können stets auch in ein Nichtkönnen
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umzuschlagen droht. Diesen Umstand drückt auf schlagartige Weise der in Sein und Zeit eingeführte 159 Begriff der Geworfenheit aus: Wir finden uns in den Fluss der Existenz geworfen, wo uns jeder absolute Halt abgeht, so sehr wir uns mit der Illusion eines solchen trösten mögen. Nur eines ist sicher: der Tod. In den laufen wir vor, schreibt plastisch Heidegger, um den unaufhaltsamen Gang des bitteren Endes zu betonen, das nicht nur irgendwann mal auf uns zukommt, sondern uns stets beherrscht. Wir suchen zu verstehen, weil wir in diesem Vorlaufen nichts verstehen und nur vorläufig verstehen. Nie verstehen wir etwas ganz, nie kommen wir mit dieser Welt ganz zu Rande, jede Wahrheit ist stets nur eine halbe Wahrheit, alle Versicherungen sind provisorisch, aber in dieser Zwielichtigkeit ereignet sich nun einmal alles menschliche Verstehen. Verstehen ist sozusagen ein flackerndes Wachsein in der Nacht, die umgreifender ist als jede Helle. Zwischen diesen zwei Polen des Wachseins und der Nacht schwebt das gesamte Denken Heideggers. Vielleicht hat er in seinen düstersten Momenten das Dunkle betont. In seinen jüngeren Jahren, zu denen die Hermeneutik der Faktizität von 1923 natürlich gehörte, insistierte er dafür mehr auf der Helle, auf der aufklärerischen Dimension des Verstehens, auf der "Anzeige des möglichen Wachseins"16o, die in jedem faktischen Dasein lauerte. "Hermeneutik" war dafür kein schlechtes Wort. Denn darin hört man auch den Götternamen Hermes und damit auch das Hermetische dessen, was nach Verstehen drängt: Was man zu verstehen sucht und tatsächlich auch versteht, bleibt zugleich verschlossen. Gegenüber dieser unentrinnbaren Verstrickung von Verschlossenheit und Erschlossenheit ist die ehrlichste Haltung eben die des Wachseins, des "Wachseins des Daseins für sich selbst"161. Nur das, aber zugleich nichts weniger als das. Es gibt etwas augustinisches in der Art und Weise, wie Heidegger Wahrheit und Irre zusammensieht.1 62 Jedes Entdecken des Seienden ist zugleich ein Verdecken. Ja, das Motiv der Eitelkeit oder der vanitas, das bei Augustin so zentral ist, ist gar nicht so fern von dieser Aletheia-Konzeption Heideggers: Es ist ein Wahn zu meinen, das Entdecken sei nicht zugleich ein Verbergen. Schließlich wird Heidegger in gut augustinischer Nachfolge nahezu die gesamte Wissenschaft, ja jeden Versuch, das Seiende zu erklären, der Seinsvergessenheit verdächtigen. Sein Abschied von der Metaphysik oder, bescheidener gesagt, sein Versuch, von der Metaphysik Abstand zu nehmen, lässt sich durchaus als eine Kritik an der vanitas des Wissen- und Beherrschenwollens verstehen. Das Daseinsverständnis,
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das Heidegger dagegen aufrichtet, ist ein Dasein, das auf diese Sicherheit verzichtet und eine Wachsamkeit gegenüber der tentatio des Beherrschenwollens ausbildet. Daher erklärt sich Heideggers lebhaftes Interesse für die Problematik der tentatio bei Augustin. Denn die größte tentatio ist nämlich die, dass sich das Dasein selbst versteckt. Das Dasein geht nur allzu gern in der Defluxion, in der Selbstzerstreuung auf, um seiner radikalen Unsicherheit auszuweichen. Das Motiv des "Man" findet sich hier bereits vorgebildet, erst recht das des "Geredes", das uns die Last unseres Daseins abnimmt. In der Herrschaft des "Redens" sieht der Heidegger der Augustin-Vorlesung geradezu den Herd der von ihm ins Philosophische gewendeten, d. h. zum Existenzial erhobenen tentatio: "Die Charakterisierung der Sprache, genauer des Redens, des Sichmitteilens und Vernehmens als Herd dieser Weise von tentatio [im amari velle], führt den mitweltlichen Erfahrungszusammenhang auf die entscheidende Weise des Vollzugs mitweltlichen Erfahrens zu.rück. Zugleich ist damit angedeutet, wie gerade in dieser Vollzugsweise ihrem eigensten Sinne nach die Möglichkeiten des Sichversteckens, Spielens usf. besonders groß sind" (GA 60, 229). Dies ist die letzte Solidarität zwischen Heidegger und Augustin, die ich hier noch zur Sprache bringen möchte: ihre platonische Zurückhaltung gegenüber den umlaufenden Reden, d. h. dem Gerede als einer das Dasein überwältigenden Zerstreuungsmöglichkeit. Sie begründet selbstverständlich die bedächtige Distanz, die Augustin und Heidegger gegenüber jeder Öffentlichkeit (die "alles verdunkelt"), ja gegenüber der Politik selbst einnehmen, als wäre die Selbstwelt in der verflachenden Öffentlichkeit des Politischen sich selbst entfremdet und nur in der civitas Dei heimisch. Dieses Civitate-Dei-Motiv nährt bei beiden einen großen, kritisch zu nennenden Verdacht gegenüber den gängigen Mitteilungsformen, der scheinbaren Kommunikation, ja gegenüber der Sprachlicheit als solcher, die Heidegger im Umkreis von Sein und Zeit sogar dazu führt, die Sprache vom Horizont des Geredes aus zu betrachten und dadurch deren "Sekundarität" zu erweisen. 163 Es ging aber dabei nicht um die Sekundarität der Sprache als solcher, sondern vielmehr um die Anfälligkeit des allzu menschlichen Verstehens für das Gerede, für das nur Nachgeredete, für das nicht wirklich Nachvollzogene. Die Destruktion ist just dagegen gerichtet. Es geht dabei Heidegger sozusagen um eine selbstkritische Sprachlichkeit, die sich ihrer eigenen Mittel stets versichert und sich nicht
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von den umlaufenden Sprach- und Kommunikationsformen beirren lässt. Das Modell dieser Sprachlichkeit ist vielleicht weniger der Dialog als der Selbstdialog, das Selbstgespräch der Seele mit sich selbst. Es wird Heidegger ja oft vorgeworfen, dass er das Dialogische verkannte, dass er kein Mensch des Dialogs gewesen sei usf. Wie es auch damit stehen mag, so glaube ich, dass Heidegger vielleicht deswegen kein Mensch der "Kommunikation" war (soweit das stimmen mag), weil er erkannt hatte, dass vor jedem öffentlichen und damit einebnenden Dialog das Dasein ein Dialog mit sich selbst war, eine Frage für sich selbst. Ja, jeder Weltbezug, jede Beschäftigung mit umweltlichen, vorkommenden Dingen hatte für Heidegger in Sein und Zeit etwas von einer Flucht an sich, einer Flucht des Daseins vor sich selbst, wie er es in seiner ersten Marburger Vorlesung einhämmerte,164 Der sehr schöne Begriff des "Wegseins" als Gegenbegriff zum Dasein zeigt ja, dass sich eine gewisse Untreue in der Hingabe an die Welt versteckt, und damit meint Heidegger in erster Linie die üblichen Formen des Umgangs und der öffentlichen Ausgelegtheit, die er zu Recht als durch die Herrschaft des Man und des Geredes gekennzeichnet sieht. Ich betone: zu Recht. Denn es steht zu befürchten, dass die Herrschaft des Geredes nur im Wachsen sein kann in einer Gesellschaft, die die Möglichkeiten der Kommunikation scheinbar ins Unendliche potenziert hat, wo man alles zu jeder Zeit wissen kann und wissen muss, wo man mit jedem und d. h. mit niemandem kommunizieren kann. Aber ist das wirkliche Kommunikation, ist das wirklicher Dialog? Dieses Gerede bedroht nicht zuletzt die Philosophie, wo das Fehlen von eindeutigen Antworten und festen Anhaltspunkten die Gefahr besonders steigert, dass man sich auch hier auf die Selbstsicherheit des Geredes ein- und verlässt. Gerade weil er diese Zusammenhänge erkannt hat, hat sich Heidegger von diesen Formen der Öffentlichkeit zurückgezogen. Nicht weil er die Kommunikation verabscheute, sondern im Gegenteil, weil er einer zu hohen Idee von ihr huldigte, um sie in der Form des Geredes zu praktizieren. Auch darin zeigt sich das augustinische Element an Heidegger: Unter der Herrschaft des Geredes bleibt jeder echte Dialog ein Gespräch mit Gott, ein confiteri. Natürlich meine ich das hier nicht in einem religiösen Sinne. Das Gespräch mit Gott, das jeder Mensch führt, ist das Gespräch mit der Instanz, die über die Herrschaft des Geredes erhaben ist und die es uns gestattet, das Gerede für das auszugeben, was es ist, d. h. leeres Geschwätz. Wenn das Sprachspiel nicht von einer anderen philosophi-
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schen Schule bereits besetzt worden wäre, könnte man sagen, dass dieses Gespräch mit Gott, das wir als Dasein sind, die kontrafaktische Präsupposition einer jeden idealen oder realen Kommunikationsgemeinschaft ist. Denn Kommunikation hat etwas von Kommunion und Vereinigung an sich. Kommunikation gibt es nicht, wo man nicht miteinander kommt. Nur mit Gott gibt es dieses Gespräch (auch wenn es ihn nicht gibt). Dass Philosophie sich in der Form von confessiones zu vollziehen hat, ist eine Einsicht, die Heidegger bei Augustin fasziniert hat. 165 Sie findet ihre Entsprechung im philosophischen Werk des großen Gott-Suchers unseres Jahrhunderts, Martin Heideggers, wie ihn Bernhard Welte und Gadamer genannt haben.1 66 Wie ein langes Selbstgespräch vor Gott, ein confiteri, nimmt sich auch das ganze Werk und Suchen Martin Heideggers aus. Nicht Werke hat er hinterlassen, sondern Wege. Heidegger ist ein Denker, der Fragen stellt, der laut dachte und es in Kauf nahm, dass er dabei nur missverstanden werden konnte. 167 Dass Heidegger in seinen Schriften und Vorlesungen mit sich selbst zu Rate geht, ist auf allen Seiten erkennbar und findet meines Erachtens keine rechte Entsprechung in der ganzen Reihe der Klassiker des philosophischen Denkens bis auf die Ausnahme von Augustins soliloquia. Diese mit sich selbst sehr kritisch umgehende Offenheit des confiteor manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass Heidegger nach 1929 seine meisten Schriften zurückhielt. Es ist auch kein Geheimnis, dass die spätere Entwicklung seines Denkens aufs Engste mit dem Motiv der Selbstinterpretation und dem augustinisch anmutenden Terminus der Kehre einhergeht. Schon sehr früh hatte Friedrich-Wilhelm von Herrmann auf die zentrale Bedeutung der Selbstinterpretation für das Denken Heideggers hingewiesen.1 68 Darin liegt kein Narzissmus 169 oder irgendwe1che Selbstverherrlichung, die manche auch irritiert hat, sondern das gerade Gegenteil: eine radikale Selbstunsicherheit und Offenheit des Fragens. In ihr bekundet sich die Wiederaufnahme des augustinischen Motivs des Selbstgespräches, das für Heideggers Philosophie- und Daseinsverständnis wegweisend zu sein scheint. Auch Heideggers "systematisches Hauptwerk", Sein und Zeit also, muss so gelesen werden. Es endet ja mit einer offenen Frage, die nahezu das ganze Unternehmen des Buches in Frage stellt: "Gibt es einen Weg zwischen Sein und Zeit?" Mit ähnlichen, das ganze Unterfangen in Zweifel stellenden Fragen pflegte auch Augustin seine Schriften zu beenden.1 70 Sich selbst sicher war Heidegger nie. So ist es kein Zufall, wenn Heidegger so sehr an der Veröffentlichung seiner
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Vorlesungen lag. Denn die Vorlesungssituation ist die eines öffentlichen Fragens, wo man es sich leisten kann, nicht auf alles eine Antwort parat zu haben. Es gibt also einen wesentlichen Zug des heideggerschen Denkens, den man das Augustinische nennen könnte. Er liegt im Ernstnehmen dieser Frage, die ich für mich bin, der quaestio mihi tactus sum, die ja in Heideggers Grundbestimmung des Daseins eingeht. Ein für sich selbst fragliches Wesen muss sich jeder Sicherheit entledigen und seine eigene Zerrissenheit als Selbstgespräch erfahren. Als Heidegger am 30. November 1920 seine Religionsvorlesung unterbrach, um zur Explikation konkreter Phänomene überzugehen, tat er es, bekannte er seinen Zuhörern, "allerdings für mich unter der Voraussetzung, dass Sie die ganze Betrachtung vom Anfang bis zum Ende missverstehen"l71. So drängt sich hier die - zugestandenermaßen etwas banausische - Frage auf: Wer konnte denn Heidegger verstehen? Etwa Gott? Wie lauten noch die bedrängten Fragen des Feldweges? "Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht Gott?"l72 In der Bedrängnis dieser Frage weiß sich Heideggers lebenslanges Selbstgespräch mit Augustin verbunden.
IV. ZUR ORTSBESTIMMUNG DER HERMENEUTIK GADAMERS VON HEIDEGGER HER Es ist nicht sehr leicht, Gadamers Ort in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu bestimmen. Es steht natürlich außer Zweifel, dass man Gadamer nur im Verhältnis zur Geschichte der Hermeneutik verstehen kann. Er hat sich selber so verstanden und in Wahrheit und Methode auch so dargestellt. In der Regel wurde er zudem so rezipiert. Aber das Verhältnis Gadamers zur Geschichte der Hermeneutik ist selber ein schwer zu bestimmendes. Gewiss, die Grundlinien sind bekannt: Gadamer hebt sich polemisch von den hermeneutischen Entwürfen von Schleiermacher und Dilthey ab: Sie hätten zu Unrecht - oder zu einseitig - die Hermeneutik rein methodologisch verstanden. Aber selbst diese überaus bekannte Kritik wirft bei genauerem Zusehen einige Fragen auf. Es ist so, dass Gadamer sowohl im Falle Schleiermachers als auch im Falle Diltheys von einer romantischen Hermeneutik spricht, aber er tut es, um an ihr eine zu einseitige Orientierung auf die Methodenidee der neuzeitlichen Wissenschaft auszusetzen. Aber diese Charakterisierung ist bereits etwas merkwürdig: Kann man zugleich Romantiker und Methodenfanatiker sein? Verstand sich nicht die Romantik im Gegensatz zur methodenbesessenen Aufklärung? Der Sinn der polemischen Distanznahme Gadamers gegenüber Dilthey und Schleiermacher steht indes außer Zweifel: Es geht bei Gadamer um eine andere Idee von Hermeneutik, also nicht um eine Methodologie, wie bei Schleiermacher und Dilthey. Aber kann man es Schleiermacher und Dilthey so verübeln, dass sie die Hermeneutik so verstanden, hatten sie doch die gesamte Tradition der regelorientierten .Hermeneutik hinter sich? Das onus probandi der neuen Idee der Hermeneutik liegt also bei ihr. Ihr obliegt es, ihre eigene Glaubwürdigkeit zu verteidigen. Woher kommt jedoch diese neue Idee der Hermeneutik? Gadamer beruft sich dabei vorzugsweise auf Heidegger. Darin wurde er auch von der Rezeption gefolgt. Es ist ja usus geworden, die goldene Linie nachzuzeichnen, die von Schleiermacher über Dilthey bis hin zu Heidegger und Gadamer hinführen soll. Aber je
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anhaltender man hinsieht, desto schwieriger wird es, diese Linie nachzuvollziehen. Gadamers Berufung auf Heidegger mag auch im Allgemeinen sehr einsichtig sein, aber es muss doch auffallen, dass sich Gadamer, in Wahrheit und Methode zumindest, sehr wenig mit Heideggers Konzeption der Hermeneutik auseinander setzt und jedenfalls nicht sehr kritisch (sehr im Unterschied zu seiner Beschäftigung mit Schleiermacher und Dilthey). So muss man Gadamers Verhältnis zu Heideggers "Hermeneutik" sozusagen auf eigene Faust zu bestimmen versuchen. Dies ist aber keine leichte Aufgabe und in meinen Augen noch ein Desiderat des N achdenkens. Heideggers eigene Hermeneutikkonzeption ist ihrerseits eine sehr komplexe Sache - und eine umso komplexere, je anhaltender man sich mit ihr beschäftigt, wie dies durch die Veröffentlichung seiner früheren Vorlesungen und Texte immer besser möglich und zugleich stärker gefordert wird. Es lassen sich bei Heidegger drei relativ geschlossene (aber sehr wohl miteinander zusammenhängende) Hermeneutikkonzepte unterscheiden: 1. die frühe Hermeneutik der Faktizität (1923), 2. die Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit, 3. die spätere "Hermeneutik" der Geschichte der Metaphysik. Diese Unterscheidung beansprucht keinerlei Originalität, sie will lediglich verständlicher machen, wie sich die Problematik der Hermeneutik bei Heidegger gestaltet und entfaltet. Man mag sich höchstens darüber wundern, dass für den späten Heidegger der Titel "Hermeneutik" beibehalten wird. Sicherlich nicht ohne Recht: Der späte Heidegger hat sich - bis auf kleine, allerdings nicht unwichtige Ausnahmen - in der Tat vom Terminus der Hermeneutik verabschiedet. Nichtsdestoweniger lässt sich ohne allzu große interpretatorische Gewalt Heideggers spätere Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition sehr wohl als eine Hermeneutik der Seins- bzw. der Metaphysikgeschichte bezeichnen. Man muss es nicht tun, aber man versteht doch einiges besser, wenn man dort weiterhin von Hermeneutik spricht. Aber darin liegt nicht die Pointe dieser dreifachen Unterscheidung. Sie möchte in erster Linie, und nur im Modus des Fragens, auf die Schwierigkeit aufmerksam machen, Gadamer einer von diesen drei Hermeneutikkonzeptionen zuzuordnen. Um dies zu verdeutlichen, seien kurz die jeweiligen Projekte Heideggers in Erinnerung gerufen. Man mag sich dabei mit allgemeinen, nicht polemisch intendierten Charakterisierungen begnügen, um den Boden für eine sachgemäße Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers vorzubereiten.
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1. Die frühe Hermeneutik der Faktizität. In Unterwegs zur Sprache (1959), aber auch in Sein und Zeit hatte sich Heidegger bekanntlich, wenn auch geheimnisvoll auf den Titel der "Hermeneutik der Faktizität" berufen, um die Richtung seiner früheren Denkversuche zu kennzeichnen. Es handelte sich also in beiden Fällen um ein Selbstzitat, das man aber - im Unterschied zu den üblichen Selbstzitierungsweisen - nicht recht nachvollziehen konnte, da so wenig, ja gar nichts von dieser früheren Hermeneutik publiziert war. Die Gerüchte kursierten aber umso lebhafter, sodass diese frühe Vorlesung (die Gadamer auch gelegentlich erwähnte, beispielsweise in seinen Löwener Vorträgen von 1957 über "Das Problem des geschichtlichen Bewusstseins") von einer großen Fama umgeben war. Sie ist seit 1988 veröffentlicht, mitsamt zahlreichen weiteren Vorlesungen des frühen Heidegger, die uns ein viel besseres und in der Tat sehr anregendes Bild der frühen Hermeneutik der Faktizität vermitteln helfen. Die Grundlinien der Faktizitätsproblematik beim frühen Heidegger sind bekannt, obgleich nicht immer sehr leicht nachzuvollziehen, da Heideggers (natürlich in erster Linie mündliche) Ausführungen zuweilen sehr stichwortartig bleiben. Dies gilt erst recht für die allgemeine Schilderung der Faktizität 173 in der Vorlesung vom Sommersemester 1923 (GA 63,7): "Faktizität ist die Bezeichnung für den Seinscharakter 'unseres' 'eigenen' Daseins. Genauer bedeutet der Ausdruck: jeweilig dieses Dasein (Phänomen der 'Jeweiligkeit'; vgl. Verweilen, Nichtweglaufen, Da-bei-, Da-sein), sofern es seinsmäßig in seinem Seinscharakter 'da' ist. Seinsmäßig da sein besagt: nicht und nie primär als Gegenstand der Anschauung und anschaulicher Bestimmung, der bloßen Kenntnisnahme und Kenntnishabe von ihm, sondern Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins. Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche 'da'. Sein - transitiv: das faktische Leben sein! Sein selbst nie möglicher Gegenstand eines Habens, sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt." Ein inzwischen wohl bekannter Text. Er ist alles andere als leicht, und man tut gewiss Recht daran, ihn durch Parallelstellen in den weiteren Vorlesungen zu erläutern. Aufgrund dieses Textbefundes allein kann man jedenfalls die sechs folgenden Momente der Faktizität herausstellen: 1) Die Faktizität bezeichnet zunächst unser bzw. 'unser' 'eigenes' Dasein, also etwas, was mir zu Eigen ist. Es fällt auf, dass Heidegger dabei Anführungsstriche verwendet (ob sie von Heidegger oder vom Herausgeber stammen, ist nicht auszumachen). Die Termini
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sind also mit Vorsicht zu gebrauchen. Die Anführungsstriche sind vermutlich so zu deuten, dass mit ihnen eine allgemeine Wesens aussage über die Faktizität intendiert ist, die aber selber nur individuell gegeben ist: Allgemeine Merkmale der Faktizität gibt es wohl nicht, außer eben der Tatsache, daß sie 'unser' 'eigenes' Sein indizieren; 2) Heidegger präzisiert alsdann, dass der Ausdruck "genauer" meine: "jeweilig dieses Dasein". Ob das so viel "genauer" ist, mag dahingestellt sein, da Heidegger bereits gesagt hatte, dass die Faktizität unser eigenes Dasein bezeichne. Neu, oder "genauer" ,ist indes der Umstand, dass dieses "jeweilige" Dasein im Sinne einer "Weile" verdeutlicht wird. Heidegger charakterisiert es tatsächlich durch drei Wörter desselben Stammes: jeweilig, Jeweiligkeit, Verweilen. Dieses "Verweilen" scheint also hier zu meinen, dass man in der Faktizität steckt, indem man in ihr verweilt. So ist es zum Beispiel, falls dieses Beispiel hier hilft, wenn man krank ist: Ich bin "jeweilig" krank, also nicht mein Nachbar ist es, aber so, dass diese "Jeweiligkeit" auch ein Verweilen in ihr einschließt: Wenn ich krank bin, stecke ich so sehr in der Krankheit, dass ich nicht von ihr weglaufen kann. Die Jeweiligkeit (jeder steht für sich) ist also ein Darinstecken, ein Im-ProzessSein, ein Vollzug. - Aber die Krankheit ist auch insofern ein schlechtes Beispiel, als man sie überwinden kann: Man kann nachher von sich sagen, ich hatte Fieber, jetzt aber nicht mehr. Das wird man aber vom eigenen Dasein nie sagen können: Man steckt immer darin und kann nicht von ihm loskommen, wie man etwa von einer Krankheit oder einem schlechten Referat erlöst werden kann. Aber die zwei neuen Momente sind festzuhalten: die jeweilige Individualität des Daseins und sein "weilender", einnehmender Charakter. 3) Wohl deshalb sagt Heidegger danach, dass diese Faktizität bzw. dieses Dasein besagt: "nicht und nie primär als Gegenstand (der Anschauung und anschaulicher Bestimmung, der bloßen Kenntnisnahme)". Ich stehe also nie "vor" meinem Dasein wie vor einem Gegenstand. Jede Vergegenständlichung der Faktizität würde ihr Gewalt antun, sofern sie eben nur "gelebt" werden kann. Das bleibt aber eine negative Charakterisierung. Ich bin nicht da als Gegenstand für mich, sondern 4) "Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins". Dies ist vielleicht die schwerste Charakterisierung, und zwar aus dem folgenden Grunde: Auch wenn Heidegger (oder hier wiederum der Herausgeber?) den Akzent auf das "da" legt, würden wir wahrscheinlich - im Sinne des 2. und 3. Momentes - den Akzent eher auf das "Wie" setzen: Ich bin nicht ein Gegenstand für mich, sondern
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nur da in einem gewissen Wie, in einem Vollzug. Die Opposition scheint also die von Vollzug und Gegenständlichkeit zu sein. Aber der Satz gewinnt einen neuen Sinn, wenn man den Akzent auf das Adjektiv "eigenstes" legen würde. Es ist auch sprachlich möglich und im Sinne des Superlativs sogar geboten, auf die Gefahr hin, dass der Satz dann befremdender wird. Er würde dann so viel besagen wie: Dasein ist ihm selbst da, indem (im "Wie") sein eigenstes Sein, d. h. seine mögliche Eigentlichkeit, wie es in Sein und Zeit heißen wird, offenbar wird. Es mag befremdend, weil sehr unvermittelt erscheinen, aber es ließen sich zweifellos Parallelen bei Heidegger finden für diese Idee, dass das Dasein im Vollzug sein ureigenstes Sein (gar sein besseres Sein) zu gewahren bekommt (aber nicht als Gegenstand). In Sein und Zeit wird diese Idee des eigensten Daseins oder der "Wahrheit der Existenz" nicht selten wiederkehren. 5) Eine "Öffnung" dieser Art kennzeichnet den weiteren Gang unseres Passus: "Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche 'da'. Sein - transitiv: das faktische Leben sein!" Dieser Textabschnitt scheint zunächst etwas einzuhämmern, was wir bereits wissen: Meine Faktizität ist nie Gegenstand, sondern "transitiv" nachzuvollziehen. Aber ein neuer Akzent ist doch hinzugekommen: Was das "Wie" eigentlich öffnet, ist "das jeweils mögliche da". Das klingt sehr ethisch: Im Wie meines Daseins öffnet sich der jeweils mögliche Spielraum meines "da", was ich also mit mir bzw. aus mir machen kann. Ein Imperativ ist also schwer überhörbar in dem Gebot mit Ausrufezeichen: "das faktische Leben sein!" Hier lässt sich sehr wohl eine et,hische Komponente (ich würde sogar sagen: Grundlage) an die Faktizitätsproblematik anschließen. Da das Sein des Daseins eines der Sorge ist, bedarf diese Sorge einer besonderen Sorge. Der Imperativ lautet hier ungefähr: Sorge dich um dich selbst, du, (vergessene) Selbstsorge, die du bist! 6) Die letzte Charakterisierung unseres Abschnittes betrifft auch diese Selbstsorge. Sie wird auch die Aufgabe der Hermeneutik nach sich ziehen. Heidegger schreibt: "Sein selbst nie möglicher Gegenstand eines Habens, sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt." Dass das Dasein nicht gegenständlich zu fassen ist, wissen wir bereits (obgleich Heidegger de facto - aber nolens volens - nichts anderes tut, als die Faktizität gegenständlich bzw. theoretisch fassen zu wollen). Aber es ist so, sagt Heidegger, weil oder "sofern es auf es selbst, das Sein" ankommt (Heidegger schreibt "das" Sein, meint aber offenbar "sein" Sein). Das führt am weitesten, weil diese Charakterisierung die alles bestimmende des Daseins in Sein und Zeit
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werden wird: das Sein, dem es in seinem Sein um sein eigenes Sein geht. Und der Sinn ist klar: Ich bin nie da als gleichgültiger Beobachter, sondern im Modus des Sorgens, der Bekümmertheit, ja der Selbstbekümmertheit. Warum fordert aber diese Faktizität eine Hermeneutik? Wie ist dieser Titel zu fassen? Heideggers erste Antwort ist zunächst pauschal und sehr allgemein: "Der Ausdruck Hermeneutik soll die einheitliche Weise des Einsatzes, Ansatzes, Zugehens, Befragens und Explizierens der Faktizität anzeigen" (GA 63, 9). Man könnte auch hier lange Ausführungen über die Bedeutung des Einsatzes, Ansatzes, Zugehens, Befragens und Explizierens anstellen, aber gewichtiger ist zweifelsohne das Verb "anzeigen", auch wenn es im Duktus des Satzes eher unterbetont erscheinen mag. Die Hermeneutik will die Faktizität "anzeigen" (und den Nebensinn von Anzeige als "öffentlicher Denunziation" soll man m.E. hier nicht ganz aus dem Auge verlieren, auch wenn er in der Forschung so gut wie nie hervorgehoben wird). Warum wird aber hier ausgerechnet der Titel "Hermeneutik" gewählt? Die einheitliche Weise des Auslegens der Faktizität bleibt ja eine etwas vage Bezeichnung. Heidegger gibt aber wesentliche Winke. Das Wort Hermeneutik wurde in der ursprünglichen Bedeutung von "Auslegung" gewählt, sagt Heidegger, "weil es - wenngleich grundsätzlich ungenügend - doch anzeigenderweise einige Momente betont, die in der Durchforschung der Faktizität wirksam sind" (GA 63, 15). Welche Momente? Heidegger erläutert sie sogleich und mit großem Nachdruck: "Im Hinblick auf ihren 'Gegenstand' [mit Anführungszeichen, da wir inzwischen gut wissen, dass das Dasein nie primär als Gegenstand zu fassen ist] zeigt die Hermeneutik als dessen prätendierte [die Vorsicht dieses Wortes sei hervorgehoben] Zugangsweise an, dass dieser sein Sein hat als [1] auslegungsfähiger und [2] -bedürftiger, dass es zu dessen Sein gehört, irgendwie [3] in Ausgelegtheit zu sein" (15). Ein wiederum geladener Satz, der aber den Vorgang der hermeneutischen Thematisierung der Faktizität in ihrem "Gegenstand" begründet sein lässt: Die Zugangsweise zur Faktizität ist eine hermeneutische, weil ihr Gegenstand von Hause aus ein hermeneutisches, ein ens hermeneuticum ist. Man wird vielleicht entgegnen, dass das eine nicht unbedingt aus dem anderen folge: aus dem Umstand nämlich, dass der Gegenstand "hermeneutisch" sei, folgt ja nicht unbedingt, dass die "beste" Zugangsweise auch "hermeneutisch" sein müsse. Aber Heidegger ist davon überzeugt und wird wohl darin eine der Pointen seiner Hermeneutik der Faktizität gesehen haben: Die (phi-
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losophierende) Zugangsweise geht selber vom Dasein aus, sie ist selber eine (Selbst-)Auslegung der Faktizität. Aber die wahre Pointe der Hermeneutik liegt darin, dass sie nicht nur vom Dasein ausgeht, sie soll auch für es entwickelt werden: Die Hermeneutik geht nicht nur aus dem Dasein aus, sie ist auch da um des Daseins willen. Sie will zum Dasein allererst führen. Das macht ihren "kämpferischen" oder junghegelianischen Geist aus, den Heidegger auch mit starken, dramatischen Worten zu Gehör bringt: "Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein" (GA 63, 15). In seinem lehrreichen Hermeneutikbuch hat Ben Vedder neuerdings ausgeführt, dass Heidegger dabei drei wichtige Momente für die Bedeutung der Hermeneutik herausstellt: das Zugänglichmachen, das Mitteilen und das Erforschen der Selbstentfremdung174 • Man könnte aber die Trias auch im Sinne einer Erläuterung lesen: Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, das heißt: ihm mitzuteilen und das heißt: der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzujagen. Die Frage möchte ich nicht entscheiden (das "Mitteilen" und das "Zugänglichmachen" hören sich jedenfalls sehr ähnlich an). Sicher ist auf jeden Fall, dass diese Hermeneutik Angriffscharakter hat. Sie möchte die Faktizität erschüttern,ja wachrufen. In der Hermeneutik bilde sich ja nach Heidegger "für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein" (ebd.). Ihr Telos bezeichnet sie auch bekanntlich als ein Wachsein des Daseins und, es ist zu betonen, des je eigenen Daseins, über sich selbst: "Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar hermeneutisch gefragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden" (GA 63, 16). Heidegger setzt dabei voraus, dass sich das Dasein meist verfehlt, wenn es den beruhigenden hergebrachten Interpretationen folgt. Dieses Selbstverfehlen, dieses "SichausdemWegegehen"175, kurzum dieses "Wegsein" des Daseins möchte die Hermeneutik der Faktizität "anzeigen" (wobei "anzeigen" sehr wohl seinen im Deutschen üblichen Sinn von "öffentlicher Bekanntmachung eines Unrechts" zurück gewinnen mag). Die Auslegungen, denen das Dasein dabei verfällt, sind schlichtweg zu destruieren, sagt kämpferisch
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Heidegger, sodass die Aufgabe der Hermeneutik nur als Destruktion nachzuvollziehen sei, wie es im Natorp-Bericht von 1922 heißt: "Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität sieht sich demnach, sofern sie der heutigen Situation durch die Auslegung zu einer radikalen Aneignungsmöglichkeit verhelfen will- und das in der Weise des konkrete Kategorien vorgebenden Aufmerksammachens -, darauf verwiesen, die überkommene und herrschende Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen aufzulockern und im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der Explikation vorzudringen. Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion. "176 So viel zur Hermeneutik der Faktizität. Wir halten also fest, dass diese Hermeneutik "das je eigene Dasein" zum Thema hat, um es ihm selbst zugänglich zu machen, damit es für sich selbst verstehend werde und so ein wurzelhaftes Wachsein entwickle. Kommen wir jetzt zur "zweiten" Hermeneutik Heideggers: 2. Die Hermeneutik des Daseins in "Sein und Zeit". Diese Hermeneutik ist im Prinzip die bekannteste, oder die bekanntere, sodass man sich hier vielleicht kürzer fassen kann. Sie stellt sich selbst in die Kontinuität der Hermeneutik der Faktizität, die damals (1927) freilich nicht greifbar war. Aber diese Kontinuität ist nicht reibungslos. Die Hermeneutik von Sein und Zeit - und gemeint ist hier die Hermeneutik, wie sie sich in SZ vorstellt, und dies vor allem in der (späteren) Einleitung zum Werk - charakterisiert sich nämlich durch zwei wesentliche, aber neue Momente im Vergleich zur Hermeneutik der Faktizität, aus der sie immer noch herkommt. Diese Differenzen sind also nicht überzubetonen, aber sie sind m. E. unverkennbar: 1) Während die frühere Hermeneutik des Dasein unmissverständlich "das je eigene Dasein" bzw. "je eigenes Dasein" zum Thema hatte (GA 63, 15, 16), also noch durchaus existentiell akzentuiert war 177 , scheint die Hermeneutik von Sein und Zeit eher das Dasein im Allgemeinen, in "existentialerer" Hinsicht anvisieren zu wollen. Wir werden es sogleich zu beobachten Anlass haben. 2) In Sein und Zeit wird ferner die Hermeneutik viel stärker Ga allererst) auf die Seinsfrage vereidigt, was in der frühen Vorlesung (trotz ihres Nebentitels "Ontologie") nicht recht zu bemerken war. Die Unterschiede sind hier fein, aber dennoch mit Entschiedenheit zu ziehen. Vom Sein war zwar in der frühen Vorlesung die Rede. Heidegger sagte ja, es sei Aufgabe der Hermeneutik, das je eigene Sein in seinem Seinscharakter zugänglich zu machen. Gemeint war aber
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das Sein des Daseins, das es als Vollzug (bzw. als Wie bzw. als mögliches Wachsein) zu bestimmen galt. Da war noch nicht die Rede davon, dass die Seinsfrage als solche, d. h. die (aristotelische) Frage nach dem Sinn von "Sein" für die Hermeneutik von entscheidender Bedeutung sei. In Sein und Zeit ist es aber so weit. Dieser Doppelwandel der Hermeneutik springt in die Augen bei der ersten Kennzeichnung der Hermeneutik in Sein und Zeit (37): "Der logos der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des hermeneuein, durch das dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnis [1] der eigentliche Sinn von Sein und [2] die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden. Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet. Sofern nun aber durch die Aufdeckung [1] des Sinnes des Seins und [2] der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont herausgestellt wird für jede weitere ontologische Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich 'Hermeneutik' im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung." Dieser Passus ist der gedrängten Seite entnommen, wo Heidegger bekanntlich vier Grundbedeutungen des Terminus "Hermeneutik" unterscheidet. Die erste sagt aber bereits alles: Die Hermeneutik kennzeichnet den l6gos der Phänomenologie, kraft dessen (oder deren) dem Dasein zweierlei "kundgegeben" wird: der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines Daseins. War in der früheren Hermeneutik die Rede davon, dass dem Dasein "der" eigentliche Sinn von Sein beigebracht werden sollte? Offenbar nicht. Bei der zweiten Charakterisierung möchte man vorsichtiger sein: Die frühere Hermeneutik interessierte sich sehr wohl für die "Grundstrukturen des Daseins", aber ihr Interesse galt doch entschiedener dem "je eigenen Dasein", als dies 1927 der Fall zu sein scheint. Diese neue Doppelrichtung der Hermeneutik in Sein und Zeit wird durch die zwei weiteren Grundbedeutungen des Terminus "Hermeneutik" unterstrichen. In ihrem 2. Sinne sei "Hermeneutik im Sinne einer Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung" zu fassen. In ihrem dritten Sinne habe die Hermeneutik den "philosophisch verstanden[,] primären Sinn einer Analytik der Existenzialität der Existenz" (SZ, 38). Der primäre philosophische Sinn der Hermeneutik sei der einer "Analytik der Existenzialität der Existenz" - eine schwerfällige,
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obzwar sehr zutreffende und wichtige Formulierung für SZ. Den Terminus "Analytik" hatte Heidegger früher m.W. so gut wie nicht verwendet, und er wird ihn auch bald nicht mehr verwenden. Vermutlich wurde er gewählt, weil er in der kantischen, aber auch in der aristotelischen Tradition so ehrenvoll war: Die Analytik war jeweils die grundsätzliche Lehre von der Wahrheit, von der aus die Logik der Unwahrheit zu bestimmen war. Bei Heidegger meint aber der offenbar im letzten Augenblick aufgenommene Terminus nicht viel mehr als eine Analyse der Existenzialität (der Zusatz "der Existenz" wirkt hier redundant). Was leistet diese Analyse? Sie soll in der Tat die Grundstrukturen der Existenz herausstellen, aber im Hinblick auf die später zu entfaltende Seinsfrage. Wie aber Heidegger die Seinsfrage mit dieser Herausstellung der Grundstrukturen des Daseins verbinden wollte, ist eine äußerst schwierige Frage, zumal Heidegger den dritten Abschnitt von Sein und Zeit zurückhielt, wo diese Verbindung vermutlich zur Erörterung gekommen wäre. Diese Verbindung ist jedoch für die Aufgabenstellung der Hermeneutik von Sein und Zeit, wie sie sich jedenfalls von der früheren Hermeneutik der Faktizität unterscheidet, ausschlaggebend. 3. Als dritte Hermeneutikkonzeption empfiehlt sich die Hermeneutik der Geschichte der Metaphysik, die ab den 30er Jahren immer mehr in den Vordergrund rückt. Der spätere Heidegger spricht zwar nicht mehr von Hermeneutik, aber seine Auseinandersetzung mit der Metaphysik stellt sich sehr wohl in die Kontinuität der früher skizzierten Hermeneutikkonzeption. Nur der in Kauf genommene Bruch mit dem Entwurf von Sein und Zeit ließ diese Kontinuität eine Zeit lang schwer sichtbar werden. Aber sie ist unverkennbar. Man kann sie auch an dem allerersten Satz von Sein und Zeit ablesen. Heidegger hatte doch festgestellt, dass die Seinsfrage "heute in Vergessenheit gekommen" sei, "obzwar unsere Zeit sich als Fortschritt anrechnet, die 'Metaphysik' wieder zu bejahen" (SZ, 2). Die hier in Anführungsstrichen auftretende Metaphysik meinte wohl die populäre Weltanschauungsphilosophie, die sich nach dem Weltkrieg verbreitete und von der sich Heidegger noch distanzieren wollte. 178 Entgegen dieser Populärmetaphysik wollte er die Seinsfrage viel entschiedener, und zwar vom Boden der Grundstrukturen des Daseins aus erneuern, ja wieder erwecken. So entstand die Hermeneutik von Sein und Zeit als Analytik der Existenzialität des Daseins. Sie zielte unmissverständlich darauf ab, die Seinsvergessenheit in der uneigentlichen Zeitlichkeit des Daseins zu verankern. Es galt also, die Seinsfrage im Dasein selber wachzu-
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rufen. Der spätere Heidegger entdeckt aber sehr bald, dass die Seinsvergessenheit viel vertrackter mit der Geschichte, ja mit der Verfassung der Metaphysik selbst zusammenhängt. Es ist die Metaphysik und damit unsere ganze abendländische Geschichte, die sich durch eine Seinsvergessenheit charakterisiere. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine bestimmte Auffassung des Seins als beständige Anwesenheit aus, die den Boden für eine Auffassung des Seienden als pure Verfügbarkeit bereitstelle. Diese "technische" Auffassung des Seienden bildet sozusagen den (hermeneutischen) Vorgriff der gesamten Metaphysik. Die Hermeneutik der Geschichte der Metaphysik möchte diesen Vorgriff zuallererst sichtbar machen und womöglich überwinden (bzw., wie es später heißt, verwinden, bzw., wie es noch später heißt, sich selbst überlassen). In dieser hermeneutischen Auseinandersetzung geht es tatsächlich um eine groß angelegte Auslegung der Geschichte der Metaphysik am Leitfaden der Seinsvergessenheit. Wie lässt sich von da aus der Ort der gadamerschen Hermeneutik bestimmen? Sie beruft sich zwar unmissverständlich auf "Heidegger", aber lehnt sie sich eher an die frühere Hermeneutik der Faktizität, an die Hermeneutik von Sein und Zeit oder an die spätere Hermeneutik der Geschichte der Metaphysik an? Eine schwer zu beantwortende Frage. Gewiss: Keiner der Hermeneutikentwürfe Heideggers ist an Gadamer spurlos vorbeigegangen: Gadamer spricht auch emphatisch von einer Hermeneutik der Faktizität, wie der frühe Heidegger; er spricht auch vom Zirkel des Verstehens, wie der Verfasser von Sein und Zeit; und seine Einsichten über die Geschichtlichkeit, die Kunstwahrheit und die Sprache gemahnen nicht selten an den späteren Heidegger. Nichtsdestoweniger erscheint es sehr gewagt, um nicht zu sagen: unmöglich, Gadamers Hermeneutikkonzeption mit einem der heideggerschen Konzepte genau zu verbinden. Nicht nur das: Auch wenn sie in Wahrheit und Methode noch sehr leise zum Klingen kam, liegt in Gadamers Hermeneutikkonzeption eine gewisse Abstandnahme von den hermeneutischen Entwürfen seines Lehrers. Wie ist nun ihr Ort im Hinblick auf Heidegger zu bestimmen? 1. Gadamer distanziert sich zunächst unmissverständlich von Heideggers Hermeneutik der Metaphysik - bzw. der Seins geschichte. Seit seinem Aufsatz von 1968 über "Heidegger und die Sprache der Metaphysik" (jetzt in GW 3,229-237 unter dem einfacheren Titel "Die Sprache der Metaphysik") hat er entschieden in Abrede ge-
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stellt, dass es so etwas wie eine Sprache der Metaphysik gebe. Damit stellt er auch in Frage, dass es ein Jenseits der Metaphysik geben könne. Negativ also: Sosehr man etliche Einsichten Gadamers auf den späten Heidegger zurückführen darf, so abwegig erscheint es, in Gadamers Hermeneutikkonzeption eine Hermeneutik der Geschichte der Metaphysik am Werke zu sehen, die im Hinblick auf einen neuen Anfang der Geschichte entwickelt wäre. 2) Von der Hermeneutikkonzeption von Sein und Zeit hat sich Gadamer aber auch distanziert, obgleich er sich auf die Lehre vom hermeneutischen Zirkel berief. Das zeigt sich besonders daran, dass Gadamer die heideggersche Seinsfrage nicht recht wieder aufgenommen hat (obwohl er selber einer ontologischen Wendung der Hermeneutik das Wort redete, die aber offenbar anders gemeint war). In der Hermeneutik Gadamers sollen also weder "der eigentliche Sinn von Sein" (SZ, 37) noch die "Grundstrukturen des Daseins" kundgegeben werden. Es kann auch nicht die Rede davon sein, dass Gadamer die Hermeneutik im Sinne "einer Analytik der Existentialität der Existenz" (SZ, 38) verstehe und praktiziere. Inzwischen ist ferner gut bezeugt, dass Gadamer in diesen Redewendungen eine zu einseitige Orientierung an Husserl und dem Sprachgebrauch der transzendentalen Philosophie bemängelte)79 3) Beruft sich dann Gadamer auf die frühere Hermeneutik der Faktizität? Das scheint der einzige übrig gebliebene Kandidat zu sein. Diese Kandidatur erhielt ja durch Gadamers spätere, aber auch frühere Berufung auf die Hermeneutik der Faktizität Rückenstärkung. Aber auch hier scheint Vorsicht geboten, erst recht, wenn man die AufgabensteIlung der früheren Faktizitätshermeneutik in Erwägung zieht. "Thema der hermeneutischen Untersuchung", schrieb der junge Heidegger, "ist je eigenes Dasein, und zwar hermeneutisch gefragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden" (GA 63, 16). Geht es der gadamerschen Hermeneutik um das "je eigene Dasein" in Hinsicht darauf, eine Wachheit seiner selbst zu entwickeln? Ist diese Redeweise Gadamer nicht zu existentiell? Hat ferner die Hermeneutik Gadamers "die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen" (GA 63, 15)? Diese nahezu ideologiekritische Charakterisierung passt auch nicht recht zur Hermeneutikkonzeption von Wahrheit und Methode. Bei Gadamer geht es offenbar um eine andere Idee von Hermeneutik als bei Heidegger, über die das Nachdenken allererst beginnen kann.
V. WAS HEISSTVERSTEHEN? VON HEIDEGGER ZU GADAMER Wir haben gesehen, dass es problematisch erscheint, Gadamer mit Heideggers Hermeneutikkonzeption zu identifizieren. Tatsächlich beruft sich Gadamer weniger auf Heideggers Hermeneutik- als auf seine Verstehenskonzeption. Aber auch hier wird Gadamer bei aller Nachfolge andere Akzente setzen als sein Lehrer. Gadamers Berufung auf Heidegger ist auch relativ vage: Heidegger soll gezeigt haben, dass das Verstehen "die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, das In-der-Weltsein" sei (WM 264 18°). Da dies in der Tat eine etwas vage Formulierung ist, möchte ich im Folgenden einige Bedeutungsstufen des Verstehens bei Heidegger und Gadamer unterscheiden, die uns helfen mögen, Gadamers besondere Auffassung des Verstehens und "der Hermeneutik besser zu verstehen. Ich fange mit der scheinbar einfachsten an, um mit der schwierigsten zu enden. 1. Verstehen als intellektuelles Erfassen
Man kann zunächst einmal das Verstehen mit einem intellektuellen Erfassen gleichsetzen. Es handelt sich dabei, wenn man will, um einen erkenntnismäßigen oder kognitiven Vorgang. Wenn man versteht, begreift man etwas, sei es, dass man etwas klarer sieht, etwa wenn eine dunkle Stelle einsichtig wird, sei es, dass man etwas in ein größeres Ganzes einordnen kann. Dies möchte ich die elementare oder kognitive Auffassung des Verstehens nennen, weil sie in der herkömmlichen Hermeneutik als selbstverständlich galt. So verstand beispielsweise Dilthey das Verstehen als das Verfahren, das allen verstehenden Geisteswissenschaften eigen ist: Im Verstehen wird ein Ausdruck auf ein Erlebnis zurückgeführt, das im Verstehen nacherlebt wird. Die Methodologie dieses Verstehens heißt auch selbstverständlich eine Hermeneutik. Dieses Verstehen steht durchaus in der Kontinuität des lateinischen intelligere, womit die geistige Auffassung eines Sinngebildes gemeint ist. Wie man dieses intelligere oder Verstehen des Genaueren konstruiert, ist hier sekundär, und Gadamer verdeutlicht es auch nicht. Nichtsdestoweniger ist es klar,
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dass diese übliche Auffassung des Verstehens bei ihm vorausgesetzt wird, wenn er etwa nach dem Sinn des Verstehens in den Geisteswissenschaften fragt. Er fragt sich insbesondere, ob eine Methodologie dieses Verstehens Herr werden kann. Denn das geistige Erfassen hat hier etwas Subtiles (die Tradition sprach bekanntlich hier von subtilitas intelligendi). Das liegt auch im Sinne dieses Verstehens, wenn man etwa von jemandem sagt, dass er etwas nicht versteht. Die schöne englische Wendung ist vertraut: "He doesn't get it" oder "I get it". Da sagt man im Deutschen: "Er kapiert's nicht." Aber auch das steckt im elementaren Verstehen drin: Man versteht etwas oder nicht, und alle Regeln, um das zustande zu bringen, kommen zu spät. 2. Verstehen als praktisches Können
Damit führt das elementare, kognitive Verstehen zu einer zweiten Stufe des Verstehens, wo Verstehen so viel wie "Können" heißt. Man kann hier von einem "praktischen Verstehen" sprechen. Heidegger hatte sich in diesem Zusammenhang auf die Formel "sich auf etwas verstehen" berufen (SZ, 143). Verstehen heißt einer Sache gewachsen sein, etwas können, mit etwas fertig werden können 181 . Dieses Können bezeichnet weniger eine Erkenntnis als eine praktische Fertigkeit, die aber auch eine Möglichkeit meiner selbst ins Spiel bringt: "ich" verstehe mich auf dieses oder jenes, ich "kann" es. So verstehe ich mich aufs Tanzen oder aufs Schwimmen, nicht weil ich da etwas weiß oder gute Methoden anwende, sondern weil ich es einfach kann. Man muss aber sehen, dass in diesem Können auch ein Stück Nichtkönnen steckt. Das steckt, glaube ich, bereits in der Formel "einer Sache gewachsen sein". Sie schließt ja ein, dass man der Sache gerade nur gewachsen ist, das es gerade ausreicht. Aber was hier "gekonnt" wird, kann jederzeit in ein Unvermögen umschlagen: Der beste Fußballspieler der Welt kann mal ein schlechtes Spiel spielen. Der beste Rhetoriker kann eines Tages stammeln, wie der Stammelnde mal auch auf eine glänzende Formulierung stoßen kann. Etwas können, etwas verstehen, impliziert ein Unvermögen, ein Nichtverstehen. Für Heidegger war das Nichtkönnen sogar das Primäre 182 : Die Geworfenheit ist so sehr die grundlegende Dimension, dass das Verstehen sich wie eine Eroberung, eine uns selbst überraschende Errungenschaft ausnimmt. Wer versteht, wirkt wie das Kind, das plötzlich merkt, dass es Rad fahren kann und vor lauter Ergriffenheit nicht sieht, dass es gefährlich schnell hin und her
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taumelt, und plötzlich merkt, dass es nie erfahren hat, wie man bremst. So verstehen wir, wenn wir etwas können. Wichtig für Heidegger ist dabei, dass das Verstehen ein reflexives und selbstreflektives ist. Es ist ein Sichverstehen auf etwas. Ich verstehe heißt: Ich kann etwas: ich kann Deutsch sprechen, Rad fahren usw. Man weiß auch, warum das für Heidegger besonders entscheidend war: Als ein Wesen, dem es immer in seinem Sein um dieses Sein geht, ist der Verstehende immer in dem impliziert, was er versteht. Bei Heidegger nimmt sich dieses Sichverstehen denkbar dramatisch aus: In jedem Verstehen wird eine Möglichkeit meiner selbst, ja ein Selbst- und Seinsverständnis ausgespielt, das der Auslegung harrt. Die Aufgabe der Auslegung liegt hier nämlich in der Herausstellung der dabei ins Spiel gesetzten Möglichkeiten. Die Hermeneutik ist für ihn nichts anderes als der Versuch der Auseinanderlegung dieser vorausgesetzten Verstehensmöglichkeiten. Gadamer scheut bekanntlich vor einer so dramatisch klingenden Hermeneutik der Existenz zurück, aber er setzt diesen heideggerschen Sinn des Verstehens als "sich auf etwas verstehen" durchaus voraus. Er hat ihn aber vor allem mithilfe von Aristoteles' Konzeption des praktischen Wissens (phr6nesis) herausgearbeitet. Hier ist die Selbst anwendung zentral, da das Wissen nicht auf eine theoretische Beherrschung, sondern auf eine spezifische Umsicht, die des gelingenden Handeins abzielt. Ich möchte auf dieses aristotelische Modell hier nicht ausführlicher eingehen,183 sondern an ihm nur festhalten, dass das "praktische Wissen" sehr wohl ein wichtiges Element des gadamerschen Verstehensbegriffs bleibt. Es ist aber nicht das einzige.
3. Das Verstehen als ein mediales Spiel: Das Beispiel des Kunstwerkes
Es springt in die Augen, dass Gadamer sich an einem anderen Muster als Heidegger orientiert, wenn er vom Verstehen handelt. Während Heidegger das praktische Können, das im "sich auf etwas verstehen" involviert ist, abhebt, geht Gadamer programmatisch von der Erfahrung der Kunst aus: Wer ein Kunstwerk versteht, lässt sich in ihr Spiel hineinziehen. So kommt dem Spielbegriff eine entscheidende Rolle zu in der gadamerschen Bestimmung des Verstehens. Aber inwiefern? Ein Spiel kann man zunächst als eine bloß "subjektive" und unverbindliche Tätigkeit betrachten. Ga-
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damer ist sich darüber im Klaren, und gerade deshalb ist für ihn der Ansatz bei dem Spielbegriff so ergiebig. Denn Gadamer möchte am Spielvorgang zeigen, dass der Spielende in Wahrheit in eine ihn übertreffende Wirklichkeit versetzt wird. Wer spielt, beugt sich nämlich der überragenden Wirklichkeit des Spieles und seiner Selbstständigkeit: Ebenso wie der Tennisspieler den Ball von anderswoher bekommt und zurückspielen, d. h. antworten muss, ebenso ordnet sich der Tänzer der Rhythmik der Musik unter, wie der Dirigent der Partitur folgt und derjenige, der ein Gedicht liest, dem Duktus der Verse gehorcht. In all dem spielt die "Subjektivität" des Spielers gewiss eine entscheidende Rolle: Es gibt kein Gedicht, ohne dass es rezitiert wird, ohne Interpretation also, wie es kein Tennismatch ohne Spieler oder keine Symphonie ohne Dirigenten und Musiker gibt. Aber die Interpretation steht hier ganz im Dienst einer "Sache": dem Gedicht, der Symphonie, dem Spiel. Und in diesem Spiel gibt es weniger Willkür, als man oft meinen möchte: Man kann nicht ein Gedicht oder eine Symphonie völlig willkürlich interpretieren (oder lesen). Man muss sich immer der höheren und verpflichtenden Wirklichkeit des Kunstwerkes beugen, obwohl es sie ohne Interpretation oder Verstehen nie gibt. Das Verstehen steht somit im Dienst der Sache, auch wenn sie den Verstehenden immer impliziert. Diesen Umstand hebt Gadamer hervor, indem er vom medialen Sinn des Spieles spricht. Gemeint ist die mediale Verbform im Griechischen. Neben der aktiven (lieben, tragen) und der passiven Verbform (geliebt, getragen werden) kennt das Griechische eine mittlere Form, die zwar eine grammatisch passive Form aufweist, nichtsdestoweniger eine Tätigkeit bezeichnet, die mit dem Subjekt geschieht. Die mediale Verbform pe{thomai bedeutet z. B. "gehorehen", polem6n po{esthai "Krieg führen" (bellum gerere) und paideuomai "erziehen". Kriegführen, gehorchen und erziehen sind für uns aktive Vorgänge, aber das Griechische ist hier etwas subtiler. Es erkennt, dass man es mit Vorgängen zu tun hat, die auch das Subjekt involvieren, und zwar in einem Sinn, der ans Passive grenzt: Wer einen Krieg führt, wird auch geführt. Ein politisch sehr inkorrektes Beispiel dafür ist die mediale Verbform gameomai, die "sich verheiraten" bedeutet, aber nur für die Frau ("sich verheiraten" ist für den griechischen Mann ein aktiver Vorgang: gameo): Wenn sich eine Frau verheiratet, ist der Vorgang weder rein aktiv, noch rein passiv; es ist ein medialer Vorgang: Etwas geschieht mit einer. Warum ist dies für Gadamers Verstehensbegriff zentral? Es ist er-
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giebig, weil für Gadamer das Verstehen selber als ein medialer Vorgang zu fassen ist. Wer versteht, ist nämlich jemand, der sich auf mediale Weise in ein Spiel hereinziehen lässt: "Das ist der Punkt, an dem sich die Bestimmung des Spieles als eines medialen Vorgangs in seiner Wichtigkeit erweist. Wir hatten gesehen, dass das Spiel nicht im Bewusstsein oder Verhalten der Spielenden sein Sein hat, sondern diesen im Gegenteil in seinen Bereich hineinzieht und mit seinem Geist erfüllt. Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit" (WM, GW 1, 115). Spielen ist nach Gadamer immer ein Gespieltwerden. So ergeht es uns, wenn wir verstehen: Wir sind dabei weniger diejenigen, die fangen, als diejenigen, die im zweifachen medialen Sinn gefangen werden: 1) Wer versteht, wird immer in das, was er versteht, hineingezogen; 2) nichtsdestoweniger ist es ein den Verstehenden übersteigender Sinn, der einen da gefangen nimmt: Ein Gedicht, ein Ton, ein Bild fesselt einen, aber zugleich so, dass es nur da ist, wenn es einen fesselt. Man ermisst hier sowohl die Nähe als auch die Distanz gegenüber Heidegger. Das Verstehen charakterisiert weiterhin ein grundlegendes Können meines Seins, aber das Musterbeispiel dafür findet Gadamer pointiert in der Erfahrung der Kunst und des Kunstverstehens: Ich bleibe da immer im Spiele, aber so, dass ich von dem, was mir aufgeht, gefangen genommen wird. Es ist ferner eine Wahrheit, die einem hier aufgeht, die auf anderem Wege unerreichbar wäre, denn Kunst widersetzt sich entschieden, wie Gadamer oft betont, der Übersetzung in ein anderes Medium. Und diese Wahrheit ist nicht relativ oder willkürlich, auch wenn sie immer auf eine Interpretation, d. h. einen Vollzug angewiesen ist. Eine weitere Innovation Heidegger gegenüber liegt auch in einem vierten Moment, in der Auffassung des Verstehens von der Sprache her. 4. Verstehen als sprachliche Verständigung
Im Verstehen liegen bisher drei unabdingbare Momente, die sich gegenseitig erhellen: 1. ein elementares, kognitives Element, 2. ein praktisches Element, aber auch 3. ein mediales Element. Alle drei Momente ergänzen sich, sofern das Erkennen hier ein mediales Können bedeutet und das Können seinerseits ein mediales Erkennen einschließt. Ein viertes Element kommt aber bei Gadamer hinzu. In Wahrheit und Methode hebt Gadamer besonders hervor,
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dass "Verstehen" im Deutschen auch die Bedeutung von "Sichverstehen" im Sinne von Sichverständigen hat. "Man versteht sich" heißt so viel wie Einverstandensein, Übereinkommen. Das Verstehen oder Sichverstehen wird damit an die Idee der Verständigung angelehnt. Aber wie bezieht sich das auf das Verstehen, das uns bislang beschäftigt hat? Ist es dasselbe, einen Text zu verstehen (im Sinne des elementar kognitiven Verstehens), einer Sache gewachsen zu sein (im Sinne des praktischen Verstehens), sich in ein Spiel hineinziehen zu lassen und sich miteinander zu verständigen? Man kann zur Not diese Verschmelzung bei den drei ersten Bedeutungen nachvollziehen (sofern Verstehen Können und Gespieltwerden heißt). Die Familienähnlichkeit ist bei dem vierten Moment der Verständigung alles andere als evident. Warum orientiert sich Gadamer auch, ja bevorzugt an dem Modell der Verständigung, wenn er von Verstehen spricht? Das Modell der Verständigung legt sich zunächst nahe, weil eine Verständigung in der Regel auf sprachlichem Wege erfolgt. Verstehen ist immer für Gadamer: eine Sprache finden für ... Ich verstehe jemanden oder eine Sache, wenn ich sie sprachlich nachvollziehen kann. An diese Evidenz erinnert die Ansetzung des Verstehens als Verständigung bei Gadamer. Diese sprachliche Angewiesenheit fehlte in dem früheren kognitiven, aber auch in dem heideggerschen Begriff des Verstehens, wie es in Sein und Zeit angesetzt war. Das Selbstverstehen war 1927 nicht wesentlich als ein sprachliches Phänomen charakterisiert worden. Es gibt aber nach Gadamer kein Verstehen ohne Orientierung auf eine mögliche Sprachlichkeit. Hierin weiß sich Gadamer mit der älteren Tradition der Hermeneutik solidarisch, die das intelligere immer schon mit dem Problem des (wie es meist hieß: "grammatischen") Sprachverstehens verband, wie es besonders im Falle der dunklen Stellen (obscura, ambigua) herausgefordert war. Aber das Verständigungsmodell geht über dieses noch kognitiv angesetzte Modell des intelligere hinaus, indem es außer der sprachlichen Natur auch den dialogischen Charakter des Verstehens in den Vordergrund rückt. Das Verstehen ist nicht bloß ein Erkennen oder ein praktisches Können, das monologisch verfährt. Es setzt die Anrede durch den anderen voraus: Das Verstehen ist immer zugleich eine Antwort, ein Antwortenkönnen. In Wahrheit und Methode sagt daher Gadamer, dass die Sprache sowohl den hermeneutischen Vollzug (also das Verstehen) als auch den hermeneutischen Gegenstand (das, was man zu verstehen sucht) be-
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stimmt (ja: be-stimmt). Verstehen heißt: eine Sprache suchen für etwas. Dieses "etwas" lässt sich aber wiederum nur sprachlich nachvollziehen. "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." Das Verständnis dieser Grundthese über das Verstehen erfordert ein eigenes Kapitel.
VI. WAS HEISST "SEIN, DAS VERSTANDEN WERDEN KANN, IST SPRACHE"? In den letzten fünfzehn Jahren hat sich Hans-Georg Gadamer besonders intensiv mit dem Problem der Grenzen der Sprache auseinander gesetzt. Ein Aufsatz aus dem Jahre 1985 trug bereits den Titel "Grenzen der Sprache". Er wurde 1993 im 8. Band seiner Gesammelten Werke mit weiteren Texten in einen unter dem Titel "An den Grenzen der Sprache" stehenden Abschnitt wieder aufgenommen. Im 10. und letzten Band seiner Gesammelten Werke, der 1995 erschien, verstieg sich Gadamer sogar zu der Äußerung, dass die Erfahrung der Grenzen der Sprache die fundamentalste seiner Hermeneutik sei: "Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine hermeneutische Philosophie), dass wir nie ganz sagen können, was wir sagen möchten. "184 Das Überraschende an diesem Ausspruch ist, dass er einer der Grundthesen, wenn nicht der Grundthese des Hauptwerkes Wahrheit und Methode von 1960 zu widersprechen scheint, nach der das Universum der Sprache so gut wie grenzenlos sei. 1960 schien Gadamer tatsächlich die Universalität der Hermeneutik an die Grenzenlosigkeit des sprachlichen Ausdrucks zu binden. In Wahrheit und Methode beharrte ja Gadamer auf der wesentlichen Sprachlichkeit allen Denkens und Verstehens, als er die "Universalität der Hermeneutik" unmissverständlich darin sah, dass "Sprache alle Einreden gegen ihre Zuständigkeit" überholen und damit "mit der Universalität der Vernunft Schritt" halten könne (WuM, GW, Bd. I, 405). Die wirkungsvollsten Infragestellungen des Universalitätsanspruches der Hermeneutik, insbesondere die von Jürgen Habermas, bestanden in der Hauptsache darin, an die Grenzen der Sprache zu erinnern. Sie scheinen jedoch bei dem späten Gadamer voll berücksichtigt, ja zum Grundsatz (!) der Hermeneutik erhoben zu werden. Wie lässt sich diese Wende, um nicht zu sagen Kehre, verstehen? Gab es eine Wende, und warum? Ich möchte diese Wende als eine Akzentverschiebung deuten, nicht weil mir unbedingt daran liegt, Gadamer eine entgegen kommende Interpretation widerfahren zu lassen, sondern weil mir just die Akzentverschiebung im Stande erscheint, die Kohärenz und die
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Spezifizität der hermeneutischen Sprachkonzeption hervortreten zu lassen. Dieselbe Grundeinsicht erscheint mir nämlich im Spiele bei der "frühen" Betonung der Universalität der Sprachlichkeit wie bei der späten Erinnerung an die Grenzen der Sprache. Um das zu zeigen, möchte ich im Folgenden den Sinn der sprachlichen Universalität in Wahrheit und Methode kurz ins Gedächtnis rufen, um von da aus die Konsequenz zu verstehen, mit der Gadamer in neueren Essays eher die Erfahrung der Grenzen der Sprache in den Vordergrund zu rücken neigte. Die These von Wahrheit und Methode über die sprachliche Universalität fand bekanntlich ihren prägnantesten Ausdruck in dem berühmt gewordenen Ausspruch: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." Wie ist dieser Satz zu verstehen? Er besteht ja aus den geläufigsten Ausdrücken (zumindest für Philosophen): Sein, Verstehen, Sprache. Lässt man den Relativsatz zunächst beiseite, dann behauptet er einfach: "Sein ist Sprache." An sich wäre dieser Satz nicht vielsagend bzw. schlichtweg widersinnig. Es scheint ja nicht zuzutreffen, dass "Sein" schlechthin "Sprache" ist. Jeder Positivist vom Dienst könnte dem entgegensetzen, dass es doch Seiendes auf der Schattenseite des Mondes (oder eines noch weit entlegeneren Himmelskörpers) gebe, das weder gesehen noch verstanden wird, noch je seine sprachliche Formulierung gefunden habe, das es aber dennoch "gibt". Ebenso, wird er weiter ausführen, hätte es vermutlich Seiendes im Universum gegebe'n, wenn es sprachliche Wesen wie uns nie gegeben hätte, und voraussichtlich wird etwas weiterbestehen, nachdem sich sprachliche Wesen aus der Perfektion ihrer Technik heraus ausgemerzt haben werden. Von dieser Perspektive aus wäre der Ausspruch "Sein ist Sprache" eher sinnwidrig, allenfalls sehr vermessen. Zur Not könnte man ihm einen philosophischen Sinn abgewinnen, wenn man ihn etwa im Sinne Heideggers verstünde. "Sein ist Sprache" ist ja ein sinnvoller Gedanke für Heidegger, sofern allein der Mensch als sprachliches Wesen Zugang zum "Sein" hat, d.h. "das Wunder aller Wunder" erfahren kann, dass Seiendes "ist", im betonten, "aufgehenden" Sinne des Wortes: Es "gibt" Sein, und dieser Seins aufgang wird im Wort aufgefangen. Dieser heideggersche Sinn ist dem gadamerschen Diktum wohl nicht ganz fremd, aber die Formulierung von Wahrheit und Methode legt doch den Akzent anderswo: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Also nicht jegliches "Sein" ist Sprache, sondern dasjenige Sein, das verstanden werden kann. Wie soll man diesen Relativ-
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satz verstehen? Er ist ja ausschlaggebend, soll der gadamersche Satz weder widersinnig noch im rein heideggerschen Sinne auszulegen sein. Ein Relativsatz kann grammatisch auf zweierlei Weise bestimmend sein: Er kann entweder das Subjekt, auf das er sich bezieht, in einem wesentlichen Sinne bestimmen und einschränken (wenn ich z. B. sage: Der Glaube, der nicht wirkt, ist nicht wahrhaftig: Die Rede ist nicht vom Glauben im Allgemeinen, sondern vom Glauben, der nicht wirkt); der Relativsatz kann aber auch nur das Subjekt, auf das er sich bezieht, in einem für das Verständnis des Satzes nicht wesentlichen Sinne erläutern oder explizieren (etwa im Satz: Platon, der Gegenstand meiner gestrigen Vorlesung war, ist ein großer Philosoph; in diesem Beispiel könnte der Relativsatz ohne großen Schaden für das Verständnis wegfallen). Im ersten Beispiel spricht man von einem bestimmenden Relativsatz, im zweiten von einem erläuternden oder explizierenden. Der banale Unterschied wird im Deutschen nicht durch besondere Kennzeichnen markiert. Er wird es aber in anderen Sprachen. Im Französischen wie im Italienischen wird in der Regel ein nur erläuternder Relativsatz von Kommata umklammert (da er für den Sinn nicht unabdingbar ist). Im Englischen verwendet man darüber hinaus zwei verschiedene Relativpronomina, um den Status des Relativsatzes zu markieren (obwohl der Gebrauch lehrt, dass dies wenig beachtet wird): Das Relativpronomen im bestimmenden Relativsatz (restrictive clause im Englischen) wäre "that", dasjenige im erläuternden Relativsatz "who" oder "whom" bzw. "which" für eine Sache. Wie ist der Relativsatz in Gadamers Diktum zu lesen: im bestimmenden oder im erläuternden Sinne? Soll der Satz auf Englisch "Being that can be understood is language" (bestimmend) oder "Being which can be understood is language" (explizierend) heißen? Außer Zweifel scheint mir, dass er im ersten Sinne zu verstehen ist, und so wurde er meist auf Englisch übersetzt, denn ansonsten würde er auf die Allgemeinheit hinauslaufen: "Sein ist Sprache", was widersinnig oder nur in einem heideggerschen Sinne sinnvoll wäre. Der Relativsatz schränkt also hier die Extension des Subjektes ein. Der Satz bedeutet also nicht, dass Sein schlechthin Sprache ist185, sondern nur das Sein, das verstanden werden kann. Wie ist dies wiederum zu verstehen? Es meint, wie der Kontext des Satzes auch lehrt, dass das verstandene Sein notwendig sprachlichen Charakter hat (wohingegen das nicht verstandene Sein nicht Sprache ist). Mit anderen Worten handelt es sich um eine These
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über den wesentlich sprachlichen Charakter unseres Verstehens. Gadamers Ausspruch stellt also nicht eine "ontologische" These über das Sein bzw. das Sein an sich (das von Hause aus sprachlich verfasst wäre), sondern eine These über unser Verstehen auf, nämlich die, dass das menschliche Verstehen in einem notwendigen und ermöglichenden Sinne auf Sprachlichkeit angewiesen ist. Die Zielrichtung der gadamerschen Argumentation in Wahrheit und Methode ist für das Verständnis besonders zu beachten: Polemisiert wird dort gegen eine Auffassung, derzufolge die sprachliche Formulierung erst nach einem geistigen oder intellektuellen Akt erfolgen würde, also gegen eine "nominalistisch" zu nennende Sprachauffassung, die Gadamer in Wahrheit und Methode auf Platon zurückführt: Zuerst gäbe es z. B. die Vorstellung von (bzw. den Wunsch oder den Appetit danach) einem Apfelkuchen und erst in einem zweiten Schritt das Wort "Apfelkuchen" (bzw. "apple pie", je nach der "Konvention", die aber an dem "Gedanken" nichts ändern würde). So ist es nicht, entgegnet Gadamer: Wort und Denken (bzw. der sinnhafte Vollzug) erfolgen vielmehr gleichzeitig186 : Wenn ich Appetit danach habe, habe ich gleichsam bereits das Wort Apfelkuchen auf der Zunge. Ohne dieses Wort bzw. diese Richtung auf das Wort wäre nach Gadamer die Vorstellung eines Apfelkuchens unnachvollziehbar. Gadamers Grundidee ist also die, dass es kein Verstehen ohne diese Richtung auf einen sprachlichen Nachvollzug gibt. Man könnte hier genauer von einer Verschmelzung zwischen Verstehen und Sprache sprechen: Man versteht nur, soweit man etwas in Worte (bzw. in Sprachlichkeit187 ) fassen kann. Stimmt das aber? Wie steht es nämlich, wenn jemand etwa sagt: "Ich kann das nicht in Worte fassen"? Wird nicht dabei vorausgesetzt, dass man es sehr wohl erlebt, fühlt und insofern versteht, aber eben nicht sprachlich ausdrücken könne? Hierin meldet sich die Grunderfahrung der Grenzen der Sprache. Wie wir eingangs sahen, wurde sie vom späteren Gadamer sehr wohl in Rechnung gestellt und sogar zum Prinzip seiner Philosophie erhoben: "Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine hermeneutische Philosophie), dass wir nie ganz sagen können, was wir sagen möchten." Vermutlich könnte aber dieser Satz in Wahrheit und Methode nicht stehen, das viel eher darauf zu bestehen scheint, dass man doch immer sagen kann, was man sagen möchte bzw. was man versteht. Wie ist die Wende bzw. Akzentverschiebung zu verstehen?
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In Wahrheit sind beide Sichten in einer wichtigen und wesentlichen Hinsicht nicht nur kompatibel, sie ergänzen einander. Denn: Was man nicht sagen oder in Worte fassen kann, ist immer das, was man sagen möchte und müsste, aber eben nicht kann, weil einem die Worte fehlen. Worte können indes nur fehlen, weil man nach ihnen sucht, sofern man zu verstehen strebt. Das gilt auch von allen Gesichtern des Unsagbaren: Das Unsagbare - auch das Unsäglicheist immer I1ur unaussagbar, weil keine Worte all dem gewachsen sind, was auszusagen wäre. Die spätere Akzentsetzung der Hermeneutik setzt also sehr wohl die frühere Einsicht voraus, nach der das Verstehen wesentlich auf Sprache (bzw. Sprachlichkeit) ausgerichtet ist. Neu - und vermutlich auch Folge der Debatten, die die Hermeneutik ausgelöst hat, u. a. die mit Derrida - ist allerdings die Hervorhebung der Grenzen des jeweiligen sprachlichen Ausdrucks. Der sprachliche Ausdruck ist aber nicht begrenzt im Vergleich mit einem intellektuellen Verstehen, das die Sache viel adäquater erfasst und an der Grenze des sprachlichen Mediums keinen Anteil hätte. Ein solches Verstehen ohne Sprachlichkeit gibt es nach Gadamer weiterhin nicht. Der sprachliche Ausdruck ist begrenzt, weil jedes Verstehen von Grund aus, weil sprachlich, begrenzt ist, sofern es immer nur einen Ausschnitt und einen Aspekt des Auszusagenden ausspricht. In dieser "späten" Sicht oder Betonung bleibt also der Vorrang der Sprachlichkeit für das Verstehen durchaus aufrechterhalten. Der spätere Gadamer bleibt insofern seiner früheren Grundeinsicht treu. Der neuere Akzent auf den Grenzen der Sprache verweist seinerseits nicht auf ein Jenseits der Sprachlichkeit, das als solches dem Verstehen erschlossen wäre. Was jenseits des Gesagten liegt, bleibt immer ein zu Sagendes und kann nur als solches erraten werden. Der späte Gadamer betont aber hier, wie selten das uns gelingt, denn selbst das, was wir sprachlich zu formulieren vermögen, bleibt ungemein dürftig. Ein Ungenügen haftet ja fast immer dem Gesagten an. Kein Wort schöpft das innere Wort ganz aus. Dieses innere Wort ist dasjenige, das wir immer herauszustammeln versuchen. Wir verfallen dabei aber meist auf die gängigsten und klischeehaften Schablonen der Verständlichkeit, die oft genug eine scheinhafte ist (und die Heidegger treffend als "Gerede" apostrophierte). Dieses "innere" Wort, das weder diesseits noch jenseits der Sprache, sondern in ihr liegt, ist gleichsam die Sprache, die die Sprache - über das Gerede und das Geredete hinaus - ständig sucht und deren
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Spur sie ist. Darin liegt die Grenze der Sprache, aber ebenso sehr die Universalität der Sprachlichkeit für die Hermeneutik, die diese Spannung zwischen dem geäußerten und dem inneren Wort zu denken versucht.
VII. DIE WEISHEIT DES STAMMELNS Die Seele seiner Hermeneutik, hat Hans-Georg Gadamer in den letzten Jahren immer wieder betont, bestehe darin, dass der andere Recht haben könnte. Die Hermeneutik sei gewissermaßen die Kunst, Unrecht haben zu können. Sie erbringe sozusagen die theoretische Rechtfertigung für Kierkegaards Ausspruch am Ende von "Entweder-Oder", "Über das Tröstliche an dem Gedanken, gegen Gott immer im Unrecht zu sein". Der Mensch kann getrost irren und von der Erfahrung weiter lernen. Gefährlich wird es nur, wenn er dies vergisst und sich närrisch auf seine Vorurteile versteift. Deshalb spielt der Dialog, die Konfrontation mit der Andersheit, eine so wesentliche Rolle für die Hermeneutik. Allein im Gespräch kann es uns gelingen, über die Platitüde unserer beschränkten Vormeinungen hinauszugehen. Die Hermeneutik entpuppt sich damit als eine "Diskursethik" , aber gerade weil es für sie keine Letztbegründung oder kein endgültiges Wort gibt. Dies ist aber eine Einsicht, die sich Gadamer erst langsam gegen die ihn prägenden Autoritäten erkämpfen musste. In seinen autobiographischen Schriften, die in diesem Sinne philosophisch ernst genommen werden wollen, schildert Gadamer seine Begegnungen mit Menschen, die auf ihn den größten Eindruck, ja den größten Druck ausgeübt haben. Zwei scheinen alle anderen überragt zu haben: sein Vater Johannes Gadamer (1867-1928) und Martin Heidegger (1889-1976). Auch ohne irgend einer wohlfeilen Vaterfigurentheorie nachzuhängen, muss doch auffallen, wie oft und mit welcher Konsistenz Gadamer auf seinen Vater zu sprechen kommt. Der Kontext ist in der Tat stets derselbe: Immer wieder erfährt man, wie sehr sein Vater seine Wendung zu den "Schwätzprofessoren" (sprich: den Kunst- und Geisteswissenschaftlern) missbilligte. Eine hohe Autorität im Bereich der pharmazeutischen Chemie, der auch Rektor der Marburger Universität war, als der junge Gadamer dort seinen Doktor machte, soll Johannes Gadamer die N aturwissenschaften für "die einzig redlichen Wissenschaften" gehalten haben.1 88 Er muss "auf mannigfache Weise" versucht haben, seinen Sohn für die Naturwissenschaften zu interessieren, aber ohne Erfolg. "Zeit seines Lebens", erinnert sich wehmütig Gadamer, blieb er "recht unzufrieden mit mir" .
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In dieser Situation ist es kaum verwunderlich, dass Gadamers spät entwickelte hermeneutische Philosophie zum Teil darin aufgehen sollte, den Wahrheits anspruch geisteswissenschaftlicher Erkenntnis in ihrem Eigenrecht zu verteidigen. Dies war jedenfalls der Ausgangspunkt seines Hauptwerkes Wahrheit und Methode (1960). Gadamers Parteinahme war dabei offenkundig auch eine Rechtfertigung des eigenen Lebensweges. Selbst wenn der Weg in die Geisteswissenschaften, aber auch in die Erfahrungswelt der Kunst als eine Art Rebellion gegen das hautnah erlebte Diktat erscheinen mag, erhält sich doch etwas von diesem Druck in dem Bedürfnis, den Wahrheitsanspruch der Geisteswissenschaften theoretisch zu rechtfertigen. Der Rechtfertigungszwang ist ja mit dem Methodengedanken aufs Innigste verknüpft. Deshalb ist es ein Missverständnis, auch wenn dies gewissen Methodologien gelegen kommt, die Hermeneutik in einem Gegensatz zur wissenschaftlichen Rationalität zu verfestigen. Die Grundforderungen der modernen Wissenschaft gelten auch für die Hermeneutik. Sie sind ihr aber so evident und prägen so sehr das allgemeine Bewusstsein, dass sie es für notwendig hält, an vergessene Bedingungen des Wissens zu erinnern, die nicht in Methodologie aufgehen,189 weil sie mit der rhetorischen und traditionsverpflichteten Natur unseres Wissens zusammenhängen. Die sich über fünfzig Jahre erstreckende Begegnung mit Heidegger ist natürlich komplexer, weil philosophischer. Dennoch fallen einige Symmetrien auf. Auch von seiner Beziehung zu seinem Lehrer hat Gadamer in zahlreichen Studien Rechenschaft abzulegen versucht, die oft auch noch nach Heideggers Tod geschrieben wurden. Dass Heidegger eine nahezu dämonische Wirkung auf seine Zuhörer hatte, ist von verschiedenen Seiten aus bezeugt und anhand der jetzt erscheinenden früheren Vorlesungen ein Stück weit nachzuvollziehen. Gadamer fiel zunächst vollkommen unter ihren Bann. Er hörte Heideggers Namen zum ersten Mal in München in einem Seminar von Moritz Geiger vom Sommersemester 1921. Später erreichten ihn in Marburg immer häufiger Berichte von Freiburger Studenten über die unerhörte Kraft dieses "heimlichen Königs" der deutschen Philosophie, wie Hannah Arendt ihren persönlichen Eindruck formulierte. Den Ausschlag für Gadamers Pilgerfahrt nach Freiburg im Jahre 1923 gab schließlich jener berühmte, inzwischen erschienene Bericht, den Heidegger auf Bitte von Paul Natorp über seine Aristoteles-Interpretationen schnell zu Papier gebracht hatte. Er wirkte auf Gadamer "wie das Getroffenwerden von einem elek-
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trischen Schlage". Nicht zufällig wurde er bei der Lektüre an Verse von Stefan George erinnert,19o Gadamers Anhänglichkeit für die Dichtung Georges, die er schon als Gymnasiast entwickelt hatte,l91 hat damit den Boden für seine Rezeption Heideggers bereitet. Überhaupt muss für Gadamer das Jahr 1923 ein Schicksalsjahr gewesen sein. Es war zunächst eine Zeit der Rekonvaleszenz nach der schweren Polioerkrankung, die ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Auch abgesehen von der politischen Krise mit der Besetzung des Ruhrgebiets war es das Jahr der tiefsten Wirtschaftskrise in Deutschland, von der man sich heute kaum Vorstellungen machen kann (ein äußeres Indiz nur: Im Juli 1923 hatte ein US-Dollar einen Wert von 353412 Mark; im August waren es 4620455 Mark; im Oktober 25 Milliarden und am 5. November, dem Tag der Währungsreform, 4 Trillionen),192 Diese Krise brachte Gadamer jedoch ein halbes Glück: Rekonvaleszent, vollkommen mittellos und frisch verheiratet, wurde Gadamer von Heidegger eingeladen, in seiner kleinen Hütte in Todnauberg zu wohnen. Sechs intensive, dem zwangslosen Austausch und der Aristoteles-Interpretation gewidmete Wochen verbrachte er in der unmittelbarsten Nähe seines Lehrers, der selber in einer der produktivsten Phasen seines Schaffens war. Diese Begegnungen bildeten, wie sich Gadamer später erinnerte, so etwas wie seine "erste praktische Einführung in die Universalität der Hermeneutik"193. Als Heidegger ein Jahr darauf (Anfang Dezember 1924) seinen Vortrag über "Dasein und Wahrsein nach Aristoteles" vor verschiedenen Gruppen der Kant-Gesellschaft im Rheinland und im Ruhrgebiet hielt, wollte er sich von seinem Schüler Gadamer begleiten lassen, der nach jedem Vortrag Diskussionsabende abhalten sollte,194 doch kam die Reise nicht zustande. Die Phronesisinterpretation, die Heidegger damals in Marburg (Wintersemester 1924/25) hielt, ist neuerdings im Band 19 seiner Gesamtausgabe nachzulesen. Über Jahre hinweg war aber Gadamer ihr einziger Anwalt gewesen. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass seine Abhandlung über "Praktisches Wissen" (1930), die selber bis 1985 unveröffentlicht blieb, auf diese frühen Diskussionen um den Wahrheitsanspruch der Phronesis zurückgeht. So massiv die Faszination für Heideggers befreienden Neuansatz war, empfand Gadamer das Bedürfnis, auch hier eine gewisse Abstandnahme zu gewinnen. Teils auf Heideggers Anregung hin, teils um ihr zu entkommen, entschloss sich Gadamer zum Studium der klassischen Philosophie, das er vor allem bei Paul Friedländer absolvierte. Friedländer stand dem George-Kreis nahe, dem sich Gada-
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mer stets verbunden fühlte. 195 Folgt man Gadamers Selbstzeugnissen, ist es gerade auf diesem Gebiet der Altphilologie, dass ihm die Emanzipation von seinem Lehrer langsam gelang. Umso intensiver pflegte er in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten seine Studien zur griechischen Philosophie. Allein in diesem Bereich (sowie dem der Ästhetik) konnte er auf Jahre hinaus als Lehrer tätig werden und damit seine Autonomie behaupten. Auf allen anderen Feldern, bis zur Spätreife von Wahrheit und Methode (das man aber langsam versucht ist, zu Gadamers "Frühwerk" zu zählen), plagte ihn immer "das verdammte Gefühl, Heidegger gucke [ihm] über die Schulter"196. Die anderen bedeutenden HeideggerSchüler, die in Marburg lehrten, Gerhard Krüger und Karl Löwith, hatten viel früher ihre Distanz zu ihrem Lehrer deutlich gemacht. Gadamers langes Schweigen und die eigene Lehrtätigkeit schafften jedoch die nötige Distanz. In Wahrheit und Methode gibt es wohl keine einzige Zeile, an der sich Gadamer expressis verbis irgendeine "Heidegger-Kritik" gestatten würde. Dennoch ist die Differenz überall mit Händen zu greifen. Es ist nicht nur so, dass die Seinsfrage und die mit ihr einhergehende Überwindung der Metaphysik deutlich zurücktreten. Auch dort, wo sich GadameJ; Einsichten des späteren Heidegger über die Kunst, die Geschichte oder die Sprachlichkeit (der bekannten Dreiteilung von Wahrheit und Methode folgend) anzueignen scheint, tut er es, indem er sich unbeirrt weiterhin auf Autoren beruft, die gerade für den jungen Heidegger bestimmend waren, von denen sich aber der spätere Heidegger distanziert hatte, als er vor der inzwischen als Konsequenz der metaphysischen Seinsvergessenheit umgedeuteten Modernität seines eigenen Frühwerks zurückschrak: Dilthey, Kierkegaard, Augustin und den Aristoteles der praktischen Philosophie. Platon, nach Heidegger der Begründer der Metaphysik, erscheint bei Gadamer als der noch sokratische Meister des Gesprächs, und Hegel, der die metaphysische Seinsvergessenheit auf die Spitze getrieben haben soll, als der Vordenker der hermeneutischen Erfahrung, die immer die Erfahrung der je eigenen Endlichkeit ist. Die Tradition des Humanismus, die Heidegger in seinem berühmten Brief von 1946 zur Metaphysik und zum Wesen der Technik zuordnete, rehabilitierte Gadamer gleich zu Beginn von Wahrheit und Methode, um ihre Widerstandskräfte gegen das rein technisch-methodische Denken neu einzusetzen.1 97 Es ist somit ein anderes Verhältnis zur Tradition, das Gadamer vom Boden der ins Dialogische gewendeten Faktizitätshermeneutik aus zutage fördert. Gadamers erste öffentliche Ankündigung seines
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hermeneutischen Programms verband sich aber doch mit einer Heidegger-Kritik. Sie erfolgte, soweit man (zurück)sehen kann, in einer kurzen Ansprache am 27. Mai 1951 anlässlich der Wahl in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. In dieser knapp zweiseitigen Rede fasst Gadamer seine früheren Studien, aber auch sein künftiges Forschungsprogramm zusammen. Sein Lehrer Heidegger sei zwar "ein Hörender wie seit Hegel keiner da gewesen war", aber auch, wie Hegel selbst, "ein von der Macht seines eigenen Denkens ständig zum Überhören der eigenen Stimmen der Vergangenheit Versuchter". So musste es darauf ankommen, "noch mehr nur Hörender zu werden". Diese Philosophie unserer dialogischen Existenz kündigt Gadamer unter dem Titel einer "Theorie der Hermeneutik" an. Sie würde die theoretische Rechtfertigung dafür liefern, dass "alle Interpretation ein Moment der Selbstauslegung enthält und alle Forschung auf dem Felde der Geschichte der Philosophie selber Philosophie ist"198. Die Modelle für dieses Moment der Selbstauslegung, das jeder Interpretation innewohnt, findet aber Gadamer pointiert und eigenständig in der Erfahrung der Kunst, der Geisteswissenschaften und der dialogischen Natur unseres Verstehens. Auf einen neuen Anfang kommt es nicht mehr an. In seinem Vater, in Heidegger (andere ließen sich durchaus nennen: Gadamers erste Publikationen von 1923 und 1924 sind seinen anderen Lehrern - Natorp und Hartmann, aber auch Bultmann verpflichtet) wurde Gadamer von früh an mit starken Repräsentanten des Zeitgeistes konfrontiert. Mit Johannes Gadamer war es der Königsweg der allein respektablen Naturwissenschaften, mit Heidegger war es wohl der Anspruch, die gesamte abendländische Tradition im Namen eines neuen Anfangs, eines neuen Denkens auf Distanz zu bringen. In beiden Fällen handelte es sich um imponierende Ausblicke, deren Faszination fürwahr heute noch fortbesteht. Die Hochkonjunktur unserer Wissenschaftskultur und des ihr zum Teil entgegenwirkenden Heideggerianismus, auch wo der Name Heidegger unbekannt oder verpönt ist, legen davon Zeugnis ab. Bei beiden hatte es Gadamer mit Größen zu tun, die sich ihrer Sache sicher waren. Vielleicht war es Gadamers geduldiges Verdienst, sich zu fragen, ob man es immer so genau wissen kann. So wandte er sich der Kunst, der Geschichte und den Geisteswissenschaften zu, wo man es mit Ungenauem und natürlich auch mit viel Geschwätz zu tun hat, wo man aber doch an Wahrheiten teilhat, die uns unmittelbar angehen. Gewiss erscheinen sie im Vergleich mit den exakteren Wissenschaften als "Schwätzwissenschaften" . Aber gibt es nicht gerade so
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etwas wie eine Wahrheit des Wortesuchens? Ist es nicht das grundlegende Faktum unserer Endlichkeit, dass man an Wissenserfahrungen teilhat, über die wir nicht ganz Herr sind? Mehr noch: Ist es nicht diese unsere Worte suchende Kontingenz, die die Verführung der methodischen Wissenschaftlichkeit als ihre Grundlage ständig voraussetzen und verbergen muss? Ursprünglicher als diese Verführung - und der zwielichtige Erfolg, der Verführungen eignet wäre also unsere essentielle Angewiesenheit auf dialogisches Zusammenstammeln in einer Welt, die wir nie ganz in den Griff bekommen können. So konnte sich Gadamers Autobiographie das Bonmot von Brecht zu Eigen machen: "Für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug." Von hier aus erklärt sich die hartnäckige Wendung der Hermeneutik zum Nichtwissen des Sokrates, zur docta ignorantia oder zum fesselnden Geheimnis der Kunst, das uns an unsere primäre Verstummung zurückerinnert. Wenn es irgendeine "Lehre" der Hermeneutik gibt, dann versteckt sie sich in dieser Weisheit des Stammelns nach dem rechten Wort. Sie ist aber nicht so sehr die Weisheit eines negativen Unvermögens. Es trifft sich, dass Gadamer selber von einer "Weisheit des StammeIns" in Bezug auf Hölderlin sprach,199 dem man nicht unbedingt sprachliche Inkompetenz wird nachsagen wollen. Was Hölderlin auszeichnet, ist gerade die beredte Empfindlichkeit für unsere stammelnde Dürftigkeit im Angesicht des zu Sagenden. Was wir so stammelnd suchen, ist das passende Wort, das auszusagen vermöchte, wie es um uns steht. Gerade weil es dieses Wort nicht gibt oder sich nicht sagen lassen will, erfährt sich unser Denken als ein suchender Dialog der Seele mit sich selbst.
VIII. GADAMERS ANTI-ÄSTHETISCHE WIEDERGEWINNUNG DER WAHRHEIT DER KUNST Der erste Teil von Wahrheit und Methode steht unter dem programmatischen Titel einer "Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst". Die noch zurückzugewinnende Wahrheit der Kunst wird dort in Anspruch genommen, um das Monopol einer an der methodischen Sicherheit orientierten Auffassung der Geisteswissenschaften zu erschüttern. Seit Dilthey verstand sich die Hermeneutik, die traditionell die Kunstlehre des Verstehens war, als die allgemeine Grundlage oder Methodenlehre der Geisteswissenschaften. Aufgabe der Hermeneutik sollte es sein, Methoden des Verstehens auszuarbeiten, die den sonst fragwürdigen wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften festmachen könnten. Gadamers Fragestellung setzt zwar auch bei den Geisteswissenschaften ein, es fragt sich indes, ob der Methodenbegriff der Erkenntnisweise dieser Wissenschaften wirklich gerecht wird. Hat man es hier nicht mit einer Wahrheitsbegegnung oder Sinnerfahrung zu tun, die sich nicht mit den Mitteln der methodischen Wissenschaft beschreiben lässt? Um die Rückgewinnung dieser Wahrheit geht es Gadamers Hermeneutik. Sie geht von den Geisteswissenschaften aus, zielt aber auf eine universelle Hermeneutik, d.h. eine, die für alle Arten des Verstehens Geltung beansprucht. Für diese Entmethodisierung der Wahrheitsfrage beruft sich Gadamer entschieden auf das Zeugnis der Kunst. Er wird sich aber zunächst mit der seit Kant gängigen Auffassung, die der Kunst einen Erkenntniswert abspricht, auseinander setzen. Unter dem Stichwort des "ästhetischen Bewusstseins" kritisiert er die Konzeption, die Kunstwerke lediglich nach ihren ästhetischen Qualitäten beurteilt und von ihren moralischen und kognitiven Elementen souverän absieht. Den damit für den ästhetischen Genuss kreierten Raum nennt er die "ästhetische Unterscheidung". Ihr gegenüber macht Gadamer die Idee einer "ästhetischen Nichtunterscheidung" geltend, derzufolge die Kunsterfahrung sich stets in die lebensweltliche Kontinuität unserer Erkenntnis einfügt und damit eine Wahrheitserfahrung verkörpert, die auf anderem Wege unerreichbar bliebe. Das ästhetische Bewusstsein hält er für eine "Abstraktion", die den Zu-
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gang zum Wahrheitsgehalt der Kunst eher versperrt als eröffnet. Gadamers Freilegung will am Leitfaden der Kunst - zunächst negativ - den Wahrheitsbegriff aus der Zwangsjacke der methodischen Wissenschaft befreien. Durch diese Freilegung soll es aber möglich werden, positiv zu einer angemesseneren Auffassung des Wahrheitsanspruches der Kunst und darüber hinaus des Verstehens im weiteren Sinne zu gelangen. Es ist also Gadamers Anliegen, das Wahrheitsmoment der Kunst gegen deren rein ästhetische Verkürzung zu Ehren zu bringen. Man darf also von einer Destruktion der Ästhetik im Namen der Kunst sprechen, etwa nach dem Heideggerschen Verständnis von Destruktion, demnach die Konstruktionen in Frage zu stellen sind, die ein adäquates Verständnis der Sache selbst verhindern. Es liegt nahe, dass Gadamer bei Kant einsetzt. Denn Kant war es, der die Autonomie der Ästhetik begründete, indem er ihr einen Geltungsbereich jenseits der Erkenntnis und der Moral verschaffte. Besonders verhängnisvoll war in Gadamers Augen der Umstand, dass Kant den Begriff der Erkenntnis im Voraus auf die methodische Naturwissenschaft eingeschränkt hatte. Die ästhetische Erfahrung konnte sich nur noch jenseits der objektiven Wissenschaft und Wahrheit als subjektives Spiel verstehen. Kant lehnte sich dafür an die humanistischen Leitbegriffe des Geschmacks, des Gemeinsinnes und der Urteilskraft an, beraubte sie indes ihres im Humanismus selbstverständlichen Erkenntnisanspruches, indem er ihnen nur noch eine subjektive Geltung gönnte. Kant sprach noch von einem Spiel unserer Erkenntnisvermögen im ästhetischen Urteil, das vornehmlich bei ihm dem Naturschönen galt. Dem Kunstschönen schenkte Kant bekanntlich weniger Aufmerksamkeit, weil dieses es zu direkt auf unsere moralische und erkenntnismäßige Empfänglichkeit absah. Diese Absicht stellte gerade die reine "Ästhetizität" des Kunstschönen in Frage. Allein im Naturschönen sei das Schöne unbeabsichtigt, gleichsam überraschend, sodass aus dem freien Spiel unserer Erkenntnisvermögen ein spezifisch ästhetisches Gefühl des Schönen und des Erhabenen hervorgehen konnte. Schiller radikalisierte alsdann den kantischen Spielbegriff, indem er den spielerischen, unwirklichen Charakter der ästhetischen Erfahrung, die von nun an vor allem in der künstlerischen Kreation ihren Niederschlag fand, auf die Spitze trieb. Das Reich der Ästhetik und der Kunst wurde zu einem des schönen Scheines, in dem das Subjekt seine spielerische Freiheit entdecken und entfalten würde. Aus der Erziehung durch Kunst wurde mit Schiller eine ästhetische Erziehung.
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Die damit gewonnene Autonomie der Ästhetik wurde nach Gadamer um den Preis ihres Wahrheits- und Realitätsverlustes erkauft. Diese Autonomie war aber auch die stillschweigende Konsequenz des Monopolanspruchs der methodischen Wahrheit, die die ästhetische Unterscheidung nur bestätigte, indem sie sich in einem Reich abseits der Wahrheit und der Wirklichkeit etablierte. Künftig werden Kunstwerke nur noch als Ausdrucksphänomene aufgefasst und aufgenommen. In ihnen gehe es nicht mehr um eine Wahrheitserfahrung, für die die Wissenschaft nunmehr allein verantwortlich zeichnet, sondern um das produktive Werk eines Genies. Die damit hoch gekommene Genieästhetik war zugleich eine Erlebnisästhetik. Im Kunstgenuss handelt es sich künftig nur noch um das N acherleben des schaffenden Erlebriisses des Künstlers. Es wird aber an dieser Stelle für Gadamer fraglich, ob Kunstwerke wirklich nur als Kunstwerke, d. h. als wahrheitsfreie Ausdruckserscheinungen erfahren werden. Geht es hier tatsächlich um Ausdruck und Erlebnis und nicht vielmehr um Erkenntnis und Wahrheit? Wird die Kontinuität unserer Existenz in der ästhetischen Erfahrung wirklich suspendiert? Wird nicht vermöge der Kunst diese Kontinuität eher auf sich selbst zurückgeführt und für sich selbst entdeckt? Gegen diese negative Folie der kantisch-schillerschen Subjektivierung der Ästhetik wird Gadamer seine eigene "Ästhetik" in Wahrheit und Methode profilieren. Er setzt selber provokativ bei dem Spielbegriff ein, den Kant und Schiller noch rein subjektiv deuteten. Gadamer will aber gerade zeigen, dass das Spiel kein bloß subjektiver Vorgang ist, sondern eher ein autonomes Geschehen, in das das menschliche Subjekt aufgeht, darstellt. Wer die Erfahrung eines Kunstwerkes macht, wird von ihm ebenso mitgerissen, wie der Spieler sein Spiel wie eine ihn übertreffende Wirklichkeit erfährt. Das Spielen ist immer ein Gespieltwerden, bei dem sich das Spiel als das wahre subiectum erweist. Die Kunsterfahrung wird damit zu einem Geschehen, an dem der Betrachter - wie der Schaffende teilhat. Diese Erfahrung ist nach Gadamer eine verwandelnde. Er spricht deshalb auch von einer "Verwandlung ins Gebilde", die an Heideggers Idee eines "Ins-Werk-Setzen-der-Wahrheit" gemahnen mag. Gadamer meint damit, dass die Wirklichkeit im künstlerischen Gebilde eine andere Dimension hinzugewinnt, als ob sie zum ersten Mal so zur Darstellung käme. Die Kunsterfahrung verleiht damit der Wirklichkeit so etwas wie einen "Seinszuwachs". Dieser nahezu
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quantitative und damit mehr oder weniger geschickte Ausdruck muss aus Gadamers Polemik gegen den Seins verlust der modernen Ästhetik verstanden werden: Weit davon entfernt, uns von der objektiven Welt zu entfernen und in die fiktive Welt eines schönen Scheines zu projizieren, konfrontiert uns die Kunst umso dringlicher mit der Wirklichkeit selber, die durch ihre Verwandlung ins Gebilde so gut wie "seiender" wird. Es ist aber nicht nur die Wirklichkeit, die im Kunstwerk verwandelt erscheint. Denn wir sind immer auch dabei mit verwandelt. Die in der Kunst sich kundgebende Welt ist stets die unsere, aus der wir uns immer schon verstehen. Die Kunsterfahrung wird zu einer Selbstbegegnung und damit zu einer Selbsterkenntnis. Diese Einsicht wird Gadamer zu einer Rehabilitierung der Mimesis anleiten, kraft deren er Anschluss an den Wahrheitshorizont der vorkantischen Ästhetik sucht. Denn bis zum Aufgang des ästhetischen Bewusstseins war der Mimesisbegriff dem Selbstverständnis der Kunst noch wesentlich, weil er nach Gadamer den evidenten Weltbezug der Kunst aufrechterhielt. Diese Evidenz ging aber verloren, als sich die Kunst auf den Flügeln des ästhetischen Bewusstseins von jedem Realitätsbezug löste und gar von ihm befreien wollte. Gadamer fragt sich, ob die Ortlosigkeit, die daraus für die Kunst resultierte, nicht wiederum eine Folge des modernen Nominalismus zeitigte, für die die Wirklichkeit nur die von der Wissenschaft erkennbare sein kann. Kunst, betont Gadamer, verleiht vielmehr der Wirklichkeit einen ,,~rhöhten Seinsrang" . Insofern leistet die Kunst eine Mimesis, eine augenöffnende Nachahmung der Welt, die sich aber nur in der Kunst nachvollziehen und darstellen lässt. In der Kunst kommt die Welt - mit uns - zur Darstellung. Deshalb wird Gadamer in Wahrheit und Methode den transitorischen Künsten, der Musik und dem Theater, eine gewisse paradigmatische Funktion zuerkennen. An ihnen wird man gewahr, dass die Kunst nur Dasein hat, sofern sie gespielt, "interpretiert" und so für uns dargestellt wird. In der darstellenden Kunst sind wir immer mit dabei und mitgemeint. Gadamer stützt sich auf Kierkegaards Begriff der Gleichzeitigkeit, um diesen aktiven Anteil am Kunstgeschehen zu verdeutlichen. Bei Kierkegaard meinte es die noch gegenwärtige Dringlichkeit der Heilsbotschaft, die nicht einmal vor 2000 Jahren ergangen ist, sondern die hier und jetzt an mich gerichtet ist und Antwort erheischt, weil ich vor ihr nicht indifferent bleiben kann. Ebenso ergeht es in der Begegnung mit dem Kunstwerk. Das gelungene Kunstwerk sagt mir immer, nach dem von Gadamer oft
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angeführten Vers Rilkes (der eigentlich von Don Giovanni herkommt): "Du musst dein Leben ändern!" So ist es kein Wunder, dass unter den transitorischen Künsten die Tragödie auch eine ausgezeichnete Beispielfunktion für Gadamer einnimmt: Bekanntlich hat Aristoteles den Zuschauer in seine Definition der Tragödie aufgenommen, und dies vor allem deshalb, weil uns die gespielte Tragödie auf die Tragik des Lebens selber zurückwirft. An der Tragödie wird augenscheinlich, dass in der Kunst die Kontinuität unserer zeitlichen Existenz nicht etwa eine Suspendierung, sondern vielmehr eine Zuspitzung erleidet. Gadamers These von dem Darstellungscharakter und dem Seinszuwachs des Kunstwerkes lässt sich auch an den nicht transitorischen Künsten nachweisen. In den bildenden Künsten kommt das anschaulich zum Tragen, sofern das Bild nicht bloß ein Abbild der Wirklichkeit oder eines Menschen sein will, sondern sie in ihrer Wahrheit allererst erfahren lässt. Das Bild weist immer auf ein Original zurück, aber so, dass es nur in dem Bild zu seinem wahren Sein und zu seiner angemessenen Darstellung gelangt. Auch für die dekorativen Künste und die Architektur interessiert sich Gadamer, weil sie so plastisch an die Einbettung der Kunst in den praktischen Zusammenhang einer jeweiligen Lebenswelt erinnern. Die Funktionalität und der Weltbezug, die den künstlerischen Charakter der Architektur gelegentlich fraglich erscheinen lassen, leisten auf diese Weise Gadamers Kritik an der Abstraktion des ästhetischen Bewusstseins Vorschub. Auch an der Literatur lässt sich Gadamers Einsicht in das darstellende Wesen jeder Kunst verdeutlichen. Dies leuchtet vielleicht sogar in größerem Maße ein, als dies noch 1960 der Fall sein konnte. Denn die Rezeptionsästhetik und die Reader-Response-Theory haben seitdem und oft unter dem Einfluss von Gadamers Ästhetik zur Genüge hervorgehoben, wie sehr die Literatur im Vollzug des Lesens ihre Vollendung findet. Das Lesen bildet nicht die nachträgliche Reproduktion eines im Original verborgenen Sinnes, es vollbringt die Konkretion des Sinnes selber. Gadamers Behandlung der Literatur in Wahrheit und Methode fiel aber etwas stichwortartig aus (wo sie knappe fünf Seiten umfasste). Umso eindringlicher hat er sich mit der Poetik nach Vollendung seines Hauptwerkes beschäftigt. Die Mehrzahl seiner ästhetischen Aufsätze nach 1960 galt in der Tat der Literaturtheorie. Sie sind heute vor allem im 8. Band seiner Gesammelten Werke (1993) zugänglich. Dieser Band trägt den prägnanten Titel: Kunst als
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Aussage. Es ist also der geheimnisvolle Wahrheits- und Aussagecharakter der Kunst, der dort eine Vertiefung erfährt. Von daher sieht man auch ein, dass die Literatur und die Lyrik für den späten Gadamer die paradigmatische Funktion übernehmen werden, die 1960 noch den transitorischen Künsten zuzufallen schien. Der Begriff des Lesens erlangt dabei eine universale Funktion für die Ästhetik. Er weist nämlich auf den mitgehenden Vollzug hin, den jedes Kunstwerk vom Leser verlangt. Aber zu dieser Leseaufgabe fordert nicht nur die Literatur auf. Auch Bauwerke und transitorische Künste wollen in diesem Sinne "gelesen", d. h. mitvollzogen werden. Lesen heißt hier primär Mitgehen, Hören, und zwar Hören durch das innere Ohr, wo der Sinn Resonanz, Antwort und mithin Anwendung erfährt. Damit wird auch die universale Wahrheit erreicht, die Gadamer an der Erfahrung der Kunst freilegen wollte. Die hermeneutische Wahrheit ist stets eine, die uns durch das innere Ohr hindurch gehen muss. Es ist mit anderen Worten eine Wahrheit, die unser Selbstverständnis angeht und immer schon auf uns angewendet ist, die wir aber nicht beherrschen, weil wir an ihr nur teilhaben. In seinen letzten Essays zur Ästhetik wie "Wort und Bild - 'so wahr, so seiend'" und "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache" (1992) wird Gadamer dieses Wahrheitsgeschehen mit den einfachsten, fast tautologischen Worten beschreiben: "so ist es, es kommt heraus". Etwas an diesen Formeln erinnert an Heideggers Faszination für Impersonalien wie" es weltet",,, es gibt", mit denen die Fragwürdigkeit des instrumentalen Denkens der Neuzeit markiert werden sollte. In dieser Kritik am Instrumentalismus des nominalistisch-neuzeitlichen Denkens, aus dem auch das ästhetische Bewusstsein stillschweigend hervorging, liegt nach Gadamer die universale Wahrheit der Kunst.
IX. SPIEL, FEST UND RITUAL. ZUM MOTIV DES UNVORDENKLICHEN BEIM SPÄTEN GADAMER Unter der Sequenz Spiel- Fest - Ritual möchte ich in diesem Abschnitt eine Entwicklung in Gadamers Ästhetik verfolgen, die auf die Vertiefung eines zentralen Motivs seiner philosophischen Hermeneutik hindeutet. Gadamer ging bekanntlich in seinen ästhetischen Überlegungen von dem Begriff des Spieles aus, die er zwar bereits 1960 in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode in Zusammenhang mit der Idee des Festes brachte, aber dieser Zusammenhang gelangte erst anlässlich seiner Salzburger Vorträge von 1974 über Die Aktualität des Schönen zu wirklicher Entfaltung. Derselbe Reflexionsfaden führte Gadamer in seinen allerletzten Arbeiten zum Begriff des "Rituals", kraft dessen er sich einem Grundphänomen der menschlichen Existenz zu nähern suchte, auf das seine Hermeneutik von vornherein ausgerichtet war. Spiel - Fest - Ritual weist also auf die Beharrlichkeit eines zentralen Themas im Werke Gadamers hin, das ich vorläufig als das der Unvordenklichkeit der menschlichen Vernünftigkeit charakterisieren möchte. Ich hoffe, dass meine Ausführungen verdeutlichen können, was unter dieser unverdaulichen philosophischen Begrifflichkeit gemeint sein kann. Gadamers eindrucksvolle Inanspruchnahme des Spielbegriffes erfolgte im Zusammenhang einer ästhetischen Besinnung, deren Hauptabsicht dahin ging, die Unzulänglichkeit der Begriffe der modernen, auf Friedrich Schiller zurückgehenden Ästhetik nachzuweisen. Schillers fundamentale ästhetische Kategorie war selbstverständlich auch die des Spieles, die er wirkungsreich mit dem Ernst der theoretischen Wissenschaft und der praktischen Handlungsordnung kontrastierte. Im Spiel sei das Subjekt allein mit sich beschäftigt und sozusagen befreit von dem Druck, der auf ihm im Bereich des Wissens und der Praxis lastet. Auf diesem freien Spiel des Subjekts mit sich selbst gründete die Autonomie des Ästhetischen für Schiller. Frei, d. h. frei von den Gesetzen der Erkenntnis und des Handeins, sei das Subjekt eigentlich nur im Ästhetischen. Gadamer bedient sich aber der Spielkategorie, um gerade die Grenzen der Konzeption von Schiller, ja der gesamten modernen
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Ästhetik aufzuzeigen. Im Spiel der Kunst, führt Gadamer aus, ist das Subjekt nicht auf sich selbst gestellt und nicht von seinen erkenntnismäßigen und praktischen Erwartungen losgelöst. Ganz im Gegenteil: Das Spiel besagt für Gadamer, dass der Betrachter eines Kunstwerkes in ein Geschehen eingeflochten ist, dessen er nicht Herr ist und bei dem es ihm nicht zur Disposition steht, seinen üblichen Erfahrungs- und Erwartungshorizont auszuschalten. Wer einen Roman liest, einer Oper zuhört oder ein Gemälde bestaunt, findet sich hineingezogen in einen Bereich, den er wie eine ihn "übertreffende Wirklichkeit"200 erleidet. Wer könnte je sagen, was ihm geschieht, wenn er von einem Musikwerk, einem Gemälde, einem Bauwerk oder Gedichtetem eingenommen wird? Alles, was man darüber in einem anderen Medium als dem des Werkes selbst ausführen könnte, wirkt ungeheuer flach. Was bezaubert uns so sehr an einem Musikwerk? Man kann es nicht so recht sagen. Sicher kann man hier auf etliche Floskeln zurückgreifen: Es ist großartig, es wurde meisterhaft gespielt und dirigiert, mit Präzision, besser, mit Seele gespielt, alles Mögliche, aber um das zu verstehen, muss man dabei sein, wenn das Werk gespielt wird. Man muss sozusagen, und das ist für Gadamer keine entlegene Metapher, "mitspielen". Kunst, unterstreicht Gadamer, ist eine Aussage, die sich einer Umsetzung in ein anderes Medium widersetzt. Es ist aber dennoch für ihn eine Aussage, denn es ist ein Anspruch, besser, ein Angesprochenwerden, das von dem Spiel der Kunst ausgeht. Man braucht nur ein großes Kunstwerk zu evozieren, um zu wissen, was hier gemeint ist. Wenn ich etwa die Namen von Mozart, Kafka, Tizian oder Woody Allen erwähne, wird jeder sofort einsehen, was für eine ganze Welt von Aussage damit gemeint ist. Dies ist auch der Fall, wenn man zum Beispiel seit zehn Jahren keinen Roman von Kafka mehr gelesen hat. Etwas prägt sich in uns ein und wird geheimnisvollerweise nicht vergessen, wie man etwa den Inhalt eines philosophischen Vortrags nach zehn Minuten völlig vergessen hat (wenn man überhaupt "dabei" war, als er gehalten wurde - was sicherlich selten geschieht). Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk so anzusprechen vermag, so viel "wahrer" als ein wissenschaftliches Argument sein kann? In der Kunst liegt also auch eine Aussage, liegt auch Wahrheit, die man aber nur versteht, wenn man sich in ihr Spiel hineinziehen lässt. Aber dieses Spiel ist nicht so sehr als unser unverbindliches, subjektives Spiel mit dem Werk zu denken, sondern viel eher das des Werkes mit uns, meint Gadamer. Wir sind im Spiel eher Mitspielende, Angesprochene und im glücklichsten Fall Herausgehobene. Beim
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Spielen sind wir also nicht so sehr die spielenden als die gespielten, vielleicht sogar die überspielten. Wer würde aber hier sagen, das Spiel sei etwas rein Spielerisches? Ist der Gegenbegriff zum Spiel wirklich immer und primär der des Ernstes? Bedeutet etwa das Spiel der Kunst nichts als ein unernstes "divertissement", "entertainment"? Nein, antwortet Gadamer, im Spiel, in jedem Spiel liegt so etwas wie ein "heiliger Ernst"201. Das gilt nicht nur für die Kunst, es gilt auch für sportliche Spiele, kindliche Spiele und auch für die trivialsten Gesellschaftsspiele aller Art. Auch wenn wir nur spielerisch bei einer . Sache sind, ist es uns also ernst, "heilig ernst" damit. Nur wer nicht mitspielt, meint es nicht ernst mit dem Spiel. Wer ein Spiel souverän von außen betrachtet, wirkt wie ein Spielverderber. Weil er gerade nicht mitspielt. Das spielende Verhalten ist das des Versunkenseins in ein Spiel. Mit der Spielmetapher verbindet also Gadamer eine Kritik an einem unverbindlichen, subjektivistischen Kunstverständnis. Die ästhetische Erfahrung ist nicht, wie Schiller meinte, die einer souveränen Subjektivität, die auf einmal spielerisch in eine ganz andere imaginäre ("ästhetische") Welt eintreten würde, wo sie vom Druck der alltäglichen Sorgen entlastet wäre. Die Erfahrung eines Kunstwerkes ist vielmehr die eines Einrückens in ein uns überwältigendes, aber doch zugleich mithineinziehendes Spiel, wo unser ganzes Wesen auf dem Spiel steht. Dies ist für Gadamer die echte Erfahrung des Spieles: das Hineingezogensein. Der Gegenbegriff zum Spiel ist also nicht der des Ernstes, weil das Spiel auch etwas Ernstes ist, sondern das Nichtdabeisein. Der Spielbegriff markiert damit auch die Grenze der Vergegenständlichung, wie sie uns von der methodischen Wissenschaft her vertraut ist: "Die Seinsweise des Spieles lässt nicht zu, dass sich der Spielende zu dem Spiel wie zu einem Gegenstand verhält. Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und dass, was er tut, ,nur ein Spiel ist' , aber er weiß nicht, was er da ,weiß'. "202 Damit soll unterstrichen werden, dass die Kunsterfahrung (und darüber hinaus, wie wir sehen werden, die Erfahung des Verstehens und des Miteinanderseins und -sprechens) nicht ein Verhalten zu einem isolierbaren Gegenstand, den man als Kunst objektivieren könnte, darstellt. Das Spiel der Kunst liegt nicht im Kunstwerk, das da draußen aufgehängt oder gespielt wird, sondern in dem Angerührtsein von einem Anspruch, einer Anrede, einer Aussage, die uns so fesselt, dass wir nur mitspielen können. Wer würde hier chirurgisch unterscheiden wollen, wo die Anrede und die Antwort liegt? Ist es das Werk, das uns in Frage stellt, oder sind wir es, die in
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dem Werk unsere Fragen oder unsere Rhythmen wieder erkennen? Dies ist es, was Gadamer an der Erfahrung der Kunst so sehr faszinierte: dass hier solche objektivierende Unterscheidungen fehlgreifen, dass aber dennoch Wahrheit erfahren wird, eine Wahrheit, zu der wir auf angehauchte Weise gehören. Zur Erfahrung der Kunst gehört somit eine eigentümliche "Zeitlichkeit", die des Dabeiseins für eine Weile. Das Spiel der Kunst wird nie begriffen, an ihm haben wir nur teil, sofern wir uns von seinem Zauber erreichen lassen. Wenn wir etwa ein Musikwerk hören, sind wir gleichsam unwiderstehlich zum Mitsingen, gleichsam zum Tanzen aufgerufen. Wir können nicht umhin, innerlich mitzusummen, mit den Fingern zu schnippen oder mit den Füßen mitzustampfen, mitzufolgen, nahezu "mitzudirigieren". Wir spielen jedenfalls mit, sofern wir Musik hören. Die eigentlichste Vollzugsweise von Musik ist also das Mittanzen. Ebenso erkennen wir uns in einem Gedicht oder einem Gemälde, wie wir von einem Roman oder einer Tragödie gefesselt sind. Es geht uns an, spricht uns an. Es ist nun Gadamers Hauptthese bei dem Spielbegriff, dass dieses Mitgehen dem Werk nicht äußerlich ist, sondern zu seiner Aussage gehört: Erst dann, in dieser mysteriösen Anrede, ist es "Kunst". Jede Kunsterfahrung ist die eines Mitvollzugs, d. h. einer Antwort auf den Appell des Werkes. Zur Zeit von Wahrheit und Methode liebte es Gadamer in fast neuplatonischer Weise, hier von der "Darstellung", die zur Kunst notwendig gehört, zu sprechen. Das wollte heißen: Es gibt nicht zunächst ein Werk und daneben, je nach Aufführung und Kontext, seine Darstellung. Jedes Werk "existiert" nur in seiner Darstellung, d.h. als Darstellung für jemanden und für eine Weile, die die unseres zeitlichen Daseins ist. Später bevorzugte es Gadamer, hier in Anlehnung an den Sprachgebrauch des frühen Heidegger von Vollzug, von einem Mitvollzug zu sprechen. So hieß der Band, der Gadamers ästhetische Interpretationen in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke versammelt: "Hermeneutik im Vollzug". Ein Werk der Kunst will auf diese Weise immer mitvollzogen, d.h. "begangen" werden. Es lag nahezu auf der Hand, dass sich Gadamer dafür auf den Begriff des Festes bezog, dem er damit paradigmatische Bedeutung für seine ganze Ästhetik und darüber hinaus für unsere gesamte Welterfahrung verlieh. Denn ein Fest zeichnet sich immer durch eine gewisse Zeitlichkeit aus, in die wir hineingerissen werden: Ein Fest erscheint zu einer gegebenen Zeit, die als festlich gilt und die alle an ihm Teilnehmenden zu einer feierlichen Stimmung erhebt, im besten
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Falle: feierlich verwandelt. Zum Wesen des Festes gehört also, dass eine Zeit oder ein Raum feierlich sind. Das zeigt sich exemplarisch an der Wiederkehr von Festen. Es ist aber nicht so, beobachtet zu Recht Gadamer, dass wiederkehrende Feste so benannt werden, weil sie in eine Zeitordnung eingetragen werden, sondern umgekehrt so, dass die Zeitanordnung selber durch die Wiederkehr der Feste entsteht,203 Unser zeitliches Sein wird so durch Feste skandiert, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Am Fest zeigt sich somit, dass die zu ihm Gehörenden in ein Spiel eingefügt sind, das über ihr subjektives Belieben, Tun und Meinen hinausragt. Wer würde eine Feststimmung je "objektivieren" wollen? Sie ist einfach da, und an ihr haben wir alle teil. Ein Fest - wie jedes Kunstwerk, ja wie jedes Verstehenhat sein Dasein in der Weile und der Gemeinschaft, durch die es begangen wird. Auch wenn die meisten Feste auf ein Stiftungsereignis oder -datum zurückgehen, existieren sie nur in dem jeweiligen Vollzug ihres Begangenwerdens. Nehmen wir etwa das Weihnachtsfest als Beispiel. Es weist natürlich auf ein Stiftungsereignis zurück, aber das Weihnachtsfest, das gefeiert und begangen wird, ist nicht einfach die Repetition eines Geschehens, das vor 2000 Jahen stattfand, es meint die Gegenwart: das Fest, das sich dieses Jahr, 2001, ereignet und dessen Gegenwart uns feierlich be-stimmt (oder nicht). Diese einstimmende Gegenwart des Festes ist die einer jeden Kunsterfahrung, ja eines jeden Verstehens für Gadamer. Das Fest vollzieht sich nur vermittels dieser Darstellung, in dieser zeitlichen Begehung. In ihm "verschmelzen" nämlich die Horizonte der Gegenwart und der Vergangenheit: In der Wiederkehr des Festes liegt ein Moment der Wieder-Holung der Vergangenheit, aber ebenso sehr liegt in der Wiederholung ein unabdingbarer Gegenwartsbezug. Jedes Fest stellt damit eine Gegenwart sui generis dar. Kein Fest ist wie ein anderes, auch und gerade wenn immer wieder dieselben Feste wiederkehren. Man ist erfasst von etwas, was da ist und uns durch seine Präsenz besticht und verwandelt. In Wahrheit und Methode hatte Gadamer insbesondere das Moment der Teilhabe an dem Wesen des Festes hervorgehoben. Wer ein Fest feiert oder mitfeiert, ist da, ist "dabei", wird mitimpliziert. In seinen Salzburger Vorträgen von 1974 hat Gadamer nun die kommunikative Seite dieses Dabeiseins und Angesprochenwerdens stärker in den Vordergrund gerückt. Denn die Begehung des Festes schließt eine potenzielle Gemeinsamkeit ein. Man kann nicht allein feiern. Gadamer schreibt in Die Aktualität des Schönen: "Das Fest
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ist Gemeinsamkeit und ist die Darstellung der Gemeinsamkeit selbst in ihrer vollendeten Form. "204 Wer an einem Fest teilnimmt, will kommunizieren. Kommunizieren heißt aber nicht unbedingt Worte austauschen, sondern vielmehr Miteinandersein, Aneinander-Teilhaben. Das Zusammensein, das Übereinkommen ist wichtiger als das Übereinkommen über dies oder jenes. Im kommunikativen Wesen des Festes liegt damit ein Festhalten des Vergänglichen. Auch dies gehört zur Zeitlichkeit der Feste. Ein Fest feiert immer das Bleibende im Vergehenden, aber so, dass beide Momente, sowohl das Bleibende als auch das Vergängliche, zugleich mitgedacht werden. Wenn wir eine Person, Weihnachten, ein Goethe-Jahr feiern, gedenken wir des Bleibenden, aber dies schließt stets ein Bewusstsein des Dahinschwindenden ein. Wie viele Weihnachten werden wir noch zusammen feiern?, fragen wir uns oft in einer Mischung aus Dankbarkeit und Bangigkeit, wenn wir solche Feste begehen. Das Fest markiert immer ein SichSammeln der Zeit über sich selbst, ein Festhalten-Wollen der Weile, von der wir aber alle wissen, dass sie sich nicht festhalten lässt. Jedem Fest haftet somit ein Bewusstsein der menschlichen Gebrechlichkeit an. Jede Festfreude, ja jede Freude ist vielleicht die Kehrseite eines Unsagbaren, Unsäglichen. Gadamer spricht in diesem Zusammenhang von der "Eigenzeit" der Feste. Die Zeit der Feste ist eine "erfüllte", eben eine festliche, die die berechnende Zeit, über die man sonst verfügt, zum Stillstand bringt,205 Aber die Zeit, mit der wir sonst rechnen und die Gadamer auch die "leere" Zeit nennt, ist eine sich selbst vergessende Zeitlichkeit: Es ist die Zeit zu etwas, für etwas. Erst im Fest wird uns die Zeit als solche bewusst, nämlich als das Geschenk, das wir sind. An den Festen wird uns also gewahr, dass wir in der Zeit und damit nolens volens in Traditionen stehen, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart, aber auch Zukunft ineinander verschränken. Gern dünken wir uns über Traditionen erhaben: Ach, Weihnachten, ach, das Goethe-Jahr, was geht mich das alles an? Selbstherrlich gebärden wir uns als die freien Gestalter unserer Schicksale. Wir stellen uns so willig hin wie selbstbewusste, autonome Wesen, die über ihre Zeit verfügen und ihr Leben steuern. Dabei vergessen wir, wie viel Schickung, wie viel Tradition und Nichtwissen in unser Schicksal hineingehört. Wir leben in einer Zeit, wo man scheinbar alles vergegenständlichen und damit beherrschen kann. Es gibt Statistiken und Prognosen über alles. Man kann alles kontrollieren: die Zeit vor allem, die Wirtschaft natürlich, bald das Wetter, auf jeden Fall sein
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Gewicht, das, was man isst, und damit sein Aussehen, bis hin zu Geburten und den Genen, aus denen wir ein Gewebe sind. Früher waren dies alles Schicksalsschläge, die passierten und die man hinzunehmen hatte. Sicherlich kann man vieles zu unserem Wohl kontrollieren, aber täuscht man sich nicht in dieser Kontrollsucht über sich selbst hinweg? Wir kontrollieren alles, als wären wir Götter. Aber vielleicht liegt gerade darin der Wahn, das Vergessen der eigenen Zeitlichkeit und Sterblichkeit. Nach Gadamers Hermeneutik stehen wir viel mehr in Traditionen, als wir uns durch unseren puritanistischen Kontrollwahn einzugestehen bereit sind. Die Wiederkehr der Feste erinnert an dieses Stehen in Traditionen, die begangen werden, aber stets nur in der so flüchtigen Präsenz unserer schillernden Gegenwart. In seinen letzten Arbeiten hat Gadamer in dieser Absicht vom vergessenen Ritua1charakter des Lebens gesprochen. 206 Was heißt hier Ritual? Es meint das Ganze unseres Handeins, Denkens und Sprechens, das durch Übereinkommen, Sitte und Bräuche bestimmt und erfüllt ist. Die Richtigkeit unseres Handeins beruht nicht immer auf Gründen, Gesetzen, nachweisbaren Normen oder formalisierbaren Reflexionsschritten. Vieles von dem, was wir tun, sagen und sind, ist in seiner Richtigkeit von einem Ethos getragen, das in seiner verhüllten Wirksamkeit mehr eingespielt als wirklich bewusst ist. Dies ist etwa handgreiflich an den trivialen Begrüßungs- und Höflichkeitsformen festzumachen, die unser Miteinander bestimmen. Wir wissen nicht recht, woher sie kommen und ob sie nicht manchmal überflüssig sind, aber wir fühlen es nur allzu schmerzlich, wenn sie auf einmal verletzt werden. Wogegen wird da verstoßen, wenn ein Gruß ausbleibt oder ein herausgerutschtes Wort eine Missstimmung hervorruft? Es ist die Überzeugung des späten Gadamer, dass der Rahmen des Rituellen in unserem Leben weit umfassender ist als das, was sich wissenschaftlich, aber auch sprachlich objektivieren lässt. Was wird nicht alles ausgeblendet, wenn eine Objektivierung vorgenommen wird? Wie viel Ritual geht nicht in unsere Formen der Erziehung, des Zusammenseins und Miteinander-Sprechens ein? Kommt es da immer auf die objektivierbaren und aussagbaren Inhalte, deren wir uns bewusst werden können, an, oder sind da nicht weitergehende Spielformen des menschlichen Lebens am Werke? Man denke z. B. an die Unterschiede der Geschlechter und die Rituale ihres Sich-einanderNäherns. Die moderne Phraseologie spricht hier gern von "kulturell" bedingten "Rollen", als ob wir aus ihnen einfach heraustreten und sie nach Belieben ablegen könnten. Es sind aber nicht nur Rol-
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len, die wir spielen, sondern Lebensformen, die über unser Wollen und Denken hinaus unser Sein ausmachen. Mit diesem Konzept des Rituals, des Rituellen in jedem Verstehensvollzug, setzt Gadamer, wenn ich recht sehe, seine Besinnung über das Wesen des Spieles und des Festes fort, radikalisiert aber deren anthropologische Bedeutung und Tragweite. Wissen und Richtig-Handeln gehen nicht in Objektivation auf. Der Spielraum des Verbindlichen und d. h. des uns Verbindenden und Zusammenhaltenden erstreckt sich weit über das hinaus, wovon man objektivierend Rechenschaft ablegen mag. So hätten auch der Begriff des Rituals und die stillschweigende Verehrung, die er impliziert, den der Tradition in Gadamers Philosophie ersetzt, aber ihn zugleich nachvollziehbarer gemacht. Denn es geht in seiner Hermeneutik nicht um eine Verteidigung des Hergebrachten als solchen, sondern um die Grenzen der Objektivierung schlechthin. Das menschliche Verstehen, Verhalten, Fühlen hat vielleicht weniger mit Planen, Kontrolle und Bewusstheit zu tun, sondern weit mehr mit einem artspezifischen Sich-Einfügen in die Ritualität des Lebens, in Traditionsformen, in ein Geschehen, das uns umgreift und das wir nur stammelnd begreifen können. Gadamers grundlegende Idee ist aber die, dass dieses verborgene 207 Ritual, in das das Leben eingelassen ist, weniger eine Begrenzung als eine Ermöglichung von menschlicher Vernünftigkeit und Freiheit darstellt. Es ist der Traum einer gegen die Spielformen der Tradition und des rituellen Lebens gerichteten Freiheit, der vielleicht eine moderne und verhängnisvolle Abstraktion verkörpert. Der Grund unserer Vernunft, unseres Denkens und Fühlens, hat, um mit Schelling zu sprechen, etwas "Unvordenkliches". Er steckt "hinter" unserer Vernunft im doppelten Sinne, d. h. als das, was sie nie ganz einholen kann, aber zugleich auch als das, was sie möglich macht. Diesem "unvordenklichen" Charakter unserer Welterfahrung näherte sich der späte Gadamer, als er so unzeitgemäßen Kategorien wie denen des Spieles, des Festes und des Rituals nachging und sich dabei von der Wahrheitserfahrung der Kunst führen ließ.208
X. DAS INNERE OHR IN GADAMERS ÄSTHETIK. DISTANZ UND SELBSTREFLEXION IN DER HERMENEUTIK "Das Aufnehmen eines dichterischen Werkes, ob das nun durch das wirkliche Ohr vor sich geht oder nur durch jenes innere Ohr, das im Lesen lauscht, stellt sich als eine zirkuläre Bewegung dar, in der Antworten wieder in Fragen zurückschlagen und neue Antworten provozieren. "209
Das sich hermeneutisch erfahrende Bewusstsein ist ein Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Da es um seine eigene Bedingtheit weiß, muss es für neue und andere Erfahrungen offen bleiben. Es muss insbesondere zur Revision eigener Vorurteile bereit sein, wenn es eines Besseren belehrt wird. Ein prägnantes Beispiel solcher Selbstkritik erfolgte, als Gadamer 1986 in der 5. Auflage von Wahrheit und Methode seine eigene Konzeption von der Produktivität des Zeitenabstandes einer leichten Revision unterzog. Da sie ein Kernstück hermeneutischer Theorie betrifft, möchte ich im Folgenden den Sinn und die Konsequenzen dieser Selbstkritik ermessen. Zunächst seien die Funktion und das Gewicht des Zeitenabstandes für Gadamers Hermeneutik in Erinnerung gerufen. Von Heideggers Analyse des hermeneutischen Zirkels ausgehend, vertrat bekanntlich Gadamer die Ansicht, dass Vorurteile nicht so sehr Hindernisse, wie die Aufklärung und der gemeine Verstand meinen, als vielmehr "Bedingungen des Verstehens" seien. Wir verstehen immer von Sinnerwartungen oder Vormeinungen aus, die die Erschließung des Verstandenen allererst ermöglichen. Soll das hermeneutische Bewusstsein ein kritisches und andersheitoffenes sein, kann es natürlich nicht darum gehen, die jeweiligen Vorurteile als schlechthin unhintergehbar gelten zu lassen. Im Gegenteil: Ein seiner Vorurteilshaftigkeit bewusstes Verstehen wird darum bemüht sein, die eigenen Vorurteile als solche abzuheben. Gadamer folgt darin Heidegger, der in einem bekannten Passus die "erste, ständige und letzte Aufgabe" der Auslegung darin sah, "sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle
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und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern".210 Diese Stelle lässt allerdings aufhorchen: Ausgerechnet dort, wo Heidegger die hermeneutische Vorgriffs struktur als Bedingung jeden Verstehens auszuweisen unternimmt, beruft er sich auf eine Ausarbeitung "aus den Sachen selbst". Heidegger solidarisiert sich mit dem Grundmotiv der Phänomenologie just an der Stelle, wo er von ihr am entferntesten zu sein scheint, nämlich bei der Ontologisierung der Vorgriffsstruktur, die gerade einen Zugang auf die Sachen, wie sie "selbst" sein sollen, zu verhindern scheint. Nolens volens nimmt Heidegger hierbei den Korrespondenzbegriff der Wahrheit in Anspruch: Angemessene Verstehensansätze müssen von den Sachen her ausgewiesen werden. Dieser Adaequatio-Begriff der Wahrheit wird im Übrigen als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn an anderer Stelle von einer Destruktion der abendländischen Ontologie die Rede ist: Destruiert werden eben die Vorgriffe, die einen angemessenen Zugang zu den Sachen blockieren. An ihre Stelle sollen sachangemessenere, adäquatere treten. Die Vorgriffsstruktur als solche wird gleichwohl nicht transzendiert. Transzendieren lassen sich allein Entwürfe, die einer Ausweisung an den Sachen selbst ermangeln. Der dabei in Anschlag gebrachte Wahrheitsbegriff ließe sich lateinisch so formulieren: Veritas est adaequatio praejudicii ad rem. Dieselbe Distinktion behält Gadamer bei, wenn er zwei grundsätzliche Arten von Vorurteilen unterscheidet: gute und schlechte, bzw. wahre Vorurteile, under denen wir verstehen, und falsche, unter denen wir missverstehen. 2ll Nicht ohne Recht erkennt Gadamer in dieser Unterscheidung "die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik" ,212 sofern ein kritisches Bewusstsein seine Vorurteile nicht einfach "vollzieht", sondern von den Sachen her zu legitimieren versucht. Wie geht das aber? Die Frage stellt sich mit umso größerer Dringlichkeit, als die Vorurteils struktur des Verstehens wiederum zu besagen scheint, dass man seine Vorurteile nicht einfach beiseite lassen kann, um gleichsam zu den Sachen selbst überzuspringen. Eine "Sache" lasse sich allein im Umkreis eines Vorurteils gewahren. Dem trägt Gadamer insoweit Rechnung, als er lediglich wahre von falschen Vorurteilen unterschieden wissen will und infolgedessen Vorurteilslosigkeit als menschliche Unmmöglichkeit auszuschließen scheint. So ist an die Adresse der Hermeneutik ihre eigene kritische Frage zu richten: Wie unterscheidet sie wahre von falschen Vorurteilen?
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Die Antwort von Wahrheit und Methode, zumindest in seinen vier ersten Auflagen, fällt eindeutig aus: "Nichts anderes als dieser Zeitenabstand vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir missverstehen, zu scheiden. "213 Von der Bedeutung des Zeitenabstandes hängt folglich das zentrale Problem der Hermeneutik ab, wobei Gadamers spezifisches Anliegen dahin geht, die vorwiegend negative Beurteilung des Zeitenabstandes im Historismus, der das Verstehen als ein Überbrücken des Zeitenabgrundes konstruierte, zu revidieren. Man wird Gadamer nicht bestreiten wollen, dass der Zeitenabstand eine gewisse hermeneutische Fruchtbarkeit aufweisen kann. So ist es der Zeitenabstand oder die Ausschaltung zeitgenössischer Einschätzungen, die beispielsweise die Bedeutung von Nietzsehe oder van Gogh hervortreten ließen. Etliche weitere Beispiele ließen sich nennen, und man wird zuzugeben bereit sein, dass die großen Philosophen oder Künstler unserer Zeit womöglich erst in fünfzig oder hundert Jahren die Anerkennung finden werden, die ihnen gebührt. Dennoch scheint Gadamers These recht einseitig, da sie einer nahezu "teleologischen" Ausscheidung falscher Vorurteile im Laufe der Menschheitsgeschichte das Wort zu reden scheint. 214 Ein solcher Traditionsoptimismus läuft offenkundig Gefahr, die oft sehr negative Funktion des Zeitenabstandes zu verkennen. Sie manifestiert sich etwa, wenn der Abstand "produktive" Konzeptionen (oder Autoren) unterdrückt und damit für die Nachwelt unnachvollziehbar gemacht hat, weil sie zu ihrer Zeit als ketzerisch galten. Unsere abendländische Tradition und die Wissenschaftsgeschichte könnten davon lehrreiche Zeugnisse ablegen, sofern sie uns überhaupt überliefert wurden. Diese Unterdrückung produktiver Neuansätze dauert wohl bis zum heutigen Tag. Autoren, die zu sehr aus der Reihe tanzen, wie man sagt, werden oft nicht ediert, besprochen oder berufen. Ja, es steht zu befürchten, dass diese nivellierende Macht geschichtlicher Vorurteile in einer zunehmend homogener werdenden Welt nur im Wachsen sein kann. Gegen die einseitige Hervorkehrung des Zeitenabstandes spricht fernerhin, dass er nicht allzu viel Beistand leistet, wenn es um die Beurteilung zeitgenössischer Ansätze geht, wo dennoch die Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen ihren guten Sinn behält. Aus diesen Gründen hat Gadamer 1986 jedenfalls seinen ursprünglichen Text und damit seine Hauptthese revidiert. In der kenntlich gemachten Revision lautet der einschlägige Passus nicht
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mehr "Nichts anderes als dieser Zeitenabstand vermag ... ", sondern: "Oft vermag der Zeiten abstand die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir missverstehen, zu scheiden." Eine Fußnote zur Stelle bot eine kurze, wenngleich etwas rätselhafte Erklärung für den Texteingriff: "Hier habe ich den ursprünglichen Text gemildert: es ist Abstand - nicht nur Zeitenabstand - was diese hermeneutische Aufgabe lösbar macht."215 Was meint hier Abstand? Zweifellos wird hier der Abstand als Bedingung des Verstehens aufgewertet. Dies muss auf den ersten Blick verwundern, weil man sonst bei Gadamer doch auf einen negativeren Begriff von Abstand stößt. Richtungweisend wurde hier Kierkegaards Kritik an dem "Wissen auf Abstand,"216 das ein Grundzug des methodischen Denkens darstellt, von dessen Verführungen Gadamer gerade die Geisteswissenschaften und menschliches Selbstverstehen (insbesondere das ethische) befreien möchte. Die Verführung eines distanzierten Wissens ist zwar verständlich - und erstaunlich erfolgreich - im eng begrenzten Gebiet der exakten Wissenschaften, wo es um die Objektivierung und Messung von Naturvorgängen geht. Gadamer fragt sich indessen, ob die Idee eines solchen Abstandes von sich selbst im Rahmen der Geisteswissenschaften und erst recht dem des ethischen Selbstverstehens nicht gerade ein Widersinn ist, handelt es sich doch hier um unsere Anliegen und unsere eigenen Lebensfragen. Gadamer hat von Heidegger gelernt, dass menschliches Verstehen immer Selbstverstehen mit einschließt. Verstehen heißt, sich auf eine Sache verstehen, die uns angeht und bei der wir uns nicht Abstand von uns selbst leisten können. Gadamers Aneignung der aristotelischen phr6nesis ging in dieselbe Richtung: Im moralischen Wissen ist unser Sein selber immer mit im Spiele. Der Abstand, den Gadamer in der revidierten Fassung von Wahrheit und Methode anvisiert, kann also gewiss nicht den verobjektivierenden Abstand meinen, der die neuzeitliche und methodische Wissenschaft auszeichnet. Um was für einen Abstand handelt es sich aber? Ich möchte im Folgenden der Vermutung nachgehen, dass es sich vielleicht nicht so sehr um einen Abstand von uns als um einen Abstand in uns selbst handelt. Gemeint ist die Distanz, die wir unserer Endlichkeit eingedenk von unseren eigenen Vorurteilen unterhalten können. Uns der geschichtlichen Bedingtheit unserer Verstehensentwürfe bewusst, werden wir in den Stand gesetzt, in uns selbst andere Gesichtspunkte zum Tragen kommen zu lassen. Tag-
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täglich sind wir de facto mit anderen Verstehensmöglichkeiten als den unsrigen konfrontiert: Es sind die Gesichtspunkte anderer, diejenigen, von denen wir hören, für die etwas spricht, ob wir sie in uns selbst ganz integrieren können oder nicht. Auch "unsere" Gesichtspunkte sind uns schließlich von unserer Erziehung, Erfahrung und meistenteils von anderen beschert worden, ohne dass sie je ein schlüssiges Ganzes bildeten. Es ist dieser Spielraum von möglichen Verstehenshinsichten (in dem Sinne, in dem Heidegger das Verstehen als ein Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten hin angesetzt hatte), der faktisch unsere denkende Situation charakterisiert. In zwei bedeutenden Dialogen (Theaitetos 184e, Sophistes 263 e,264 a) - und die Wiederholung unterstreicht, wie wesentlich ihm diese Einsicht war - hat Platon das Denken trefflich als ein "inneres Gespräch der Seele mit sich selbst" bezeichnet. Im Gespräch, das wir immerfort mit und um uns führen, lernen wir, Abstand von unseren Meinungen zu gewinnen, und bleiben dennoch bei den Fragen, die uns als Selbstgespräch angehen. Diesen Abstand meint die Hermeneutik, wenn sie in ihm eine unerlässliche Bedingung des Verstehens anerkennt. Das Gespräch nimmt bekanntlich eine bevorzugte Rolle in der Hermeneutik ein. Es entbehrte nicht einer gewissen Konsequenz, als Habermas aus dem hermeneutischen Gesprächsmodell eine Diskursethik zu entwickeln versprach, die Geltungsansprüche von dialogischer Verständiguilgssuche abhängen ließ.2I? Habermas wollte damit über die Hermeneutik hinausgehen, um ihr eine "kritische" Funktion einzuprägen. Es fragt sich aber, ob diese kritische Instanz dem Selbstgespräch der Seele, die in sich andere, gar entgengesetzte Geltungsansprüche eben "gelten" lässt, nicht bereits innewohnt. Gewiss meint Dialog in erster Linie das Gespräch mit anderen, aber die Andersheit als solche muss ich gegen mich ausspielen, um sie allererst als Andersheit erfahrbar werden zu lassen. So kommt der Anstoß des anderen, in mir selbst zu wohnen, soll ich von ihm selbst qua Andersheit Kenntnis nehmen. In dieser Erfahrung des Anstoßes liegt gerade hermeneutischer Abstand, ein "Stehen weg von sich", das immer doch ein Stehen in mir selbst - als Selbstauseinandersetzung - bleibt. Ob diese augustinische, aber auch gut kartesianische Instanz des Selbstgesprächs in der gadamerschen Hermeneutik bislang zu ihrem vollen Recht gelangt ist, ist eine andere Frage. In der Nachfolge Heideggers war es 1960 noch für die hermeneutische Fragestellung dringlicher, den neuzeitlichen Subjektivismus als einen "Zerrspie-
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gel" in seine Schranken zu weisen: "Die Selbstbesinnung des Individuums", hieß es in Wahrheit und Methode, "ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens"218. Demgegenüber galt es, Verstehen weniger als eine Handlung der Subjektivität denn als ein Einrücken in ein Überlieferungs geschehen zu beschreiben. 219 Es fragt sich aber, ob die Dimension des Selbstgesprächs diesem Entrücktsein nicht bereits Rechnung trägt, sofern sie das Ausgeliefertsein an die Vielfalt von Gesichtspunkten als Vorgang des Bewusstseins erfahrbar macht. Um dieses Selbstgespräch der denkenden Seele zur Sprache zu bringen, bewahrte Gadamer in Wahrheit und Methode den Begriff des "Bewusstseins", das er als ein wirkungsgeschichtliches verstand. Auf diese Weise wollte er sich die Pointe der heideggerschen Kritik an den ontologischen Grundlagen des Bewusstseinsbegriffs zu Eigen machen, die Einsicht nämlich, dass das neuzeitliche Subjekt - als neues hypokefmenon - eine metaphysiche Permanenz und damit einen falschen Selbstbesitz vorgaukelt, die der menschlichen Endlichkeit zuwiderlaufen. Für Gadamer, der sich hier als Hegelianer erweist, blieb jedoch diese Selbstkritik des Bewusstseins eine Erfahrung des Bewusstseins. Es ist ein wirkungsgeschichtliches Bewusstsein, das sich als ein historisch bedingtes weiß. Damit ist es im Stande, ein Bewusstsein dieses seines Erwirktseins auszuarbeiten, selbst wenn es nie zu einer vollen Selbsttransparenz wird gelangen können. Den verstehenden Vollzug uns determinierender Horizonte fasste Gadamer unter dem Bild einer "Horizontverschmelzung" auf. Die Grundaufgabe des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins sah er darin, diese geschichtlichen Horizonte gegeneinander abzuwägen und abzuheben. Von einer "kontrollierten Horizontverschmelzung" war sogar die Rede: "Wir bezeichnen den kontrollierten Vollzug solcher Verschmelzung als die Aufgabe des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins." Auch dieser wichtige Text erfuhr in der 5. Auflage von 1986 eine (diesmal nicht kenntlich gemachte) kleine Modifikation: Den kontrollierten Vollzug der Horizontverschmelzung bezeichnete Gadamer nicht mehr als die "Aufgabe", sondern als "die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins"220. Wachheit hört sich wohl weniger positivistisch an als Aufgabe. Von Wachheit ist wohl auch die Rede, weil es hier vor allem darum geht, vor eigenen Vormeinungen auf der Hut zu sein. Dies geschieht aber nur, wenn die eigenen Vorurteile dadurch zur Abhebung gebracht werden, dass sie mit anderen Horizonten, aber auch mit den Horizonten anderer konfrontiert werden, die sich auch in uns selbst Gültigkeit
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verschaffen können. Dieses Mitdenken der eigenen Vorurteile, die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlich erwachten Bewusstseins, kann sich nicht anders denn als ein Selbstgespräch der Seele mit sich selbst denken lassen. Auch wenn er aus den genannten Gründen dem Bewusstseinsbegriff aus dem Wege ging, wollte Heidegger mit seinem Begriff des Daseins im Grunde vielleicht nichts anderes als dieses Selbstgespräch an sich selbst erinnern. Da zu sein heißt, dass jedes Dasein von seiner geworfenen Kondition dergestalt eine Ahnung hat, dass dieses Da für es selbst eine Frage ist, um es mit Augustin zu formulieren. Das "Da" schließt eine Selbsterschlossenheit dieses Da für sich selbst und als offene Frage mit ein. Das Dasein, dem es um sein eigenes Sein geht, ist wesentlich ein Gespräch, ein Verständigungsversuch, selbstverständlich auch mit den anderen, sofern sie auch da (oder "Da") sind. Als Gespräch, d. h. im Modus der Selbsterschlossenheit, sind wir in dieser Welt. Hier ist Hölderlin beim Wort zu nehmen, als er vom Gespräch sprach, "das wir sind". Die antisubjektivistische Stoßrichtung der Hermeneutik von 1960 ließ diese Dimension, die man sich nicht anders als kritisch und selbstkritisch denken kann, vielleicht nicht immer zum Tragen kommen. Seitdem wurde sie jedoch immer mehr in den Vordergrund gerückt. Sie lässt sich vielleicht am sprechendsten im Begriff des "inneren Ohrs" vernehmen, der in Gadamers letzten Arbeiten immer häufiger begegnet. Wenn ich recht sehe, tritt er zum ersten Mal in Die Aktualität des Schönen (1977)221 auf und begegnet auch sonst vor allem im Zusammenhang der Ästhetik, insbesondere bei der Theorie des "Lesens" (vgl. das Motto). Nichtsdestoweniger lässt sich die Idee des inneren Ohrs für das allgemeine Verständnis des hermeneutischen Abstandes fruchtbar machen. Es ist ja für die Hermeneutik überhaupt kennzeichnend, dass sie vom Modell der Kunst ausgeht, um die Reflexionsschranken des herrschenden Wissenschaftsmusters namhaft zu machen. Die Rede von einem inneren Ohr hat im Bereich der Ästhetik einen plastischen Sinn. Wer eine Melodie hört, ein Gedicht liest oder ein Gemälde beobachtet, steht nicht einfach vor einem objektivierbaren, vernehmbaren Gegenstand, den jeder andere genau so wie ich selbst aufnehmen wird. Wer von Kunst etwas verstehen will, muss "mitgehen". Das Kunstwerk will durch uns selbst hindurchgehen, Antwort von uns erheischen. Jedes Kunstwerk, das diesen N amen verdient, verlangt von uns eine Reflexions- oder Aufbauarbeit, die jeder auf seine Weise und nach seinen gegebenen
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Möglichkeiten vollzieht. 222 Eine solche Reflexion erfolgt in jeder Wiederaneignung des Werkes, sofern es zu uns spricht. So konnte Gadamer am Paradigma des Kunstwerkes die Anwendungsstruktur eines jeden Verstehens wieder erkennen. Verstandenes ist immer schon ein auf uns Angewandtes. Jedes Kunstwerk muss in Gadamers Worten "gelesen" werden, d. h. vom innneren Ohr erneut zum Sprechen gebracht werden. Gadamer schließt sich Goethe an, der das Lesen als eine Art Aufführung auf einer inneren Bühne verstand. 223 Gadamers Begriff des Lesens ist hier aber sehr weit zu fassen. Lesen versinnbildlicht für ihn "die Vollzugsform aller Begegnung mit Kunst"224. Um ein Kunstwerk zu verstehen und als Kunstwerk zu erleben, muss ich es mit dem inneren Ohr lesen. Das Lesen behält bei Gadamer den Nebenton des Aufsammelns (recueillement), des Auslesen- und Gärenlassens. Lesen ist zugleich ein In-sich-zurück-Gehen, das man Reflexion nennen darf. Diese Instanz des inneren Reflektierens ist es, die Sinnvolles für mich sprechen lässt. Man muss das Gehörte durch das innere Ohr hindurchgehen lassen, um es in seiner Bedeutung, d. h. in seinem Wiederklang in uns zu erfassen. Gilt das aber nicht für jede Erfahrung von Sinn überhaupt, dass ein "gelesener" Sinn mein inneres Ohr erreichen soll? Auf diese Weise wird das Lesen für Gadamer zu einem anderen Wort für das Verstehen überhaupt: "Lesen", schreibt er, ist "die gemeinsame Grundstruktur allen Vollzuges von Sinn".225 Gadamer hatte sich in Wahrheit und Methode auf das Beispiel der Kunst berufen, um eine die methodische Wissenschaft übersteigende Wahrheits erfahrung zurückzuerobern, die auch für die Wissenschaften vom Menschen Geltung beanspruchen könnte. Das entscheidende Merkmal der ästhetischen Wahrheit, wenn man sie so nennen darf - denn sie ist viel universaler als das Ästhetische im engeren Sinne -, besteht darin, dass sie nur im Akt des lesenden Aufnehmens ihren Sinn entfaltet. Es gibt keine ästhetische Wahrheit - ja keine Wahrheit schlechthin, sofern die ästhetische Erfahrung hier Universalität in Anspruch nimmt - ohne die Wachsamkeit des inneren Ohrs. 226 Im inneren Ohr liegt ein Gewinnen von Distanz, obwohl man ganz bei sich selbst bleibt. Denn wer sich etwas durchs Ohr gehen lässt, erwägt es auch. Das Ohr versucht, das Gehörte mit seiner jeweiligen Welterfahrung in Einklang zu bringen. Inmitten der Reflexionsarbeit des inneren Ohrs erfolgt eine Art "Horizontverschmelzung" oder ein Dialog zwischen dem eigenen Horizont und
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dem neu Erfahrenen. Das Neue wird im inneren Ohr vom Hintergrund unseres Welthorizontes als Neues erfahren, sodass beides auf Abstand oder zur Abhebung gebracht wird. Diese Erfahrung des Anstoßes erfolgt auch im Gespräch, im Dialog mit anderen, der eine Art Erweiterung und Fortsetzung des Gesprächs der Seele mit sich selbst ist. Die Andersheit geht aber nie in meiner Aneignung ihrer selbst auf. Im Gespräch mit anderen - oder mit anderen Ansichtspunkten, die aus uns selbst aufkeimen können - ist das innere Ohr darum bestrebt, auf das innere Wort des anderen einzugehen. Es gilt, die Zeichen des anderen auch von dessen Blickpunkt aus zu erfahren. Was ich verstehen will, geht über das zufällig Geäußerte hinaus. Es entspringt aus einem Mitteilungsversuch, den die Worte nie ausschöpfen. So versucht das innere Ohr dem inneren Wort des anderen zu entsprechen. In dieser Entsprechung (adaequatio) verbirgt sich die hermeneutische Wahrheitserfahrung schlechthin - als Aufgabe, als Wachheit. Denn die Legitimität des anderen, die ich von ihrem eigenen inneren Wort aus zu hören versuche, ist es, die meine eigene Vorurteilshaftigkeit in Frage stellt. Sonst bliebe das Selbstgespräch der Seele ein monadisches im Sinne von Leibniz. Eine selbstsichere Individualität wäre mit sich selbst nicht im Gespräch. Die Revision der Vorurteile, in der wir mit Gadamer die Grundaufgabe der Hermeneutik erkannten, wird mir vom inneren Wort des anderen bedeutet, das ich aber nur im inneren Ohr vernehmen kann, indem ich es durch mich hindurchgehen und sich gegen mich ausspielen lasse. Im Wechselgespräch der Gesichtspunkte gegeneinander wird ein gelassener Abstand von ihnen errungen. Nur wo der selbstsichere Monolog des Ich herrscht, ist Abstand von der eigenen Voreingenommenheit unmöglich. Das philosophische Muster dieses inneren Gesprächs, das über sich hinauszuwachsen strebt, findet sich - außer bei Augustin, auf den hier mehrfach verwiesen wurde - vielleicht in Kants Begriff der reflexiven Urteilskraft. Im Unterschied zur bestimmenden verfügt die reflektierende Urteilskraft über kein vorgegebenes Allgemeines, unter das sich ihre einzelnen Erfahrungen subsumieren ließen. Die reflektierende Urteilskraft geht vom Besonderen aus, um sich das dazu passende Allgemeine auszudenken, ohne dass es ihr aber je vollkommen gelänge. Denn das Finden dieses Allgemeinen bedeutete das Ende unserer Reflexion und damit unseres Daseins. Offenbart sich nicht in dieser unaufhörlichen Arbeit der reflektierenden
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Urteilskraft die Grundsituation unseres Daseins als eines Selbstgesprächs, als ein Unterwegs vom Besonderen auf ein Allgemeines hin, das sich aber nicht dinglich vorführen lässt?227 Damit wird auch ein Begriff von Vernunft zurückgewonnen, den der allgemeine Menschenverstand seit jeher für selbstverständlich hält, von dem sich aber die Philosophen etwas entfernt haben. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird nämlich Vernunft mit Reflexionskapazität gleichgesetzt. Wer vernünftig handelt, ist einer, der sein Handeln wohl überlegt und die Konsequenzen seiner Handlungen nach besten Kräften ausgewogen hat. Desgleichen fällt ein vernünftiges Urteil, wer alle möglichen Gesichtspunkte erwogen und gegeneinander ausgespielt hat. Gibt es für uns Menschen eine höhere Vernunft? Die zunehmend von der methodischen Wissenschaft her kommende und gelähmte Philosophie erliegt vielleicht der Verführung, Vernunft viel zu sehr als ein verifizierbares Verfahren der Wissenschaft zu begreifen. So ist von einer instrumentalen, kommunikativen oder wirtschaftlichen und vielen anderen Typen von Rationalität die Rede, wo man die selbstkritische Instanz des inneren Ohrs als Reflexionskapazität umsonst suchen wird. Ist aber nicht diese reflexive Vernunft, die es uns erlaubt, von unseren Meinungen Abstand zu nehmen, bereits eine kommunikative, d. h. eine, die immer schon konkurrierende Weisen der Weltorientierung gegeneinander auszuwägen hat? Für die methodische Rationalität erscheint diese Reflexionsinstanz als eine bloß subjektive, als ein beliebiges Spiel des individuellen Meinens. Die szientistisch genährte Furcht vor diesem angeblich Beliebigen versperrt uns vielleicht den Zugang zur einzigen Form von Vernunft, die doch jeder an sich selbst erfahren kann, sofern er vermöge des inneren Ohrs den umherlaufenden Tönen und Reizen auf Distanz gehen kann. Die Identifikation der subjektiv erfahrenen Vernunft mit willkürlicher Subjektivität ist vielleicht der verhängnisvollste Kurzschluss neuzeitlicher Rationalitätstypen, die immer wieder eine Vernunftinstanz in Aussicht stellen, die sich über die Köpfe der denkenden Individuen hinweg erstrecken würde. Gibt es aber so etwas? Ist es nicht vielmehr so, dass sich diese überindividuelle Rationalität weiterhin vor dem Forum des inneren Ohres rechtfertigen lassen muss, um Verbindlichkeit zu erlangen?
XI. HANS-GEORG GADAMER UND DIE FRANZÖSISCHE WELT Der französischen Welt wird oft eine gewisse Insularität nachgesagt: Die Franzosen bleiben gern unter sich, am liebsten in Paris und bei dem, was dort Furor macht. Dieses Vorurteil herrscht nicht zuletzt in der Philosophie. Es wird aber durch die enorme Germanophilie der französischen Philosophie Lügen gestraft. Von Bergson bis Derrida, über Kojeve, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas, Ricreur, Foucault und Deleuze kann man sich die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts ohne Kant, Hegel, Nietzsche, Husserl, Heidegger, von Freud und Marx ganz zu schweigen, überhaupt nicht vorstellen. In diesem Jahrhundert gilt dies in hohem Maße für Heidegger. Ein nicht gering zu schätzender Teil von Heideggers internationaler Bedeutung ist wohl auch auf die Resonanz zurückzuführen, die ihm in der französischen Welt beschieden wurde. Um nur die wichtigsten, die ganze Welt in ihren Bann ziehenden Strömungen zu nennen, war er zweifelsohne die Muse hinter der Existenzphilosophie von Sartre und der Dekonstruktion von Derrida, vielleicht auch hinter Foucaults genealogischen Studien. Damit stand er sowohl einer Zuspitzung der Subjektphilosophie wie deren radikalster Infragestellung in der Dekonstruktion Pate. 11 faut le faire, kann man dazu nur sagen! Diese erdbebenhafte Wirkung Heideggers steht aber im krassen Widerspruch zur eher verhaltenen Reaktion der Franzosen auf das Werk seines Schülers Hans-Georg Gadamer. Zwar darf man geltend machen, dass Heidegger und Gadamer nicht ganz vergleichbare Größen sind. Aber dem ist entgegenzusetzen, dass die französische Wirkung doch deutlich hinter der GadamerRezeption steht, die man etwa in Italien, in den USA, aber auch in den östlichen Ländern beobachten kann. In diesen Ländern ist Gadamer inzwischen in den Rang eines Klassikers aufgestiegen. Selbst die analytische Philosophie wurde durch die wohl geläufigste aller hermeneutischen Thesen, nämlich dass alles durch Interpretation und Sprache vermittelt sei, angerührt, sodass man auch in ihr von einer gewissen Gadamer-Rezeption sprechen darf. Die französische Reaktion war gewiss zurückhaltender. Als sich Gadamer und Derrida Anfang der 80er Jahre begegneten, sprach
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bereits der französische Herausgeber der dort geführten Diskussionen von einer "unwahrscheinlichen Debatte"228. Eigentlich muss das überraschen. Warum sollte denn eine Debatte zwischen Gadamer und Derrida so unwahrscheinlich sein, sind sie doch die profiliertesten Fortsetzer des heideggerschen Denkens? Konnte man sich wirklich nicht auf dem gemeinsamen Boden dieses Erbes verständigen, zumal die Begriffe der Hermeneutik und der Destruktion, auf die Gadamer und Derrida abhoben, bei Heidegger beinahe Synonyma waren?229 Alles schien in der Tat die Franzosen für eine Aufnahme des gadamerschen Denkens zu prädisponieren: die vorzügliche Vorbereitung durch Heidegger, ihre allgemeine Germanophilie in philosophicis, Gadamers eigene Vorliebe für Kunst, Rhetorik und Dichtung, aber vor allem die unverkennbare Nähe der Franzosen zu den Grundeinsichten der Hermeneutik in die geschichtliche Sprachlichkeit unserer Erfahrung. Die bereits erwähnte populär-hermeneutische These, nach der alles Interpretation und Sprache sei, ist nämlich auch eine Grundüberzeugung der durch Nietzsehe und Heideggger hindurchgegangenen französischen Philosophie. Ist das französische Denken von Autoren wie Sartre, Foucault, Deleuze oder Derrida nicht durchweg hermeneutisch? So wird es in der Tat oft gesehen (und kritisiert), vor allem, wenn ich recht sehe, in Amerika, wo man durch die - manchmal hilfreiche - Distanz dazu geführt wird, die französischen und deutschen Ansätze in ihrem gemeinsamen "kontinentalen" Zug zu erkennen. Vermutlich half mir, als Kanadier, diese Nähe Amerikas, als ich in der Hermeneutik eine der konsequentesten Entwicklungen des nachheideggerschen Denkens sah. Wie kann man sich aber die verhaltene Reaktion der Franzosen auf Gadamers Opus erklären? Wie immer spielten kontingente Gründe eine Rolle. Zu ihnen zählt die Qualität der Übersetzungen. Wahrheit und Methode wurde in dieser Hinsicht in Frankreich schlecht bedient. Eine Übersetzung erschien zunächst im Ricreurnahen Seuil-Verlag im Jahre 1976, aber in einer um 200 Seiten amputierten Fassung. Der Verlag fand nämlich das Werk zu umfangreich (auch dies ein Rezeptionshindernis), sodass die "geschichtlichen" Abschnitte, die am Anfang der ersten zwei Teile von Wahrheit und Methode stehen, einfach ausfielen. Später konnte Gadamer scherzhaft - oder auch nur halb scherzend - dazu sagen, dass Ricreur damit den Weg zur Rezeption einer Hermeneutik verbauen wollte, die zu der seinigen in Konkurrenz hätte stehen können ... Erst 1996 brachte Pierre Fruchon, der vor kurzem starb, eine
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vollständige Übersetzung zustande, an der ich mitarbeitete. Es bleibt abzuwarten, ob eine größere Wirkung von ihr ausgeht. Aber die bis dahin fehlende Übersetzung genügt nicht, um die zögerliche Gadamer-Rezeption zu erklären. Denn die Franzosen ließen sich ja von Heidegger bezaubern, lange bevor es eine vollständige Übersetzung von Sein und Zeit gab (die erst Mitte der 80er Jahre erschien!). Andere kontingente Faktoren spielten eine Rolle, wie etwa der Umstand, dass die französische HeideggerSchule, die den Boden für eine Rezeption der Hermeneutik hätte bereiten sollen, gänzlich unhermeneutisch war. Schulbildende Heidegger-Vermittler wie Jean Beaufret kamen vor allem aus dem Existentialismus und von der husserlschen Phänomenologie her. Von Hermeneutik ist in den zahlreichen, gewiss auch verdienstvollen Arbeiten von Beaufret so gut wie nichts zu lesen, und seine unhermeneutische Lesart von Heidegger wurde an die gesamte folgende Generation vererbt. Heidegger erschien und erscheint meist als der Nachfolger von Husserl, dessen Kartesianismus natürlich eine Saite in der französischen Seele berühren musste, während er in Deutschland - bei allem Gemeinsamen - wohl eher in Gegensatz zu Husserl gesehen wurde. Die unverkennbar unhusserlsche Betonung der Zeitlichkeit, der Geschichtlichkeit und der Faktizität wurde in Deutschland wie selbstverständlich eher auf Dilthey, die deutsche Romantik und ihre Fortwirkung in der hermeneutischen Tradition zurückgeführt. Otto Pöggeler hat gelegentlich von dem "diltheyfremden" Denken der Franzosen gesprochen. Dem muss man indes entgegenhalten, dass es an Vermittlern Diltheys in der französischen Welt nicht gefehlt hat, wie das Beispiel von Raymond Aron, George Gusdorf und Paul Ricreur lehrt,230 aber ihre Dilthey-Rezeption war so "heideggerfremd", dass es nicht leicht wurde, die gemeinsame Herkunft von Dilthey und Heidegger zu erkennen. Sieht man von den mangelhaften Übersetzungen und dem unhermeneutischen Zuschnitt der Heidegger-Rezeption ab, erklärt sich m. E. die zögernde französische Gadamer-Rezeption vielleicht vor allem durch den Umstand, dass viele Themen und Begriffe von Gadamer in Frankreich bereits "besetzt" waren, aber so anders besetzt, dass man die Andersartigkeit des gadamerschen Vorhabens nicht registrieren konnte. Dies sei im Folgenden anhand der zweifelsohne zentralen Begriffe der Hermeneutik, der Geisteswissenschaften und der Interpretation kurz angedeutet. Der Hermeneutik-Begriff war zunächst vor Gadamer bereits besetzt und geladen, vor allem durch Paul Ricreur. Das vielschichtige
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Werk von Paul Ricreur ist seit langem mit der Hermeneutik identifiziert, aber es hat seiner Herkunft nach wenig, wenn überhaupt etwas mit Gadamer zu tun. Ricreurs maßgebliche Arbeiten zur Hermeneutik in den 60er und 70er Jahren - man denke vor allem an Die Interpretation. Versuch über Freud (1965), Der Konflikt der Interpretationen (Paris 1969) und Die lebendige Metapher (Paris 1975) - sind nachweislich ohne Kenntnis von Wahrheit und Methode entstanden. In ihnen sind nämlich Bezugnahmen auf Gadamer anfangs nicht vorhanden, später rar und völlig sekundär. Ricreurs Beschäftigung mit der Hermeneutik geht offenbar auf seine in den 50er Jahren verfolgten Forschungen zur Hermeneutik der religiösen Symbole zurück. Dies führte ihn dazu, das Gespräch mit der protestantischen Theologie von Bultmann und der diltheyschen Hermeneutik der Geisteswissenschaften aufzunehmen. Die Hermeneutik steht seitdem für Ricreur für eine die Objektivationen nicht scheuende Philosophie der mehrdeutigen Zeichen im weitesten Sinne, d. h. der Symbole, der Metapher, der Erzählungen, der Geschichte und schließlich des Selbst, die er in seinen späteren Studien über Zeit und Erzählung (3 Bde. Paris 1983-1985), Soi-meme comme un autre (1990) und zuletzt La memoire, l'histoire, l'oubli (2000) ausgearbeitet hat. Ricreurs anscheinendes Festhalten an dem methodologischen Konzept von Dilthey erschien Gadamer immer wie ein kartesianischer Rest, und Ricreur zögerte seinerseits, den heideggerschen (und in der Sache auch gadamerschen) Boden einer allgemeinen Hermeneutik der Faktizität zu betreten, die die Ansprüche der Methodologie hinter sich zu lassen schien. Insofern wurde Ricreur durch Dilthey gegen Heidegger geimpft, wie Gadamer seinerseits durch Heidegger gegen Dilthey. Deshalb wurde das Gespräch zwischen Gadamer und Ricreur so schwierig, ja inexistent. 231 Dies erschwerte jedoch die französische Rezeption der gadamerschen Hermeneutik, deren Entstehung ihrerseits natürlich nichts mit Ricreur zu tun gehabt hatte. In Frankreich blieb aber die Hermeneutik, für deren Universalität Gadamer warb, mit Ricreur identifiziert, damit aber auch für viele mit ihrer theologischen Herkunft. Das war in gewissem Sinne bereits ein Unrecht Ricreur gegenüber, aber in der ja alles verdunkelnden Öffentlichkeit blieb der Hermeneutik der Hauch des Theologischen haften. Die Hermeneutik der Symbole stammte ja ursprünglich aus der Religionswissenschaft. Ricreur schien ihr auch einen restaurativen Sinn zu geben, als er den Meistern des Verdachts - Freud, Marx, Nietzsehe und den Strukturalisten - eine Hermeneutik entgegenstellte, die auf eine "recollection du sens", eine "Wiedergewinnung des Sinnes"
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ausgerichtet war. Hinter der strukturalistischen Ökonomie der Zeichen galt es, so schien es, einen Sinn zu retten, den Ricreur nicht selten mit theologisch geladenen Begriffen umschrieb (Vertrauen, Teleologie, Eschatologie des Sinnes usw.). Eine so restaurativ klingende Hermeneutik hatte einen schweren Stand gegen ihre damaligen Gegner, die Claude Levi-Strauss und Jacques Lacan hießen. Im Lichte ihrer Anti-Hermeneutik konnte die Hermeneutik nur eine verkappte Theologie des Sinnes sein. Diesen restaurativ-versöhnenden Sinn der Hermeneutik scheint übrigens Derrida weiterhin vorauszusetzen, sodass seine Dekonstruktion eher die Linie der Hermeneutik des Verdachts fortzusetzen scheint. Natürlich waren diese gallischen Debatten Gadamer völlig fremd, aber sein eigenes Pochen auf die Tradition und die Autorität, soweit es in Frankreich zur Kenntnis genommen wurde, musste das restaurative,232 um nicht zu sagen "reaktionäre" Vorurteil gegen die Hermeneutik, das auch in Deutschland nicht unwidersprochen blieb, stärken. Gadamers Ansatz bei den Geisteswissenschaften, sofern auch er rezipiert wurde, musste auch für Äquivokationen sorgen. So selbstverständlich er in der hermeneutischen Tradition seit Dilthey war, hatte der Begriff der "sciences humaines" einen völlig anderen Klang im Frankreich der 60er und 70er Jahre. Mit ihnen assozierte man nämlich nicht die traditionellen deutschen Geisteswissenschaften (die Philologie, die Geschichte usw.), die im französischen Sprachraum oft eher zu den "Lettres" gerechnet werden, sondern die neu entstandenen "Humanwissenschaften", für die sich der Strukturalismus stark machte, d.h. die Linguistik (mit Saussure), die Ethnologie und die Anthropologie (mit Levi-Strauss), die Psychoanalyse (mit Freud und Lacan) und im Allgemeinen auch den "wissenschaftlichen Marxismus" (nach Althussers Ausdruck). Diese Wissenschaften nannten sich damals "sciences humaines" in Frankreich, und ihr größter Theoretiker wurde in der Hauptsache Michel Foucault. Sein Hauptwerk, Les mots et [es choses, trug ja den Untertitel: "Une archeologie des sciences humaines". Mit ihrer Suche nach den invarianten Stukturen der Signifikanten zeichneten sich diese "sciences humaines" aber ausgerechnet durch ihren antihumanistischen, antihermeneutischen, rein objektivierbaren, aber auch ihren revolutionären Ansatz aus. Sie schienen nämlich einen Kehraus mit der traditionnellen Philosophie schlechthin zu versprechen (die auch die Anhänglichkeit ihrer Theoretiker für den späten Heidegger erklären hilft). Für den damaligen Zeitgeist schienen jedenfalls diese "sciences humaines" von dem Ehrgeiz erfüllt, die überlieferte
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Philosophie auf- und abzulösen. Die in die Defensive gedrängte traditionelle Philosophie ereiferte sich ihrerseits, sich gegen den drohenden Einmarsch der "sciences humaines" zu wehren, den viele hinter den Unruhen vom Mai 1968 vermuteten. Auch wenn gebildete Geister dies anders zu sehen vermochten, standen die "sciences humaines" für einen wissenschaftlichen und revolutionären Ansatz, der die Philosophie auflösen wollte. Gadamers Ansatz bei den "sciences humaines" konnte in dieser Situation nur Missverständnisse hervorrufen. Die Vertreter der klassischen Philosophie hatten ja einen Horror vor ihnen, und die Verfechter der "sciences humaines" konnten nur zu dem Schluss kommen, Gadamer habe die Humanwissenschaften von Grund aus missverstanden. 233 Eine Hermeneutik der Geisteswissenschaften war in diesem Kontext für niemanden recht anziehend. Der Begriff der Interpretation bildet vielleicht ein letztes hier zu nennendes Hindernis. Damit verbinde ich einen Knäuel von Themen, die man von einer allgemeinen Hermeneutik hätte erwarten dürfen. So verschiedenartig sich die Ansätze von Sartre, MerleauPonty, Foucault, Deleuze, Ricreur und Derrida auch ausnehmen mochten, trafen sie sich doch in der Anerkennung des interpretatorischen Charakters unserer Welterfahrung. "Alles ist Sprache", "alles ist durch Paradigmen oder epistemes bedingt", "es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen" sind doch Schlagworte, die man gern mit ihrem Denken und ihrer Herausforderung identifiziert. Diese Überzeugungen ließen sich auch unschwer auf Nietzsehe zurückführen, der neben Heidegger bekanntlich zu einer großen Inspiration der französischen Philosophie wurde. Eine allgemeine Theorie der Interpretation hätte man vielleicht zur Not unter dem Titel der Hermeneutik rezipieren können, weil es nahe lag. Aber hier musste die gadamersche Hermeneutik die Erwartungen etwas enttäuschen. Sie entwickelte zwar eine allgemeine Hermeneutik, aber sie schien sich um Nietzsehe ziemlich wenig zu kümmern. 234 Einschlägige Begriffe wie die von Interpretation und Perspektive scheinen auch bei Gadamer nicht den Stellenwert einzunehmen, der ihnen in einer allgemeinen Hermeneutik zuzustehen scheint. Gadamer zieht offenbar andere Begriffe wie die von Verstehen, Auslegung, Vorurteil und Horizont vor, hinter denen man zwar dieselbe Erfahrung vermuten darf. Dennoch darf man hier von einer gewissen Nietzsche-Ferne Gadamers sprechen. Sie wird seine Aufnahme in der Nietzsche- und Heidegger-freundlichen Frankophonie auch nicht begünstigt haben.
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Gadamers Nietzsche-Ferne ist nicht mit einer persönlichen Abneigung wegzuerklären, sie hat einen sachlichen Grund. Gadamer sieht nämlich in Nietzsches hermeneutischem Radikalismus (alles ist Interpretation, also gibt es keine Wahrheit) einen Kurzschluss, der auf einem geheimen Kartesianismus gründet. Die Wahrheit, die es nicht gibt, ist die von Descartes, d. h. die auf einem fundamenturn inconcussum gegründete, die schlechthin gewisse. Allein im Vergleich mit einer solchen Wahrheit können unsere Verstehensversuche wie bescheidene "Perspektiven" oder "Interpretationen" wirken, die völlig relativ und relativierbar sind. Der Paralogismus steckt für Gadamer darin, dass für Nietzsche daraus folgt, dass alle Wahrheit und alle Verständigung dahin sind. Dies sei nur stichhaltig, folgert Gadamer, wenn man die kartesianisch-methodische Wahrheit voraussetzt. Deshalb ist Gadamers ganze Hermeneutik bestrebt, an eine Erfahrung, besser: an die Erfahrungen von Wahrheit zurückzuerinnern, die in diese methodische Wahrheit nicht aufgehen, aber die unser ganzes Verstehen nähren, die hermeneutische Wahrheit, die wir beispielsweise in der Begegnung mit dem anderen oder mit einem Kunstwerk erfahren, wo Wahrheit weniger auf Distanzierung als auf Anteilnahme beruht. Einen weiteren Kurzschluss will Gadamer in Nietzsches Nihilismus erkennen, in dem auch Heidegger und Ernst Jünger die Signatur unserer Epoche sahen: Es gebe keinen Halt, keine Werte mehr. Dies sei auch nur probehaltig, argumentiert Gadamer, wenn man einen überzeitlichen Halt, einen absoluten Wert erwartet. Aber seit Platon müsste man doch wissen, dass dies mit unserer Endlichkeit unvereinbar ist. Nur Götter verfügen über solche Gewissheiten. Das besagt aber beileibe nicht, dass uns jeder Halt abgeht. Es ist in Gadamers Augen intellektueller Hochmut,235 das Fehlen einer für unsere Beweisansprüche letztbegründeten Wahrheit mit dem Ausbleiben eines jeden Haltes bzw. mit einem heillosen Perspektivismus gleichzusetzen. Gibt es nicht die Solidarität, die tragende Gemeinschaft des Gesprächs, der Verständigung und des Zusammenseins? Selbst ihr Fehlen bezeugt ihre tragende Kraft. Denn man kann nur unter mangelnder Orientierung leiden und klagen, wenn man einen gewissen gemeinsamen Boden teilt, sei es nur den der fehlenden Orientierung, die sehr wohl eine neue Solidarität zu bilden vermag. All dies scheint mir Gadamers bedächtige Nietzsche-Ferne zu erklären, die sich auf ihre Art sehr wohl wie eine Nietzsche-Nähe lesen lässt. Sie hat gewiss nicht das Gespräch mit der französischen Philosophie, und insbesondere mit Derrida, erleichtert. Das ist scha-
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de, zumal Gadamer und Derrida in dieser ausgebliebenen Auseinandersetzung um Nietzsche am meisten voneinander hätten lernen können. Denn das Denken findet sich gerade dort herausgefordert, wo das Gespräch schwierig ist. Die Dekonstruktion und die Hermeneutik, die dem anderen begegnen möchte, fängt immer mit sich selbst an.
ANMERKUNGEN 1 Vgl. M. Heidegger, Brief an R. Stadelmann vom 1. September 1945, in: M. Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Gesamtausgabe, Band 16, Frankfurt a.M.: V. Klostermann 2000,395: "In erster Linie empfehle ich Gadamer (Leipzig); wo er zur Zeit ist, weiß ich nicht. Er ist nach dem geistigen Format, als Lehrer und Kollege und überhaupt der Wertvollste. Ich möchte mir ihn als meinen Nachfolger wünschen, wenn es so weit wäre." Vgl. auch den Brief an denselben vom 30. November 1945, ebd., 407: "Gadamer ist allerdings ein ausgezeichneter Lehrer und hat vor allem Erfahrung und Neigung dazu. Er hat mir neulich aus Leipzig geschrieben, ist dort Dekan und ginge gern an eine 'kleinere' Universität. [... ] Gadamer wäre für die Studenten und für die Fakultätsarbeit wichtiger, denn er ist eben im besten Sinne der geborene vornehme Professor - aber mit weitem und freiem Horizont und in der unmittelbaren Fühlung mit den Sachen. Falls ich hier in Freiburg überhaupt noch gefragt werde, möchte ich Gadamer an erster Stelle als Nachfolger nennen." 2 V gl. 0. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983,395. 3 Über die nicht zu unterschlagenden Unterschiede in Heideggers und Gadamers Auffassung des hermeneutischen Zirkels vgl. meine Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 125-134. 4 Vgl. Hans-Georg Gadamer [im Folgenden: HGG], Gesammelte Werke [im Folgenden: GW], Bd. 2, Tübingen, 2. Aufl. 1993,448. 5 "Über die politische Inkompetenz der Philosophie" hieß der resignierte Titel eines Beitrages aus dem Jahre 1993, der jetzt in den Hermeneutischen Entwürfen, Tübingen 2000, 35-41 vorliegt. 6GW2,448. 7 Zu Gadamers distanzierter Reaktion auf die Herausforderung des Nihilismus, in dem Heidegger die dramatische Konsequenz der abendländischen Metaphysik erblickte, vgl. das letzte Kapitel des vorliegenden Bandes, "Hans-Georg Gadamer und die französische Welt". 8 J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991,2. Aufl. 200l. 9 R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 1933,9. Aufl.1993, 28. 10 Man vergleiche diesen Titel mit der allerersten Zeile von Wahrheit und Methode: "Die folgenden Untersuchungen haben es mit dem hermeneutischen Problem zu tun." 11 Das Problem der Hermeneutik, in: Glauben und Verstehen, Bd. 11, Tübingen 1952,6. Aufl.1993, 215.
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Anmerkungen
12 Ebd. 13 Das Problem der Hermeneutik, in: Glauben und Verstehen H, 226-227. 14 WM, in: GW I, 264. Vgl. sehr ähnliche Wendungen im Vorwort zur 2. Auf!. von WM, jetzt in GW H, 440. 15 Vgl. R. E. Palmer, Hermeneutics. Interpretation Theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger and Gadamer, Evanston 1969. 16 V gl. I Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999,319. 17 Quintilian, Institutio oratoria (ca. 95), hrsg. von M. Winterbottom, Oxford 1970, I, 9. 18 V gl. I Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, Berlin 1982; A. D. Schrift, Nietzsehe and The Question of Interpretation. Between Hermeneuties and Deconstruction, New York 1990. 19 Zu dieser Ausdehnung der Hermeneutik vgl. M. Joy, Rhetoric and Hermeneutics, in: Philosophy Today 32 (1988),273-285. 20 Vgl. exemplarisch Kopperschmidt, I (Hrsg.): Rhetorik, Darmstadt: Bd. I: Rhetorik als Texttheorie, 1990; Bd. H: Wirkungsgeschichte der Rhetorik,199l. 21 V gl. W. Jens, Tod der Rhetorik, in: Ars rhetorica, in: I Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik, a. a. 0., Bd. H, 200. 22 H.-G. Gadamer, GW H, 11l. 23 W. Dilthey, GS XIVIl, 597. 24 V gl. I Grondin, The Task of Hermeneutics in Ancient Philosophy, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Bd. 8 (1994). 25 Zur Allegorese bei Platon, vgl. jedoch I Tate, Plato and Allegorical Interpretation, in: Classical Quarterly, 23 (1929),142-154. 26 Pseudo-Herakleitos, Quaestiones Homericae, ed. F. Oelmann, Leipzig 1910,2. V gl. hierzu H.-I Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, Münster 1978, 45-53 und I Pepin, Mythe et allegorie, 2. Auf!. Paris 1976,159-167. 27 I Danielou, Origene, Paris 1948,179-190. 28 Über die terminologischen und z. T. sachlichen Abweichungen dieser Lehre bei Origenes vgl. H. de Lubac, Histoire et esprit, Paris 1950, 141ff. 29Vgl. C. Schäublin, Untersuchungen zu Methode und Herkunft der antiochenischen Exegese, Köln/Bonn 1974. 30 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974),45. 31 Vgl. H. de Lubac, Exegese medievale. Les quatre sens de l'Ecriture, 4 Bde. Paris 1959-1964. 32 Sth I, q 1, a 10 conclusio. 33 Vgl. K. Dockhorn, Rezension von Wahrheit und Methode, in: Göttingisehe Gelehrte Anzeigen, 218 (1966),169-206,179. 34 Ebd.
Anmerkungen
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35 G. Ebeling, Art. Hermeneutik, in: RGG 111,249. 36 Zit. bei K. Dockhorn, 179. 31 G. Ebeling, 252. 38 Im Folgenden werden z. T. Ausführungen von der 2. Auflage meiner Einführung in die philosophische Hermeneutik (2001) übernommen. 39 V gl. 1. R. Schneiders grundlegende Studie: Philipp Melanchthon's Rhetorical Construal of Biblical Authority, Lewiston 1990,18. 40 Philipp Melanchthons "Rhetorik", hrsg. von 1. Knape, Tübingen 1993, 63,121. 41 Ebd., 64, 121. 42 Ebd., 107, 158. 43 W. Dilthey, GS XIV/1, 601. 44 In Gadamers GW 11, 276-291. Vgl. auch 1. Knapes Einleitung zu Melanchthons "Rhetorik", 1. 45 H.-G. Gadamer, GW 11,280. 46 Ebd., 279. 41 Vgl. 1. Knape, 6ff. u. 1. R. Schneider, 55ff. 48 Philip Melanchthons "Rhetorik", 65, 122. 49 Philippi Melanchthonis de rhetorica libri tres, Wittenberg 1519,29-41. 50 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 95, 145. 51 Ebd., 95, 146. 52 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, a. a. 0., 46f. 53 Vgl. 1. R. Schneider, 201. 54 Ebd., 180. 55 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 85, 140. 56 V gl. 1. Knapes Einl. zu Philipp Melanchthons "Rhetorik", 23. 51 Vgl. L. Geldsetzer, Einleitung zum Neudruck des 2. Teiles der Clavis scripturae sacrae unter dem Titel: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, Düsseldorf 1968. 58 Ebd., 97. 59Vgl. 1. Wach, Das Verstehen, Bd. I, Tübingen 1926 (Neudruck: Hildesheim 1966), 14. 60Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, 49. 61 Ebd., 50. 621. C. Dannhauer, Idea boni interpretis, Straßburg 1630,10. 63 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg.v. M. Frank, Frankfurt a.M.1977,75. 64 In seinen GW 11,276-300. 65 Ebd., 279. 66 Ebd., 285. 61 Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: 0. Marquard,Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 117-146. 68 Ebd., 129. 69 Ebd., 130. 10 1. M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger
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Anmerkungen
Reden und Schriften, Leipzig 1742 (Neuausg. 1969), Vorwort o. S. Für die Bedeutung von Chladenius in philologisch-literaturwissenschaftlicher Hinsicht vgl. P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.1975. 71 Aus einer Erläuterung von 1738 zu den Institutiones, die H.-G. Gadamer und G. Boehm herausgegeben haben (Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a.M.1977, 62). 72 Ebd., 65. 73 GW 1,312-317. Gadamer bezog sich dort auf die pietistische subtilitas applicandi von 1. 1. Rambach. Auch wenn von der applicatio am Ende der Institutiones hermeneuticae sacrae (1723) die Rede ist (ebd., 804-822), ist der Ausdruck subtilitas applicandi dort nicht zu finden (ebenso wenig in dem von Gadamer und Boehm 1977 neu herausgegebenen Auszug)! In späteren Auflagen von Wahrheit und Methode (GW I, 312) gestand Gadamer, ihm sei Rambachs Hermeneutik durch die Zusammenfassung von Morus (Super Hermeneutica Novi Testamenti acroases academicae, Leipzig 1797) bekannt, aber bei Morus war auch nicht von subtilitas applicandi die Rede. Ich verdanke diese Auskünfte meinem Kollegen Istvan M. Feher von der Universität Budapest. 74 GW H, 312. 75 Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. M. Frank, 92; Hermeneutik, hrsg. von H. Kimmerle, 29-30. 76 Vgl. M. Potepa, Hermeneutik und Dialektik bei Schleiermacher, in: Schleiermacher-Archiv, 1,1985,492. 77 F. Schleiermacher, Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, in: Schleiermacher-Archiv, 1,1985,1272. 78 Hermeneutik und Kritik, 84. 79 Ebd., 94. 80 Ebd., 76. 81 Ebd. 82 F. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, § 75. 83 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 335. 84 Ebd., 334. 85 Ebd., 323. 86 Ebd., 321. 87 Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1977. 88 A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, 1877 (Neuausg. Darmstadt 1977),10. Vgl. F. Rodi, Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.1990. 89 Ebd., 80. 90 Ebd., 85. 91 Ebd., 86. 92 1. G. Droysen, Historik, 20. 93 In seinen GS V,317-331.
Anmerkungen
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GS VII, 79-188. GS VII, 217. 96 GS VII, 218. 97 GS V,318. 98 Tübingen 1962; vgl. auch Bettis hermeneutisches Manifest: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, 1955, Neuausg. Tübingen 1988, das die Ideen seiner umfangreichen Teoria generale della Interpretazione (Mailand 1955; dt.: Allgemeine Auslegungslehre, Tübingen 1967) glücklich zusammenfasst. In der Nachfolge Bettis steht das Werk von E. D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972. V gl. 1. Grondin, L'hermeneutique comme science rigoureuse selon Emilio Betti (1890-1968), in: Archives de philosophie (53) 1990,121-137. 99 V gl. T. Kisiel, The Genesis of Heidegger's Being and Time, Berkeley 1993,498. 100 M. Heidegger, Sein und Zeit, 138. Vgl. P. L. Oesterreich, Die Idee der existentialontologischen Wendung der Rhetorik in M. Heideggers "Sein und Zeit", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989). 101 Sein und Zeit, 139. 102 Ebd., 142. 103 Ebd., 143. 104 Ebd., 148. 105 Ebd., 152. 106 Ebd., 153. 107 Ebd. 108 Vgl. meine Studie: Le tournant dans la pensee de Martin Heidegger, Paris 1987. 109 H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, 1938, in seinen Werken 11, 18. 110 F. Rodi, Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps, in: Journal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo (17) 1992, 2. Zum Werk von H. Lipps vgl. auch die wichtigen Beiträge im Dilthey-Jahrbuch (6) 1989. 111 Hans-Georg Gadamer im Gespräch, hrsg. von C. Dutt, Heidelberg 1993,14. 112 WM, in GW 1,295. 113 WM, in GW 1,312. 114 Von diesem Frage-Antwort-Schema ausgehend konnte der Konstanzer Literaturwissenschaftler H. R. JauB (Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M.1970) das anspruchsvolle Programm einer literarischen Hermeneutik verfolgen, die das literarische Kunstwerk als Antwort auf eine gegebene geschichtliche Situation versteht und damit dem rezeptiven Moment neben dem produktiven zu seinem Recht verhilft. 115 WM, in GW I, 472. 116 GW 1,236, vgl. auch WM, in GW 1,488-489. 117 GW IX, 406. 94
95
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Anmerkungen
GW II, 305 GW II, 291, 305. 120 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1970. 121 GW II, 232-250 (1967 im ersten Band von Gadamers Kl. Schriften und 1971 im Sammelband Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M. erschienen). 122 J. Habermas, Der Universalitäts anspruch der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, 152. 123 Ebd., 153. 124 Ebd., 154. 125 GW II, 467. 126 Vgl.: Theorie des kommunikativen Handeins, Frankfurt a.M. 1981; Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983; Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992. 127 K.-O. Apel, Normative Begründung der "Kritischen Theorie" durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken, in: A. Honneth et al. (Hrsg.): Zwischenbetrachtungen, Frankfurt a.M.1989, 15-65. 128 J. Derrida, Guter Wille zur Macht: Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer, in: Ph. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984. 129 Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979; dt.: Philosophie und der Spiegel der Natur, Frankfurt a.M.1981. 130 Wahrheit und Rhetorik in der hermeneutischen Ontologie, in: G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990. Vgl. B. Krajewski, Traveling with Hermes: Hermeneutics and Rhetoric, Amherst 1992. 131 M. Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, Tübingen 1971,229. 132 Das 3. Sechstel, der Abschnitt "Zeit und Sein", dessen erste Fassung geschrieben, aber alsdann von Heidegger zurückgehalten wurde, wurde nämlich in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 erneut in Angriff genommen, und der 2. Teil, der Kant, Descartes und Aristoteles gewidmet sein sollte, lässt sich ebenfalls aus den Vorlesungen im Umkreis von Sein und Zeit in seinen Grundzügen erahnen. Vgl. dazu die Textangaben in dem unüberbietbaren Einleitungskommentar von F.-W. von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von Sein und Zeit. Band I: Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein, Frankfurt a.M.1987, 402-403. 133 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), 237-238. 134 Vgl. die viel komplexere Aufstaffelung (mit zwölf Strukturmomenten!) der Fragelogik in der Vorlesung vom Wintersemester 1923/24: GA 17,73. Dort erfolgt sie noch ohne spezifische Anwendung auf die Seinsfrage, die in der Vorlesung vom Sommersemester 1925 (GA 20, 194ff.) statthat. 118
119 V gl.
Anmerkungen
151
135 Erinnert sei an den berühmten Passus des Nachwortes (1943) zur 4. Auflage von "Was ist Metaphysik?" (Wegmarken, GA 9,304), wo Heidegger die Formel wagte, "dass das Sein wohl west ohne das Seiende". In der 5. Auflage modifizierte Heidegger seinen Text und schrieb, auf die Position von SZ zurückkommend, "dass das Sein nie west ohne das Seiende". Die Abhandlung Zur Seinsfrage aus 1955 wird wiederum prägnant das Sein als das "ganz Andere zum Seienden" apostrophieren (vgl. GA 9,412). Auf diese Erfahrung des Seins, ja auf dieses Erstaunen vor dem Sein, das wir nicht "machen", aber in dem wir sind, aber nur für eine atemverschlagende sterbliche Weile, kam es Heidegger immer an. Heidegger wusste, dass er diese Erfahrung etwas verkürzte, als er sie in Sein und Zeit in einen begrifflich-transzendentalen Rahmen presste. Mit umso mehr Energie kehrte er im Nachwort zu seiner Antrittsvorlesung von 1929, Was ist Metaphysik?, das "Wunder aller Wunder" hervor, dass Seiendes ist, dass es etwas - und unsgibt und nicht vielmehr nichts (GA 9,412). Diese Erfahrung ist - schlicht und einfach - die des Seins für Heidegger. Sie kann nur zeitlich sein und eine Erfahrung dessen sein, was sich entzieht und unbegreiflich bleibt. 136 Bemerkenswerte Spuren dieser produktiven Logik finden sich durchweg im gesamten Opus Heideggers. So wird beispielsweise im § 76 von SZ "der existentiale Ursprung der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins" nachgewiesen. Ein damals unveröffentlichter Vortrag von 1927 über "Phänomenologie und Theologie" (Wegmarken, GA 9,45-77) skizzierte seinerseits die ontologischen Voraussetzungen der Theologie. Ferner interessierte sich Heidegger in einer Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 (GA 29/30, 311ff.) für die ontologischen Grundlagen der Biologie in ihrem Versuch, den Organismus und das Leben zu fassen, während sich die Vorlesung vom Wintersemester 1935/36 (Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962) für die Grundlagen der Physik interessierte (vgl. dazu C. Chevalley, La physique de Heidegger, in: Les Etudes philosophiques 1990,289-312). Man wird zwar nicht in Heideggers Mitte der 30er Jahre einsetzenden Erläuterungen über "das Wesen der Dichtung" eine Grundlegung der Poetik oder der Literaturwissenschaft, doch sehr wohl eine ontologische Klärung des "dichterischen Wohnens" des Menschen sehen dürfen, die den "ontologischen Vorrang der Seinsfrage" auf ihre Weise bekräftigt. Ansonsten erkannte Heidegger anderen Philosophen das Verdienst zu, eine den Wissenschaften den Boden bereitende, ontologische Explikation vorgenommen zu haben. So habe Kant nach der Einleitung zu SZ (11) eine "apriorische Sachlogik des Seinsgebietes Natur" für die Physik erarbeitet. Mit dieser Thematik der "produktiven Logik" begann übrigens die Vorlesung vom Sommersemester 1925, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20, 1-6), die der Niederschrift von SZ zugrunde lag. 137 Vgl. bereits in den frühen "Anmerkungen zu Karl Jaspers" aus 1919/21 das Abheben auf die "Grunderfahrung des 'ich bin', in der es radikal und rein um mich selbst geht", so dass die Grunderfahrung die "des bekümmerten Habens seiner selbst [ist], welches vor einer möglicherweise nachkom-
152
Anmerkungen
menden, aber für den Vollzug belanglosen 'ist'-mäßig objektivierenden Kenntnisnahme vollzogen ist" (Wegmarken, GA 9,29-30). Vgl. ferner: Der Begriff der Zeit (1924), Tübingen 1989, 14: "Das so charakterisierte Seiende ist ein solches, dem es seinem alltäglichen und jeweiligen In-der-Welt-sein auf sein Sein ankommt." Aus den Vorlesungen, vgl. GA 20,405: "Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein, in seinem In-der-Welt-sein, um sein Sein selbst geht" (vgl. GA 21, 220); GA 28, 171: "Damit ist das Seiende bezeichnet, dem seine eigene Weise zu sein in einem bestimmten Sinne ungleichgültig ist." 138 Vgl. GA 29/30, 95ff. Dass sich dieser sehr wichtige Begriff des Wegseins bis in den späteren Entwurf der Seinsgeschichte hinein als unentbehrlich erwies, zeigt sein Wiederauftauchen unter ganz neuen Auspizien in den Beiträgen zur Philosophie (GA 65),323: "Ist nämlich das Da-sein als der schaffende Grund des Menschseins erfahren und damit zum Wissen gebracht, dass das Da-sein nur Augenblick und Geschichte ist, dann muss das gewöhnliche Menschsein von hier aus als Weg-sein bestimmt werden. [... ] Weg-sein ist der ursprünglichere Titel für die Uneigentlichkeit des Daseins." Vgl. auch den Besinnung betitelten Band, GA 66,219-220. 139 Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers, Frankfurt a. M. 1990,254, sieht hier - mit gewissem Recht - eine Vermengung von zwei Fragen, die sich nicht auf eine einheitliche Fragestellung zurückführen lassen. Ich versuche im Folgenden, ihre Zusammengehörigkeit aus Heideggers Intentionen nachzuweisen. Thomä muss ich zugeben, dass Heidegger selber diesen Zusammenhang nicht mit aller wünschenswerten Deutlichkeit dargestellt hat. Suggeriert wird er aber durch Passagen wie der folgenden in dem Vortrag Der Begriff der Zeit (1924), a.a.o., 14: "Die Sorge um das Dasein hat jeweils das Sein in die Sorge gestellt, wie er in der herrschenden Auslegung des Daseins bekannt und verstanden ist." Gespannt darf man in dieser Hinsicht auf die größere Abhandlung aus dem Jahre 1924, Der Begriff der Zeit, sein, die als Band 64 der GA vorgesehen ist. 140 Die Idee der Fundamentalontologie wird in den kommenden Jahren noch mehrere Verwandlungen durchlaufen, bis sie allmählich durch den Entwurf des seinsgeschichtlichen Denkens abgelöst, aber auch erfüllt werden wird. Vgl. insbesondere die Vorlesung vom Sommer 1928 (GA 26, 196202), wo Heidegger eine völlig neue "Kennzeichnung der Idee und Funktion der Fundamentalontologie" umreißt (wo die Fundamentalontologie als der erste Teil' der "Metaphysik" erscheint, deren zweiter eine änigmatische "Metontologie" sein soll), ferner und wohl zum letzten Mal öffentlich den vierten Abschnittt von Kant und das Problem der Metaphysik (1929), insbesondere den abschließenden Teil über "Die Metaphysik des Daseins als Fundamentalontologie" , wo die Endlichkeit zum das Dasein tragenden Grundthema der Ontologie befördert wird. Leider kann ich hier nicht auf diese spannungsvollen und spannenden Wandlungen und ihre Konsequenz näher eingehen.
Anmerkungen
153
E-W. von Herrmann, 127. Ebd., 135. 143 Vgl. Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928-1932), in: Heidegger Studies 16 (2000),12: "Welcher Weg ist zu nehmen, um - in Absicht auf die Begründung der Möglichkeit von Seinsverständnis überhaupt und einzig in dieser Absicht - die Seinsverfassung des Daseins ('ljJuXTJ Platos der Funktion im Problem nach) vor Augen zu legen?" Auf diese verblüffende Herkunft des Daseins aus der psyche (und nicht aus dem Subjektbegriff, wie es meist geschieht) wies auch Heidegger in seinen Vorlesungen hin (vgl. GA 19,23,579,608; GA 22, 107). Sie wäre einer eingehenderen Interpretation wert. 144 Nach der Auskunft von E-W. von Herrmann hätte Heidegger die erste Fassung des 3. Teiles "bald nach ihrer Niederschrift verbrannt" (vgl. das Nachwort zu GA 2, 582). Das ist aber offenbar eine späte mündliche Äußerung von Heidegger. In früheren Texten, nämlich im Brief über den Humanismus (GA 9,325), aber auch in den Beiträgen (GA 65,451) sowie in Besinnung (GA 66,414) bezeichnete Heidegger das Schicksal dieses Abschnittes durchweg mit etwas anderen Worten. Nach all diesen Texten sei der fragliche 3. Abschnitt "zurückgehalten" worden. Kann man zugleich einen Text "zurückhalten" und "bald nach seiner Niederschrift verbrennen"? Wohl nicht, denn das "Zurückhalten" schließt ein, dass das Zurückgehaltene - wenigstens eine Zeit lang - noch existierte. Ein Zurückhalten scheint also - rein sprachlich - ein sofortiges Vernichten auszuschließen. Deshalb gehört der Verfasser wider alle Wahrscheinlichkeit zu denjenigen, die nicht ausschließen möchten, dass dieser 3. Teil eines Tages auftauchen könnte. Schließlich sei auf den Bericht von Frederic de Towarnicki hingewiesen (A la rencontre de Heidegger. Souvenirs d'un messager de la Foret-Noire, Gallimard, 1993, 64), dem Heidegger das unveröffentlichte Manuskript dieses 3. Teiles gezeigt haben soll. 145 Zur Deutung der Kehre in diesem Sinne vgl. A. Rosales, Zum Problem der Kehre im Denken Heideggers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984),241-262; E-W. von Herrmann, Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers Begriff der Kehre, in seinem Band: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", Frankfurt a. M. 1994, 64-84; sowie meine Prolegomena to an Understanding of Heidegger's Turn, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 14-15 (1991),85-108. Deuter wie Hans-Georg Gadamer und T. Kisiel sahen freilich in der Kehre eine "Rückkehr" Heideggers zu seinen Ur-Intuitionen. Aber erst das systematische Scheitern machte diese Rückkehr möglich, so dass die Rede von einer "Kehre vor der Kehre" cum grano salis zu nehmen ist. 146 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989),249. 147 In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 (GA 28, 196) bekräftigte Heidegger diesen aufklärerischen Anspruch seiner Destruktion: "Mit dieser 141
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Anmerkungen
Fundamentalontologie und durch sie ergreifen wir nur, und zwar in einer bestimmten Hinsicht, das innere und verborgene Leben der Grundbewegung der abendländischen Philosophie." Wie das dem Schelling-Buch entnommene Motto des vorliegenden Aufsatzes zeigt, unterschied aber Heidegger sehr wohl die geschichtliche Notwendigkeit der Besinnung über "Sein und Zeit" von dem Buch dieses Titels, das nur einen Nachvollzug dieser Besinnung versuchte. 148 Zur Charakterisierung des Phänomens als "das Sich-an-ihm-selbst-zeigen" (SZ 31, Z. 3) bemerkte Husserl in einer Randbemerkung seines Handexemplars (Randbemerkungen Husserls zu Heideggers Sein und Zeit, in: Husserl Studies 11 [1994], 17): "Das ist gar zu einfach." Zur berechtigten Frage "To What Extent was Heidegger a Phenomenologist?" vgl. die skeptischen Bemerkungen in der klassischen Schilderung von Herbert Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, 3. Aufl., The Hague/Boston/London 1982,336-421. Die Frage beschäftigt auch sehr die neuere französische Tradition der Phänomenologie, in der die Fragestellung Heideggers - viel stärker als in Deutschland - von der husserlschen her verstanden wurde, freilich um den Preis einer nahezu vollkommenen Vernachlässigung der hermeneutischen Herkunft Heideggers, die in Deutschland natürlich mehr Beachtung fand. Wegweisend sind hier die Arbeiten von I-F. Courtine, Heidegger et la phenomenologie, Paris 1990 und Jean-Luc Marion, Reduction et donation. Recherehes sur Husserl, Heidegger et la phenomenologie, Paris 1989. 149 V gl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIXIl, § 2,10, wo Husserl von einem zu vollziehenden Rückgang "von den bloßen Worten ... zu den Sachen selbst" sprach (weitere Texte bei F.-W. von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, 286). Heideggers Hinweis auf den tautologischen Ausdruck "deskriptive Phänomenologie" (SZ 35, Z. 6-7) quittierte Husserl mit der Randbemerkung (a.a.O., 18): "Gleichwohl, das ist nicht zureichend." Über den okkasionellen Charakter der Maxime bei Husserl vgl. H. Spiegel berg, 379: "From the start for Heidegger the central idea of phenomenology was expressed in the watchword 'Zu den Sachen', which in Husserl's own writings occurred only incidentally. " 150Vgl. meine Studie über "L'hermeneutique dans Sein und Zeit", in: I-F. Courtine (Hrsg.), Heidegger 1919-1929. De L'hermeneutique de la facticite a la metaphysique du Dasein, Paris 1996, 179-192. Nach F.-W. von Herrmann (1988, 368ff.) sei die hermeneutische Akzentuierung Heideggers aus ihrer Opposition zur reflexiven Phänomenologie des Bewusstseins bei Husserl zu verstehen. Sachlich ist das einwandfrei, aber der Text der Einleitung legt nicht selbst den Finger auf diesen Aspekt, sondern unmissverständlich auf den Grundtatbestand der Verdeckung, die eine hermeneutische Intervention auf den Plan ruft. 151 Auf diesen augustinischen Sinn (die Frage, die ich für mich selbst bin) des Daseinsbegriffs komme ich im nächsten Kapitel zurück.
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152 Vgl. meine früheren Arbeiten: "Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik" und "Das junghegelianische und ethische Motiv in Heideggers Hermeneutik der Faktizität", in meinem Band: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, 71-102. 153 GA 63,7. 154 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60,205 ff, 250 u.ö. 155 GA 60, 21l. 156 Vgl. GA 60, 102ff. 157 Die Schärfe der Invektiven verrät freilich vor allem, wie sehr sie Heidegger unter die Haut ging. 158 Sein und Zeit, 143. 159 Nach T. Kisiel (The Genesis of Heidegger's Being and Time, 498) wurde dieser Geworfenheitsbegriff erst in der endgültigen Fassung von Sein und Zeit eingeführt. Doch finden sich bezeichnenderweise bereits in einigen Entwürfen zur Augustin-Vorlesung vom Sommersemester 1921 Vorprägungen dieser derilictio (vgl. GA 60,251: "die Unruhe - das Geworfenwerden"). 160 GA 63,7. 161 GA 63, 15. 162 Zum (paulinischen) Motiv des Wachseins in der Augustin-Vorlesung vgl. GA 60, 105. 163 Für Augustin denke man dabei insbesondere an seine gegen die Herrschaft der Sprachlichkeit gerichtete Schrift De magistro. Für Heideggers Verständnis der Sprache in Sein und Zeit und seiner Tendenz, sie mit dem Gerede zusammenzusehen, vgl. meine Studie über "L'intelligence hermeneutique du langage", in: L'horizon hermeneutique de la pensee contemporaine, Paris 1993 (auf Englisch in: Vf., Sources of Hermeneutics, Albany 1995,141-155). Diese bei Heidegger alles beherrschende Thematik des Geredes wird bei Gadamer fast völlig verschwinden. 164 Einführung in die phänomenologische Forschung, 1994, Vorlesung vom Wintersemester 1923/24, GA 17,283 ff. 165 V gl. GA 60,283 f.: "dass Augustin alle Phänomene mitteilt in der Haltung des confiteri in der Aufgabe des Gott-Suchens und Gott-Habens stehend" (vgl.l77). 166 Bernhard Weite, Suchen und Finden. Ansprache zur Beisetzung am 28. Mai 1976, in: Erinnerungen an Martin Heidegger, hrsg. von Günther Neske, Pfullingen 1977,253-256; vgl. das Gespräch mit H.-G. Gadamer im Gadamer-Lesebuch, 293. 167 An der inzwischen berühmt gewordenen Unterbrechung der Vorlesung zur Phänomenologie der Religion (WS 1920/21) stellt es Heidegger als selbstverständlich hin, dass er nicht verstanden werden konnte. Vgl. GA 60, 65: "Philosophie, wie ich sie auffasse, ist in einer Schwierigkeit. Der Hörer in anderen Vorlesungen ist von vornherein gesichert: In kunstgeschichtlicher kann er Bilder sehen, in anderen kommt er für sein Examen auf die Kosten. In der Philosophie ist es anders, und ich kann daran nichts
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ändern, da ich die Philosophie nicht erfunden habe. Ich möchte mich aber doch aus dieser Kalamität retten und daher diese so abstrakten Betrachtungen abbrechen und Ihnen von der nächsten Stunde an Geschichte vortragen, und zwar werde ich ohne weitere Betrachtung des Ansatzes und der Methode ein bestimmtes konkretes Phänomen zum Ausgang nehmen, allerdings für mich unter der Voraussetzung, dass Sie die ganze Betrachtung vom Anfang bis zum Ende missverstehen." 168 V gl. E-W. von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Meisenheim am Glan 1962. 169 V gl. etwa das folgende charakteristische Bekenntnis in einem Brief an Elisabeth Blochmann vom 18. September 1932 (Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918-1969, hrsg. von Joachim Storck, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 1989,53): "Vorläufig studiere ich meine Manuskripte, d. h. ich lese mich selbst u. muss sagen, dass es im Positiven u. Negativen viel fruchtbarer ist als sonstige Lektüre, zu der ich ohnehin wenig Lust u. Gelegenheit habe." 170 Vgl. das Motiv des "In Vielrederei wirst du der Sünde nicht entgehen" (Spr. 10,19) am Ende des De trinitate von Augustin, das zur Relativierung des eigenen Ansatzes führt: "Aber zahlreich sind meine Gedanken, die wie die Menschengedanken eitel sind: Du kennst sie. Gewähre mir, dass ich ihnen nicht zustimme, dass ich sie, auch wenn sie mein Ergötzen erregen, dennoch missbillige, dass ich nicht, gleichsam schlafend, in ihnen verweile" (De trinitate, VX, 28, zitiert nach der Übersetzung von Michael Schmaus, München 1935). 171 Der Kontext der Stelle ist wichtig, weil er auch Heideggers ungesicherte und verunsichernde Konzeption der Philosophie verdeutlicht (GA 60, 65); vgl. Anm. 155. 172 Der Feldweg, 1953, 7 (offenbar auch eine Wiederaufnahme der drei Fragebereiche der rnetaphysica specialis, wie sie Kant noch kannte). 173 Verwiesen sei auch auf die klassische Studie von Theodore Kisiel zur Herkunft dieses Begriffs, "Das Entstehen des Begriffsfeldes 'Faktizität' im Frühwerk Heideggers", in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87),91-120. 174 Vgl. Ben Vedder, Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000, Kap. V: "Die Faktizität der Hermeneutik. Heideggers Bruch mit der traditionellen Hermeneutik", 95. 175 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteies (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989),2. 176 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), 249. 177 Vgl. GA 61,35: "Das eigentliche Fundament der Philosophie ist das radikale existentielle Ergreifen und die Zeitigung der Fraglichkeit; sich und das Leben und die entscheidenden Vollzüge in die Fraglichkeit zu stellen ist der Grundergriff aller und der radikalsten Erhellung."
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178 Vgl. dazu meine Studie "Heidegger et le probleme de la metaphysique", in: Dioti 6 (1999),163-204. 179 Heidegger scheint selber so viel anerkannt zu haben, wie eine neuerdings veröffentlichte Randbemerkung zu seinem Handexemplar von G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie ("Heideggers Marginalien zu Mischs Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Ontologie", hrsg. von Claudius Strubbe, in: Dilthey-Jahrbuch 12 [1999-2000], 209) bezeugt: "in einem ganz anderen Sinne; wenngleich in S. u. Z. I zu sehr 'phälog.' [= phänomenologisch] im Schulsinne". 180Vgl. die ebenso allgemeine Charakterisierung im Vorwort zur 2. Auflage von WM (GW 2,440): "Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, gezeigt, dass Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins ist. In diesem Sinne ist der Titel 'Hermeneutik' hier verwendet worden. Er bezeichnet die Grundbewegtheit des Daseins, die seine Endlichkeit und Geschichtlichkeit ausmacht, und umfasst daher das Ganze seiner Welt erfahrung. " Diese Berufung auf Heideggers Bestimmung des Verstehens als eines Existentials war auch für Bultmann das Wegweisende an Heideggers Hermeneutik. Vgl. seine wichtige Arbeit von 1950 über "Das Problem der Hermeneutik", in: Glauben und Verstehen 11, 1952, 6. Aufl. 1993,226-227: "Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Verstehens als eines Existentials gebracht worden und durch seine Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens." 181 Auf Französisch könnte man hier die Formel "s'en sortir" gebrauchen. "Je vais m'en sortir" heißt so viel wie: Ich werde es hinkriegen, ich werde damit fertig werden (bei einer Lage, einer Prüfung, einer Begegnung, einem Vortrag, einem Aufsatz usw.). Aber das Französische unterstreicht hier, dass ich aus der Lage "heraus"kommen kann. Das kann aber bei der Existenz nie der Fall sein, so daß die Verstehensaufgabe - comment s'en sortir? - eine nahezu sisyphische ist. Vgl. zur Formel "m'en sortirais-je?" 1. Derrida et Catherine Malabou, La contre-allee, Paris 1999,29. 182 Vgl. SZ, 189: "Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muss existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden." 183 Vgl. dazu meine Einführung zu Gadamer, 164--171. 184 GW 10,274. Vgl.: The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, Library of Living Philosophers, 1997,496: "In this lies the real problem which really came to my full attention only through Heidegger and which found expression in the Scholastic distinction of actus signatus and actus exercitus. It concerns the fact that not everything which one knows and can know in effect is sayable in a thematic assertion." 185 Es ist zu verzeichnen, dass G. Vattimo (Histoire d'une virgule. Gadamer et le sens de l'etre, in: Revue internationale de philosophie 54 [2000], 499-513) den Satz in diesem Sinne versteht. Der Sache nach ist das auch der
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Fall bei R. Rorty, "Being that can be understood is language", in: London Review of Books, 16 March 2000,23-25. 186 Diese Gleichzeitigkeit bedeutet pointiert für Gadamer, dass Sprache nicht bloß eine Form bzw. ein Schema für das Denken (wie bei Humboldt) bereitstellt, sondern dass sie die Präsenz der Sache selbst gewährt. Zu dieser Humboldtkritik vgl.: Einführung zu Gadamer, 226f. 187 Dieser Zusatz gilt vor allem für den späten Gadamer, der den Horizont der Sprachlichkeit von dem der Zeichensprache abhebt: Wer eine Partitur gut spielt oder dirigiert, hat sie wunderbar "verstanden", auch wenn kein Wort dabei verwendet wurde. Auch das ist "Sprache", bzw. Sprachlichkeit, meint der späte Gadamer (vgl. dazu das Lesebuch-Gespräch). Die Sprachlichkeit meint also die Möglichkeit eines sinnhaften Nachvollzugs, der nicht unbedingt der der Zeichensprache ist, zumal ein Schweigen auch einen solchen darstellen kann. Zu dieser Thematik, auf die ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen kann, vgl. den neueren, von L. K. Schmidt herausgegebenen Sammelband: Language and Linguisticality in Gadamer's Hermeneutics, Lanham (Maryland)/Boulder/New York/Oxford 2000. 188 Vgl. H.-G. Gadamer, Philosophische Lehrjahre [fortan unter PL], Frankfurt a. M. 1977, 15. Für das Folgende vgl. auch G W 2, 479. 189 V gl. ansatzweise GW 2,498 190 PL 212; GW 3: 263; GW 3, 309. 191 Vgl. GW 9,259. 192 Quelle: P. Hoffmann, German Resistance to Hitler, Harvard University Press 1988,9. 193 GW2,486 194 Vgl. Kant-Studien, 29,1924,626 195 V gl zuletzt Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft, in GW 9,258-270 und das Gespräch mit Dörte von Westernhagen, in: Das Argument 182, 1990, 544. Als Frau von Westernhagen dort gesteht, mit dem georgianischen Pathos nichts anfangen zu können, entgegnet Gadamer: "Das ist leider für Si'e ein großer Verlust." George wird heute nur noch selten gelesen, in Taschenbuchausgaben ediert und in Seminaren diskutiert. Das liegt zum Teil an der Verstrickung zahlreicher George-Anhänger in den Nazionalsozialismus. Die Tragik ist aber die, dass der George-Kreis zur Hälfte aus Juden bestand (vgl. ebd.). George wurde nach dem Krieg durch andere Figuren ersetzt. Eine davon ist vielleicht Hölderlin. Man darf aber nicht vergessen, dass die Hölderlin-Renaissance in unserem Jahrhundert zum großen Teil die Tat des George-Kreises war. 196 GW 2,491. 197 Gadamers positives Verhältnis zum Humanismus wird ausführlicher erörtert in meinem Buch Sources of Hermeneutics, Albany 1995. 198 Dieser Text erschien unter dem Titel "Die Philosophie in den letzten dreißig Jahren" in: Ruperto-Carola, Nr.5, Dez. 1951, 33-34 sowie in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1953-55, 108-110.
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GW 9,4l. GW 1, 115. 201 GW 1,107. 202 GW 1,108. 203 Die Aktualität des Schönen, GW 8, 132. 204 GW 8, 130. 205 GW 8, 133. 206 Vgl. vor allem seine Essays von 1992: "Wort und Wild - 'So wahr, so seiend'" und "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache", in: GW 8, 373-440, sowie die Ausblicke im Gespräch am Ende des Gadamer-Lesebuches, Tübingen, 1997. 207 Diese Dimension der "Verborgenheit" unserer evidentesten Welterfahrung bildet ein wichtiges Motiv des späten Gadamer. Erinnert sei hier an den Titel seines Buches: Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a.M. 1993 sowie an den Untertitel, mit dem seine späte Studie "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache" anhebt: "Die Verborgenheit der Sprache" (GW, Bd. 8, 373). 208 Für Gadamers Bezugnahmen auf Sc hellings Denken des Unvordenklichen vgl. in seinen GW 2, 103, 334; Bd. 3, 236; Bd. 8, 366; Bd.lO, 64. Es handelt sich aber auch hier um eine relativ späte Anlehnung an den Begriff des Unvordenklichen, der in Wahrheit und Methode noch fehlt (vgl. dazu meinen Beitrag über "Die späte Entdeckung Schellings in der Hermeneutik" in: I. M. Feher und W. G. Jacobs (Hrsg.), Zeit und Freiheit: Schelling - Schopenhauer - Kierkegaard - Heidegger, Akten der Fachtagung der Internationalen Schellinggesellschaft Budapest, 24. bis 27. April 1997 , Budapest, Ketef Bt., 1999,65-72). In Wahrheit und Methode sprach Gadamer von der "Substantialität", die hinter jedem "Subjekt" steht. V gl. die späteren Ausführungen zu diesem Begriff der Substantialität in GW 8, 327: "Substanz heißt hier jenes Tragende, nicht Hervorkommende, nicht in die Helle des reflexiven Bewusstseins Gehobene, nie sich voll Aussagende, das dennoch unentbehrlich ist, damit die Helle, die Bewusstheit, die Äußerung, die Mitteilung, das Wort, das trifft, sein können. Substanz ist der 'Geist, der uns verbinden mag'. Rilkes Wendung, die ich zitiere, deutet an, dass Geist mehr ist, als jeder Einzelne weiß und von sich weiß." 209 H.-G. Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik, GW 2,7. 210 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 32, 153. Vgl. Gadamers Zustimmung in Wahrheit und Methode (1960),4. Aufl. Tübingen 1975, 254; 5. Aufl. GW 1, 274: "Ein mit methodischem Bewusstsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen." Man unterstreiche dabei das positive Verständnis von Methode, Kontrolle und Sachlichkeit schlechthin. 211 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,282; GW 1,1986, 304. 199
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Ebd. Ebd. 214 Zu dieser Kritik vgl. bereits 1. Simon, Sprache und Raum. Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Bestimmtheit von Sätzen, Berlin 1969,311. Zu den universalgeschichtlichen Implikationen der Gadamerschen Position vgl. W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 60, 1963,90-121, wiederabgedruckt in: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. von H.-G. Gadamer und G. Boehm, Frankfurt a.M.1978, 283-319. 215 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,282; GW 1, 1986,304. Auch der gleichlautende Passus im Aufsatz Vom Zirkel des Verstehens (1959) wurde in GW 2, 64 in diesem Sinne geändert. V gl. die weitere Erklärung in Gadamers "Selbstkritik" von 1986 in GW 2, 8-9. 216 Vgl. H.-G. Gadamer, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963), in GW 4, 177 u.ö. 217 Zu dieser Konsequenz und ihren Grenzen vgl. unsere Studien: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, und: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994. 218 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,261; GW 1,1986,281. 219 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,274-5; GW 1,1986,295. 220 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,290; GW 1, 1986,312. 221 Jetzt in GW 8: Ästhetik und Poetik I: Kunst als Aussage, Tübingen 1993,134. 222 Ebd. 128, 134. 223 Ebd., 273. Vgl. auch Goethes Rede vom "inneren Sinn" in "Shakespeare und kein Ende". 224 GW 2, 1986, 17. 225 Ebd., 19. 226 Für Gadamer besteht das Rätsel der Dichtung darin, "wahr zu sein über alle Einrede hinaus, und doch nichts zu sein, auf das man sich berufen darf" (GW 9: Ästhetik und Poetik II: Hermeneutik im Vollzug, Tübingen 1993,127). Denn diese Wahrheit muss derjenige erfahren, der an ihr teilhaben soll. Auf diese Wahrheit kann man sich jedoch nicht wie auf eine Autorität "berufen", denn ihr Wahrheitswert hängt schließlich vom denkenden Vollzug des inneren Ohres ab. An der Kunst erfährt man, dass keiner uns diesen Vollzug abnehmen kann. 227 Insofern läßt sich in der dritten Kritik Kants Antwort auf die Frage "Was ist der Mensch?" erkennen. Siehe dazu meine Skizze in: Kant zur Einführung, Hamburg 1994, 143ff. 228 So lautete (paradoxerweise!) der Titelbeitrag von Philippe Forget, "Leitfäden einer unwahrscheinlichen Debatte", in dem von -ihm herausgegebenen Band: Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von 1. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, 1. Greisch und F. Laruelle, München 1984. Zum Hintergrund und zur Nachwirkung der Gadamer-Derrida-Debatte, die im vorliegenden Essay nicht im Vorder212 213
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grund steht, vgl. meine Darstellungen in: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, 365 ff. sowie "La definition derridienne de la deconstruction. Contribution au rapprochement de l'hermeneutique et de la deconstruction", in: Archives de philosophie 62 (1999),5-16. 229 Sie erscheinen auch nahezu in denselben Partien von Heideggers Hauptwerk. In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1923 zur Hermeneutik der Faktizität hielt Heidegger auch fest: "Hermeneutik ist Destruktion!" (GA 63, 105). Hermeneutik ist Destruktion, weil es einen Zugang zum Dasein und den Phänomenen nur auf dem Weg einer Destruktion oder Auflockerung der diesen Zugang verdeckenden Begrifflichkeit gibt, die nach ihm auf eine Selbstverdeckung des Daseins hinausläuft. Zu diesem oft verkannten Sinn der Hermeneutik bei Heidegger vgl. das 2. Kapitel oben "Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion". 230 Dilthey und der deutschen Hermeneutiktradition stark verbunden sind nämlich die nicht unbeachteten Bücher von R. Aron, La philosophie critique de l'histoire (1938), Paris 1987 und von G. Gusdorf, Introduction aux sciences humaines. Essai critique sur leurs origines et leur developpement, Publications de la Faculte des lettres de l'Universite de Strasbourg, 1960 und: Les origines de l'hermeneutique, Payot 1988. Vgl. neuerdings S. Mesure, Dilthey et la fondation des sciences historiques, Paris, PUF, 1990. Auf Ricreurs Dilthey-Verbundenheit komme ich sofort zurück. - Nach wie vor wird Heidegger in Frankreich in der (zwar destruierenden) Kontinuität von Husserl gesehen. Wegweisend sind hier die Arbeiten von I-F. Courtine, Heidegger et la phenomenologie, Paris 1990 und Jean-Luc Marion, Reduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phenomenologie, Paris: 1989; Etant donne. Essai d'une phenomenologie de la donation, Paris 1997. In ihnen spielen aber die Hermeneutik und Gadamer überhaupt keine Rolle, was umso verwunderlicher ist, als beide darum bemüht sind, die heideggersche Transformation der Phänomenologie zu thematisieren, aber ohne ihre hermeneutische Wendung zu sehen. 231 Vgl. dazu die Dissertation von Jean-Louis Guillemot, Le conflit des hermeneutiques. Gadamer et Ricreur en debat, Departement de philosophie, Universite d'Ottawa, 1999. 232 Die Arbeiten von Pierre Fruchon (L'hermeneutique de Gadamer, Paris 1994), einer der wenigen Franzosen, die sich dezidiert mit Gadamer befassten, standen auch in dieser Tradition, insofern sie in Gadamer vor allem den Erneuerer des Platonismus - gegen die Subjektphilosophie der Neuzeit, aber auch gegen den geschichtlichen Relativismus von Heidegger hervorkehren möchten. Die theologische Ausrichtung von Fruchons antimoderner Interpretation war auch unverkennbar. Eine die gesamte Sekundärliteratur berücksichtigende Darstellung von Gadamers PI at onverständnis verdanken wir dem Frankokanadier Fran\=ois Renaud, Die Resokratisierung Platons. Die platonische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, St. Augustin 1999.
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Anmerkungen
233 Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974,437: "Man wird also sagen, dass es, 'Humanwissenschaft' nicht überall dort gibt, wo es um die Frage des Menschen sich handelt, sondern überall dort, wo in der dem Unbewussten eigenen Dimension Normen, Regeln und Bedeutungsmengen definiert werden, die dem Bewusstsein die Bedingungen seiner Formen und Inhalte enthüllen. Von 'Humanwissenschaften' in jedem anderen Fall zu sprechen, wäre ganz einfach ein sprachlicher Missbrauch." Eine gegenseitige Kenntnis von Gadamer und dem Philosophie-Außenseiter Foucault hat es nicht gegeben. Auch wenn davon auszugehen ist, dass Gadamer von Foucaults objektivierendem Blick ebenso abgestoßen worden wäre wie Foucault von Gadamers Humanismus, gab es zweifelsohne verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der Wirkungsgeschichte Gadamers und der Episteme-Konzeption von Foucault, zumal beide nicht nur auf das tragende sprachliche Element, sondern auch auf die Grenzen des Bewusstseins abheben. Foucaults eklatante Rede vom Tode des Subjekts fand auch einen Widerpart in Gadamers Destruktion des neuzeitlichen Bewusstseins. 234 Seit der wichtigen Studie von J. Figl ("Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts" , in: Nietzsche-Studien 10-11, 1981-1982,408-430) ist dies ein Topos der Nietzsche-Forschung geblieben. In der Literatur zu diesem Thema ragt nach wie vor die sehr ausgewogene Arbeit von Alan D. Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, New York/London 1990 hervor, zumal sie die Debatte mit Derrida in Betracht zieht. Für die französische Welt vgl. die repräsentative Anfrage von Genevieve Hebert, "Nietzsche, malin genie de l'hermeneutique?", in: Jean Greisch (Hrsg.), Comprendre et interpreter. Le paradigme hermeneutique de la raison, Paris 1993, 311-341. Vgl. meine neuere Arbeit "Nietzsches Kunstdenken im Lichte der Gadamerschen Kritik des ästhetischen Bewußtseins", in: M. Riedel (Hrsg.), Natur und Kunst in Nietzsches Denken, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2002. 235 V gl. dazu Gadamers lehrreiche Äußerungen in seinem Brief an Richard J. Bernstein von 1982, nachgedruckt in: R. 1. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism: Science, Hermeneutics, and Praxis, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1988,263: "Verfallen wir nicht alle einem schrecklichen intellektuellen Hochmut, wenn wir die Antizipationen Nietzsches und die ideologische Verwirrung der Gegenwart mit dem wirklich gelebten Leben und seinen Solidaritäten gleichsetzen? Hier ist in der Tat meine Abweichung von Heidegger fundamental." Vgl. Gadamers Studie aus dem Jahre 1983 unter dem bezeichnenden Titel "Nietzsche - der Antipode: Das Drama Zarathustras", jetzt in den GW, Bd. IV, 448-462, und zuletzt "Nietzsche und die Metaphysik" (1999), in: Hermeneutische Wege, Tübingen 2000, 134-142.
QUELLENNACHWEISE I. Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition. Zuerst erschienen als Artikel "Hermeneutik" in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Tübingen, Bd. 3,1966, Sp.1350-1374. II. Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion. Zuerst erschienen in Th. Rentsch (Hrsg.), Heidegger: Sein und Zeit, Klassiker Auslegen, München 2001. III. Heidegger und Augustin zur hermeneutischen Wahrheit. Zuerst erschienen unter dem Titel "Zur hermeneutischen Wahrheit. Heidegger und Augustinus", in: E. Richter (Hrsg.), Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt a.M.1997, 161-173. VII. Die Weisheit des Stammeins. Ein Porträt von Hans-Georg Gadamer. Zuerst erschienen in: Information Philosophie, 1994, Heft 5,28-33. VIII. Gadamers anti-ästhetische Wiedergewinnung der Wahrheit der Kunst. Zuerst erschienen in: Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hrsg. von 1. Nida-Rümelin und M. Betzler, Stuttgart 1998,294-302. IX. Spiel, Fest und Ritual. Zum Motiv des Unvordenklichen beim späten Gadamer. Zuerst erschienen in: Jahrbuch Homo Ludens 8 (1998),43-52. X. Das innere Ohr in Gadamers Ästhetik. Distanz und Selbstreflexion in der Hermeneutik. Zuerst erschienen in: Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag, Berlin 1995,325-334. XI. Hans-Georg Gadamer und die französische Welt. Zuerst erschienen in: G. Figal (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Stuttgart 2000, 147-159.
PERSONENREGISTER I
Allen, Woody 119 Althusser, L.140 Apel, K-o. 45, 150 Arendt, H. 72, 107 Aristoteles 18, 20f., 25, 28, 39, 48, 53,58,61,63,95, 106f., 109, 116 Aron, R. 138,161 Ast, F. 34, 148 Augustinus von Dakien 24 Augustinus von Hippo 12, 17 f., 24 f., 29,41,72-80,109,130,132,134, 155 Barth, K13 Beaufret, J, 138 Bernstein, R. J,162 Betti, E. 39, 149 Blochmann, E. 156 Boeckh,A. 35f., 148 Boehm, G. 148,160 Brecht, B. 111 Bultmann, R.13f., 110, 139, 145 Chevalley, C. 151 Chladenius, J, M. 3lf., 147 Clauberg, J, 31 Courtine, J,-F. 154, 161 Danielou, J,146 Dannhauer, J, C. 20, 29-31, 147 Deleuze, G.136f., 141 Derrida, J, 45, 136f., 140-143, 150, 160,162 Descartes, R.130, 139, 142 Dilthey, W.l2f., 17, 19f., 26, 35-39, 41,64, 8lf., 109, 112, 138-140, 146f., 153,156f.,161
Dockhorn, K146 Droysen, J, G. 36, 148 Dutt, C.149 Ebeling, G. 147 Feher, I. M. 159 Fichte, G. 59 Figl, J, 146,162 Flacius Illyricus 17, 28f., 34 Forget, Ph. 150, 160 Foucault, M.136f., 140f., 162 Frank,M. 35, 148,160 Freud, S.136, 139f. Friedländer, P. 108 Fruchon, P'137, 161 Galenus, Ch. 24 Geldsetzer, L. 147 George,St.108,158 Gogh, V van 128 Greisch, J, 160, 162 Grondin, J,145f., 149 Guillemot, J,-L.161 Gusdorf, G. 138,161 Habermas, J, 10,44,100, 130, 150 Hartmann, N. 110 Hasso Jaeger, H.-E. 30, 146f. Hebert, G. 162 Hegel, G. W. F. 49, 58f., 109, 136 Herrmann,F.-W. von 57f., 79,150, 153f., 156 Hippokrates 24 Hirsch, E. D. 149 Hoffmann, P. 158 Hälderlin 8,75,111,158
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Personenregister
Humboldt, A. 158 Husserl, E. 53, 58, 66f., 70,136,138, 154
Merleau-Ponty, M. 136, 141 Mesure,S.161 Misch, G. 38, 157 Mozart, W.A.11, 119
Isokrates 19 Jacobs, W. G. 159 Jaspers, K. 56,75,151 JauB, H. R. 149 Jens,W.146 Johannes Cassianus 24 Joy,M.146 Jünger, E. 142 Kafka, F. 119 Kant, I. 39, 4lf., 58, 65,108,112-114, 135[,150-152,158,160 Kierkegaard, S.106, 109, 115, 129 Kimmerle, H. 148 Kisiel, T.149, 153, 155f. Klauck, H.-J.146 Knape, J.147 Kojeve,A.136 Kopperschmidt, J.146 Krajewski, B. 150 Krüger, G. 109 Lacan, J. 140 Laruelle, F.160 Leibniz, G. W. 134 Leonardo da Vinci 11 Levinas, E. 136 Levi-Strauss, c. 140 Lipps, H. 41, 149 Löwith, K. 56, 109 Lubac, H. de 146 Luther, M.17, 25f., 75 Man,P.de45 Marion, J.-L. 161 Marquard, 0. 31, 147 Marx, K. 136, 139 Meier, G. F. 31 Melanchthon, Ph.17f., 25-29, 34, 147
Natorp, P. 69, 107, 110 Neske, G. 155 Nietzsche, F. 9, 18, 45, 75, 128, 136f., 139,141-143,146,162 Oe1mann, F. 146 Oesterreich, P. L.149 Origenes 17, 23, 146 Palmer, R. E. 14, 146 Pannenberg,W.160 Pepin, J. 146 Philo von Alexandrien 17, 21-23 Platon 19f., 48, 53, 58, 102, 109, 130, 142,146,153 Plinius 25 Pöggeler, 0. 7, 138, 145 Potepa, M.148 Quintilian 25 Rambach, J. J. 32, 148 Renaud, F. 161 Rickert, H. 66 Ricceur, P.136-139, 141 Riedei, M. 162 Rilke, R. M. 116, 159 Rodi, F.149 Rorty, R. 18,45,158 Rosales, A. 153 Sartre, J.-P.136f., 141 Saussure, F. de 140 Schäublin, C.146 Schelling, F. W. J. 34, 159 Schiller, F.114, 118, 120 Schleiermacher, F. 12,30,33-37, 8lf., 146-148 Schmidt, L. K. 158 Schneider, J. R.147f.
Personenregister Schrift,A. 0.146, 162 Searle, 1. R. 41 Simon, 1. 160 Sophokles 11 Spiegelberg, H. 154 Stadelmann, R. 145 Stenzel, 1. 153 Storck, 1. 156 Strubbe, C. 157 Szondi, P. 148 Theodor von Mopsuestia 24 Thomä,D. 152
Thomas von Aquin 24, 49 Tizian 119 Towarnicki, F. de 153 Vattimo, G. 18,45,150, 157 Vedder, B. 87, 156 Vico, G. B.19 Wach,1.147 Weite, B. 79, 155 Westernhagen, 0. von 158 Winterbottom, M. 146 Wolf, F. A. 34
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