Kathrin Hörter Die Frage der Kultur
Psychologie und Gesellschaft Herausgegeben von Prof. Dr. Heiner Keupp
Kathrin H...
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Kathrin Hörter Die Frage der Kultur
Psychologie und Gesellschaft Herausgegeben von Prof. Dr. Heiner Keupp
Kathrin Hörter
Die Frage der Kultur Interkulturalität in Theorie und Praxis der Psychoanalyse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugleich Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Kea S. Brahms | Eva Brechtel-Wahl VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Korrektorat: Franz Mayer Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18016-8
Danksagung
Eine Arbeit wie diese entsteht letztlich in einem sozialen Netzwerk, ohne dessen Unterstützung sie nicht möglich geworden wäre. An dieser Stelle möchte ich mich bei all denen bedanken, ohne deren direkten oder indirekten Beistand ich nicht so weit gekommen wäre! An erster Stelle möchte ich all meinen InterviewpartnerInnen danken, mir ihre spärliche Zeit und ihr Vertrauen geschenkt zu haben. Heiner Keupp danke ich ganz besonders für seine sorgfältige und ermutigende Betreuungsarbeit und seine thematischen Anregungen, die mir eine fachliche Weiterentwicklung ermöglichten. Bei Helga Bilden bedanke ich mich für die spontane Übernahme der Rolle als Zweitgutachterin und bei Elmar Treptow für seine Zusage, sich als Prüfer zur Verfügung zu stellen. Stellvertretend für das Gemeindepsychologische Forschungsseminar bedanke ich mich bei meiner Freundin Angela Kühner, deren Hilfe in Form von Diskussionsbereitschaft und Social Networking nicht zu unterschätzen ist. Das aufmerksame und wertschätzende Lektorat von Franz Mayer war zudem äußerst hilfreich. Spezieller Dank gilt natürlich meinem Multifunktionsteam Helga und Manfred Fellner. Besonders erwähnenswert ist ihre liebevolle und engagierte Enkelbetreuung, die mir die Zuwendung zur Dissertation erst ermöglichte. Meine Mutter Karin Hörter erleichterte mir das Arbeiten deutlich durch ihre stete Ermunterung und ihre großzügige finanzielle Hilfe. Bei meiner Schwester Christina Hörter möchte ich mich für ihren Beistand in schwierigen Phasen bedanken und dafür, dass sie mir eine stete Anlaufstelle in allen Belangen ist. All meinen FreundInnen, die die Einschränkung meines sozialen Lebens mit mir teilen mussten, sei an dieser Stelle für ihre Geduld mit mir gedankt! Netterweise hat keine/r von ihnen jemals angezweifelt, ob sich der Aufwand für eine solche Arbeit denn lohne. Besonders wichtig war die emotionale wie fachliche Unterstützung durch meinen Mann Markus Fellner, der immer uneingeschränkt hinter mir und dieser Arbeit stand, und die Geduld meines Sohnes Mika, zu dessen Wortschatz schon früh die „Doktorarbeit“ und die „Stabi“ gehörten. Danke! München, im Februar 2010
Kathrin Hörter
Inhalt
Heiner Keupp: Vorwort .................................................................................. 11 1. Einleitung ....................................................................................................... 15 2. Was ist „zwischen den Kulturen“? Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität ............................................................................................. 21 2.1 Interkulturelle Erfahrungen in der BRD ................................................. 2.2 Erschütterungen Teil I: Die Welt der Diskurse – Diskurstheorie nach Michel Foucault .................................................... 2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies ....................................... 2.3.1 Zwischen theoretischer Offenheit und politischer Handlungsfähigkeit: Zur Geschichte der Cultural Studies ........ 2.3.2 Was heißt Kultur in den Cultural Studies? Im Spannungsfeld zwischen Kulturalismus und Strukturalismus ............................. 2.4 Erschütterungen Teil III: Kulturelle Identität als Konstruktion ............ 2.5 Erschütterungen Teil IV: Der Postkoloniale Diskurs ............................
21 24 27 28 30 41 57
3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse ............................................................................................... 69 3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode? ................... 3.2 Freuds Kulturtheorie: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ und „Das Unbehagen in der Kultur“ ............................................................. 3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse: Ethnopsychoanalyse durch die Brille der Cultural Studies ..................................................... 3.3.1 Back to the roots: Zur Universalität des Ödipuskomplexes – eine uralte Debatte ........................................................................ 3.3.2 Georges Devereux ........................................................................ 3.3.3 Paul Parin/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy ................. 3.3.4 Mario Erdheim .............................................................................. 3.3.5 Maya Nadig ................................................................................... 3.3.6 Ways out? ......................................................................................
70 80 90 93 122 137 157 168 174
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Inhalt
4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse ................................................................................... 183 4.1 Die Entwicklung der Klinischen Ethnopsychoanalyse in Frankreich .......................................................................................... 4.2 Die Entwicklung der interkulturellen psychoanalytischen Therapie im deutschsprachigen Raum .................................................................. 4.3 Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Perspektiven in der Literatur .................................................................................................. 4.4 Beispiele interkultureller psychoanalytischer Konzepte in Institutionen der psychosozialen Versorgung von MigrantInnen .......
185 194 195 196
5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis ............................................................................... 201 5.1 Fragestellung/en ...................................................................................... 5.2 Forschungsdesign und Methodik ........................................................... 5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees ................................ 5.3.1. Die „Niedergelassenen“ .............................................................. 5.3.2. Die „AusbilderInnen“ .................................................................. 5.3.3. Die „KandidatInnen“ ................................................................... 5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung ............... 5.4.1. Interkulturalität in München ....................................................... 5.4.2. Psychoanalyse in München ......................................................... 5.4.3. Psychoanalyse international ........................................................ 5.5 Psychoanalyse und Kultur als Gegenstand der psychoanalytischen Ausbildung ............................................................................................. 5.5.1. Die Vermittlung von Inhalten zum Thema Kultur und Interkulturalität ............................................................................ 5.5.2. Netzwerkstrategien als Schlüssel zum Erwerb spezifischen Wissens und Möglichkeit zum Empowerment .......................... 5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung .............................................................................................. 5.6.1 Ausbildungsinstitute als Spiegel der interkulturellen Gesellschaft? ................................................................................ 5.6.2 Die Verhandlung von kultureller Differenz innerhalb der Ausbildung ................................................................................... 5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis ........................ 5.7.1 Versorgungslage migrierter PatientInnen ................................... 5.7.2 Wichtige Aspekte zwischen Fachwissen und Einfühlung ......... 5.7.3 Anerkennung äußerer Realitäten .................................................
201 202 206 206 210 212 216 217 218 226 232 232 237 239 240 245 256 256 259 261
Inhalt
5.7.4 Systematische Reflexion eigener Zugehörigkeit/en, Stereotype und Rassismen ............................................................................. 5.7.5 Dezentrierung und postkoloniale Haltung als zentrale Forderungen ................................................................................. 5.7.6 Relativierung der eigenen Erkenntnisinstrumente am Beispiel der Gegenübertragung ................................................................. 5.8 Resümee ..................................................................................................
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265 270 277 281
6. Ausblick ......................................................................................................... 285 Literatur ............................................................................................................ 289
Vorwort
Mit der „Kultur“ scheint es eine ähnliche Bewandtnis zu haben wie mit der Identität. Damit soll etwas für Gruppen oder Personen Wichtiges benannt werden, zugleich kann daraus aber auch eine Waffe geschmiedet werden. Wenn von „Leitkultur“ die Rede ist, dann werden Zugehörigkeiten und Ausschließungen konstruiert. Und wenn dann der „Kampf der Kulturen“ (Huntington) ausgerufen wird, dann befinden wir uns mitten in einer militanten Arena. In diesem Fall wie bei der „Identitätspolitik“ geht es nicht um eine reflexive Bearbeitung eigener Erfahrungen und Grenzen, sondern um deren Verweigerung. Je mehr die Globalisierung kulturelle Differenzen kosmopolitisch überschreitet, desto dringlicher scheint eine Reflexion der Differenzerfahrungen zu werden und gleichzeitig wächst die Reaktanz und die Notwendigkeit unbefleckter Kulturen wird betont. Dieser Widerstand erfordert eine Erklärung und gerade von der Psychoanalyse, die ja Widerstandsanalysen als wichtiges methodisches Prinzip entwickelt hat, würde man hier einen wichtigen Beitrag erwarten. Wie aber hält sie es mit der Analyse von kulturellen Identifikationen und überhaupt mit einer psychosozialen Entschlüsselung kultureller Grammatiken? Dieser Frage widmet sich Kathrin Hörter mit ihrer Studie. Sie beschäftigt sich schon lange mit Anforderungen an die psychosoziale Praxis, die entstehen, wenn HelferInnen und KlientInnen unterschiedliche kulturelle Erfahrungshintergründe haben. Ihre Weiterbeschäftigung mit diesem Thema hat sich auf die Psychoanalyse konzentriert, der ihr besonderes persönliches Interesse gilt. Sie will mit ihrem Buch Fragen beantworten, die immer dann auf die Tagesordnung kommen, wenn die kulturellen Differenzen zwischen Menschen eine psychoanalytische Reflexion und therapeutische-praktische Konsequenzen erfordern. Die Rekonstruktion von kultursensibler Theoriebildung mit dem besonderen Fokus auf die Psychoanalyse stellt den größeren Teil des vorliegenden Buches dar, aber auch die psychoanalytische Praxis selbst wird in einer eigenen Erhebung exemplarisch beleuchtet. Kathrin Hörter möchte wissen, ob in der psychoanalytischen Ausbildung und der folgenden therapeutischen Praxis der Tatsache Rechnung getragen wird, dass der Anteil von Menschen mit Migrationserfahrungen an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung ständig zunimmt und damit die Wahrscheinlichkeit ebenso zunimmt, dass im Klientel der psychoanalytischen Praxis diese Gruppe
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Vorwort
größer wird. Ist diese Entwicklung schon auf dem Bewusstseinsschirm der psychoanalytischen Profession angekommen? Wenn der Begriff „Kultur“ in den Alltagsdiskursen zum Einsatz kommt, dann transportiert er meist eine „essentialistische“ Lesart und das gilt durchaus auch für einige fachliche Positionierungen. Kathrin Hörter legt großen Wert auf eine differenzierte Rezeption der vielfältigen Bemühungen um die Klärung der Begriffe „Kultur“ und „Interkulturalität“. Um naive Verdinglichungen zu dekonstruieren, werden vier zentrale „Erschütterungen“ dargestellt. In allen vieren taucht als wichtiger Impulsgeber Stuart Hall auf, der einige der Diskussionsstränge selbst entscheidend geprägt hat bzw. der es meisterhaft versteht, die wichtigen Grundfiguren gut nachvollziehbar herauszuarbeiten. Am Anfang steht in der Darstellung von Kathrin Hörter die Diskurstheorie von Foucault, auf die sich die weiteren Theoriestränge beziehen: Cultural Studies, die Konstruktion kultureller Identitäten und die Postcolonial Studies. Die Autorin skizziert die jeweiligen theoretischen Zugänge knapp und präzise und zeigt in überzeugender Weise auf, dass sie allen essentialistischen Annahmen gründlich den Boden entziehen. Kultur verliert den Status des Ursprünglichen, Unverrückbaren und Reinen. Die Erfahrungen und die Bedeutungshaltigkeit von Differenzen werden als Teil macht- und herrschaftsbestimmter Terrainsicherung beschrieben. Mit diesem Kapitel wird eine Art Koordinatensystem für die gesamte Arbeit entwickelt. So auf den aktuellen Stand kulturwissenschaftlicher Theorienbildung gebracht, kann Kathrin Hörter ihre LeserInnen in die psychoanalytische Diskursarena begleiten. Angeleitet wird dieser Schritt von den Fragen, die die dargestellten „Erschütterungen“ unabweisbar auf die sozialwissenschaftliche Agenda gesetzt haben. Sie drehen sich um die Konstruktionsprozesse des „Anderen“ und um die Reflexion dieser konstruktiv-diskursiven Herstellungsleistungen. Für die Psychoanalyse ist das kein einfaches Kriterium, weil sie doch traditionell und auch in der Mehrheit ihrer aktuellen RepräsentantInnen mit konstruktivistischen Ideen wenig anzufangen vermag. Weiterhin widmet sich Kathrin Hörter dem Stellenwert von Kultur und Interkulturalität in der Psychoanalyse und hat zunächst dem Problem Rechnung zu tragen, dass es die Psychoanalyse nicht gibt, sondern sich seit Freud ein ausgefächerter genealogischer Baum entwickelt hat, der eine Pauschalbehandlung kaum mehr verträgt. Natürlich stehen die kulturtheoretischen Schriften Freuds am Anfang und sie werden auch von Kathrin Hörter differenziert behandelt, aber zunächst einmal versucht sie die Frage zu klären, ob die Psychoanalyse sich eher als Heilmethode oder als Gesellschaftstheorie versteht. Das ist sicher eher eine rhetorische Frage, denn ein erheblicher Teil der psychoanalytischen Szene definiert sich als klinisch-therapeutisch und hat häufig den Kontakt zu
Vorwort
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den kulturtheoretischen Schriften Freuds verloren, auch in den Ausbildungsinstituten spielen sie keine besondere Rolle mehr. Meine Testfrage bei AusbildungskandidatInnen oder auch fertig ausgebildeten PsychoanalytikerInnen ergibt meist eine negative Reaktion: Sie sind unbekannt oder werden jedenfalls allenfalls marginal zur Kenntnis genommen. Diese Marginalbereiche durchstreift die Autorin und wird durchaus fündig: Bei der Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie, der Lacanschen Psychoanalyse, der psychoanalytischen Sozialpsychologie, der Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses und der Ethnopsychoanalyse. Systematisch weiterverfolgt wird dann vor allem der ethnopsychoanalytische Diskursstrang. Seine ausführliche Darstellung und Bewertung bilden das Herzstück des vorliegenden Buches. Es ist der Autorin ein Anliegen, nicht nur die wichtigsten Beiträge zur Ausformulierung einer ethnopsychoanalytischen Position darzustellen, sondern sie will sie „durch die Brille des Cultural Studies“ lesen und diskutieren. Die Rekonstruktion des ethnopsychoanalytischen Theoriestranges beginnt mit Freuds „Totem und Tabu“, es folgen die Rekonstruktion der klassischen „Malinowski-Jones-Debatte“ zur Universalität des Ödipuskomplexes, der Beitrag von Géza Róheim wird gewürdigt, Georges Devereux darf nicht fehlen und schließlich werden die unterschiedlichen Beiträge der Züricher Gruppe (Parin, Morgenthaler, Parin-Matthèy, Mario Erdheim und Maya Nadig) dargestellt. Kompaktes Wissen wird hier angeboten, kompetent vermittelt und kritisch eingeordnet. Auch ethnopsychoanalytisch inspirierte psychotherapeutische Ansätze werden vorgestellt und da sind vor allem französische Projekte, die von Tobie Nathan und Marie Moro in enger theoretischer Anlehnung an Devereux entwickelt wurden. Die empirische Erkundung von Kathrin Hörter hat sich für drei Gruppen von InterviewpartnerInnen entschieden: Jeweils drei AusbilderInnen (ohne Migrationserfahrung), Niedergelassene (mit Migrationserfahrung) und KandidatInnen (ebenfalls mit Migrationserfahrung). Alle neun Befragten praktizieren in einer Großstadt, in der mit mehr als einem Drittel der Bevölkerung der Anteil mit Migrationserfahrung deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. So ist zu erwarten, dass auch ein erheblicher Teil des Klientels einen Migrationshintergrund hat. Ob deren Prozentsatz dem der Wohnbevölkerung entspricht, darf bezweifelt werden, aber dazu scheint es keine Daten zu geben. Sie könnten ja einen ersten Hinweis liefern, ob eine Passung zwischen den behandlungsbedürftigen Problemlagen bei Menschen mit Migrationshintergrund und den therapeutischen Angeboten zustande kommt. Die Sicht der befragten PsychotherapeutInnen zeigt, dass das Bewusstsein und die Praxis der psychoanalytischen Szene noch nicht in der Welt angekommen sind, die von vielfältigen kosmopolitischen, transkulturellen und Migrati-
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Vorwort
onseinflüssen geprägt ist und die in München mehr als ein Drittel der Bevölkerung unmittelbar betrifft. In differenzierter Weise wird in diesem Kapitel 5 deutlich, dass der Weg der bestehenden Psychoanalyse noch weit ist, um in dieser Realität anzukommen. Für die Ausbildungsinstitute gilt das insbesondere. In der informellen Gruppenbildung haben sich allerdings vor allem TherapeutInnen mit eigener Migrationserfahrung Wissensnetzwerke aufgebaut, in denen sich „Gegendiskurse“ entwickeln können, die alternative Sichtweisen zu immer noch vorherrschenden Normalitätsdiskursen der deutschen Mehrheitsgesellschaft generieren. Die reflexiven Zugänge, die von den Befragten für ihre Arbeit in interkulturell geprägten Therapiesituationen für unabdingbar gehalten werden, beziehen ihre Überzeugungskraft aus eigenen verarbeiteten Migrationserfahrungen und sind teilweise völlig losgelöst von jenen Theorieentwicklungen, die Kathrin Hörter in ihrer Arbeit beschrieben hat. Das gilt nicht nur für die historisch interessanten Positionierungen und Kontroversen, sondern auch für aktuelle Angebote der Ethnopsychoanalyse. Welches Erkenntnismuster konnte sich durch die Lektüre des vorliegenden Buches ausbilden? Ich will es ganz einfach benennen: Wir haben in den aktuellen Kultur- und Sozialwissenschaften einen enormen Fundus an theoretischem und empirischem Wissen zu einer globalen Welt, die angemessen und sinnvoll nur noch in Differenz- und Hybridbegriffen erfasst werden kann. Die Psychoanalyse hat mit der zunehmenden Vernachlässigung ihres eigenen kulturtheoretischen Erbes und der Marginalisierung kritisch-theoretischer Beiträge aus der psychoanalytischen Sozialpsychologie den Anschluss an die Kultur- und Sozialwissenschaften fast völlig verloren und verbleibt nicht selten essentialistischen Denkmustern verhaftet. Die Ethnopsychoanalyse stellt den letzten eigenständig psychoanalytischen Zugang zur Frage dar, welche Relevanz kulturelle Kontexte haben. Aber auch dieser Beitrag hinkt hinter dem zeitgerechten Anspruchsniveau, das die Cultural und Postcolonial Studies vorgeben, deutlich hinterher. Für die psychoanalytische Ausbildung und Praxis hat das fatale Folgen. Die positiven Ansätze, die dann in der Praxis gesucht und entwickelt werden, vor allem von PsychotherapeutInnen, die selbst Migrationserfahrung haben, zeichnen sich durchaus durch ein hohes Reflexionsniveau aus, aber sie bleiben meist begriffsund theorielos. Kathrin Hörter zeigt mit ihrem Buch auf, welchen Weg die psychoanalytische Theorie und Praxis nehmen sollten und auf jeden Fall noch vor sich haben, bis sie dem Anspruch auf Kultursensibilität gerecht werden können. München, im Dezember 2010
Heiner Keupp
1 Einleitung
„Das Problem der ‚Kultur‘ betrifft den Psychoanalytiker vielmehr vom ersten Augenblick an, weil es verwoben ist mit seiner Aufgabenstellung [...].“ (Lorenzer & Görlich 1994, S. 8)
Diese Arbeit entstand aus dem Wunsch nach Verbindung zweier Interessensbereiche. Auf der einen Seite steht die Psychoanalyse in Theorie und Praxis, auf der anderen Seite befindet sich interkulturelles Arbeiten im psychosozialen Bereich. Diese Verbindung lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen betrachten und erfordert die kritische Reflexion verschiedener Aspekte, die diese Thematik beinhaltet. Zunächst gilt es, begriffliche Definitionen zu finden. Interkulturalität beschreibt das Verhältnis oder auch die Beziehung zwischen einzelnen oder mehreren Kulturen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Interkulturalität, letzter Zugriff: 25.2.2010). Kulturen können nun an sich keine Beziehungen eingehen, demnach bezieht sich der Begriff der Interkulturalität auf die Beziehung zwischen Menschen, die sich in verschiedenen kulturellen Kontexten verorten. Interkulturelles Zusammenleben ist, trotz der Tatsache, dass Deutschland lange nicht als Einwanderungsland verstanden werden wollte, besonders in Großstädten bereits eine alltägliche Erfahrung geworden. Wie dieses Zusammenleben zu werten ist, dafür bilden verschiedene Zugänge, denen ein jeweils spezifisches Verständnis von Kultur zugrunde liegt, den Ausgangspunkt. Auf der einen Seite steht das essentialistische Modell, das vom „Besitz“ einer homogenen, unveränderlichen Kultur bzw. kulturellen Identität ausgeht. Der Konflikt zwischen Menschen verschiedener kultureller Herkunft ist hier als quasi naturgegeben vorgezeichnet (vgl. z.B. Huntington 2007). Demgegenüber lässt sich auch ein im Konstruktivismus verorteter Kulturbegriff finden, der Kultur und kulturelle Identität als das Ergebnis von sozialen Verhandlungsprozessen versteht (vgl. z.B. Hall 1994). Die „multikulturelle Gesellschaft“ spiegelt sich auf spezifische Weise auch im Bereich der Psychotherapie bzw. der Psychoanalyse als Therapieform wider, indem vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund therapeutische Hilfe suchen oder auch therapeutische Hilfe anbieten. In Frankreich entwickelte sich K. Hörter, Die Frage der Kultur, DOI 10.1007/978-3-531-93071-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1. Einleitung
aufgrund der verstärkten Immigration bereits Ende der 70er Jahre die Klinische Ethnopsychoanalyse, besonders befördert durch die Arbeiten von Tobie Nathan und Marie Rose Moro. Im deutschsprachigen Raum entstand erst in jüngerer Zeit als Antwort auf all die Fragen, die das klinische Arbeiten in einem interkulturellen Beziehungsgefüge aufwirft, die interkulturelle psychoanalytische Therapie (vgl. Reichmayr 2003a). Allerdings ist hier die Beschäftigung mit der Thematik insgesamt noch wenig systematisiert und besteht, zumindest in Bezug auf die Literatur, vor allem im Sammeln von Aufsätzen zu verschiedenen Aspekten, die eine interkulturelle Therapie vor dem Hintergrund eines psychoanalytischen Modells vom Menschen mit sich bringen kann. Die Beschäftigung mit Kultur lässt sich in der Geschichte der Psychoanalyse bis zu Freud zurückverfolgen, der sich allerdings nicht mit interkulturellen Fragen an sich, sondern mit dem Gegensatz zwischen der Natur- bzw. TriebAusstattung des Menschen und den kulturellen Anforderungen befasste (vgl. z.B. Freud 1921 & 1930). Die Forderung nach Triebverzicht bzw. nach Triebsublimierung, die beispielsweise besonders triebfeindliche Institutionen wie Kirche und Militär in hohem Maße an den Menschen stellten, betrachtet Freud als Kern der kulturellen Entwicklung. Gleichzeitig ist diese Forderung aber auch der Urgrund des Widerspruches des Menschen gegen die Kultur. So ermöglicht wie erfordert dieses Konfliktmodell in seiner Konsequenz eine tiefgreifende Kultur- bzw. Gesellschaftskritik. Alfred Lorenzer und Bernard Görlich, zwei wichtige Vertreter der psychoanalytischen Sozialpsychologie, folgen der Freudschen Tradition und führen in ihrem Vorwort zu Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur (1930) aus, inwiefern diese Form von Kritik auch den Bereich der psychoanalytischen Therapie zentral betrifft. „Das ‚hysterische Unglück‘, mit dem die psychoanalytische Aufklärungsarbeit konfrontiert ist, ist kein Organgeschehen, das man aus dem lebensgeschichtlichen Zusammenhang des Betroffenen herauspräparieren könnte; es ist vielmehr eingebunden in einen ganz bestimmten kulturellen Zusammenhang, einen Kultur-Konflikt, der in seiner lebenspraktischen Unmittelbarkeit Ausdruck sucht. Was dem analytisch Verstehenden zu Ohren kommt, ist die Darstellung eines Leidenszusammenhangs, in dem Bedürfnisse, Wünsche, intime Lebensentwürfe auf der einen Seite, Normen, Gebote und Verbote auf der anderen Seite miteinander in Widerstreit geraten sind. Diese Konfliktstruktur zieht von vornherein die soziokulturelle Dimension ins Spiel, geht es doch um soziale Beziehungsmuster, um Weisen zwischenmenschlichen Zusammenspiels. So wird in der Therapie der Patient niemals als isoliertes Wesen, sondern aus seinen besonderen Beziehungssituationen und Beziehungsentwürfen heraus verstanden; das sinnlich spürbare Wertgefüge der jeweiligen Kultur, und das heißt das Problem der Kultur im Individuum, steht zur Debatte.“ (ebd., S. 8f)
1. Einleitung
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Kultur wird also deshalb zum „Problem“, da sie dem Menschen Leiden verursacht, welches wiederum innerhalb der Therapie zum Ausdruck gebracht wird. Also muss therapeutisches Arbeiten immer auch Kulturkritik enthalten und betrifft somit den/die PsychoanalytikerIn auf fundamentale Weise. Die EthnopsychoanalytikerInnen Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler untersuchten die gesellschaftlichen Verhältnisse in anderen Kulturen (vgl. dies. 1963 & 1971). Ihre Arbeiten „wurden vor allem durch die Studentenbewegung bekannt, deren theoretisches und praktisches Interesse der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und möglichen anderen Formen der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft galt“ (Reichmayr 2003a, S. 17). Kultur als etwas zu sehen, das Probleme schafft oder ein Problem ist, hat – nicht nur innerhalb der Psychoanalyse – Tradition. Der Hintergrund dieser Betrachtungsweise ist jedoch genauer zu beleuchten, da er stark bezüglich der ideologischen wie theoretischen Verankerung divergiert. Dies liegt vor allem an den diskursiven Anschlüssen, die der Begriff ‚Kultur‘ möglich macht. Während Lorenzer und Görlich aufgrund ihrer Skepsis gegenüber der Vereinbarkeit von gesellschaftlichen Ansprüchen und der „triebhaften“ Natur des Menschen ‚Kultur‘ als Problem definieren, ist dieser Sprachgebrauch auch aus einer völlig anderen Perspektive heraus üblich. Wenn es um Hegemonie- und Dominanzansprüche bestimmter gesellschaftlicher Gruppen geht, werden die kulturell Anderen als „problematisch“ dargestellt. Sie werden als „Bedrohung“ definiert und haben sich – wie im Rahmen der Leitkulturdebatte – an die herrschenden Verhältnisse anzupassen. Ebenso treten „Probleme“ auf, wenn diejenigen, die sich in anderen kulturellen Bezügen verorten, die Vorstellungen von Normalität, die die Majorität unter sich teilt, in Frage stellen. Dies umfasst auch die Konzeptionen von psychischer Gesundheit, von „normaler“ Entwicklung und angepasstem Verhalten. Parin (zit. in Reichmayr 2003a, S. 180) hält als Ergebnis seiner ethnopsychoanalytischen Untersuchungen fest, „daß es eine kulturunabhängige Normalität nicht gibt“. So hält Kultur, oder, um es als Verhältnis zu beschreiben, Interkulturalität auch auf diese Weise Einzug in psychoanalytische Praxen und stellt Fragen an die Theoriebildung innerhalb der Psychoanalyse. In dieser Arbeit soll Kultur nicht als Problem verstanden werden. Vielmehr sollen die Fragen behandelt werden, die sich ergeben, wenn psychoanalytische Theorie und Praxis unter dem Blickwinkel der kulturellen Differenz zwischen Menschen betrachtet werden. Um der häufig in Dominanz-Kontexten verorteten und auf Theorieebene nicht haltbaren essentialistischen Vorstellung von Kultur etwas entgegenzusetzen, verwende ich als theoretische Grundlage den kritischen Kulturbegriff der Cultural Studies, der kulturelle Differenz bzw. Identität als Ergebnis eines Verhandlungsprozesse ansieht. Auf die Konzepte der Postcolonial Studies und der Diskurstheorie nach Foucault werde ich mich stützen, um
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1. Einleitung
die Produktion von Wissen über die „Eigenen“ und die „Anderen“, über Normalität und Abweichung zu hinterfragen und machtstrukturelle Aspekte, die mit dieser Wissensproduktion verbunden sind, thematisieren zu können. Diese theoretische Brille verwende ich, um einen kritisch-würdigenden Blick auf psychoanalytische Modelle und Konzepte zur Thematik zu werfen. Aus der Praxis heraus interessierte mich, wie innerhalb der interkulturellen psychoanalytischen Therapie kulturelle Differenz verhandelt und thematisiert wird. Um die theoretischen Wurzeln zurückverfolgen zu können, auf die es zumindest in der Literatur Rückbezüge gibt, beschäftigte ich mich mit dem Zweig der Psychoanalyse, der systematisch den/die kulturell „Anderen“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt: die Ethnopsychoanalyse. Die Anfänge ethnopsychoanalytischer Fragestellungen finden sich schon in Freuds Totem und Tabu (1912–13) und werden in der Debatte um die Universalität des Ödipuskomplexes fortgesetzt. Die daran anschließenden Fragen, in welcher Form psychoanalytische Theorie allgemeingültige Aussagen über den Menschen trifft und inwiefern eine Reflexion bezüglich der Kulturgebundenheit der psychoanalytischen Modelle stattfindet, ziehen sich durch diese Arbeit. In seinen späteren Werken Massenpsychologie und IchAnalyse (1921) und Das Unbehagen in der Kultur (1930) führt Freud seine Kulturtheorie weiter aus, welche einen weiteren wichtigen theoretischen Bezugspunkt bildet. Wenn auch über den Bereich der interkulturellen psychoanalytischen Therapie in jüngerer Zeit einiges geschrieben wurde und er insgesamt, z.B. auf Tagungen, verstärkt thematisiert wird, ist dieser Bereich so gut wie nicht beforscht. Dies steht im Gegensatz zum zunehmenden Interesse an Themen rund um Migration/Kultur/Interkulturalität im Bereich der Sozialforschung allgemein (z.B. Badawia, Hamburger & Hummrich (Hg.) 2003, Dannenbeck 2002, Gutiérrez Rodríguez 1999, Kahraman 2008, King 2006, King & Koller 2009, Pott 2002). Um einen Beitrag zur Forschung in diesem Bereich zu leisten, führte ich eine eigene empirische Untersuchung durch. Hierzu interviewte ich PraktikerInnen aus dem Bereich der Psychoanalyse, um mehr darüber zu erfahren, wie diese ihre interkulturelle Praxis reflektierten. Zudem wollte ich wissen, ob und wie psychoanalytische Ausbildungsinstitute ihre KandidatInnen auf einen interkulturellen Arbeitsalltag vorbereiten und auf welche Weise kulturelle Differenz innerhalb der Institute verhandelt wird. Dennoch bleiben auch am Ende dieser Arbeit viele Fragen offen, die durch weitere Forschung genauer beleuchtet werden sollten. Auch wenn diese Arbeit einen kritischen Blick auf psychoanalytische Theorie wie Praxis wirft, entsteht sie auf der Basis hoher Wertschätzung der Psychoanalyse gegenüber. In und mit ihr möchte ich eine Verbindung zwischen Kul-
1. Einleitung
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turwissenschaft/en und Psychoanalyse versuchen, die eine differenzierte Rezeption der theoretischen Angebote zur Thematik möglich macht. Zum Aufbau der Arbeit In Kapitel 2 werden grundlegende Begriffe und theoretische Zugänge dieser Arbeit bestimmt. Es beginnt mit einem kurzen Überblick über die Relevanz von Interkulturalität für den Alltag in Deutschland anhand einschlägiger soziologischer Daten. Gefolgt wird dieser Überblick von einer ausführlichen Darstellung der Diskurstheorie nach Michel Foucault, der Geschichte und den Konzepten der Cultural Studies und der Postcolonial Studies. Diese Theorien bilden die Folie für den Blick auf die (Ethno-)Psychoanalyse in den folgenden Kapiteln. Aus ihnen leiten sich die zentralen Fragen ab, auf die im Weiteren Antworten gesucht werden: 1. 2. 3. 4.
Auf welche Weise wird in (ethno-)psychoanalytischer Theorie und in interkultureller psychoanalytischer Praxis der/die „Andere“ hergestellt? Entlang welcher Kontrastierungen werden die „Eigenen“ und die „Anderen“ konstruiert? Wie werden die Vorgänge und Mechanismen reflektiert, die der Produktion des (ethno-) psychoanalytischen Wissens über sich und andere zugrunde liegen? In welchen Kontext wird diese Wissensproduktion gestellt?
Das Kapitel 3 stellt auf kritisch-würdigende Weise dar, wie die Konzepte der Kultur und der Interkulturalität von Freud bis heute innerhalb psychoanalytischer Theorie gefasst werden. Am Anfang steht ein kurzer Abriss der verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse, die die Heterogenität des Feldes darstellen. Als Aufhänger dient hier die Frage danach, ob die Psychoanalyse primär im klinisch-psychologischen Bereich zu verorten oder ob sie als Gesellschaftstheorie zu verstehen sei. Nachdem die Freudsche Kulturtheorie ausgeführt wurde, rückt die Beschäftigung mit dem/der „Anderen“ bzw. „Fremden“ innerhalb psychoanalytischer Theorie in den Fokus, wobei im Besonderen die wichtigsten TheoretikerInnen der Ethnopsychoanalyse dargestellt werden. Um die Entwicklungen, Diskussionen und Veränderungen von den Anfängen der Ethnopsychoanalyse bis heute verstehen zu können, werden sie entlang ihrer Bezüge ausgeführt. Dies beginnt bei Freuds Totem und Tabu (1912–13) und wird von der Debatte um die Universalität des Ödipus-Komplexes gefolgt. An die Darstellung des theoretischen Zugangs von Georges Devereux schließen die
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1. Einleitung
Arbeiten der Gruppe von Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler, ebenso von Mario Erdheim und Maya Nadig an. Das Kapitel endet mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Konzepten der Cultural/Postcolonial Studies mit einem (ethno-)psychoanalytischen Zugang. Mit Kapitel 4 beginnt die Zuwendung zum praktisch-therapeutischen Feld der Psychoanalyse in Form der interkulturellen psychoanalytischen Therapie bzw. der klinischen Ethnopsychoanalyse. Es werden Entwicklungen innerhalb dieses Bereichs in Frankreich und im deutschsprachigen Raum dargestellt. Diesem Punkt folgt eine Liste von Themen, wie sie sich in der Literatur zur interkulturellen psychoanalytischen Therapie finden lassen. Abschließend wird anhand von einschlägigen Beispielen der Umsetzung interkultureller psychoanalytischer Konzepte im Bereich der psychosozialen Versorgung von MigrantInnen nachgegangen. Kapitel 5 stellt die Konzeption, die Durchführung und die Ergebnisse meiner eigenen empirischen Untersuchung im Feld der interkulturellen psychoanalytischen Therapie dar. An die Darstellung der Fragestellungen, des Forschungsdesigns und des methodischen Vorgehens meiner Interviewstudie schließen die Portraits der InterviewpartnerInnen an. Es folgt eine Bestimmung des Kontextes, in dem die Interviewees ihre Aussagen treffen. Im Ergebnisteil werden drei aus den Interviews extrahierte Themenbereiche differenziert dargestellt: 1. 2. 3.
Wie wird Psychoanalyse in Verbindung mit Fragen der Kultur innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung vermittelt? Was lässt sich über Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung sagen? Welche Reflexionen und welche Kritik lassen sich aus dem interkulturellen Arbeiten innerhalb der psychoanalytisch-therapeutischen Praxis ableiten?
Im Resümee werden die Ergebnisse diskutiert und offene Forschungsfragen formuliert. Kapitel 6 thematisiert die Überschneidung der Kategorie Kultur mit anderen Differenzkategorien. Daraus lassen sich Forderungen ableiten, die psychotherapeutische Ausbildungen erfüllen sollten, um PsychotherapeutInnen „differenzreflektierende[s]“ (Bilden 2008, S. 6) Arbeiten zu ermöglichen.
2 Was ist „zwischen den Kulturen“? Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Bevor es möglich ist, psychoanalytische Konzepte im Hinblick auf deren Annahmen über Kultur und Interkulturalität zu betrachten, bedarf es einer allgemeineren Beschäftigung mit diesen Begrifflichkeiten und deren Implikationen. In Kapitel 2.1 wird es um die „interkulturelle Normalität“ in Deutschland gehen, und dies in zweierlei Hinsicht. Ein Blick auf die Bevölkerungszusammensetzung wird zeigen, dass interkulturelle Begegnungen zum Alltag in Deutschland gehören. Gleichzeitig ist die soziale Ungleichheit, die im Gros zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen herrscht, jedoch auch „normal“ und macht nicht vor psychosozialen Einrichtungen und psychotherapeutischen Praxen halt. Die Kapitel 2.2 bis 2.5 befassen sich mit der diskursiven Herstellung der „Anderen“, der Dekonstruktion eines häufig implizierten essentialistischen Kulturbegriffes, und beleuchten machtstrukturelle Aspekte der interkulturellen Begegnung. Die in diesen Abschnitten dargestellten Theorien bilden die Folie, auf der im Weiteren der Arbeit psychoanalytische Konzepte zur Kultur bzw. Interkulturalität analysiert werden. 2.1 Interkulturelle Erfahrungen in der BRD Auch wenn sich die Bundesrepublik selbst lange Zeit nicht als Einwanderungsland verstand, so ist es anhand der einschlägigen Statistiken (vgl. z.B. Migrationsbericht 2006) nicht mehr von der Hand zu weisen, dass es sich bei ihr um ein De-facto-Einwanderungsland handelt. Im Zeitraum von 1991 bis 2006 erfolgten 15,1 Mio. Zuzüge vom Ausland nach Deutschland, wobei hier auch deutsche StaatsbürgerInnen erfasst wurden. Die Gründe für die Migration sind divers und reichen von Ehegatten- und Familiennachzug über EU-Binnenmigration von UnionsbürgerInnen und Spätaussiedlerzuwanderung bis hin zu AsylberwerberInnen und Flüchtlingen. Seit der Lockerung des Anwerbestopps von 1973 spielt auch die Arbeitsmigration wieder eine größere Rolle und umfasst ein Spektrum von SaisonarbeiterInnen bis hin zu Tätigen im IT-Bereich, die seit 2000 vermehrt angeworben wurden (vgl. Bundesministerium des Inneren 2006). Die
K. Hörter, Die Frage der Kultur, DOI 10.1007/978-3-531-93071-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Herkunftsländer, aus denen die im Jahre 2007 in Deutschland lebenden ca. 6,7 Mio. „AusländerInnen“ immigrierten, sind vielfältig. Hier werden die wichtigsten davon aufgeführt. Europäische Union
2,3 Mio.
Drittstaaten
4,4 Mio.
Italien
528.318
Türkei
1.713.551
Polen
384.808
Serbien
468.218
Griechenland
294.891
Kroatien
225.309
Österreich
175.875
Russische Föderation
187.835
Niederlande
128.192
Bosnien-Herzegowina
158.158
Herkunftsstaaten (Quelle: Bundesministerium des Inneren 2008)
Die „AusländerInnenstatistik“ allein wird jedoch der interkulturellen Realität in Deutschland nicht gerecht. So wurde im Migrationsbericht 2006 erstmals auch die Zahl der „Menschen mit Migrationshintergrund“ erfasst, was folgende Daten ergab: „[…v]on den ca. 82,4 Mio. in Deutschland lebenden Menschen haben etwa 15,1 Mio. einen Migrationshintergrund. Dies macht gut 18 % der Gesamtbevölkerung aus, darunter 9 % Ausländer und knapp 10 % deutsche Staatsangehörige. Etwa 10,4 Mio. Menschen haben danach eine eigene Migrationserfahrung, sind also selbst nach Deutschland zugewandert, darunter 5,6 Mio. Ausländer, 3,1 Mio. Eingebürgerte und 1,7 Mio. Personen, die bei der Zuwanderung die deutsche Staatsangehörigkeit ohne Einbürgerung erhalten haben. [...] Weitere 4,7 Mio. Menschen sind zwar nicht selbst zugewandert, aber von Migration betroffen. Dies betrifft 2,6 Mio. Deutsche, bei denen mindestens ein Elternteil Spätaussiedler, Eingebürgerter oder Ausländer ist, 0,4 Mio. in Deutschland geborene Eingebürgerte sowie 1,7 Mio. in Deutschland geborene Ausländer.“ (Bundesministerium des Inneren 2008)
Nicht zu vergessen ist auch die Gruppe der „Afrodeutschen“, die Birgit Rommelspacher (2002, S. 177, vgl. auch Diefenbach & Weiß 2006) im Gegensatz zu den ethnischen Minderheiten als „,rassifizierte‘ Minderheit“ beschreibt, „die ausschließlich aufgrund einer Rassenkonstruktion gebildet wird, die den Deutschen eine weiße Hautfarbe zuschreibt und alle Menschen mit dunkler Hautfarbe als nicht-deutsch begreift“. Die Analysen zeigen also, dass Interkulturalität in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zur Normalität gehört. Dennoch zeigt es sich auch, dass MigrantInnen in Deutschland (und nicht nur dort) sozial nicht mit den „normalen Deutschen“ gleichgestellt sind. Der Bildungsbericht 2006 (Bundesministerium für Bildung und Forschung) belegt
2.1 Interkulturelle Erfahrungen in der BRD
23
eindeutig die schlechteren Bildungschancen für Menschen mit Migrationshintergrund. „Im Vergleich zu Deutschen ohne Migrationshintergrund weisen die Migranten ein niedrigeres Bildungsniveau auf, sowohl bei den allgemeinen Schul- als auch bei den beruflichen Bildungsabschlüssen.“ (ebd. S. 146)
Im Grundschulbereich ist das Risiko, innerhalb der Jahrgangsstufen 1 bis 3 eine Klasse wiederholen zu müssen, für Kinder mit Migrationshintergrund viermal so hoch wie das der Kinder ohne Migrationshintergrund (vgl. ebd.). Wenn auch schlechtere Bildungschancen als multifaktoriell begründet zu verstehen sind (z.B. ist auch das Bildungsniveau der Eltern ein bedeutsamer Prädiktor), so erweist sich die Kombination der Faktoren Armut und Migrationshintergrund als besonders ungünstige Ausgangslage für SchülerInnen bezüglich des Bildungssystems in Deutschland (vgl. Sorg 2008). MigrantInnen der 2. und 3. Generation, die ja ihre Bildungslaufbahn in der Bundesrepublik absolviert haben, haben etwa ebenso häufig wie SchülerInnen ohne Migrationshintergrund die Hochschulreife erreicht. Demgegenüber steht allerdings der im Vergleich zu Deutschen ohne Migrationshintergrund doppelt so hohe Anteil an MigrantInnen der 2. und 3. Generation ohne Berufsabschluss (16% vs. 32%). Wenn es auch innerhalb der Gruppe der „Menschen mit Migrationshintergrund“ nicht nur bezüglich der Bildungsverläufe weiterer Differenzierung bedarf, so stellt der Bildungsbericht aufgrund dieser Daten fest: „Dem deutschen Bildungssystem gelingt es also, die qualifizierten Migranten zu fördern, nicht jedoch die Bildungshemmnisse bei den Problemgruppen auszugleichen.“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006, S. 148)
Der österreichische Migrations- und Integrationsbericht (Fassmann 2007) weist außerdem auf ein im Vergleich zur „einheimischen“ Bevölkerung zweifach erhöhtes Armutsrisiko von 28% für sogenannte zugewanderte Drittstaatenangehörige hin. Innerhalb der Gruppe der MigrantInnen weisen Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft sogar ein Armutgefährdungsrisiko von 34% auf. Da dieses Risiko auch nach der Einbürgerung nur gering sinkt, können diese Zahlen als Hinweis darauf gewertet werden, dass vor allem die Herkunft der entscheidende Prädiktor bezüglich der Wahrscheinlichkeit zu verarmen ist. Diese Ergebnisse sind besonders prekär in Verbindung mit dem Wissen darüber, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Armut und einem erhöhten Risiko, physisch oder psychisch zu erkranken, gibt (vgl. z.B. Keupp 2006). Verschärft wird die soziale Lage noch durch spezifisch erhöhte Zugangsbarrieren für MigrantInnen in der Gesundheitsversorgung bzw. in der psychosozialen Versor-
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
gung (vgl. z.B. Arslan, Uslucan & Flötotto 1998, Collatz 2001, Kahraman 2008). Die Angebote auf theoretischer Ebene, die die interkulturelle Konstellation charakterisieren sollen und diese in der Regel auch bewerten, sind vielfältig. Essentialistische Kulturtheorien, die vom „Besitz“ einer spezifischen Kultur und der Homogenität sowie Unveränderbarkeit kultureller Identität ausgehen, bieten immer wieder die Brille, durch die die „multikulturelle Gesellschaft“ betrachtet wird. Häufig ist dabei von einem sogenannten „Kulturkonflikt“ oder „clash of cultures“ (vgl. Huntington 2007) die Rede, der sich unvermeidlich aus dem „Zusammenprallen“ von Menschen verschiedener kultureller Herkunft ergebe. Humanethologische Theorien versuchen, die feindseligen bzw. aggressiven Reaktionen gegenüber sogenannten „Fremden“ als evolutionäres Erbe und somit als Universalie darzustellen (vgl. z.B. Eibl-Eibesfeldt 1984). Die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser essentialistischen Theorien über Kultur möchte ich auf verschiedene Weise erschüttern, indem ich mich auf theoretische Strömungen beziehe, die ein anderes Bild von Kultur und den „Fremden“/„Anderen“ zeichnen. Dieser theoretische Pfad führt von der Foucaultschen Diskurstheorie über die Cultural Studies und das damit verbundene Thema der Herstellung kultureller Identität bis hin zu den Postcolonial Studies. 2.2 Erschütterungen Teil I: Die Welt der Diskurse – Diskurstheorie nach Michel Foucault „Die Leute wissen, was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.“ (Foucault zit. nach Dreyfus & Rabinow 1994, S.219)
Wenden wir uns nun mit Bezug auf Michel Foucault „der Formierung der Sprechweisen oder ‚Diskurse‘“ zu (Hall 1994, S. 149), um verstehen zu können, was es heißt, bestimmte Aussagen über Kultur, Interkulturalität, „Fremde“ und „Ausländer“ innerhalb eines politischen bzw. gesellschaftlichen Kontextes (wie z.B. dem clash of cultures) oder – was innerhalb dieser Arbeit von besonderem Interesse ist – im Rahmen interkultureller psychoanalytischer Theorie und Praxis zu treffen, und wie verstanden werden kann, in welchen Zusammenhang diese Aussagen gestellt werden müssen. Unter einem Diskurs versteht Foucault „eine Gruppe von Aussagen, die eine Sprechweise zur Verfügung stellen, um über etwas zu sprechen – z.B. eine Art der Repräsentation – eine besondere Art von Wissen über einen Gegen-
2.2 Erschütterungen Teil I: Die Welt der Diskurse – Diskurstheorie nach Michel Foucault
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stand“ (Hall 1994, S. 150). Wird beispielsweise innerhalb eines psychoanalytischen klinischen Kontextes „Wissen“ über MigrantInnen in Form von Aussagen über psychische Entwicklung produziert (sie ist wie „unsere“/sie ist „anders“), strukturiert der Diskurs die spezifische Konstruktion dieses „Wissens“ ebenso, wie er „die anderen Weisen, wie das Thema konstruiert werden kann [begrenzt]“ (ebd.). Dabei versteht Foucault unter einem Diskurs nicht eine einzelne Aussage, sondern das Zusammenwirken mehrerer Aussagen über einen Gegenstand, „um das zu bilden, was […] Foucault eine ‚diskursive Formation‘ nennt. Die Aussagen hängen zusammen, weil jede einzelne eine Beziehung zu allen anderen beinhaltet“ (ebd.). Im angenommenen Beispiel hieße das, die Aussagen bzw. das „Wissen“, das wir über die „Psyche“ der MigrantInnen produzieren, hängen in bedeutsamer Weise mit den Aussagen über die Psyche der NichtMigrantInnen zusammen. „Wissen“, so Foucault, wird mittels Sprache formiert – und das ist es, worauf sich der Begriff des Diskurses bezieht. Dabei entsteht ein Diskurs aber nicht im „luftleeren Raum“, er ist nicht „autonom“, sondern – wie es Foucault im Begriff der diskursiven Praxis fasst – der Diskurs ist einerseits in gesellschaftliche Praktiken eingebettet und wird durch bestimmte Praktiken (vgl. Dreyfus & Rabinow 1994) – die Praktiken „der Bedeutungsproduktion“ (Hall 1994, S. 150) – selbst produziert. Andererseits stellt der Diskurs gesellschaftliche Handlungsformen her. Somit ist der Diskursbegriff nicht auf einer klassischen Unterscheidung zwischen „Denken und Handeln, Sprache und Praxis“ (ebd.) begründet, sondern verdeutlicht, wie stark soziale Praktiken diskursiv durchwoben sind und wie der Diskurs umgekehrt gesellschaftlich bedingt ist. Konkret heißt das, dass die Aussagen, die PsychoanalytikerInnen in Bezug auf migrierte PatientInnen treffen, sich grundlegend auf den Umgang mit diesen auswirken (z.B. das Setting oder die Prognose betreffend etc.). Das bedeutet, abstrakter betrachtet, dass der (klinische) Diskurs in Bezug auf MigrantInnen Konsequenzen für die therapeutische Praxis hat und dass umgekehrt im Rahmen dieser therapeutischen Praktiken wiederum Wissen über die „Behandlung“ von MigrantInnen in Form von Diskursen gebildet wird. Wenn man/frau den Gedanken im Kopf behält, dass zwischen dem diskursiv hergestellten psychoanalytischen Wissen und dem Handeln im Rahmen psychoanalytischer Praxis ein bedeutsamer Zusammenhang besteht, könnte man nun sagen: „Dann ist es eben von besonderer Bedeutung, das wahre Wissen über die Behandlung von migrierten PatientInnen herauszufinden!“, z.B. „Wie verläuft die psychische Entwicklung türkischer Frauen?“ oder „Ist diese oder jene Gesellschaft oraler strukturiert als die deutsche Gesellschaft?“. Die Aufforderung, die „Wahrheit“ in diesem Bereich herauszufinden, setzt jedoch voraus, dass sich Wissen in Form von Diskursen außerhalb von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Reglementierungsprozessen formieren könne. Dieser Vorstel-
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
lung hält Foucault (2000, S. 10f) entgegen, „daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird […]“. In Die Ordnung des Diskurses führt Foucault (2000, i.O. 1970) die verschiedenen Einschränkungs- und Kontrollprozeduren genauer aus, wobei in Bezug auf das Verhältnis von Diskurs und Wahrheit folgender Kerngedanke Foucaultscher Theorie festgehalten werden kann, wie ihn Hall (1994, S. 151f) formuliert: „[...] Aussagen über die soziale, politische oder moralische Welt sind selten einfach wahr oder falsch; und ‚die Tatsachen‘ ermöglichen es uns nicht, definitiv über ihre Wahrheit oder Falschheit zu entscheiden, zum Teil, weil ‚Tatsachen‘ auf unterschiedliche Weise konstruiert werden können. Diese Sprechweise selbst, die wir zur Beschreibung der sogenannten Tatsachen benutzen, greift in den Prozeß ein, der endgültig über das, was wahr oder falsch ist, entscheiden soll.“
Aussagen über MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen sind also nicht per se „wahr“, sondern sie werden wahr gemacht. „Die Sprechweise (der Diskurs) hat reale Auswirkungen in der Praxis: Die Beschreibung wird ‚wahr‘.“ (ders. S. 152)
Wie lässt es sich aber vorstellen, dass aus verschiedenen konstruierten Aussagen bzw. konkurrierenden Diskursen über einen Gegenstand – z.B. die „MigrantInnen“ – bestimmte zur „Wahrheit“ gemacht werden? An dieser Stelle verknüpft Foucault das Thema der „Wahrheit“ mit dem der Macht: Wahr wird, was mittels machtvoller Mechanismen als wahr durchgesetzt wird, und diese „Wahrheit“ selbst wirkt wiederum machtvoll, „indem [der Diskurs] Gegenstände auf eine bestimmte Weise erfahrbar macht und diese im Sinne sozialer Wirklichkeit erst erschafft“ (Seier 1999, S. 77). „Es gibt einen Kampf ‚um die Wahrheit‘, oder zumindest ‚im Umkreis der Wahrheit‘, wobei nochmals gesagt werden soll, daß ich unter Wahrheit nicht das ‚Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind‘, verstehe, sondern ‚das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird‘ […].“ (Foucault 1978, S. 53)
Fassen wir noch einmal zusammen, was für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung ist: Dass MigrantInnen zu einem betracht-, beschreib- und behandelbaren Gegenstand gemacht werden (sei es in politischen, wissenschaftlichen oder psy-
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2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies
choanalytischen Kontexten), ist das Ergebnis von Prozessen der Diskursivierung. Aussagen wie z.B. „AusländerInnen sind für uns Fremde“, strukturieren das diskursive Feld über „AusländerInnen“ in spezifischer Weise (z.B.: „Da AusländerInnen Fremde sind, ist es nur ‚natürlich‘, sich vor ‚Überfremdung‘ schützen zu wollen!“). In Bezug auf einen „Gegenstand“ (so auch die MigrantInnen) formieren sich konkurrierende Diskurse, wobei der Diskurs zur Wahrheit erhoben wird, der sich machtvoll durchsetzen kann. Was als Wahrheit konstituiert wird, ist dabei nicht gleichgültig, da Wissensproduktion und jeweilige Praxis in einer wechselseitigen Beziehung stehen und der Diskurs über MigrantInnen Auswirkungen auf den Umgang mit denselben hat (z.B. „Damit wir nicht ‚überfremdet‘ werden, müssen wir die Zuwanderung streng reglementieren“). Auch Fachdiskurse, wie sie innerhalb der (Ethno-)Psychoanalyse produziert und praktiziert werden, sind von den oben beschriebenen Prozessen nicht frei und haben wiederum selbst eine machtvolle Wirkung. Ian Parker (vgl. auch Kap. 3.1) stellt in Psychoanalytic Culture. Psychoanalytic Discourse in Western Society (1997, S. 1, Hervorhebung i.O.) fest, dass die Psychoanalyse ein Teil kultureller Praktiken in den westlichen Gesellschaften sei und „that psychoanalytic discourse can be found there in those practices and that it structures those practices and the subjectivity of those who participate in them“. Die Darstellung des Diskursbegriffes nach Foucault habe ich deshalb an den Anfang der vier „Erschütterungen“ gestellt, da sich die Unterkapitel über Cultural Studies, über die Konstruktion kultureller Identität und über Postcolonial Studies allesamt immer wieder auf Foucault beziehen. Welche Bedeutung er im Einzelnen erlangt, wird sich innerhalb der verschiedenen Abschnitte erschließen. Beginnen wir nun mit der Darstellung der Cultural Studies. 2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies „Was wirklich wichtig ist, das sind die signifikanten Einschnitte [breaks] – die Unterbrechung etablierter Gedankengänge, die Ersetzung älterer Konstellationen und die Neugruppierung von sowohl alten als auch neuen Elementen um andere Prämissen und Themen herum.“ (Hall 1999a, S.13. Hervorhebung i.O.)
Warum sind es gerade die Cultural Studies, die ich für einen bereichernden und erweiternden theoretischen Bezugspunkt zur Betrachtung und Analyse von „Prämissen“ um die „Themen“ Kultur und Interkulturalität herum halte? Welche
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
neuen Perspektiven lassen sich vor ihrem Hintergrund einnehmen, welche „etablierten Gedankengänge“ lassen sich unterbrechen? Da der Name der Cultural Studies ihr Programm ist, ermöglichen sie eine fundierte Auseinandersetzung mit Begriffen der Kultur, kultureller Identität und Interkulturalität, wie sie für die vorliegende Arbeit von grundlegender Bedeutung ist. Sie wenden sich ab von einem Verständnis von Kultur als reiner „Hochkultur“, vielmehr stehen alltägliche kulturelle Praktiken im Mittelpunkt der Betrachtung. Anders als essentialistische Betrachtungen von Kultur jedoch können die Cultural Studies einen Beitrag dazu leisten, diese „kulturellen Praktiken“ als gesellschaftliche Phänomene und folglich als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen zu verstehen, von Prozessen, die durchwoben und geprägt sind von machtvollen Strukturen innerhalb von Gesellschaften und in einer globalisierten Welt zunehmend auch zwischen Gesellschaften. Dabei verharren sie jedoch nicht auf einer einseitig dichotomisierten Sicht von UnterdrückerIn und Unterdrückten. Sie versuchen vielmehr Orte des Widerstandes aufzuspüren und „Rasse“, Nation und im Besonderen auch Ethnizität als etwas Konstruiertes, jedoch nichts Willkürliches zu theoretisieren. Zugleich haben sie ihren Anspruch nicht aufgegeben, stets ein politisches Projekt zu bleiben, das gesellschaftliche Prozesse nicht nur beschreiben und verstehen, sondern auch in sie eingreifen möchte. Zudem sind sie ein offenes Theorieprojekt, das Platz für kritische Auseinandersetzung und stete intellektuelle Entwicklung offen lässt. 2.3.1 Zwischen theoretischer Offenheit und politischer Handlungsfähigkeit: Zur Geschichte der Cultural Studies Eine Betrachtung der Geschichte der Cultural Studies ermöglicht es, genauer zu verstehen, weshalb hier politische Perspektive und Theoriebildung eng verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Mitte der 50er, Anfang der 60er Jahre begannen sich die Cultural Studies in Großbritannien zu formieren (vgl. Hall 1999a). Dabei waren die Arbeiten der „Pioniere“ der Cultural Studies, wie Roger Bromley (1999) sie nennt, deutlich beeinflusst von den Erfahrungen, außerhalb eines institutionalisierten Kontextes in der Erwachsenenbildung tätig zu sein, die an einem Ideal von Bildung als demokratischem und emanzipatorischem Prozess orientiert war. Ihr Ziel war es dabei, „diejenigen historischen Entwicklungen aufzuwerten, die an den Universitäten keinen Platz hatten“ (Bromley 1999, S. 10). So waren Marginalisierung und aktiver Widerstand von Anfang an zentrale Themen innerhalb der Cultural Studies, „in einer zutiefst konservativen, von kolonialer Mentalität und imperialem Selbstverständnis geprägten Zeit“ (ebd.). Vom gesellschaftlichen Kontext
2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies
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tief geprägt, war ihr inhaltlicher Schwerpunkt folglich zunächst die Untersuchung der Nationalkultur. Ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Cultural Studies nach ihrer „Pionierphase“ war ihre Institutionalisierung, maßgeblich vorangetrieben durch Richard Hoggart, der 1964 das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham gründete. Gerade Hoggarts Verdienst war es, dass sich erste nicht-elitäre Forschungsansätze behaupten konnten, die sich dezidiert nicht mit „Hochkultur“, sondern mit kulturellen Praktiken im Alltag beschäftigten. Von 1968 bis 1979 übernahm Stuart Hall, dessen Arbeiten außerhalb Großbritanniens die wohl am stärksten rezipierten Schriften der Cultural Studies darstellen, die Position des Direktors des CCCS und beeinflusste die theoretische Arbeit maßgeblich (vgl. Bromley 1999). Inzwischen fanden die Cultural Studies über Großbritannien hinaus Verbreitung und haben sich „zu einer Bewegung oder einem Netzwerk entwickelt“ (Johnson 1999, S. 139). Sie wurden in verschiedenen Ländern, insbesondere den USA und Kanada, aber auch in Asien und Lateinamerika vor dem Hintergrund der jeweiligen Denktraditionen rezipiert und entwickelten folglich verschiedene Forschungsschwerpunkte, beginnend mit Fragen nach „Rasse“, Geschlecht und Sexualität bis hin zu Themen der Globalisierung und ihrer Folgen, und beschäftigen sich, was für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist, mit Marginalisierung und postkolonialen Fragen (vgl. Bromley 1999). Auch in Deutschland stoßen die Cultural Studies zunehmend auf Aufmerksamkeit innerhalb universitärer und außeruniversitärer Kreise. Dabei nehmen sie ihren Einfluss besonders auf Amerikanistik und Anglistik, auf Ethnographie, Alltagskulturforschung und empirische Kulturwissenschaft bzw. Volkskunde, auf die Medien- und Kommunikationswissenschaft und zudem auf die Populärkulturdebatte, die zum größten Teil außerhalb akademischer Kontexte geführt wird (vgl. Göttlich & Winter 1999). Aber noch einmal weg von der Rezeptionsgeschichte hin zum Anspruch eines politischen Theorieprojektes (vgl. Hall 2000), wie es innerhalb der Cultural Studies formuliert und vertreten wird. Aufgrund der verschiedenen Sammelausgaben und Reader, wie sie auch bei uns erschienen sind, könnte leicht der Eindruck entstehen, die Cultural Studies seien ein einheitliches oder vereinheitlichtes Theorieprojekt, dennoch bleibt festzuhalten, dass sich ihre VertreterInnen einer solchen „Schließung“ dezidiert entgegenstellen (vgl. z.B. Engelmann 1999). Oder, wie Stuart Hall es ausdrückt: „Cultural Studies sind eine diskursive Formation im Foucaultschen Sinne. Sie haben keinen simplen Ursprung, obgleich einige von uns dabei waren, als sie sich das erste Mal diesen Namen gaben.“ (Hall 2000, S. 35)
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
So bleiben sie auch formal dem treu, was sie inhaltlich propagieren, und drängen innerhalb ihres Projektes nicht einzelne Diskurse zugunsten einer vorherrschenden Metatheorie an den Rand. Dennoch betont Hall (2000), dass die Cultural Studies nicht auf einfache Weise „offen für alles“ sind, wenn sie sich auch einer Schließung des „Feldes“ verweigern, was zu einem Spannungsverhältnis zwischen der Verweigerung der „Kontrolle“ der Diskurse auf der einen Seite und eindeutigen Positionierungen innerhalb dieses Feldes andererseits führt. Diese Positionierungen jedoch sind, so Hall, essentiell, um politische Handlungsfähigkeit trotz theoretischer Offenheit zu erhalten: „Ich glaube nicht, dass Wissen abgeschlossen ist, aber ich glaube, dass Politik unmöglich ist, ohne etwas, das ich ‚willkürlichen Abschluss‘ (arbitrary closure) genannt habe, ohne etwas, das Homi Bhabha ‚soziales Handeln als willkürlichen Abschluss‘ genannt hat. Das heißt, ich verstehe nicht, wie eine Praxis das Ziel haben kann, etwas in der Welt zu verändern, ohne einen spezifischen oder eigenständigen Standpunkt einzunehmen, der ihr wirklich etwas bedeutet und den sie deutlich machen will.“ (ebd. S. 36)
Was genau ist aber diese „Offenheit“ in der Theorie und welche theoretischen Bezüge liegen einer geradezu programmatischen Verweigerung von „Schließung“, die die VertreterInnen der Cultural Studies propagieren, zugrunde? Antworten auf diese Fragen lassen sich finden, wenn wir uns dem zentralen Gegenstand der Cultural Studies und seiner Konzeptionalisierung zuwenden: dem Kulturbegriff. 2.3.2 Was heißt Kultur in den Cultural Studies? Im Spannungsfeld zwischen Kulturalismus und Strukturalismus „Was die Cultural Studies betrifft, haben der Kulturalismus und der Strukturalismus die ‚Karten‘ des ‚Spiels‘ in der Hand.“ (Hall 1999a, S. 41)
Während wir zunächst die eher „äußere“ Geschichte der Cultural Studies betrachtet haben, ausgehend von Projekten der Erwachsenenbildung bis hin zu Prozessen der Institutionalisierung und Internationalisierung, wenden wir uns nun sozusagen den „inneren“, den ideengeschichtlichen Entwicklungen und Auseinandersetzungen zu. Ziel der Cultural Studies war und ist es, einen kritischen Kulturbegriff zu entwickeln und zu verwenden, der über elitäre, simplifizierende und vor allem auch essentialisierende Positionen hinausgeht. Dieses Vorhaben ist geprägt von
2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies
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einem Ringen zwischen verschiedenen theoretischen Haltungen und deren implizierten Schlussfolgerungen. Wenn auch unter Vernachlässigung einiger Seitenzweige in der theoretischen Auseinandersetzung der Cultural Studies, lassen sich die verschiedenen Paradigmen, in deren Spannungsfeld sich die Entwicklung dieses kritischen Kulturbegriffes bewegt, als die des Kulturalismus und des Strukturalismus benennen (vgl. Hall 1999a). Das Paradigma des Kulturalismus und seine Bedeutung für die Cultural Studies In den 50er und 60er Jahren sind es im Besonderen drei Autoren, die den kulturtheoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der Cultural Studies ihren Anstoß geben und in den Fokus ihrer Werke die Arbeiterklasse und deren Standort innerhalb der Gesellschaft nehmen: das sind Richard Hoggart (The Uses of Literacy, 1957), Raymond Williams (Culture and Society, 1958, und The Long Revolution, 1961) und Edward P. Thompson (The Making of the English Working Class, 1963). Vor allem Williams sorgte mit seiner theoretischen Auseinandersetzung für die Möglichkeit neuer Ansätze und Theoreme, deren besondere Stärke darin lag, der konservativen britischen Kulturdebatte dieser Zeit eine neue Konzeption von Kultur entgegenzusetzen, die den – wie er selbst – zunehmend der Arbeiterklasse entstammenden jungen Kulturwissenschaftlern eine Auseinandersetzung mit für sie bedeutungsvollen Fragestellungen ermöglichte (vgl. Göttlich 1999 und During 1999). Revolutionär am Kulturbegriff Williams’ ist sein Verständnis von Kultur nicht als „Hochkultur“, nicht als „der Höhepunkt einer entwickelten Zivilisation […]“ (Hall 1999a, S. 17), sondern Kultur ist für ihn „etwas ‚Gewöhnliches‘“ (ebd.). Dieses Verständnis von Kultur als „common culture“ (Göttlich 1999, S. 55) führt zu einem Demokratisierungsprozess, indem es „,Kultur‘ mit der Summe der verfügbaren Beschreibungen, mittels deren Gesellschaften ihre gemeinsamen Erfahrungen sinnhaft erfahren und ausdrücken“ (Hall 1999a, S. 17) in Verbindung bringt, wodurch das Konzept von „Kultur“ selbst Gegenstand gesellschaftlicher Reflexionsprozesse werden kann. Entgegen des bürgerlichen Selbstverständnisses verstand Williams unter der „gemeinsamen“ Kultur nicht die Normen und Werte, die die Minderheit der „Elite“ vertrat und für alle gesellschaftlichen Schichten als allgemeingültig erklärte, vielmehr hatte er den Anspruch, einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess in Gang zu setzen, der sowohl Majoritäten als auch im Besonderen Minoritäten ermöglicht, Einstellungen und Werte zu artikulieren (vgl. Göttlich 1999). Neben seiner Konzeptionalisierung der „common culture“ betont Williams einen zweiten Aspekt innerhalb seiner Arbeiten zum Kulturbegriff und stellt
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
gesellschaftliche Praktiken in den Mittelpunkt, die – etwas verkürzt – im Diktum der Kultur als „a whole way of life“ (Göttlich & Winter 1999, S. 27) gefasst werden. „In diesem Kontext ist die ‚Kulturtheorie‘ definiert als das ‚Studium der Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise‘. ‚Kultur‘ ist nicht eine Praktik und auch keine einfach zu beschreibende Summe von ‚Sitten und Volksweisen‘ einer Gesellschaft – so wie es den Anschein hat. Sie schlängelt sich durch alle sozialen Praktiken und ist die Summe ihrer Beziehungen untereinander.“ (Hall 1999a, S. 18, Hervorhebung i.O.)
Besonders ausführlich und grundlegend setzt sich Williams, aber auch Thompson, mit bestimmten Formen marxistischer Kulturtheorie auseinander. Sie beziehen Opposition zur Auffassung, „Kultur“ als „ideelle Kraft“ sei ein reines „Überbau“-Phänomen und werde somit von der „Basis“, die als die ökonomischen Bedingungen theoretisiert wird, völlig determiniert (vgl. Göttlich 1999 und Hall 1999a). Sie definieren „,Kultur‘ sowohl als die Bedeutungen und Werte, welche innerhalb spezifischer sozialer Gruppen und Klassen auf der Basis ihrer gegebenen historischen Bedingungen sowie Beziehungen entstehen und mittels deren sie ihre Existenzbedingungen ‚handhaben‘ und mit ihnen umgehen, als auch als die gelebten Traditionen und Praktiken, durch welche solche ‚Deutungen‘ ausgedrückt und verkörpert werden“ (Hall 1999a, S. 24f). Diese Auffassung von Kultur stellt in ihrer Bedeutung kulturelle Praktiken und Kulturprodukte den ökonomischen Faktoren als konstituierende materielle Voraussetzungen für gesellschaftliche Reproduktionsprozesse gleich (vgl. Göttlich 1999). Was unterscheidet nun aber die Positionen von Thompson und Williams von denen der Strukturalisten, wo tragen sie mit ihrer Schwerpunktsetzung zum Verständnis von Kultur und Gesellschaft bei, und welche Notwendigkeit sieht Hall für ein „Spannungsfeld“ zwischen Kulturalismus und Strukturalismus? Was den Kulturalismus in seinem Kern ausmacht, ist seine Besonderheit und sein „Vorteil“, zugleich aber auch seine „Gefahr“. Der Schlüssel hierzu liegt in der, wie Hall (1999a) anmahnt, reduzierenden Konzeptualisierung von kulturellen Praktiken als Praxis; d.h. unter „kulturellen Praktiken“ verstehen sie das, was sichtbar gelebt wird und somit erfahrbar ist. Williams und Thompson versuchen, „gemeinsame und ‚homologe‘ Formen zu finden, die den allem Anschein nach differenziertesten Bereichen zugrunde liegen […]“ (Hall 1999a, S. 26), was sie in ihrer Tendenz zu Essentialisierungen führt. Sie legen einerseits den Fokus auf den konkreten historischen Fall und heben die Einzigartigkeit verschiedener kultureller Praktiken hervor, andererseits bewegen sie sich weg
2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies
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von konservativer kulturtheoretischer Analyse, und der Bezugspunkt ihrer Betrachtungsweise ist die Erfahrung. Dazu führt Hall (ebd.) aus: „Da sie sich ständig von der traditionelleren Analyse weg auf die Ebene der Erfahrung begeben oder die anderen Strukturen und Beziehungen davon ausgehend, wie sie ‚gelebt‘ werden, interpretieren, werden sie in ihrer Akzentsetzung mit Recht (wenn auch nicht im vollen Sinne) als ‚Kulturalisten‘ bezeichnet, auch wenn alle Einsprüche und Vorbehalte gegen zu schnelle‚ dichotome theoretische Einteilung‘ berücksichtigt worden sind.“
Noch einmal pointiert und vielleicht etwas verkürzend zusammengefasst, war der Verdienst der kulturalistischen Beiträge von Thompson und Williams zunächst, eine emanzipatorische Gegenbewegung gegen die konservative Kulturdebatte ihrer Zeit zu initiieren und individuelle Erfahrung in einer konkreten historischen Situation als Ebene der Referenz einzuführen. Dabei wirkt ihr Versuch, innerhalb der kulturellen Praktiken „Allgemeines“ aufzuspüren, ohne zugleich äußere gesellschaftliche Strukturen in den Blick zu nehmen, in der Tendenz essentialisierend. Hinsichtlich der theoretischen Schwachpunkte des Kulturalismus werden an dieser Stelle (post-)strukturalistische Konzeptionen notwendig, um den Fokus in der Betrachtung von Kultur zu verschieben. Der Strukturalismus als Gegenpol zum Kulturalismus Im Gegensatz zum Kulturalismus betonen strukturalistische und poststrukturalistische Theorien, wie der Name schon nahe legt, die Strukturen, in die Menschen eingebunden sind und aus denen heraus sie handeln (vgl. Hall 1999a). Noch genauer gesagt, befasst sich der Strukturalismus, um den es zunächst gehen wird, „mit der Untersuchung der allgemeinen Gesetze, denen sie [i.e. die Strukturen, Anm. K.H.] folgen“ (Eagleton 1992, S. 71). Als Ursprung des Strukturalismus wird die Linguistik bezeichnet (vgl. Deleuze 1992). Es fand zwar bereits vor der Blütezeit strukturalistischer Denker, z.B. bei Wittgenstein, innerhalb der Philosophie eine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache statt, der linguistic turn erfährt innerhalb strukturalistischer Theorien jedoch eine neue Qualität (Helferich 1985). Die Bedeutung der Sprache wird grundlegend radikalisiert: „In Wirklichkeit gibt es keine Struktur außerhalb dessen, was Sprache ist, und sei es auch eine esoterische oder sogar eine nicht verbale Sprache.“ (Deleuze 1992, S. 8)
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Wenden wir uns nun genauer den strukturalistische Theorien und ihrer Entwicklung zu, deren Verständnis für die Konzeptualisierung von Kultur innerhalb der Cultural Studies als „Gegenpol“ zum Kulturalismus von Bedeutung ist. Die strukturalistische Linguistik geht zurück auf den Schweizer Ferdinand de Saussure, dessen Cours de linguistique générale (1916) den Grundstein für die moderne Sprachwissenschaft legte. Anders als in der Linguistik bis zu diesem Zeitpunkt üblich, ist de Saussures Blick auf sprachliche Phänomene kein „historisch“ orientierter (diachroner). Weniger interessieren ihn Etymologie und ähnliche Felder, vielmehr möchte er Sprache synchron, also als Gesamtsystem betrachten, dessen spezifischer Aufbau und Regeln zu einem gegebenen Zeitpunkt von Interesse sind (vgl. Suchsland 1992). In diesem Zusammenhang unterscheidet de Saussure die Begriffe der langue und der parole. Während er unter parole eine individuelle sprachliche Äußerung versteht, bedingt die langue als überpersönliches System die Regeln und Strukturen, die die parole erst ermöglichen (vgl. Eagleton 1992). Aufgabe der Sprachwissenschaft sei es, so de Saussure, die unbewusst auf die parole angewandten Strukturen der langue aus der konkreten Rede abzuleiten. Im Denken de Saussures ist das „sprachliche Zeichen […] kein Etikett, das einem Gegenstand oder Vorstellung gleichsam aufgeklebt würde“ (Suchsland 1992, S. 20), sondern kann in zwei Bestandteile aufgeteilt werden, in die Vorstellung (signifié/Signifikat/Bezeichnetes) und in das Lautbild (significant/Signifikant/Bezeichnendes), wobei das Zeichen insgesamt auf einen Gegenstand verweist, den Referenten. Revolutionär ist dabei die Annahme, dass es zwischen Signifikant und Signifikat in Bezug auf deren Verknüpfung keine „natürliche“ Beziehung gebe, sie sei viel mehr durch soziale Konventionen festgelegt (vgl. Suchsland 1992). Was einem Zeichen seine Bedeutung innerhalb eines Systems verleiht, sei seine Differenz von anderen Zeichen: „,Alles […] läuft darauf hinaus, […] dass es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt‘“ (de Saussure zit. nach Eagleton 1992, S. 75). Sprache ist in diesem Verständnis ein Netz von Verweisungszusammenhängen. Die Bedeutung produzierenden Beziehungen zwischen Zeichen können dabei, so de Saussure, syntagmatisch oder assoziativ sein, wobei mit syntagmatisch eine lineare Verknüpfung von grammatikalischen und lautlichen Merkmalen gemeint ist (z.B. in einem Satz), während eine assoziative Verbindung zwischen Zeichen besteht „,die irgendetwas unter sich gemein haben, im Gedächtnis‘“ (de Saussure zit. nach Suchsland 1992, S. 21). Der Linguist Roman Jakobson überträgt das Konzept der syntagmatischen und der assoziativen Verbindung zwischen Zeichen auf die sprachlichen Figuren der Metapher und der Metonymie und führt es weiter aus. Während in einer Metapher ein Zeichen durch ein anderes, in irgendeiner Form ähnliches ersetzt wird (z.B. „Auto“ wird zu „Karren“), bezeichnet die Metonymie die assoziative
2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies
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Verbindung von Zeichen (z.B. „Reifen“ mit „Auto“) (vgl. Eagleton 1992). Die Konzepte der Metonymie und der Metapher werden an anderer Stelle bei der Betrachtung der Beziehung von Freuds „Traumdeutung“ mit struktureller Linguistik bedeutsam. Bereits in de Saussures Verständnis handelt es sich bei der Linguistik nur um einen Teilbereich eines umfassenderen wissenschaftlichen Gebietes – der Wissenschaft von den Zeichensystemen (Semiologie). Diesen Gedanken fasst der Ethnologe Claude Lévi-Strauss auf, dessen theoretischer Zugewinn darin liegt, die Phonologie – eine Methode aus der Semiologie – auf die Analyse komplexerer Zeichensysteme zu übertragen, nämlich auf die Untersuchung von Verwandtschaftsverhältnissen. Ähnlich de Saussures Vorstellung der Bedeutungsdefinition von Zeichen mittels deren Differenz und spezifischer Bezüge untereinander, „lehnt es [die Phonologie] ab, die Ausdrücke als unabhängige Entitäten zu behandeln, und macht vielmehr die Beziehungen zwischen den Ausdrücken zur Grundlage ihrer Analyse“ (Lévi-Strauss zit. nach Suchsland 1992, S. 28, Hervorhebung i.O.). So geht die Phonologie von den bewussten Erscheinungen der Sprache zu ihren unbewussten inneren Strukturen über. Verwandtschaft versteht Lévi-Strauss vor diesem Hintergrund als ein System, das sich aus gesellschaftlichen Regeln und Beziehungen konstituiert, deren fundamentalste Regel das Inzestverbot ist. Die Besonderheit daran ist, dass er diese Regeln nicht als „instinktiv“ verankert ansieht, sondern das Inzestverbot als gesellschaftlich konstruiert betrachtet. Allgemeiner ausgedrückt ist es der Verdienst Lévi-Strauss’, alle Formen gesellschaftlicher Beziehungen als Kommunikation zu verstehen und diese Beziehungen nicht als „natürlich“, sondern als konstruiert und symbolisch zu verstehen (vgl. Suchsland 1992). An den Gedanken der Gesellschaft als Symbolsystem knüpft auch der Literaturwissenschaftler Roland Barthes an, der u.a. in einem seiner bekanntesten Bücher Mythen des Alltags (1957) mittels der Untersuchung alltagskultureller Phänomene den Blick auf das nur scheinbar „natürliche“ und im eigentlichen Sinne konstruierte Symbolnetz lenkt, in dem wir uns ständig bewegen (vgl. Helferich 1985). Strukturalistische Gedanken beeinflussten auch das marxistische Denken in Frankreich, wie z.B. das von Louis Althusser und Etienne Balibar. Das linguistische Paradigma diente dabei als Hintergrund, das Marxsche Theoriengebäude neu zu überdenken und zu verstehen. „In Das Kapital lesen (Althusser und Balibar 1972) zum Beispiel wird die Auffassung vertreten, dass die Produktionsweise – um etwas herauszugreifen – am besten verstanden werden könne, wenn sie betrachtet werde, als ob sie ‚wie eine Sprache strukturiert sei‘ […]“ (Hall 1999a, S. 27).
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Besonders – wenn auch nicht allein – durch die Auseinandersetzung mit Barthes und Althusser wird innerhalb des Strukturalismus etwas Bedeutsames möglich, was innerhalb des Kulturalismus lediglich ein Randthema ist: die Diskussion des Begriffs ‚Ideologie‘ (vgl. Hall 1999a). Wie ausgeführt, besteht gemäß strukturalistischer Theorien zwischen Signifikat und Signifikant keine „natürliche“ Beziehung, die Bedeutungen der Zeichen bestimmen sich lediglich aus ihrer Differenz, was einen nicht enden wollenden Vorgang der Differenzbildung nach sich zieht. Ideologie greift – vereinfachend gesagt – an der Stelle ein, an der Bedeutungsproduktion mittels Machtstrukturen willkürlich beendet wird. „Ideologie ist also der Versuch, den unaufhörlichen Prozeß der ‚différance‘ 1 zeitweilig zu stoppen, indem im Spiel der Differenzen ein Zentrum errichtet wird“ (Winter 1999, S. 53). Oder, wie Hall (zit. nach Winter 1999, S. 53) es ausdrückt: „I use ideology as that which cuts into the infinite semiosis of language. Language is pure textuality, but ideology wants to make a particular meaning. […] I think it’s the point where power cuts into discourse, where power overcuts knowledge and discourse.“
Althusser vermittelt zudem die tiefe Verankerung von Ideologie in Form unbewusster Repräsentationen, wobei er „Ideologie“ „definiert als die Themen, Begriffe und Repräsentationen, mittels deren Männer und Frauen in einem imaginären Verhältnis zu den realen Existenzbedingungen stehen, unter denen sie ‚leben‘. […] ‚Ideologien‘ werden hier nicht als die Inhalte und Oberflächengestalt von Ideen konzeptualisiert, sondern als die unbewussten Kategorien, mittels deren die Existenzbedingungen repräsentiert und gelebt werden“ (Hall 1999a, S. 29). Nun kann man sich anschließend fragen, welchen Nutzen die Beschäftigung mit dem Begriff der Ideologie für die Cultural Studies mit sich bringt. Der Ideologiebegriff ermöglicht es, die Konzepte von Kultur, Bedeutung und Macht in einen Zusammenhang zu bringen. Durch die Einführung desselben in der dargestellten Form kann somit in der Analyse verschiedenster kultureller Praktiken der Fokus darauf gelegt werden, an welchen Stellen versucht wird, dominante, machtvolle oder zumindest bevorzugte Bedeutungen auf Kosten marginalisierter Positionen durchzusetzen (vgl. auch Hall 1999b). Welche denkerischen Fortschritte lassen sich nun – neben der oben erläuterten starken Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff – in der Essenz aus den dargestellten strukturalistischen Theorien für das Vorhaben, einen kritischen
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Der Begriff der „différance“ wurde von Derrida geprägt (Ausführungen dazu z.B. in ders. 1990).
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Kulturbegriff zu entwickeln, gewinnen? Hall, der diese Formen von Theoriebildung als Semiotik 1 bezeichnet, benennt sie wie folgt: „Crudely, the argument is that semiotics 1 was correct in its attempts to identify signification as a practice for the production of meaning, as against earlier theories which assumed that ,reality‘ was somehow transparently reflected in language. It also advanced the field considerably by dethroning the position of the integral Cartesian subject – the authorial ,I‘, assumed to be both the source and the guarantor of the ,truth‘ of any enunciative statement – in favour of an analysis pitched at the level of the relations between elements and the rule governing their combination in signifying systems themselves (Saussure’s Language).“ (Hall 1980, S. 157f, Hervorhebungen i.O.)
Wenn die Semiotik 1 auch den Vorteil bietet, Sprache und Wirklichkeit als etwas Konstruiertes zu begreifen, lässt sie dennoch eine Frage offen: Was tritt an die Stelle der traditionellen Vorstellung des autonomen, vernünftigen, „entthronten“ cartesianischen Subjektes? Diese „subjektleere Lücke“ versucht die von Hall so genannte Semiotik 2 mit dem Bezug auf die Werke Jacques Lacans, der sich wiederum auf die seiner Ansicht nach „richtige Lesart“ von Freud bezieht, zu schließen (vgl. Hall 1980). Sich mit Lacan und seiner Rezeption Freuds fundiert zu beschäftigen wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit. Somit sei auf die Theorien Lacans bzw. Freuds an dieser Stelle nur so weit eingegangen, wie es zur Ausarbeitung eines Verständnisses der Semiotik 2 sinnvoll ist, wohl wissend, dass diese Theorien in der folgenden Darstellung Vereinfachungen unterliegen. An diesem Punkt der Arbeit geht es zudem ausdrücklich nicht um eine klinische Betrachtungsweise dieser psychoanalytischen Theorien, vielmehr sollen ihre erweiternden Beiträge zum Strukturalismus dargestellt werden. Auch in den Werken Lacans ist die Sprache das Zentrum der Betrachtung: „Ob sie sich als Instrument der Heilung, der Berufsausbildung oder der Tiefeninterpretation versteht, die Psychoanalyse hat nur ein Medium: das Sprechen des Patienten. Die Offensichtlichkeit dieser Tatsache entschuldigt nicht, dass man sie übergeht. Denn jedes Sprechen appelliert an eine Antwort.“ (Lacan 1953, S. 136f, Hervorhebung i.O.)
Dabei sei es das Ziel der Psychoanalyse – so Lacan –, den Menschen seiner gesellschaftlichen Konstituiertheit gewahr werden zu lassen (vgl. Suchsland 1992). Neu an seinen Gedanken ist dabei, dass Menschen ihre Subjektivität per se den gesellschaftlichen Strukturen verdanken, wobei nach Lacan die Gesellschaft in Form eines „Außens“ und die Subjektivität als ein „Innen“ nicht mehr gedacht werden können (vgl. Hall 1980 und Suchsland 1992). Wie lässt sich das
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Gesagte nun verstehen? Lacan widmete sich einer radikalisierten Lesart Freudscher Werke, wobei er Freud in einer bis dahin nicht da gewesenen Weise auffasste. „Lacan ‚entstellt‘ Freud, er entreißt die Psychoanalyse der Psychologie und macht aus ihr explizit die Wissenschaft von den Wirkungen der Signifikanten, als die sie seiner Meinung nach von Freud begründet wurde“ (Suchsland 1992, S 35).
Freud selbst konzipiert die Sprache zwar auch als eine Instanz, die das Psychische strukturiert, entsprechende theoretische Ausführung leistete er jedoch nicht, zumal ihm der Rückgriff auf strukturalistische Theoretiker wie de Saussure noch nicht möglich war (vgl. Widmer 2001). Zu einem zentralen Ansatzpunkt der Verbindung von struktureller Linguistik und Freudschen Werken macht Lacan die Ausführungen Freuds in „Die Traumdeutung“ (1900). Freud unterscheidet in seinen Werken den „manifesten“ und den „latenten“ Trauminhalt, was ein grundlegendes Axiom Freudscher Traumtheorie darstellt. Wenn auch die Dichotomisierung in manifesten und latenten Trauminhalt in dieser Form weder von Freud selbst durchgehend als solche theoretisiert wurde, noch die scharfe Trennung aus heutiger Sicht haltbar ist (vgl. Mertens 2000), so ermöglicht sie doch erweiternde Denkoptionen. Doch zunächst zur Definition der Begriffe „manifest“ und „latent“ bei Freud selbst: „Was wir also als Traum erinnern, das heiße ich den ‚manifesten Trauminhalt‘. Derselbe ist häufig völlig absurd und verworren, andere Male nur das eine oder das andere; aber auch wenn er ganz kohärent ist wie in manchen Angstträumen, steht er unserem Seelenleben als etwas Fremdes gegenüber, von dessen Herkunft man sich keine Rechenschaft zu geben vermag. Die Aufklärung für diese Charaktere des Traumes wurden bisher in ihm selbst gesucht, indem man dieselben als Anzeichen einer unordentlichen, dissoziierten und sozusagen „verschlafenen“ Tätigkeit der nervösen Elemente ansah. Dagegen habe ich gezeigt, daß der so sonderbare „manifeste“ Trauminhalt regelmäßig verständlich gemacht werden kann als die verstümmelte und abgeänderte Umschrift gewisser korrekter psychischer Bildungen, die den Namen ‚latenter Traumgedanke‘ verdienen.“ (Freud 1905a, S.150, Hervorhebungen i.O.)
Der latente Trauminhalt bestimmt sich nun aus abgewehrten Wünschen, Triebimpulsen und Konflikten, die durch verschiedene Abwehrprozesse „unkenntlich“ gemacht werden (vgl. Mertens 2000). Um aus dem manifesten Trauminhalt den latenten erarbeiten zu können, ist es notwendig, sich mit der Traumarbeit zu befassen:
2.3 Erschütterungen Teil II: Die Cultural Studies
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„Aus der Vergleichung des erinnerten manifesten Trauminhalts mit dem so gefundenen latenten Traumgedanken ergibt sich der Begriff der ‚Traumarbeit‘. Als Traumarbeit wird die ganze Summe der umwandelnden Vorgänge zu bezeichnen sein, welche die latenten Traumgedanken in den manifesten Traum überführt haben.“ (Freud 1905a, S. 150)
Als besonders bedeutsame Prozesse der Traumarbeit hebt Lacan die Verdichtung und die Verschiebung hervor. Die Verdichtung ist „[e]iner der wesentlichen Mechanismen, nach dem unbewusste Vorgänge funktionieren: Eine einzige Vorstellung vertritt für sich allein mehrere Assoziationsketten, an deren Kreuzungspunkten sie sich befindet“ (Laplanche & Pontalis 1992, S. 581). Als Verschiebung hingegen bezeichnet man die „Tatsache, daß der Akzent, die Bedeutung, die Intensität einer Vorstellung sich von dieser lösen und auf andere, ursprünglich wenig intensive Vorstellungen übergehen können, die mit der ersten durch eine Assoziationskette verbunden sind“ (ebd., S. 603). An dieser Stelle wird deutlich, wo Lacan die Verbindungen zwischen Freudscher Psychoanalyse und strukturalistischer Linguistik zieht: „Diese ständige Verdichtung und Verschiebung der Bedeutung entspricht dem, was Roman Jakobson als die beiden Primäroperationen der menschlichen Sprache erkannt hat: der Metapher (der Verdichtung von Bedeutung) und der Metonymie (der Verschiebung). Dies war es, was den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan zu der Aussage brachte, das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert“ (Eagleton 1992, S. 145).
Die Übersetzung des manifesten Traumgedankens in das Symbolsystem des latenten Traumgedankens sei – so Lacan – analog der Rekonstruktion der langue aus der parole bei de Saussure. Die Sprache als das Symbolsystem müsse als überindividuell und zutiefst sozial verstanden werden, es mache den Menschen erst zum Menschen, indem er sich dessen Funktionsweise und Struktur aneigne. Durch den Eintritt in diese symbolische Ordnung werde der Mensch erst zum „Sub-jekt“, also zum Unterworfenen. Dabei sei das System der Sprache, wie z.B. schon bei de Saussure, ein Netz von Differenzen, was zur Folge habe, dass Sinn und Bedeutung nicht eindeutig seien, da im Bereich der Signifikate die Signifikanten die differenzierenden Grenzen ziehen, es jedoch keine eindeutige und dauerhafte Zuordnung von Signifikant und Signifikat gebe. Aus diesem Grunde sei Sprechen immer Entstellen, wobei es auch nichts „Unentstelltes“ als Grundlage gebe. (vgl. Suchsland 1992). So weit zu den Ausführungen Lacans mit Bezug auf Freudsche Psychoanalyse. Abschließend sei der Verdienst strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien in der Entwicklung eines kritischen Kulturbegriffes, wie er in den Cultural Studies gefordert wird, zusammengefasst. Wie bereits erwähnt, ist
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
der Strukturalismus – anders als der Kulturalismus – in der Lage, zum einen den Menschen als in Strukturen eingebunden zu sehen, aus denen heraus sein Handeln bestimmt wird. Somit kann er den Blick auf das Ganze legen, ohne die Unterschiede der einzelnen kulturellen Praktiken zu vernachlässigen. Vor dem Hintergrund strukturalistischer Theorien ist es zum einen möglich, Sprache als die bedeutsame Struktur und als konstruiert zu erkennen, was wiederum eine Auseinandersetzung mit Ideologie ermöglicht. Zum anderen wird durch die Betonung der handlungsbestimmenden Strukturen eine Erschütterung der cartesianischen Subjektvorstellung vollzogen. Die „subjektleere“ Lücke strukturalistischer Theorien kann durch Lacans Lesart von Freud geschlossen werden, der das Moment der Signifikation und der symbolischen Repräsentation nicht außerhalb des Subjektes in den sozialen und kulturellen Strukturen verortet, sondern das Individuum wird erst durch die Aneignung des überindividuellen Symbolsystems zum eigentlichen Sub-jekt. So kann ein dezentrierter, materialistischer und semiotischer Subjektbegriff eingeführt werden (vgl. Hall 1980 & 1999a). Zum Abschluss dieser Ausführungen noch einmal zurück zur Bedeutung des Strukturalismus und des Kulturalismus als die bestimmenden Paradigmen innerhalb der Cultural Studies, die den übergeordneten Aspekt dieses Kapitels darstellte. Kulturalistische und strukturalistische Theorien sind in der Lage, sich an ihren jeweiligen theoretischen Schwachstellen zu ergänzen. Hall (1999a) warnt davor, sich einseitig auf ein Paradigma zu stützen: „Obwohl weder der Strukturalismus noch der Kulturalismus als eigenständige Forschungsparadigmen von sich aus einen zentralen Platz in ihrem Untersuchungsfeld beanspruchen, nehmen sie diesen ein, weil all den anderen Mitstreitern fehlt, was sich zwischen ihnen (in ihren Divergenzen ebenso wie in ihren Konvergenzen) entfaltet, nämlich das Kernproblem der Cultural Studies. Sie führen uns immer wieder auf das Terrain zurück, das durch jene eng verbundenen, aber sich nicht gegenseitig ausschließenden Begriffe Kultur/Ideologie abgesteckt wird. Sie stellen sich zusammen konsequent Problemen, indem sie versuchen, sowohl die Besonderheit spezifischer Praktiken als auch die Formen artikulierter Einheit, die sie konstruieren, zu denken. […] Sie halten am Versprechen einer genuin materialistischen Theorie der Kultur fest. In ihren anhaltenden und sich gegenseitig verstärkenden Antagonismen versprechen sie keine einfache Synthese. Aber sie stecken das Terrain und die Grenzen ab, innerhalb deren eine Synthese vollbracht werden könnte.“ (ebd., S. 40f, Hervorhebungen i.O.)
Nach einer Einführung in Geschichte und Inhalte der Cultural Studies und einer Darstellung der Theoretisierung von „Kultur“ innerhalb derselben wird deutlich, dass ein essentialisiertes Kulturverständnis im Rahmen der Cultural Studies grundlegend erschüttert wird. Im nächsten Kapitel möchte ich zu einem Konzept
2.4 Erschütterungen Teil III: Kulturelle Identität als Konstruktion
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übergehen, das sich in direkter Weise auf den jeweiligen Begriff von Kultur bezieht und das im Feld der Interkulturalität heiß umkämpft ist: die Frage nach der kulturellen Identität. 2.4 Erschütterungen Teil III: Kulturelle Identität als Konstruktion „,Grenzziehungen‘ sind nicht ‚gottgegeben‘, sondern konstruiert […]“ (Hall 1997, S. 222)
Wenn wir von „Interkulturalität“ sprechen, verbinden wir gleichzeitig damit bestimmte Vorstellungen von dem, was „wir“ und was „die Anderen“ sind (die Sinti und Roma, die AlbanerInnen, die Deutschen etc.). Wir sprechen davon, dass wir z.B. als „deutsche“ TherapeutIn mit einer „türkischen“ PatientIn arbeiten oder dass sich – beispielsweise innerhalb der Debatte um die sogenannte „Leitkultur“ – „AusländerInnen“ an „unsere“ Kultur anpassen müssen. Wir sprechen von „Ossis“ und „Wessis“, wir definieren uns auf die Frage hin, wer – oder besser gesagt – was wir sind, als „halb griechisch, halb italienisch“ oder als „JamaicanerIn“. Wir treffen Aussagen wie: „Die AmerikanerInnen sind so und so“ oder „die EngländerInnen denken da anders als wir“. Die jeweilige Kultur oder nationale Zugehörigkeit wird in solchen Aussagen dargestellt als eine unverrückbare, quasi „natürliche“ Einheit, die tiefgreifende Aussagen über die Eigenschaften von Menschen, mit denen wir es zu tun haben, trifft und die scheinbar erklärt, warum Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten fast zwangsläufig in Konflikt kommen müssen, wenn sie miteinander zu tun haben. Die Essentialisierung von Kultur stellt in vielen Argumentationslinien die Grundlage für die Rechtfertigung von Ausgrenzung, Diskriminierung und die Legitimation von struktureller oder direkter Gewalt dar.2 Die im interkulturellen Kontext häufig gestellte Frage: „Woher kommst du?“ oder „Was bist du?“ ist dabei die Aufforderung, unsere kulturelle Identität zu definieren, die im Blickpunkt dieses Kapitels steht. Aber ist die oben beispielhaft ausgeführte Darstellung von kultureller Identität als etwas Homogenes und Naturhaftes überhaupt haltbar? Um mich dieser Frage zu nähern, behandele ich – im Besonderen in Anlehnung an Stuart Hall – im Laufe dieses Kapitels zunächst das Konzept von Identität als solcher in (post)modernen Zeiten und wende mich dann den Begriffen der kulturellen bzw. der nationalen Identität und abschließend den „identity politics“ zu. 2
Näheres dazu in Kapitel 2.2.
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Post-moderne Identitäten Der Wandel des Identitätsverständnisses auf dem Weg von der Moderne hin zur Postmoderne ist ein sehr umfassend theoretisiertes und beforschtes Feld (vgl. z.B. Keupp & Höfer 1997/ Keupp at al. 1999). An dieser Stelle möchte ich auf das Thema der (post)modernen Identitätsformationen jedoch nur so weit eingehen, als es im Weiteren für das Verständnis der Ausführungen über die kulturelle Identität von Nutzen ist. Die Vorstellung, eine Identität zu besitzen bzw. unverrückbar etwas oder jemand Eindeutiges (z.B. DeutscheR) zu sein, wie sie in der Einleitung formuliert wurde, entspricht eher dem Ideal des modernen als der Realität des postmodernen Menschen. Die Identitätskonstruktion der Moderne ist stark von einem Bild des „identische[n], zweckgerichtete[n], männliche[n] Charakter[s] des Menschen“ (Horkheimer & Adorno, zit. nach Keupp et al. 1999, S. 17) geprägt, der – gemäß Descartes’ Postulat cogito ergo sum – als „individuelle[s] Subjekt, gegründet auf seiner Fähigkeit zur Vernunft“ (Hall 1994, S. 189), in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Der moderne Mensch versteht sich als souverän, eindeutig und als „nicht weiter teilbare Entität“ (Williams zit. nach Hall, S. 188) – also als autonomes Individuum, das bzw. der (im Zentrum steht der Mann!) „eine reflexive Distanz zu naturhaften, triebgesteuerten Abläufen“ (Keupp et al. 1999, S. 18) einnehmen kann. Dieses „eindeutige“ Subjekt häuft in seinem Inneren gleichsam „Besitzstände“ (ders. S. 19) an, „die durch ein steuerndes und als zentralistisch gedachtes Ich zusammenzuhalten sind“ (ebd.). Mit Macpherson (zit. nach Keupp et al. 1999, S. 19) ließe sich folglich eben jenes Bild von (kultureller) Identität, die wir scheinbar so eindeutig und unverrückbar besitzen, als „possessiver Individualismus“ bezeichnen. Aber – sind moderne Identitätsvorstellungen in Zeiten des „entwickelten globalisierten Kapitalismus“ (ders. 1999, S. 17) überhaupt noch haltbar, und wenn nicht – wie lassen sich postmoderne Konzepte von Identität und die sie bedingenden gesellschaftlichen Kontexte beschreiben und verstehen? Stuart Hall (1994, S. 66) versteht „Identität als einen Schnittpunkt, an dem sich ein Ensemble neuer theoretischer Diskurse überschneidet und ein Ensemble neuer kultureller Praktiken entsteht“. Der (moderne) Gedanke, wir verfügten über ein „wahre[s] Ich“ als „Garant unserer Authentizität“ (ebd. S. 67), habe mit unserem tiefen „Wunsch nach Garantien“ (ebd.) zu tun. Und er führt weiter aus (ebd.): „Viele Bestandteile unseres Diskurses über das Innen und das Außen, das Ich und das Andere, das Individuum und die Gesellschaft, Subjekt und Objekt basieren auf dieser Logik von Identität. Sie hilft uns, nachts ruhiger zu schlafen. Ich würde sogar
2.4 Erschütterungen Teil III: Kulturelle Identität als Konstruktion
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sagen, dass eine der wichtigsten Funktionen von Begriffen darin besteht, uns eine ungestörte Nachtruhe zu verschaffen.“
Doch gerade aus dieser „ungestörten Nachtruhe“ scheinen wir aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen, die sich seit den späten 60er Jahren auf verschiedenen Ebenen ereignet haben und noch ereignen, aufwachen zu müssen. Die vermeintlich ewig geltenden Lebensmuster der Moderne werden durch Prozesse der Globalisierung auf politischer, wirtschaftlicher, ökologischer, aber auch kultureller Ebene weniger eindeutig, sie werden „gebrochen“ (vgl. Keupp et al. 1999) – oder, um im Bild zu bleiben, der postmoderne Mensch wird aus seinen traditionellen Bindungen und den vorgegebenen Identitätsentwürfen „entbettet“ (vgl. ders., in Anlehnung an Giddens). Mit der „modernen Logik der Identität ist es jetzt – ob zum Guten oder zum Schlechten – vorbei“, stellt Hall (1994, S. 67) fest und führt verschiedene Gründe bzw. Diskurse an, die die Vorstellung von der eindeutigen, männlichen, autonomen und rationalen Identitätsformation grundlegend erschüttern: Eine neue Lesart Marxscher Theorie stellt das Prinzip der Autonomie des modernen Menschen in Frage, da Marx zwar einräumt, „dass Menschen die Geschichte machen […] aber unter Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben“ (Hall 1994, S. 67f). Mit Freuds Konzeptionalisierung des Unbewussten als starker motivationaler Kraft wird das Bild des Subjektes erschüttert, das nur rational steuernd und bewusst all seine Entscheidungen trifft: „[F]ür Freud [war] Subjektivität ein Produkt unbewusster psychischer Prozesse“ (ebd., S. 195).
Auch aufgrund des Verständnisses der Linguistik nach de Saussure kann nicht mehr vom Individuum gesprochen werden, das seine Identität nur aus sich selbst schöpft. De Saussure sagt sinngemäß: „Die Sprache gab es schon vor dir. Du kannst nur dadurch etwas sagen, dass du dich selbst in einem Diskurs positionierst. Die Erzählung erzählt den Erzähler, der Mythos den Mythendichter usw. Das Sprechen geht immer von einem Subjekt aus, das durch einen und in einem Diskurs positioniert ist“ (ebd., S. 68).
Als vierte große „Erschütterung“ definiert Hall die Konsequenzen, die sich aus Foucaults Werken ergeben. Im Zentrum steht dabei die Herausbildung der „Disziplinarmacht“ innerhalb postmoderner administrativer Strukturen, die ein Paradox erzeugen:
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
„[…] je kollektiver und organisierter die Institutionen der Spätmoderne sind, desto größer [ist] die Isolation, Überwachung und Individualisierung des individuellen Subjekts“ (ebd., S. 198).
Der Feminismus als soziale Bewegung erschütterte das moderne Menschenbild insofern, als er das Prinzip „Männlichkeit“ in Frage stellt und die „Vorstellung von Frau und Mann als Teile derselben ‚Menschheit‘ […] durch die Frage nach der Geschlechterdifferenz [ersetzt]“ (ebd., S. 199). Weiterhin dekonstruiert er radikal die Vorstellung von „Innen“ und „Außen“ als getrennte Entitäten, nicht zuletzt durch die These, dass das Private politisch sei. Hall (ebd., S. 181/184f) spricht zudem mit Bezug auf Laclau von der Zerstreuung, der „dislocation“ des Subjektes in postmodernen Zeiten, wobei Laclau darauf abhebt, dass postmoderne Gesellschaften nicht mehr durch ein einziges, alles dominierendes Prinzip strukturiert würden, sondern sich „eine Vielfalt von Machtzentren“ herausbildeten, was eine Vielzahl von unterschiedlichen Subjektpositionen ermögliche. „Spätmoderne Gesellschaften seien durch ‚Differenzen‘ charakterisiert; sie seien durch verschiedene gesellschaftliche Spaltungen und Antagonismen durchschnitten […]“ (ebd., S. 185), also nicht mehr durch widerspruchsfreie „Metaerzählungen“ (Keupp 1997a, S. 24) über das, was wir sind und in welche Strukturen wir eingebunden sind, bestimmt. Postmoderne Identitäten haben aufgrund der Freisetzung der Subjekte aus traditionellen Vorgaben also „Arbeitscharakter“ (vgl. z.B. Keupp 1997b), sie sind nichts, was wir „natürlich“ besitzen, sondern sie bilden sich – und diesem Punkt möchte ich im Abschnitt über die Frage der kulturellen Identität genauer nachgehen – durch Differenzsetzungen, durch In- und Exklusion (vgl. Hall 1996b). Kulturelle und nationale Identitäten – Verhandlungssache? Nachdem wir im vorangegangenen Abschnitt sehen konnten, dass die Idee einer homogenen, widerspruchsfreien und essentialisierten Identität des Individuums in der Postmoderne nicht mehr haltbar ist, untersuche ich im Folgenden, wie es sich diesbezüglich mit der kulturellen Identität verhält. Stuart Hall beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Die Frage der kulturellen Identität“ (in Hall 1994) mit einer „Unterform“ der kulturellen Identität, nämlich der nationalen Identität. Anhand seiner Ausführungen zur nationalen Identität lässt sich – um es vorweg zu nehmen – beispielhaft erkennen, was parallel auch für die kulturelle Identität als solche gilt: ihre Konstruiertheit.
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Für Hall zählen „nationale Kulturen, in die wir hineingeboren sind, zu den Hauptquellen kultureller Identität“ (Hall 1994, S. 199). Dabei sprechen wir – wie eingangs beispielhaft ausgeführt – von unseren nationalen Identitäten als etwas gleichsam „Natürlichem“ (z.B. „Ich bin Deutsche“). Wir werden sehen, dass eigentlich die Aussage korrekter wäre: „Ich werde Deutsche“, da wir zwar in Nationen hineingeboren werden, aber nicht mit fertigen nationalen Identitäten auf die Welt kommen. Welche Prozesse liegen nun diesem „Deutsch-Werden“ zugrunde? Woher nehmen wir das Wissen von dem, was „typisch deutsch“ ist und was nicht, das vermeintliche Wissen darüber, was „wir“ sind und was die „anderen“? Zu diesen „nationalen Fragen“ führt Hall (1994, S. 200) aus: „Eine Nation ist also nicht nur ein politisches Gebilde, sondern auch etwas, was Bedeutungen produziert – ein System kultureller Repräsentationen. Menschen sind nicht nur rechtmäßige Bürger einer Nation, sie partizipieren auch an der Idee einer Nation, wie sie in der nationalen Kultur repräsentiert wird.“ (Hervorhebungen i.O.)
Bei einer Nation, so Hall, handele es sich um eine „symbolische Gemeinschaft“ (ebd.), mit der man sich identifizieren und der man sich unterordnen – oder, wenn man es positiver formulieren möchte – in die man sich einordnen könne, was deren identitätsstiftende Macht erkläre. Dabei seien nationale Kulturen „eine eindeutig moderne Form. Die Untertanentreue und Identifikation, die in vormodernen Zeiten oder in traditionellen Gesellschaften dem Stamm, dem Volk, der Region oder der Religion galt, wurde in westlichen Gesellschaften allmählich auf die nationale Kultur übertragen. Regionale und ethnische Differenzen wurden allmählich dem subsumiert, was Gellner das ‚politische Dach‘ des Nationalstaates nennt, durch die er eine machtvolle Bedeutungsquelle für moderne kulturelle Identitäten wurde“ (ebd.). „Nation“ und folglich auch „nationale Kulturen“ sind also etwas geschichtlich Gewordenes, etwas Konstruiertes bzw. diskursiv Hergestelltes: „Eine nationale Kultur ist ein Diskurs – eine Weise, Bedeutungen zu konstruieren, die sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassungen von uns selbst beeinflusst und organisiert.“ (ebd. S. 201)
Wie kann man sich die diskursive Herstellung dieser Bedeutungen und Repräsentationen der Nation bzw. der nationalen Identität vorstellen? Hall bezieht sich in seinen Ausführungen auf fünf wesentliche diskursive Strategien, die uns glauben lassen, Mitglied einer schon immer da gewesenen, mit eindeutigen, homogenen kulturellen Merkmalen ausgestatteten und von anderen nationalen Gemeinschaften wesenhaft verschiedenen Nation zu sein:
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Die „Erzählung der Nation“ (ebd. S. 202, Hervorhebung i.O.): Hall zeigt auf, wie die Nation hergestellt wird durch bestimmte ‚Erzählungen‘ aus verschiedenen Bereichen wie Medien, Literatur, aber auch in Alltagsnarrationen sich wiederholende, „typische“ Verknüpfungen zwischen „Geschichten, Vorstellungen, Landschaften, Szenarien, geschichtlichen Ereignissen, nationalen Symbolen und Ritualen [...], die die geteilten Erfahrungen und Sorgen, Triumphe und vernichtenden Niederlagen repräsentieren, die einer Nation Bedeutung verleihen“ (ebd.). Die Betonung von „Ursprünge[n], Kontinuität und Zeitlosigkeit“ (ebd.): Nationalkultur wird diskursiv als etwas hergestellt, das sich aus bestimmten Quellen speist und sich ohne Brüche bis heute und in der Zukunft als konstant und homogen erhalten hat bzw. wird. Dabei „[bleibt] das Wesen des Nationalcharakters […] von allen Wechselfällen der Geschichte unverändert erhalten. Seit seiner Bildung ist es einheitlich, ununterbrochen, ‚unveränderbar‘ über alle Veränderungen hinweg, und zeitlos“ (ebd.). Im Falle des „deutschen Nationalcharakters“ sind dies z.B. Vorstellungen, „die Deutschen“ seien „schon immer“ fleißig, diszipliniert und ordentlich gewesen. Die „Erfindung einer Tradition“ (ebd. S. 203, Hervorhebung i.O.): In Anlehnung an Hobsbawm und Ranger lenkt Hall den Blick darauf, dass vieles von dem, was eine alte Tradition zu sein scheint, die eigentlich „schon immer“ so in einer bestimmten Nation gelebt wurde, nicht selten eine ziemlich „moderne“ Erfindung ist, die mit dem Pathos der Geschichtlichkeit überzogen wurde. Ähnliches führt Gellner (zit. nach Bhabha 1997a, S. 153, Hervorhebung H.B.) in Bezug auf den Nationalismus aus: „Nationalismus ist anders, als er scheint, und vor allem ist er anders, als er sich selbst gegenüber scheint. … Die kulturellen Fetzen und Flecken, die sich der Nationalismus zunutze macht, sind oft willkürliche historische Erfindungen. So ziemlich jeder beliebige alte Fetzen kann dazu hergenommen werden […].“
Von einer dekonstruktivistischen Warte aus bedeutet das in Konsequenz also, kritisch zu hinterfragen, wie „alt“ nationale Traditionen wirklich sind und ob ihre Einbettung in der „Frühgeschichte“ einer Nation nicht bloße narrative Konstruktion ist. Der „Gründungsmythos“ (Hall 1994, S. 203, Hervorhebung i.O.): Als „Gründungsmythos“ bezeichnet Hall die Ansiedlung einer Art „Legende“ über die Entstehung der entsprechenden Nation in „grauer, mythischer Vorzeit“. Dadurch, dass diese Entstehungsgeschichte nicht mehr in der ‚realen‘ Zeit verortet zu sein vorgibt, wird es möglich, eine der Realitätsprüfung entzogene „ursprüngliche“ Nation zu imaginieren. Diese diskursive Strategie ist eng verbunden mit dem folgenden Diskurs.
2.4 Erschütterungen Teil III: Kulturelle Identität als Konstruktion
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Die „Idee eines reinen, ursprünglichen ‚Volkes‘ “ (ebd., Hervorhebung i.O.): Die Vorstellung, es gebe ein definiertes, „unvermischtes“ Ursprungsvolk (auch hier wird die Nähe zu rassistischen Diskursen deutlich), dem alle „echten“ Angehörigen einer bestimmten Nation entspringen, ist ein Diskurs, dessen sich besonders in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus bedient wurde. Diese diskursiv hergestellte Idee einer homogenen, eindeutigen Nation ist besonders in globalisierten, pluralisierten und verunsicherten Zeiten eine Möglichkeit, sich in einer übergeordneten, scheinbar über die Zeit hinweg stabilen vorgestellten Gemeinschaft zu verorten. Folglich kann „[d]ie Nation also als imaginäre Gemeinschaft verstanden werden. Es handelt sich um eine phantasmatische Konstruktion, die auf ein fundamentales Begehren nach Sinn und Kohärenz reagiert“ (Bronfen & Marius 1997, S. 2). Diese Gemeinschaft markiert Hall als ein Konstrukt, das verdeckt, dass „[a]lle modernen Nationen kulturell hybrid [sind]“ (Hall 1994, S. 207, Hervorhebung i.O.). „Wie verschieden ihre Mitglieder in Begriffen der Klasse, des Geschlechts oder der ‚Rasse‘ auch immer sein mögen, eine Nationalkultur versucht, sie unter einer kulturellen Identität zu vereinigen, um sie alle als Angehörige derselben großen Familie zu repräsentieren.“ (ebd. S. 205)
Hall problematisiert die Vorstellung einer homogenen Nationalkultur und betont, dass „[e]ine nationale Kultur nie bloß ein Ort der Unterordnung, Bindung und symbolischen Identifikation“ war, sondern „[s]ie ist ebenso eine Struktur kultureller Macht“ (ebd.). Einmal mehr wird an dieser Stelle die Verbindung von Diskurs und Macht deutlich. Die Betonung der machtstrukturellen Komponente von Nationalkultur belegt Hall durch drei Argumente. Erstens bestehe der Großteil moderner Nationen aus verschiedenen Kulturen, die erst aufgrund einer langen Geschichte von gewaltsamer Unterdrückung kultureller Unterschiede nach außen hin „vereinheitlicht“ wurden. Zum Zweiten bestehen innerhalb von Nationen erhebliche Unterschiede zwischen deren Mitgliedern in Bezug auf Zugehörigkeiten zu Schicht bzw. Klasse, Geschlecht und Ethnie. Drittens stellt Hall die zugeschriebenen kulturellen Eigenschaften moderner „westlicher“ Nationen in den Zusammenhang mit deren kolonialen bzw. (neo-) imperialen Geschichte, in deren Kontext das „Eigene“ in Negation des „Anderen“ konstruiert wurde (vgl. Kap. 2.5). „Einige Historiker/innen sind jetzt der Auffassung, manche der entscheidenden Charakteristiken der englischen Identität seien erstmalig durch einen Vergleich zwischen den ‚Tugenden‘ des ‚Englischseins‘ und den negativen Eigenschaften der anderen Kulturen bestimmt worden.“ (ebd. S. 206).
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Was durch die Ausführungen Halls deutlich wurde, ist, dass verschiedene Vorstellungen nationaler bzw. kultureller Identitäten nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Die essentialistische Vorstellung von kultureller Identität als etwas, das man quasi unveränderbar „besitzt“, wird durch die Feststellung relativiert, dass wir zu „Deutschen“ etc. werden, indem wir uns mit einer bestimmten Nation identifizieren, in die wir hineingeboren wurden. Diese Nationen gehen über ein geographisch begrenztes Gebiet oder ein politisches System hinaus – sie sind vielmehr auch als ein auf eine bestimmte Weise strukturiertes System von Symbolen zu verstehen. Dabei sind sie nun nicht – wie häufig diskursiv vermittelt – „schon immer“ da gewesen, entstanden aus dem einen „reinen“ Volk mit einem bestimmten, allen äußeren Umständen und Widrigkeiten trotzenden Nationalcharakter und feststehenden Traditionen. Vielmehr wird deutlich, dass diese homogenisierte Darstellung der Nation und in Folge der „einen“ nationalen bzw. kulturellen Identität deutlich überdacht werden muss. Die Vereinheitlichung der Kultur unter dem „Dach“ einer Nation geschieht gewaltsam und unterdrückt die Vorstellung jeglicher Differenzen zwischen den Menschen einer Nation, was z.B. deren Schichtzugehörigkeit und Zugang zu bestimmten Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft betrifft. Hall geht von der These aus, „dass nationale Identitäten so lange einheitlich und homogen waren, wie es ihnen gelang, sich als solche zu repräsentieren“ (Hall 1994, S. 208). Ob diese Repräsentationsformen in globalisierten Zeiten jedoch noch ungebrochen zu halten sind, muss grundlegend in Frage gestellt werden, da „Globalisierung […] auf solche Prozesse [verweist], die weltweit wirken, nationale Grenzen durchschneiden, Gemeinschaften und Organisationen in neuen Raum-Zeit-Verbindungen integrieren und miteinander in Beziehung setzen und die Welt real wie in der Erfahrung stärker miteinander verbinden“ (ebd.). Zur Wirkung der Globalisierung auf die Repräsentationen nationaler bzw. kultureller Identität stellt Hall drei sich teilweise widersprechende Thesen auf (vgl. Hall 1994): Die Globalisierung führt zu einer quasi global homogenisierten kulturellen Identität. Diese Annahme wird z.B. durch die weltweite Entstehung einer Jugend(pop)kultur gestärkt, die insbesondere durch die Expansion bestimmter Musiksender mittels Fernsehen transportiert wird und dazu führt, dass sich in einem deutschen wie in einem indonesischen Dorf Jugendliche finden, die sich ähnlich ihres Rapper-Idols kleiden und dass das „Globale“ stärker zu wirken scheint als das „Lokale“. Diese Homogenisierungstendenzen, so Hall, werden allerdings durch andere Entwicklungen eingeschränkt. So gibt es nicht nur den Trend der Vereinheitlichung, daneben lässt sich auch eine starke Begeisterung für das „Andere“, die
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Differenz beobachten, die sich hervorragend vermarkten lässt (z.B. durch den Verkauf von Tribal-Schmuck oder die Applikation von Maori-Tätowierungen), was eine Stärkung der „Lokalen“ zur Folge hat. Zudem gibt es eine Ungleichverteilung der Globalisierung über die und innerhalb der verschiedenen Regionen der Erde, was Hall in Anlehnung an Doreen Massey als „,Machtgeometrie‘ der Globalisierung“ (Hall 1994, S. 213) bezeichnet. Diese Asymmetrie des Globalisierungsprozesses mit all seinen Vorund Nachteilen lässt sich gut am Beispiel der stark unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten des Internets als ein typisches „Kind“ der Globalisierung erkennen, das einem Großteil der Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent nicht offensteht (vgl. z.B. http://www.home.uni-osnabrueck.de/uafemann/ Inter net_Und_ Dritte_Welt/forumEB/forumEB.html, letzter Zugriff 10.7.2005). Eine dritte Einschränkung der Tendenz zur Homogenisierung von kulturellen Identitäten durch die Globalisierung sieht Hall darin, dass Globalisierung zwar „einige Aspekte der globalen Herrschaft des Westens“ (ebd. S. 215) und die diskursive Ausbreitung „westlicher“ Vorstellungen kultureller Identitäten beinhaltet, kulturelle Identitäten jedoch durch die „Raum-Zeit-Verdichtung“ (ebd.) – als typische Eigenschaft der Globalisierung – relativiert werden. Unter Raum-Zeit-Verdichtung versteht Hall „[…] die Beschleunigung globaler Prozesse, so dass die Welt kleiner und Distanzen kürzer erscheinen und Ereignisse an einem Ort unmittelbare Auswirkungen auf sehr weit entfernte Menschen und Orte haben“ (ebd. S. 209). Im Widerstand gegen Globalisierungsprozesse werden nationale, „lokale“ oder Teil-Identitäten stärker. Globalisierung bringt (aufgrund vermehrter Immigration, medialer Repräsentationen etc.) den „Zwang“ zu einer stärkeren Auseinandersetzung des Einzelnen mit kultureller Pluralität mit sich. Infolgedessen werden die „Grenzen“, die Homogenität und die „Sicherheit“ nationaler Identitäten in Verbindung mit deren „kulturelle[r] Zentriertheit“ (ebd. S. 215) grundlegend erschüttert. So wird in Zeiten, in denen z.B. das Bild des/der „Deutschen“ nicht mehr zwingend mit weißer Hautfarbe assoziiert sein muss, sondern auch „andere Deutsche“ mit deren spezifischen Lebenskonstellationen zunehmend in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücken (vgl. z.B. Mecheril 1995), die Sicherheit einiger darüber, was denn noch „deutsch“ ist, erschüttert. Eben diese „Erschütterung“ der „deutschen Selbstverständlichkeit“ kann in einem Umkehrprozess in der Betonung des Lokalen münden: „Die Stärkung lokaler Identitäten kann als heftige Verteidigungsreaktion der Mitglieder einer herrschenden ethnischen Gruppe angesehen werden, die sich durch die Präsenz anderer Kulturen angegriffen fühlen. […] Dies ist häufig von einer strategischen Rückkehr zu defensiveren Identitäten in den Gemeinschaften der Minderhei-
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ten selbst als Reaktion auf Rassismus und Ausschließung begleitet.“ (Hall 1994, S. 216)
Globalisierung führt zur Ausbildung neuer, „hybrider“ Identitäten. Hall belegt anhand der Kategorie der „Schwarzen“ im anglo-amerikanischen Sprachraum, wie die Vorstellung „reiner“ Kulturen ad absurdum geführt wird und wie sich „vermischte“ kulturelle Identitäten ausbilden. In Großbritannien oder den USA bezeichnen sich – anders als in Deutschland – seit den 70er Jahren nicht nur Menschen afro-karibischer Herkunft als „Schwarze“, vielmehr vereinen sich unter dieser Kategorie all diejenigen mit einer nicht-weißen Hautfarbe (also z.B. auch diejenigen asiatischer Herkunft). Dabei einen sie weniger sprachliche, ethnische oder kulturelle Gemeinsamkeiten als vielmehr die geteilte Erfahrung der Ausgrenzung und der Diskriminierung durch die weiße Mehrheitskultur. „Schwarz-Sein“ wird so zu einer politischen Kategorie der Organisation und des Widerstandes, in der man sich – trotz aller Differenzen unter den „Schwarzen“ – je nach Kontext und Intention verortet (vgl. Hall 1994). Hall kommt in seinen Ausführungen zur Auswirkung der Globalisierung auf die Formierung nationaler/kulturelle Identitäten zu folgendem Fazit: „Als vorläufige Schlussfolgerung halte ich fest, dass die Globalisierung den Effekt hat, die zentrierten und ‚geschlossenen‘ Identitäten einer nationalen Kultur zu bekämpfen und zu zerstreuen. Sie hat eine pluralisierende Wirkung auf Identitäten, schafft eine Vielfalt von Möglichkeiten und neuen Positionen der Identifikation und gestaltet Identitäten positionaler, politischer, pluraler und vielfältiger sowie weniger fixiert, einheitlich und transhistorisch. Dabei bleibt ihre allgemeine Wirkung widersprüchlich: Einige Identitäten kreisen um das, was Robins ‚Tradition‘ nennt, indem sie versuchen, ihre frühere Reinheit wiederherzustellen und die verloren geglaubten Einheitlichkeiten und Sicherheiten wiederzufinden. Andere akzeptieren, daß Identität der Geschichte, der Politik, den Spielen der Repräsentation und Differenz unterworfen ist, so daß sie nie wieder einheitlich oder ‚rein‘ sein wollen.“ (ebd. S. 217)
Am Ende dieses Abschnittes bleibt also wiederum festzuhalten, was ich anfangs vorweggenommen habe: Es handelt sich bei der kulturellen Identität um ein diskursiv hergestelltes Konstrukt, von dem wir uns in der Regel vorstellen, dass wir es unverrückbar besitzen. Diese essentialisierte Konstruktion von kultureller Identität kann deshalb so leicht „unentdeckt“ bleiben, da sie sich durch Bezüge zu bestimmten Ereignissen legitimiert, die angeblich so lange her sind, dass sie heute nur durch einen gewissen Aufwand auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft werden können, was ich in Anlehnung an Hall am Beispiel der Erzählung der Nation bzw. der nationalen Identität als einem bedeutsamen Teil der kulturellen Identität ausgeführt habe. Bei der essentialisierten, homogenisierten Darstellung
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kultureller/nationaler Identitäten wird die Bedeutung der Differenzen innerhalb einer Nation/Kultur unterdrückt, die sich z.B. aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Subgruppen oder Schichten ergibt. Auch die Globalisierung, die in ihrer Tendenz den Blick für die Konstruktion öffnen könnte, hat auf diese vereinheitlichten kulturellen Identitäten keine eindeutig „erschütternde“ Wirkung. Vielmehr bleibt sie in ihren Auswirkungen widersprüchlich, indem sie einerseits das Verständnis von Kultur als etwas „Hybridem“ fördern kann, auf der anderen Seite aber auch Entwicklungen zu beobachten sind, die sich stark auf die „Reinheit“ von Kulturen und Nationen beziehen. Politik mit der Identität – identity politics In den beiden vorangegangenen Abschnitten haben wir gesehen, dass sich Identitäten auf dem Weg von der Moderne hin zur Postmoderne verändert haben und dass wir Identitäten – und im Speziellen kulturelle bzw. nationale Identitäten – nicht besitzen, sondern sie gleichsam erwerben. Doch wenn Identitäten heute als so relativ und konstruiert verstanden werden können, wieso kommt ihnen eine so große Bedeutung im gesellschaftlichen Alltag zu? Stuart Hall (vgl. Hall 1996b) betont, dass sich die eigentliche Frage nicht ausschließlich um Identität drehe, sondern vielmehr darum, wie Identitäten hergestellt werden, um die Prozesse der Identifikation. „And, therefore, one of the shifts that I would make myself is to stop talking exclusively about identity and begin to talk about identification. Which is the process by which groups, movements, institutions, try to locate us for the purpose of regulating us; try to construct us within symbolic boundaries in order to locate us, to give us resources, or take resources away from us. And in order to exist within that kind of symbolic framework, we try to manipulate or respond to it by saying ,Well, I’m sort of like that‘, or ,Sometimes I will show up like that, if there’s enough money‘ or ,I refuse to be like that, as you call it‘ and ,instead I want to call it that‘.“ (ebd. S. 130)
Identifikation, so Hall, ist also ein – niemals abgeschlossener, nie vollständiger – Prozess, der sowohl von außen auf uns angewendet wird (als wer oder was werden wir „erkannt“?) und der ebenso im Inneren des Subjekts seine Entsprechung findet (Wie positioniere ich mich im Verhältnis dazu, als was/wer ich „erkannt“ werde? Als was identifiziere ich mich und identifizieren mich andere?). Jede Identität, so Hall, entsteht immer als ein Teil der Auseinandersetzung um soziale Positionen, oder, wie Keupp (1997b, S. 13) es ausdrückt, „Identität entsteht in einem dialogischen Prozess […]“. Aber – ist Identifikation bzw. Identität dann beliebig und nur eine Frage dessen, wo ich mich – je nach Ge-
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
schmack – positioniere und wo ich positioniert werde, ohne weitere Konsequenzen? Hall (1996b, S. 132) spricht sich gegen diese Idee einer „supermarket identity“ aus, bei der man sich nach Gefallen jeder möglichen Identität bedienen könne, vielmehr postuliert er die verstärkte Politisierung der Identitäten: „Seit Identität sich darin verändert, wie das Subjekt angerufen oder repräsentiert wird, ist die Identifikation nichts Automatisches, sondern kann gewonnen oder verloren werden. Sie wurde politisiert. Dies wird häufig als Wechsel von einer Politik der (Klassen-)Identität zu einer Politik der Differenz bezeichnet.“ (Hall 1994, S. 187, Hervorhebung i.O.)
Und an anderer Stelle stellt er fest: „We know that in contemporary societies identities are more flexible, more open, more labile, more fluid, less predictable, more dramaturgical, more dependent on performance, less dependent on – as it were – inherited tradition.“ (Hall 1996b, S. 129)
Identität hat oder bekommt man/frau also nicht einfach, sondern sie wird inszeniert, erworben, verloren, erarbeitet (vgl. Keupp & Höfer 1997), und vor allem wird sie Gegenstand politischer Prozesse und gerät somit in das Spiel von Macht und Ohnmacht, sie wird Teil der bzw. zur Identitätspolitik (vgl. Keupp 1997b). Identity politics können gleichsam in zwei Richtungen wirken: Zum einen können sie die Durchsetzung von Machtinteressen durch die ohnehin schon „Mächtigeren“ stützen, zum anderen ermöglichen sie den Marginalisierten einen Zusammenschluss, einen „Gegendiskurs“ unter einem bestimmten „Label“, einem „Signifikanten“, wie es Hall (2000, S. 108) nennt. Ein in unserem Rahmen gutes Beispiel für identity politics stellen die Identifikationsprozesse und Diskurse rund um die dichotomisierten Begriffe „Schwarze“ und „Weiße“ dar (vgl. auch Ranger 1996), auch wenn eine einfache Übertragung dieser im anglo-amerikanischen Raum entstandenen Begrifflichkeiten in den deutschsprachigen Kontext nicht ohne Weiteres sinnvoll ist. Beginnen wir mit dem „Weiß-Sein“. Die Kategorie „weiß“ ist schon insofern problematisch, als sie unter diesem Signifikanten eine scheinbar homogene Gruppe herstellt. Vergessen sind dabei all die inneren Differenzen, die diese ausmacht: es gibt Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Homo-, Heteround Bisexuelle, Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft etc. „WeißSein“ wird jedoch so diskursiviert, als gebe es die einheitliche Gruppe der „Weißen“, die sich grundlegend von den homogenen Gruppe der „Schwarzen“ unterscheide.
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Hinzu kommt – und das gilt es zu problematisieren –, dass innerhalb Großbritanniens (so Hall), aber auch Deutschlands, die Identifikation nationaler Zugehörigkeit in hohem Ausmaß an der Hautfarbe festgemacht wird. Britisch-Sein bzw. Deutsch-Sein heißt auch „Weiß-Sein“. JedeR als „nicht-weiß“ Identifizierte scheint nicht britisch bzw. deutsch sein zu können. Die Lebensrealitäten „anderer Deutscher“ (also „nicht-weißer“ Deutscher) (vgl. Mecheril & Teo 1994) oder „anderer BritInnen“ werden in diesen Herstellungsprozessen von Ein- und Ausschluss nivelliert, sie werden als nicht zugehörig definiert, gelten als AusländerInnen, sie werden marginalisiert. Das „Weiße“ wird dabei zur Norm, zur „Normalität“ erhoben: „[…] if you want to know whether one ought to be concerned about how white ethnicity is constructed and how it acquires the power of norm, my answer is yes, yes, we ought to be concerned about that. Because in part, its symbolic power arises from the fact that it is not an ethnicity. Precisely, it is the norm by which everything else becomes an ethnicity.“ (Hall 1996b, S. 133).
Die Bewegung der „Schwarzen“ in Großbritannien (und anderenorts), so Hall (ebd.), kann als sogenannte Gegenidentifikation gegenüber diesen Normalisierungsstrategien (vgl. auch Tai & Kenyatta 1999) und dem gesellschaftlichen Ausschluss durch die „Weißen“ verstanden werden: Schwarz-Sein heißt folglich: „I’m anything but British“ (Hall 1996b, S. 131). Unter dem Label „schwarz“ schließen sich Menschen zusammen, die ebenso unterschiedlich sind wie die „Weißen“, sie kommen aus der Karibik, aus Indien, sprechen verschiedene Sprachen, haben unterschiedliche sexuelle Orientierungen etc. Was sie eint, ist jedoch die Erfahrung der Ausgrenzung und der Wunsch danach, sich durch den Zusammenschluss innerhalb der Gesellschaft besser positionieren zu können und Handlungsspielraum zu gewinnen, also nicht nur von äußeren Machtstrukturen positioniert zu werden. Diese Identifikation mit dem „SchwarzSein“ bedeutet jedoch nicht, sich einem essentialisierten Begriff von „SchwarzSein“ anzuschließen. Diese Form des kollektiven Zusammenschlusses als scheinbar homogene Gruppe dient dazu, über die Gemeinsamkeit eine kohärente Gruppe zu formieren, die über politische Handlungsfähigkeit und Kraft verfügt: „Ich habe das Gefühl, dass es historisch nicht möglich gewesen wäre, in das von der popularen Kultur des Mainstream dominierte Feld zu intervenieren, zu versuchen, dort einigen Raum zu gewinnen, ohne Strategien, durch die diese Dimensionen auf den Signifikanten ,schwarz‘ verdichtet wurden. Wo wären wir, wie bell hooks einmal bemerkte, ohne einen Hauch von Essenzialismus, oder, wie Gayatri Spivak es nennt, ohne einen strategischen Essenzialismus als notwendiges Moment?“ (Hall 2000, S. 106f)
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Der strategische Essenzialismus ist dabei, anders als essentialistische Definitionen von Schwarz- und Weißsein, eine vorübergehende Positionierung, er ist situativ: „You don’t produce another whole positive space in which everyone is going to fit and we’re all going to be black like that for the next fifty years; but, positionally, it is possible to be black like that in relation to the forces and symbolic material which is arrayed around, which is trying to position us. They try to position us and we are trying to find some space within the positioning. That’s what the identity and the struggle – the identity dialectic – seems to me about. So I understand it positionally that way.“ (Hall 1996b, S. 132)
In diesem Zusammenhang prägt Hall (ebd.) das Bild der „janusköpfigen“ Identität: einerseits blickt (kollektive) Identität zurück in eine vermeintlich gemeinsame, mythische, teilweise erfundene Vergangenheit (wie wir es auch schon im Zusammenhang mit der Konstruktion der nationalen Identität gesehen haben), auf der anderen Seite – und das ist hier besonders bedeutsam – schließt sie verschiedene Menschen zukunftsweisend zusammen, mit dem Ziel, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu erlangen. Die jeweilige Identifikation kann je nach Situation verschieden sein, sie ist veränderbar (vgl. auch Dannenbeck 2002), und dennoch ist sie nicht beliebig. Sie ist vielmehr eingebunden in machtvolle gesellschaftliche Zusammenhänge, wobei „[d]er Spielraum zur Aushandlung von Identität […] für marginalisierte Subjekte begrenzt [ist]“ (Ha 2000, S. 389, Hervorhebung i.O.). Oder, um es mit Salman Rushdie (zit. nach Mecheril & Teo 1994, Umschlag) aus der Sicht eines Marginalisierten auszudrücken: „Sie beschreiben uns… Sie haben die Macht der Beschreibung, und wir sind ihren Bildern unterworfen, die sie sich von uns machen.“
Wir haben uns bisher mit der Platzierung der Identität im ethnischen Diskurs beschäftigt und am Beispiel des „Schwarz-“ und des „Weißseins“ gesehen, dass Identifikationen und Identitäten nicht beliebig sind und dass sie im Kampf um gesellschaftliche Positionen und den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen verortet sind. Aber: Sind Identitäten nur innerhalb eines Diskurses positioniert, und wenn nicht, wie stehen die verschiedenen Verortungen im Verhältnis zueinander? Im Abschnitt über Identitätskonstruktionen in der Postmoderne haben wir gesehen, dass Identitäten heute „fragmentiert“ sind. Hall (1994, S. 186) spricht davon, dass „[k]eine einzelne Identität […] alle verschiedenen in einer übergreifenden ‚Herrenidentität‘ auf eine Linie bringen [kann …]“. So lange die Teil-Identitäten widerspruchsfrei nebeneinander stehen, fallen sie in der Regel
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nicht weiter auf. Interessant wird es jedoch an den Stellen, an denen entweder die Platzierung einer Teil-Identität in einem Diskurs Konsequenzen für die Verortung einer anderen Teil-Identität in einem weiteren Diskurs hat oder die verschiedenen Verortungen zu Konflikten führen. So hat z.B. die Platzierung einer Frau im religiösen Diskurs als Katholikin (also in einem patriarchalen System) Konsequenzen für die Verortung im Gender-Diskurs. Versteht sich die entsprechende Frau auch als Feministin (wobei es sich auch bei der FeminismusBewegung nicht um eine homogene Gruppe handelt, vgl. z.B. Ryan 2001), geraten die jeweiligen Teil-Identitäten in Widersprüche, mit denen es umzugehen gilt und die unterschiedlich gelöst werden. Wie mögliche Identifikationen und Teil-Identitäten ganz gezielt innerhalb politischer Praktiken eingesetzt werden, lässt sich an verschiedenen Beispielen ausführen. Lehti und Smith (2003) zeigen beispielsweise, wie sich die Identifikationen innerhalb Europas vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verändern. Zur Zeit des Kalten Krieges wurden verschiedene „Europas“ zur Durchsetzung politischer Interessen konstruiert, indem diskursiv ein West- und ein Ost-Europa hergestellt wurde. Diese verschiedenen „Europas“ wurden als homogene Einheiten dargestellt (entsprechend der „Orientalization“ Saids 3) , sie waren in den „spatial imaginations“ (ebd., S. 1) von Europa eingeschrieben und ermöglichten als einander scheinbar entgegengesetzte Blöcke die Inszenierung des Kalten Krieges. Lediglich die nordischen europäischen Staaten brachen während des Kalten Krieges den hegemonialen Diskurs von Ost und West, indem sie sich selbst als „Nord-Europa“ zwischen den „Polen“ positionierten. Die Unterschiede zwischen den Ländern der verschiedenen „Europas“ wurden in Zeiten des Kalten Krieges ausgeblendet, während sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder an Bedeutung gewannen und vermehrt einzelne Länder und die Identifikationen von bzw. mit ihnen in den Fokus rückten. Auch einzelne Personen innerhalb der politischen Szene bieten verschiedene Identifikationsmöglichkeiten an, die teilweise gezielt eingesetzt werden, um entsprechende Wählerschaft zu aktivieren (vgl. auch Hall 1994, S. 185ff). So war es sicherlich kein Zufall, dass Dr. Condoleezza Rice als schwarze Frau und erfolgreiche Akademikerin die prominente Position des „National Security Advisor“ und im Weiteren dann der Außenministerin innerhalb der Regierung von George W. Bush einnahm (vgl. http://www.whitehouse.gov/nsc/ricebio.html, letzter Zugriff: 23.8.2005), da sie den potentiellen WählerInnen ein reichhaltiges Angebot an Identifikationen (weiblich, Karrierefrau, Minoritätenangehörige und doch extrem mächtig …) erlaubte und somit WählerInnenschaft außerhalb der
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vgl. Kapitel 2.5.
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
üblichen „StammwählerInnen“ der Republikaner (zu denen in der Regel z.B. Schwarze nicht gehören) ansprach. Wir konnten im vorangegangenen Abschnitt sehen, dass die Verortung in kulturellen, nationalen oder anderen (Teil-)Identitäten keinesfalls Nebensache, sondern zentraler Bestandteil der politischen Szene ist. Über Identifikationen mit den entsprechenden Gruppen lassen sich Machtinteressen durchsetzen oder auch Widerstand gegen Dominanzstrukturen formieren. Die entsprechenden Identifikationen sind dabei situationsabhängig, variabel und homogenisieren die jeweilige Gruppe nur scheinbar. Innerhalb (und außerhalb) des Individuums können die einzelnen Teilidentitäten (bzw. -identifikationen) widersprüchlich sein oder auch in Konkurrenz treten, was ihre politische Brisanz zusätzlich untermauert. Um abschließend noch einmal mit Stuart Hall (1996b, S. 135) zu sprechen: „Now that is where the politics of identity – if you take this less essentialist view, but don’t drift it off into no-mans land, no-womans land, no-persons land – if you try to find a point where identity is positional but not essentialist; is located, is always located in more than one set of discourses. […] But if one is prepared to take that more diversified and yes, more pluralised notion of what identity is – and a more positional notion of it – there is a politics there, but it is a very difficult one. But I suspect it’s the only game left on the table.“
Noch einmal zur Erinnerung: Die Eingangsfrage dieses Kapitels lautete, ob die Darstellung kultureller Identitäten als etwas haltbar ist, das zum einen „homogen“ und zum anderen als unveränderlich und quasi naturhaft im Menschen verankert ist. Die einfache Antwort darauf kann lauten: „Nein“. Die komplexere lautet: „Nein, und es gibt einige gute Gründe dafür.“ Identitäten ganz allgemein, wie wir sie in der Postmoderne verstehen, sind aufgrund vielfacher „Erschütterungen“ im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse von modernen zu postmodernen Gesellschaften pluralisiert, fragmentiert und aus traditionellen Vorgaben „entbettet“. Sie werden nicht besessen, sondern in einem steten Prozess hergestellt bzw. erarbeitet. Kulturelle Identitäten im Speziellen sind Konstrukte, die eng an die diskursive Herstellung vermeintlich einheitlicher Nationalstaaten gebunden sind. Innerhalb der Diskurse über nationale Identitäten werden Unterschiede in „Nationen“ bzw. „Kulturen“ in Bezug auf die Schichtzugehörigkeit etc. nivelliert. Globalisierungsprozesse haben dabei unterschiedliche Wirkungen auf die Herstellung kultureller/nationaler Identitäten: Zum einen werden Prozesse angestoßen, die immer noch auf dem „Ideal“ der „reinen Kultur“ beharren, im Gegensatz dazu steht die Entdeckung der Hybridität von Kulturen.
2.5 Erschütterungen Teil IV: Der Postkoloniale Diskurs
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Kulturelle Identitäten sind zwar Konstrukte, aber sie sind dennoch nicht in beliebiger Form herstellbar, da ihre Formierung im Rahmen machtdurchwobener Strukturen stattfindet. Identitäten werden politisiert, identity politics haben dabei als Möglichkeit sowie Notwendigkeit, sich gesellschaftlich zu verorten, an Bedeutung gewonnen. Dabei widmen sich – als ein weiterer theoretischer Ansatz – die Postcolonial Studies noch einmal in besonderer Weise der Frage nach der machtstrukturellen Komponente im Zusammenhang mit der Konstruktion des Eigenen durch die Negation des Anderen, was ich im Verlaufe des nächsten Kapitels darstellen werde. 2.5 Erschütterungen Teil IV: Der Postkoloniale Diskurs „Was jedoch in Frage gestellt werden muss, ist die Form der Repräsentation der Andersheit.“ (Bhabha 2000, S. 100, Hervorhebung i.O.).
Nicht ohne Weiteres ist einzusehen, wieso es im Rahmen einer kritischen Betrachtung sowohl des Begriffes „Interkulturalität“ als auch „interkultureller“ Begegnungen, die im Rahmen psychoanalytischer Theorie und Praxis expliziter Gegenstand dieser Arbeit sind, lohnenswert sein kann, sich mit dem Begriff des Kolonialismus oder, besser gesagt, mit dem der kolonialen Haltungen sowie der kolonialen Diskurse auseinanderzusetzen, zumal in einer nach-kolonialen Zeit. Es ließe sich zudem argumentieren, Deutschland habe – im Gegensatz zu anderen Ländern wie beispielsweise England – ohnehin nur eine Kolonialgeschichte von geringer Bedeutung (vgl. auch Bronfen & Marius 1997/Steyerl 2003). Auf der konkreten, offensichtlichen Ebene lässt sich letzteres Argument schwächen, denn wenn auch das damalige Deutsche Reich im Vergleich zu anderen Nationen relativ spät in die koloniale „Umverteilung“ eingriff und 1884/85 Togo, Kamerun, „Deutsch-Südwestafrika“, „Deutsch-Ostafrika“, „Deutsch-Neuguinea“ und verschiedene pazifische Inseln in Besitz nahm, die wiederum 1919 bereits in Folge des Versailler Vertrages aberkannt wurden (vgl. Grosse 1997), so gibt es doch offensichtlich eine immerhin gut 30-jährige koloniale Geschichte Deutschlands, die im allgemeinen Bewusstsein allerdings wenig präsent ist. Ha (2003) argumentiert zudem, es habe sich neben der „äußeren Kolonisierung“ (ebd., S. 63) in Form sichtbarer kolonisierter Territorien in Deutschland eine „[d]iskriminatorische Arbeitsmigrationspolitik als Inversion kolonialer Expansionsformen“ (ebd. S. 64, Hervorhebungen i.O.) entwickelt, die sich als „innere Kolonisierung“ (ebd. S. 63) verstehen lasse.
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Doch um ein Urteil fällen zu können, was – noch über die konkreten historischen Tatsachen hinaus – die kritische Auseinandersetzung mit dem „kolonialen“ und im weiteren postkolonialen Diskursfeld auch im deutschen Kontext lohnenswert macht, ist es notwendig, diese Diskurse genauer darzulegen und zu verstehen, welche Aussagen sie implizieren. Cultural Studies und Postcolonial Studies stehen in einer sehr engen Beziehung wechselseitiger Rezeption und Weiterentwicklung, was beispielweise die Verwendung des Hybriditätsbegriffes – den ursprünglich Homi K. Bhabha (einer der prominenten VertreterInnen der Postcolonial Studies) verwendete und der im Weiteren von Hall (vgl. Kap. 2.4) aufgegriffen wurde – erkennen lässt (vgl. auch Nick 2003). Nicht nur die Verwendung des Konzeptes der Hybridität verbindet Postcolonial Studies und Cultural Studies. Die Entwicklung eines kritischen Kulturbegriffes, die zentrale Stellung des Diskursbegriffes und ebenso das Verständnis, ein politisches Theorieprojekt zu verkörpern, verdeutlichen ihre Nähe. Bei den Postcolonial Studies wie bei den Cultural Studies handelt es sich nicht um eine einheitliche bzw. vereinheitlichte theoretische Schule, sondern vielmehr um verschiedene Konzepte um einen bestimmten Gegenstand herum, die sich teilweise ergänzen, teilweise aber auch im Widerspruch stehen (vgl. Kap. 2.3 und 2.4). Aufgrund dieser vielfältigen Übereinstimmungen werden die Postcolonial Studies teilweise nicht nur als eng verwandt, sondern sogar als Untergruppierung innerhalb der Cultural Studies verstanden (vgl. Grimm 1997). Beginnen wir zunächst mit einer Annäherung an den Begriff des Postkolonialismus. „Der Postkolonialismus (oder auch Post-Kolonialismus) beschäftigt sich mit den Effekten der Kolonisation auf Kulturen und Gesellschaften.“ (Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002, S.186, Übersetzung K.H.)
Post-kolonial hatte zunächst eine rein geschichtliche Bedeutung und wurde von HistorikerInnen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gebraucht, um die Phase zu markieren, in die ehemals koloniale Staaten nach deren Unabhängigkeit eintraten. Bald jedoch war der Post-Kolonialismus nicht mehr nur Gegenstand der Geschichtsschreibung. Bereits in den späten 1970ern fand der Begriff Eingang in die Literaturwissenschaften und wurde Mittel zur kritischen Betrachtung der vielfältigen Effekte des Kolonialismus auf Kulturen (vgl. Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002).
2.5 Erschütterungen Teil IV: Der Postkoloniale Diskurs
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Der Orientalismus Edward Saids Werk Orientalism (erstmals 1978) war als Grundsteinlegung für heutige postkoloniale TheoretikerInnen besonders bedeutend. In Orientalism beschreibt er „die Entstehung eines globalen Bewußtseins, das sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Wissenschaften des Westens manifestiert, insbesondere in solch scheinbar grundverschiedenen Disziplinen wie der Geographie und der Komparatistik“ (Said 1997, S. 81). Said arbeitet die Prozesse heraus, in denen der „Orient“ im europäischen Denken als Gegensatz zum „Okzident“ (oder auch „Westen“) konstruiert wurde und heute noch wird (vgl. auch Hall 1994). Den Orientalismus versteht er dabei im Sinne Foucaults als diskursive Praxis: „Taking the late eighteenth century as a very roughly defined starting point Orientalism can be discussed and analyzed as the corporate institution for dealing with the Orient – dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it: in short, Orientalism is a Western style for dominating, restructuring and having authority over the Orient. I have found it useful here to employ Michel Foucault’s notion of a discourse, as described by him in The Archaeology of Knowledge and in Discipline and Punish, to identify Orientalism.“ (Said 1979, S. 3, Hervorhebungen i.O.)
Saids Verdienst ist es, zu verdeutlichen, dass es sich sowohl beim Orient als auch beim Okzident um Konstrukte handelt, folglich stellt der Orientalismus auch keine „wahren“ Aussagen über den Orient her, sondern Said weist vielmehr darauf hin, dass die Beziehung zwischen dem Orient und dem Okzident von Dominanz, Macht und Hegemonie durchdrungen ist (vgl. Said 1979/Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002). Er stellt heraus, wie sich der westliche Kulturentwurf durch die Negierung dessen, was orientaler Kultur zugeschrieben wird, formiert: „Im Zentrum des imperialen Kulturentwurfs, den ich in Orientalismus […] analysierte, stand die Politik der Identität. Diese Politik musste davon ausgehen, ja fest daran glauben, daß alles, was für Orientalen […] zutrifft, ganz sicher nicht für Europäer zutreffen kann.“ (Said 1997, S. 85, Hervorhebung i.O.)
Diese westlich hergestellte Binarität ermöglicht es, Unerwünschtes, aber auch Ersehntes in den Orient zu verlagern, oder – um es mit Said auszudrücken, „war und ist [der Orientalismus] die Disziplin der systematischen Annäherung an den Orient als Gegenstand der Wissenschaft, der Entdeckung und der Praxis. Darüber hinaus habe ich das Wort zur Bezeichnung jener Sammlung von Träumen, Bildern und Vokabeln gebraucht, die für jeden verfügbar sind, der einmal ver-
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sucht, über das zu sprechen, was östlich der Trennungslinie liegt“ (Said zit. nach Hall 1994, S. 159). Frantz Fanon als „Urvater“ des Postkolonialismus Die binäre Logik, die im Orientalismus oder – allgemeiner gefasst – im Kolonialismus zwischen Orient und Okzident bzw. Kolonialherren und Kolonisierten aufgespannt wird, ist auch zentraler Gegenstand der Werke von Frantz Fanon. Während Said jedoch eher der kolonialen Diskursanalyse (Colonial Discourse Analysis) zugeordnet wird, gilt der Psychiater aus Martinique und spätere Befreiungskämpfer in Algerien Fanon als „Urvater“ des postkolonialen Diskurses, wenn er auch nicht im engen Sinne zu dessen VertreterInnen zu zählen ist (vgl. Nick 2003). Im Zentrum von Fanons Arbeiten Schwarze Haut, Weiße Masken (erstmals 1952) und Die Verdammten dieser Erde (erstmals 1961) steht – entgegen essentialisierenden kolonialen Rechtfertigungen – die Markierung der Konstruktion des „schwarzen“ Kolonisierten durch den „weißen“ Kolonisator unter dem Deckmantel des Humanismus (ich verwende an dieser Stelle ausdrücklich die männliche Form, da es sich i.A. vornehmlich um Kolonialherren handelte, wenn diskursive Praktiken selbstverständlich auch von Frauen getragen werden). „Der Kolonialherr und der Kolonisierte sind alte Bekannte. Und der Kolonialherr kann tatsächlich behaupten, ‚sie‘ zu kennen. Er ist es, der den Kolonisierten geschaffen hat und noch fortfährt, ihn zu schaffen. Der Kolonialherr gewinnt seine Wahrheit, das heißt seine Güter aus dem Kolonialsystem.“ (Fanon 1966, S. 28, Hervorhebungen i.O.)
Ein wenig später resümiert er: „Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt.“ (ebd., S. 29)
Fanon bleibt aber nicht stehen bei der Feststellung der diskursiv dichotomisierten Kolonialwelt, er beschreibt vielmehr die Auswirkungen der kolonialen Begegnung auf die Kolonisierten: „,Dreckiger Neger!‘ Oder einfach: ‚Sieh mal, ein Neger!‘ Ich kam auf die Welt, darum bemüht, den Sinn der Dinge zu ergründen, und meine Seele war davon erfüllt, am Ursprung der Welt zu sein, und dann entdeckte ich mich als Objekt inmitten anderer Objekte. […] Und dann geschah es, dass wir dem weißen Blick begegneten. Eine ungewohnte Schwere beklemmte uns. Die wirkliche Welt machte uns unseren Anteil streitig.“ (Fanon 1980, S. 71f)
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Es ist dieser „weiße Blick“ und die aus ihm folgende Internalisierung der Inferiorität (vgl. auch Young 2003), die ihre Spuren auf Seiten der Kolonisierten hinterlässt und nicht auf einfache Weise nur durch die äußere Entkolonialisierung von Gebieten zu lösen ist. „Die Analyse, die wir vornehmen, ist eine psychologische. Dennoch bleibt es uns offenkundig, daß die wirkliche Beseitigung der Entfremdung des Schwarzen für uns eine jähe Bewußtwerdung der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit bedeutet. Wenn es einen Minderwertigkeitskomplex gibt, so infolge eines doppelten Prozesses: – zunächst eines ökonomischen,– sodann durch die Verinnerlichung oder Epidermisierung dieser Minderwertigkeit.“ (Fanon 1980, S. 10)
Und nicht nur auf Seite der Kolonisierten lassen sich die (verinnerlichten) Spuren der Kolonialgeschichte verfolgen. Welche Aktualität Fanons Werk auch heute noch in nach-kolonialen bzw. neo-kolonialen Zeiten für die (ehemaligen) Kolonisatoren besitzt, fasst Jean-Paul Sartre in seinem Vorwort (ursprünglich 1961) zu Die Verdammten dieser Erde zusammen: „Dieses Buch hat eigentlich kein Vorwort nötig. Um so mehr, als es sich nicht an uns wendet. Ich habe trotzdem eines geschrieben, um die Dialektik bis zu Ende zu führen: auch wir Europäer werden dekolonisiert. Das heißt, durch eine blutige Operation wird der Kolonialherr ausgerottet, der auch in jedem von uns steckt. Schauen wir uns selbst an, wenn wir den Mut dazu haben, und sehen wir, was mit uns geschieht.“ (Sartre 1966, S. 20)
Fassen wir noch einmal abschließend zusammen: In den beiden vorangegangenen Abschnitten haben wir einen Blick auf die Theorien Saids und Fanons als „Vorläufer“ postkolonialer Theorien geworfen. Beide beleuchten im Orientalismus bzw. im Kolonialismus die Prozesse der Konstruktionen von „Wir“ vs. „die Anderen“ als getrennte Einheiten, indem sie darstellen, wie sich das „Wir“ aus der Negation des „Anderen“ ergibt und umgekehrt. Diese Entitäten hinterfragen Said und Fanon kritisch. Said stellt durch die Einführung des Diskursbegriffes zudem die Produktion von vermeintlich „objektivem“ Wissen über „sich“, „die Anderen“ und „die Welt“ in den Kontext von (ungleichen) Machtverhältnissen. Die Postcolonial Studies Fanon gilt deshalb als „Urvater“ des Postkolonialismus, da dessen prominenteste VertreterInnen zentrale Aspekte seiner Werke aufnehmen und theoretisch weiterentwickeln. Hier sind vor allem Homi K. Bhabha, der sich im Wesentli-
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chen auf Lacan und Althusser bezieht, und Gayatri Chakravorty Spivak, die sich stark auf Derrida beziehend eine dekonstruktivistische, feministische Perspektive einführt, als ProtagonistInnen der postkolonialen Perspektive zu nennen (vgl. Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002/Gutiérrez Rodríguez 1999). Bhabha stellt – ähnlich wie Fanon – das koloniale Verhältnis bzw. die Produktion des/der Anderen ins Zentrum seiner Arbeit und widmet sich einer differenzierten Betrachtung der Widersprüche innerhalb desselben. Die fundamentale These Bhabhas ist die Forderung, dass das Verhältnis zwischen Kolonisator und Kolonisierten neu gelesen werden muss. Dabei hebt Bhabha in seinen Ausführungen auf die Interdependenz zwischen Kolonisator und Kolonisierten und die wechselseitige Konstruktion ihrer selbst ab. Das koloniale Verhältnis – so Bhabha – werde nicht von binärer Opposition konstituiert, sondern sei von Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt (vgl. Hall 1997/Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002). Die Ambivalenz innerhalb des kolonialen Verhältnisses ergebe sich aus der Tatsache, dass das kolonisierte Subjekt zum einen niemals das einfache und vollkommene Gegenteil des Kolonisators sein könne und zum anderen – aus Sicht der Kolonisatoren – der koloniale Diskurs zwar Subjekte herstellen wolle, die willig die Werte und Haltungen der Kolonisatoren reproduzierten, wobei die Kolonisierten gleichzeitig nicht vollkommen deckungsgleich mit den Kolonisatoren werden dürften, da sie sonst die Hegemonie der Kolonisatoren in Frage stellten. „Bhabhas argument is that colonial discourse is compelled to be ambivalent because it never really wants colonial subjects to be exact replicas of the colonizers – this would be too threatening.“ (Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002, S. 13, Hervorhebung i.O.)
Dabei beschreibt der aus der Psychoanalyse entliehene Begriff der Ambivalenz eine Mischung aus Attraktion und Abscheu im Verhältnis zwischen Kolonisator und Kolonisierten, wobei die Ambivalenz – so Bhabha – ein nicht intendiertes, jedoch inhärentes Produkt des kolonialen Diskurses sei. Resultat dieses ambivalenten Verhältnisses sei die sogenannte Mimikry, eine Bezeichnung, die ursprünglich im Kontext der Biologie verortet ist. „When colonial discourse encourages the colonized subject to ‚mimic‘ the colonizer, by adopting the colonizer’s cultural habits, assumptions, institutions and values, the result is never a simple reproduction of those traits. Rather, the result is a ,blurred copy‘ of the colonizer that can be quite threatening. This is because mimicry is never far from mockery, since it can appear to parody what ever it mimics. Mimicry therefore locates a crack in the certainty of colonial dominance, an uncertainty in its control of the behaviour of the colonized.“ (ebd. S. 139)
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Ebenso wenig wie eine einfache Vorstellung der Binarität zwischen Kolonisator und Kolonisierten haltbar sei, könne die „Reinheit“ und die hierarchische Ordnung der Kulturen, die Teil des rassistischen kolonialen Diskurses seien, als „Tatsache“ aufrechterhalten werden. An die Stelle der Konstruktion „reiner“, abgegrenzter und essentialisierter Kulturen tritt Bhabhas Konzept der Hybridität (vgl. ebd.). Der ebenfalls aus der Biologie entlehnte Begriff der Hybridität ist dabei nicht als analytisches Konzept zu verstehen, das auf einer logischen Ebene „reine“ kulturelle Entitäten voraussetzt, sondern „eher als polemische Metapher, als ‚unreines‘ Konzept […]. Etwa so, wie sich Salman Rushdie als ‚Bastard‘ bezeichnet, d.h. als jemand, der das Unreine, Negative bewusst auf sich nimmt. Es geht dabei in erster Linie um die störende Kraft in Bezug auf die alten Essentialismen“ (Hall & Höller 1999, S. 107). Bhabha geht davon aus, dass alle kulturellen Feststellungen und Systeme in einem „Third space of enunciation“ (Bhabha zit. nach Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002, S. 118) konstruiert werden, der, wie der koloniale Diskurs, widersprüchlich und ambivalent ist. Hybridität wird somit zu einer Kategorie des Widerstandes gegen den kolonialen Diskurs, indem sie eine gegen-diskursive Praxis darstellt, die bewusst mit Vorstellungen der Homogenität bricht, die koloniale Ambivalenz betont und in Folge die Basis des kolonialen Überlegenheits-Diskurses unterminiert (vgl. ebd.). Welche Aktualität die Begriffe des kolonialen Diskurses und der postkolonialen Kritik im Rahmen einer aktuellen Gesellschaftsanalyse und im Speziellen für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit haben, lässt sich ermessen, wenn wir die Bedeutungserweiterung betrachten, die der „Kolonialismus“ im Rahmen der Postcolonial Studies erfährt. „Die Kolonialisierung war, aus dieser ‚postkolonialen‘ Perspektive betrachtet, keine lokale oder marginale Nebenhandlung innerhalb einer größeren ‚Geschichte‘ […]. In der neuinszenierten Narrative des Postkolonialismus nimmt die Kolonisation den Rang und die Bedeutung eines zentralen, umfassenden, Strukturen sprengenden welthistorischen Ereignisses ein. Als ‚Kolonisation‘ bezeichnet der ‚Postkolonialismus‘ nicht nur die direkte Herrschaft imperialer Mächte über bestimmte Gebiete der Welt. Ich denke, sie bezeichnet vielmehr den gesamten Prozess von Expansion, Erforschung, Eroberung, Kolonisation und imperialer Hegemonisierung, der die ‚äußere Gestalt‘, das konstitutive Draußen der europäischen und das der westlichen kapitalistischen Moderne seit 1492 bildete.“ (Hall 1997, S. 231)
Kolonisation bezeichnet zum einen also die materiellen Effekte der historischen Bedingung der Kolonisation, zum anderen steht auch deren expandierende diskursive Macht im Zentrum. Innerhalb dieses Diskurses werden die Kolonisierten zu Menschen „zweiter Klasse“ gemacht, unfähig, in ausreichender Form für
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sich selbst zu sorgen, was den Kolonialherren scheinbar das Recht gibt oder sie schon fast in die Pflicht zu nehmen scheint, in patriarchaler Form über sie zu herrschen (bzw. „für sie zu sorgen“). Diese diskursive Konstruktion der Kolonisierten wird bzw. wurde durch bestimmte anthropologische Theorien und die Kategorie der „Rasse“ scheinbar legitimiert und untermauert: „Colonial and imperial rule was legitimized by anthropological theories which increasingly portrayed the colonized world as inferior, childlike, or feminine, incapable of looking after themselves (despite having done so perfectly well for millennia) and requiring the paternal rule of the west for their own best interests (today they are deemed to require ‚development‘). The basis of such anthropological theories was the concept of race. In simple terms, the west-non-west relation was thought of in terms of whites versus the non-white races. White culture was regarded (and remains) the basis for ideas of legitimate government, law, economics, science, language, music, art, literature – in a word, civilization.“ (Young 2003, S. 2f)
Die Art und Weise, wie der kolonisierte Raum vor dem Hintergrund eurozentrischer, rassistischer und kolonialer Diskurse zu einem definierten Teil der „Welt“ gemacht wurde und wird, nennt Gayatri Spivak worlding (vgl. Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002/Gutiérrez Rodríguez 1999). „If […] we concentrated on documenting and theorizing the itinerary of the consolidation of Europe as sovereign subject, then we would produce an alternative historical narrative of the ‚worlding‘ of what is today called ,the Third World‘.“ (Spivak zit. nach Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002, S. 241)
Spivak arbeitet heraus, dass das Wissen über den via Differenzsetzung zum/zur „Anderen“ gemachten folglich in einem Raum entsteht, der von Macht und Herrschaft durchdrungen ist (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999). Dabei geht sie der Frage nach: „Can the Subaltern speak?“ (Spivak 1988) und stellt fest, dass das „Sprechen“ der „Subalternen“ nicht möglich ist. Der Begriff „subaltern“ wurde in diesem Zusammenhang von Antonio Gramsci übernommen, der damit die Subjekte bezeichnet wissen möchte, die der Hegemonie der herrschenden Klasse untergeordnet sind (vgl. Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002). Spivak möchte „speak“/„sprechen“ nicht im wörtlichen Sinne verstanden wissen. „Problems arise if you take this ‚speak‘ absolutely literally as ‚talk‘.“ (Spivak 1996, S. 291)
Vielmehr konstatiert sie die Unmöglichkeit der Teilhabe der „Subalternen“ an der Wissensproduktion. Samuel P. Huntington erinnert daran, wie eng die
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Machtausübung und Hegemonie des „Westens“ mit konkreter Gewalt gegenüber den Kolonisierten verbunden ist: „The West won the world not by the superiority of its ideas or values or religion but rather by its superiority in applying organized violence. Westerners often forget this fact, non-Westerners never do.“ (Huntington zit. nach Young 2003, S 32)
Welche Erkenntnisse aus den Postcolonial Studies können wir nun zusammenfassend festhalten? Bhabha erläutert, dass die Aufteilung in Kolonisator und Kolonisierte bzw. in „Wir“ und „Andere“ nicht einfach aufrechtzuerhalten ist, sondern dass diese Binarität als Produkt des kolonialen Diskurses immer von Ambivalenz geprägt ist. Die Ambivalenz ergibt sich zum einen dadurch, dass sich der Kolonisator als all das konstruiert, was der/dem kolonisierten Anderen abgesprochen wird, und umgekehrt. In diesen Dichotomisierungen gehen aber weder Kolonisatoren noch Kolonisierte völlig auf, da sie z.B. ja nicht nur Kolonisator/Kolonisierte, sondern auch Männer oder Frauen, Kinder oder Erwachsene etc. sind. Zum anderen ist die Ambivalenz auch das Produkt des kolonialen Anspruchs, die/der Kolonisierte solle die Werte, Vorstellungen, Lebensweisen usw. des Kolonialherren – im Gegensatz zu denen der Kolonisierten – als das (einzig) Wahre anerkennen und ihnen entsprechend leben. Dabei darf es jedoch niemals zu einer völligen Übereinstimmung zwischen Kolonialherr und Kolonisierter/m kommen, da sonst die koloniale Herrschaft nicht mehr gerechtfertigt werden kann, die ihre Grundlage gerade aus dem Unterschied zwischen den „überlegenen“ Kolonisatoren und den „Primitiven“ bezieht. Aus dieser Ambivalenz heraus, der Kolonisierte solle so sein wie der Kolonisator und doch nicht exakt dasselbe, ergibt sich das von Bhabha so benannte Phänomen der Mimikry. Diese erwünschte und doch nicht erwünschte Nachahmung des Kolonialherren durch die Kolonisierten wird dabei nicht selten (gewollt oder ungewollt) zu einer Persiflage. Aus der Ambivalenz des kolonialen Verhältnisses entsteht auch das, was Bhabha mit Hybridität bezeichnet. Hybridität führt er dabei als eine widerständige Kategorie gegen den kolonialen Diskurs ein, indem er in der Benutzung des Begriffes exakt mit dem bricht, was Hybridität eigentlich voraussetzt, nämlich „reine“ (kulturelle) Einheiten. Im Sinne Bhabhas ist „Kultur“ per se hybride. Spivak wendet sich durch die Prägung des Begriffs worlding besonders der diskursiven Macht des Kolonialismus zu. Sie beschreibt, wie eng die Produktion von „Wissen“ mit Macht verbunden ist, wodurch die Herstellung von „objektivem“ Wissen über „die Anderen“ und „sich“ in Frage gestellt wird. Sie konstatiert dabei, dass die „Subalternen“ keine Möglichkeit haben, an der diskursiven Herstellung von „Wahrheiten“ über die Welt mitzuwirken, indem sie konstatiert: The Subaltern cannot speak.
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2. Was ist „zwischen den Kulturen?“ Zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
Wenn in den Postcolonial Studies „Kolonialismus“ zum einen eine historische Bezeichnung ist, zum anderen aber auch eine bestimmte, immer noch aktuelle Form von Wissensproduktion und Machtausübung bezeichnet, wie kann dann der Begriff „postkolonial“ im Verhältnis dazu verstanden werden? Der Begriff des Postkolonialismus – wenn er auch als Bezeichnung eine relativ heterogene Verwendung erfährt (vgl. Slemon 1995) – „[…] bezieht sich auf einen Prozeß der Loslösung von einem ganzen kolonialen Syndrom, der viele Formen annimmt und dem sich all jene, deren Welt von diesen Phänomenen bestimmt war, wahrscheinlich nicht entziehen können: ‚Postkolonialismus‘ ist (oder sollte es sein) ein deskriptiver, kein evaluativer Begriff“ (Hulme zit. nach Hall 1997, S. 226, Hervorhebung i.O.). Er stellt ein Konzept mit zwei zueinander in Spannung stehenden Dimensionen dar: „[E]ine temporale Dimension, mit einer punktuellen zeitlichen Beziehung, beispielsweise zwischen einer Kolonie und einem postkolonialen Staat; und eine kritische Dimension, in der zum Beispiel eine postkoloniale Theorie der Kritik an einem theoretischen System entspringt.“ (Hulme zit. nach Hall 1997, S. 237)
Das Präfix „post“ in „postkolonial“ bedeutet also zum einen im wörtlichen Sinne „danach“ und bezeichnet die Zeit und die Verhältnisse nach der Dekolonisation. Zum anderen bezeichnet es ein „darüber hinaus“, „[…] eben weil sich die Beziehungen, die das ‚Koloniale‘ prägten, nicht mehr am gleichen Ort und der gleichen Bezugsposition befinden, [und wir] in der Lage [sind], uns nicht nur gegen sie zu stellen, sondern sie zu kritisieren, zu dekonstruieren und den Versuch zu unternehmen, ‚über sie hinaus zu gehen‘“ (Hall 1997, S. 238). Folgen wir der Definition der Postkolonialität nach Ha (1999, S. 84) als „eine[r] politisch motivierte[n] Analysekategorie der historischen, kulturellen und diskursiven Aspekte des unabgeschlossenen Kolonialdiskurses“, wird deren Relevanz auch im bundesdeutschen Kontext deutlich. Wenden wir uns vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von postkolonialer Kritik wieder dem zentralen Gegenstand dieser Arbeit zu: der (Ethno)Psychoanalyse und der interkulturellen psychoanalytischen Therapie als diskursive Praktiken in Bezug auf die „Anderen“ (i.e. Menschen „aus anderen Kulturen“). Welche Möglichkeiten eröffnet nun die Einführung der postkolonialen Perspektive im Rahmen einer kritischen Betrachtung dieser Praktiken? Die Einführung des postkolonialen Diskurses markiert einen Wandel innerhalb der Diskurse über Kultur, Interkulturalität und das (produzierte) Wissen über „Andere“. Kultur wird als etwas „Unreines“, Konstruiertes und folglich Veränderbares verstanden; Interkulturalität wird auf der Ebene von Differenzverhandlungen betrachtet und ebenso wie Wissen(schaft) in Strukturen von
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Macht und Herrschaft verortet. Der postkoloniale Diskurs ermöglicht es durch diesen theoretischen Perspektivwechsel, wichtige Fragen an die psychoanalytische Theorie und Praxis im Umgang mit den „Anderen“ zu stellen:
Wie (mittels welcher Prozesse) wird in (ethno-)psychoanalytischer Theorie und in interkultureller psychoanalytischer Praxis der/die „Andere“ konstruiert? Welche Eigenschaften werden dem/der „Anderen“ in der Kontrastierung zugeschrieben? Wie wird die Produktion des (ethno-)psychoanalytischen Wissens über sich und andere reflektiert? In welchen Kontext wird diese Wissensproduktion gestellt?
3 Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
„[… Freud] wird […] als jemand identifiziert, der zu einem Ort und zu einer Zeit gehört, die noch nicht besonders mit dem Phänomen zu tun hatten, das wir heutzutage – in unserem postmodernen, poststrukturalistischen, postkolonialistischen Jargon – das Problem des Anderen nennen würden. Natürlich stand Freud im Banne all dessen, was außerhalb der Grenzen von Vernunft, Konvention und natürlich außerhalb des Bewusstseins angesiedelt ist: Sein ganzes Werk befasst sich in diesem Sinne mit dem Anderen, aber immer mit einem Anderen, der vor allem für Leser wiedererkennbar war, die wie er selbst mit den griechisch-römischen Klassikern und der hebräischen Antike sowie damit, was später die verschiedenen modernen europäischen Sprachen, Literaturen, Wissenschaften, Religionen und Kulturen daraus entwickelt haben, vertraut waren.“ (Said 2002, S. 215)
Gegenstand der vorangegangenen Kapitel war der Kulturbegriff innerhalb der Cultural Studies mit seinen entsprechenden theoretischen wie praktischen Konsequenzen. Es wurde deutlich, wie der/die „Andere“ mittels sozialer Konstruktionsprozesse entsteht und welche Bilder von ihr bzw. ihm erschaffen werden. Diese Perspektive, die zu Freuds Zeiten, wie Edward Said im einführenden Zitat bemerkt, nicht eingenommen werden konnte, möchte ich in dieser Arbeit einführen, um eine kritische Rezeption nicht nur Freudscher, sondern auch neuerer psychoanalytischer Konzepte zum Thema Kultur bzw. Interkulturalität zu ermöglichen. Es würde der Psychoanalyse nicht gerecht, stellte ich sie hier als homogenes theoretisches Modell dar, das sie schon aufgrund ihrer Geschichte und der Diskussionsfreudigkeit ihrer „GründerInnengeneration“ nicht sein kann. Es entwickelten sich über die Zeit hinweg bis heute verschiedene Strömungen und Schulen (vgl. Kapitel 3.1). Wohl wissend, dass dies ungenau ist, werde ich der Einfachheit halber über weite Teile der Arbeit hinweg trotzdem von der Psychoanalyse sprechen. In der Betrachtung psychoanalytischer Theorie geht es mir besonders um die zwei folgenden Fragestellungen:
K. Hörter, Die Frage der Kultur, DOI 10.1007/978-3-531-93071-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Wie lässt sich das Spannungsfeld zwischen Medizin und Sozialwissenschaft beschreiben, in dem sich die Psychoanalyse befindet? Und den Schwerpunkt lege ich auf die Frage: An welchen Stellen wendet sich psychoanalytische Theorie systematisch dem Themenkomplex Kultur/Interkulturalität zu und welche Aussagen werden hierzu getroffen? Um erstere Frage zu beantworten, werde ich in Kapitel 3.1 einen kurzen Abriss über die verschiedenen wichtigsten psychoanalytischen Schulen geben und ihre theoretischen Implikationen erläutern. In Kapitel 3.2 und 3.3 werde ich ausgehend von der Debatte um die Universalität des Ödipuskomplexes bis hin zur aktuellen Ethnopsychoanalyse eine Linie ziehen und die Aussagen, die hier über die „Anderen“ getroffen werden, durch die Brille der Cultural Studies und der Postcolonial Studies hindurch betrachten. Einschränkend bleibt zu dieser Arbeit zu sagen, dass, wenn es um Konzeptionen und Begrifflichkeiten im Bereich der Kultur geht, Theorien aus dem Feld der Psychoanalytischen Sozialpsychologie sicherlich von Bedeutung sind. Dieser Bereich wird hier jedoch nur am Rande behandelt, da ich mich entlang der Rezeptionsverläufe orientiert habe, die sich von Freudscher Kulturtheorie über die Ethnopsychoanalyse bis hin zur interkulturellen psychoanalytischen Therapie (Kap. 4 und 5) ziehen. Anders als die Ethnopsychoanalyse wird die Psychoanalytische Sozialpsychologie im Praxisfeld kaum rezipiert. 3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode? „Kultur und Glück – so spricht man nicht zu Internisten“ (Reik 1930, S. 233)
Beim Lesen psychoanalytischer Überblickswerke wird eines klar: von der Psychoanalyse als einheitlicher Metatheorie kann nicht gesprochen werden. Psychoanalytische Theorien von Freud bis heute veränderten sich über die Zeit hinweg und wurden maßgeblich von theoretischen Strömungen und gesellschaftlichen Bedingungen von außen beeinflusst sowie durch innere Diskussionen geprägt. So heterogen die Psychoanalyse ist, so verschieden lauten auch die Antworten auf die Frage, ob die Psychoanalyse eher in einem sozialwissenschaftlichen Kontext verortet werden kann oder primär eine Theorie zur Erklärung der Entstehung von „Neurosen“ und eine Methode zur Behandlung „psychischer Störungen“ darstellt. Entlang dieser Fragestellung möchte ich an dieser Stelle die wichtigsten psychoanalytischen Strömungen in aller Kürze darstellen (eine ausführlichere Darstellung findet sich z.B. bei Mertens 1997a), die sich unterscheiden „hinsichtlich bestimmter Überzeugungen, z.B. was die Auffas-
3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode?
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sung bezüglich der Natur des Menschen, des impliziten oder expliziten Gesellschaftsbildes, des Einflusses der Sozialisation, des Verhältnisses von bewußten zu unbewußten seelischen Vorgängen und Inhalten und bezüglich vieler behandlungstechnischer Modalitäten anbelangt“ (ebd. S. 15). Thomä und Kächele (2006, S. 41) halten fest, „[e]s sei die Stellung des Es in Theorie und Praxis“, die den entscheidenden Unterschied zwischen den verschiedenen Schulrichtungen ausmache. Sigmund Freud legte 1895 mit seinem Entwurf einer Psychologie und den gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie den Grundstein für eine psychoanalytische Theoriebildung. In seiner sogenannten Triebund Strukturtheorie entwickelte er ein Bild des Menschen, dessen Sein maßgeblich von Konflikten geprägt ist. Ursache dafür seien, so Freud, die menschlichen Triebimpulse – Libido und Todestrieb –, die den Antrieb für alles Handeln darstellten. Der Konflikt entstehe an der Stelle, an der der Mensch bereits als Kind aufgrund der gesellschaftlichen Anforderungen, die in der Regel durch die Eltern repräsentiert würden, Triebverzicht leisten müsse. Dieser Verzicht gelinge jedoch häufig nicht, und aus Angst vor Bestrafung fänden beim Kind Prozesse der Verdrängung und der unbewussten Phantasiebildung statt. Bei entsprechender Anregung durch Reize in der Außenwelt könne es zum Durchbruch der dann an ein Symptom gebundenen Triebwünsche kommen. Freud geht davon aus, dass der Konflikt zwischen kindlichen Triebwünschen und gesellschaftlichen Anforderungen genuin angelegt sei (ausführlicher in Kapitel 3.2), wobei es die „Aufgabe der Sozialisation und der Kulturarbeit [sei], den Menschen kulturfähig zu machen, der als ‚polymorph perverses‘, habenwollendes, aggressives und seine Wünsche mit Nachdruck durchsetzendes Geschöpf auf die Welt kommt“ (Mertens 1997a, S. 18). Freud selbst stellt in Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität (i.O. 1908, S. 18) fest: „Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder Einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden. Außer der Lebensnot sind es wohl die aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche die einzelnen Individuen zu diesem Verzicht bewogen haben.“
Hier wird deutlich, dass Freud selbst eine psychoanalytische Theorie der Gesellschaft mit einer klinischen Theorie der Neurosenentstehung untrennbar zusammen dachte, was auch den Ausgangspunkt für seine Gesellschaftskritik bildete (vgl. König 1983, Mertens 1997a).
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
„Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch Sozialpsychologie in diesem Sinne.“ (Freud 1974a, i.O. 1921, S. 65)
Seine kritische Sozialpsychologie bezog sich auf Institutionen wie das Militär oder auch die Kirche, die ein hohes Ausmaß an Triebunterdrückung vom Menschen forderten (vgl. Kap. 3.2). Dazu bemerkt Mertens (1997a, S. 19) allerdings einschränkend: „Aus der Sicht einer ideologiekritischen Psychoanalyse, deren Keime Freud selbst gesetzt hat, blieb er in seiner Analyse der Selbstverdinglichung des Menschen dabei freilich auf halbem Wege stecken; ihm gelang es nicht, die Verschleierung und Rationalisierung von Machtverhältnissen, die sich als naturnotwendig ausgeben, mit der gleichen ideologiekritischen Schärfe zu analysieren, wie ihm dies für die individualpsychologischen Verhältnisse möglich war.“
Während des Nationalsozialismus emigrierten viele PsychoanalytikerInnen, so dass sich in den 40er bis 60er Jahren das Zentrum psychoanalytischen Denkens und Forschens in die USA verlagerte. Dort konnte sich auch die IchPsychologie, deren Grundstein Anna Freud schon 1938 mit ihrem Werk Das Ich und die Abwehrmechanismen legte, durch Theoretiker wie David Rapaport und Heinz Hartmann etablieren. Im Fokus der Ich-Psychologie steht die Frage nach der Adaption und den „angemessenen Abläufen der verschiedenen IchFunktionen“ (Mertens 1997a, S. 19), oder anders formuliert: „Wie werden die ursprünglich auf Lustbefriedigung abzielenden und nur wenig Aufschub duldenden Triebimpulse an die spezifischen sozialen Bedingungen und Erfordernisse einer Gesellschaft angepaßt?“ (ebd., S. 20)
Zwei Theoriebestandteile, die die Triebtheorie deutlich modifizierten, trugen der Ich-Psychologie den Vorwurf der mangelnden Gesellschaftskritik ein. Zum einen wurde die Betonung der Anpassung an eine als „durchschnittlich zu erwartend[...]“ (Erikson zit. in ebd.) charakterisierte Umwelt als Plädoyer für eine „unkritische Anpassung an die bestehenden Verhältnisse“ (ebd., S. 21) gewertet. Zum anderen war es die Annahme, der Mensch verfüge zu Beginn seiner Entwicklung über einen von Konflikten freien psychischen Kern, die „bei Kritikern der Ich-Psychologie zu der Einschätzung [geführt habe], diese sei revisionistisch und habe sich aus pragmatischen Gründen der positivistischen Entwicklungsund Persönlichkeitstheorie der amerikanischen Universitäts-Psychologie angepaßt“ (ebd.).
3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode?
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Bei Melanie Klein (1882–1960) und ihren SchülerInnen findet sich eine Rückbewegung und Radikalisierung Freudscher Triebtheorie unter besonderer Betonung des Aggressionstriebes. Klein geht davon aus, das „Neugeborene [verfüge] über ein Szenarium innerer Beziehungsformen (= Objektbeziehungen) eines aggressiven und sexuellen Umgangs mit Körperteilen hauptsächlich der Mutter“ (Mertens 1997a, S. 24, Hervorhebung i.O.). Der politische bzw. gesellschaftskritische Aspekt dieser psychoanalytischen Strömung ergebe sich, so Mertens (ebd.), aus der Sicht auf den Menschen, dessen starke Trieb- und Affektanteile in jeder Theorie berücksichtigt werden müssten, die auf eine Veränderung politischer Verhältnisse abzielt. Ein Appell an die Vernunft des Menschen alleine genüge nicht. Die kleinianische Theorie stellt eine Verbindung zwischen Freudscher Triebtheorie und den Objektbeziehungstheorien dar, in denen die Bedeutung der triebhaften Impulse im Allgemeinen nicht geleugnet wird; dennoch verschiebt sich in ihnen der Blickwinkel auf den Menschen, dessen zutiefst soziales Wesen den größten Beitrag zum Verständnis menschlichen Seins leiste. Diese Theorien wurden größtenteils von britischen Theoretikern wie Ronald Fairbairn und Donald Winnicott (vgl. auch Kap. 3.3.6) entwickelt, später aber auch in den USA von AnalytikerInnen wie Otto Kernberg oder Margaret Mahler rezipiert und weiterentwickelt. ObjektbeziehungstheoretikerInnen modifizierten ebenso wie die IchPsychologInnen das Freudsche Konzept der Reifung und Entwicklung und ersetzten es durch die Begriffe der Sozialisation und Enkulturation. Anders als in der Ich-Psychologie wird in den Objektbeziehungstheorien jedoch kein kognitivistisch verzerrtes Bild des Menschen entworfen (vgl. Mertens 1997). Bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts plädierte Harry Stuck Sullivan (1892–1949) für einen intensiveren interdisziplinären Austausch zwischen der Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften. So beeinflussten Theorien und Gedanken von George Herbert Mead, Michel Foucault (vgl. Kap. 2.2) und anderen DenkerInnen das Konzept der Interpersonellen Psychoanalyse. Dieser liegt ein Bild vom Menschen zugrunde, das sich noch radikaler als die Objektbeziehungstheorien, unter die sie von einigen AutorInnen subsumiert wird (vgl. z.B. Kernberg 1995), auf den Beziehungsaspekt menschlichen Seins konzentriert. Es könne, so die interpersonelle Richtung, kein abgegrenztes Ich geben, wie es noch das cartesianische Weltbild fordert. Vielmehr gilt die Intersubjektivität, die Verschränkung der Perspektiven zweier Subjekte, die als aufeinander bezogen verstanden werden, als der Bezugspunkt. „In Abwandlung des berühmten Freudschen Diktums: ‚Wo Es ist, soll Ich werden‘, heißt es bei den Interpersonalisten: ‚Wo Ich ist, soll Beziehung werden‘.“ (Mertens 1997a, S. 39)
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Auch wenn Mertens (ebd.) der Interpersonellen Psychoanalyse gewisse utopische Züge zuschreibt, so bezieht sie dennoch in hohem Maße den Menschen auf seine soziale und somit auch gesellschaftliche Umwelt. Wenn von dem/der Anderen als Subjekt gesprochen wird, hat dies nicht nur für die Erkenntnistheorie Konsequenzen, sondern es lenkt auch automatisch den Blick auf die Lebensbedingungen und die gesellschaftliche Konstruktion der Subjekte. In der Selbstpsychologie, die vor allem von Heinz Kohut (1913–1981) vorangetrieben wurde, verschiebt sich der Blick auf den Menschen abermals, und ins Zentrum des Interesses rückt die Frage danach, wie der Mensch das Gefühl eines kohäsiven Selbst aufrechterhalten kann. Der veränderte Schwerpunkt lässt sich als eine Reaktion auf die veränderten Problematiken der PatientInnen verstehen, denn „Patienten, die an Hysterie und Zwangsneurose erkrankt waren, [wurden] immer seltener. Es mehrte sich hingegen die Zahl der Patienten, die an diffusen Beschwerden wie Arbeitsstörungen, Neigungen zu perversen Handlungen oder hypochondrischen Ängsten, an Gefühlen von Leere, Sinnlosigkeit oder Depression litten“ (Köhler 1995. S. 115). In Kohuts Vorstellung ist der Urgrund kindlicher pathologischer Entwicklung die mangelnde Empathie der Eltern oder ihr Versagen als sogenannte narzisstische Selbstobjekte. Die Version der Selbstpsychologie, die Kohut vertrat, bewertet Mertens (1997a, S. 32) als „[e]inseitig und ideologisch“. Die Selbstpsychologie stieß auf den Widerstand vieler PsychoanalytikerInnen, als sie den Anspruch auf ein umfassendes Erklärungsmodell erhob; sie wurde erst durch die erneute Berücksichtigung von Trieben und Affekten als Bereicherung im Rahmen psychoanalytischer Theoriebildung erlebt. Wenn es auch der Verdienst der Selbstpsychologie war, den Blick dafür zu schärfen, wie viel feinfühlige Unterstützung ein Kind durch seine Eltern und andere relevante Bezugspersonen benötigt, wird ihr gegenüber immer wieder der Vorwurf laut, den gesellschaftskritischen Ansatz Freuds zu glätten. „Ohne es bewusst zu intendieren, sprechen manche Theoretiker der Selbstpsychologie dem Menschen andererseits seine aufrührerischen und aufständischen Wünsche ab, wenn sie das in seinem Selbstwert traumatisierte Kind ausschließlich als Opfer der Uneinfühlsamkeit seiner Eltern definieren. Kritiker der Selbstpsychologie haben Kohut und seinen Schülern deshalb auch den Vorwurf gemacht, daß sie das dialektisch-emanzipatorische Potential der klassischen Psychoanalyse mehr oder weniger aufgegeben hätten, indem sie sich in ihrem Menschenbild dem naivoptimistischen und ideologischen Glauben der humanistischen Psychologie angenähert haben. Einer nur auf harmlose Selbstverwirklichung bedachten Menschennatur steht eine repressive Gesellschaft in Gestalt uneinfühlsamer Eltern gegenüber, wobei weder die anthropologischen Prämissen kritisch untersucht noch die Entstehungsbedingungen von Unterdrückung aus einem ökonomischen und gesellschaftstheoretischen Blickwinkel zum Thema werden.“ (Mertens 1997a, S. 33)
3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode?
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Ganz im Gegensatz dazu legt die Lacansche Psychoanalyse, auf die sich auch Stuart Hall in seiner sogenannten Semiotik 2 (vgl. Kap. 2.3.2 ) bezieht, die Betonung auf die soziale Konstruktion menschlichen Begehrens. Lacan, dessen Verständnis von Psychoanalyse vom Strukturalismus und Poststrukturalismus geprägt wurde, beanspruchte für sich, Freuds Konzeption des Unbewussten richtig zu „lesen“ (vgl. Mertens 1997a). Parker (1997) beschreibt Lacans Arbeiten jedoch nicht als Rückkehr zu Freud, sondern als eine Neudarstellung früher Freudscher Schriften unter Einbezug von Phänomenologie und struktureller Linguistik. Lacan postuliert, das Unbewusste sei wie eine Sprache konstruiert, in deren Strukturen alleine sich das menschliche Begehren äußern könne. Folglich werde jedes Begehren durch das Begehren anderer Menschen (z.B. der primären Bezugspersonen) geprägt, da Sprache ein zutiefst soziales Phänomen sei. Also sei es eine Illusion, von einem eigenen „Ich“ zu sprechen, das ja immer schon durch den/die begehrende/n Andere/n entfremdet sei. Die Psychoanalyse stelle „eine Methode dar, das soziale Hergestelltsein von Leidenschaft zu entschlüsseln“ (Mertens 1997a, S. 27), was ihren Charakter als Gesellschaftswissenschaft unterstreicht. Die Sozialwissenschaftliche Psychoanalyse (vgl. Görlich 1983, Mertens 1997a) oder (unter Verschiebung des Akzentes) anders benannt die Psychoanalytische Sozialpsychologie (vgl. Fromm 1932, Keupp 1995, Zepf 2006) legt dezidiert ihr Augenmerk auf „eine dialektische Vermittlung von individuellen und sozialen Prozessen“ (Keupp 1995, S. 256). Frühe Vertreter dieser Richtung waren Siegfried Bernfeld, Hans Blüher, Paul Federn, Otto Fenichel und Wilhelm Reich. Weiterentwickelt und – was deren besonderen Verdienst ausmacht – interdisziplinär verankert wurde sie von Erich Fromm, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, die zugleich die Kritische Theorie vertraten. Adorno und Marcuse waren es auch, die nach der Vertreibung vieler PsychoanalytikerInnen aus dem nationalsozialistischen Deutschland durch ihre spätere Rückkehr aus der Emigration für die Kontinuität dieses Denkens sorgten. Alexander und Margarete Mitscherlich förderten den Wiederausbau der Analytischen Sozialpsychologie. Ihre Schüler Peter Brückner, Thomas Leithäuser, Alfred Lorenzer und Klaus Horn entwickelten sie weiter, und bis heute lässt sich die Linie über Helmut Dahmer bis hin zu VertreterInnen der Ethnopsychoanalyse wie der Gruppe um Paul Parin, Mario Erdheim und Maja Nadig (siehe auch Kap. 3.3.3 bis 3.3.5 der vorliegenden Arbeit) ziehen (vgl. Keupp 1995). Der Begriff der Analytischen Sozialpsychologie wurde von Fromm (1932) eingeführt „und wurde von ihm für psychoanalytische Unternehmungen geprägt, in denen versucht wird, die gesellschaftliche Produktion und Funktion des Unbewussten zu erkunden“ (Zepf 2006, S. 197). Keupp (1995) definiert Übereinstimmungen
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
und Unterschiede zwischen „klassischer“ (i.d.R. experimenteller) und analytischer Sozialpsychologie folgendermaßen: Sozialpsychologie befasse sich allgemein mit dem Erleben und Verhalten bzw. Handeln von Menschen in ihrem gesellschaftlichen Kontext, hier auch die Übereinstimmung der Richtungen. Psychoanalytische Sozialpsychologie stelle aber auch im Umkehrschluss die Frage danach, wie Subjekte die Wahrung ihrer „naturhaften“ Bedürfnisse sicherten, die sie „in die Gestaltung von sozialen Rollen und Tätigkeiten einbringen“ (ebd., S. 256). Die Besonderheit der analytischen Sozialpsychologie bestehe in der Annahme einer dialektischen „Vermittlung individueller und gesellschaftlicher Prozesse“ (ebd., Hervorhebung i.O.), wobei die jeweiligen Momente (die „Natur“ des Menschen vs. die gesellschaftlichen Einflüsse) in ihrer Untersuchung nie scharf zu trennen seien. Klaus Horn geht davon aus, dass die „naturhaften“ Anteile des Menschen nie in reiner Form beobachtbar seien, sondern nur in einer Form, die gesellschaftlich vermittelt sei, sichtbar werden (vgl. ebd.). Um Freuds „(tendenziellen) Biologismus“ zu überwinden, vertritt Alfred Lorenzer einen Triebbegriff, bei dem der Trieb selbst nicht als „ahistorische Naturkonstante“ zu verstehen sei, „sondern immer [als] gesellschaftlich und geschichtlich hergestellt, beginnend mit der konkreten Mutter-Kind-Interaktion“ (Mertens 1997a, S. 30). Dennoch, so formuliert Klaus Horn, der damit einen zentralen Gedanken Freudscher Kulturtheorie aufgreift, gehe die naturhafte Seite des Menschen nie vollkommen in der gesellschaftlichen Vermittlung bzw. Bearbeitung auf (vgl. Keupp 1995), was das (gesellschafts-)kritische Potenzial der Analytischen Sozialpsychologie ausmacht. Trotz dieser Tatsache und der hohen Erklärungskraft, die auf der Grundlage dieser Strömung getroffene Aussagen bezüglich bedeutsamer gesellschaftlicher Ereignisse haben (z.B. bzgl. der Entstehung des Faschismus), findet die psychoanalytische Sozialpsychologie in die Gesamtheit der psychoanalytischen Szene nur wenig Eingang und führt eine eher randständige Existenz. Zepf (2006) führt an, dass nur in einem Anteil von 1,2 % der zwischen 1920 und 1998 erschienenen Artikel in den einschlägigen englischsprachigen analytischen Fachzeitschriften der Begriff der social psychology fällt. Aktuell gibt es im deutschsprachigen Raum eine kleine Szene, die sich mit psychoanalytischer Sozialpsychologie beschäftigt, wie z.B. die Gruppe um Rolf Haubl (z.B. Habermas & Haubl 2008), die den gesellschaftskritisch bedeutsamen Kern Freudscher Theorie wieder ins Zentrum des Interesses rückt. Zu dieser Gruppe gehört auch Hans-Joachim Busch (z.B. 2001a), der sich mit der Anwendung der psychoanalytischen Sozialpsychologie mit dem Ziel einer Gegenwartsanalyse und den damit verbundenen konzeptuellen Problemen beschäftigt. Auch Bernard Görlich ist zu nennen, der ehemals Assistent von Alfred
3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode?
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Lorenzer war und 1980 gemeinsam mit diesem und Alfred Schmidt das Buch Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus-Kritik herausgab. Im englischsprachigen Raum sind einige Autoren zu nennen, die sich mit Psychoanalyse über den medikalisierten Bereich hinaus befassen. Michael Billig wendet Modelle und Methoden aus der psychoanalytischen Sozialpsychologie an, um die Verknüpfung zwischen individueller psychischer Struktur und offizieller Propaganda innerhalb neo-faschistischer Bewegungen in Großbritannien zu analysieren (vgl. ders. 1978). In seinem neueren Buch Freudian Repression. Conversation Creating the Unconscious (1999) befasst er sich mit Freudschen Falldarstellungen, also klinischem Material, formuliert in seinem diskursanalytischen Vorgehen den Prozess der Verdrängung neu und geht weit über eine klinisch-psychoanalytische Betrachtungsweise hinaus, indem er Verdrängung weniger als inneren, denn als der Sprache und dem Sprechen inhärenten Prozess darstellt. „Repression is not a mysterious inner process, regulated by an internal structure as the ‚ego‘. It is much more straightforward. Repression depends on the skills for repressing, while, at the same time, it demands that we practise those skills. In this respect, language is inherently expressive and repressive.“ (ebd., S. 1)
Stephen Frosh, sowohl im akademischen (University College of London) als auch im klinischen Kontext (Tavistock Clinic) verortet, behandelt in seiner Betrachtung psychoanalytischer Theorie sowohl klinische als auch gesellschaftliche Aspekte (vgl. z.B. Frosh 1991, 1997 & 2005). Sein Buch The Politics of Psychoanalysis. An Introduction to Freudian and Post-Freudian Theory (1987) setzt die Hauptentwicklungslinien psychoanalytischer Theorie in Bezug zu sozialwissenschaftlichem Denken. In seinem später entstandenen Werk Identity Crisis. Modernity, Psychoanalysis and the Self (1991) setzt er das Konzept des Selbst innerhalb psychoanalytischer Theorien mit modernen und postmodernen Selbst-Konstruktionen in Beziehung und kommt zur Auffassung: „Psychoanalysis, therefore, endorses the struggle for self, an endorsement which on the whole brings it closer to modernist than to postmodernist approaches.“ (ebd., S. 190)
Auch der Frosh nahe stehende Anthony Elliott setzt psychoanalytische Theorie in Bezug zum sozialen Kontext und den sich seit Freud weiterentwickelten Theorien über Subjekt und Gesellschaft, wie dem Post-Modernismus und dem PostStrukturalismus (vgl. z.B. Elliott 1992, Elliott & Spezzano 2000, Elliott 2004a & 2004b). Elliott und Spezzano (2000) sprechen sich für eine Weiterentwicklung psychoanalytischer Theorie aus:
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
„The development of a postmodern orientation to psychoanalysis is intended to draw attention to the decline of traditional, modernist approaches to knowledge and experience. Such a decline, however, is not coterminous with its disintegration. On the contrary, the contributions in this book highlight that what is emerging today is a kind of psychoanalysis of psychoanalysis: a running together of modernist and postmodernist psychoanalytical currents, the rediscovery or reinvention of psychoanalysis as a vibrant theory and practice, the sharpening and differentiation of models of mind, the restructuring of methodology, and the rethinking interactional configurations in which the self is understood in relation to others [...].“ (ebd. S. 3, Hervorhebungen i.O.)
Ian Parker (z.B. 1997), der nicht im engeren Sinne der psychoanalytischen Sozialpsychologie zuzuordnen, sondern als Vertreter der Kritischen Psychologie zu betrachten ist (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Ian_Parker_(psychologist) und http://www.psychology.mmu.ac.uk/staff/psychology_academic/pr_ian_parker. htm, letzter Zugriff: 24.2.2009), vertritt ein diskurstheoretisches Bild der Psychoanalyse, indem er sie selbst als diskursive Praxis innerhalb der westlichen Gesellschaften betrachtet (vgl. auch Kap. 2.2). Er geht davon aus, dass die Entwicklung des Kapitalismus in Nordamerika und Europa einen fruchtbaren Boden für das Modell eines psychoanalytischen Subjekt-Verständnisses lieferte. „Psychoanalysis provided a vocabulary for the experience of self that was provoked by an economic system that operates much of the time out of people’s control, cloaked and encouraged by a cultural climate of commodification and individualization [...].“ (Parker 1997, S. 3)
Die Frage nach der Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses (vgl. auch Kap. 3.3.5) legt einen besonderen Schwerpunkt in der Debatte um die Frage, was als allgemein menschliche psychische Ausstattung anzunehmen sei und was durch die Umwelt „einsozialisiert“ wurde. Während Freud selbst das Mädchen/die Frau als defizitären Jungen/Mann darstellte, wurde diese Vorstellung bereits von Freuds ZeitgenossInnen, besonders Karen Horney und Ernest Jones, kritisiert. Das Erstarken der Frauenbewegung in der 1970ern sorgte für eine Neuauflage dieser Diskussion (vgl. Rohde-Dachser 1995), die sowohl von feministischen Psychoanalytikerinnen als auch von Sozialwissenschaftlerinnen, die der Psychoanalyse nahe standen, geführt wurde. Wichtige Vertreterinnern sind beispielsweise Jessica Benjamin, Judith Butler, Nancy Chodorow, Vera King, Julia Kristeva, Karin Flaake und Christa Rohde-Dachser (vgl. Mertens 1997a). Auf der entwicklungspsychologischen Ebene ist die differenzierte Wahrnehmung der geschlechtsspezifischen Entwicklung beider Geschlechter der Verdienst dieser Strömung, wofür besonders Nancy Chodorows Buch Das Erbe der Mütter (1994, i.O. 1978) von bahnbrechender Bedeutung war. Anders als Freud
3.1 Psychoanalyse – Gesellschaftstheorie oder Heilmethode?
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geht sie nicht davon aus, dass Mädchen und Junge von Geburt an gleich – nämlich männlich – seien, sondern sie geht von einer „Asymmetrie der Geschlechter“ (Rohde-Dachser 1995, S. 132, Hervorhebung i.O.) aus. Die Bedeutung feministischer Psychoanalyse ist aber auch auf einer ideologiekritischen Ebene zu verorten, auf der die bis dahin praktizierte und theoretisierte Psychoanalyse als patriarchale Theorie dekonstruiert wird und versucht wird, „die unbewußten Phantasien zu bestimmen […], die den verschiedenen Konzeptionen, angefangen bei Freud bis hin zu Lacan, zugrunde liegen. Kritisiert wird vor allem das männliche Wahrnehmen und Denken, das als geschlechtsbefangene Form des Daseins zu entlarven ist“ (Mertens 1997a, S. 35). Die feministische Psychoanalyse trifft also sowohl Aussagen über die psychische Entwicklung von Menschen als auch über den gesellschaftlichen Kontext und beleuchtet kritisch die Bildung von Theorien in einem patriarchalen Gesellsellschaftsgefüge. Sie ist also klinische Theorie und Gesellschaftskritik in einem. Wie aus dem vorangegangenen Überblick ersichtlich wurde, kann eine einheitliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ob die Psychoanalyse „nur“ ein Ansatz zur Erklärung der Entstehung von Neurosen und zur Behandlung derselben sei oder auch eine Gesellschaftstheorie darstelle, nicht gegeben werden, da sich die verschiedenen psychoanalytischen Richtungen diesbezüglich stark unterscheiden. Mertens (1997a) geht davon aus, dass der Theorienpluralismus dadurch zu erklären sei, dass sich die Psychoanalyse – historisch gesehen – weiterentwickelt habe und sich nun in einer präparadigmatischen Phase befinde. Ebenso plausibel erscheint mir jedoch das Argument, das er als ein weiteres anführt: Unter postmodernen Bedingungen sind immer und überall gültige Theorieentwürfe nicht mehr haltbar (vgl. ebd.). Innerhalb der Psychoanalyse wurde von verschiedener Seite Kritik an der hauptsächlich medizinischen Ausrichtung der aktuellen VertreterInnen geübt. Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy (2000, S. 62) nannten „die Ausrichtung auf ein Denken in Begriffen von Krankheit, Gesundheit, Heilung und Normalität […] Medicozentrismus“. Diesen Medicozentrismus verstehen Parin und Parin-Matthèy als „Deformation“ (ebd.) psychoanalytischer Theorie. Freud (i.O. 1926, S. 338f) selbst vertrat einen eindeutigen Standpunkt bezüglich der Positionierung der Psychoanalyse in der wissenschaftlichen Landschaft. „Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgiltige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde, im Kapitel Therapie, neben Verfahren wie hypnotische Suggestion, Autosuggestion, Persuasion, die, aus unserer Unwissenheit geschöpft, ihre kurzlebigen Wirkungen der Trägheit und Feigheit der Menschenmassen danken. Sie verdient ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als ‚Tiefenpsychologie‘, Lehre vom seelisch Unbewussten, kann sie all den Wissenschaften unent-
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
behrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen. Ich meine, sie hat diesen Wissenschaften schon bis jetzt ansehnliche Hilfe zur Lösung ihrer Probleme geleistet, aber dies sind nur kleine Beiträge im Vergleich zu dem, was sich erreichen ließe, wenn Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben. Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dies Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt.“
Der vorangegangene Abschnitt diente einem allgemeinen Überblick über die Strömungen der Psychoanalyse und ihre Anwendungsbereiche, um zu zeigen, wie breit gefächert und auch in den theoretischen Annahmen widersprüchlich dieses Feld ist. Im Folgenden werde ich mich mit „kulturspezifischeren“ Aspekten beschäftigen und Freuds Kulturtheorie in ihren wichtigsten Zügen darstellen. 3.2 Freuds Kulturtheorie: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ und „Das Unbehagen in der Kultur“ „Welcher Macht könnte man aber diese Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles in der Welt zusammenhält?“ (Freud 1921, S. 87) „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“ (Freud 1930, S. 270)
Freuds Interesse am Seelenleben des Menschen bezieht sich auf zwei für ihn als untrennbar zu denkende Ebenen – die des Individuums und die der Kultur/Gesellschaft. Mertens (1997a, S. 91) hält fest, Freud sei „zwar auch daran gelegen, den individuellen Patienten von seinem neurotischen Elend zu befreien, aber mehr noch interessierte er sich dafür, wie die Neurose des einzelnen durch gesellschaftliche Institutionen bedingt ist“. Diese Fragestellung zieht sich implizit wie explizit durch seine frühen bis hin zu seinen späten Werken. Bereits in seinem 1908 erschienenen Werk Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität stellt er eine Verbindung zwischen den von ihm so benannten „kulturellen“ Bedingungen und Anforderungen an den Menschen und der Entstehung spezifischer neurotischer Entwicklungen her. Die Linie zieht sich weiter über
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Totem und Tabu (1912–13), Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Die Zukunft einer Illusion (1927), Das Unbehagen in der Kultur (1930) und Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen (1939), um die wichtigsten Arbeiten zum Themenkreis Gesellschaft und (damit in Freuds Theorie eng verbunden) Religion zu nennen. In diesem Kapitel, das sich mit Freudscher Kultur- bzw. Gesellschaftstheorie befasst, beziehe ich mich ausführlicher auf Massenpsychologie und Ich-Analyse und Das Unbehagen in der Kultur, da sie die beiden theoretischen Hauptlinien zu diesem Thema beinhalten. Das ethnologisch spekulierende Werk Totem und Tabu stelle ich in Kapitel 3.3.1 als Ausgangspunkt der Debatte um die Universalität des Ödipuskomplexes dar. In dem 1921 erschienenen Massenpsychologie und Ich-Analyse bezieht sich Freud auf Le Bons Arbeit Psychologie der Massen (1932, i.O. 1913) und unternimmt den Versuch, Erklärungslücken bei Le Bon theoretisch auszufüllen. Dabei verfolgt Freud zwei Linien: „Wie schon im Titel angedeutet, ist das Werk in zweierlei Richtung wichtig. Einerseits erklärt es die Massenpsychologie auf Grund der Veränderungen in der Psyche des Individuums. Andererseits führt Freud darin seine Erforschung der Psyche, die in Jenseits des Lustprinzips [...] schon angedeutet worden war und später in Das Ich und das Es umfassend behandelt werden sollte, um eine Etappe weiter.“ (Mitscherlich, Richards & Strachey 1974a, S. 63f)
Massen, so Freud, lassen sich nach verschiedenen Aspekten differenzieren, so die flüchtigen vs. die dauerhaften, die homogenen vs. die inhomogenen, natürliche vs. künstliche, hoch organisierte vs. primitive und, was für seine Analyse von besonderer Bedeutung ist, führerlose Massen vs. Massen mit einer Führungsperson. Paradebeispiele für „hochorganisierte[…], dauerhafte[…], künstliche[…] Massen“ (Freud 1921, S. 88) stellen für ihn Kirche und Militär dar, deren vergleichende Analyse wichtige Hinweise darauf liefert, welche Kräfte eine Masse zusammenhalten und welchen psychischen Prozessen das Individuum unterliegt, wenn es Teil einer Masse wird. Oder, um mit Freud zu sprechen: „Was ist nun eine ‚Masse‘, wodurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen aufnötigt?“ (Freud 1921, S. 67)
In Anlehnung an McDougall bezieht er sich in seiner Analyse auf die psychologisch bedeutsame Masse, die voraussetzt, dass deren einzelne Mitglieder „etwas miteinander gemein haben, ein gemeinsames Interesse an einem Objekt, eine gleichartige Gefühlsrichtung in einer gewissen Situation und (ich würde einset-
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
zen: infolgedessen) ein gewisses Maß von Fähigkeit, sich untereinander zu beeinflussen. [...] Je stärker diese Gemeinsamkeiten sind, desto leichter bildet sich aus den Einzelnen eine psychologische Masse und desto auffälliger äußern sich die Kundgebungen der ‚Massenseele‘“ (Freud 1921, S. 79). Die Massenphänomene, denen Freud die größte Bedeutung zumisst, sind die der gesteigerten Affektivität und der verminderten intellektuellen Leistungsfähigkeit des/der Einzelnen, die er als regressive Prozesse des Individuums in der Masse umschreibt. Zur Erklärung der Phänomene, die in seinem Sinne „auch das Wesen der Massenseele ausmachen“ (Freud 1921, S. 86), führt er den Begriff der Libido ein, „der uns im Studium der Psychoneurosen so gute Dienste geleistet hat. Libido ist ein Ausdruck aus der Affektivitätslehre. Wir heißen so die als quantitative Größe betrachtete – wenn auch derzeit nicht messbare – Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann“ (Freud 1921, S. 85). „Liebe“ versteht er als Oberbegriff für Regungen wie Sexualität, „Selbstliebe, [...] Eltern- und Kindesliebe, [...] Freundschaft und die allgemeine Menschenliebe“ (ebd.), wobei der Urgrund der Libido der Sexualtrieb sei. So trete die „narzißtische[...] Eigenliebe“ (Freud 1921, S. 97) des Einzelnen deshalb zurück, weil „das Wesen der Massenbildung in neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmitglieder aneinander besteht“ (ebd.). Diese Bindungen oder auch „Objektbesetzungen“ (ebd.), so Freud, funktionierten gemäß des Mechanismus der Identifikation. Und hier stellt Freud die Verbindung zur ödipalen Entwicklung des kleinen Jungen her, der mit beiden Elternfiguren jeweils eine typische Form der Objektbesetzung herstellt, mit der „Mutter eine glatt sexuelle Objektbesetzung“, mit dem „Vater eine vorbildliche Identifizierung“ (ebd. S. 98). In Folge des sich weiterentwickelnden Ödipuskomplexes beim Jungen entwickle die Identifizierung mit dem Vater, die zunächst ohne gegenseitige Beeinflussung neben der Beziehung zur Mutter bestanden habe, eine aggressive, feindselige Komponente dem Vater gegenüber, da dem Sohn „der Vater bei der Mutter im Wege steht“ (ebd.). Folglich sei die Identifizierung mit dem Vater für den Jungen von Ambivalenz charakterisiert. Aus diesen entwicklungspsychologischen Annahmen und aus Fallbeispielen bezüglich ödipal bedingter, neurotischer Fehlentwicklungen beim kleinen Mädchen leitet Freud drei wesentliche Eigenschaften der Identifizierung ab, nämlich „daß erstens die Identifizierung die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt ist, zweitens, daß sie auf regressivem Wege zum Ersatz für eine libidinöse Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion des Objekts ins Ich, und daß sie drittens bei jeder neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, entstehen kann“ (ebd. S. 100, Hervorhebungen K.H.). Den zweiten Aspekt der Introjektion des Objekts ins Ich verbessert er
3.2 Freuds Kulturtheorie
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und fasst „als Formel für die libidinöse Struktur einer Masse [mit einem Führer und mäßigem Organisationsgrad, Anmerkung K.H.]“ (ebd. S. 108) zusammen: „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“ (ebd., Hervorhebungen i.O.)
Der soziale Zusammenschluss und das „Sozialgefühl“ (ebd. S.113) in einer Masse entstehe aus eigentlich aggressiven Impulsen, so wie das Kind durch Reaktionsbildung die anfängliche Eifersucht auf seine Geschwister durch „Identifizierung mit den anderen Kindern“ (ebd. S. 112) abwehre. Freud legt dem Zusammenschluss von Individuen zu Gruppen also nicht eine biologische Determinante, einen Instinkt zugrunde, sondern psychische Abwehrprozesse. Die Struktur der Masse vergleicht er mit seiner Vorstellung der Urhorde (vgl. vertieft und auch zur Kritik der Urhordentheorie Kap. 3.3.1) mit „einem überstarken Einzelnen, inmitten einer Schar von gleichen Genossen […]. Die Masse erscheint uns also als ein Wiederaufleben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem Einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem beliebigen Menschenhaufen die Urhorde wieder herstellen […]“ (Freud 1921, S. 114f). In eben dieser Struktur der Masse könne man, so Freud, die Beziehung zwischen Massen- und Individualpsychologie sehen. Der Einzelne sei innerhalb der Masse gebunden gewesen, das Oberhaupt der Urhorde, den er als narzißtischen Urvater annimmt, sei aber frei gewesen. „Seine [des Vaters, Ergänzung K.H.] intellektuellen Akte waren auch in der Vereinzelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir nehmen konsequenterweise an, daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebte niemanden außer sich, und die anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab.“ (Freud 1921, S. 115)
Der Urvater habe seine Söhne durch das Verbot, ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben, zur libidinösen Bindung an ihn und aneinander genötigt, „[e]r zwang sie sozusagen zur Massenpsychologie. Seine sexuelle Eifersucht und Intoleranz sind in letzter Linie die Ursache der Massenpsychologie geworden“ (Freud 1921, S. 116).Wenn der Vater gestorben sei, habe einer seiner Söhne seine Nachfolge antreten, aus der Masse ausscheren und sexuelle Befriedigung erlangen können. An dieser Stelle markiert Freud den Umschlag von der Massen- zur Individualpsychologie. „In den heutigen Massen ist der Führer der Masse noch immer der gefürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden,
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
sie ist in höchstem Grade autoritätssüchtig, hat nach Le Bon den Durst nach Unterwerfung. Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht.“ (ebd., S. 119)
Reiche (2007, S. 11) fasst die psychischen Prozesse der Massenbildung nach Freud noch einmal in vier Schritten zusammen. „Es handelt sich also genauer um einen in vier Schritte zerlegbaren Vorgang: 1) Identifizierung der Massenindividuen untereinander, 2) Identifizierung mit dem Führer (oder der Idee, der Ideologie), 3) Projektion (Abtretung) des individuellen IchIdeals auf die Idee oder den Führer, die hierdurch magisch überhöht und gestärkt werden, und 4) Ersetzung des individuellen Ich-Ideals durch das ‚Objekt‘, also den Führer oder die nun ‚kollektiv‘ gewordene Idee (Ideologie).“
Noch komplexer wird die Analyse dieser Vorgänge unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Individuum in der Gesellschaft in verschiedenen Kontexten (Massen) verortet ist. „Jeder Einzelne hat so Anteil an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw., und kann sich darüber hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben.“ (Freud 1921, S. 120)
Im 1930 erschienenen Werk Das Unbehagen in der Kultur verfolgt Freud eine etwas andere Argumentationslinie bezüglich seiner Kulturanalyse, indem er sich mit den Phänomenen befasst, die scheinbar selbstverständlich sind und unser Alltagsbewusstsein prägen, „um dieses von innen her zu erschüttern und über dessen undurchschaute Antriebsmomente kritisch aufzuklären“ (Lorenzer & Görlich 1994, S. 11). Als Ausgangspunkt seiner Analyse setzt er die Frage nach dem Ursprung menschlichen Leids, für das er drei Quellen sieht, „[…] die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln“ (Freud 1930, S. 217). Erstere Quellen für menschliches Leid lassen sich nicht durch das Zutun von Menschen verändern, wie es sich jedoch in Bezug auf die „soziale Leidensquelle“ (ebd.) verhält, bleibt, so Freud, genauer zu betrachten. Im sozialen Zusammenleben der Menschen kommt der „Kultur“ eine Doppelfunktion zu: „[…] ‚Kultur‘ [bezeichnet] die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“ (ebd., S. 220)
3.2 Freuds Kulturtheorie
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Kritisch merkt er jedoch an, dass die kulturellen Errungenschaften (technischer und wissenschaftlicher Art), mit denen der Mensch versuche, sich einem Ideal von göttlicher Allmacht anzunähern, den Menschen lediglich zu „eine[r] Art Prothesengott [macht], […] recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm noch gelegentlich viel zu schaffen“ (ebd., S. 222). Ähnlich wie in Massenpsychologie und IchAnalyse spekuliert Freud bezüglich der Zeit vor und während der Bildung der „Urhorde“. Die Freiheit des Individuums sei, so Freud, in der (hypothetisierten) Zeit vor der Entwicklung der Kultur am größten gewesen, aber „[d]urch die Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit fordert, daß keinem diese Einschränkungen erspart werden“ (ebd., S. 226). „Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als ‚Recht‘ der Macht des Einzelnen, die als ‚rohe Gewalt‘ verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte.“ (Freud 1930, S. 225)
Kulturentwicklung fordere also vom Menschen etwas, auf das er aufgrund seiner Triebausstattung nicht ausgerichtet sei, nämlich den Triebverzicht bzw. die Triebsublimierung, welche „ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung [ist], sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen. […] endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat“ (ebd., S. 227). Dieser Triebverzicht sei Quelle des Aufbegehrens gegen entsprechende kulturelle Ansprüche oder Kultur im Allgemeinen. Um seine Argumentation zu vertiefen, spekuliert Freud erneut in aus Totem und Tabu und Massenpsychologie und IchAnalyse bekannter Weise über die „Urzeit“ des Menschen. Schon die Affen hätten sich zu Familien zusammengeschlossen, da die Männchen ihr Sexualobjekt (also die Weibchen) bei sich hätten behalten wollen und die Weibchen wiederum ihre Jungen durch die Verbindung mit einem möglichst starken Männchen hätten schützen wollen. In der „primitive[n] Familie“ (ebd., S. 230) jedoch – also der Urhorde –, habe der Vater noch die uneingeschränkte Macht gehabt. Durch die Tötung und das Ersetzen des Vaters durch die Brüderhorde werde für die Söhne die Erfahrung möglich, dass sie im Verband mächtiger
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
seien als einzeln. Dies und die Arbeitserleichterung durch die Organisation in einer Gruppe hätten die Bildung derselben gefördert. Der soziale Verband unterliege entsprechenden totemistischen Regeln, die das Zusammenleben organisierten und regulierten, was den Kern der Kultur ausmache (vgl. auch Kap. 3.3.1). Das komplexe Zusammenspiel von „Eros und Ananke“ (ebd. S. 230) führe zum widersprüchlichen Verhältnis des Menschen zur Kultur. Auf der einen Seite stehe der Eros/die Liebe: „Liebe nennt man die Beziehung zwischen Mann und Weib, die auf Grund ihrer genitalen Bedürfnisse eine Familie gegründet haben, Liebe aber auch die positiven Gefühle zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschwistern in der Familie, obwohl wir diese Beziehung als zielgehemmte Liebe, als Zärtlichkeit, beschreiben müssen. Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten des Menschen noch immer. Beide, vollsinnliche und zielgehemmte Liebe greifen über die Familie hinaus und stellen neue Bindungen an bisher Fremde her. Die genitale Liebe führt zu neuen Familienbildungen, die zielgehemmte zu ‚Freundschaften‘, welche kulturell wichtig werden, weil sie manchen Beschränkungen der genitalen Liebe, z.B. deren Ausschließlichkeit, entgehen. Aber das Verhältnis der Liebe zur Kultur verliert im Laufe der Entwicklung seine Eindeutigkeit. Einerseits widersetzt sich die Liebe den Interessen der Kultur, andererseits bedroht die Kultur die Liebe mit empfindlichen Einschränkungen.“ (ebd., S. 232)
Hierbei postuliert er ein antagonistisches Verhältnis von Familie und Gesellschaft, ein Gedanke, den später Mario Erdheim aufgreift (vgl. Kap. 3.3.4). Freud argumentiert mit patriarchal gefärbtem Blick, dass die Familie das zu ihr gehörende Individuum nicht freigeben wolle, ein Prinzip, das im Besonderen durch die Frauen vertreten werde. Im Gegensatz dazu sei es das Bestreben der Kultur, Menschen zu übergeordneten Einheiten zusammenzufassen, wobei „die Kulturarbeit immer mehr Sache der Männer geworden [ist], [sie] stellt ihnen immer schwierigere Aufgaben, nötigt sie zu Triebsublimierung, denen die Frauen weniger gewachsen sind“ (ebd., S. 233). Ziel der Kultur sei es, das Sexualleben der Einzelnen einzuschränken, was bereits in einer totemistischen Gesellschaftsordnung, die ein Inzestverbot errichtet habe, zu sehen sei. In der Stärke der Repression der Sexualität durch kulturell bestimmte Vorschriften bestünden Unterschiede, generell folgten Kulturen einer ökonomisch begründeten Notwendigkeit, da der Sexualität ein Teil der Energie entzogen werden müsse, die für die Errichtung und Aufrechterhaltung der Kultur benötigt werde. „Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.
3.2 Freuds Kulturtheorie
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Einen Höhepunkt solcher Entwicklung zeigt unsere westeuropäische Kultur.“ (ebd., S. 233)
In diesem kulturellen Kontext sei offiziell, wenn es auch eine stillschweigende Toleranz gegenüber gewissen Regelverstößen gebe, lediglich die monogame, heterosexuelle Beziehung erlaubt. Die Folgen dieser Triebunterdrückung seien deutlich sichtbar: „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen.“ (ebd., S. 234)
Neben der biologisch bedingten Ausstattung mit libidinösen Triebimpulsen betont Freud aber auch die (ebenfalls angeborene) aggressive Seite des Menschen, der seinen Nächsten zur Abfuhr seiner Aggressionen benutze. Zur Untermauerung seiner These führt er historische Belege an. „Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschengis Khan und Timurlenk, der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkriegs in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen.“ (ebd., S. 240f)
Er betont, dass der Aggressionstrieb als „Hauptvertreter des Todestriebes“ (ebd., S. 249) der größte Gegenspieler der Kultur sei. „Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten.“ (Freud 1930, S. 241)
Da der Mensch des Menschen Wolf sei, sei die Einschränkung der sexuellen Triebe durch die Kultur in dieser Stärke notwendig, da die umgeleiteten sexuellen Regungen den Gegenpol zu den aggressiven Impulsen bildeten. Die Angst vor dem Verlust der Liebe desjenigen, demgegenüber ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, stelle den Motor für die Eindämmung der Aggression dar. Durch die Verlagerung dieser äußeren Autorität in die Psyche des Individuums bildeten sich Über-Ich-Strukturen in der Form eines Gewissens. Durch diesen Prozess der Verinnerlichung sozialer Regeln gerate der Einzelne in der Kultur unter besondere Spannung. Verstöße gegen soziale Regeln erweckten zunächst aufgrund der Angst vor der Bestrafung durch die Autorität, später aus Angst vor dem eigenen Über-Ich beim Individuum Schuldgefühle. Da sich zwar vor der äußeren Autorität, aber nicht vor dem eigenen Über-Ich der Wunsch nach Re-
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
gelüberschreitung und Triebbefriedigung verbergen lasse, liefere der Triebverzicht nicht mehr genügend Entspannung, „die tugendhafte Enthaltung wird nicht mehr durch die Sicherung der Liebe gelohnt, für ein drohendes äußeres Unglück – Liebesverlust und Strafe von Seiten der äußeren Autorität – hat man ein andauerndes inneres Unglück, die Spannung des Schuldbewußtseins eingetauscht“ (Freud 1930, S. 254). Freuds Kulturtheorie wird in ihrer Gänze oder auch in einzelnen Aspekten kontrovers diskutiert und beurteilt. Reiche (2007) kritisiert Freuds Massenbegriff, den er insofern als unkonkret beschreibt, da er sowohl spontan sich formierende Massen als auch Institutionen im heutigen Sinne umfasse. Zudem weigere sich Freud, „ die schöpferische Seite von Massenbewegungen zu sehen, und starrt, gefesselt durch Le Bons Blick, nur auf ihre regressive Seite. Heute wissen wir, daß alle schöpferischen, kulturinnovativen Leistungen auf die vorübergehende Auflösung bislang festgefügter Ich-Grenzen angewiesen sind. Diesen Vorgang nennen wir Regression im Dienste des Ichs“ (ebd., S. 15). Er beschwöre vielmehr ein „Bild der sogenannten dumpfen, verführbaren Masse. ‚Masse‘ ist hier all das Negative, was nicht ‚Ich‘ ist – und von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu dem beschränkten Bewußtsein, welches, indem es von Masse spricht, sich von ihr ausgenommen und diese unter sich wähnt. Wir sehen hier Freud gefangen durch Le Bons Blick, dessen Topologie ihrerseits völlig befangen ist in dem Gegensatzpaar Elite und Masse“ (ebd., S. 10). Wenn Freud auch über weite Strecken einem solchen Konzept von Masse folgt, erweist sich dieser Kritikpunkt jedoch als nicht völlig zutreffend. Freud sieht durchaus den Zusammenschluss von Menschen zu einer Gruppe/Masse als Möglichkeit wie Notwendigkeit, sich der Natur gegenüber behaupten zu können, also als eine Art kreativen Akt an (vgl. auch Lorenzer & Görlich 1994). Aus heutiger Sicht kritikwürdig sind sicherlich die Freudsche Urhordentheorie und die damit verbundenen Annahmen wie der Urvatermord, die den Boden für menschliche Kulturentwicklung bildeten. Reiche (2007, S. 13, Hervorhebungen i.O.) formuliert: „Freud begreift Kultur bzw. Gesellschaft als durch einen Akt geschaffen, nämlich durch die Tat der Urvater-Tötung. Gesellschaft bildet sich nach seiner Vorstellung nicht in einem langen evolutionären Prozeß, dessen Anfänge sich im Tier-MenschÜbergangsfeld verlieren. Wir haben es hier vielmehr mit einer Konstitutionstheorie, im Gegensatz zu einer Evolutionstheorie von Gesellschaft zu tun, einer Sichtweise mithin, die ihrerseits eher einem religiös-mythischen Typus angehört und heutigem Denken und Wissen nicht mehr standhalten kann.“ (Reiche 2007, S. 13, Hervorhebung i.O.)
3.2 Freuds Kulturtheorie
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Eine ausführlichere Kritik der Urhordentheorie und der damit verbundenen Annahme eines universellen Ödipuskomplexes findet sich in Kapitel 3.3.1 der vorliegenden Arbeit. Lorenzer und Görlich (1994) beurteilen die Freudsche Kulturtheorie durchgängig als positiv und beschreiben auf einer abstrakteren Ebene Freuds Vorgehen als den Transfer psychoanalytischer Erkenntnis auf das nicht-therapeutische Feld, was prinzipiell ideologiekritische Einwände hervorrufe. „Und das nicht mit geringem Recht, bleibt doch die psychoanalytische Betrachtungsweise allzu oft naiv-blind, reflexionslos gegenüber dem Thema der sozialhistorischen Zusammenhänge und der geschichtlich-gesellschaftlich ‚objektiven‘ Prozesse.“ (ebd. S. 12)
Dennoch kommen sie in Bezug auf Freuds Kulturtheorie zu folgender Bewertung: „Die Freudsche Perspektive steht ihrem Gegenstand nicht in der für ideologiekritisches Begreifen notwendigen Distanz gegenüber; sie ist gleichsam Seismograph unmittelbar-konkreter Erfahrung, […]. In seinem Verstehenszugang (der sich ideologiekritischer Erweiterung nicht sperrt) initiiert Freud eine Kulturbetrachtung vom ‚Seelenende dieser Welt‘ und – spürt hierbei ungleich mehr von den Irritationen der ‚Subjektivität‘ auf, als beflissene Ideologiekritiker je wahrzunehmen in der Lage wären.“ (ebd.)
Mertens (1997a, S. 92) bezeichnet Freuds „Kulturtheorie [...] als kritisch [...], weil er danach fragt, ob Institutionen zum Wohl der Menschen da sind oder ob sie überflüssiges Leid verursachen. Die bestehenden Institutionen werden somit nicht fraglos hingenommen, sondern auf ihre menschliche Eignung hinterfragt.“ Dabei ende seine „Theorie der Emanzipation [...] nicht beim Individuum, er versucht vielmehr, die soziale Beeinflussung durch die Kultur zu erfassen“ (ebd., S. 91). Lorenzer und Görlich (1994) ergänzen diesen Aspekt, indem sie Freuds Annahme einer biologisch verankerten Triebausstattung des Menschen nicht als „irrationalen Biologismus“ (Lorenzer & Görlich 1994, S. 25) beurteilen, sondern als Ausgangspunkt seiner Gesellschaftskritik. „Das jedenfalls ist das Freudsche Vermächtnis; Psychoanalyse ist stets – wenn auch oft uneingestandenermaßen – Kultur-Betrachtung. Und sie ist, indem sie die sozialen Konflikte der einzelnen in den Tiefen der Triebschicksale aufsucht und an den vermeidbaren und unvermeidbaren Zumutungen der gesellschaftlichen Ordnung misst, immer auch, ja eigentlich vor allem: ‚Kultur-Kritik‘.“ (Lorenzer & Görlich 1994, S. 27)
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Wie schon angedeutet, sind als Quellen bezüglich Freudscher Kulturtheorie nicht nur die bereits behandelten Werke Massenpsychologie und Ich-Analyse und Das Unbehagen in der Kultur, sondern auch das bereits 1912/1913 erschienene Totem und Tabu bedeutsam. Totem und Tabu legte auch den Grundstein für die Entstehung der Ethnopsychoanalyse, die Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird. 3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse: Ethnopsychoanalyse durch die Brille der Cultural Studies Unter Ethnopsychoanalyse wird der Zweig der Psychoanalyse verstanden, der sich systematisch mit der Anwendung psychoanalytischer Konzepte auf Angehörige anderer Kulturen (und im Weiteren auch auf Angehörige der eigenen Kultur) befasst. Damit die zentralen Debatten und Inhalte gut nachvollzogen werden können, stelle ich diese im Folgenden entlang ihrer historischen Entwicklung dar. Um die Struktur dieses Kapitels nachvollziehbar zu machen, sei an dieser Stelle der Verlauf in Kürze zusammengefasst. Ethnopsychoanalyse entstand aus der Verbindung von Ethnologie und Psychoanalyse, wobei Sigmund Freuds Werk Totem und Tabu aus den Jahren 1912/13 das Fundament darstellte. Um die von Freud in dieser Aufsatzsammlung postulierte Universalität des Ödipuskomplexes entspann sich in den 1920ern die sogenannte „Malinowski-Jones-Debatte“, die bis heute rezipiert wird. Géza Róheim versuchte in deren Folge, mittels Feldforschung Freuds Position zu stützen, wandte sich jedoch aufgrund seiner Ergebnisse von dieser ab. Georges Devereux und im Weiteren das aus der Schweiz stammende ForscherInnenteam Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy entwickelten die Ethnopsychoanalyse zur eigenständigen Disziplin weiter (vgl. auch Haase 1996). Letztere hatten die bisher gelungenste Verbindung von Psychoanalyse und Ethnologie herausgearbeitet, so dass diese in den 60er Jahren von Zürich ausgehend unter dem Begriff der „Ethnopsychoanalyse“ im deutschsprachigen Raum bekannt wurde (vgl. Reichmayr 2003a). Bereits bei Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy fand ein fundamentaler Wechsel in der Betrachtung bzw. der Beforschung von „Eigenem“ und „Fremdem“ statt. Sie bemühten sich, ausgehend von „den ethnopsychoanalytischen Erfahrungen in fremden Kulturen [...], bestimmte Modifikationen und Erweiterungen der psychoanalytischen Theorie und Praxis vorzunehmen, ethnopsychoanalytische Gesichtspunkte auch bei Untersuchungen in der eigenen Gesellschaft zu berücksichtigen und die psychoanalytische Wissenschafts- und Kulturkritik zu vertiefen“ (Reichmayr 2003a, S. 18). Zürich bzw. das Ethnologische Seminar Zürich (ESZ) ist im
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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deutschsprachigen Raum immer noch ein „hot spot“ der Ethnopsychoanalyse, wenn auch Letztere insgesamt an Bedeutung abnimmt (vgl. z.B. Egli 2002). In den USA nahm die Ethnopsychoanalyse eine andere Entwicklung als im deutsch- bzw. französischsprachigen Raum, was an dieser Stelle nur kurz erwähnt sei und im Weiteren nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. Aufgrund der Vertreibung vieler jüdischer PsychoanalytikerInnen durch den Nationalsozialismus verlagerte sich Ende der 1930er das Zentrum der Psychoanalyse bekanntermaßen in die Vereinigten Staaten (vgl. auch Reichmayr 2003a). Durch psychoanalytische Konzepte beeinflusst, entstand dort die sogenannte Culture and Personality-Forschung, die aufgrund ihres „harmonischen ahistorischen Gesellschaftmodell[s]“ (Haase 1996) und ihrer Vorstellung von einer kulturell bedingten „Basic Personality“ (vgl. Saller 1993) in Kritik geriet. Zudem entwickelte sich in der Folge von Géza Róheims psychoanalytischer Ethnologie in den USA die Psychoanalytic Anthropology. Näheres zu diesen Seitenzweigen der Ethnopsychoanalyse lässt sich bei Johannes Reichmayr (2003a) nachlesen, für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind sie nicht von Bedeutung. Aktuelle VertreterInnen, von denen ich mich in dieser Arbeit exemplarisch mit Mario Erdheim und einer Protagonistin der feministischen Ethnopsychoanalyse – Maya Nadig – befassen werde, „verkörpern Kompetenz und berufliche Praxis sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Ethnologie, kennen also die Feldforschung des Ethnologen ebenso wie die Psychoanalyse, sei es als Lehr- oder als Eigenanalyse“ (vgl. ebd. S. 180). Die Ethnopsychoanalyse in der Form, wie wir sie heute kennen, „ist das Ergebnis eines langen theoretischen und methodischen Ringens beider Disziplinen [i.e. der Ethnologie und der Psychoanalyse, Anm. K.H.] miteinander“ (Haase 1996, S. 7). Der bedeutende Beitrag der Psychoanalyse war hierbei die Einführung des Konzeptes des „Unbewussten“ in die Ethnologie (vgl. Reichmayr 2003a). Auch wenn sich die einzelnen EthnopsychoanalytikerInnen in ihren Konzepten teilweise stark unterscheiden, basiert ihre Übertragung psychoanalytischer bzw. psychoanalytisch orientierter Verfahren auf Menschen anderer kultureller Verortung auf drei zentralen Vorannahmen:
Die psychische Struktur von Menschen ist prinzipiell gleich. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse sind ein universelles und „transkulturelles“ Phänomen. Zentrales Moment menschlicher Konstitution ist der Konflikt zwischen menschlicher Triebausstattung und Gesellschaft (vgl. Adler 1993).
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Wie ich in Kapitel 3.1 dargestellt habe, wird letzterer Aspekt nicht in allen Richtungen der Psychoanalyse als konstituierend für das menschliche Sein betrachtet. In heutigem Verständnis ist der „Gegenstand der Ethnopsychoanalyse [...] das Wechselspiel zwischen der Kultur und dem Verhältnis der bewußten und unbewußten Anteile des Individuums“ (Erdheim und Nadig 1991, S. 187, Hervorhebung K.H.). Indem in der Theorie wie in der Forschungspraxis diese Elemente aufeinander bezogen werden, gelingt es laut Paul Parin (zit. in Reichmayr 2003a, S. 14) „[e]rst [der] Ethnopsychoanalyse [, ...] eine Theorie des Subjekts mit dem bestehenden Wissen um die verschiedenen Kulturen zu einem neuen Wissen vom Menschen und seinen so vielfältigen Lebensformen und möglichkeiten“ zu verbinden. Blumiger als Mario Erdheim und Maya Nadig definiert Florence Weiss (1984, S. 23), was Ethnopsychoanalyse ist und vermag: „Die Ethnopsychoanalyse will verstehen, wie Menschen in einer anderen Kultur fühlen und denken, mit Konflikten, Ängsten und Zuneigung umgehen. Das kann man weder befragen noch beobachten, sondern nur in Beziehungen erfahren, auf die man sich einläßt und die sich vertiefen. […]. Wir haben uns überlegt, wie wir den Iatmul4 unseren Wunsch, psychoanalytische Gespräche zu führen, verständlich machen können. Schließlich haben wir ein Bild dafür gefunden, das sich in der Pidgin-Sprache gut darstellen läßt. […] ‚Ich möchte mit dir zusammen in deinen Gedanken und Gefühlen spazieren, weil ich über das, was in euch Frauen von Palimbei vorgeht, noch wenig weiß.‘“
Weiss berührt in ihrer Definition bereits den Bereich ethnopsychoanalytischer Methodik und betont hier besonders die Beziehung, die die Basis für den Zugang zum „Erforschten“ darstellt. Unter Beziehung ist hier natürlich nicht eine Beziehung im alltäglichen Sinne gemeint, denn die „[...] Methode [der Ethnopsychoanalyse] ist das psychoanalytische Verfahren“ (Erdheim & Nadig, 1991, S. 187, Hervorhebung K.H.), d.h. auch unter „Beziehung“ wird eine „psychoanalytische Beziehung“ verstanden. Diese dient dazu, das Unbewusste „[e]ntlang der Beziehungsdynamik, die sich in Form von Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung entwickelt“ (ebd. S. 190) des Gegenübers zu erforschen. Auf diesem Wege „wird die Art und Weise faßbar, in der der Analysand [bzw. der/die Erforschte] als Subjekt auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten reagiert und wie die Institutionen auf das individuelle Bewußtsein und Unbewußtsein einwirken. In der ethnopsychoanalytischen Beziehung bilden die psy-
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Ein von Fritz und Marco Morgenthaler und Florence Weiss beforschtes Volk, das am Sepik in Papua-Neuguinea lebt.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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chischen Bewegungen zwischen der Ethnologin und ihrer Informantin [...] das wichtigste Material“ (ebd. S. 190f, Hervorhebung K.H.). Nach einem kurzen Abriss über den Inhalt des Kapitels 3.3 und einer Definition dessen, was unter „Ethnopsychoanalyse“ zu verstehen ist, noch einmal zu meiner Vorgehensweise. Ziel dieser Arbeit ist es, den Umgang mit den Konzepten der „Kultur“ und der „Interkulturalität“ innerhalb (ethno-)psychoanalytischer Theorie und Praxis nicht nur darzustellen, sondern auch durch die Brille der Cultural bzw. Postcolonial Studies hindurch kritisch zu hinterfragen, auf welche Weise die „kulturell Anderen“ in diesem Zusammenhang konstruiert werden und ob die Verallgemeinerung psychoanalytischer Konzepte hinterfragt wird. Welchen Sinn und Nutzen eine solche Reflexion hat, wird an dieser Stelle vielleicht noch nicht deutlich. Man könnte ja auch so argumentieren, wie es bereits Bezug nehmend auf Edward Said (2002) angesprochen wurde: In dem Zeitraum, in dem ein Teil der Werke, z.B. die Freuds, verfasst wurden, war einiges des heutigen und in dieser Arbeit verwendeten Wissens gar nicht verfügbar. Folglich stellt sich die Frage, ob eine Kritik aus dieser Perspektive überhaupt berechtigt sein kann. Betrachten wir aber die Rezeption dieser Werke in der heutigen Zeit, so halte ich den Erkenntnisgewinn, der durch die Betrachtung der verschiedenen Zugänge vor dem heutigen Wissen entsteht, für beträchtlich, um eine Einordnung und Beurteilung des Nutzens für die aktuelle Arbeit in Theorie und Praxis vornehmen zu können und weniger, um diese Arbeiten generell zu beurteilen. 3.3.1 Back to the roots: Zur Universalität des Ödipuskomplexes – eine uralte Debatte Als Grundsteinlegung ethnopsychoanalytischer Fragestellungen gilt Freuds Werk Totem und Tabu (1912–13), in dem er begann, „die Psychoanalyse auf Ergebnisse ethnologischer Untersuchungen anzuwenden“ (Haase 1996, S. 7/vgl. auch Reichmayr 2003a). In Folge der von ihm in dieser Aufsatzsammlung entwickelten Theorie in Bezug auf die Entstehung und auf die Universalität des Ödipuskomplexes entspann sich eine Debatte zwischen zwei Vertretern fundamental verschiedener Menschenbilder. Bronislaw Malinowski, der als einer der bedeutendsten Protagonisten des Funktionalismus seiner Zeit gilt, lieferte 1924 den Auftakt hierzu, indem er Freuds Thesen kritisierte. Ernest Jones, Psychoanalytiker und enger Kollege Freuds, verteidigte dessen Annahmen und unterstellte Malinowski „psychoanalytische Inkompetenz“ (Haase 1996, S. 9). Freuds Anwendung psychoanalytischer Theorie auf ethnologisches Material, die von ihm daraus entwickelten Annahmen und die resultierende Malinowski-Jones-
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Debatte ist Gegenstand dieses Kapitels, da dies zum einen im Rahmen der Ethnopsychoanalyse von historischer Bedeutung ist und in der Folge vom Ethnologen und Psychoanalytiker Géza Róheim untersucht und bis heute immer wieder diskutiert wurde. Andererseits wirft diese Auseinandersetzung zentrale Fragen für die weitere Betrachtung ethnopsychoanalytischer Theoriebildung auf. Freuds Theoretisierung des Ödipuskomplexes und dessen Zusammenhang mit der Entstehung kultureller Institutionen bis hin zur Religion werde ich als ersten Punkt darlegen. Zu diesem Zwecke stelle ich zunächst den Inhalt von Freuds Werk Totem und Tabu (1912–13) in Auszügen dar, wie es für diese Arbeit sinnvoll erscheint. Diese Darstellung zeigt deutlich die universelle Bedeutung, die Freud diesem Komplex sowohl für die psychoanalytische Theorie als auch für die kulturelle Entwicklung des Menschen beimisst. So wird auch verständlich, weshalb sich genau an diesem Punkt eine Debatte zwischen Malinowski und Jones entspann. In Kürze fasse ich dann die Auseinandersetzung Róheims mit Freuds bzw. Jones’ Konzepten dar, um mit der aktuellen Diskussion dieses Themenkomplexes zu enden. Um für die LeserInnen die Unterschiede der entsprechenden Positionen nachvollziehbar zu machen, stelle ich sie in den folgenden Abschnitten zunächst dar. Der Darstellung folgt eine kritische Reflexion dieser Debatte, da es in dieser Arbeit weniger um die Bewertung dessen gehen soll, wer hier „Recht“ hatte bzw. hat, sondern was aus diesen Standpunkten und der Auseinandersetzung für die Rezeption dieser Werke und den heutigen Umgang mit „Kultur“ gelernt werden kann. Freuds Totem und Tabu „Im Anfang war die Tat“ (Goethe zit. nach Freud 1912-13, S. 444)
In seinem Werk Totem und Tabu, das aus vier Aufsätzen aus den Jahren 1912 bis 1913 besteht, widmet sich Freud sozialanthropologischen Fragestellungen. Er selbst versteht es als „ersten Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden“ (Freud 1912-13, S. 291). Für die vorliegende Arbeit im Allgemeinen und für die Debatte um die Universalität des Ödipuskomplexes im Speziellen ist dieses Buch, das als Freuds Lieblingswerk gilt, insofern von Bedeutung, als Freud hier die Entstehung „fast sämtlicher spätere[r] soziale[r] und kulturelle[r] Institutionen“ (ebd. S. 289) über die Geschichte der Menschheit hinweg theoretisiert. Zu diesem Zwecke be-
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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schäftigt er sich mit – in heutigen Worten – traditionell lebenden Völkern (und hier im Besonderen mit den Aborigines) bzw. mit dem Wissen, das ForscherInnen seiner Zeit über sie zusammengetragen hatten, und formuliert in folgendem Abschnitt die Grundthese seines Buches: „[…] es leben Menschen, von denen wir glauben, daß sie den Primitiven noch sehr nahe stehen, viel näher als wir, in denen wir daher die direkten Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir urteilen so über die sogenannten Wilden und halbwilden Völker, deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn wir in ihm eine gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen dürfen. Wenn diese Voraussetzung zutreffend ist, so wird eine Vergleichung der ‚Psychologie der Naturvölker‘, wie die Völkerkunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt geworden ist, zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen.“ (Freud 1912-13, S. 295, Hervorhebungen K.H.)
Von besonderer Bedeutung ist für uns das Kapitel IV von Totem und Tabu (Die infantile Wiederkehr des Totemismus, 1913), in dem er sich speziell der phylogenetischen Entstehung des Ödipuskomplexes widmet (vgl. auch Reichmayr 2003a). Bevor wir uns jedoch diesem spezifischen Aspekt zuwenden, ist es zunächst notwendig, Freuds Ausführungen über das Totem zu folgen, das er anhand der sozialen Gepflogenheiten der Aborigines illustriert. Unter einem Totem ist in der Regel ein Tier, aber auch eine Pflanze oder ein in unserem Sinne unbelebter Gegenstand (z.B. ein Stein) zu verstehen, der als Ahne eines jeweiligen Stammes (Clan) gesehen wird. Menschen, die in einer totemistischen Ordnung leben, erhalten die jeweilige Zugehörigkeit zum entsprechenden Totemclan mittels matrilinearer Vererbung. Für den Umgang mit einem Totemtier gelten bestimmte soziale Regeln, so darf es gewöhnlich nicht getötet und verspeist werden etc. Über die Tatsache, zu einem bestimmten Clan zu gehören, wird jedoch, so Freud, noch weit mehr im sozialen Alltag dieser Gesellschaften geregelt: „Fast überall, wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie.“ (ebd. S. 297, Hervorhebungen i.O.)
Diese Sozialordnung wurde von verschiedenen AutorInnen, von denen sich Freud besonders auf das Werk Totemism and Exogamy von J.G. Frazer (1910) bezieht, beschrieben, und Freud zeigt sich über diese differenzierte Form des Zusammenlebens bei den „Wilden“ erstaunt:
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„Von diesen armen, nackten Kannibalen [den Aborigines, Anm. K.H.] werden wir gewiß nicht erwarten, daß sie im Geschlechtsleben in unserem Sinne sittlich seien, ihren sexuellen Trieben ein hohes Maß von Beschränkung auferlegt haben. Und doch erfahren wir, daß sie sich mit ausgesuchtester Sorgfalt und peinlichster Strenge die Verhütung inzestuöser Geschlechtsbeziehungen zum Ziele gesetzt haben.“ (ebd. S. 296)
Nach der zusammenfassenden Darstellung dessen, was ein Totem ist und welche soziale Bedeutung ihm zukommt, beschäftigt sich Freud im weiteren Verlauf seines vierten Aufsatzes mit verschiedenen Theorien zur Entstehung des Totemismus. Von besonderem Interesse ist für ihn die Frage, wie die Verbindung zwischen Totemismus und Exogamie zu verstehen ist, und er sieht in der Antwort darauf auch den Schlüssel dafür, die Entstehung totemistischer Systeme zu erklären. Im Gegensatz zu dem von ihm viel zitierten Frazer sieht Freud einen kausalen Zusammenhang zwischen Inzesttabu und totemistischen Gesellschaftsordnungen und entwickelt, wiederum teilweise in Anlehnung an Frazer, folgende Argumentationslinie: Diejenigen Verhaltensweisen, die Menschen instinktiv zeigten (so z.B. essen, trinken, die Hände nicht in das Feuer halten etc.), bedürften keiner Regelung durch entsprechende soziale Gesetze. Dieses Verhalten werde gezeigt oder anderes unterlassen, ohne dass der Grund dafür in der Angst vor gesetzlichen Strafen gesucht werden könne. Deshalb könne also – sozusagen im Umkehrschluss – eine Verhaltensweise wie der Inzest bzw. die Inzestvermeidung, die durch gesellschaftliche Übereinkünfte geregelt werden, nicht als Instinktverhalten angenommen werden. Beobachtungen aus seiner psychoanalytischen Praxis wertet Freud als zusätzlichen Beleg für seine These: „ [...] die Erfahrungen der Psychoanalyse [machen] die Annahme einer angeborenen Abneigung gegen den Inzestverkehr vollends unmöglich [...]. Sie haben im Gegenteile gelehrt, daß die ersten sexuellen Regungen des jugendlichen Menschen regelmäßig inzestuöser Natur sind und daß solche verdrängte Regungen als Triebkräfte der späteren Neurosen eine kaum zu überschätzende Rolle spielen. Die Auffassung der Inzestscheu als eines angeborenen Instinktes muß also fallengelassen werden.“ (Freud 1912-13, S. 409)
Seine eigene Argumentation in Bezug auf die Entstehung des Totemismus und den Zusammenhang zwischen Totem und Exogamie rollt er mittels eines Phänomens, das den LeserInnen seiner Zeit gut bekannt gewesen sein dürfte, sozusagen von hinten auf: der kindlichen Tierphobie. Er führt aus, dieses klinische Bild der Phobie betreffe gewöhnlich Tiere, die bis dahin das Kind in besonderem Maße interessierten. Aufgrund einiger weniger Analysen von Kindern „in so zartem Alter“ (ebd. S. 413) sei es möglich, das Entstehen und die Funktion
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derartiger Tierphobien verstehen zu können. Erwartungsgemäß bezieht sich Freud im Folgenden auf verschiedene Fallbeispiele und im Detail auch auf das des „kleinen Hans“ (vgl. auch Freud 1909). Diese kindlichen Neurosen hätten „[...] sich der Analyse zugänglich erwiesen und so dem Untersucher ihr Geheimnis verraten. Es war in jedem Falle das nämliche: die Angst galt im Grunde dem Vater, wenn die untersuchten Kinder Knaben waren, und war nur auf das Tier verschoben worden“ (ders. 1912-13, S. 413). Die Pferdephobie beim „kleinen Hans“ sei so entstanden, dass er seinem Vater gegenüber ambivalente Gefühle hege. Einerseits sei der Vater eine geliebte und bewunderte Person, andererseits wünsche Hans den Tod des Vaters aufgrund seiner Konkurrenz zur Mutter herbei. Strafe für diesen Wunsch sei das schlechte Gewissen bzw. die Angst, vom Vater kastriert oder in anderer Weise bestraft zu werden. Die negativen Gefühle seinem Vater gegenüber habe Hans auf ein „Vatersurrogat“, also das Pferd, „verschoben“ (ebd. S. 414). Der eigentliche psychische Konflikt sei auf diese Weise jedoch nicht einfach befriedet: „Die Verschiebung kann den Konflikt allerdings nicht in der Weise erledigen, daß sie eine glatte Scheidung der zärtlichen von den feindseligen Gefühlen herstellt. Der Konflikt setzt sich vielmehr auf das Verschiebungsobjekt fort, die Ambivalenz greift auf dieses letztere über. Es ist unverkennbar, daß der kleine Hans den Pferden nicht nur Angst, sondern auch Respekt und Interesse entgegenbringt. Sowie sich seine Angst ermäßigt hat, identifiziert er sich selbst mit dem gefürchteten Tier, springt als Pferd herum und beißt nun seinerseits den Vater.“ (ebd. S. 414f)
Als Übereinstimmung zwischen den zugrunde liegenden psychischen Vorgängen in der Entwicklung dieser kindlichen Neurose und dem Totemismus hebt er „[...] zwei Züge hervor: die volle Identifizierung mit dem Totemtier“, d.h. beim kleinen Hans mit den Pferden, „und die ambivalente Gefühlseinstellung gegen dasselbe“ (ebd. S. 416). Freud zieht folgenden Schluss: „Wir halten uns nach diesen Beobachtungen für berechtigt, in die Formel des Totemismus – für den Mann – den Vater an Stelle des Totemtieres einzusetzen. Wir merken dann, daß wir damit keinen neuen oder besonders kühnen Schritt getan haben. Die Primitiven sagen es ja selbst und bezeichnen, soweit noch heute das totemistische System in Kraft besteht, den Totem als ihren Ahnherrn und Urvater. Wir haben nur die Aussage dieser Völker wörtlich genommen, mit welcher die Ethnologen wenig anzufangen wußten und die sie darum gern in den Hintergrund gerückt haben. Die Psychoanalyse mahnt uns, im Gegenteil gerade diesen Punkt hervorzusuchen und an ihn den Erklärungsversuch des Totemismus zu knüpfen.“ (ebd.)
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Und er argumentiert weiter, dass durch die Gleichsetzung des Totems mit dem Vater auch der Zusammenhang zwischen Exogamie und Totemismus erbracht sei, da hierdurch „die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weibe nahm, und mit den beiden Urwünschen des Kindes, deren ungenügende Verdrängung oder deren Wiedererweckung den Kern vielleicht aller Psychoneurosen bildet“ (ebd. S. 417). Die These, es läge der Entstehung der geschilderten kindlichen Neurose sowie der des Totemismus die Konstellation des ödipalen Konfliktes zugrunde, versucht Freud im Weiteren argumentativ zu untermauern. Kennzeichnend sei für das Totemmahl, dass das Totemtier nur im Rahmen der Gemeinschaft getötet werden dürfe und am Festmahl nur Angehörige eines Clans teilnahmen. Das Opfertier sei folglich wie ein Stammesangehöriger behandelt worden, der ja auch nur auf gemeinschaftlichen Beschluss (z.B. aufgrund eines schweren Verbrechens) und im Beisein aller getötet werden durfte. Der Akt des Verspeisens dieses Opfers sei ein bindendes Element für den Clan. Und Freud führt seine Vorstellung eines Totemmahles blumig aus: „Der Clan, der sein Totemtier bei feierlichem Anlasse auf grausame Art tötet und es roh verzehrt, Blut, Fleisch und Knochen; dabei sind die Stammesgenossen in die Ähnlichkeit des Totem verkleidet, imitieren es in Lauten und Bewegungen, als ob sie seine und ihre Identität betonen wollen. Es ist das Bewusstsein dabei, daß man eine jedem Einzelnen verbotene Handlung ausführt, die nur durch die Teilnahme aller gerechtfertigt werden kann; es darf sich auch keiner von der Tötung und der Mahlzeit ausschließen. Nach der Tat wird das hingemordete Tier beweint und beklagt. Die Totenklage ist eine zwangsmäßige, durch die Furcht vor einer drohenden Vergeltung erzwungene, ihre Hauptabsicht geht dahin, [...] die Verantwortlichkeit für die Tötung von sich abzuwälzen.“ (ebd. S. 424)
In der auf die Trauer folgenden Festfreude des Clans werde die Ambivalenz deutlich, die die Stammesangehörigen ihrem Totem entgegenbrächten. Und hier sieht Freud den Beweis als erbracht an, dass dem Totemismus dieselben psychischen Vorgänge zugrunde liegen wie dem Ödipuskomplex bzw. dass Letzterer die Ursache für den Totemismus sei: „Die Psychoanalyse hat uns verraten, daß das Totemtier wirklich der Ersatz des Vaters ist, und dazu stimmte wohl der Widerspruch, daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß seine Tötung zur Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet und doch betrauert. Die ambivalente Gefühlseinstellung, welche den Vaterkomplex heute noch bei unseren Kindern auszeichnet und sich oft ins Leben der Erwachsenen fort-
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setzt, würde sich auch auf den Vaterersatz des Totemtieres erstrecken.“ (ebd. S. 425).
Um die phylogenetische Entstehung des Totemismus zu erklären, verbindet er an dieser Stelle seine oben erläuterte Theorie mit der Annahme der Darwinschen Urhorde (vgl. Darwin 1871). In dieser habe ein „gewalttätiger, eifersüchtiger Vater [geherrscht], der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt“ (Freud 1912–13, S. 425). Diesen „Urzustand“ (ebd.) habe man zwar nirgends beobachten können, aber man könne heute noch sogenannte „Männerverbände“ (ebd.) in einigen Stämmen finden, die sich dadurch kennzeichneten, dass deren Mitglieder gleiche Rechte genössen und sowohl das totemistische als auch das matrilineare Prinzip herrsche. Und die große Frage sei, so Freud, ob das eine System aus dem anderen hervorgegangen sei. In seiner Antwort, die ich an dieser Stelle zitieren möchte, bezieht er sich abermals auf das Feiern des Totemmahles: „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre. [...] Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion 5.“ (ebd. S. 426, Hervorhebungen K.H.)
Diesem Vater hätten die Brüder der Urhorde ambivalente Gefühle entgegengebracht, ebenso wie es bei den Kindern und auch den Neurotikern seiner Zeit bei entsprechendem „Vaterkomplex“ (ebd. S. 427) zu beobachten sei. Nachdem die Brüderhorde ihren Hass ausgelebt habe, hätten sich die liebevollen Gefühle der Söhne dem Vater gegenüber in überwältigender Form gezeigt, und in Folge hätten sie Reue und Schuldbewusstsein überkommen. Durch eine Art „nachträglichen Gehorsams“ (ebd., Hervorhebung i.O.) versuchten sie die Tötung des Vaters ungeschehen zu machen, „indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf 5
Letzteren Zusammenhang begründet Freud, indem er in den für den Totemismus typischen Mechanismen (die Reue, das Schuldgefühl, die dem „Vaterkomplex“ eigene Ambivalenz und der Versuch der Regulation der entstehenden Spannungsgefühle durch Opfergaben) direkte Vorläufer für elementare Aspekte „moderner“ Religionen sieht.
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deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten“ (ebd.). Auf diesem Wege seien, so Freud, die beiden grundlegenden Taburegeln des Totemismus entstanden: die Schonung des Totemtieres und das Inzesttabu. Mit diesen beiden Tabus beginne die „Sittlichkeit der Menschen“ (ebd., Hervorhebung K.H.). Das Inzestverbot habe im Weiteren aber auch einen praktischen Nutzen für die Bruderhorde. Damit die Brüder, die ja jeder für sich die Vorherrschaft über die Frauen haben wollten, nach dem Tode des übermächtigen Vaters weiterhin miteinander leben konnten, musste die Rivalität um die Weibchen so geregelt werden, dass es nicht zu Auseinandersetzungen kam. „Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig, als – vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle – das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um derentwegen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten. Sie retteten so die Organisation, welche sie stark gemacht hatte und die auf homosexuellen Gefühlen und Betätigungen ruhen konnte, welche sich in der Zeit der Vertreibung bei ihnen eingestellt haben mochten. Vielleicht war es auch diese Situation, welche den Keim [...] zu den Institutionen des Mutterrechts legte, bis dieses von der patriarchalischen Familienordnung abgelöst wurde.“ (ebd. S. 428, Hervorhebung i.O.)
In Bezug auf die Ausgangsfrage nach dem Zusammenhang zwischen Totemismus und Exogamie hält Freud zusammenfassend fest, dass die Psychoanalyse eine enge Zusammengehörigkeit und darüber hinaus sogar einen gemeinsamen Ursprung der beiden annehme (vgl. ebd.). Freuds starker Bezug in Totem und Tabu auf spezifische Vorstellungen von Evolution ist typisch für seine Zeit (vgl. Haller 2005/Reichmayr 2003a). So ist es nicht verwunderlich, dass er neben Darwinscher Evolutionstheorie auch Vorstellungen Lamarcks und Haeckels einarbeitet, „wonach Kultur sich vom Niederen zum Höheren und vom Einfachen zum Komplexen überall gleichförmig weiterentwickelt. Phylogenese und Ontogenese werden im Zusammenhang gesehen, d.h., es wird angenommen, dass die gesamte Kulturentwicklung im Erbgut eines jeden Individuums festgelegt sei“ (Haase 1992, S. 8). Bereits zur damaligen Zeit galten große Teile der von Freud aus der Ethnologie übernommenen evolutionistischen Annahmen als überholt (vgl. Reichmayr 2003a). Die Vorstellung, der Ödipuskomplex sei der Ursprung kultureller Weiterentwicklung, wurde bereits in der Ethnologie verschiedentlich, so z.B. von Mead und Lévi-Strauss, kritisiert. Diese beruhe, so Reichmayr (2003a, S. 28f) in Anlehnung an Schoene, „auf einem Zirkelschluß. Weder ist das Postulat haltbar, daß der Akt des Urvatermordes wirklich stattfand, noch daß er phylogenetische Gedächtnisspuren hinterließ. Das ödipale Drama blieb für Freud eine
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unumstößliche Realität, die unabhängig von sozialen und historischen Strukturen existierte.“ Auch aus heutiger Sicht müssen Freuds theoretische Überlegungen vor dem Hintergrund der Cultural Studies deutlich in Frage gestellt werden, da Kultur aus dieser Perspektive als etwas Konstruiertes und Verhandeltes verstanden wird. Mit diesem theoretischen Blick auf den Gegenstand der Betrachtung ist die Annahme, dass sich kulturelle Aspekte des Menschen im Erbgut verankerten, völlig inkompatibel. Freud hat, wie viele WissenschaftlerInnen seiner Zeit, versucht, den kulturellen Ursprung der Menschen zu erforschen und hat, um dies zu erreichen, aus heutiger Sicht als ahistorisch und ethnozentrisch zu bewertende Theorien auf Angehörige anderer Kulturen angewandt. Bemerkenswert ist, dass der Soziologe und Ethnologe Richard Thurnwald bereits 1928 eine ähnliche Kritik an Freud übte: „Die Psychoanalytiker neigen dazu, den allgemeinen Charakter der von ihnen gefundenen Problemstellungen zu betonen und lassen in der Regel die Verschiedenheit der kulturellen Besonderheiten im Bann ihrer eigenen Kulturgebundenheit verschwimmen.“ (Thurnwald zit. in Reichmayr 2003a, S. 39f)
Folglich sprach sich Thurnwald auch gegen eine Analogiebildung zwischen den „Wilden“ und den „Neurotikern“ (vgl. Reichmayr 2003a) aus. Die Folge von Freuds ethnozentrischer Theorieanwendung ist eine Entwertung der als weniger weit entwickelt geltenden Menschen als „Primitive“, Kinder und Kannibalen, wobei Freud an wenigen Stellen diese koloniale Sichtweise relativiert, indem er bestimmte Positionen als gesellschaftlich gefärbt markiert. Wie Freud die Trennung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ folgenreich konstruiert, beschreibt Oppitz (1993, S. 151): „Spekulativ in gefährlicherem Sinn sind indessen die Behauptungen Freuds, die sog. Wilden, die näher am menschlichen Urzustand lebten, seien durch größere Gefühlsambivalenz und stärkere Sexualisierung des Lebens gekennzeichnet. Solche Behauptungen erlauben unmittelbar die Errichtung einer Trennwand entlang der Achse zivilisiert/primitiv, die schnell gleichgesetzt wird mit einer anderen: wir/nicht-wir.“
Mario Erdheim (1991) weist in seiner Einleitung zu Totem und Tabu darauf hin, dass sich Freud selbst zeitlebens mit seinen Rassismen und Vorurteilen, die in diejenigen seiner Zeit eingebettet waren, auseinandersetzen musste. „Freud mußte immer wieder neu gegen die Denkklischees, wie zum Beispiel den Rassismus, ankämpfen. Sein Lamarckismus [...] gehört dazu.
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Oft wird übersehen, daß dieser Glaube ein Grundtheorem des Rassismus ist, der widerspruchslos die Annahme einer ‚Rassenseele‘ gestattet, welche Freud in der Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) beiläufig unter Berufung auf Le Bon auch macht.“
Johannes Reichmayr und seine KollegInnen resümieren, dass Freud „zeitlebens Anhänger der evolutionistischen Ethnologie [blieb], die ethnozentrisch war. Von daher kann auch seine Behauptung, daß die ‚Primitiven‘ näher am menschlichen Urzustand lebten und daher auch durch eine stärkere Sexualisierung des Lebens gekennzeichnet seien, leicht der Konstruktion imaginärer, letztlich rassistisch-biologistischer Differenzen Vorschub leisten“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer 2003, S. 137). Andere Autoren, wie Friedrich-Wilhelm Eickhoff (2004) oder Wolfgang Hegener (2008), verteidigen Freuds phylogenetische Annahmen in Bezug auf die Entstehung der Kultur, indem sie argumentieren, der „,phylogenetische Faktor‘ [sei] keinesfalls identisch mit der Vererbung kulturell erworbener Eigenschaften […], sondern [beziehe] unbewußte Formen der Kommunikation in einer generationsübergreifenden kulturellen Transmission zentral mit [ein]“ (Hegener 2008, S. 272). Diese Annahmen versucht Hegener mit Befunden aus der modernen Genetik zu belegen. Anders als von Ernest Jones behauptet, wurde Totem und Tabu keineswegs innerhalb der Ethnologie völlig abgelehnt. Vielmehr wurde dieses Werk Freuds differenzierter Kritik unterzogen und hatte besonders im angloamerikanischen Raum eine weitreichende Wirkungsgeschichte, da dort die Psychoanalyse maßgeblich die Entwicklung der amerikanischen Cultural Anthropology beeinflusste (vgl. Reichmayr 2003a/Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer 2003). Besonders bekannt und in Folge bedeutsam ist die Auseinandersetzung des Ethnologen Bronislaw Malinowski mit Freuds Annahmen, die die sogenannte Malinowski-Jones-Debatte nach sich zog.
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Die Malinowski-Jones-Debatte „Der Vorwurf des Wissenschaftlers gegen die Psychoanalyse ist nicht, daß sie die Sexualität offen und mit der ihr zukommenden Betonung, sondern daß sie sie nicht richtig behandelt.“ (Malinowski 1962, S. 8) Bronislaw Malinowski (1885–1942) Naturwissenschaftler, Psychologe, Ethnologe 1913 1922 1926 1927 1929 1944 1967
The Family among the Australian Aborigines. Reprint (2006) Adamont Media Corporation Argonauts of the Western Pacific. (2001) Eschborn bei Frankfurt a. M.: Klotz Crime and Custom in Savage Society. (1966) London: Routledge Kegan & Paul The Father in Primitive Society. London: Kegan Paul French & Co The Sexual Life of Savages in North-West-Melanesia. London, New York: Routledge & Sons A Scientific Theory of Culture. Dt. (2005). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag A Diary in a Strict Sense of Term. Dt. (1986). Frankfurt a. M.: Syndikat
Quelle: http://wikipedia.org/wiki/Bronislaw_Malinowski, letzter Zugriff: 22.12.2008
Bronislaw Kaspar Malinowski wurde 1885 in Krakau geboren und verstarb 1942 in New Haven, Connecticut. Nach seinem Abitur studierte er zunächst Mathematik und Naturwissenschaften, im Weiteren zudem noch Psychologie und Philosophie an der Universität Krakau. 1909 setzte er seine Studien in Leipzig fort (dort hörte er auch Wundts Völkerpsychologie) und übersiedelte 1910 nach England, um dort zwei Jahre lang an der London School of Economics and Political Science (LSE), die an die University of London angegliedert war, sein Studium zu vertiefen. Malinowski erhielt 1913 einen Lehrauftrag für Sozialpsychologie an der LSE und wurde 1927 der Inhaber des neu eingerichteten Lehrstuhles für Anthropologie (vgl. Wesseling 2006). Somit wurde Malinowski zu einem der wichtigsten Vertreter der britischen Social Anthropology6 (vgl. Haller 2005). Sein Werk The family among the Australian Aborigines (2006, i.O. 1913) gilt noch als konventionell, da es nicht auf eigener Feldforschung, sondern auf einem Literaturstudium beruht. Seine ersten Feldstudien unternahm er zwischen August 1914 und März 1915 auf der Insel Mailu (The Natives of Mailu, 1915), diese wurden von zwei Expeditionen auf das Trobriand-Archipel in Melanesien (Juni 1915 bis Mai 1916/Oktober 1917 bis Oktober 1918) gefolgt. In Konse6
Im angelsächsischen Raum entspricht Anthropology in etwa unserer Ethnologie (vgl. Haase 1993).
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quenz der beiden letzteren Forschungsreisen entstanden seine Werke Argonauts of the Western Pacific (2001, i.O. 1922), Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften (1962, i.O. 1927) und Das Geschlechtsleben der Wilden (1930, i.O. 1929). Die methodologische Einleitung zu Argonauts of the Western Pacific galt als bahnbrechend, da er in ihr die participant observation als neuen empirischen Forschungsansatz beschrieb (vgl. Wesseling 2006). Nach Malinowski wird der Feldaufenthalt zu einem zentralen Postulat der ethnologischen Forschung (vgl. Haller 2005). Innerhalb der Ethnologie wird Malinowski zu den Funktionalisten gezählt, die „das Individuum mit seinen Bedürfnissen nach bestimmten Funktionen in den Mittelpunkt der Betrachtung [stellen]. Jede Institution, die ein Bedürfnis befriedigt, erfüllt eine Funktion. Die Funktion der ‚Institution Familie‘ ist es etwa, die Gesellschaft mit Mitgliedern zu versorgen, die Menschen soz[ial] und emotional zu schützen etc.“ (Haller 2005, S. 49). Und weiter bei Bargatzky (1997, S. 212f): „Für Malinowski […] ist Kultur ein Apparat, der die Menschen in die Lage versetzt, besser mit den Problemen fertig zu werden, die ihnen aus der Auseinandersetzung mit der Umwelt beim Versuch der Befriedigung ihrer Bedürfnisse erwachsen. […] Das Grundthema von Malinowskis Kulturtheorie ist die Betonung der biotischen und psychischen Einheit aller Menschen und der sich daraus ergebenden Grundbedürfnisse vor dem Hintergrund der kulturellen Verschiedenheit. Seine Erklärung der Entstehung von Institutionen wie Familie, Recht und Religion läuft also in das Schema vorausgesetzter Instinkte aus, die durch zweckbewußtes Verhalten befriedigt werden. Die Institutionen erscheinen bei Malinowski als zweckmäßige Veranstaltungen, um den Menschen besser im Dasein zu halten.“
Malinowski hatte Kenntnisse Freudscher Theorien und war der erste Ethnologe, der versuchte, freudianische Konzeptionen mittels Feldforschung zu überprüfen (vgl. Reichmayr 1995). Im Speziellen beschäftigte er sich mit der Frage, ob der Ödipuskomplex, wie ihn Freud konzipiert hatte, auf andere Kulturen in dieser Form übertragbar sei, und suchte Antworten mittels des Materials, das er auf seinen Forschungsreisen nach Trobriand zusammengetragen hatte. In seinem Artikel Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex, der in der psychoanalytischen Zeitschrift Imago von 1924 veröffentlicht wurde, stellte er seine Forschungsbefunde und Schlüsse dar und legte somit den Grundstein für die später so genannte „Malinowski-Jones-Debatte“. Malinowski beschreibt in diesem Beitrag, wie sich die spezifische Sozialisation der in einer matrilinearen Gesellschaft aufwachsenden TrobrianderInnen auf ihre psychische Entwicklung auswirkt. Er versteht seine Arbeit als „soziologische[n] Ausblick“, da „die Lehre vom Ödipus-Komplex unverkennbar soziologische Ausblicke bietet, […] dieser Aspekt [merkwürdigerweise] die geringste Beachtung gefunden [hat] und auch
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das erst in der letzten Zeit“ (Malinowski 1924, S. 228f / vgl. auch ders. 1962). In diesem Zusammenhang stellt er fest: „Der soziale Charakter der Lehre ist offenkundig: das ganze Freudsche Drama spielt sich innerhalb einer sozialen Gemeinschaft von bestimmtem Typus ab, im engen Kreis der Familie, bestehend aus Vater, Mutter und deren Nachkommenschaft. Also der Kernfamilienkomplex, das wichtigste Moment im menschlichen Seelenleben laut Freud, ist das Ergebnis eines bestimmten Typus von sozialer Gruppierung.“ (ebd., S.229, Hervorhebung i.O.)
Doch „,die Familie‘“, so Malinowski, „ist doch nicht dasselbe in allen menschlichen Gesellschaften. Ihre Beschaffenheit wechselt sehr mit dem Entwicklungsgrad und der Zivilisationsart eines Volkes und sie ist auch nicht identisch in den verschiedenen Schichten derselben Gesellschaft“ (ebd. S. 229f). Und daran schließt er die zentrale Frage an: „[…] ändern sich die Konflikte, Affekte und Neigungen innerhalb der Familie mit der Form der Familie, oder bleiben sie gleich innerhalb der Menschheit?“ (ebd. S. 230)
Malinowski selbst sieht durch sein Datenmaterial den Beweis als erbracht an, dass sich „Konflikte, Affekte und Neigungen“ entsprechend der Familienorganisation verändern, und beschreibt dies detailliert in seinem Artikel, in dem er die „Beschaffenheit der Familie in einer patriarchalischen und in einer mutterrechtlichen Gesellschaft“ (ebd. S. 232) miteinander vergleicht und daraufhin darstellt, wie sich dies auf die Entwicklung des „Kernkomplexes“ bei den TrobrianderInnen im Gegensatz zur Entwicklung des Ödipuskomplexes des „uns“ bekannten Familientypus auswirke. Detailliert beschreibt Malinowski die Konstellation der matrilinear organisierten Familie auf Trobriand, deren wichtigste Merkmale hier nur in Kürze dargestellt seien (vgl. dazu noch ausführlicher ders. 1962). Verwandtschaft werde in Melanesien als von der Mutter abgeleitet verstanden, d.h. „Nachfolge und Erbrecht gelten der mütterlichen Linie“ (Malinowski 1924, S. 233), d.h. das Kind werde als zum Clan der Mutter gehörig zugeordnet (vgl. dazu auch ders. 1929). In der heutigen Ethnologie spricht man in Bezug auf eine solche Organisation von „matrilinearer Deszendenz“ (Haller 2005, S. 217). Der Vater (in unserem Sinne), so Malinowski, werde in Melanesien nicht als an der Zeugung des Kindes beteiligt gesehen, „er hat physiologisch nichts mit der Geburt zu tun, entsprechend den Anschauungen der Eingeborenen, denen physische Vaterschaft vollkommen unbekannt ist. Die Kinder gelangen nach dem Glauben der Eingeborenen als winzige Geister in den Schoß der Mut-
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ter, was im Allgemeinen der Wirkung des Geistes einer verstorbenen Verwandten der Mutter zugeschrieben wird“ (Malinowski 1924, S. 233). Die Rolle des Vaters sei die des Beschützers und desjenigen, der das Kind zwar liebevoll pflege, aber in unserem Verständnis eher ein guter Freund statt ein anerkannter Verwandter des Kindes sei. Die Rolle desjenigen, der Autorität über das Kind ausübe, komme aufgrund des matrilinearen Verwandtschaftsverständnisses dem Bruder der Mutter zu. Er übe über das Kind „die unmittelbare potestas aus“ (ebd. S. 234, Hervorhebung i.O.), in seine Erbfolge trete es. Zwischen Bruder und Schwester sei schon seit ihrer Kindheit ein strenges Tabu errichtet: „Schon im frühen Alter, wenn das Mädchen zum ersten mal ihr Grasröckchen anlegt, werden Brüder und Schwestern derselben Mutter voneinander getrennt, in Befolgung des strengen Tabus, das jede intime Beziehung zwischen ihnen verbietet. Ja sogar schon früher, wenn sie sich selbständig bewegen und gehen können, spielen sie in verschiedenen Gruppen. Späterhin kommen sie in Gesellschaft zusammen und niemals darf der leiseste Verdacht entstehen, daß einer von ihnen an den Liebesangelegenheiten des anderen irgend ein Interesse nimmt.“ (ebd. S. 261)
Demgegenüber stellt er die Organisation der „europäischen“ Familie, wobei er auch hier zwischen der „luxuriösen Kinderstube der reichen Bourgeois“ und „der Hütte des Bauern“ bzw. der „Einzimmerwohnung des Arbeiters“ (ebd. S. 236) unterscheidet und postuliert, dass auch innerhalb dieser schichtspezifischen Familienformen „der infantile Konflikt nicht derselbe sein wird“ (ebd.). Malinowski beschreibt für die Darstellung der Differenzen auf psychischer Ebene, die die jeweilige Konstellation der Familie bewirke, in der Entwicklung des Kindes verschiedene Phasen. An dieser Stelle seien nur die für unser Thema wichtigsten Unterschiede dargestellt, im Einzelnen können sie im Original detailliert nachgelesen werden. Ein wesentlicher Gegensatz zwischen der matrilinearen Familie Melanesiens und der patriarchalen Familie „bei uns“ bestehe in Bezug auf die Rolle des Vaters. Während er in unserer Gesellschaft durch alle Schichten hindurch nur sehr wenig mit dem Säugling zu schaffen habe, stehe er „in einer primitiven Gesellschaft, in der die physischen Bande der Vaterschaft unbekannt sind und Mutterrecht obwaltet, […] dennoch in einer viel intimeren Beziehung zu den Kindern […], als es normalerweise bei uns selbst der Fall ist“ (ebd. S. 241). In unserer Gesellschaft sei die Rolle des Vaters die des Versorgers und „absoluten Herrschers“ (ebd. S. 244) der Familie, der „leicht zum Tyrannen“ (ebd.) werden könne, während der Vater auf Trobriand ein „Kindermädchen zu sein [hat], zärtlich und liebevoll“ (ebd.). Ebenso bedeutsam sei der Unterschied im Alter von vier bis sechs Jahren, der „zweiten Kindheitsperiode“ (ebd. S. 248) nach Malinowski. In dieser lernten
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die Kinder „bei uns“ (zumindest in der gehobenen Schicht, weniger bei den Bauern und Arbeitern) in Bezug auf ihre analerotischen Interessen zwischen „Anständigem“ und „Unanständigem“ zu unterscheiden und ihr „Interesse an exkretorischen Funktionen, Exhibitionen, Kinderspielen mit schlüpfrigen Themen“ (ebd. S. 248) vor den Erwachsenen, besonders vor dem Vater als moralischer Instanz, zu verbergen. Auf Trobriand verhalte es sich damit so, dass die Kinder in dieser Phase ein ebensolches Interesse hätten, dies aber nicht vor den Erwachsenen verbergen müssten. In der von Malinowski so genannten „dritten Kindheitsperiode“ (ebd. S. 248), also dem Alter zwischen fünf und sieben Jahren, bestehe die wesentliche Verschiedenheit zwischen „unserer“ patriarchalen Familienorganisation und der der TrobrianderInnen im Umgang mit der kindlichen Sexualität. Im Gegensatz zur bourgeoisen Familie gebe „es nämlich bei ihnen keine Verdrängung, keine Zensur, kein moralisches Verwerfen der infantilen Sexualität genitalen Charakters […], wenn diese […] ans Licht tritt“ (ebd. S. 250). Erst zu einer späteren Zeit, in der Pubertät, finde eine Art von Regelung und Tabuisierung der Sexualität statt. Ebenso auffallend sei der Unterschied im Alter zwischen fünf und sieben Jahren, in der „die Kinder auf den Trobriandinseln ein kleine jugendliche Gemeinschaft innerhalb der Gemeinschaft bilden. Sie schweifen in Banden umher, spielen an entfernten Ufern oder abgeschiedenen Teilen des Urwaldes, vereinigen sich mit anderen kindlichen Gemeinschaften benachbarter Dörfer und sind in alledem, obwohl sie den Weisungen ihrer kindlichen Führer gehorchen, vollständig unabhängig von der Autorität der Eltern“ (ebd. S. 252). Der Vater auf Trobriand bleibe, wie bisher, auch in dieser Phase der Freund der Kinder, während der Onkel mütterlicherseits als „das Prinzip der Stammesvorschriften und Autorität, der Unterwerfung unter einen Zwang und unter das Verbot gewisser wünschenswerter Dinge“ (ebd. S. 253) in Funktion trete. In der patriarchalen Familie verhalte es sich so, dass „[d]as Kind […] nun zu verstehen [beginnt], was es früher gefühlt und erraten hat, nämlich die festgefügte Autorität der Vaters als Familienoberhaupt und seine ökonomische Bedeutung“ (ebd. S. 252). Zudem zerbröckele das in einer früheren Phase entstandene Idealbild des mächtigen Vaters in dieser Zeit, und das Kind, das „anfänglich nur ein unbestimmtes Missbehagen bei der üblen Laune oder Schwäche seines Vaters, Angst vor seinem Zorn, ein dumpfes Gefühl von Ungerechtigkeit und vielleicht eine gewisse Scham bei einem wirklich schlimmen Ausbruch des Vaters“ (ebd. S. 252f) empfunden habe, entwickle eine spezifische Einstellung zum Vater „voll von gegensätzlichen Affekten, eine Mischung von Ehrfurcht, Verachtung, Liebe und Abneigung, Zärtlichkeit und Furcht“ (ebd. S. 253).
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Die spezifische Konstellation in der matrilinearen Familie (die Zugehörigkeit zum Stamm der Mutter und die Unterwerfung unter die potestas des Bruders mütterlicherseits, das Tabu zwischen Bruder und Schwester, die „freundschaftliche“ Rolle des Vaters, die nicht stattfindende Verdrängung der infantilen Sexualität) führe, so Malinowski zusammenfassend, zu einem anderen „Kernkomplex“ (ebd. S. 271) als dem Ödipuskomplex der patriarchalen Familie. Diese beiden Komplexe kontrastiert er folgendermaßen: „Der Ödipuskomplex, der für unsere patriarchale Gesellschaft typisch ist, bildet sich in der frühen Kindheit, teilweise während des Übergangs von der ersten zur zweiten Periode, teilweise im Verlaufe der letzteren, so dass gegen Ende derselben, d.h. wenn der Knabe fünf oder sechs Jahre alt ist, seine Einstellung eigentlich fertig, wenn auch nicht endgültig ausgebildet ist. Diese Einstellung enthält in sich bereits zahlreiche Elemente von Haß und unterdrücktem Wunsch. […] In der matrilinearen Gesellschaft hat zwar das Kind in dieser Periode schon ganz bestimmte Gefühle gegen Vater und Mutter entwickelt, aber diese enthalten nichts von Verdrängung, nichts Negatives, keinen unerfüllten Wunsch.“ (ebd. S. 272, Hervorhebungen i.O )
Und, etwas später im Text: „Wenn wir auf jede der beiden Gesellschaftsformen eine kurze, etwas rohe Formel anwenden, so können wir sagen, daß sich im Ödipuskomplex der verdrängte Wunsch findet, den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten, während bei den Trobriandinsulanern mit ihrer matrilinearen Gesellschaftsform der Wunsch darin besteht, die Schwester zu heiraten und den Bruder der Mutter zu töten. “ (ebd. S. 275, Hervorhebungen i.O.)
Seine Forschungsergebnisse sieht Malinowski als Beweis dafür an, dass sich der von ihm so benannte „Kernkomplex“ mit der jeweils gesellschaftlich geprägten Form von Familienorganisation verändere. „Wir schulden der Psychoanalyse die Entdeckung, daß es in unserer Gesellschaft eine typische Gefühlsgruppierung gibt und die teilweise, vor allem auf der Sexualität beruhende Erklärung, weshalb ein solcher Komplex existieren muß. […] Durch meine Analyse habe ich festgestellt, daß Freuds Theorien der menschlichen Psychologie nicht nur in rohen Zügen entsprechen, sondern daß sie sich eng den Wandlungen anschließen, die die verschiedenen Grundlagen der Gesellschaft in der menschlichen Natur hervorbringen. Mit anderen Worten, ich habe die tiefgehende Beziehung zwischen einem Gesellschaftstypus und seinem Kernkomplex aufgezeigt. […] Um mich konkreter auszudrücken: es scheint notwendig, die Wechselbeziehung biologischer und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen, nicht überall die Existenz des Ödipuskomplexes zu behaupten, sondern jeden
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Kulturtypus zu studieren und den besonderen Komplex festzustellen, der zu ihm gehört.“ (ebd. S. 276, Hervorhebungen i.O.)
So weit die Darstellungen Malinowskis, die die Vorstellungen Freuds in Bezug auf die Universalität des Ödipuskomplexes kontrastieren. Malinowskis Grundhaltung wird innerhalb der Ethnologie in die universalistischen Theorien7 eingeordnet, „da er von allg[emein] menschl[ichen] Grundbedürfnissen aus[geht], die von jeder Kultur befriedigt werden müssen“ (Haller 2005, S. 33). An diesem Punkte unterscheidet sich seine Position von den ebenfalls universalistischen Annahmen Freuds nicht wesentlich. Seine Kritik an Freuds Ödipuskomplex-Theorie ist jedoch so deutlich, dass sie den FreudAnhänger Ernest Jones dazu bewegte, seinerseits Malinowski zu kritisieren bzw. Freud zu verteidigen. Ernest Jones (1879–1958) Arzt, Psychiater, Psychoanalytiker 1913 1923 1924 1953– 57 1959
Papers on Psycho-Analysis. London: Baillière, Tindall and Cox Essays in Applied Psycho-Analysis. London, Wien: International Psychoanalytic Press Psychoanalyse und Anthropologie. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. S. 133–158 The Life and Work of Sigmund Freud. New York: Basic Books Free Associations: Memories of a psychoanalyst. London: Hogarth Press
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer (2003). Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial
Ernest Jones war ein Schüler und Freund Sigmund Freuds. Bekannt wurde seine 1953 herausgegebene dreibändige Freud-Biographie Sigmund Freud. Leben und Werk (1987). Jones’ im Jahre 1927 ebenfalls in Imago erschienener Artikel8 ist als direkte Antwort auf Malinowskis Kritik an der Annahme eines universell gültigen Ödipuskomplexes, wie Freud ihn darstellt, zu sehen. Um Malinowskis Argumentationslinie zu kritisieren, behandelt Jones in seinem Beitrag vier thematische Bereiche: 7
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Im Gegensatz dazu stehen die kulturrelativistischen Theorien (z.B. von Boas und seinen SchülerInnen), die „nicht nur die Gleichwertigkeit und Einzigartigkeit aller Kulturen, sondern auch die Unvergleichbarkeit ihrer Weltbilder“ (Haller 2005, S. 35, Hervorhebung i.O.) betonen. Ursprünglich wurde dieser Text am 19.11.1924 als Vortrag in der British Psycho-Analytical Society gehalten.
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Das Vorkommen und die Form des Matriarchats bzw. matrilinearer Gesellschaftsformen in der Geschichte der Menschheit. Erklärungen für „die wichtigsten Probleme des Mutterrechts, seine allgemeine Bedeutung, sowie die Ursachen seiner Entstehung und späteren Verdrängung“ (Jones 1927, S. 204). Die Ausarbeitung „[e]iner psychoanalytische[n] Theorie des Mutterrechts“ (ebd. S. 209). „Das Verhältnis von Mutterrecht und Vaterrecht“ (ebd. S. 220).
Wichtig in Bezug auf die Malinowski-Jones-Debatte ist speziell Jones’ „Erklärung für das Mutterrecht“ (ebd. S. 204). Er bezweifelt prinzipiell die Behauptung Malinowskis, die TrobrianderInnen besäßen kein Wissen über den Akt der Zeugung und die Tatsache der Vaterschaft. Schließlich, so Jones, gebe es Andeutungen in Mythen und Riten der „Wilden“, die auf einer Symbolebene zumindest auf eine Ahnung der Bedeutung des Sexualaktes schließen ließen: „Einen Psychoanalytiker muß der unmissverständliche Symbolismus dieser unwissenden Wilden in allen Äußerungen über Fortpflanzung beeindrucken, ein so genauer Symbolismus, daß er zum mindesten die unbewußte Ahnung der Wirklichkeit verrät. So spielt das Wasser eine große Rolle bei der Befruchtung. Die Geisterkinder, waiwaias, kommen über das große Wasser, häufig in einem Körbchen (dem Symbol des Mutterleibes, in dem Moses angeschwommen kam), und treten gewöhnlich während des Badens in den Leib der Mutter ein; wenn die Frauen eine Empfängnis vermeiden wollen, müssen sie sich am sorgfältigsten vor dem Meeresschaum hüten – ganz offensichtlich einem Symbol des Samens.“ (Jones 1927, S. 207f)
Zudem könne es doch den Verstand der „Wilden“ nicht übersteigen, einen Zusammenhang zwischen Koitus und der Geburt eines Kindes herzustellen, wenn schon „unsere“ zweijährigen Kinder dazu in der Lage seien (vgl. ebd.). Jones stellt als Kontrast zu Malinowski eine eigene „psychoanalytische Theorie des Mutterrechts“ (ebd. S. 209) auf und argumentiert erwartungsgemäß ausschließlich innerhalb psychoanalytischer Begrifflichkeiten und Konzepte. Er argumentiert, „der primitive Mensch“ (ebd. S. 209) überdecke sein instinktiv vorhandenes Wissen über den Zusammenhang von Sexualakt und der Geburt eines Nachkommen durch totemistische Vorstellungen. Dieses Wissen sei unbewusst, da es der Verdrängung unterlegen sei. Und: „Sobald die Frage angeschnitten wird, ob Ideen im Zustand der Verdrängung vorhanden sind und, wenn dem so ist, welches die vermutlichen Ursachen der Verdrängung gewesen sein mögen, dann hat gewiß der Psychoanalytiker auch ein Wort zu sagen. Ich möchte daher an dieser Stelle eine psychoanalytisch fundierte Hypo-
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these entwickeln, die – ihre Richtigkeit vorausgesetzt – uns zeigen soll, daß zwischen der Unkenntnis des väterlichen Zeugungsanteils einerseits und der Institution des Mutterrechts anderseits eine sehr enge Korrelation besteht.“ (ebd., S. 211)
Beide Aspekte (das Mutterrecht und die „Unkenntnis“), so Jones, hätten ihre Begründung darin, die ödipale Konstellation zu entschärfen, indem sie „den Haß des heranwachsenden Knaben gegen den Vater“ (ebd., Hervorhebung i.O.) ablenkten. Aus der Liebe, die der Mutter entgegengebracht werde, einerseits und dem genannten Hass dem Vater gegenüber andererseits entstehe der ödipale Konflikt. Dieser sei bei den „Wilden“ viel stärker ausgeprägt als bei „uns“, „es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß sie auch kompliziertere Einrichtungen schaffen müssen, um ihre Triebe dauernd unterdrückt zu halten. Sie haben gewissermaßen mehr Ursache, sie zu fürchten als wir, beziehungsweise weniger Kraft, sie abzulenken“ (ebd.). Und im Weiteren stellt er mit Bezug auf Reik einen Vergleich an zwischen den psychischen Vorgängen von „Wilden“ und denen von „Neurotikern“: „Indem sie die Inzestneigungen unbewußt der Tatsache der Geburt zuschreiben, scheinen sich die Wilden in den gleichen ‚retrospektiven Phantasien‘ zu ergehen wie unsere Neurotiker, die sich in dieser Beziehung oft ganz genau so verhalten und von denen wir wissen, daß sie durch ihr Verhalten dem Verbrechen der infantilen Sexualität zu entgehen suchen, indem sie es durch unschuldige Gedanken über den Geburtsakt ersetzen.“ (ebd. S. 212)
Der Zeugungsakt müsse von den TrobranderInnen in Folge verleugnet werden und werde durch die Vorstellung, der Vater sei an der Empfängnis nicht beteiligt gewesen, ersetzt. Diese Annahme entspreche von ihrem Prinzip her dem „Mythos der jungfräulichen Mutter“ (ebd. S. 213), der auf der ganzen Welt weit verbreitet sei. Wie bereits erwähnt, dienten diese Phantasien „der Milderung und Ablenkung des Hasses gegen den Vater – ein Zustand, der von Vater und Sohn gleich lebhaft herbeigewünscht wird“ (ebd.). Die dem Vater gegenüber entstehenden Affekte unterlägen bei den TrobrianderInnen dem Abwehrmechanismus der Spaltung, so dass nur die liebevollen Affekte dem Vater zugeschrieben würden, die aversiven jedoch dem Onkel – „[…] die beiden Männer“, so Jones (ebd. S. 216), seien „unbewußte Äquivalente“. Jones folgert zusammenfassend, dass er auf einer phänomenologischen Ebene der Argumentation Malinowskis in Bezug auf die Annahme eines spezifischen Kernkomplexes der BewohnerInnen Trobriands folgen könne; was die Genese diese Kernkomplexes angehe, so halte er das genaue Gegenteil für zutreffend: „Freud betrachtet bekanntlich das Verhältnis zwischen Vater, Mutter und Sohn als ein Schema, von dem sich alle übrigen komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse
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ableiten. Malinowski dagegen behauptet, der Familien-Kernkomplex variiere je nach der bestehenden Gesellschaftsordnung. […] Solange wir nur die Soziologische Seite der Tatsachen im Auge haben, erscheint diese Hypothese sehr geistreich und vielleicht sogar einleuchtend. Die Vernachlässigung der genetischen Seite des Problems jedoch führt meiner Ansicht nach zu dem Fehlen der, wie ich es an anderer Stelle genannt habe, räumlichen Perspektive, d.h. dem Gefühl für Wert und Maß, das sich auf eine genaue Kenntnis des Unbewußten gründet; ich glaube daher, daß das Gegenteil von Malinowskis Annahme der Wahrheit näher kommt. Ich halte es für wahrscheinlicher, daß das matrilineare System mit seinem Avunkularkomplex auf die vorhin beschriebene Weise als Abwehr gegen die primären Ödipustendenzen entstand, als daß es aus unbekannten soziologischen Ursachen entstanden ist, die den Avunkularkomplex zur Folge hatten […].“ (ebd. S. 219f, Hervorhebungen i.O.)
Warum dieses Festhalten an Freuds These für Jones elementar ist, wird deutlich, wenn man die Bedeutung, die er ihr beimisst, beleuchtet: „Nach Malinowskis Hypothese wäre der Ödipus-Komplex ein spätes Produkt; nach der psychoanalytischen Hypothese ist er fons et origo.“ 9 (ebd. S. 220, Hervorhebungen i.O.)
„Quelle und Ursprung“ Freudscher Psychoanalyse muss also nach Jones’ Ansicht in der Auseinandersetzung mit Malinowski verteidigt werden. Im letzten Abschnitt seiner Arbeit widmet sich Ernest Jones der Frage nach dem „Verhältnis zwischen Mutterrecht und Vaterrecht“ (ebd. S. 220). Diese Ausführungen sind insofern von Interesse, als in ihnen deutlich wird, welche Gesellschaftsform er als allgemeine Norm bzw. als Normalität setzt. Im Zentrum steht die Frage, „ob das Vaterrecht, wie wir es kennen, oder das Mutterrecht, wie wir es bei den Wilden finden, früher bestanden hat“ (ebd.). An dieser Stelle bezieht sich Jones auf Freuds Urhordentheorie und konstatiert: „[...] das Mutterechtssystem mit seinem Avunkularkomplex [ist] eine der viele Methoden, die zur Abwehr der unter dem Namen Ödipus-Komplex zusammengefaßten Tendenzen dienen sollen.“ (ebd. S. 222)
Und weiter: „Wir können natürlich nichts darüber sagen, ob das Mutterrecht ein notwendiges Entwicklungsstadium des heutigen patriarchalischen Systems darstellt; doch ich sehe keinen Grund dafür und die Tatsache, dass die niedrigstehenden australischen Wilden, deren primitive Triebe schwer genug zu bändigen sind, mit ihnen durch ei9
Vergleiche dazu Freuds Ausführungen in Totem und Tabu zu Beginn dieses Kapitels.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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ne dritte Methode – das Totem- und Tabusystem – fertig werden können, bestärkt uns noch in unserem Zweifel.“ (ebd.)
Deutlich wird, dass Jones im Vergleich zum matrilinearen System das Patriarchat für die „richtige“ im Sinne einer nicht neurotischen Gesellschaftsform hält. Auf dem Wege vom Tier zum zivilisierten Menschen stehe das Patriarchat höher als matrilineare Gesellschaftsformen und sei reifer. Dafür gelte es im Patriarchat allerdings Opfer zu bringen, die jedoch durch Freiheit und Wahrhaftigkeit belohnt würden, so jedenfalls nach Jones, der an dieser Stelle schon fast schwärmerisch wirkt: „Das patriarchalische System in seiner heutigen Gestalt bedeutet die Anerkennung der Vorherrschaft des Vaters, noch dazu eine willige Anerkennung, die nicht erst der Zuflucht zum Mutterrecht oder zu komplizierten Tabus bedarf. Es bedeutet Zähmung des Menschen, die allmähliche Verarbeitung des Ödipus-Komplexes. Endlich kann der Mensch seinem wirklichen Vater frei ins Gesicht sehen und mit ihm leben. Freud sagt mit Recht, die Anerkennung der dem Vater gebührenden Stellung innerhalb der Familie bezeichne den wichtigsten Kulturfortschritt. Soweit wir wissen, ist dies – wenigstens zum Teil – dem Ersatz des Hasses durch eine sublimierte Homosexualität zu danken, dem Ersatz von Mordgedanken durch Kastrationsvorstellungen. Der Preis, der dafür gezahlt werden musste, ist die verminderte sexuelle Potenz des zivilisierten Mannes mit allen ihren komplizierten Konsequenzen.“ (ebd., Hervorhebung i.O.)
So weit die Darstellung der Positionen Malinowskis und Jones’. Für wichtiger als den Inhalt der Argumentationen im Einzelnen halte ich an dieser Stelle die Überlegung, welchen Erkenntnisgewinn wir aus dieser Debatte für die gesamte Arbeit ziehen können. Also stelle ich die Frage: Was lässt sich aus der Malinowski-Jones-Debatte lernen? Freuds Werk Totem und Tabu wurde, wie bereits erwähnt, innerhalb der Ethnologie von VertreterInnen verschiedener Schulen kritisiert. So setzten sich die KulturrelativistInnen10, wie z.B. Margaret Mead, mit diesem auseinander, wobei vor allem „Freuds einseitige und selektive Benutzung ethnologischer Quellen, seine von der evolutionistischen Ethnologie vergleichende Methode und die Urhordenkonstruktion, die er mit dem Inzesttabu und dem Ödipuskomplex verbunden hatte“ (Reichmayr 2003a, S. 38), im Zentrum standen. Die Psychoanaly10
Der Kulturrelativismus hebt die Einzigartigkeit, Gleichwertigkeit und Unvergleichbarkeit jeder Kultur hervor (vgl. Haller 2005).
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tikerInnen dieser Zeit hatten nicht die Bereitschaft, „ihre Positionen zu relativieren und sich von evolutionistischen Denkschemata zu befreien. Sie nahmen die hypothetischen Konstruktionen Freuds, wie die Ermordung des Urvaters durch die Brüderhorde, für historische Wahrheiten“ (ebd. S. 39). Wollen wir nach heutigem Erkenntnisstand exemplarisch die Argumentationslinien Malinowskis und Jones’ einander gegenüberstellen, so ist zunächst festzuhalten, dass hier eine sozialanthropologische bzw. ethnologische auf eine psychoanalytische Perspektive im Blick auf Mensch und Gesellschaft trifft. In allgemeiner Form zusammengefasst geht Malinowski davon aus, dass sich gesellschaftliche Bedingungen (z.B. die matrilineare Gesellschaftsform vs. das Patriarchat) auf die psychische Entwicklung und Struktur der in ihnen lebenden Menschen auswirken. Ein wichtiges „Transportmittel“ zwischen Gesellschaft und Psyche ist die sich jeweils mit den Bedingungen verändernde Familienform. So entstehen entsprechende psychische Differenzen zwischen den Angehörigen verschiedener Gesellschaften, aber auch innerhalb einer Gesellschaft, z.B. je nach Schichtzugehörigkeit. Im konkreten Falle der melanesischen Gesellschaft postuliert er aufgrund der spezifischen matrilinearen Konstellation, in der der Mutterbruder und nicht der Vater die potestas besitze, es trete als typischer Kernkomplex der (von Jones so benannte) Avunkularkomplex an die Stelle des Ödipuskomplexes. Anders formuliert hält Malinowski die Entstehung des Ödipuskomplexes, wie Jones ihn in Folge Freuds versteht, für ein kulturell konstituiertes Phänomen, nicht für eine Universalie. Jones argumentiert innerhalb psychoanalytischer Theoreme und Begrifflichkeiten und ist „nicht in der Lage, auf die theoretischen und methodischen Ansprüche und Einwände der Ethnologen angemessen einzugehen“ (Reichmayr 2003a, S. 39). Die soziologische Hauptthese Malinowskis (Gesellschaft ist veränderbar und formt entsprechend die Psyche der jeweiligen Individuen) berührt er in seinen Ausführungen nicht einmal. Eher konkretistisch bezieht er sich auf die angebliche „sexuelle Unwissenheit“ der BewohnerInnen Trobriands (die ja tatsächlich bezweifelt werden kann) und sieht an dieser Stelle, an der es seiner Ansicht nach um psychische Abwehrprozesse geht, den Einsatzort des Analytikers. Um seine Argumentation aufbauen zu können, dass die „wilden“ MelanesierInnen einer spezifischen Form von Abwehr bedürfen, die sich von der der „nicht neurotischen“ EuropäerInnen unterscheide (während sie wiederum der Abwehr der europäischen NeurotikerInnen ähnele), bedient sich Jones spezifischer Bilder bei der Konstruktion der „Anderen“, die aus heutiger Perspektive als rassistisch und androzentrisch eingeordnet werden können. Er bezieht sich auf die Darstellung vom sexuell potenten „Wilden“, der mit seinen drängenden Trieben, die in ihrer Stärke die der EuropäerInnen übertreffen, nur durch komplexe Abwehrvorgänge fertig werden kann. Folge einer solchen „neurotischen“
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Abwehr sei das Matriarchat bzw. die matrilineare Gesellschaftsform, in der der starke Hass des Jungen gegen den Vater nur so gebändigt werden könne, indem er dessen Beteiligung an der Zeugung verleugnet. Nach Jones ist das Matriarchat also die Folge ödipaler Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse. In Kürze gesagt, gebe es seiner Meinung nach ohne den Ödipuskomplex das Matriarchat nicht. Im Vergleich zu Letzterem stellt Jones das Patriarchat als eine Weiterentwicklung auf dem Weg des Menschen zu einem zivilisierten Dasein dar. Er setzt es als unhinterfragte Norm, in der der Vater die ihm gebührende Position bekleidet und die es zu akzeptieren gilt, auf dass der Mensch sich kulturell weiterentwickle. In diesem Abschnitt der vorliegenden Arbeit soll es jedoch nicht primär darum gehen, patriarchale oder rassistische Textstellen und Haltungen aus Jones’ Artikel herauszuarbeiten – zumal Malinowski zwar nicht im vorliegenden Text, aber in seinen Tagebüchern ebenfalls rassistisches Gedankengut äußert (vgl. Malinowski 1967/Haller 2005). Allerdings können diese meiner Ansicht nach bei der Rezeption der Malinowski-Jones-Debatte heute auch nicht völlig außer Acht gelassen werden. Wichtig ist das, was wir aus dieser in der Geschichte der Psychoanalyse frühen Debatte für die gesamte Arbeit ziehen können, und das ist Folgendes: Verkürzt gesagt, stehen sich hier eine eher konstruktivistische und eine essentialistische Perspektive in Bezug auf gesellschaftliche Formationen und familiäre Konstellationen gegenüber. Dabei ist es der eigentliche Universalist Malinowski (vgl. Haller 2005), der hier gleichsam den Konstruktivismus vertritt. Jones, der den Ödipuskomplex im engen Sinne offensichtlich als Universalie annimmt, vertritt hier einen essentialistischen Standpunkt. Aus heutiger Sicht entsprechen die Darstellungen Malinowskis auf theoretischer Ebene eher dem, was auch in den Cultural Studies angenommen wird (vgl. Kap. 2.3 und 2.4). Kultur und Gesellschaftsformen sind (modern ausgedrückt) in sozialen Aushandlungsprozessen konstruiert und einem steten Wandel unterworfen. Die Form der Familie ist folglich ebenso veränderbar, eine Annahme, die auch von der modernen Ethnologie geteilt wird: „Das Problem der Kernfamilie (als Universalie, Anm. K.H.) löst sich, wenn man Familienformen nicht als starre, unflexible, von ihrem historischen Hintergrund ablösbare Gebilde betrachtet – die typologische Denkweise verleitet uns leicht zu solch einem Vorgehen. Familien sind aber, wie alle menschlichen Symbioseformen, an die Zeitumstände anpassungsfähige, elastische Gemeinschaften, die unter verschiedenen Rahmenbedingungen auch unterschiedliche gesellschaftliche Ausprägungen erfahren. So gesehen ist natürlich die bürgerliche Kernfamilie keine universelle Institution, sondern sie ist unter ganz spezifischen ökonomischen und sozialen Bedingungen entstanden.“ (Bargatzky 1997, S. 103, Hervorhebungen i.O.)
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Wie sich diese verschiedenen Gesellschaftsformen auf der Ebene des Individuums innerpsychisch auswirken, wäre meines Erachtens der lohnenswerte Beitrag, den psychoanalytische Theorie heute jenseits der Pathologisierung von kultureller Differenz, wie Jones sie vornimmt, an dieser Stelle erbringen könnte. Aus postkolonialer Perspektive (vgl. Kap. 2.5) ist an den vorliegenden Ausführungen Jones’ der unhinterfragte Übertrag westlicher Theorien auf Angehörige anderer Gesellschaften zu kritisieren. Durch den Prozess des „worlding“ (Spivak zit. nach Ashcroft, Gareth & Griffths 2002, S. 241) werden hier MelanesierInnen eurozentrischen und patriarchalen Annahmen über den Menschen unterworfen und pathologisiert. Dieses Vorgehen erschwert eine Auseinandersetzung mit der darunter liegenden Fragestellung, die zwar von Malinowski in dieser Form nicht gestellt wird, jedoch aus seinem Text meiner Ansicht nach verallgemeinert werden kann, nach der gesellschaftlichen (Mit-)Konstruiertheit des Menschen bzw. seiner psychischen Struktur und vor allem auch der gesellschaftlichen Konstruiertheit psychoanalytischer Theorie. Der Ödipuskomplex von Géza Róheim bis heute Die Kontroverse um Malinowski und Jones zog eine Anzahl empirischer Forschungsvorhaben nach sich, die zum Ziele hatten, Freuds Thesen zu untermauern. Neu war es, dass PsychoanalytikerInnen selbst Datenmaterial erhoben, statt wie bisher lediglich ethnologische Daten in anderer Weise zu interpretieren (vgl. Haase 1992/Reichmayr 2003a). Géza Róheim (1891–1953) Geograph, Ethnologe, Psychoanalytiker 1921
1926 1932 1943 1950
Ethnologie und Völkerpsychologie. In: Sigmund Freud (Hg.): Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren 1914–1919. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Beiheft 3. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. S. 163–194 Social Anthropology. A psycho-analytic study in anthropology and a history of Australian totemism. New York: Boni & Liveright Die Psychoanalyse primitiver Kulturen. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft. 18. Wien: IPV. S. 296–563 The origin and function of culture. New York: Nervous and Mental Disease Monographs Psychoanalysis and anthropology. Culture, personality and the unconscious. New York: International University Press
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer (2003). Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial
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Géza Róheim, der aus Ungarn stammte, war unter den EthnologInnen der erste, der sich zum Psychoanalytiker ausbilden ließ, und mit seinen Forschungsarbeiten prägte er zeitlebens die psychoanalytische Ethnologie sowohl in Europa als auch in den USA. Die ersten Untersuchungen Róheims hatten zum Ziel, Malinowskis Kritik an Freud zu widerlegen und „die Richtigkeit der umstrittenen Urvatermord-Hypothese unter Beweis zu stellen“ (Haase 1992, S. 9). Róheim selbst hielt Malinowski für völlig inkompetent, Kritik an Freud zu üben: „Malinowski unternahm Feldforschung bei den Trobriandern. Damals besaß er noch keine psychoanalytischen Kenntnisse, hatte sich selbst noch nicht einer Analyse unterzogen und verfügte natürlich über keine praktische psychoanalytische Erfahrung. [...] Das hielt Malinowski allerdings nicht davon ab, weiterhin zu kritisieren, was er nicht verstand.“ (Róheim 1944, S. 50)
Das Vorhaben, Malinowski zu widerlegen, war von so großer Bedeutung, dass sowohl Sándor Ferenczi (bei dem Róheim zum Psychoanalytiker ausgebildet worden war) als auch Freud selbst an den Vorbereitungen desselben beteiligt waren und Marie Bonaparte sie finanzierte (vgl. Haase 1992/Reichmayr 2003a). Entgegen des ursprünglichen Vorhabens, die Thesen Freudscher Psychoanalyse zu untermauern, wandte sich Róheim in Folge des von ihm in umfangreichen Feldstudien erhobenen Materials von den phylogenetischen Annahmen in Totem und Tabu ab und entwickelte eine ontogenetische Theorie, „indem er den Ödipuskomplex ‚als biologisch universal und gleichzeitig individuell erworben‘ [...] konzipierte“ (Haase 1992, S. 10/vgl. auch Reichmayr 2003a). Róheims Vorgehen im Rahmen seiner Forschungen war jedoch nicht nur auf der Ebene der Theorieentwicklung, sondern auch besonders in methodischer Hinsicht von Bedeutung. An der Schnittstelle zwischen Ethnologie und Psychoanalyse näherte er sich durch das Sammeln von ethnographischen Daten dem ethnologischen Standard. Seine ursprüngliche Intention, psychoanalytische Technik im Rahmen der Feldforschung anzuwenden, konnte er nur partiell verwirklichen, da er die von ihm beforschten Menschen keiner Psychoanalyse unterzog. Dennoch kann festgestellt werden, dass er „der erste ‚Feld‘-forscher war, der die praktischen Erfahrungen seiner Analyse ... und das psychoanalytische Interpretationsverfahren für die Deutung fremder Kulturen nutzbar gemacht hat. Es ist der Schritt von der Deskription und Katalogisierung sozialer Tatsachen zur verstehenden Deutung, zur Erkenntnis der ‚verborgenen Bedeutung des anscheinend Bedeutungslosen‘ (Róheim 1974, S. 1099)“ (Heinrichs zit. in Reichmayr 2003a, S. 48). Róheim selbst umreißt in der Einleitung zu seinem Buch Psychoanalyse und Anthropologie (dt. 1977), in dem er einen Teil der Erkenntnisse seiner Feldforschung zusammenfasst, als Absicht seiner Arbeit Folgendes:
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„Es ist das Ziel dieses Buches, einige Fragen aus jenen Grenzgebieten zu beantworten, in denen Psychoanalyse und Anthropologie sich treffen. Anders ausgedrückt: Ich werde versuchen, die richtige Methode zur Anwendung der Psychoanalyse auf die Anthropologie zu beschreiben. Ich muß gleich hinzufügen, daß mein Bezugsrahmen aus dem besteht, was Freud als Psychoanalyse bezeichnet hätte.“ (ebd. S. 7)
Obwohl Róheim sich des Auftretens der Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung, der Technik der Deutung und der freien Assoziation und des Auftretens von Widerständen in seinen empirischen Studien bewusst war, war er noch nicht in der Lage, diese systematisch in seinen Forschungsprozess einzubinden (vgl. Reichmayr 2003a). Dies sollte erst später in der Geschichte der Ethnopsychoanalyse in das Zentrum des Erkenntnisgewinns rücken (Näheres in Kapitel 3.3.3). Freuds Annahmen über den Ödipuskomplex bzw. seine Theorie in Bezug auf die Entstehung der Kultur wurden zu seiner Zeit aber auch in der Folge immer wieder Gegenstand der Kritik. „Die mit dem damaligen evolutionistischen Denkschema verbundene ahistorische, eurozentrische Betrachtungsweise einer einheitlichen, vom Einfachen zum Komplexen fortschreitenden Kulturentwicklung, hat Freud als Voraussetzung für seine Anwendung der Psychoanalyse auf die Ethnologie ebenso übernommen wie die damit in Verbindung stehende ‚vergleichende Methode‘, mit der von einem ähnlichen Verhalten auf Ähnlichkeit in Ursprung und Funktion geschlossen wurde. [...] Die ahistorische Vorgehensweise in Freuds kulturtheoretischen Schriften steht im Gegensatz zu seiner detaillierten historischen Rekonstruktionsarbeit bei seiner klinischen Arbeit.“ (Reichmayr 2003a, S. 30)
Zudem galten einige ethnologische Konzepte, wie beispielsweise das der „Urhorde“ oder auch der „Gruppenehe“, bereits zu der Zeit, als Freud sie als Grundsteine zur Theoriebildung in Totem und Tabu benutzte, als überholt (vgl. Reichmayr 2003a). Besonders die ausführliche Kritik des amerikanischen Ethnologen und Psychoanalytikers Alfred Kroeber an Freuds Thesen führte dazu, dass Totem und Tabu in ethnologischen Kreisen den Vorwand dafür bot, sich generell nicht mit der Psychoanalyse zu befassen (vgl. Erdheim 1991). „Dennoch gab es immer wieder Impulse, sich mit Totem und Tabu zu beschäftigen, so wurde dieses Werk aus wissenschaftlichem Interesse rezipiert, und es kann als Text über die eigene Gesellschaft gelesen werden.“ (Reichmayr 2003a, S. 26)
In diesem Sinne stellt auch Mario Erdheim (1991/vgl. Kapitel 3.3.4) eine spezifische Lesart Freudschen Ethnozentrismus zur Verfügung, indem er feststellt,
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Freuds Darstellungen in Totem und Tabu seien eher als Spiegel unserer Gesellschaft denn als echter Beitrag zur Ethnologie zu verstehen: „Die vernichtende ethnologische Kritik ist nicht abweisbar, und es ist klar, daß Totem und Tabu nicht mehr als Beitrag zur Ethnologie fremder Völker betrachtet werden kann (S. 13). [...] Nicht von den Wilden dort, sondern von den Wilden hier, nicht von den Anfängen der Gesellschaft überhaupt, sondern von der Einsetzung von Institutionen bei uns handelt die Geschichte.“ (S. 23)
Ähnlich formuliert Hans Bosse (1984, S. 34) seine Sicht auf Freuds Totem und Tabu, indem er die spezifische Ausgestaltung des Ödipuskomplexes deutlich in der kulturspezifischen Gesellschaftsform verankert sieht: „Der Ödipuskomplex ist die psychoanalytische Version des bürgerlichen Familiendramas und daher kein vordringliches Thema nicht-bürgerlicher Gesellschaften.“
Setze man nicht im direkten, sondern im übertragenen Sinne Totem und Tabu ins Verhältnis zu Gesellschaft heute, hält Erdheim dieses Werk für „radikal“ (1991, S. 25), da es einen Beitrag dazu leiste, drei wichtige Probleme unserer Zeit zu konturieren: „1. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und das Verhältnis von Erinnern und Vergessen, 2. Die Gewalt und ihre Rolle in der Gesellschaft und 3. Die Art und Weise, wie die Geschichte den Menschen und seine Kultur prägt.“ (ebd.)
Denn wenn man die Exotisierung und Verschiebung des Themenkreises Verdrängung und Tabubildung von den „Wilden“ abziehe, sei Freuds Werk gleichsam als Beitrag zur Historie der Gesellschaften zu verstehen, in deren Entstehung „Gewalt, Herrschaft und Rebellion“ (ebd.) von großer Bedeutung sei. In der heutigen Gesellschaft, so Erdheim, verhalte es sich nicht anders als bei Freuds „nackten Kannibalen“. Auch in unserem Unbewussten lauere die Mordlust ebenso wie Todeswünsche, die durch die Errichtung von Tabus im Griff gehalten werden sollten. Nicht anders verhalte es sich bei der Tabuisierung der Erinnerung an den Nationalsozialismus, da dessen psychische Voraussetzungen (der Faschismus bzw. der Rassismus), die seine Entstehung ermöglichten, nicht ins Bewusstsein vorgedrungen seien. Als weiteres zentrales Thema arbeitet Erdheim mittels seiner „queren“ Lesart von Totem und Tabu die Themen der Herrschaft und der Gewalt in Bezug auf unsere Gesellschaft heraus. Herrschaft, als irrationale Form der Machtausübung, beruhe auf der Gewalt, mit der andere Mitglieder, vielleicht sogar die meisten, in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse unterdrückt würden. Diese „verbotenen“ Bedürfnisse würden verdrängt, und da
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es auf der anderen Seite auch die Lust gebe, diese verbotenen Triebe auszuleben, würden entsprechende Tabus um diejenigen Themenkreise errichtet, die zur Aufrechterhaltung der spezifischen Herrschaftsform dienten. Als dritten Punkt führt Erdheim aus, dass Freuds Thesen weniger den Ursprung religiöser Institutionen erklärten, als vielmehr einen Blick auf den Kulturwandel richteten. Ähnlich wie Freud es für die Brüderschar beschrieben habe, die ihren übermächtigen Vater ermordete, verschlang und diese Tat schließlich bereute, sei es in der Geschichte der Menschen immer wieder zu gewaltsamer Revolution gegen die bestehenden und zur Durchsetzung von neuen Machtstrukturen gekommen, so z.B. in der Französischen Revolution. Aufgrund der dabei entstehenden Schuldgefühle sei die Entmachtung begleitet von deren Unbewusstmachung. Gleichzeitig werde die (alte) Herrschaft verinnerlicht, wenn auch auf spezielle Art. „Das, was außerhalb des Individuums war und es zwang zu tun, was es nicht wollte, wirkt nun von innen her. Es wirkt von innen aber auf eine ambivalente Weise, und so kommt es auch, daß die Herrschaft sich nie ganz ihrer Stabilität erfreuen kann und sich unbewußt mit den von ihr immer neu aufgezwungenen Tabus dem annähert, was sie eigentlich abschaffen möchte: den Bedürfnissen der Beherrschten.“ (ebd. S. 39)
In seiner Gesamtheit beurteilt Mario Erdheim Totem und Tabu als wichtigen Beitrag zu den Kulturtheorien, da Freud an dieser Stelle ein „neues Forschungsfeld [eröffne]: das Unbewußte des Individuums in der Kultur“ (ebd. S. 40). Bei seiner sehr kreativen Auslegung von Freuds Werk betont er dessen Aktualität. Die Vorgehensweise Erdheims, zum einen die im historischen Kontext zu verstehenden Thesen Freuds (wie Erdheim es auch selbst sagt) auf die heutige Zeit zu übertragen und zum anderen psychische (Abwehr-)Vorgänge innerhalb des Individuums auf die Prozesse in Gesellschaften anzuwenden, möchte ich an anderer Stelle kritisieren (Kap. 3.3.4). Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy (ausführlicher in Kapitel 3.3.3) gehen in Folge ihrer ethnopsychoanalytischen Forschungsarbeiten zwar davon aus, dass der Ödipuskonflikt „biologisch verankert“ (Parin, Morgenthaler & ParinMatthèy 1963, S. 472) sei, bei der Anwendung dieser „Formel“ auf andere Kulturen sie jedoch allgemeiner zu fassen sei, nämlich als Konflikt der sich daraus ergebe, dass das Kind sich aus einer Dyade heraus in eine Triade einordnen müsse (vgl. ebd.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der aktuelleren Ethnopsychoanalyse der Ödipuskomplex im Sinne Freuds nicht mehr als Universalie angenommen wird. Anne Parsons (1974, S. 209) sieht die Debatte über die allgemeine Gültigkeit Freudscher Annahmen um diesen Themenkreis ebenso wie die Form der Fragestellung hierzu als überholt an.
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„[...] Malinowskis wichtige Beobachtungen [sind] heute ebenfalls wissenschaftliches Allgemeingut geworden, so daß keinerlei Polemik zu ihrer Verteidigung mehr notwendig ist. Niemand wird heute mehr bestreiten, daß es Gesellschaftsformen mit ganz unterschiedlichen Familienstrukturen und voneinander abweichenden InzestVerboten gibt, die sich auf keinen Fall allein aus den biologischen Tatsachen der Paarung und Fortpflanzung erklären lassen.“
Dennoch ist die Theoriebildung um den ödipalen Konflikt bis heute auch innerhalb der Psychoanalyse ein „hot spot“. Trotz der Tatsache, dass die Annahme eines kulturell gebundenen Kernkonfliktes an die Stelle von Freuds Konzeption trat, gibt es dennoch prominente VerteidigerInnen Freudscher Vorstellungen, wenn auch in abgewandelter Form. André Green (1999) postuliert beispielsweise Freuds Ödipuskomplex als Universalie und sieht Belege für die darauf bezogene These des Urvater-Mordes. Allerdings räumt auch er ein, dass bestimmte Aspekte heute der Revision bedürften oder auch von einer abstrakteren Warte aus betrachtet werden müssten. Ob der Ödipuskomplex nun als eine menschliche Universalie zu verstehen ist oder nicht, ist in Bezug auf diese Arbeit nicht der eigentliche Fokus. Hilfreich ist es, genauer zu betrachten, wie verschieden „Kultur“ vs. „Natur“ des Menschen in der Geschichte der (Ethno-)Psychoanalyse theoretisiert wurde und wird. Freudsche Annahmen in Bezug auf den Ödipuskomplex, wie er sie in Totem und Tabu formuliert, sind deshalb so bedeutsam, da in ihnen erstmals im Rahmen der Psychoanalyse explizit und umfangreich Aussagen in Bezug auf die Entstehung der Kultur des Menschen getroffen werden. Die Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Konzept Freuds hierzu innerhalb der Psychoanalyse, aber auch in angrenzenden Gebieten, wie der Ethnologie, ist aus heutiger Perspektive von wissenschaftshistorischer Bedeutung und kann als ein wichtiges Beispiel für die Auseinandersetzung mit psychoanalytischer Theoriebildung gewertet werden. Freud legte ethnographisches Material vor dem Hintergrund seiner Zeit und Kultur aus. Theorien über psychische Abwehrvorgänge, die er aus der Analyse neurotischer PatientInnen seiner Kultur gewonnen hatte, übertrug er auf eine der brennenden Fragen seiner Zeit, nämlich die nach dem Ursprung menschlicher Gesellschaft (in seinem Sinne). So wurde aus einer individualpsychologischen eine sozialwissenschaftliche Fragestellung. Die Kritik an Freuds Vorstellungen aus der Ecke der Sozialwissenschaften bzw. der Ethnologie wurde zunächst als Kritik an der Psychoanalyse allgemein verstanden, und Jones versuchte sie abzuwehren, indem er Malinowski der Unwissenheit bzw. des Unverständnisses in Bezug auf psychoanalytische Theorie bezichtigte und nicht, indem er die zentralen Kritikpunkte aufgriff. Im Laufe der weiteren Entwicklung der Ethnopsychoanalyse konnte die Argumentation aus ethnologischer bzw. sozialwissenschaftlicher Ecke nicht mehr nur als aus einer Gegnerschaft
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zur Psychoanalyse entstanden abgetan werden. So wurden eher konstruktivistische Annahmen, z.B. in Bezug auf die Veränderbarkeit der Form der Familie und ihre Auswirkung auf innerpsychische Strukturen, in psychoanalytische Theorie eingearbeitet. Dennoch sind diese Veränderungen Freudscher Theorie innerhalb der Psychoanalyse nicht unumstritten, und es gibt ebenso Bestrebungen, die aktuelle Bedeutung und den „Wahrheitskern in der Konstruktion“ (Nedelmann 1999, S. 44) des Ödipus-Paradigmas herauszuarbeiten. Wichtige Beiträge zur Entwicklung ethnopsychoanalytischer Theorie und zum Verhältnis zwischen Ethnologie und Psychoanalyse lieferte Georges Devereux, dessen Werke und Konzepte ich im nächsten Kapitel darstellen werde. 3.3.2 Georges Devereux „Echte Wissenschaft ist nie respektabel. Sie ist ein ungewaschener Bengel, der in ewiger Rebellion gegen den bedeutungslosen Schibboleth die etablierten wissenschaftlichen Wahrheiten stets in Frage stellt.“ (Devereux zit. in Milkau-Kaufmann & Rötzer, 1996, S. 102) Georges Devereux (ehem. György Dobó, 1908–1985) Ethnologe, Psychoanalytiker; 1963–1981 Professor für Ethnopsychiatrie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (Paris) 1951 1953 1956 1961 1967 1970 1972 1973 1974 1978 1981
Reality and Dream. The Psychotherapy of a Plains Indian. New York: International Univ. Press (Hg.): Psychoanalysis and the Occult. New York: International Univ. Press Therapeutic Education. New York: Harper Mohave ethnopsychiatry and suicide: the psychiatric knowledge and the psychic disturbances of an Indian tribe. Washington: B.o. t. American Ethnology From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences. Den Haag, Paris: Mouton & Co. Essais d’ethnopsychiatrie générale. Paris: Gallimard Ethnopsychoanalyse complémentariste. Paris: Flammarion Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München: Carl Hanser Normal und Anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Baubo. Die mythische Vulva. Frankfurt a. M.: Syndikat
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer (2003). Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial
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Als Sohn einer kleinbürgerlich-jüdischen Familie wurde der spätere Georges Devereux unter dem Namen György Dobó 1908 in Siebenbürgen geboren, das zu dieser Zeit noch zu Ungarn gehörte. Den Namen, unter dem er bekannt wurde, nahm er im Jahre 1932 im Zuge seiner Konvertierung zum Katholizismus an (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer 2003). Devereux war ein Weltenbummler in jeder Hinsicht, geographisch wie wissenschaftlich gesehen (vgl. auch Milkau-Kaufmann & Rötzer 1996). Er begab sich 1926 nach Paris, um dort zu studieren, unterbrach dies, um 1928 in Leipzig eine Lehre als Buchhändler zu beginnen, und kehrte von dort nach Paris zurück, wo er sich einer Fortsetzung seines Studiums widmete. Er beschäftigte sich zunächst mit Mathematik, Chemie und theoretischer Physik. Im Anschluss daran studierte er Ethnologie bei den Größen seiner Zeit (vgl. auch Bokelmann 1987): Marcel Mauss, Lucien Lévy-Bruhl und Paul Rivet. 1931 schloss Devereux sein Ethnologie-Studium ab und ging in die USA, um dort Feldforschungsprojekte vorzubereiten. Seine ethnologischen Untersuchungen im Feld waren umfangreich. Er beforschte die Hopi, die Juma und die Mohave, deren „Geschlechtsleben“ der Gegenstand seiner Promotion bei A.L. Kroeber an der University of California im Jahre 1935 war. Nachdem er 1935 nach 18-monatiger Feldarbeit bei den Sedang-Moi in Südvietnam in die USA zurückgekehrt war, wurde er in den Bereichen Ethnologie und Soziologie an verschiedenen Institutionen als Dozent und Forscher tätig. Der Zweite Weltkrieg unterbrach diesen Verlauf, denn während dieser Zeit war Devereux im amerikanischen Militär bei der Naval Intelligence eingesetzt, hauptsächlich in China (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer, 2003). Aufgrund des Wunsches, gegen „Hitler und die Tyrannei [zu] kämpfen“ und einer Art „Freiheitsliebe“ (Devereux zit. in Bokelmann 1987, S. 18) hatte er sich bereits seit 1939 bemüht, in die Armee aufgenommen zu werden, 1943 trat er ein (vgl. ebd.). Seine Beschäftigung mit der Psychoanalyse begann nach dieser Zeit. Seine eigenen Psychoanalysen unternahm er 1945 bei Géza Róheim in New York, 1946 bei Schlumberger in Paris, um 1952 seine psychoanalytische Ausbildung bei Robert Jokl zu beenden. Erfahrungen im Bereich der klinischen Arbeit mit Native Americans, die an den Folgen von Traumatisierungen litten, sammelte Devereux in den Jahren 1946 bis 1952 am Winter Veterans Hospital in Topeka (Kansas), dem er als Direktor vorstand. 1956 verlagerte er seinen Lebens- und Wirkungsort nach New York und war dort sowohl als Psychoanalytiker in seiner Privatpraxis tätig als auch an verschiedenen Universitäten als Dozent für Ethnopsychiatrie bzw. Ethnologie. Mit Ralph Linton, Weston LeBarre und Margaret Mead war Devereux sowohl befreundet als auch in einem wissenschaftlichen Austausch stehend (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer, 2003), eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen suchte er jedoch nie (vgl. Bokelmann 1987). Durch die „offizielle“ Psychoanalyse, vertreten durch
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die American Psychoanalytic Association, fanden die Arbeiten von Devereux keine Anerkennung, da sich die APA bis Anfang der 1990er heftig gegen die nicht-ärztliche „Laienanalyse“ wendete (vgl. Reichmayr 2003a). Im deutschsprachigen Raum wurde das Werk von Georges Devereux stark rezipiert. So wurden sieben seiner Bücher ins Deutsche übersetzt, und in drei Sammelbänden befasste man sich mit diversen Gesichtspunkten seiner Arbeit (vgl. Reichmayr 1995). Die Fragen, die Devereux bearbeitete, entstanden im klinischen Kontext und resultierten zu einem großen Teil aus seiner psychotherapeutischen bzw. psychoanalytischen Arbeit mit „Patienten […] aus einer indianischen Kultur, [die] in der amerikanischen Kultur, in der sie lebten, unterschiedliche Störungen entwickelt [hatten]“ (Reichmayr 1995, S. 68). Es gestaltet sich schwierig, Devereux’ Werk entlang einer engen Systematik darzustellen, da es aus verschiedenen Aufsätzen und Aufsatzsammlungen besteht, die zum einen über einen langen Zeitraum hinweg veröffentlicht wurden und zum anderen nicht einer spezifischen Theorie folgen. Es lassen sich aus seinen Arbeiten jedoch drei verschiedene Themenbereiche zusammenfassen, die er behandelte (vgl. auch Adler 1993):
Sein Konzept der „komplementaristischen Ethnopsychoanalyse“. Die Frage nach der Bestimmung von „Normalem“ und „Anormalem“ in der Kultur und daraus resultierend sein spezifisches Modell der „ethnischen Persönlichkeit“. Methodische Arbeiten zum Aspekt des Einflusses des/der ForscherIn auf den Forschungsprozess.
Diese Themenkomplexe, die sich an verschiedenen Punkten zwangsläufig überschneiden, werde ich im Folgenden darstellen. Die komplementaristische Ethnopsychoanalyse „Devereux war ein transdisziplinärer Grenzgänger, der sich nicht auf ein Fach und eine Denkweise einlassen wollte. Seine Idee der Ethnopsychoanalyse ist deswegen ‚pluridisziplinär‘ angelegt, und sein Denken bindet immer heterogene Erfahrungen und Theorien mit ein.“ (Milkau-Kaufmann & Rötzer 1996, S. 102)
Ethnopsychoanalyse entstand an der Grenze zwischen Soziologie/Ethnologie (für Devereux synonym zu verwenden, vgl. Adler 1993) und Psycholo-
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gie/Psychoanalyse/Psychiatrie. Während für die Erklärung menschlichen Verhaltens den Bezugspunkt auf der einen Seite die Gruppe bzw. die Gesellschaft darstellt, ist es auf der anderen Seite das Individuum. Die Frage bleibt zunächst offen, wie diese Disziplinen sinnvoll verbunden werden können. Mit Georges Devereux gedacht, stellt sich die Frage: Ist die Ethnopsychoanalyse eine synthetische, eine „Bindestrich“-Wissenschaft oder ist sie pluridisziplinär angelegt (vgl. Devereux 1978)? Durch seine Ausbildung auf beiden Seiten der „Grenze“ war es Devereux möglich, sowohl zu Kardiners kulturellem Reduktionismus als auch zum psychologischen Reduktionismus Róheims kritische Distanz einzunehmen (vgl. Adler 1993). „Was mich betrifft, so meine ich, daß ich, indem ich auch Psychoanalytiker wurde, ganz einfach meine Ausbildung als Ethnologe, d.h. als Spezialist für die Kultur und den Menschen, vollendet habe. Wäre ich zuerst Psychoanalytiker geworden, dann hätte ich sicher das Bedürfnis verspürt, auch noch Ethnologie zu studieren, um meine Ausbildung als Spezialist der menschlichen Psyche zu vollenden.“ (Devereux 1974b, S. 130)
Devereux’ Grundthese besteht im Postulat, jedes menschliche Verhalten, das bereits vor dem Hintergrund einer Theorie – einer soziologischen oder psychologischen – erklärt wurde, müsse unabdingbar auch „im Rahmen eines anderen Bezugssystems“ (Devereux 1978, S. 11) erfasst werden. Wie die verschiedenen „Bezugssysteme“ innerhalb der Ethnopsychoanalyse bzw. der Ethnopsychiatrie zueinander ins Verhältnis zu setzen seien, charakterisiert er folgendermaßen: „Die interdisziplinäre Wissenschaft der Ethnopsychiatrie kann nicht allein dadurch zustande kommen, daß sie lediglich fremde Techniken übernimmt. Sie erfordert vielmehr die gegenseitige Befruchtung – nicht aber eine Vermischung – von zwei eigenständigen wissenschaftlichen Ansätzen: dem psychologischen und dem soziokulturellen. Diese beiden Disziplinen stehen in einem Komplementärverhältnis zueinander.“ (ders. 1974a, S. 69, Hervorhebung K.H.)
Innerhalb des jeweiligen Ansatzes (des psychologischen oder des soziologischen) werde das entsprechende Phänomen vollständig erklärt, es sei also in zweierlei Weise voraussehbar. Psychologische sowie soziologische Daten in Bezug auf denselben Gegenstand entstünden, so Devereux, durch die jeweilige Betrachtungsweise desselben, was die Interdependenz der entsprechenden Daten nach sich ziehe (vgl. ders. 1978). Devereux’ Ausbildung in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen wird anhand seines Komplementaritäts-Konzeptes besonders deutlich.
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„Denn will man den Menschen sinnvoll verstehen, dann ist es gerade deshalb unmöglich, das Studium der Kultur von dem der Psyche zu trennen, weil Psyche und Kultur zwei Konzepte sind, die, obgleich völlig eigenständig, in einem Heisenbergschen Komplementaritätsverhältnis zueinander stehen.“ (Devereux 1974b, S. 130, Hervorhebung K.H.)
Genauer gesagt, bezieht sich Devereux auf den Begriff von Komplementarität bei Bohr, der die von Heisenberg formulierte Unschärferelation verallgemeinerte. „Dieses Prinzip besagt, daß es unmöglich ist, zur gleichen Zeit und mit derselben Präzision die Position und das Moment eines Elektrons zu bestimmen (zu messen).“ (Devereux 1978, S. 18)
Das Phänomen der Komplementarität konnte Bohr, so jedenfalls Devereux, ebenfalls im Feld der Biologie finden, und Devereux übertrug es im Weiteren in die Soziologie und Psychologie bzw. Psychiatrie. Auch das Bohrsche Abtötungsprinzip spielt für Devereux in den Sozialwissenschaften eine große Rolle: „Sein Abtötungsprinzip betrifft einen ebenso einfachen wie frappanten Sachverhalt: jede zu weit getrieben experimentelle Untersuchung des Phänomens ‚Leben‘ zerstört, was es zu bestimmen versucht: das Leben“ (ebd. S. 19, Hervorhebungen i.O.).
Soziologie begreift er allerdings sehr speziell. Nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Soziologie sei „[d]as Beobachtete [...] in letzter Instanz das Individuum. Es allein ist die Quelle derjenigen Sinnesdaten, die hier in Betracht kommen, – selbst dann noch, wenn das Individuum in der Masse zu verschwinden scheint und nicht mehr ‚identifizierbar‘ ist“ (Devereux 1978, Hervorhebungen i.O.). Bokelmann (1987, S. 23) kritisiert diese „Soziologie“ Devereux’: „[Strenggenommen hat] die Soziologie bei Devereux nur wenig Platz. Es geht Devereux erklärtermaßen nicht um eine Gesellschaftstheorie. [...] Wichtig ist hier, daß auch seine Soziologie vom Individuum als der Grundeinheit ausgeht.“
Devereux selbst hält jedoch genau das für seine Stärke. „,Ich glaube, es ist nicht das geringste meiner Verdienste, niemals das Individuum aus den Augen verloren zu haben ... indem ich das Individuelle vom Soziokulturellen trenne, den einzelnen vom Kollektiv. Das ist im Augenblick um so wichtiger, weil die ungeheure Vereinfachung herrscht, alles sei vom Kollektiven her erklärbar.‘“ (Devereux zit. in ebd.)
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Für Georges Devereux kann es kein „Dazwischen“ geben in einem Feld, in dem auf der einen Seite soziologische, auf der anderen Seite psychologische Erklärungsmodelle in Bezug auf menschliches Verhalten bzw. Erleben stehen. Für ihn ist nur der „doppelte Diskurs“ (ders. 1978, S. 11) möglich. In die Lücke, sozusagen als „Bindestrich“, um in Devereux’ Sprache zu bleiben, zwischen Soziologie und Psychologie tritt jedoch entsprechend ihres Selbstverständnisses die Sozialpsychologie, die zentrale, verbindende Fragen stellt und zu beantworten versucht: „1. Wie entsteht gesellschaftliche Ordnung und wie verankert sich diese Ordnung in den Subjekten? 2. In welchem Verhältnis steht die biologische Naturausstattung des Menschen zu seiner sozialen Handlungsfähigkeit? 3. In welchem Verhältnis stehen Subjekt und Gesellschaft zueinander?“ (Keupp 2005)
Dennoch bleibt die Sozialpsychologie in der Psychologie verankert, was Devereux’ Annahme als Frage formuliert Aktualität verleiht: Kann es eine Synthese, ein „gemeinsames Erklärungsmodell“ geben, das menschliches Verhalten sowohl vom Individuum aus als auch von der Gesellschaft her begreift? Paul Parin bejaht diese Fragen, indem er das Verhältnis Ethnologie und Psychologie als ein dialektisches versteht: „Psychoanalytische Erklärungen schlagen zur Qualität sozialwissenschaftlicher um, und diese liefern dem psychoanalytischen Konzept der Realität ihre Grundlage. Letzten Endes handelt es sich bei meiner Kritik um die alte Frage zwischen idealistischen und materialistischen Theorien: Bestimmt der innewohnende Geist, die ‚Struktur‘, die menschlichen Verhältnisse, wie es Devereux als Strukturalist glaubt; oder sind es, wie ich annehme, die konkreten Verhältnisse (einschließlich der psychoanalytisch erfaßbaren seelischen Vorgänge), welche die Strukturen der Gesellschaft und ihre Veränderungen bestimmen?“ (Parin 1972, S. 976)
Theodor Adorno geht davon aus, dass Psychologie und Soziologie letztlich kein gemeinsames Erklärungsmodell entwerfen können, da sie sich auf unterschiedliche Referenzpunkte beziehen. „Soziologie und Psychoanalyse können wissenschaftlich ebenso wenig ganz ineinander aufgehen wie Individuum und Gesellschaft. Der Widerspruch zwischen beiden ist einer in der Sache, nicht allein einer im Denken. Darauf hat Theodor W. Adorno immer wieder hingewiesen.“ (Reiche 2007, S. 23)
Als eine meines Erachtens äußerst wichtige Forderung Devereux’ möchte ich jedoch festhalten, den Reduktionismus auf eindimensionale Erklärungsmodelle
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zu vermeiden. Meiner Erfahrung nach mündet dieser eher unter der Vernachlässigung realer Lebensbedingungen von Menschen in individualisierenden Psychologismen. Gerade im Bereich von Migration und Interkulturalität nehme ich dieses Phänomen als ein weit verbreitetes wahr. „Normal und Anormal“ Eine Kernfrage, der man/frau im klinisch-psychologischen, aber auch im interkulturellen Kontext begegnet, ist die danach, was denn als „normales“ und was als „nicht normales“ Verhalten, Denken, Fühlen etc. zu beurteilen sei. Normal und Anormal arbeitet Devereux in seinem gleichnamigen Werk (dt. 1974b) auch als „[d]as Grundbegriffspaar der Psychiatrie“ (ebd. S. 19) heraus. Er stellt fest, dass „ihr zentrales Problem [darin besteht], den Ort – locus – jener Grenze zu bestimmen, welche die beiden Konzepte voneinander unterscheidet“ (ebd.). Zentraler Gegenstand der Ethnologie sei die „Kultur, letztere definiert als strukturierte Art und Weise, sowohl die soziale als auch extra-soziale Realität zu begreifen“ (ebd. S. 130). Da die Psychiatrie ihre Konzepte im Gegensatz zur Ethnologie nicht kritisch hinterfrage, sieht Devereux es als Aufgabe der von ihm als übergreifende Disziplin verstandenen Ethnopsychiatrie, „die Schlüsselkonzepte und Grundprobleme der Ethnologie wie der Psychiatrie gemeinsam zu erörtern“ (ebd. S. 19). Im Zuge dessen entwickelt er in Normal und Anormal ein spezifisches Modell der Psyche bzw. psychischer Störungen, um dies als Grundlage für eine „metakulturelle [...] Psychiatrie“ (ebd., S. 129) bzw. Psychopathologie zu verwenden, um dadurch Instrumente für kulturell „neutrales“ therapeutisches Arbeiten zu gewinnen. „Die metakulturelle (ehedem: transkulturelle) Psychiatrie vermag erheblich mehr, als die technische Unfähigkeit des Psychiaters, ein universeller Ethnograph zu werden, bloß zu beschönigen. Tatsächlich ist ein Verfahren, das darin besteht, die psychiatrischen Probleme unter dem Gesichtspunkt nicht von Kulturen, sondern von Kultur an sich zu untersuchen, auch in praktischer, d.h. therapeutischer Hinsicht wirksamer und theoretisch jedem anderen kulturellen Vorgehen überlegen, denn es ermöglicht ein tieferes Verständnis der Psychodynamik, welches wiederum zu einer erweiterten ethnologischen Kenntnis des Wesens der Kultur führt.“ (ebd., Hervorhebung i.O.)
Devereux beurteilt als „das Wichtigste am Menschen nicht seine kulturelle Zugehörigkeit, sondern seine Eigenschaft als Angehöriger der Spezies Mensch. Für ihn impliziert die Uniformität der menschlichen Psyche auch eine Uniformität der menschlichen Kultur schlechthin“ (Reichmayr 1995, S. 69/2003a, S. 76).
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Vom Kulturrelativismus der Culture-and-Personality-Schule setzt Devereux sich deutlich ab und kritisiert diesen immer wieder heftig (vgl. z.B. Devereux 1974a & b). Er selbst schließt sich dem Freudschen Trieb-, Instanzen- und Konfliktmodell an (vgl. Adler 1993). Statt die kulturellen Einflüsse in der prägenitalen Entwicklung als die bedeutsamsten anzusehen, folgt er „Róheim in der Anerkennung der Universalität des Ödipuskomplexes und sieht in der besonderen Art und Weise, wie der Ödipuskomplex in einer Kultur bewältigt wird, den Ausgangspunkt für die ethnologischen Besonderheiten“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer 2003, S. 99). Devereux unterteilt das Unbewusste in „[z]wei Typen“ (ders. 1974a, S. 71). „Das Unbewußte enthält auf der einen Seite Elemente, die nie bewusst waren (das sind die psychischen Repräsentanzen der Triebe [...]), und auf der anderen Seite Elemente, die früher einmal bewusst waren, dann aber verdrängt wurden (Erinnerungsspuren von Erfahrungen, Emotionen, Phantasien, Körperzuständen, die Abwehrmechanismen und den größten Teil des Über-Ichs). Unter kulturellen Gesichtspunkten läßt sich das verdrängte Material in 1. das unbewußte Segment der ethnischen Persönlichkeit und 2. das individuelle Unbewusste unterteilen.“ (ebd., Hervorhebungen K.H.)
Den „unbewussten Sektor der ethnischen Persönlichkeit“ (ders. 1974b, S. 23, Hervorhebungen i.O.) möchte Devereux keinesfalls mit dem „rassischen Unbewußten“(ebd.) Jungs verwechselt wissen, da er es gerade als nicht-rassisch, d.h. als kulturell gebildet konzipiert. Diesen ethnischen Teil des Unbewussten besitze das Individuum „gemeinsam mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner Kultur. Es setzt sich aus all dem zusammen, was jede Generation, entsprechend den fundamentalen Anforderungen ihrer Kultur, selbst zu verdrängen lernt und dann ihrerseits die folgende Generation zu verdrängen zwingt“ (ebd., S. 23f). Ebenso wie sich die Kultur verändere, veränderten sich die Inhalte dessen, was verdrängt werden müsse. Dabei verhalte es sich folgendermaßen: „Jede Kultur gestattet gewissen Phantasien, Trieben und anderen Manifestationen des Psychischen den Zutritt und das Verweilen auf bewußtem Niveau und verlangt, daß andere verdrängt werden. Dies ist der Grund, warum allen Mitgliedern ein und derselben Kultur eine gewisse Anzahl unbewusster Konflikte gemeinsam ist.“ (ebd. S. 24)
Das idiosynkratische (individuelle) Unbewusste sei sozusagen „privat“ (ders. 1974a) und bestehe aus Elementen, „welche das Individuum unter der Einwirkung von einzigartigen und spezifischen Belastungen, die es zu erleiden hatte, zu verdrängen gezwungen war“ (ders. 1974b, S. 26).
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Vor dem Hintergrund dieses Modells des Unbewussten entwickelt Devereux sein spezifisches Konzept psychischer Störung, das er im Weiteren dazu benutzt, eine „universal gültige“ Version psychiatrischer bzw. psychopathologischer Lehre zu entwerfen. Ein „Trauma“, so Devereux, entsteht dann, wenn auf ein Individuum schädliche Kräfte („Stress“) einwirken und „die Kultur keinerlei vorherbestimmte, ‚in Serie produzierte‘ Abwehrmechanismen zur Verfügung stellt, die geeignet sind, den Schock zu lindern oder zu dämpfen“ (ebd. S. 28). Jede Kultur habe eine spezifische Hierarchie entwickelt, welche Abwehrmechanismen sie benutze. Ein frühes Trauma entstehe dann, wenn auf ein Kind ein Stressor einwirke, bevor es auf die kulturell zur Verfügung gestellten Abwehrmechanismen zurückgreifen könne. Seine „[e]thnopsychiatrische Typologie der Persönlichkeitsstörungen“ befindet Devereux als „mit den wissenschaftlichen psychiatrischen Nosologien völlig vereinbar“ (ebd. S. 35) und unterteilt die „Persönlichkeitsstörungen“ in vier Kategorien: „1. die typischen Störungen, die sich auf den Typus der Sozialstruktur beziehen [...]; 2. die ethnischen Störungen, die sich auf das spezifische kulturelle Muster der Gruppe beziehen; 3. die ‚sakralen Störungen‘ vom schamanistischen Typus; 4. die idiosynkratischen Störungen.“ (ebd.S. 36, Hervorhebungen K.H.)
Die Definitionen dessen, was Devereux unter den jeweiligen Formen von psychischer Störung versteht, seien hier nur in Kürze dargestellt. Als typische Störungen bezeichnet er diejenigen, die durch den Typ von Gesellschaft, in dem sie entstehen, bedingt und für diesen spezifisch sind. Hier führt Devereux die Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft mit organischer Solidarität und Gesellschaft mit mechanischer Solidarität“ (ebd. S. 103) ein. Seiner Vorstellung nach entstehen bei ähnlicher (oraler) Traumatisierung in Gemeinschaften eher Hysterien, in Gesellschaften eher Schizophrenien. Deshalb sei von Seiten „des Psychiaters“ bei ähnlicher oder gleicher Symptomatologie die Gesellschaftsform, in der das Individuum sozialisiert wurde, mitbedacht, um eine „richtige“ Diagnose stellen zu können (vgl. ebd.). Ethnische Störungen seien durch die jeweilige Kultur, in der sie aufträten, strukturiert und geprägt, also, wenn man so sagen möchte, seien sie „typisch“ für die jeweilige Ethnie. Die jeweilige Störung werde in der Regel von den Angehörigen der Kultur benannt, und „die Gruppe [besitzt] explizite Theorien hinsichtlich der Natur und der Ursachen dieser Störungen und genaue Vorstellungen über ihre Symptome, ihre Entwicklung und ihre Prognose“ (ebd. S. 62). Mit dieser Kategorie bezeichnet Devereux Phänomene wie den Amok-Lauf der
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Malaien oder den Berserker der Wikinger oder auch die Hysterie zur Zeit Charcots. Die entsprechende Kultur biete dem Individuum eine Art Folie, ein „soziales Stereotyp“ (ebd. S. 74), wie sich ein „Verrückter“ zu verhalten habe, um die für jede Kultur charakteristischen Spannungszustände und die von ihr zur Verminderung derselben zur Verfügung gestellten Abwehrformen kanalisieren zu können. Den sakralen Störungen widmet sich Devereux mit besonderer Ausführlichkeit, da er an dieser Stelle, entgegen der Behauptungen der Kulturrelativisten, den Beweis antreten möchte, dass „der Schamane“ nicht „normal“, sondern mindestens schwer neurotisch gestört, wenn nicht sogar ein sich in zeitweiliger Remission befindlicher Psychotiker sei. Der Schamane leide unter den üblichen, wenn auch stärkeren Konflikten seiner Kultur, er sei „aus konventionellen Gründen und in konventioneller Weise psychisch krank“ (ebd. S. 42). Er greife auf die Berufung zum Schamanen zurück, die jedoch ich-dyston erlebt werde, um über seine Triebe und Konflikte Kontrolle zu gewinnen, ihnen Ausdruck zu verleihen und sie zu „reorganisieren“ (ebd S. 41). Die Behandlungen, die ein Schamane seinen PatientInnen angedeihen lasse, seien nicht auf Einsicht begründet, laut Devereux dem einzigen Weg zur Heilung, sondern es würden lediglich die inneren Konflikte und die individuellen Abwehrformen durch „kulturell konventionelle Konflikte und ritualisierte Symptome“ (ebd. S. 43) ersetzt. Falls ein Mensch ein (für die Kultur) zwar häufig auftretendes, aber untypisches Trauma oder aber ein seltenes Trauma, für die keine kulturellen Abwehrmechanismen bereitgestellt werden, erleide, so Devereux, entstehe eine idiosynkratische (individuelle) Störung. Da der Abwehr kein kulturelles Muster zur Verfügung stehe, müssten „Abwehrmittel und Symptome“ (ebd. S. 117) gleichsam improvisiert werden. Devereux resümiert, um den locus der Unterscheidung zwischen normal und anormal bestimmen zu können: „Ob das Individuum normal oder anormal ist, ob es dieser oder jener Kultur angehört, stets stehen ihm Abwehrmechanismen zur Verfügung, die im Grunde die gleichen sind. Der Normale unterscheidet sich vom Anormalen und der Eskimo vom Beduinen nicht nur gemäß dem Vorhandensein oder dem Fehlen gewisser Abwehrmechanismen, sondern auch durch die Strukturierung der Gesamtheit dieser Abwehrmechanismen und der einem jeden von ihnen von der jeweiligen Kultur beigemessenen relativen Bedeutung, wenngleich die Zuweisung eines Bedeutungsfaktors sicher kein willkürlicher Akt, sondern einfach ein mehr oder minder unvermeidliches Nebenprodukt des vorherrschenden kulturellen Klimas ist.“ (Devereux 1974b, S. 102f)
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Sein Versuch, ein allgemeines, „kulturell neutrales“ Modell psychischer Störung zu entwickeln und vor diesem Hintergrund eine metakulturelle Psychiatrie und Psychotherapie zu konzipieren, stieß – meiner Ansicht nach zu Recht – auf breiten Widerspruch in der Fachwelt. Die Kritik an Devereux gliedert sich in verschiedene Aspekte. Der erste Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass er in Normal und Anormal Psychiatrie an sich als unhinterfragte Institution einführt, für die es eine allgemeine „Störungslehre“ zu erarbeiten gilt, um so auch Menschen aus anderen kulturellen Zusammenhängen „erfolgreich“ behandeln zu können. „Psychiatrie erscheint bei Devereux (1974: 159f.) als unproblematische Besserungsanstalt, die unter dem Banner einer ‚kulturell neutralen Psychotherapie‘ in allen Fällen, in allen Kulturen ‚gleich erfolgreich‘ werden solle. Morgenthaler (1978) hat solche Ideale sehr genau als Verinnerlichungen gesellschaftlicher Normen beschrieben.“ (Heinrichs 1981, S. 174, Hervorhebungen i.O.)
Obwohl ihm zu der Zeit, in der er Normal und Anormal verfasste, bereits die Inhalte der Psychiatriekritik (vgl. z.B. Foucault 1968 & 1973, Szasz 1970, Basaglia 1971, Keupp 1972, Scheff 1973) bzw. der Antipsychiatriebewegung (vgl. z.B. Cooper 1971, Mannoni 1973) zur Verfügung gestanden haben müssen, stellt Devereux die Psychiatrisierung Menschen jeden kulturellen Hintergrundes nicht in Frage und problematisiert auch nicht den kolonialen Charakter dieser Praxis. Danielle Storper-Perez spricht hier von „kolonisierter Verrücktheit“ (zit. in Heinrichs 1982e, S. 55) Ein weiterer Kritikpunkt hängt sich besonders an Devereux’ Schamanismuskonzept auf, lässt sich aber auch auf weitere Schriften Devereux’ beziehen: „Weit davon entfernt, dies Phänomen als eine Erscheinung menschenmöglichen Verhaltens neben zahllosen anderen aufzufassen, ordnet der Autor [i.e. Devereux] den Schamanismus bzw. die Träger schamanistischer Begabung im Rahmen seiner persönlichen universalistisch-psychoanalytisch orientierten Weltsicht als Manifestation abnormaler psychischer Verfassung ein, welch monokausale Vereinfachung bei einem derart grundgelehrten, belesenen und wohl auch warmherzigen Mann nur größte Verwunderung zu erwecken vermag – keinesfalls freilich Zustimmung.“ (Bleibtreu-Ehrenberg 1987, S. 200, Ergänzung K.H.)
Devereux’ Werke sind zudem voll von ethnozentrischen bis rassistischen Äußerungen, auch in seinen jüngeren Werken finden sich Begrifflichkeiten wie „Neger“ (z.B. Devereux 1967, S. 204) oder „rassenfremd“ (Devereux 1967, S. 205), so dass Heinrichs (1981, S. 173) feststellt:
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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„[...] es wimmelt nur so von bewußten oder unbewußten Diskriminierungen des anderen.“ (Heinrichs 1981, S. 173)
Andere AutorInnen gehen mit Georges Devereux noch weit härter ins Gericht. „Seine eigene Befangenheit in ethnozentrisch-abendländischen Vor- und Umwelturteilen trotz theoretisch besserer Einsicht mag auf des Autors profund apolitische bzw. unhistorische Haltung zurückzuführen sein.“ (Bleibtreu-Ehrenberg 1987, S. 200)
Auch aus Sicht der Cultural Studies muss die zum Teil schon erwähnte Kritik an den Werken Devereux’ geübt werden. Seine Annahme, im Grunde westlich geprägte Vorstellungen von psychischer Störung bzw. von „normal“ und „anormal“ in Form einer allgemein gültigen Störungslehre auf alle Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe übertragen zu können, ist ethnozentrisch und unterliegt dem Prozess der machtvollen Aneignung des/der Anderen, wie sie Spivak (vgl. Kap. 2.5) mit dem Begriff des „Worlding“ umschreibt. Von ähnlicher Haltung zeugen neben den ethnozentrischen bzw. rassistischen auch die sexistischen Aussagen Devereux’ die teilweise in einem Atemzug auftauchen. „Es scheint auch klar, daß die Beeinträchtigung des Selbst-Modells – wie sie durch den weiblichen Kastrationskomplex exemplifiziert wird – der Beeinträchtigung des Selbst-Modells unterdrückter rassischer Minderheiten korrespondiert. Die Frau fühlt sich nur deshalb unvollkommen, weil sie, anders als der Mann, keinen Penis hat; der amerikanische Neger fühlt sich nur unvollkommen, weil er, anders als der Weiße, keine helle Haut und kein glattes Haar hat.“ (1967, S. 210)
Und an anderer Stelle schreibt er: „Die offensichtlich weltweit verbreitete Neigung der Frau zu nörgeln, zu keifen und zu intrigieren, ist wahrscheinlich kaum wenig mehr als der Versuch, es mit dem physisch stärkeren Mann aufzunehmen.“ (Devereux1967, S. 212)
Paul Parin (zit. in Heinrichs 1982d, S. 45) versucht eine Erklärung für Devereux’ Ethnozentrismus abzugeben: „Ich glaube, daß [Devereux] vollständig dem Wissenschaftsbild der Naturwissenschaft folgt, dem dann auch die Humanwissenschaften im Zeitalter des Spätkapitalismus gefolgt sind, die einen sehr stark funktionellen Charakter hatten für den Ausbau der Naturwissenschaften, der Technik und Medizin usw. Der Nachweis für diese Behauptung liegt für mich darin, daß dieser Mann [...] es nie hat begreifen können, daß der psychiatrische Krankheitsbegriff, der bei uns entweder völlig vage
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
ist oder sich rein nach sozialen Stereotypen in der bürgerlichen Klasse entwickelt hat und angewendet wird und sich ja in den Gesundheitsdiensten bewährt hat, weil sich das ja selbst erfüllende Organismen sind, daß er den auf Sozietäten anwendet, die damit überhaupt nicht erfassbar sind.“
Es ist schwer, Devereux’ Werk in Bezug auf seinen Beitrag zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit eindeutig zu beurteilen. So klar kritisierenswert seine Annahmen und Äußerungen im vorangegangenen Absatz sind, so wichtig ist sein Beitrag für die Sozialwissenschaften, den er mit den Kernaussagen in Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften leistete. „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ „Der Verhaltensforscher kann die Interaktion zwischen Objekt und Beobachter nicht in der Hoffnung ignorieren, sie werde sich schon allmählich verflüchtigen, wenn er nur lange genug so täte, als existiere sie nicht.“ (Devereux 1967, S. 19)
Devereux’ Werk Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften erschien erstmals 1967 in Paris unter dem Titel From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences. Es entstand aus seiner Kritik am Kulturrelativismus der Culture and Personality-Schule, der von der Möglichkeit einer „unschuldigen BeobachterIn“ ausgeht, der/die, ohne Theorien zu bilden, nur beobachtet und Daten sammelt (vgl. Kilborne 1988). „Devereux fand, dass einige Modelle der kulturrelativistischen Culture and Personality-Forschung durch professionelle Abwehrstrategien mitbestimmt seien.“ (Reichmayr 2003a, S. 77, Hervorhebung i.O.).
Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften lässt sich aus heutiger Sicht in weiten Teilen in der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre verorten. Für die vorliegende Arbeit ist es insofern von Bedeutung, als es die Wissensproduktion über „die Anderen“ in spezifischer Weise beleuchtet. Wenn wir die Anwendung sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden nicht alleine auf einer diskurstheoretischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Ebene betrachten, sondern eine typisch sozialpsychologische Frage stellen, nämlich die nach der Motivation und dem Ort des Anschlusses des Individuums an die vorgegebenen (gesellschaftlichen) Diskurse, ist die Betrachtungsweise Devereux’ äußerst bereichernd.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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Devereux’ Grundthese ist folgende: Im Unterschied zu den Naturwissenschaften finde sich in den Sozialwissenschaften eine Überschneidung von Subjekt (=BeobachterIn) und Objekt (BeobachteteR). Diese Überschneidung errege bei dem/der BeobachterIn bzw. SozialwissenschaftlerIn Angst, die spezifische Gegenübertragungsreaktionen hervorrufe, welche „wiederum die Wahrnehmung und Deutung von Daten verzerren [...] und Gegenübertragungswiderstände hervorbringen, die sich als Methodologie tarnen und somit weitere Verzerrungen sui generis verursachen“ (Devereux 1967, S. 17). Die zum einen durch die erwähnte Angst und zum anderen alleine schon durch die Anwesenheit der BeobachterIn entstehende „Störung“ müsse in den Verhaltenswissenschaften als bedeutsamste Erkenntnisquelle anerkannt und genutzt werden, da sie ansonsten zum Ursprung „unkontrollierter und unkontrollierbarer Irrtümer“ (ebd. S. 18) würde. „Freud behauptet, die Übertragung sei das elementarste Datum der Psychoanalyse, wenn man sie als Forschungsmethode betrachtet. Im Lichte der Einsteinschen Anschauung, daß wir Ereignisse nur „am“ Beobachter beobachten können – d.h., daß wir lediglich wissen, was an dem experimentellen Apparat, dessen wichtigste Komponente der Bobachter ist, und mit ihm, geschieht – bin ich auf dem von Freud gewiesenen Weg einen Schritt weiter gegangen. Ich behaupte, daß das entscheidende Datum jeglicher Verhaltenswissenschaft eher die Gegenübertragung denn die Übertragung ist, weil man eine aus der Übertragung ableitbare Information gewöhnlich auch noch auf anderen Wegen gewinnen kann, während das für die Information, die aus der Analyse der Gegenübertragung hervorgegangen ist, nicht zutrifft.“ (Devereux 1967, S. 17, Hervorhebung i.O.)
Auf welche Weise auch immer in den Sozialwissenschaften versucht werde, die Untersuchungssituation zu kontrollieren bzw. vermeintlich zu objektivieren, komme zu allerletzt der/ die WissenschaftlerIn nicht um den Punkt der eigenen (subjektiven) Beobachtung und Bedeutungszuschreibung herum. Selbst klassische Rattenexperimente seien an der ForscherIn vorgenommene Experimente, da die Art bzw. Strategie, Daten zu erheben und ihnen Bedeutung beizumessen, in hohem Maße Aussagen über das Verhalten der BeobachterIn träfen (vgl. Devereux 1967). In den USA traf Angst und Methode überwiegend auf Ablehnung (vgl. Adler 1993). „Auf fruchtbaren Boden jedoch fielen Devereux’ Thesen in Europa, besonders dem deutschsprachigen Raum: Hier bestand aufgrund einer stärkeren hermeneutischen Tradition sowie im Gefolge der Tatsache, daß auch schon von anderer Seite – der ‚Frankfurter Schule‘ – Vorschläge zur Einbeziehung subjektiver Momente, von ‚Gegenübertragung‘, gemacht, generell: die Frage des Erkenntnisinteresses in die
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Überlegungen zur sozialwissenschaftlichen Forschung einbezogen worden waren, eine stärkere Aufnahmebereitschaft für die empiriekritischen Positionen Devereux’.“ (Adler 1993, S. 106)
Und Johannes Reichmayr (1995, S. 14) stellt fest: „Seine Frage nach der Subjektivität des Forschers ist aktuell.“ (Reichmayr 1995, S. 14)
Zeitgenössische KollegInnen kritisierten Devereux’ Postulat der Gegenübertragung als allerwichtigstes Instrument sozialwissenschaftlicher Forschung: Mead (1979) hält Devereux vor, „die Konzentration auf den Gegenübertragungsprozess als eines Instruments, das innerhalb eines vorwiegend an Sprache gebundenen Verfahrens – der Psychoanalyse – entwickelt worden ist, werde dem grundsätzlich ‚multisensorischen‘ Charakter der Feldforschung nicht in ausreichendem Maß gerecht“ (Adler 1993, S. 107). Einen wichtigen Hinweis auf eine Einschränkung von Devereux’ Überlegungen bringt Gstettner (zit. in Adler 1993, S. 107) vor. Devereux reflektiere in ungenügender Weise „gesellschaftlich produzierte […] Wahrnehmungs- und Reflexionsfilter“ in der Art, wie sie auf die (subjektiven) Gegenübertragungsprozesse Einfluss nehmen. Trotz der Einschränkung Gstettners, der ich als Frage im empirischen Teil dieser Arbeit noch einmal nachgehen möchte, kommt dieser Anwendung der Psychoanalyse die Bedeutung bei, „daß sich eine ethnopsychoanalytische Forschungspraxis in den Sozial- und Kulturwissenschaften herausgebildet hat“ (Reichmayr 2003a, S. 14). Die Einforderung der Selbst-Reflexivität von ForscherInnen im Prozess sozialwissenschaftlicher Untersuchungen hat aufgrund der aktuellen Vorherrschaft quantitativer Zugänge besonders im Rahmen der universitären Psychologie wieder an erschreckender Bedeutung gewonnen. Während die Nutzung der Gegenübertragung von Georges Devereux als ein Novum eingeführt wurde, wurde es für Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy zur Selbstverständlichkeit, diese systematisch als Erkenntnisinstrument einzusetzen (vgl. auch Adler 1993). Dieser ForscherInnengruppe werde ich mich im folgenden Kapitel zuwenden.
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3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
3.3.3 Paul Parin/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy „Überraschend war immer, wie gering die Modifikationen sind, die wir erbringen mußten.“ (Parin zit. in Heinrichs 1982d, S. 36)
Im Kontext der Ethnopsychoanalyse werden Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy in der Regel in einem Atemzug genannt. Der Grund dafür liegt in der Bedeutung ihrer beiden gemeinsam verfassten Werke Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika (1963) und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika (1971), die als „Klassiker“ der Ethnopsychoanalyse gelten. Aufgrund ihres spezifischen wissenschaftlichen Vorgehens im Rahmen ihrer Afrikareisen in den 50er und 60er Jahren werden sie als BegründerInnen der deutschsprachigen Ethnopsychoanalyse benannt (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Doch bevor wir inhaltlich auf die theoretischen Annahmen und Konzeptionen eingehen, betrachten wir den biographischen und denkerischen Hintergrund von Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy, der eng mit ihrem wissenschaftlichen Tun verwoben ist. Biographischer Hintergrund Paul Parin (geb. 1916) Arzt, Neurologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller 1963 1971 1986 1991 1992
(gemeinsam mit Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy): Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika. Zürich: Atlantis Verlag (gemeinsam mit Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy): Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag (gemeinsam mit Goldy Parin-Matthèy): Subjekt im Widerspruch. Aufsätze 1978–1985. Frankfurt a. M.: Syndikat Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen. Reinbek bei Hamburg: Rohwolt Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer (2003): Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial-Verlag
Paul Parin, der 1916 in Slowenien geboren wurde, entstammt einer jüdischen großbürgerlichen Familie.
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Nachdem er sein Studium der Medizin in Graz, Zagreb und Zürich 1943 mit der Promotion abgeschlossen hatte, wurde sein politisches Bewusstsein und Engagement schnell deutlich. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war Parin antifaschistisch aktiv und betätigte sich in der Flüchtlingsarbeit (vgl. Parin 1992/Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Gemeinsam mit seiner Frau Goldy Parin-Matthèy war er von 1944 bis 1945 im Rahmen der „Ersten Chirurgischen Mission“ der Centrale Sanitaire Suisse in Jugoslawien im Einsatz, um Titos Partisanenarmee zu unterstützen. Die Erfahrungen und Erlebnisse dieser Zeit hielt er ca. 45 Jahre später in seinem Buch Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen (1991) fest. Aus Jugoslawien kehrte er 1945 zurück, um von 1946 bis 1952 bei Rudolf Brun (bei dem nacheinander auch Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy ausgebildet wurden) eine Ausbildung zum Psychoanalytiker in Zürich zu absolvieren (vgl. Parin 1991/ Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy arbeiteten schließlich in einer gemeinsamen psychoanalytischen Praxis. Bis zum Jahre 1983 unterrichtete Parin am Psychoanalytischen Seminar Zürich, das er selbst 1958 mitbegründet hatte. Von 1967 bis 1970 war er zudem Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Goldy Parin-Matthèy (1911–1997) Medizinische Labor- und Röntgenassistentin, Psychoanalytikerin 1963 1971 1986
(gemeinsam mit Paul Parin und Fritz Morgenthaler): Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika. Zürich: Atlantis Verlag (gemeinsam mit Paul Parin und Fritz Morgenthaler): Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag (gemeinsam mit Paul Parin): Subjekt im Widerspruch. Aufsätze 1978–1985. Frankfurt a. M.: Syndikat
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer (2003): Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial-Verlag
Goldy Parin-Matthèy (geb. Elisabeth Charlotte Matthèy Guenet) lebte von 1911 bis 1997. Sie war die Tochter einer in Graz lebenden großbürgerlichen protestantischen Schweizer Familie. Da sie sich zwar für ein Medizinstudium interessierte, die finanziellen Mittel ihrer Familie dies aber nicht ermöglichten, ließ sie sich in Graz zur Laborund Röntgenassistentin ausbilden. Schon in ihrer Jugend war Parin-Matthèy politisch sowohl interessiert als auch engagiert.
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Sie bewegte sich in den Künstler- und Intellektuellenkreisen in Graz und pflegte Kontakt mit Sozialisten, Antifaschisten, Anarchisten und Kommunisten (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Im Alter von siebzehn Jahren las sie zeitgleich Die Traumdeutung von Freud und Die Dialektik der Natur von Engels, und bereits hier sah Parin-Matthèy eine Nähe zwischen den „beide[n …] Gedankenströme[n …] – die gehörten zusammen, und beide waren vollkommen subversiv“ (Parin-Matthèy 2000, S. 253). Im Laufe ihres Lebens vertiefte sie die Ansicht, dass sich Marxismus und Psychoanalyse auf produktive Weise ergänzten. Paul Parin führt das Verhältnis von Psychoanalyse und Marxismus folgendermaßen aus: „Für mich selbst war die Beschäftigung mit der Psychoanalyse, die Ausbildung zum Beruf des Analytikers, die ich 1946 angefangen habe, bereits eine Art Fortsetzung von antifaschistischem Engagement. […] ich bin erst ungefähr 1938 ganz zu den Linken gekommen. Und schon in dieser Zeit haben meine (spätere) Frau in Spanien – ich kannte sie damals noch nicht – und ich Kenntnis psychoanalytischer Schriften, hauptsächlich von Freud und Wilhelm Reich gehabt, und die Psychoanalyse kam uns wie eine direkte Fortsetzung des Marxismus vor, als dialektische Wissenschaft vom Menschen, eine Anthropologie, die auch noch eine tiefergehende Kulturkritik enthält.“ (Parin 1980, S. 13)
Bereits seit Beginn der 30er Jahre war Goldy Parin-Matthèy antifaschistisch aktiv, 1933 ging sie von Graz nach Wien und arbeitete unter anderem in „eine[m] Ableger von Aichhorns Heim für Schwererziehbare“ (Parin-Matthèy 2000, S. 253). 1937 schloss sie sich gemeinsam mit anderen antifaschistisch engagierten FreundInnen den „Internationalen Brigaden“ in Albacete in Spanien an. Im Jahre 1939 musste Goldy Parin-Matthèy zurück in die Schweiz migrieren, nachdem sie bereits zwei Monate lang in Marseille in einem Flüchtlingslager interniert gewesen war. In Zürich betrieb sie dann von 1939 bis 1952 ein Laboratorium für Blutuntersuchungen und lernte dort schließlich Paul Parin kennen, mit dem sie von da an ihren weiteren Lebensweg teilte (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003/Parin-Matthèy 2000). Fritz Morgenthaler wurde 1919 als Sohn des impressionistischen Malers Ernst Morgenthaler und seiner Frau Sasha Morgenthaler-von Sinner im Kanton Bern geboren. Nachdem Morgenthaler die Volksschule in Paris besucht hatte, schloss er das Gymnasium in Zürich ab und beendete dort auch 1945 sein Medizinstudium. In den Jahren 1946 bis 1951 arbeitete er als Assistenzarzt an der Neurologischen Universitätspoliklinik Zürich und unterzog sich in dieser Zeit bei Rudolf Brun einer Psychoanalyse. Im Folgenden absolvierte Morgenthaler ein Jahr als Assistenzarzt in Paris. Wie im Abschnitt über Paul Parin bereits erwähnt, führte er mit ihm und Goldy Parin-Matthèy ab dem Jahre 1952 eine
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
gemeinsame psychoanalytische Praxis. Auch im Rahmen der institutionalisierten Psychoanalyse war Morgenthaler äußerst aktiv. Von 1956 bis 1977 war er Mitglied im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, zudem war er in der Leitung des 1958 gegründeten Psychoanalytischen Seminars Zürich und war auch innerhalb der Lehre in verschiedenen psychoanalytischen Instituten, besonders in Italien, tätig. Neben den Forschungsreisen mit Parin und Parin-Matthèy nach Westafrika, auf die ich im Weiteren genauer eingehen werde, unternahm er zu Forschungszwecken weitere Reisen in das Gebiet des Sepik-Flusses in Papua-Neuguinea (gemeinsam mit den EthnologInnen Florence Weiss, Milan Stanec und seinem Sohn Marco) und besuchte auch ansonsten gemeinsam mit seiner Frau Ruth viele verschiedene Länder. Innerhalb der psychoanalytischen Theorie leistete er aber nicht nur Beiträge zur Ethnopsychoanalyse. Bedeutsam wurden auch seine Ausführungen zur Sexualtheorie, wobei er sich hier im Speziellen mit der männlichen Homosexualität beschäftigte, und seine Arbeiten zur Technik der Psychoanalyse. Im Jahre 1984 verstarb er auf einer Reise in Äthiopien (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Fritz Morgenthaler (1919–1984) Arzt, Neurologe, Psychoanalytiker und Maler 1963
1971 1978 1984a 1984b 1986
(gemeinsam mit Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy): Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika. Zürich: Atlantis Verlag (gemeinsam mit Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy): Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. Frankfurt a.M.: Syndikat (gemeinsam mit Florence Weiss und Marco Morgenthaler): Gespräche am sterbenden Fluß. Ethnopsychoanalyse bei den Iatmul in Papua-Neuguinea. Frankfurt a. M.: Fischer Homosexualität, Heterosexualität, Perversion. Frankfurt a. M. & Paris: Qumran Der Traum. Fragmente zur Theorie und Technik der Traumdeutung. Gießen: Psychosozial-Verlag
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer (2003): Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial-Verlag
Den Zusammenhang zwischen den biographischen Erfahrungen und dem ethnopsychoanalytischen Forschungsinteresse von Paul Parin, Goldy Parin-
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Matthèy und Fritz Morgenthaler beschreibt Johannes Reichmayr folgendermaßen: „Schon während ihrer Schüler- und Studentenzeit zeigten sich die späteren Protagonisten der Ethnopsychoanalyse interessiert an den Fragen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und den politischen und psychologischen Faktoren, die gesellschaftliche Veränderungen mitbestimmen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Psychoanalyse und die weitere Wahl der Fragestellungen waren vor allem dadurch motiviert, daß von ihr nicht nur Aufschlüsse über den Menschen als Individuum, sondern besonders über gesellschaftliche und historische Verhältnisse erwartet wurden. Dieses Interesse ist mit dem politischen Engagement der Autoren verbunden und rührt, lebensgeschichtlich gesehen, aus den Jahren ihres Kampfes gegen den Faschismus und Nationalsozialismus her.“ (Reichmayr 1995, S. 85)
In einem Interview mit Hans-Jürgen Heinrichs (1982d) stellt Paul Parin den materialistischen Ansatz dar, den er und seine ForscherInnengruppe vertreten. Die von ihnen beforschten Völker betrachteten sie in ihrem historischen Kontext. Motor der Geschichte sei „die Produktion der wichtigsten Subsistenzmittel“ (ebd. S. 35), aus der eine Struktur entstehe (dies sei aber nicht mit dem strukturalistischen Strukturbegriff zu verwechseln), die er als „Produktionsverhältnisse“ (ebd.) bezeichne. Und weiter: „Unser psychologischer Zugang nimmt an, daß alle diese Menschen in einer uns bekannten wirtschaftlichen und historischen Phase ihrer Entwicklung sind, es ist also eigentlich ein evolutionäres Schema. Die Strukturalisten meinen, daß es der Geist der Menschen ist, der diese Strukturen bestimmt. Wir meinen, daß es die materiellen Verhältnisse sind einschließlich der biologischen Anlagen und die Fähigkeiten der Menschen, die ja akkumulativ sind, die nicht wieder ganz verloren gehen, die eine Sozialordnung (in ständiger Bewegung) bedingen.“ (ebd. S. 35).
Trotz dieses materialistischen Ansatzes untersuchten Parin, Parin-Matthèy und Morgenthaler etwas, das laut Parin (ebd.) als „immateriell“ angesehen werden könnte, nämlich die Psyche bzw. psychische Vorgänge, wobei die Freudsche Psychoanalyse den zweiten theoretischen Grundpfeiler ihrer Arbeit darstellte. Mit diesen theoretischen Vorannahmen im Gepäck unternahmen sie gemeinsam in den Jahren 1954 bis 1971 sechs ethnopsychoanalytische Forschungsreisen nach Westafrika. Von diesen sechs Reisen wurden zwei aufgrund der bereits erwähnten daraus resultierenden Werke Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika (1963) und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika (1971) besonders bekannt.
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In den folgenden Abschnitten werde ich Ziel, Inhalt und Ergebnisse der Forschung der drei AutorInnen in ihren Kernpunkten genauer darstellen, wie sie in den oben genannten Werken dargestellt werden, um sie abschließend vor dem theoretischen Hintergrund der Cultural Studies kritisch zu würdigen. Die Weißen denken zuviel und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst – eine kritische Würdigung „Es lag nahe, auf das ursprüngliche Verfahren der Freudschen Psychoanalyse zurückzugreifen, um mehr Sicherheit zu gewinnen. Wir beschlossen, Afrikaner, die noch in ihrem Stammesverband lebten, mit der in Europa gewohnten ‚klassischen‘ Technik zu analysieren.“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 13)
Bereits während ihrer vorangegangenen Reisen nach Westafrika hatten Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy die psychoanalytische Methode angewandt, wenn auch in veränderter Form. Ziel aller Afrikareisen war es, „[a]us der Neugier, die Menschen fremder Länder kennenzulernen, […] Afrikaner auf diese Weise besser zu verstehen, als es sonst möglich ist“ (ebd.). In Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika (1963) und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika (1971) gehen die AutorInnen vor dem Hintergrund übergreifender Prämissen unterschiedlichen Kernfragen nach. Die Grundannahmen, die sie voraussetzen, sind die der von ihnen begründeten Form der Ethnopsychoanalyse: „Die Ethnopsychoanalyse unterscheidet sich von anderen Theorien, die das menschliche Verhalten erklären wollen, durch zwei Grundannahmen. Einerseits schreibt sie den Triebenergien, die zum Teil aus dem Unbewussten wirken, die Bedeutung zu, die ihnen die Psychoanalyse gibt. Dadurch unterscheidet sie sich von den Lerntheorien, von fast allen soziologischen und ethnologischen Theorien, von der klassischen marxistischen Gesellschaftstheorie und auch von den Lehren der Strukturalisten. Andererseits nimmt sie an, daß die Kräfte, welche von der Geschichtsschreibung, der Ethnologie und Soziologie studiert werden, die Evolution der Kulturen in Bewegung halten und daß sie nicht nur in der Makrosozietät ihre Wirkung entfalten, sondern bis in die verborgenen Regungen der individuellen Psyche hinein wirksam sind.“ (Parin 1976, S. 117, Hervorhebungen K.H.)
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Die Psychoanalyse ist nach Parins Verständnis eine Konfliktpsychologie, d.h. „[s]ie formuliert die seelische Entwicklung sowohl in inneren Konflikten wie in äußeren Konflikten (mit Personen und Einrichtungen der Umwelt), deren Ergebnisse, Lösungen oder Folgen in die Struktur der Individuen aufgenommen werden. Bei dieser Betrachtung ist eine konfliktfreie Gesellschaft ebenso undenkbar wie konfliktfreie Menschen“ (Parin 1992, S. 195). Diese Annahmen, so Parin, gelten für alle Gesellschaften unabhängig von ihrer Organisationsform und machen den Unterschied zu „psychologischen Theorien, welche annehmen, daß es allein die Gesetze der menschlichen Psychologie sind, die – neben denen der Naturwissenschaften – die Natur und das Verhalten des Menschen erklären können“ (ebd., S. 118). In beiden Untersuchungen, sowohl bei den Dogon als auch bei den Agni, begründen Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy ihre Forschungsmethodik auf klassisch psychoanalytischem Vorgehen, wie es zunächst aus dem klinischen Kontext bekannt ist. Im Zentrum steht die Betrachtung und Rekonstruktion der psychischen Entwicklung des Individuums, indem versucht wird, bereits in der Kindheit verinnerlichte psychische Konflikte aufzudecken. Dabei gehen die AutorInnen davon aus, dass „[d]ie psychoanalytische Methode […] geradeso auf Gesunde wie auf Menschen mit seelischen Störungen angewandt werden [kann]“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 13). Konkret besteht die Vorstellung von Sozialisation bzw. Vergesellschaftung darin, „daß jedes Kind intensiven Interaktionen mit seiner Umwelt ausgesetzt ist, die es in einer Familie oder in einer ihr entsprechenden Gruppe nach ganz bestimmten Erziehungsgewohnheiten aufzieht. Der Ablauf dieser Interaktionen ist sehr verschieden, wenn man Kulturen, Subkulturen oder aber Schichten und Klassen der gleichen ethnischen Einheit miteinander vergleicht. Gesteuert durch emotionelle Signale passt sich das Kind diesem Austausch mit der Umwelt an. Der Anpassungsvorgang steht unter dem Einfluß biologisch determinierter Reifungsprozesse und steuert seinerseits mannigfache Lernprozesse, die in jeder culture11 wieder andere sind. Den Ablauf und das Ergebnis der psychischen Entwicklung haben wir das kulturspezifische psychoanalytische Modell genannt“ (Parin 1976, S. 118, Hervorhebung i.O.). Nach einem Überblick über die ethnopsychoanalytischen Grundprämissen wenden wir uns nun den konkreten Untersuchungen an den beiden westafrikanischen Völkern zu. Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy wählten für ihre einige Monate des Jahres 1960 andauernde Forschungsreise die von Dogon bewohnte Dörfergruppe Sanga. Ihre Wahl begründeten sie damit, dass in diesem Gebiet bestimmte 11
Erklärung des culture-Begriffes nach Curt Bondy später in diesem Kapitel.
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Kriterien erfüllt waren, die sie für ihr Forschungsvorhaben für unerlässlich hielten. Die Dogon waren bereits von verschiedenen französischen EthnologInnen beforscht und beschrieben worden, so dass alle „Lebensäußerungen der Dogon“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 14), die für die ForscherInnen relevant waren, bereits der Literatur entnommen werden konnten, da „[e]s […] nötig [ist], auch die Umwelt der Analysanden gut zu kennen, um die Gegenkräfte zu begreifen, die sich den Trieben entgegenstellen, denn diese Gegenkräfte haben sich an der Umwelt geformt. Gerade ein Analytiker sollte durch seine besondere Schulung in der Lage sein, ungewohnte Erscheinungsformen der Psyche nicht als völlig fremdartig zu empfinden“ (ebd.). Als weiteres Kriterium war den ForscherInnen aufgrund ihrer eigenen mangelnden Kenntnisse in afrikanischen Sprachen wichtig, dass die von ihnen beforschten Menschen zumindest teilweise einer europäischen Sprache mächtig waren, ein Merkmal, das die Dogon aufgrund der früheren Kolonisierung durch Frankreich erfüllten, da sie teilweise Französisch in der Schule erlernten. Eine letzte Bedingung, die die Dogon ebenfalls erfüllten, war „[d]ie althergebrachte Lebensform, die traditionellen religiösen und politischen Einrichtungen sollten weitgehend erhalten geblieben sein“ (Reichmayr 1995, S. 102/vgl. auch Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963). Übergeordnetes Ziel dieser Forschungsreise war es, die Grundthese zu unterstützen, dass die psychoanalytische Theorie und Technik auf Menschen anderer Kulturen übertragbar sei (vgl. Adler 1993). Um sich diesem Ziel zu nähern, warben Parin, Morgenthaler und ParinMatthèy verschiedene Dogon an, um mit ihnen analytische Gespräche zu führen. Insgesamt haben Paul Parin und Fritz Morgenthaler „in den Dörfern der Dogon in Westafrika dreizehn Neger (!) einer Psychoanalyse unterzogen […]“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 13, Hervorhebung K.H.). Dabei analysierten sie erwachsene Männer und Frauen, die im Kontext ihrer Gemeinschaft als „normal“ angesehen wurden und denen es möglich war, täglich eine Stunde lang ein analytisches Gespräch zu führen. Um nicht in die Nähe der ehemaligen Kolonisatoren gebracht werden zu können, entlohnten sie in gegenseitigem Einverständnis die teilnehmenden Dogon. Die analytischen Gespräche fanden, anders als innerhalb von klassischen Analysen üblich, nicht liegend, sondern im Sitzen statt und waren nahe dem jeweiligen Dorf platziert, wobei jede/r AnalysandIn seinen bzw. ihren eigenen Analyseort hatte. In diesen „Analysen“ „[wurden] die verschiedenen Erkenntnisse und die Rekonstruktionen über die seelische Entwicklung in der frühen Kindheit […] hauptsächlich abgeleitet aus der Beobachtung der Übertragungswiderstände und den Veränderungen der Übertragungsphantasien, die sich als Folge der Deutung der Widerstände ergaben“ (Reichmayr 1995, S. 104f).
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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Um die Inhalte der Analysen besser einordnen zu können, führte Goldy Parin-Matthèy zudem an 100 Personen Rorschachtests durch. Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy ziehen verschiedene Folgerungen aus ihren Untersuchungen. Prinzipiell nehmen sie an, „daß die Triebanlagen aller Menschen die gleichen sind, und dass die Triebkräfte, die sich während der Analyse äußern, überall den gleichen Gesetzen gehorchen“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 14). Diese Annahme sehen sie prinzipiell bestätigt, was besonders an ihren Ausführungen zur Universalität des Ödipuskonfliktes deutlich wird: „Unter dem Ödipuskonflikt versteht die Psychoanalyse eine allgemein vorkommende menschliche Konfliktsituation, die insofern biologisch verankert ist, als sie das unausweichliche Resultat der frühkindlichen seelischen Entwicklung darstellt.“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 472, Hervorhebung K.H.).
Und an anderer Stelle: „Bei uns lautet die einfachste Formel für diesen Übergang von der Mutter-Kind‚Dyade‘ zur ‚Triade‘: Der Knabe wünscht, seine Mutter sexuell zu besitzen, und er trachtet deshalb, seinen Vater zu töten. Er fürchtet jedoch, zur Vergeltung vom Vater kastriert oder getötet zu werden. Dieser Konflikt führt zum Untergang des Ödipuskomplexes. Der Knabe verinnerlicht die Autorität des Vaters und verzichtet hinfort auf den Besitz der Mutter. Damit ist das Überich aufgerichtet und das Inzestverbot etabliert.“ (Parin 1992, S. 196)
Allerdings müsse im interkulturellen Vergleich eine allgemeinere Formulierung des ödipalen Konfliktes vorgenommen werden: „Bei der Untersuchung von Menschen, die in Sozietäten aufgewachsen sind, deren Familienordnung und Erziehungspraktiken sich von den unseren wesentlich unterscheiden, hat sich eine allgemeinere Fassung als nötig erwiesen. Auch in unserer abendländischen Welt scheint die obige Formulierung nicht für Angehörige aller Klassen zu gelten, und sie scheint zeitlichen Veränderungen unterworfen zu sein. […] Wir können den Konflikt, den Angehörige der […] in Betracht kommenden Sozietäten zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr durchmachen, so umschreiben: Knaben und Mädchen treten zwangsläufig in eine Entwicklungsphase (die so genannte phallische Phase der Libidoentwicklung) ein, in der sich ihre libidinösen Wünsche ganz auf eine Person zentrieren, die sie bisher gepflegt hat (in der Regel die Mutter). Mit dieser bilden sie eine Dyade. Jetzt wird jede Person oder Gruppe von Personen, die Ansprüche auf die ‚Mutter‘ erhebt, als Störfaktor erlebt. Für das Kind ergibt sich ein Konflikt, der starke Affekte erregt. Diese zwingen es, sich in irgendeiner Weise mit der Einordnung in eine Triade abzufinden […]. Mit diesem Ver-
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zicht kommt die stürmische Triebentwicklung der Frühkindheit zu einem vorläufigen Abschluß, der sogenannten Latenz.“ (ebd., Hervorhebung K.H.)
Dieser psychische Entwicklungsschritt sei für die Sozialisation des Kindes wichtig, wenn nicht sogar entscheidend. Ebenso wie Freud rechnet Paul Parin das Inzestverbot „nicht einmal sicher zur Biologie des Menschen“ (Parin 1992, S. 197), sondern betrachtet es vielmehr als Folge früherer Sozialisationsprozesse, wobei dem ödipalen Konflikt an dieser Stelle eine besondere Bedeutung zukomme. Es lässt sich also festhalten, dass die AutorInnen zwar der Meinung sind, das Prinzip des ödipalen Konfliktes müsse allgemeiner formuliert werden, um ihn zum Verständnis psychischer Entwicklung auf verschiedene kulturelle Kontexte anwenden zu können; im verallgemeinerten Verständnis desselben gehen sie jedoch davon aus, dass er aufgrund seiner biologischen (genetischen?) Verankerung universell ist und sich lediglich in den verschiedenen Formen des Ausgangs des ödipalen Konfliktes unterscheidet, was wiederum wesentlich von den jeweiligen sozialen Lebensformen abhängt. Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy treffen in Bezug auf das Ich und die Abwehrmechanismen und auch das Über-Ich betreffend im Prinzip dieselben Aussagen, wie es in Bezug auf den ödipalen Konflikt ausgeführt wurde. Prinzipiell verfügen „die Dogon“ ebenso wie „die Europäer“ über ein Ich mit entsprechenden Abwehrmechanismen. In Die Weißen denken zuviel wird jeder Abwehrmechanismus und seine entsprechende „typische“ Ausprägung bei den analysierten Dogon besprochen und teilweise mit der Art der Ausprägung beim „typischen Europäer“ verglichen. Dabei erscheint es zunächst, „als ob sich die Gesamtperson und besonders das Ich unserer Analysanden von dem der Europäer nur in Einzelheiten unterscheiden würden“ (Parin, Morgenthaler & ParinMatthèy 1963, S. 459). Dies sei aber nicht der Fall: „Wie das Ich der Europäer wandelt auch das Ich der Dogon den Primärvorgang in den Sekundärvorgang um. Es ist leistungsfähig und veränderlich. Es passt sich andauernd nach außen und innen an. Es gewährleistet eine größere Ausgeglichenheit der Stimmung, aber eine geringere Autonomie der Persönlichkeit als das unsere. Die Flexibilität des Ich bestimmt sein Verhältnis zu den Triebwünschen. Seine Leistungen sind von der Beziehung zu den Mitmenschen abhängig; es ist ein Gruppen-Ich. Die Bezeichnung Gruppen-Ich nimmt darauf Rücksicht, daß Identifikationen nicht nur wie bei uns in der Zeit der Formung der Persönlichkeit, sondern zeitlebens die größte Rolle spielen.“ (ebd., S. 460)
Ähnliches gelte auch für die Ausformung des Über-Ich bei den Dogon. Die analysierten Dogon orientierten sich zwar ebenso wie die Europäer am Realitätsprinzip, um die entsprechenden Triebwünsche mit den Ansprüchen der Umwelt in Übereinstimmung zu bringen, dennoch gebe es aufgrund der spezifi-
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schen gesellschaftlichen Bedingungen mit ihren dazugehörigen Erziehungsformen bedeutsame Unterschiede. Im Vergleich zum Über-Ich „der Europäer“ sei das der Dogon weniger sadistisch. Zudem blieben viele „Leistungen der äußeren Anpassung, die bei uns durch Überichforderungen geregelt werden, zeitlebens der Gruppe überlassen“ (ebd. S. 479). Aufgrund dieser Feststellungen nennen die AutorInnen die Instanz, die „unserem“ Über-Ich entspreche, das „Clangewissen“, das „vom Ich weniger abdifferenziert [sei] als das europäische Überich“ (ebd.). Eine schematische Darstellung der von ihnen angenommenen Unterschiede zwischen Über-Ich und Clangewissen findet sich bereits in einem Artikel, der sich auf die Forschungen im Rahmen ihrer früheren Afrikareisen bezieht (vgl. Parin & Morgenthaler 1956). Ihre Forschungsreise zu den Agni unternahmen Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy vom Ende des Jahres 1965 an bis zur Mitte des Jahres 1966. Die Ergebnisse dieser ethnopsychoanalytischen Feldstudie fassen sie im Buch Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika (1971) zusammen. Ebenso wie im Rahmen der Untersuchung an den Dogon stützen sich die ForscherInnen auf die bereits angeführten psychoanalytischen bzw. ethnopsychoanalytischen Vorannahmen (die Psychoanalyse als Konflikt- und Triebtheorie, die Annahme des Unbewussten und die Auswirkung gesellschaftlicher Kräfte auf die individuelle Psyche). Anders jedoch als bei der Untersuchung an den Dogon, in der die einzelne Person und ihre jeweilige psychische Struktur im Zentrum steht, „wird bei den Agni die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen besonders beachtet und das Studium des Individuums im Rahmen seiner Kultur hervorgehoben“ (Reichmayr 1995, S. 109). Die Wahl der ForscherInnen fiel aus verschieden Gründen auf die Agni. Sie versuchten „ein Volk zu finden, das in vergleichbarer Gegensätzlichkeit zu den Dogon stand […]“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1971, S. 11). Konkret sollte es möglich sein, mit Einzelnen aus dem zu erforschenden Volk eine europäische Sprache sprechen zu können, sie sollten „ihren Traditionen treu geblieben“ (ebd.) sein und zudem eine Form der familiären Organisation leben, die im Kontrast zu der der Dogon stand. All diese Kriterien erfüllten die matrilinear organisierten Agni. Folgende Forschungsfrage war vor diesem Hintergrund bei der Untersuchung der Agni zentral: „Mit anderen Worten lautete unsere Herausforderung an die direkte Anwendung der psychoanalytischen Methode: Kann sie dazu beitragen, Menschen aus matrilinear organisierten Sozietäten zu verstehen, obzwar sie aus der Psychologie patrilinear geordneter entstanden ist und eine ihrer Grundkonzeptionen, der ödipale Kon-
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flikt – angeblich oder wirklich – ausschließlich der patriarchalen Familienorganisation entstammt?“ (ebd., S. 13)
Ihr Untersuchungsmaterial gewannen die ForscherInnen durch eine große Zahl verschiedener Methoden. Im Zentrum standen psychoanalytische Gespräche mit zwei Frauen und fünf Männern. Diese wurden ergänzt durch 130 Rorschachtests, direkte Kinderbeobachtung, das Filmen von Säuglingspflege, Befragungen über Wertsysteme, Explorationen von Menschen, die als psychisch krank galten, und vieles andere mehr (eine komplette Auflistung findet sich bei Morgenthaler & Parin-Matthèy 1971, S. 30f). Die Ergebnisse der Untersuchung an den Agni seien hier nur in Kürze ausgeführt, da sie mit denen, die im Kontext der Dogon-Erforschung entstanden, in den Punkten, die im Rahmen dieser Arbeit von Bedeutung sind, weitgehend übereinstimmen. Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy beschreiben ausführlich das spezifische „Schicksal“ der in den verschiedenen psychischen Entwicklungsphasen auftretenden Triebe, wobei sie die spezifischen Entwicklungsphasen analog denen europäischer Kinder annehmen. Das psychoanalytische Entwicklungsmodell in seinem in spezifische Altersstufen strukturierten Verlauf nehmen sie dabei zur Grundlage und beschreiben typische Entwicklungen und Abwehrformationen unter den spezifischen Sozialisationsbedingungen der Agni. Trotz der matrilinearen Organisation der Agni sehen sie das Vorkommen des ödipalen Konfliktes in einer kulturspezifischen Ausprägung als erwiesen an. Anschließend an die Darstellung dieser „Forschungsberichte“ lassen sich an diese nun verschiedene Fragen stellen, die eine kritische Würdigung derselben vor dem theoretischen Hintergrund der Cultural Studies mit einem Schwerpunkt auf den Postcolonial Studies ermöglichen sollen (vgl. auch Kap. 2.3 bis 2.5).
Wie wird von den AutorInnen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft konzipiert? Welcher Kulturbegriff wird von ihnen verwendet? Welche Konstruktionen und Konstruktionsprozesse des/der Anderen lassen sich finden? Wie wird die Produktion und Anwendung (ethno-)psychoanalytischen Wissens reflektiert?
Betrachten wir nun die erste Frage, die an Parin, Morgenthaler und ParinMatthèy gestellt werden kann: Wie verstehen sie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Eine Antwort darauf lässt sich finden, wenn wir uns noch einmal den von ihnen zusammengefassten (ethno-)psychoanalytischen Grundprämissen zuwenden. Prinzipiell verstehen sie Individuum und Gesellschaft in
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einem Wechselverhältnis stehend. Gesellschaftliche Kräfte wirken in die Psyche der Menschen hinein (vgl. Parin 1976) und werden mittels der Auseinandersetzung mit Strukturen bzw. Personen der Umwelt transportiert und verinnerlicht (vgl. Parin 1992). Dabei gilt diese Auseinandersetzung als konflikthaft, da die AutorInnen, in Anlehnung an Freud, Psychoanalyse als eine Konfliktpsychologie verstehen (vgl. auch Reichmayr 1995). Nach Parins Vorstellung ist weder eine Gesellschaft noch ein Mensch ohne Konflikte denkbar (vgl. Parin 1992). Man dürfe jedoch nicht der Verlockung erliegen, „[…] einen Konflikt, der sich in der Gesellschaft äußert, darzustellen und das Individuum als den Ort zu beschreiben, an dem der Konflikt – nach dem Prozeß der Sozialisation – seinen Austrag findet“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1971, S. 497). Während einerseits „Produktions- und Machtverhältnisse“ (Parin 1976, S. 120) auf das Individuum wirken, wirken umgekehrt individuelle Kräfte auf gesellschaftliche Bedingungen. In diesem Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft betrachtet Parin „die gesellschaftlichen Verhältnisse“ als „progressiven Faktor“, „die kulturspezifische Sozialisation“ als „konservativen Faktor“ (ebd. S. 121). Dies begründet er, indem er „kulturspezifische Sozialisation“ mit „Erziehungsmustern“ gleichsetzt, welche „[…] sich nur sehr langsam [ändern]. Man kann weder die Familie, viel weniger noch die Mütter dazu bringen, ihre Kinder anders aufzuziehen, als sie selber erzogen worden sind. Dadurch erzeugen sie zwangsläufig in der nächsten Generation kulturspezifische Eigenheiten, die durch Erziehungsgewohnheiten, gültige Wertsysteme und mannigfache Verhaltensweisen der Mütter (und vieler anderer Personen der Umwelt) vermittelt worden sind. Man kann das so ausdrücken, daß einmal erworbene kulturspezifische Eigenheiten einer Art Wiederholungszwang unterliegen, der über die Generationen hinauswirkt […].“ (ebd. S. 119)
Fraglich ist, ob eine solche Vorstellung der „konservativen“ Sozialisation in einer heutigen postmodernen Gesellschaft noch haltbar ist, deren Individuen als elementare Erfahrung die der „Entbettung“ aus traditionellen Strukturen und Mustern machen (vgl. z.B. Keupp et al. 1999). An anderer Stelle relativiert Parin selbst das konservative Element der Sozialisation: „Beide [i.e. Sozialisation und gesellschaftliche Verhältnisse] kann man sich als Koordinaten in einem Koordinatensystem vorstellen, das für die Bestimmung jeder ethnopsychoanalytischen Beobachtung unerlässlich ist. Eine dritte Koordinate, also in der dritten Dimension wäre der zeitliche Verlauf. Beide Faktoren, die Sozialisation und die gesellschaftlichen Verhältnisse, sind prinzipiell diachrone Phänomene, d.h. sie sind immer in Veränderung begriffen.“ (Parin 1976, S. 119)
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Nach der Betrachtung des hauptsächlich von Parin theoretisierten Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft nun zum verwendeten Kulturbegriff in Die Weißen denken zuviel und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. In den beiden dargestellten Werken von Parin, Parin-Matthèy und Morgenthaler lässt sich an keiner Stelle eine ausführliche theoretische Darstellung und Reflexion ihres verwendeten Kulturbegriffes finden. Parin bezieht sich im Rahmen anderer Arbeiten ein paar Mal kurz auf den Begriff der Kultur und spricht z.B. von „culture“ (z.B. Parin 1976, S. 118/ders. 1992, S. 134), womit in Anlehnung an Curt Bondy ein „Gesellschaftsgefüge“ (Parin 1993, S. 134) gemeint ist. Lesen wir bei Bondy selbst nach, so definiert er: „Unter Gesellschaftsgefüge wollen wir das Insgesamt der charakteristischen Merkmale einer bestimmten Gesellschaft verstehen, wie etwa ihre politische Ordnungsform, ihre kulturellen Institutionen, ihre allgemeinverbindlichen Normen, aber auch die Technik, überhaupt alles, was wir Zivilisation nennen. Wir verwenden diesen Begriff hier analog dem amerikanischen Terminus ‚culture‘. Nach Ruth Benedict (Patterns of Culture) ist culture eine Ganzheit (im Sinne der Gestaltpsychologie), die sich aus einzelnen Merkmalen (traits) der jeweiligen Gesellschaft zusammensetzt.“ (Bondy 1955, S. 81, Hervorhebungen i.O.)
Übersetzt in die Termini der Cultural Studies könnte man sagen, Bondy spricht hier in Anlehnung an Benedict von Kultur als „Hochkultur“ (z.B. technische Errungenschaften), aber auch von Kultur als Praxis an sich (z.B. gelebte Normen), die sich auch in gesellschaftlichen Strukturen zeigt (z.B. politische Ordnungsform). Dazu ist auch zu erläutern, dass Ruth Benedict, eine Schülerin von Franz Boas, zu den VertreterInnen des Kulturrelativismus zu zählen ist, der davon ausgeht, dass die verschiedenen Kulturen nicht nur jeweils als einzigartig und untereinander gleichwertig zu betrachten sind, sondern in seiner extremsten Form davon ausgeht, dass Erfahrungen nicht von einer Kultur in eine andere übersetzbar sind (vgl. Haller 2005). Diese Aussagen über den von Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy verwendeten Kulturbegriff können jedoch nur indirekt über die erwähnten Bezüge getroffen werden. In ihren Hauptwerken wird der „culture“-Begriff an sich jedoch nicht näher expliziert. Parin stellt auch Bezüge zu einem marxistischen Kulturbegriff her: „Wir betreiben eine dialektische soziale Psychologie, wie sie im Ansatz schon bei Freud enthalten ist – auch bei ihm ist Realität immer schon eine gesellschaftlich gebildete Realität. Allerdings kommt man nicht ohne Marx’ Definition der Kultur aus – die Gesellschaft besteht aus der ‚Summe der Beziehungen, der Verhältnisse, worin diese Individuen zueinander stehen‘ – Wenn man die Psychoanalyse als Sozialwissenschaft begreifen will, so folgt auch die Ethnopsychoanalyse mehr der Marx-
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schen Gesellschaftsauffassung als derjenigen, wie Freud sie definiert hat.“ (Parin zit. in Heinemann 1982d, S. 39)
An anderer Stelle bezieht sich Paul Parin (2000) auf das Konzept der „heißen“ und der „kalten“ Kulturen von Claude Lévi-Strauss, wobei dieser, wie in Kapitel 2.3.2 dargestellt, zu den Strukturalisten gezählt wird und Kultur bzw. alle Formen gesellschaftlicher Beziehungen als symbolisch und konstruiert versteht (vgl. Suchsland 1992). Wenn auch der zugrunde gelegte Kulturbegriff von den AutorInnen nicht direkt ausgeführt wird, so lässt sich aus verschiedenen Aussagen und der allgemeinen Herangehensweise innerhalb der beiden Werke Die Weißen denken zu viel und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst zumindest indirekt der Schluss ziehen, dass sie unter Kultur nicht nur „Hochkultur“, also Kunst bzw. Kunstwerke, verstehen, sondern sie im Sinne Raymond Williams’ als „common culture“ (vgl. Kapitel 2.3.2) konzipiert wird, da sie die „Lebensäußerungen“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 14) der Dogon und der Agni beforschten. Insgesamt fehlt jedoch, wie bereits gesagt, eine systematische Darstellung des von ihnen verwendeten Konzeptes von Kultur. Nun zur Frage, wie Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy in ihren Werken den/die „Anderen“ konstruieren. Hier lassen sich verschiedene Pfade verfolgen, aus denen es nicht ganz einfach ist, sich ein differenziertes Gesamtbild über die Haltung der AutorInnen zu machen. In einer frühen Arbeit von Morgenthaler und Parin aus dem Jahre 1956 mit dem Titel „Charakteranalytischer Deutungsversuch am Verhalten ‚primitiver‘ Afrikaner“, die als Vorarbeit zu den beiden hier hauptsächlich behandelten Werken verstanden werden kann, zeichnen Parin und Morgenthaler ein Bild des „Afrikaners“, der mit dem „Europäer“ viele Gemeinsamkeiten hat. Prinzipiell gehen sie in Anlehnung an Kardiner und Linton davon aus, „dass die Charakterbildung der Primitiven den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgt wie die der gesunden und kranken Zivilisierten“ (ebd. S. 313). An dieser Stelle formulieren die Autoren einen Universalismus, den sie in den Werken Die Weißen denken zuviel und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst vertiefen: Wie bereits dargestellt, verstehen sie die phasenhaft verlaufende psychische Entwicklung als Universalie und halten die „Triebkräfte“ und die „Gesetzmäßigkeiten“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 14), denen sie unterworfen sind, für allgemein gültig. Besonders deutlich wird ihr universalistischer Anspruch in ihrer Konzeptualisierung des ödipalen Konfliktes, den sie zwar allgemeiner formulieren, die ödipale Phase jedoch als unvermeidbar in der psychischen Entwicklung des Kindes verstehen (vgl. ebd.). Anhand der Verwendung der entsprechenden Begrifflichkeiten innerhalb dieses Artikels (und diese Begriffe werden auch in ihren beiden Hauptwerken gemeinsam mit Goldy Parin-Matthèy verwendet) entsteht über weite Strecken
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der Eindruck, dass Paul Parin und Fritz Morgenthaler den „Europäer“ dem „Afrikaner/Primitiven/Neger“, was die Inhalte der psychischen Strukturen angeht, als gleichsam getrennte Entitäten gegenüberstellen, ähnlich wie es anhand der Konstruktion des „Okzidents“ und des „Orients“ bereits in Kapitel 2.5 problematisiert wurde. Unterschiede innerhalb dieser vermeintlichen Entitäten (wie z.B. Schichtunterschiede) werden dabei an dieser Stelle vernachlässigt, wenn sie auch „[m]it dem ‚Europäer‘ selbstverständlich nicht den statistisch häufigsten Europäer oder den ‚Normalmenschen‘ unserer Zivilisation“ (Parin & Morgenthaler 1956, S. 319) meinen, sondern „[e]in solch verallgemeinernder Ausdruck gilt immer in bezug auf den eben zu besprechenden Charakterzug (z.B. im Arbeitsverhalten), oder in Bezug auf den eben betrachteten psychologischen Faktor (z.B. das Überich)“ (ebd.). Die scheinbare Trennung und Gegenüberstellung dieser „Charakterzüge“ und psychischer Inhalte von EuropäerInnen und AfrikanerInnen wird besonders anhand der schematischen Darstellung von Über-Ich und Clangewissen (ebd., S. 326/auch Parin, Morgenthaler & ParinMatthèy 1963, S. 479f) deutlich. Über-Ich
Clangewissen
Über-Ich ist vom Ich abdifferenziert
Clangewissen ist weniger vom Ich abdifferenziert
Forderungen sind mehr innerlich
Forderungen sind mehr außen bzw. nach außen projiziert (Sozietät, Tabus, animistische Vorstellungen)
Forderungen sind in größerer Gemeinschaft gültig
Forderungen sind in engerer Gemeinschaft gültig
Forderungen sind dauernd zu erfüllen
Forderungen sind unmittelbar zu erfüllen
Verletzungen der Forderungen erzeugen mehr chronische Gewissensangst = Schuldgefühl
Verletzungen der Forderungen erzeugen mehr akute Angst
Enstehende Ängste sind der Bannung und Projektion weniger zugänglich
Entstehende Ängste sind der Bannung und Projektion zugänglicher
Inhalte des Über-Ich sind abstrakter formuliert
Inhalte des Clangewissens sind konkreter formuliert
Gegenüberstellung von Über-Ich und Clangewissen
Hier erscheint „der Europäer“ zunächst als das, was „der Dogon“ nicht ist. An wenigen Stellen brechen die AutorInnen jedoch mit der Darstellung der von ihnen beforschten Völker im Vergleich zu „den Europäern“ als separate Einheiten. Die Annahme von psycho-biologischen Universalien auf der einen Seite
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und die Betonung von bedeutsamen Unterschieden zwischen Dogon und „Europäern“ auf der anderen münden in Die Weißen denken zuviel in folgender Aussage: „Der Vergleich der Dogon mit dem Menschen des Abendlandes hat nicht zu einer klaren Gegenüberstellung geführt.“ (Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 499)
Ebenfalls nur am Rande ihrer Werke verdeutlichen sie, dass sie den Vergleich psychischer Strukturen und Inhalten bei den Dogon mit denen der Europäer nicht als eurozentrisch verstanden wissen wollen: „Wo wir ‚Europäisches‘ zum Vergleich heranziehen, dient es nur dazu, ein bekanntes Bild zu liefern und nie eine allgemeingültige Norm.“ (ebd. S. 19)
Essentialistisch ist jedoch aus heutiger Sicht ihre Annahme der Zugehörigkeit der Dogon zu einer „schwarzen Rasse“, die sie jedoch rein auf physische Merkmale beschränken: „Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die psychologischen Besonderheiten, die wir fanden, vorwiegend Ausdruck der vererbten psychischen Anlagen der schwarzen Rasse seien. Rassen nennt man Gruppen von Menschen, die bestimmte körperliche Merkmale gemeinsam haben, welche man auf ein gemeinsames Erbgut zurückführen kann. Entsprechende psychische Merkmale, welche die schwarze Rasse von der Weißen unterscheiden, sind bisher nie in einer der Kritik standhaltenden Form abgegrenzt worden.“ (ebd. S. 18)
Was die Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten zur Bezeichnung der „Anderen“ angeht, so distanzieren sich die AutorInnen an manchen Stellen kritisch von ihnen, indem sie diese in Anführungszeichen setzen. „Wir sprechen absichtlich synonym von ‚primitiven‘ Afrikanern, Primitiven, Afrikanern und Wilden (nach Freud), und andererseits von Europäern, Zivilisierten u.s.w.“ (Parin & Morgenthaler 1956, S. 319, Hervorhebung i.O.)
Allerdings distanzieren sich die AutorInnen nicht vom Begriff des „Negers“, obwohl dieser im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung in den USA als Bezeichnung für Schwarze zu dieser Zeit bereits problematisiert wurde (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerrechtsbewegung, letzter Zugriff: 22.12. 2008). Abschließend lässt sich neben dem Aspekt der Konstruktion des/der „Anderen“ auch der Frage nachgehen, inwiefern Parin, Morgenthaler und Parin-
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Matthèy die Produktion und Anwendung ihres (ethno-)psychoanalytischen Wissens reflektieren und inwiefern sie ihre Theorie als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses ansehen. Dieser Punkt ist insbesondere vor dem Hintergrund der Postcolonial Studies (vgl. Kap. 2.5) von Bedeutung. Hier lässt sich eine Veränderung in der Haltung der AutorInnen zwischen dem Werk Die Weißen denken zuviel und Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst feststellen. In Die Weißen denken zuviel stellen Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy die generelle Anwendbarkeit der Psychoanalyse als kulturübergreifendes Modell für die psychische Entwicklung des Menschen und als „Behandlungsmethode“ nicht in Frage. Was technische Einzelheiten ihrer Forschung angeht, z.B. die mögliche Kulturspezifität von Rorschachtests, handeln sie dies knapp mit dem Verweis auf andere AutorInnen (z.B. Bleuler & Bleuler 1935) aus dem Bereich der Rassenpsychologie (vgl. Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy 1963, S. 520) ab: „Die Frage der Anwendbarkeit des Rorschachtests und sein Wert für das Studium der Psychologie bei fremden Völkern sind mehrfach praktisch und theoretisch geprüft worden. […] Es ist erwiesen, daß der Test bei Angehörigen von Völkern, die dem abendländischen Kulturkreis fern stehen, angewandt werden kann.“ (ebd., S. 437)
Auf die aus der Sicht der vorliegenden Arbeit entscheidende Frage, ob das psychoanalytische Modell bzw. das spezifische trieb- und konflikttheoretische Modell von Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy auf Menschen anderer Kulturen ohne Weiteres übertragen und uneingeschränkt verwendet werden kann, gehen sie an dieser Stelle nur beiläufig ein und halten dies für legitim. „Es erhebt sich die Frage, ob man die Persönlichkeit ‚traditionsgeleiteter‘ Menschen nicht mit einem anderen Begriffssystem als dem der Psychoanalyse beschreiben sollte, die ja am Modell des ‚innengeleiteten Europäers‘ entwickelt worden ist. Hätte man nicht besser von der Abgrenzung innerer Instanzen, insbesondere eines Funktionssystems ‚Ich‘ abgesehen?“ (ebd. S. 449)
Diese Frage beantworten sie auf der nächsten Seite wie folgt: „Aus mehreren Gründen glaubten wir, nicht davon absehen zu können, bei den Dogon ‚sekundäre psychische Funktionssysteme‘ zu beschreiben, die jenen entsprechen, welche die Psychoanalyse bei den Europäern annimmt.“ (ebd. S. 450)
Ihre Argumentation bleibt an dieser Stelle jedoch wenig stichhaltig. Sozusagen aus erkenntnistheoretischen Gründen sei es methodisch gesehen nicht günstig, „ein neues Gebiet zu untersuchen und gleichzeitig die Theorie zu ändern, nach der die gewonnenen Befunde geordnet und verstanden werden“ (ebd.). Dieser
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Annahme widerspricht allerdings aus heutiger Sicht z.B. das methodische Vorgehen der Grounded Theory (vgl. z.B. Strauss & Corbin 1996). Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy konstatieren weiter, dass in ihrem Fall eine Veränderung der Theorie ohnehin nicht nötig sei, da das empirische Material nicht im Widerspruch zu der von ihnen angewandten Theorie stehe, wobei damit nicht das Problem reflektiert wird, ob der/ die ForscherIn nicht nur das findet, was er/sie ohnehin sucht, bzw. ihre theoretischen (spezifischen psychoanalytischen) Vorannahmen ein bestimmtes Raster über die Empirie legen und hauptsächlich das Theoriekonforme „gesehen“ wird. In Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst finden sich allerdings zum Thema der Kulturspezifität des von ihnen verwendeten psychoanalytischen Modells einige kritische Anmerkungen: „[…] wir [haben …] verfälscht, verzerrt und so fort. Dies haben wir hier absichtlich getan. So eine Aussage wie: Die Agni sind wie die Römer der Spätzeit, ihre Seele ist wie die des Caligula von Camus und sie teilen sein Schicksal12, so eine Aussage ist durchaus falsch, und es ist unvermeidlich, so falsche Aussagen zu machen. Wir brauchen ein Bild unserer Vergangenheit, genauer, nicht der unseren, sondern ein üblicherweise in unserer Kultur überliefertes Bild, das wir deshalb kennen, das uns etwas sagt, auch wenn es mit der Vergangenheit unseres Volkes wenig zu tun hat und wenn es sehr fraglich ist, ob es überhaupt einer vergangenen Wirklichkeit entspricht. Unsere Sprache und unser Denken setzen sich aus solchen unrichtigen Bildern zusammen: besonders unrichtig, wenn wir sie auf Menschen eines fremden Gesellschaftsgefüges mit einer sehr anders gearteten Geschichte, Kultur und Psychologie anwenden. Die Absicht der wissenschaftlichen Untersuchung und Beschreibung ist es, solche und viele weitere Unrichtigkeiten zu reduzieren. Wir sind überzeugt, daß wir mit der psychoanalytischen Methode ein geeignetes Werkzeug zu diesem Zweck verwenden, jedoch eines, das ganz unserer Kultur und Denkweise entstammt. Darum müssen wir weiterhin kulturperspektivische Irrtümer erzeugen und dann versuchen, sie im Lichte der Kritik und anderer Beobachtungen zu vermindern. Wer es ablehnt, die Freudsche Psychoanalyse zur Erforschung und Schilderung der Persönlichkeit zu verwenden, sollte nicht weiterlesen. Wer nur ihre Anwendung auf Menschen fremder Völker oder besonders Afrikaner in Zweifel zieht, der könnte, wie wir, die bisherigen Versuche dieser Art würdigen.“ (Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy 1971, S. 10)
In Kürze zusammengefasst bedeutet das, dass sich die AutorInnen der soziokulturellen Einbindung der psychoanalytischen Theorie und der durch ihre Anwendung auf andere Kulturen entstehenden Verzerrungen durchaus bewusst sind, sie jedoch dieses erkenntnistheoretische Problem nicht ins Zentrum ihrer
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Einen solchen Vergleich ziehen Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy in der Einleitung zu Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst.
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Arbeiten stellen, da sie prinzipiell davon ausgehen, dass ihr Vorgehen legitim ist. Wenn wir abschließend noch einmal die (ethno-)psychoanalytischen und kulturtheoretischen Aussagen Parins, Morgenthalers und Parin-Matthèys vor dem Hintergrund der Cultural Studies bzw. des postkolonialen Diskurses reflektieren, um eine kritische Rezeption in der heutigen Zeit zu ermöglichen, lässt sich Folgendes zusammenfassen: Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy entwerfen in ihren Werken das Modell einer psychoanalytischen Sozialpsychologie. Die dabei von ihnen in Anlehnung an Freud getroffene Annahme eines Konfliktmodells zwischen Individuum und Gesellschaft birgt den denkerischen Vorteil in sich, dass es nicht um bloße Anpassung des Individuums an die entsprechenden Umstände geht, sondern der Widerspruch zwischen den (Trieb-)Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Forderungen im Großen und Ganzen unaufhebbar ist, was die Möglichkeit und auch Notwendigkeit von Auseinandersetzung und Widerstand (nicht im klinischen Sinne) des Individuums den Strukturen der jeweiligen Sozietät gegenüber in sich trägt. Im Rückgriff auf Freud, der davon ausging, „daß es im Psychologischen keine wissenschaftlich nachweisbaren Unterschiede zwischen normal und anormal, gesund und krank geben kann“ (Reichmayr 1995, S. 167), verwenden sie einen kritischen, konstruktivistischen Normalitätsbegriff. Den Aussagen Parins nach, stützen sich die AutorInnen auf den Kulturbegriff von Bondy, den sie jedoch kaum erläutern und reflektieren, was aus heutiger Sicht in einer Arbeit zum Thema Kultur wünschenswert wäre. Indirekt ist jedoch der Schluss möglich, dass sie, wie in den Cultural Studies theoretisiert, einen Begriff von Kultur als „common culture“ verwenden. Die Frage nach der „Form der Repräsentation der Andersheit“ (Bhabha 2000, S. 100) in den Werken der AutorInnen kann nur bei genauer Betrachtung differenziert beantwortet werden. Allgemein sprechen sie davon, dass es zwischen „den Dogon/Agni“ und „den Europäern“ hauptsächlich Gemeinsamkeiten gebe, was die psychische Struktur und Entwicklung angehe. Die AutorInnen vertreten die Auffassung, die menschliche Triebausstattung sei einheitlich, in ihrer „Ausformung [treten] jedoch die biologischen Momente gegenüber den kulturellen Bedingungen [zurück]“ (Reichmayr 1995, S. 166f). Folglich gebe es an einigen Punkten (z.B. Über-Ich vs. Clangewissen/das Ich als Gruppen-Ich bei den Agni) Unterschiede. Einerseits bedienen sie sich essentialistischer Annahmen, z.B. des Rassebegriffes, und konstruieren über weite Strecken die Entitäten „die Europäer“ vs. „die Dogon/Agni“. An wenigen Stellen relativieren sie andererseits diese Aussagen, indem sie „den Europäer“ beispielsweise als bekannte Referenz, nicht als Norm verstanden wissen wollen.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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Die mögliche Kulturspezifität der von ihnen angenommenen psychoanalytischen Theorie wird am Rande ihres Werkes Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst zum Gegenstand der Reflexion, wenn auch Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy ansonsten ihre Aussagen über die Dogon und Agni allein vom Schreibstil her eher wie Tatsachen behandeln, dies aber auf der theoretischen Ebene nicht als solche behandelt wissen wollen. Dieser Punkt ist für die heutige Rezeption der Werke und ihren Transfer auf die interkulturelle Psychoanalyse meines Erachtens von großer Bedeutung, da sich sonst die RezipientInnen vor dem Hintergrund einer heutigen postkolonialen Perspektive den Vorwurf des „worlding“ (vgl. Spivak zit. nach Ashcroft, Gareth & Griffiths 2002/Gutiérrez Rodríguez 1999/vgl. auch Kap. 2.5) im Sinne der machtvollen Aneignung der von ihnen beforschten bzw. behandelten Menschen anderen kulturellen Hintergrundes mittels des von ihnen verwendeten psychoanalytischen Diskurses gefallen lassen müssten. Das zeitliche wie inhaltliche Erbe der ForscherInnen-Gruppe Parin, ParinMatthèy und Morgenthaler tritt Mario Erdheim an. In seinen Arbeiten greift er verschiedene Aspekte seiner „VorgängerInnen“ auf und vertieft diese, wie z.B. die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Adoleszenz, die Auswirkung gesellschaftlicher Kräfte im Individuum und die Annahme, es könne keinen kulturübergreifenden Normalitätsbegriff geben (vgl. auch Reichmayr 1995). 3.3.4 Mario Erdheim Mario Erdheim (geb. 1940) Ethnologe, Psychoanalytiker 1973 1982 1988
(Dissertation) Prestige und Kulturwandel. Eine Studie zum Verhältnis subjektiver und objektiver Faktoren des kulturellen Wandels zur Klassengesellschaft bei den Azteken. Wiesbaden: Focus Verlag Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufsätze 1980 – 1987. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag Weitere Veröffentlichungen zu den Themen: Ethnopsychoanalyse allgemein Adoleszenz Ethnische Identität
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer (2003): Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial-Verlag
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Mario Erdheim wurde im Jahre 1940 im ecuadorianischen Quito geboren und wuchs ab dem Alter von dreizehn in der Schweiz auf. Sein Studium der Ethnologie, Philosophie, Psychologie und Soziologie in Wien und Basel schloss er 1972 mit einer Promotion in Ethnologie mit dem Titel Prestige und Kulturwandel bei den Azteken ab. Sein Interesse und seine berufliche Ausbildung waren jedoch noch vielseitiger. 1969 begab er sich in Zürich in die psychoanalytische Ausbildung, war bis 1975 als Gymnasiallehrer für das Fach Geschichte tätig und arbeitete im Anschluss daran als Psychoanalytiker. 1974 begann er sich, beeindruckt von der Begegnung mit toskanischen Minenarbeitern, für das Thema der Kultur zu interessieren. Dieses Interesse zog 1977 eine viermonatige Feldforschungsphase in Oaxaca/Mexico nach sich. 1985 habilitierte Erdheim an der Universität Frankfurt am Main im Bereich Sozialisation und arbeitete sowohl als Privatdozent an zahlreichen Universitäten als auch als Psychoanalytiker und Supervisor (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). In seinem wohl bekanntesten Werk Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit (1982) beschäftigt sich Mario Erdheim mit den für ihn bezeichnenden zwei großen Themenkomplexen:
Dem Verhältnis zwischen ForscherIn und Forschungs„objekt“ Der Produktion von Unbewusstheit in der Gesellschaft
Auf den ersten Themenbereich sei hier nur in Kürze eingegangen (vgl. auch Erdheim 1988). In Weiterführung der Gedanken von Georges Devereux (vgl. Kap. 3.3.2) stellt auch er die Bedeutung der Subjektivität der ForscherIn im ethnopsychoanalytischen, oder allgemeiner gesagt sozialwissenschaftlichen Prozess in den Vordergrund. „Die Ausklammerung der Subjektivität des Forschers und der des Forschungsgegenstandes aus dem Erkenntnisprozeß und die damit verbundene Forschungspraxis waren für Mario Erdheim und Maya Nadig [vgl. Kap. 3.3.5 der vorliegenden Arbeit] der Ausgangspunkt für die Verbindung von Psychoanalyse und Ethnologie und die Entwicklung ihrer ethnopsychoanalytischen Untersuchungen.“ (Reichmayr 1995, S. 203/2003a, S. 232, Anm. K.H.)
Erdheim fordert die Wahrnehmung des Gegenübers sowohl in der Psychiatrie als auch in der sozialwissenschaftlichen/ethnologischen Forschung als Subjekt und macht es besonders den MedizinerInnen bzw. PsychiaterInnen zum Vorwurf, nicht von ihrem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis abrücken zu können (vgl. Erdheim 1982). Da diese Thematik in ähnlicher Form, zumindest was den Bereich sozialwissenschaftlicher Forschung anbelangt, bereits bei Georges Devereux eingehend behandelt wurde, möchte ich in diesem Kapitel
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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den Schwerpunkt auf die kritische Darstellung von Erdheims Themenkreis Gesellschaft und Unbewusstheit legen. In Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit nähert er sich dem Thema entlang zweier Linien. Er untersucht zum einen die „Relevanz des Unbewussten für die kulturelle Evolution“ (Erdheim 1984, S. XIV), zum anderen entwirft er ein spezifisches Modell in Bezug auf das „Verhältnis zwischen Adoleszenz und Kulturwandel“ (ebd. S. XV). In seiner Konzeption des Unbewussten bezieht sich Erdheim auf Freud und beschreibt es als Phänomen mit zwei Gesichtern: „Es erscheint einmal als eine Art Orkus, in welchem alles verschwindet, was nicht bewußtseinsfähig ist, und zum anderen als ein Reservoir an Kräften, das die Kreativität des Menschen speist.“ (ebd. S. 205)
Seine Grundthese ist die, dass die „kulturelle Evolution“ (ebd. S. XIV) des Menschen nicht nur mit der Entwicklung entsprechender kognitiver, also bewusster Faktoren verknüpft ist, sondern ebenso mit der Herstellung von Unbewusstheit. Die Mechanismen, die dem Prozess der Unbewusstmachung zugrunde liegen sind es, die Erdheim ergründen möchte. Er geht davon aus, dass hierbei im Besonderen der Aspekt der Macht bzw. der Herrschaft zu berücksichtigen sei. Die verschiedenen Gesellschaften seien von der Durchsetzung bestimmter Herrschaftsformen gekennzeichnet, „und da die Aufrichtung von Herrschaft nicht so sehr unter dem Druck von Einsichten, sondern von Gewalt stattfand, war das, was unbewusst gemacht werden sollte, die Aggression, welche sich gegen die ihre Macht ausdehnende Herrschaft richtete. Durch die Unbewusstmachung sollte verhindert werden, daß das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen konnte“ (ebd. S. XIV). Und in Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur (1988, S. 63) stellt er fest: „In dem Maße, wie sich die Gesellschaft durch Herrschaft strukturiert, ist das Individuum für die Herrschaft nur interessant, insofern es ein arbeitendes und ausbeutbares Wesen ist. Tendenziell ist Herrschaft immer darauf aus, das Es abzuschaffen, trockenzulegen.“
Die Abwehrmechanismen, die eine Bewusstwerdung bestimmter Inhalte verhinderten, so Erdheim in Anlehnung an Devereux, erwerbe das Individuum zuerst im Rahmen der Familie. Im Weiteren bildeten sie jedoch „die Voraussetzung für jede Form zwischenmenschlichen Verkehrs sowie des Umganges mit der Welt überhaupt [Devereux 1976]“ (Erdheim 1982, S. 217). Den Gedanken der institutionellen Abwehr von Mentzos (1976) aufgreifend, führt er weiter aus, dass gesellschaftliche Institutionen aufgrund der durch sie vorgenommenen Redukti-
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
on von Entscheidungsnotwendigkeiten für das Individuum nicht nur von entlastendem Charakter seien, sondern sie dienten auch sowohl der Abwehr „innerer [Es-]Impulse“ (ebd. S. 218, Hervorhebung i.O., Ergänzung K.H.), wie auch häufig der Unbewusstmachung des auslösenden Reizes. Diese Verbindung, die hier zwischen Es und der Umwelt bzw. der gesellschaftlichen Situation entstehe, sei ursächlich für die „gesellschaftliche Relevanz“ (ebd.) des Unbewussten. Erdheim geht an dieser Stelle noch über das Konzept der Abwehrmechanismen hinaus und bezieht sich zudem auf Parins „Anpassungsmechanismen“ (vgl. Kap. 3.3.3). Da diese der unmittelbaren Bewältigung von außen kommender Reize und Anforderungen dienten, seien auch sie maßgeblich an der Produktion von Unbewusstheit beteiligt. Durch diese psychischen Vorgänge werde das hergestellt, was Devereux das „ethnische Unbewusste“ (vgl. Kap. 3.3.2) nannte, wobei Erdheim den Begriff der Ethnie durch den der Gesellschaft ersetzt, da Letzterer mehr Differenzierungen (z.B. in soziale Klassen) ermögliche, wohingegen das „Ethnische“ Homogenität suggeriere. In einem Aufsatz in der Psyche beschäftigt sich Erdheim (1992a) mit dem in Zusammenhang stehenden Begriff der ethnischen Identität. „Mit ‚Identität‘ ist hier die psychische Struktur gemeint, die Orientierungshilfen anbietet, indem sie die Kategorien des Eigenen und des Fremden in ein Verhältnis zueinander bringt.“ (ebd. S. 730)
Sein Interessenschwerpunkt als Ethnopsychoanalytiker, so Erdheim, liege auf der Frage nach der Aneignung des Bildes vom „Fremden“ durch das Individuum, da „[j]ede Ethnie [...] ein Bild dessen [entwirft], was das Fremde ist und wie man sich ihm gegenüber verhalten soll“ (ebd. S. 731). Das „primitivste Bild“ (ebd. S. 732) des Fremden entstehe bereits im Säuglingsalter. Alles, was die „Nicht-Mutter“ (ebd.) sei, erscheine fremd und aktiviere Angst. Folglich werde das Fremde als „bedrohliche Abwesenheit der Mutter“ (ebd.) immer mit angstvollen Gefühlen verbunden bleiben. Dies sei auch die Ursache für Gewalt gegen „Fremde“, da diese „immer schon ein probates Mittel gegen Angst gewesen [sei], aber gewiß nicht das einzige“ (ebd.). Gleichzeitig löse das Fremde aber auch Neugierde und Faszination aus. Allerdings werde es in seiner psychohygienischen Funktion zum Sammelbecken aller innerpsychisch als bedrohlich erlebten Regungen, die in Folge im Fremden zu bekämpfen versucht werden. Das „Fremde“, so Erdheim (1988, S. 259), „[gemahnt] immer auch an Trennung [... von der Mutter, Anm. K.H.], bleibt eine Quelle von Angst- und Schuldgefühlen, deren Abwehr durch die Xenophobie, durch die Vermeidung der Fremden, ermöglicht werden soll.“ Andererseits gehe vom Fremden auch Faszination aus, da er eine Ahnung davon aufkommen lasse, dass Sitten und Gebräuche auch anders gestaltet werden könnten (vgl.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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ebd.). Diese individualpsychologischen Prozesse überträgt Erdheim auf die Großgruppe, und in einem nächsten Schritt, ohne dies jedoch explizit so zu kennzeichnen, auf Gesellschaft. In Bezug auf das Phänomen des Kulturwandels misst Mario Erdheim der Adoleszenz entscheidende Bedeutung bei. In Anlehnung an Freud geht auch er von der Zweizeitigkeit sexueller Entwicklung aus, d.h. die sexuelle Entwicklung des Kindes werde durch die Latenzzeit unterbrochen und in der Adoleszenz fortgeführt (vgl. ders. 1982). Im Gegensatz zu anderen AutorInnen (er nennt hier Róheim, Kardiner, Reich, Fromm und auch Adorno in einem Atemzug), die versuchten, „kulturelle oder politische Einstellungen auf die Triebschicksale der frühen Kindheit zurückzuführen“ (ebd. S. XV), nimmt Erdheim, wieder mit Bezug auf Freud, an, „daß Familie und Kultur in einem antagonistischen Verhältnis stehen“ (ebd., Hervorhebung i.O.). Die Familie sei keine „‚Agentur der Gesellschaft‘ (Fromm), mittels derer die entsprechenden Anpassungsleistungen einsozialisiert werden konnten“ (ebd.). Familie sei viel mehr auf eine „inzestuöse“ (ebd.) Abschließung bedacht und wolle verhindern, dass Individuen sich an „Fremde“ (ebd.) wendeten und Abhängigkeiten mit diesen eingingen. Für den Lohn des Bekannten und der Geborgenheit würde so „die alte, innere Abhängigkeit“ (ebd.) verstärkt. Kultur im Verständnis Freuds sei demgegenüber dynamisch. „‚Kultur‘ wird von ihm als ein über die Menschen ablaufender Prozeß definiert, der immer mehr Individuen in Abhängigkeit voneinander bringt. Er benutzt einen dynamischen Kulturbegriff, in welchem Kultur eher als Bewegung, als Geschichte denn als Struktur gefaßt wird [...].“ (ebd.)
Während der „erste Triebschub“ (ebd. S. 277) in der ödipalen Phase im Rahmen der Familie aufgefangen werde und zur Anpassung an diese führe, sorge der Triebdurchbruch in der Adoleszenz aufgrund des von Freud in Totem und Tabu spezifisch konzeptualisierten Inzesttabus (ders. 1992b) für eine Wendung nach außen und führe „zur Anpassung an die dynamische, expansive Kulturstruktur“ (ebd.). „Der Triebdurchbruch der Pubertät lockert die vorher in der Familie gebildeten psychischen Strukturen auf und schafft damit die Voraussetzungen für eine nun nicht mehr durch den familiären Rahmen beengte Neustrukturierung der Persönlichkeit [...].“ (ebd. S. 276)
Diese Vorstellungen in Bezug auf die Wirkmechanismen für gesellschaftlichen Wandel bringt Erdheim in Verbindung mit Lévi-Strauss’ Konzept der „heißen“ und der „kalten“ Kulturen. Die Beschaffenheit der jeweiligen Kultur bestimme
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
den Umgang mit der Adoleszenz bzw. den Adoleszenten. Kalte Kulturen würden durch Stabilität und Traditionsbewusstsein gekennzeichnet und seien folglich bestrebt, die Heftigkeit des adoleszenten Triebansturms mittels psychisch stark invasiver, angsterregender Initiationsriten zu unterdrücken. Dies verlagere die Art der Bindung von der Kernfamilie auf die Gruppe. Heiße Kulturen, zu denen industrialisierte Gesellschaften gehörten, veränderten sich rasch. Die beschleunigende Wirkung der Adoleszenz sei in ihnen von „direkter, aktiver kultureller Bedeutung“ (Bernfeld zit. in Erdheim 1982, S. 296, Hervorhebung i.O.). Das adoleszente Veränderungspotential werde nicht eingefroren, sondern ihm werde durch eine verlängerte Adoleszenz eine zentrale Stellung eingeräumt, die „die Antagonismen zwischen Familie und Kultur voll aus[lebt] und [...] damit eine wesentliche Voraussetzung mit[bringt], um die Aufgabe der Kultur, immer mehr Menschen zu verbinden, zu bewältigen“ (ebd. S. 316). Nach dieser Darstellung der theoretischen Annahmen Erdheims in Bezug auf Kultur und Gesellschaft möchte ich dieselben kritisch beleuchten. Die Beiträge Erdheims, häufig in Zusammenarbeit mit Maya Nadig, die sich auf die Wissenschaftstheorie beziehen, sind sicherlich bedeutsam. Sie stehen in der Devereux’schen Tradition, was dessen Kritik an der „Entsubjektivierung“ der Sozial- bzw. Humanwissenschaften betrifft (vgl. auch Reichmayr 2003a). Die Notwendigkeit, die Subjektivität des/der ForscherIn und der Beforschten anzuerkennen, beschreiben Nadig und Erdheim folgendermaßen: „Subjektivität kann nur dann zum Erkenntnismedium werden, wenn – zuerst einmal beim Forscher selbst – das Agieren in ein Erinnern übergehen kann. Wo das nicht möglich ist, wird die Subjektivität des Forschers zu einer Quelle von Projektionen und zur treibenden Kraft von Manipulation und Delegation, durch welche die Subjektivität des Forschungsobjekts zusehends verdunkelt wird.“ (dies. zit. in Erdheim 1988, S. 78)
Allerdings bleibt diese stark individualisierte Sicht meines Erachtens um eine diskurstheoretische zu ergänzen. Sozial- und Humanwissenschaften werden nicht alleine dadurch „besser“, indem der/die ForscherIn sich persönlich mit ihrer Subjektivität auseinandersetzt, sondern es müssen in der Scientific Community, die ihrerseits ein Spiegel der sie umgebenden Gesellschaft ist, salonfähige Diskurse ermöglicht werden, an die die individuellen Diskurse anschlussfähig sind. Mit seinen theoretischen wie empirischen Arbeiten vollzieht Erdheim eine wichtige Wende: Es werden mittels ethnopsychoanalytischer Forschung nicht mehr nur der bzw. die mehr oder weniger „exotischen Anderen“ (also die BewohnerInnen Trobriands, die Mohave, die Dogon etc.) untersucht, sondern ethnopsychoanalytische Theorie bezieht sich bei ihm konsequent auch auf die
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eigene Gesellschaft. Hier führt er einen Prozess weiter, den einige seiner VorgängerInnen, besonders die Gruppe um Paul Parin, bereits begonnen hatten. Erdheims Modell zur Entstehung des gesellschaftlichen Unbewussten sehe ich als brauchbar an, um Abwehrprozesse in Kollektiven erklären zu können. Dennoch bleibt es für mich deutlich kritisch zu hinterfragen, ob es legitim ist, individualpsychologische Prozesse (wie die der Abwehr und Anpassung) auf moderne Gesellschaften (die ja zudem wesentlich komplexeren Mechanismen und Prozessen unterworfen sind als z.B. klar abgrenzbare „Stämme“) anzuwenden. Entlang dieser Linie argumentiert auch Reimut Reiche in seinem Vorwort zu Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse. „Psychoanalyse nach Freud war und ist oft versucht, nicht mehr nur die libidinöse und aggressive Struktur von Institutionen zu erforschen, sondern Institution – und dann Gesellschaft – überhaupt mit deren psychischer Struktur gleichzusetzen und sie auf diese zu reduzieren. Diese psychozentrische Gefahr ist bei Freud angelegt, freilich ist Freud nicht nur zurückhaltend, sondern, wie ich meine, auch weitblickend genug, um keinen Primat des Psychischen vor dem Gesellschaftlichen zu behaupten.“ (ders. 2007, S. 13, Hervorhebung i.O.)
Und an anderer Stelle argumentiert er: „Die Anwendung der Psychoanalyse auf die Gesellschaftsanalyse hat nach Freud reiche Früchte getragen – und sie birgt große Gefahren. Die größte Gefahr – um mit dieser Seite zu beginnen – liegt wohl darin, die Gesellschaft psychozentrisch und anthropomorph zu betrachten, so, als wäre sie ein menschlicher Organismus und funktionierte wie dieser. Diese Betrachtungsweise führt im Extrem dazu, den Gang der Weltgeschichte in Begriffen der psychosexuellen Entwicklung des Individuums erklären zu wollen und ,Soziales‘ überhaupt als Projektion oder Externalisierung von ‚Psychischem‘ abzuhandeln. In einer dualistischen Gegenüberstellung von ‚Innen‘ (psychischer Apparat) und ‚Außen‘ (kultureller ,Apparat‘, Institutionen usw.) wird dann dem ‚Innen‘ der Primat zugesprochen. […] es [ist] nicht nur für Psychoanalytiker verführerisch, kulturelle Phänomene, kollektive Kunststile, individuelle Kunstwerke, politische Ideen, gesellschaftliche Verkehrsformen überhaupt als Externalisiserung psychischer Konflikte zu analysieren und sie damit strukturell auf demselben Niveau wie individuelle neurotische Symptome – als dem Prototyp der Externalisiserung psychischer Konflikte – zu betrachten. Aber selbst dort, wo dies aus der individuellen Struktur und Lebensgeschichte eines einzelnen Protagonisten (Dichters, Künstlers, Politikers usw.) einsichtig nachvollziehbar ist, geht doch das Werk, die Idee, das soziokulturelle Phänomen niemals auf in der Summe der in ihm geronnenen psychischen Prozesse. Solches Denken ist selbst verfangen in einem Ursprungsmythos, nämlich der letztlich aristotelisch-teleologischen Idee, wonach der Geist den Dingen der äußeren Welt vorhergehe.“ (ebd., S. 21ff, Hervorhebung i.O.)
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Hans-Joachim Busch (2001b) stellt Erdheims Konzeptionalisierung der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit grundlegend in Frage, wobei er das von Erdheim mit Bezug auf Devereux hergeleitete Verständnis vom gesellschaflichen Unbewussten kritisiert, da es „auf einer Unterstellung eines gesellschaftlichen unbewußten Teils der Persönlichkeitsstruktur [basiert], den der einzelne mit den anderen gemein hat“ (ebd. S. 398). Und er führt weiter aus: „Damit teilt Erdheim Annahmen, die in Kulturanthropologie und Soziologie schon lange vertreten werden, wie das Konzept der ‚Basic Personality‘ (Linton), der ‚Modalpersönlichkeit‘ (Parsons) und der ‚kulturellen Persönlicheit‘ (Claessens). Überdies reformuliert er in anderer Akzentuierung bzw. Wortwahl das bereits bei Freud vorhandene, vor allem jedoch beim frühen Fromm propagierte Konzept einer durchschnittlichen Massenseele, einer gesellschaftstypischen libidinösen Struktur.“ (ebd.)
Erdheims Modell des Kulturwandels und die Bedeutung, die die Adoleszenz darin einnimmt, kann ebenfalls kritisch hinterfragt werden. Erdheim geht wohl, ohne dies explizit zu benennen, von einem psychoanalytischen Konzept der Adoleszenz aus. Adoleszenz bezeichnet, so Tyson und Tyson (2001, S. 73), „den gesamten Komplex psychologischer und entwicklungsbedingter Charakteristika des Altersabschnitts, der vom elften, zwölften bis zum 19., 20. Lebensjahr reicht“. Dieser entwicklungspsychologische Begriff ist von dem Begriff der Pubertät zu unterscheiden, der „sich auf die physiologischen, anatomischen und hormonellen Kriterien des sexuellen Reifungsprozesses“ (ebd.) bezieht. Jugend, synonym zu setzen mit Adoleszenz (vgl. Bulitta & Bulitta), ist ein Begriff, der historisch gewachsen ist und folglich im Kontext der jeweiligen Gesellschaftsform betrachtet werden muss (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/ Jugend, letzter Zugriff: 22.12.2008). Eine Form von Jugend, wie wir sie heute kennen, entstand erst im Laufe der Geschichte und ist dabei, sich zeitlich weiter auszudehnen. „,Jugend‘ hat sich schon seit 1900 in schnellen Schritten immer weiter ausgedehnt, teilweise auf Kosten der Phasen Kindheit und Erwachsenenalter. Insgesamt ist sie nach Länge und biographischer Bedeutung heute eine signifikante Lebensphase geworden [...]. Sozialhistorisch ist ‚Jugend‘ [...] erst durch die Einführung des verpflichtenden Besuches von Schulen und die sich anschließende Vorbereitung auf berufliche Anforderungen entstanden.“ (Hurrelmann & Albert 2006, S. 32f)
Aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen ist es in der heutigen Jugendforschung nicht mehr eindeutig klar, welcher Zeitraum als „Jugend“ bzw. „Adoleszenz“ bezeichnet werden kann und wie klar abgegrenzt dieser Zeitraum ist. Laut Keupp (1997c) umfasst sie mindestens einen Zeitraum im Alter von 13 bis 30 Jahren und ist aufgrund der Pluralisierung von Lebensformen „als Generati-
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onsgestalt mit einem einheitlichen psychosozialen Profil kaum mehr zu fassen“ (ebd. S. 39). Als Kritik an Mario Erdheim bleibt also festzuhalten, dass er die gesellschaftliche Konstruktion von „Adoleszenz“ und folglich auch deren Veränderung nicht in seine theoretischen Überlegungen bezüglich des Kulturwandels mit einbezieht, sondern diese behandelt, als sei sie eine einheitliche, klar abgeschlossene Phase. Soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse bezüglich des Phänomens „Jugend“ werden in seiner Theorie nicht berücksichtigt. Konsequenterweise muss also schon aus diesem Grunde gefragt werden, ob „Adoleszenz“ überhaupt diese zentrale Bedeutung für den kulturellen Wandel haben kann, die Erdheim ihr beimisst. Mario Erdheim setzt in seinen theoretischen Überlegungen einen Antagonismus von Familie und Kultur voraus, der eine der Grundbedingungen für den Kulturwandel darstelle. Erdheim bezieht sich hier auf Fromm, dem er vorwirft, Familie nur als „Agentur der Gesellschaft“ (Erdheim 1982, S. XV) zu verstehen. Erdheim zeichnet ein Bild von Familie als auf Abschließung und Konservierung bedachter Einheit, deren Ziel es sei, das Individuum vom „Fremden“ abzuhalten, und die somit kulturellen Wandel verhindere. Horkheimer (1995) folgend, lässt sich aber auch ein dialektisches Bild von Familie entwerfen, das einen Blick auf die wechselseitigen Prozesse zwischen Individuum/Familie/Gesellschaft bzw. Kultur ermöglicht. Familie ist für ihn einerseits die „,Keimzelle‘ bürgerlicher Kultur“ (ebd. S. 204), die als Medium bei der Durchsetzung der gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen dient, indem sie „die zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsverhältnisse notwendigen [...] Sozialcharaktere formt“ (Fellner 2006, S. 225). Andererseits sei die Familie auch ein Ort, so Horkheimer, an dem es möglich sei, jenseits marktwirtschaftlich begründeter Beziehungen „als Mensch zu wirken“, da hier „das Leid frei ausgesprochen [werden konnte] und das verletzte Interesse der Individuen einen Hort des Widerstandes gefunden hat“ (1995, S. 190). Familie, so Horkheimer im Gegensatz zu Erdheim, ist nicht nur zwingend konservativ, sondern kann auch emanzipatorisch wirken. Busch (2001a, S. 168) kritisiert an Erdheims Modell die implizierte Unterteilung in ein „gesellschaftlich erworbene[s]“ und ein „persönlichprivate[s]“ Unbewusstes: „Sozialisationstheoretisch ist diese Auftrennung allerdings nicht plausibel. Denn eine interaktionale, mithin auch gesellschaftlich beeinflußte Bildung der unbewußten Persönlichkeitsstrukturen in vollem Umfang von ‚Kindesbeinen‘ an muß heute zum Kernbestand psychoanalytisch-sozialpsychologischer Theorie gezählt werden. In der konkreten Ontogenese lassen sich die Momente von einzelfamilialer Konfliktstruktur und allgemeinem gesellschaftlichen Normendruck kaum auseinanderhalten. Der Triebverzicht, den Kultur stets fordert, wird ja in den Familien eingeübt, die in-
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sofern in der ‚analytischen Sozialpsychologie‘ zu Recht als Agenturen der Gesellschaft auftreten.“ (ebd.)
Aufgrund des Bedeutungsverlustes „traditioneller“, d.h. moderner sozialer Strukturen und der Pluralisierung der Lebensformen in der Postmoderne hat sich zudem die Form der Familie als solche verändert und ist vielfältiger und sozial weniger „bindend“ geworden (vgl. z.B. Beck 1986, Giddens 2008). Diese gesellschaftlich bedingten Veränderungen der Institution „Familie“ bezieht Erdheim in sein Antagonismus-Modell, in dem Familie als konservativer, auf Abschließung bedachter Faktor konzipiert wird, nicht mit ein, oder wie es Busch (2001a, S. 169) formuliert: „Das Familiale dem Kulturellen so entgegenzusetzen, wie Erdheim es vorschlägt, ist somit eine unhistorische Betrachtungsweise. Denn schließlich ist Familie auch Träger kulturellen Wandels und diesem unterworfen.“
In seinen Konsequenzen für besonders problematisch halte ich Erdheims Konzept der ethnischen Identität. Grundlage seiner Annahmen über die Bildung von Identität liefert der Fremdheits-, nicht der Differenzdiskurs. Der/die „Andere“ wird immer als der/die „Fremde“ konstruiert. Dies unterscheidet die theoretische Position Erdheims eindeutig von der der Cultural Studies (vgl. Kap. 2.4 der vorliegenden Arbeit). Das „Fremde“ definiert Erdheim (1992c, S. 181) folgendermaßen: „Das Fremde ist (im Unterschied etwa zum Begriff des Anderen) ein Konzept für all das, was zwar nicht zu uns gehört, uns aber auf eine spezifische Art und Weise betrifft. Nie läßt das Fremde uns gleichgültig. Mit ,Fremdheit‘ sind assoziativ vollkommen andere Begrifflichkeiten verbunden als mit den emotional neutraleren Begriffen der ,Differenz‘ bzw. ,Andersartigkeit‘. Fremdheit suggeriert zunächst Unvereinbarkeit mit dem Eigenen, gilt als Angst erregend und löst Abwehr aus.“
Auf den Fremdheitsdiskurs wird innerhalb der Psychoanalyse häufig rekurriert, ohne ihn zu reflektieren oder zu problematisieren, so z.B. in Beiträgen zu Ulrich Streecks Herausgeberwerk Das Fremde in der Psychoanalyse (2000a). Obwohl der Untertitel des Buches „Erkundungen über das ‚Andere‘ in Seele, Körper und Kultur“ verspricht, werden Fremdheits- und Differenzdiskurs nicht zueinander ins Verhältnis gesetzt, sondern „das Fremde“ wird als genuines Feld der Psychoanalyse gesehen. „Mit dem Tagungsthema ‚Das Fremde in der Psychoanalyse‘ war neben dem aktuell gewordenen politischen Bezug auch jenes Fremde angesprochen, wie es Psychoanalytikern bei ihrer klinischen Arbeit mit ihren Patienten begegnet. Dort ist das
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Fremde das Unbewusste selbst, die nicht entschlüsselten Botschaften, das aus der öffentlichen Verständigung Exkommunizierte bzw. nie Aufgenommene. In diesem Sinne richtet sich psychoanalytische Tätigkeit immer auf Fremdes.“ (Streeck 2000b, S. 9f)
Der Rekurs auf „Fremdheit“ wird dann besonders kritisch, wenn mit „dem Fremden“ stillschweigend auch MigrantInnen gleichgesetzt werden, indem beispielsweise Erdheim in Bezug auf ImmigrantInnen von „Zeiten [spricht], da in der Gesellschaft die Fremdenangst sich zu Fremdenhaß steigert“ (ebd. S. 175). Das hieße ja in Konsequenz, dass „Fremdenhass“ unter bestimmten Bedingungen als die (quasi normale) Folge entwicklungspsychologischer Prozesse zu sehen sei. Abgesehen von der Frage, ob Menschen mit Migrationshintergrund, die noch dazu teilweise schon sehr lange in ihren jeweiligen „Einwanderungsländern“ leben, überhaupt als „Fremde“ bezeichnet werden können, bleibt also zu hinterfragen, warum bei Erdheim Fremdheit und nicht Differenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Völlig außer Acht gelassen wird zudem der Aspekt, ob der Übertrag individualpsychologischer Prozesse auf die Großgruppe und im Weiteren auf (post-)moderne Gesellschaften zulässig ist. Entgegen dieser Praxis, die Erdheim vertritt, ganze Gesellschaftsgefüge, Epochen etc. mit den Mitteln der Psychoanalyse zu untersuchen und zu beurteilen, möchte ich mich folgendem Zitat anschließen: „Robert LeVine (1973) merkte an, daß nur Individuen einer Psychoanalyse unterzogen werden können. Mythen, Bräuche, Institutionen und andere kulturelle Phänomene seien davon ausgenommen. Wendet man das Verfahren dennoch an, eliminierte man alle Elemente der Methode, die der Psychoanalyse Validität geben.“ (Reichmayr 2003a, S. 36)
Abschließend sei noch der Frage nachgegangen, inwieweit Mario Erdheim die psychoanalytische Theorie als etwas kulturell Konstruiertes im Sinne der Cultural Studies versteht. Allgemein gesehen problematisiert Erdheim in seinen Werken die Anwendung der im westlichen Kulturraum entstandenen Psychoanalyse auf Menschen anderer kultureller Kontexte nicht systematisch. Die Erklärungsund Deutungsmacht, die er über diese „Anderen“ ausübt, wird nicht explizit benannt. Lediglich an einer Stelle, einem Interview, das Heinrichs mit Erdheim führte, relativiert Letzterer die universellen Erklärungsansprüche psychoanalytischer Theorie:
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
„- Haben Sie in außereuropäischen Kulturen die Begrifflichkeit von Ethnopsychoanalyse und Ethnopsychiatrie [...] in Frage gestellt und modifiziert? - Ja. - Läßt sich letztlich der einzelne ‚Fall‘ (im Sinne der Ethnopsychiatrie) nur aus der anderen Kultur heraus verstehen und analysieren? - Ja. - Es gibt also keine kulturell neutrale Psychotherapie? - Nein.“ (Heinrichs 1982b, S. 12)
Auch wenn sich Erdheim der Problematik des „Worlding“ (vgl. Kap. 2.5 dieser Arbeit) zumindest teilweise bewusst ist, wie dieses Zitat zeigt, wird auch bei ihm dieses Thema kaum reflektiert. An dieser Stelle möchte ich noch einmal kurz auf dieses Kapitel zurückblicken, um seinen Verlauf nachzuzeichnen. Wir betrachteten die Entwicklung kulturtheoretischer Themen bzw. ethnopsychoanalytischer Theorie, begannen bei Freuds Schriften zu dieser Thematik, wandten uns der Malinowski-JonesDebatte zu, auf die die kritische Darstellung der Konzepte von Georges Devereux, der Gruppe um Paul Parin und von Mario Erdheim folgte. Sicherlich gäbe es noch weitere Personen, die zu den wichtigen VertreterInnen der Ethnopsychoanalyse gehören. Hans Bosse führt beispielsweise das wichtige Thema der Gegenkultur ein und befasst sich mit Ethnohermeneutik. Da es im Rahmen dieser Arbeit, die sich nicht als ethnopsychoanalytisches Überblickswerk versteht, jedoch zu weit führen würde, sich mit all diesen Thematiken zu beschäftigen, möchte ich zum Abschluss dieses Abschnittes am Beispiel von Maya Nadigs Arbeiten einen bis dahin noch kaum beachteten Aspekt ins Zentrum rücken: die Ethnopsychoanalyse des Geschlechterverhältnisses. 3.3.5 Maya Nadig Es ist nicht nur Maya Nadig, die mit feministischem Blick ethnopsychoanalytische Forschung betreibt, ebenso sind Florence Weiss (z.B. Morgenthaler, Weiss & Morgenthaler 1984, Weiss 1991) und andere Forscherinnen zu nennen. Dennoch werde ich mich in diesem Kapitel nur dem Denken und den Arbeiten von Maya Nadig zuwenden, da sie maßgeblich die Frauenforschung im Kontext der Ethnopsychoanalyse vertritt.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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Maya Nadig (geb. 1946) Ethnologin, Psychologin, Psychoanalytikerin, Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Bremen 1986 1980 1991
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Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexico. Subjektivität und Gesellschaft im Alltag von Otomi-Frauen. Frankfurt a. M.: Fischer (& Mario Erdheim) Die Zerstörung der wissenschaftlichen Erfahrung durch das akademische Milieu. Ethnopsychoanalytische Überlegungen zur Aggressivität in der Wissenschaft. In: Berliner Hefte 15, S. 35–52 (& Gilbert, A.-F., Gubelmann, M., Mühlberger, V.): Formen gelebter Frauenkultur. Ethnopsychoanalytische Fallstudien am Beispiel von drei Frauengenerationen des Zürcher Oberlandes. Forschungsbericht an den Nationalfonds. Zürich Interkulturalität im Prozess – Ethnopsychoanalyse und Feldforschung als methodischer und theoretischer Übergangsraum. In: Lahme-Gronostaj, H., Leutzinger-Bohleber, M. (Hg.): Identität und Differenz. Zur Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses in der Spätmoderne. Opladen. S. 87–101 Weitere Themenschwerpunkte: Theorie und Praxis der Ethnopsychoanalyse Postkoloniale ethnologische Methoden und Theorien Verbindung von Cultural Studies und Ethnopsychoanalyse
Quelle: Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer (2003): Psychoanalyse und Ethnologie. Gießen: Psychosozial-Verlag
Geboren wurde Maya Nadig 1946 in der Schweiz. In Lausanne, München und Zürich studierte sie zunächst Lehramt (Geschichte, Deutsch, Französisch), dann Psychologie, Psychopathologie, Philosophie und Ethnologie und promovierte 1983 an der Universität Zürich. Ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin begann sie 1970 am Züricher Freud-Institut, von 1976 bis 1991 praktizierte sie als Psychoanalytikerin. Je drei Jahre lang war sie als Assistentin am Institut für Soziologie der Universität Frankfurt am Main und als Mitarbeiterin am Ethnologischen Seminar der Uni Zürich tätig. Ab dem Jahre 1976 war sie an verschiedenen Universitäten (Zürich, Mexico City, Graz, Klagenfurt, Berlin etc.) in der Lehre tätig. Ihre Feldforschungsprojekte führten sie 1975/1977 zu den Otomi (Hidalgo/Mexiko). Aus diesen Untersuchungen resultierte ihr 1986 erschienenes Werk Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Subjektivität und Gesellschaft im Alltag von OtomiFrauen. 1987 forschte sie bei den Maya in Yucatan zur Thematik der Mutterideologie, im Zeitraum von 1988 bis 1991 beforschte sie in der Schweiz Formen gelebter Frauenkultur. 1992 bis 1993 leitete sie ein Feldforschungsprojekt von Studierenden, das Hausgeburten im interkulturellen Vergleich untersuchte. Dieses Projekt wurde gefolgt von Forschungen im Jahre 1995 in Italien. 1991 er-
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hielt Maya Nadig eine Professur für Europäische Ethnologie an der Universität Bremen, an der sie bis heute tätig ist. Dort leitet sie zudem das von ihr gegründete Bremer Institut für Kulturforschung (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Wie bereits Mario Erdheim erweitert Nadig den ethnopsychoanalytischen Blick, um nicht nur „fremde“ Kulturen zu untersuchen, sondern auch die eigene. Das „Eigene“ konstruiert sie jedoch nicht als etwas Einheitliches, sondern betrachtet es durch die Einführung der Kategorie „Geschlecht“ differenzierter. Sie wendet sich „im Rahmen des Diskurses von Herrschaft und Repression“ (Adler 1993, S. 155) dem Geschlechterverhältnis zu und wendet auf dieses die im vorangegangenen Kapitel dargstellten Annahmen Erdheims bezüglich der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit an. Ihre Aufmerksamkeit gilt besonders den „Bereiche[n], die in der herrschenden Kultur keinen Raum haben“ (Nadig 1986a, S. 143). Als einen solchen betrachtet sie auch den „kulturellen Raum [...] der Frau“ (ebd.) Einen adäquaten Zugang zur Lebenswelt von Frauen ermöglichen Nadigs Ansicht nach feministische Ansätze. „Unter feministischer Wissenschaft verstehe ich den Versuch, in einer männerdominierten Gesellschaft, die sexistische Wissenschaft betreibt, die Lebenszusammenhänge der Frauen in den spezifischen Geschlechter-, Klassen- und Produktionsverhältnissen so zu untersuchen, daß die Belange der Frauen ihren adäquaten Raum erhalten und in unverzerrter Weise gedeutet und dargestellt werden. Feministische Wissenschaftlerinnen haben den emanzipatorischen und aufklärerischen Anspruch, Ideologie, Unterdrückung und Unbewußtmachung im Lebenszusammenhang der Frau in Praxis und Theorie aufzuspüren und aufzuzeigen. Der Anspruch, als Unterdrückte in und von der herrschenden Gesellschaft zu leben, von ihr geprägt zu sein und gleichzeitig gegen sie zu denken, zu handeln, wahrzunehmen und die Resultate dieses Tuns auch noch so darzustellen, daß sie verstanden werden, erfordert von Frauen eine höchst komplexe Pendelbewegung zwischen Identifikation mit dominierenden Institutionen und Abgrenzung davon; ein Sich-Einlassen auf Etabliertes und Distanzierung davon, um zu überprüfen, was dabei erfahren worden ist. Es geht aber nicht nur um Oszillieren zwischen Einfühlen und Abgrenzen, sondern gleichzeitig um ein Zuhören, Fühlen und Denken mit einem an der eigenen Subjektivität geschärften sowie mit einem durch Theorie und Wissen geschulten Gehör. Nur so können etablierte Relevanz- und Werthierarchien aufgebrochen und Wissenszusammenhänge neu konstruiert werden. Bleibt Frau in einer einseitigen Sicht der Anklage und Gegenposition stecken, so umgeht sie die Pendelbewegung zwischen Einlassen und Abgrenzung und damit die unangenehme Erkenntnis, daß sie selber Teil des angeklagten Systems ist.“ (ebd. S. 144)
Die Verortung Nadigs in feministischer Wissenschaft eröffnet auch das Feld der Methodendiskussion im Rahmen sozialwissenschaftlicher bzw. ethnopsychoanalytischer Forschung neu. Wissenschaftlerinnen, die die Lebenswelten von
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Frauen erforschen, sind selbst Teil des Patriarchats und von diesem betroffen. Dieser Umstand verändert den Blick auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Forscherin und Beforschter und bildet den Rahmen für grundsätzliche (methodische) Fragen: Wie können sich feministische Wissenschaftlerinnen so weit aus patriarchalen Denkstrukturen lösen, dass eine „Neukonstruktion des Wissens“ (ebd. S. 145) stattfinden kann? Welche Formen von Reflexion müssen im Forschungsprozess stattfinden, damit das Forschungsobjekt zum Subjekt werden kann? Zudem ergeben sich bei der Erforschung „Anderer“ (z.B. der OtomiFrauen in Mexiko, aber auch Frauen der „eigenen“ Kultur) methodische Probleme, die sich aus der ethnologischen bzw. ethnopsychoanalytischen Fragestellung ableiten: Wie können wir die Fehlinterpretationen bestimmter Phänomene vermeiden, die wir aufgrund unserer kulturell bedingten (Vor-)Urteile machen? Den Versuch, diese Unsicherheiten mittels vermeintlich „objektiver“ Methoden überwinden zu wollen, hält Maya Nadig für einen Irrweg (vgl. ebd.). Stattdessen schlägt sie vor, in der Ethnopsychoanalyse spezifische Ansätze aus anderen Zweigen der Sozialwissenschaft zu verbinden. Die feministischen Wissenschaften ermöglichen eine fundierte Theoriekritik, die „in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen Verzerrungen in der Wahrnehmung und der Konstruktion der Weiblichkeit nachweisen“ (dies. 1985, S. 105). Während in der Ethnologie bereits in den fünfziger Jahren die verzerrte Sicht auf die Frau systematisch thematisiert wurde, begann „[e]rst die Frauenbewegung der sechziger Jahre [...] die Konstruktion der Weiblichkeit in der psychoanalytischen Theorie grundsätzlich in Frage zu stellen, und diejenige der siebziger Jahre verwendete das psychoanalytische, methodische und theoretische Potential, um eine Psychologie der Frau neu und unter Einbezug feministischer Erkenntnisse zu formulieren“ (dies. 1986a S. 150). Zudem müsse im Anschluss an feministische Wissenschaftlerinnen die Selbstreflexion im Forschungsprozess gefördert werden und das Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen ForscherIn und Beforschter/Beforschtem überdacht werden. Die Kritische Ethnologie, die „das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, hegemonialer und marginaler Kultur aus der Perspektive der Unterdrückten in fremden Kulturen, marginalen Gruppen und unterdrückten Kasten oder Klassen“ (dies. 1985, S. 105) zum Gegenstand hat, stelle mit der teilnehmenden Beobachtung eine Forschungsmethode zur Verfügung, die eine gewisse „Gegenseitigkeit in der Beziehung zwischen Forscherin und Erforschten“ (ebd. S. 106) ermögliche. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die ethnopsychoanalytische Forschung liege im „systematischen Einbezug des Unbewußten in die Selbstreflexion“ (ebd.). Die verringere, so Nadig, die Gefahr von Fehlinterpretationen aufgrund von Verzerrungen, die durch die psychische Abwehr der ForscherIn bedingt seien, wie z.B. Rassismen oder Sexismen. Die Ethnopsychoanalyse erforsche also „das Fremde“ mittels teilnehmender Beo-
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bachtung unter Einbezug des Unbewussten in die Selbstreflexion. Die feministische Theoriekritik fehle jedoch in der Mehrzahl der Arbeiten: „[...] sowohl Devereux’s Werke wie auch die Arbeiten von Parin, Morgenthaler und ParinMatthèy müßten von diesem Standpunkt aus überdacht werden“ (ebd.). Maya Nadig stellt verschiedene Methoden dar, die in der ethnopsychoanalytischen Forschung angewandt werden können „und die in unterschiedlichem Ausmaß ethnologische und psychoanalytische Vorgehensweisen verbinde[n] und zu einem ethnopsychoanalytischen Forschungs- und Erkenntnisprozeß verdichte[n]“ (Reichmayr 2003a, S. 141): die ethnopsychoanalytische Beziehung, die ethnopsychoanalytische Begleitung und die ethnopsychoanalytische Tiefenhermeneutik (vgl. ebd., auch Nadig 1985 & 1986a). In ihrer Untersuchung bei Otomi-Frauen, die Nadig in ihrem Buch Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Subjektivität und Gesellschaft im Alltag von Otomi-Frauen (1986b) zusammenfasste, stützte sie sich besonders auf diese Methoden. In Daxhó, einem kleinen, bäuerlichen Dorf in Mexiko, führte sie 1975 während einer Zeit von drei Monaten regelmäßig Gespräche mit fünf Frauen des Dorfes. 1977 kehrte sie zur Beendigung ihrer Forschung abermals für sechs Monate nach Daxhó zurück (vgl. Nadig, 1986b, Reichmayr 1995). Ihr „Interesse galt von Anfang an den Frauen in einer anderen Kultur, den sozialen und psychischen Strategien, die sie entwickelten, um entsprechend den eigenen Bedürfnissen – ökonomisch und emotional – zu leben“ (Nadig 1985, S. 107). Das Zentrum ihrer Forschung bildeten die sich über den Forschungszeitraum hinweg entwickelnden Gespräche, die Nadig mit den fünf Bäuerinnen führte. In diesen setzte sie das Prinzip der ethnopsychoanalytischen Beziehung um, die in einer „regelmäßige[n] und bewusst mit der eigenen Gegenübertragung begleitete[n] Beziehung“ (ebd. S. 109f) zwischen Forscherin und Gegenüber besteht. Die ethnopsychoanalytische Begleitung hat das Ziel, der „Subjektivität der Forscherin“ (ebd. S. 107) Rechnung zu tragen. Eintragungen in ein Arbeitstagebuch hatten die Funktion, die „[b]egleitende Selbstreflexion“ (ebd.) zu ermöglichen, und sollten „Hindernisse, die aus idiosynkratischen, persönlichen Relationen (Ängsten, Konflikten, Sexualität, Anziehung, institutionelle Identifikation) und deren Abwehr (Projektion, Idealisierung, Verleugnung, Entwertung etc.) entstehen, bewusstseinsfähig und damit handhabbar machen. Selbstbeobachtung soll den Weg zur Realität offen halten“ (ebd.). Diese Selbstreflexion kann jedoch, so Nadig, nicht alleine stattfinden, sondern sollte durch ein ForscherInnenkollektiv oder durch Supervision unterstützt werden. Die ethnohermeneutische Interpretation, wie sie Maya Nadig versteht, arbeitet mit Irritationen, die durch die Interpretation des erhobenen Materials (Tagebücher, Gespräche, Datensammlungen) entstehen. Diese Irritationen hätten verschiedene Quellen: Sie entstünden aus persönlichen
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„Überempfindlichkeiten“ (ebd. S. 116), aufgrund kulturell verankerter Normen und als „Reaktion des Unbewußten auf die latente Botschaft des Textes“ (ebd.). Um die Verzahnung zwischen Individuum und Gesellschaft besser erfassen zu können, möchte Nadig bei ihren Auslegungen nicht nur die „Mikro-Ebene“ (ebd.) betrachten, sondern sie bezieht auch wichtige Aspekte auf der Makroebene (Geschichte, Wirtschaftsform und Ethnizität der beforschten Gruppe) mit ein. Eine ausführlichere Darstellung der Methodik findet sich bei Nadig (1985 & 1986a) und bei Reichmayr (1995 & 2003). Maya Nadig beschäftigt sich nicht nur mit verschiedenen Aspekten der Frauenkultur im Kontext des Geschlechterverhältnisses (z.B. auch 1988, 1991, 1998). In ihren neueren Theoriebeiträgen (2000, 2004) bemüht sie sich um eine Verbindung bestimmter Konzepte und Haltungen zwischen Cultural Studies und (Ethno-)Psychoanalyse. Diese Gedankengänge werde ich jedoch in Kapitel 3.3.6 ausführlicher darstellen. Fassen wir noch einmal zusammen, welche wertvollen Differenzierungen bezüglich des Gegenstandes durch Nadigs Arbeiten möglich wurden. Die Einführung der Kategorie Geschlecht aus der feministischen Perspektive ermöglichte eine fundierte Kritik der bis dahin vorwiegend patriarchal strukturierten Theoriebildung in den Sozial- bzw. Kulturwissenschaften. So konnten subkulturelle Phänomene wie z.B. die verborgene Kultur der Frau angemessener erforscht werden, wobei die Ergebnisse dieser Forschung wiederum auf die allgemeine Theoriebildung zurückwirken konnten. Die Betroffenheit feministischer Forscherinnen vom Patriarchat machte es wiederum notwendig, die Selbstreflexivität systematisch in den Forschungsprozess einzubauen und diese zu betonen, um die Auswirkung von Abwehrprozessen seitens der ForscherInnen auf die Forschung und Theoriebildung zu verringern. Dies hatte zum Ziel, die Verortung von Wissenschaft in Machtstrukturen reflektieren zu können und gesellschaftliche Wirklichkeit in weniger verzerrter Weise wahrzunehmen (so weit das möglich ist). Die geforderte Subjektivität wird dabei von Maya Nadig als Mittel zum Zweck, nicht als Forschungsgegenstand verstanden. „Eine Sozialwissenschaft, die gesellschaftliche Ereignisse psychologisiert und individualisiert, hat ebenso wenig mit Ethnopsychoanalyse zu tun wie Arbeiten, die der Selbstdarstellung so breiten Raum geben, daß der Gegenstand darin verschwindet. Das Überstülpen psychoanalytischer Kategorien über soziale Prozesse und Handlungen von Subjekten ist ebenso fruchtlos wie die Auflösung gesellschaftlicher Handlungen in Gefühle.“ (Nadig 1986a, S. 152)
In Nadigs älteren Arbeiten hat der in meinen Augen kritisch zu betrachtende Begriff der „Fremdheit“ bzw. des/der „Fremden“ noch großes Gewicht. In ihren neueren Arbeiten weicht dieser zunehmend dem Differenzbegriff. Hier wirkt
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sich die bewusste Bezugnahme auf die Cultural Studies in ihrer Theoriebildung aus (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou, Pletzer 2003). 3.3.6 Ways out? In den vorangegangenen Kapiteln habe ich durch die Brille der Cultural Studies die Entwicklung kulturtheoretischer Konzepte von Freud bis hin zur aktuellen Ethnopsychoanalyse betrachtet. Die von mir diskutierten AutorInnen brachten jeweils wichtige Fragen und Anregungen in die aktuelle Debatte um Kultur ein. Freud war der erste, der systematisch das Unbewusste des Individuums in der Kultur zum Gegenstand der Betrachtung machte und der einen unausweichlichen Konflikt zwischen der menschlichen Triebausstattung und gesellschaftlichen Anforderungen annahm. Die Malinowski-Jones-Debatte rückte die Frage nach Universalien in der psychischen Ausstattung des Menschen ins Zentrum und war Anregung für verschiedene Feldforschungsprojekte. An Devereux’ Arbeiten ist besonders sein Beitrag zur Methodik in den Sozialwissenschaften von Bedeutung, indem er auf den Einfluss des subjektiven Moments im Forschungsprozess hinweist. Parin, Morgenthaler und Parin-Matthéy übertragen die psychoanalytische Technik als Forschungsmethode ins Feld. Erdheims Arbeiten stehen für eine Veränderung des Blickes auf den „Forschungsgegenstand“. Er wendet ethnopsychoanalytische Theorien und Verfahren nicht nur auf die „Anderen“, sondern auch auf die eigene Kultur an. Nadig erweitert die bis dahin männlich dominierte Theoriebildung um eine feministische Perspektive. Trotz der in den einzelnen Kapiteln diskutierten Kritik an verschiedenen Aspekten ethnopsychoanalytischer AutorInnen bleibt die Frage offen, ob es nicht eine fruchtbare Verbindung zwischen Theorien der Cultural Studies und der (Ethno-)Psychoanalyse geben kann. Maya Nadig weist in ihren neueren Arbeiten (2000 & 2004) auf die Nähe bestimmter Konzepte hin, die sich mit der Untersuchung und dem Verständnis interkultureller Erfahrungen und Fragen der Identitätsbildung in einer globalisierten Welt beschäftigen. Interkulturalität, oder – wie sie es nennt – Transkulturalität (vgl. Nadig 2000 & 2004) stellt sie als das Produkt des Globalisierungsprozesses dar. Die globalen Prozesse wirkten sich auch auf die lokalen Kulturen aus und „betreffen die Auflösung sozialer Gemeinschaften, die mangelnde Einbindung der Subjekte in verpflichtende Beziehungen und die wachsende Abstraktion der lebensweltlichen Prozesse“ (dies. 2000, S. 88). Diese das Individuum betreffenden Vorgänge bezeichnet sie mit Giddens (1995) als „Disembedding“, in dessen Folge ein „Reembedding [...] im Sinne einer Rückaneignung auf der Ebene des Lokalen“ (ebd.) notwendig werde. An diesem Punkt der Rückaneignung oder auch notwendigen „Neusymboli-
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sierung“ (ebd.) sieht Nadig die Möglichkeit, Konzepte der (Ethno-)Psychoanalyse und der Cultural Studies zusammenzufügen. Die Stärke der Cultural Studies bestehe darin, globale Prozesse mit der Untersuchung individueller Prozesse in Beziehung zu setzen, also eine diachrone mit einer synchronen Achse zu verbinden. Die Verbindung psychoanalytischer Theorie mit Konzepten der Cultural Studies ermögliche es, diesen Aspekt noch genauer zu erfassen. „The interdisciplinary association of ethnology/cultural studies with psychoanalysis would appear to be particularly well equipped for joining the diachronic with the synchronic axis and studying the reactions of the individuals to transcultural experiences simultaneously in their practice and their specific historical and social background.“ (dies. 2004, S. 11)
Es stellt sich also die Frage, unter welchen Bedingungen im Individuum Neusymbolisierungsprozesse stattfinden können, die die „vielfältigen kulturellen Strömungen unter Einbezug der Erfahrung, d.h des Körpers, der Emotionen und der Kultur“ (dies. 2000, S. 89) umfassen. Um diese Prozesse in ihrer Komplexität besser verstehen zu können, bezieht sich Nadig auf diejenigen konstruktivistischen bzw. poststrukturalistischen Ansätze von Stuart Hall und Homi Bhabha, die mit einer Raummetapher arbeiten, und setzt diese in Beziehung zu entsprechenden psychoanalytischen Theorien. Besondere Bedeutung haben für Maya Nadig Halls theoretische Konzeptionen zur Konstruktion von (kulturellen) Identitäten, insbesondere Diaspora-Identitäten (vgl. Kap. 2.4 der vorliegenden Arbeit). Es gehe, so Nadig, „um die Untersuchung multideterminierter Räume, in denen die Konstruktion von Identität durch soziale Interaktion und als ästhetischer oder symbolischer Prozeß handelnd erfolgt“ (dies. 2000, S. 89). Unter Bezugnahme auf Hall spricht Nadig von Diaspora-Identitäten als Möglichkeit, sich einen gemeinsamen Raum für Schutz und Identität in einer Situation zu erarbeiten, die kulturell unbekannt sei (vgl. ebd.). Entscheidend ist für Nadig an Halls Konzept, dass die Konstruktion von Identitäten die Zugehörigkeit zu einer imaginierten Gemeinschaft ermögliche, diese „essentialistischen und dualistischen Haltungen im Umgang mit ,Anderen‘ […] aber nicht dauerhaft und festgefügt“ (ebd.) seien. Bezüglich Homi Bhabhas Theorie greift Nadig auf dessen Metapher des „Dritten Raums“ (ebd.) zurück, den sie als „sozialen Begegnungs, Denk- und Erfahrungsraum [beschreibt], […eine] gemeinsame Lebenspraxis von Migrierenden, die in der Fremde auf Freunde treffen und ihre jeweils unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen austauschen, besprechen und formen“ (ebd., S. 89f). Das Bemühen Maya Nadigs, psychoanalytische Konzepte mit denen der Cultural Studies in Verbindung zu bringen, ist sicherlich als besonders positiv hervorzuheben. Kritisch anzumerken bleibt jedoch, dass Nadig meines Erachtens in diesen beiden Texten (2000 & 2004) sowohl in Halls als auch Bhabhas
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theoretischen Positionen einen den Sinn verschiebenden Schwerpunkt legt, indem sie sie hauptsächlich auf die Konstruktion von Diaspora-Identitäten, auf „interkulturelle Situationen“ (dies. 2000, S. 90) oder die „Migration und die darin stattfindenden Prozesse“ (ebd. S. 89) bezieht. Der „quere“ Gehalt der Cultural und der Postcolonial Studies besteht jedoch meiner Meinung nach genau darin, kulturelle Identitäten als etwas täglich und ständig von uns allen Konstruiertes zu dechiffrieren, dieser Prozess betrifft nicht nur die „Anderen“/ die MigrantInnen (vgl. Kap. 2.4 der vorliegenden Arbeit). Bhabha selbst beschreibt diesen „Dritten Raum“, den er auch als „Zwischenraum“ bezeichnet, wie folgt: „Die Abwendung von den Einzelgrößen ‚Klasse‘ und ‚Geschlecht‘ als den vorrangigen konzeptuellen und organisatorischen Kategorien führte zu einer bewußten Wahrnehmung des Subjekts – Rasse, Geschlecht, Generation, institutionelle Verortung, geopolitischer Raum, sexuelle Orientierung –, die jeder Einforderung von Identität in der modernen Welt immanent sind. Theoretisch innovativ und politisch entscheidend ist die Notwendigkeit, über Geschichten von Subjektivitäten mit einem Ursprung oder Anfang hinaus zu denken und sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden. Diese ‚Zwischen‘-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen.Im Entstehen solcher Zwischenräume – durch das Überlappen und De-plazieren (displacement) von Differenzbereichen – werden intersubjektive und kollektive Erfahrungen von nationalem Sein (nationness), gemeinschaftlichem Interesse und kulturellem Wert verhandelt.“ (Bhabha 1997b, S. 124)
Homi Bhabhas Konzept des Dritten Raumes rückt Maya Nadig in die Nähe von Bions (1990) container-Modell und stellt im Besonderen den Bezug zu Winnicotts (1973) Theoretisierung des Übergangsraumes her. Diese theoretische Nähe ergibt sich für Nadig aus der Beschäftigung mit der Ebene der Symbolbildung und in Folge Fragen der Identitätsbildung. „Die psychoanalytische Technik und Theorie hat mit dem Übergangsraum und dem Bionschen ‚Container‘, in denen Holding und Containing erfolgen können, eine Methodik 13 für die Genese von Symbolen und die Entwicklung eines Selbst […] zur Verfügung gestellt und damit auch eine Methodik für die Genese von Subjekten mit einem Selbst, das flexibel genug ist, um in der sich wandelnden Umgebung kohärent zu bleiben. […] Winnicott hat der Kultur als der Welt der Symbole und Bedeutungen ein großes Gewicht gegeben und beschäftigte sich mit den Vorausset13
Besser wäre es meines Erachtens, hier von Modell als von Methodik zu sprechen.
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zungen, die dem Individuum eine aktive Teilnahme am kulturellen Prozeß überhaupt ermöglichen. Die Aufteilung des menschlichen Erlebens in innen und außen hielt er für reduziert und polarisiert und schrieb 1971, es gäbe noch einen dritten und vital wichtigen Lebensbereich, in dem der Mensch seine Erfahrungen macht: den Übergangsraum.“ (Nadig 2000, S. 92f)
Diesen dritten Bereich beschreibt Winnicott auch als „potential space“ (ebd., vgl. auch Winnicott 1973), an welchem sich „Spiel und Kulturerleben“ ereigneten und dessen Besonderheit es sei, „daß er existentiell von der lebendigen Erfahrung abhängt und nicht von Anlagefaktoren“ (ebd., Hervorhebungen i.O.). Nadig kommt zum Schluss, dass die begrifflichen Ähnlichkeiten zwischen dem Bhabhaschen Konzept des „third space“ und dem „Übergangsraum“ von Winnicott überraschend hoch seien. In beiden Konzepten gehe es um die symbolische Vermittlung zwischen Innen und Außen bzw. zwischen „dem Eigenen und dem Anderen. […] Indem die Symbole selber die Einheit/illusionäre Verschmelzung und die Trennung/Differenz repräsentieren und enthalten, machen sie die Spannung aushaltbar und erzeugen neue Dimensionen des Verstehens und Verhaltens“ (Nadig 2000, S. 93). Für beide Konzepte gelte außerdem die Annahme, dass Wissen bzw. die Produktion von Wissen immer als situiert betrachtet werden müsse. Dennoch muss die Frage gestellt werden, als wie hoch die Übereinstimmung oder auch die Anschlussfähigkeit der Konzepte von Winnicott und Bhabha eingeschätzt werden kann. Sicherlich gibt es in der Vorstellung des third space bzw. des Übergangsraumes Übereinstimmungen in der Definition. Ein wichtiges Kriterium für beide Autoren ist die intersubjektive Herstellung dieses Raumes und die darin stattfindende Symbolbildung, wenngleich sie dies aus unterschiedlichen Denktraditionen heraus begreifen. Homi Bhabha, dessen Theoriebildung inklusive ihres semiotischen Kulturbegriffes besonders von der „französischen poststrukturalistischen Literatur- und Kulturtheorie“ (Bonz & Struve 2006, S. 151) geprägt ist, konzipiert den Dritten Raum als etwas, das im Alltag einer postmodernen, globalisierten Gesellschaft „durch das Überlappen und De-platzieren […] von Differenzbereichen“ (Bhabha 1997b, S. 124) in stets symbolbildenden Prozessen entsteht. Dieser Raum stellt deshalb etwas „Drittes“ dar, da in ihm das Überwinden dichotomer Zuschreibungen (UnterdrückerIn/ UnterdrückteR, Weiß/Schwarz, Oben/Unten etc., also dem „Ersten“ und dem „Zweiten“) möglich wird. Kennzeichnend für den third space ist also das, was Bhabha mit dem Begriff der Hybridität bezeichnet, der in seinem Sinne nicht einfach eine Vermischung aus zwei oder mehr Konzepten bezeichnet, sondern die Entstehung von etwas Neuem beschreibt (Girssmann 2006), das „[d]arüber hinaus“ (Bhabha 2000, S. 1) geht.
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„Diese Neukonstruktionen speisen sich nicht aus zwei oder mehr Originalen und lösen sich in einer hegelianischen Synthese quasi auf, sondern müssen sich in einem Dritten Raum als tatsächliche neue Formen mit inhärenten Differenzen, Ambivalenzen und Widersprüchen denken lassen.“ (Bonz & Struve 2006, S. 144)
Winnicott, der innerhalb der Psychoanalyse zu den ObjektbeziehungstheoretikerInnen gezählt wird, begreift die Thematik von einer entwicklungspsychologischen Perspektive aus und bezieht sich auf die Mutter-Kind-Dyade als frühesten „kulturellen“ Bezugspunkt. Seine Definition von „Kultur“ lautet folgendermaßen: „Der Begriff ‚Mensch‘ schließt immer die Summe seiner kulturellen Erfahrungen mit ein. [...] Ich habe den Begriff kulturelle Erfahrung [...] benutzt, ohne sicher zu sein, das Wort ‚Kultur‘ definieren zu können. Das Hauptgewicht liegt ja auf Erfahrung. Bei der Verwendung des Wortes Kultur denke ich an ererbte Tradition 14, also an allgemein Menschliches, zu dem einzelne und Gruppen von Menschen beitragen können und aus dem wir alle schöpfen können, wenn wir das, was wir darin vorfinden, auch unterbringen können. Kultur hängt davon ab, wie sie überliefert wird.“ (Winnicott 1973, S. 115, Hervorhebungen i.O.)
Kulturelle Erfahrungen, so Winnicott, nähmen ihren Anfang in kreativem Erleben, das seine erste Manifestation im Spiel finde. „Kulturelles Erleben ist lokalisiert in einem schöpferischen Spannungsbereich [i.e. der potentielle Raum, Anm. K.H.] zwischen Individuum und Umwelt (anfänglich: dem Objekt). Dasselbe gilt für das Spielen.“ (Winnicott 1973, S. 116)
Das Spiel finde notwendigerweise in einem potential space statt, da es sich weder in der äußeren Realität (dem „objektiv wahrgenommene[n] Objekt“) noch in der innerpsychischen Realität (dem „subjektive[n] Objekt“ [ebd.]) verorten lasse. Diese Betrachtungsweise legt die Aufmerksamkeitsrichtung auf die konkrete Mutter-Kind-Interaktion fest: „Will man das Spielen und damit das kulturelle Erleben des einzelnen Menschen betrachten, so muß man sich dem Schicksal des potentiellen Raumes zwischen dem Kind und der (als Mensch fehlbaren) Mutterfigur zuwenden [...].“ (Winnicott 1973, S. 117)
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Es ist anzunehmen, dass Winnicott hier nicht von „ererbt“ im Sinne von genetisch verankert spricht, sondern eigentlich „tradiert“ meint.
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Ich denke, es ist ersichtlich geworden, dass die Modelle des potential space von Winnicott und des third space von Bhabha nur partiell anschlussfähig sind, da sie von verschiedenen Denktraditionen kommend nur in Teilen übereinstimmen. Dennoch halte ich Nadigs Versuch, die (Ethno-)Psychoanalyse mit dem aktuellen kulturwissenschaftlichen Kontext zu verbinden, für einen wichtigen Schritt in Richtung der Weiterentwicklung psychoanalytischer Theorien in Bezug auf Kultur. Nadig selbst sieht die (Ethno-) Psychoanalyse als einen Ort, an dem vieles schon vorweggenommen worden sei, was in aktuellen theoretischen Positionen gefordert werde. „Es ist interessant festzustellen, dass die Ansätze, die heute in aktuellen epistemologischen Diskussionen zu konstruktivistischen und poststrukturalistischen Konzepten vertreten werden, den wissenschaftstheoretischen und methodischen Positionen der Ethnopsychoanalyse nahe kommen. Dies hängt auf methodologischer Ebene mit der psychoanalytischen Technik zusammen, die dem Unbewussten, der Subjektivität, dem Beziehungsverlauf und dem spezifischen Kontext (Rahmen/Setting) eine große Bedeutung beimisst, mit der Methode der freien Assoziation an konfliktund prozesshafte Verläufe anknüpft und an orts- und situationsspezifische Bedingungen und Beziehungen gebundenes Material erhebt und deutet. Je eindeutiger Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy diesen methodischen Ansatz in ihren ethnopsychoanalytischen Untersuchungen praktizierten, um so präziser nahmen sie damit die Konkretisierung poststrukturalistischer Forschungspostulate vorweg. Mit dem systematischen Einsatz der Technik der Psychoanalyse als Forschungsmethode im Feld wurde das sozialwissenschaftliche Tabu gegenüber der kontext-, der zeitund der standortbezogenen Interpretation gebrochen.“ (Nadig 2002, S. 427)
Maya Nadig führt ihre These noch weiter aus, dass wichtige Fragen und Themen, die in Folge der „postkolonialen Krise der Ethnologie“ (Nadig 2002, S. 430) aufkamen, in der Ethnopsychoanalyse schon „früh elaboriert und differenziert“ (ebd. S. 430f) wurden: „Verzicht auf Objektivitätsanspruch, auf vorschnelle Verallgemeinerungen und Kategorisierungen; Dynamisierung des fundamentalistischen Kultur- und Ethnizitätsbegriffs und des essentialistischen Sex- und Genderbegriffs; Kritik am dualistischen Denken, das die Welt in binäre Oppositionen einteilt; Akzeptanz der Standortgebundenheit jeder wissenschaftlichen Aussage; Aufwertung des qualitativen Forschens und des methodischen Prinzips der dialogischen Praxis [...]. Die methodischen Gesichtspunkte und das technische Instrumentarium, denen sich andere Richtungen angenähert haben, wurde von der Psychoanalyse bzw. Ethnopsychoanalyse in einem Jahrzehnte dauernden Prozess ausgearbeitet. Dazu zählen:
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3. Theoretisierung von Kultur und Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse
Vorwiegend qualitatives Arbeiten, bei dem die Darstellung von Fallgeschichten und das ‚Geschichtenerzählen‘ eine wichtige Rolle spielen; Transparenz der Forschungsbeziehung durch die Reflexion von ÜbertragungGegenübertragung und der Standortgebundenheit der Beziehungen; Deuten der situationsspezifischen, subjektiven oder emotionalen Materialien, d.h. Kontextualisierung und Spezifizierung anstatt Kategorisierung; Beachten von Sequenzen, d.h. Prozesshaftigkeit der Forschung bzw. Forschungsbeziehung. Mit der zunehmenden Konzentration auf die Struktur des Erkenntnisprozesses und auf die Transparenz der Methode, die für komplexe Kulturalität raumschaffend wirkt, entwickelte sich eine Art Kongenialität zwischen der poststrukturalistischen Sozialwissenschaft/postkolonialen Ethnologie und der Ethnopsychoanalyse/Psychoanalyse [...], die bisher noch kaum wahrgenommen und diskutiert worden ist.“
Die von Nadig angeführten Kriterien sind jedoch meines Erachtens nicht allein in (ethno-) psychoanalytischen Verfahren zu finden, sondern ein Großteil davon sind allgemein kennzeichnend für die Qualitative Sozialforschung (vgl. z.B. Mayring 1996). Ein Grundproblem, dem sich meines Erachtens VertreterInnen der Psychoanalyse wie der Ethnopsychoanalyse stellen müssen, ist die häufig anzutreffende mangelnde Öffnungsbereitschaft der Disziplin nach außen. Selbst WissenschaftlerInnen wie Maya Nadig treffen Aussagen wie die, dass es keine andere Methode als die Psychoanalyse gebe, um Prozesse zu erforschen15. Eine Aussage, die natürlich nicht haltbar ist. VertreterInnen der Psychoanalyse, die ja auch Aussagen über Kultur und Gesellschaft treffen, setzen sich in der Regel mit aktuellen Konzepten und Begrifflichkeiten gegenwärtiger Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sehr wenig auseinander (hier stellen Nadigs Aufsätze von 2000 & 2004 eine absolute Ausnahme dar), was zu einer Isolation der Psychoanalyse in diesem Bereich führt. Eine solche Auseinandersetzung, die ja nicht in eine Anbiederung münden muss, könnte für eine theoretische Weiterentwicklung in der psychoanalytischen Kulturtheorie sorgen. Wichtig wäre es meiner Meinung nach beispielsweise, die Postcolonial Studies konsequent auf psychoanalytische Theoriebildung anzuwenden, um sowohl die machtvolle Aneignung „Anderer“ als auch Prozesse des „Worlding“ (vgl. Kap. 2.5), die auch in der Psychoanalyse stattfinden, explizit thematisieren zu können. So könnte die Psychoanalyse, deren Stärke darin besteht, zu untersuchen, wie sich gesellschaftliche Umstände im Individuum niederschlagen, einen wichtigen Beitrag zur Diskussion aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen leisten.
15
Auf einer Veranstaltung am 24.5.2008 im Rahmen der DPG-Tagung „Psychoanalyse im Zeichen der Globalisierung – Struktur und Identität im Wandel“.
3.3 Das/der/die „Fremde“ in der Psychoanalyse
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Dieses Kapitel behandelte die Theoriebildung bezüglich des Themenkomplexes Kultur/Interkulturalität innerhalb der Psychoanalyse. Dabei zog sich eine Linie von der Kulturtheorie Freuds, in der die Annahme des Ödipuskomplexes als Universalie zentral ist, über die Malinowski-Jones-Debatte, die genau diese Annahme diskutiert, bis hin zu verschiedenen VertreterInnen der Ethnopsychoanalyse und ihren Konzepten. Das folgende Kapitel 4 wendet sich nun dem klinischen Bereich, der interkulturellen psychoanalytischen Therapie zu, in dem ethnopsychoanalytische Konzepte (zumindest teilweise) praktische Anwendung finden.
4 Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
Es ist eine Besonderheit psychoanalytischer Theorie, dass sie, je nach Inhalt, sowohl im sozialwissenschaftlichen als auch im psychotherapeutischklinischen Kontext verortet werden kann (vgl. Kap. 3.1). In den vorangegangenen Kapiteln stand im Zentrum, wie Kultur – und auch Gesellschaft – an sich innerhalb der Psychoanalyse theoretisiert wird und inwiefern dies mit Konzepten aus den Cultural Studies in Verbindung zu bringen ist. In den folgenden Kapiteln wende ich mich dem klinischen Bereich der Psychoanalyse zu und untersuche genauer, wie hier Kultur bzw. Interkulturalität zur Sprache kommen. Dazu gebe ich in diesem Kapitel zunächst einen Überblick über verschiedene Entwicklungen im Feld interkultureller psychoanalytischer Therapie, der auch einen Überblick über relevante Literatur beinhaltet. Die Ethnopsychoanalyse ist ihrer Definition entsprechend ein Ansatz zur Erforschung der Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Anteilen des Individuums und der das Individuum umgebenden Kultur bzw. Gesellschaft (vgl. Kap. 3.3). Als Erkenntnisinstrument dient dabei die spezifische psychoanalytische Beziehung zwischen ForscherIn und Erforschten. Die psychoanalytische Therapie (in dieser Arbeit nehme ich in der Regel nicht die durch die Medikalisierung notwendig gewordenen begrifflichen Unterscheidungen wie „tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie“ vs. „psychoanalytische Therapie“ etc. vor) bedient sich ebenfalls dieser spezifischen Konzeptionalisierung von Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn. Dabei lenkte die Realität „multikultureller“ Gesellschaften (vgl. auch Kap. 2.1) mit bedeutsamer werdenden Migrationsbewegungen bereits seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Praxis psychotherapeutischen Arbeitens den Blick immer stärker auf die Gestaltung und Ausformung interkultureller Beziehungsgefüge mit ihren spezifischen Konstellationen und Fragestellungen (vgl. auch Reichmayr 2003a & 2003b). Ethnopsychoanalyse und interkulturelle psychoanalytische Therapie können dabei auf einer Entwicklungslinie gesehen werden, wobei die ForscherInnengruppe um Paul Parin (vgl. Kap. 3.3.3) als Erste klinisch psychoanalytische Technik auf die ethnopsychoanalytische Feldforschung übertrug und die aus dieser Forschung gewonnenen Erkenntnisse wiederum
K. Hörter, Die Frage der Kultur, DOI 10.1007/978-3-531-93071-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
Anstöße für die Entwicklung interkultureller psychoanalytischer Therapie bieten konnten. „Morgenthaler gehört zu den Pionieren der Ethnopsychoanalyse. Gemeinsam mit Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy hat er zum ersten Mal in der Geschichte der Psychoanalyse auf ethnologischem Gebiet die psychoanalytische Technik als Methode der ethnologischen Feldforschung bei den Dogon und Agni in Westafrika in den 50er Jahren erprobt. Diese Anwendung der Psychoanalyse eröffnet einen Zugang zum Wechselspiel zwischen den bewussten und unbewussten Anteilen des Individuums, denen seiner Kultur und den Einrichtungen seines Gesellschaftsgefüges. So wie die Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft für die moderne Psychotherapie verstanden wird, so hat die Ethnopsychoanalyse diese Bedeutung für die interkulturelle Psychotherapie gewonnen.“ (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 270)
Während interkulturelle psychoanalytische Therapie also als klinisches Anwendungsfeld oder auch als „gesellschaftliche Praxis“ (Egli, Saller & Signer 2002, S. 1) von Ethnopsychoanalyse (als Forschungsansatz) verstanden werden kann, wird die begriffliche Differenzierung zwischen Ethnopsychoanalyse und interkultureller psychoanalytischer Therapie in der Literatur und Praxis nicht immer getroffen (vgl. Nathan 1979, Schär Sall 2001 & 2002 & Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003). Im französischsprachigen Raum lassen sich als Synonyme für das interkulturelle psychoanalytische Arbeiten auch „die Begriffe ‚transkulturelle Psychotherapie‘ und ‚ethnopsychoanalytische Therapie‘“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 273) finden. Die Weiterentwicklung der Ethnopsychoanalyse zur interkulturellen psychoanalytischen Therapie fand und findet in verschiedenen Traditionen und Strömungen statt. Reichmayr (2003a, S. 241) stellt fest, dass sich die „Verbindungen der Ethnopsychoanalyse mit klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Erfahrungen [...] auch innerhalb Europas nach unterschiedlichen historisch-kulturellen und politisch-sozialen Voraussetzungen der Politik der Integration und der Aufnahme von Flüchtlingen, Asyl Suchenden und Migranten differenzieren“.
4.1 Die Entwicklung der Klinischen Ethnopsychoanalyse in Frankreich
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4.1 Die Entwicklung der Klinischen Ethnopsychoanalyse in Frankreich16 Frankreich stellt aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit und der damit verbundenen verstärkten Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien einen gesellschaftlichen Kontext, in dem früher als im deutschsprachigen Raum sowohl die Notwendigkeit als auch das Interesse an der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen anderer kultureller Herkunft entstand. Das im Original 1972 (dt. 1978) erschienene Devereux’sche Werk Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen bildet die gemeinsame theoretische Grundlage der Ansätze von Tobi Nathan und Marie Rose Moro (vgl. auch Sturm 2002), in deren Tradition sich die beiden bedeutendsten Ansätze der Klinischen Ethnopsychoanalyse in Frankreich differenzieren lassen: „a) der Ansatz von Nathan, der in der Therapie von MigrantInnen einen starken Akzent auf die Bedeutung ‚traditioneller‘ Repräsentationen von Krankheit und Leid setzt; b) der Ansatz von Moro, in dem der prozedurale Charakter von Kultur sowie die Bedeutung von Hybridisierungsprozessen im Zusammenhang mit der Migration betont werden“ (ebd., S. 45f). Tobie Nathan, der 1948 in Kairo geboren wurde und schon als Kind über Italien nach Frankreich migrierte, war ein direkter Schüler von Georges Devereux. Seine Ausbildung in Psychologie und Soziologie ergänzte er durch psychotherapeutisches bzw. psychoanalytisches Wissen und arbeitet heute an der Université Paris 8 als Professor für Klinische Psychologie und Psychopathologie. Als wichtigste Arbeiten von Tobie Nathan zum Thema ethnopsychiatrische bzw. ethnopsychoanalytische Praxis entstanden Ideologie, Sexualität und Neurose. Eine Abhandlung zur ethnopsychoanalytischen Klinik (dt. 1979, Titel des französischen Originals: Sexualité idéologique et névrose), La folie des autres. Traité d’ethnopsychiatrie clinique (2001, i.O. 1986), Fier de n’avoir ni pays, ni amis, quelle sottise c’était (1993), L’influence qui guérit (1994) und Nous ne sommes pas seuls au monde (2001). Nachdem er in der Klinik Avicenne in Bobigny bei Paris in den Jahren 1981 bis 1990 im Rahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung eine „Ambulanz für ethnopsychiatrische Beratungen [organisiert hatte], in der vor allem maghrebinische Migrantenfamilien und deren Angehörige und Personen aus Westafrika in einem Gruppensetting psychologische und psychotherapeutische Hilfe erhielten“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 290), gründete Nathan 1993 das Centre Georges Devereux in Paris. Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses von Nathan 16
In diesem Kapitel beziehe ich mich, wo nicht anders angegeben, hauptsächlich auf die Literatur von Johannes Reichmayr 2003a & 2003b und auf Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, wobei diese Quellen der besseren Lesbarkeit halber nur noch bei direkten Zitaten angegeben werden.
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4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
steht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kultur und psychischer Störung. Um diesen Zusammenhang theoretisieren zu können, übertrug er das Devereux’sche Komplementaritätsprinzip (zur Darstellung und Kritik desselben vgl. Kap. 3.3.2) auf sein ethnopsychotherapeutisches Vorgehen und forderte, dass in dieser Arbeit eine kulturelle und eine psychologische Ebene differenziert werden müssten, deren Vermischung in der therapeutischen Praxis nicht zugelassen werden sollte. „Wenn die PatientInnen Bezug auf kulturspezifische Vorstellungen nehmen, sollten diese Äußerungen nicht psychologisch interpretiert werden, sondern vielmehr als eine Festlegung von Rahmenannahmen gesehen werden, die für das Erleben der PatientInnen von Bedeutung sind.“ (Sturm 2001, S. 218).
Nathan entwickelte den Gedankengang Devereux’ weiter und ließ Aspekte der Theorien von Lacan und Lévi-Strauss (vgl. auch Kapitel 2.3.2) in seine Theorie einfließen. „Devereux meinte, dass jedes Individuum ein individuelles und ein kulturelles Unbewußtes oder ebenso zwei Psychen hat, die ‚obligat komplementär‘ sind und infolgedessen psychoanalytisch und daneben soziologisch beschreibbar sind. Das beschriebene Substrat wird vom Standpunkt des Forschers notwendigerweise verändert. Nathan geht davon aus, daß der Mensch lediglich eine ‚kulturelle‘ Psyche hat, die mit dem identisch wäre, was Freud in seiner Schrift Die Traumdeutung den psychischen Apparat nannte. Er leitet Kultur allein von der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit ab, wonach der Verlust oder die Beeinträchtigung der Sprache einem Autismus gleichkommt.“ (Reichmayr 2003a, S. 249, Hervorhebung i.O.)
Die Idee der Komplementarität führt Tobie Nathan zur Überlegung, auf welche Weise das Zusammenspiel zwischen Psyche und Kultur im Individuum zu verstehen sei, wobei beide Elemente als auf denselben Aspekt bezogen zu sehen seien. „Die Psyche, das Innenleben der Menschen kann sich nicht ohne das Hineinwachsen in eine Kultur, eine Sprache und die Mythen entwickeln. Umgekehrt ist die Kultur Ausdruck der Konflikte, die die Menschen, die sie leben, beschäftigen. Der Mensch ist im Grunde doppelt. Da ist einerseits sein Innenleben, mit dem er sich als sich selber empfindet, und da sind andererseits die Symbole, die ihm ermöglichen, seine Konflikte anderen mitzuteilen. Seine Kultur, das heißt seine Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, wird vom Einzelnen wie ein Doppelgänger seiner psychischen Natur erlebt. Der Mensch im Exil ist deshalb für Tobie Nathan wie derjenige, der seinen Doppelgänger, seinen Schatten verloren hat.“ (Saller 1995, S. 212f)
4.1 Die Entwicklung der Klinischen Ethnopsychoanalyse in Frankreich
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Ebenfalls Bezug nehmend auf Devereux’sche Annahmen geht er zudem davon aus, dass eine Gesellschaft die Art und Weise, wie ein Mitglied derselben psychisch auffällig wird, vorstrukturiert, unabhängig vom psychischen Konflikt an sich. „G. Devereux hat als erster darauf hingewiesen, daß es psychopathologische Modelle gibt, die sich als strukturiertes und vollständiges Symptomgefüge präsentieren, das eine Kultur ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt. Diese Symptomatologie erlaubt es, einen intrapsychischen Konflikt auszudrücken und eine Scheinlösung dafür zu entwickeln, ohne daß man deswegen gleich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.“ (Nathan 1979, S. 15)
Generell kann, so Nathan, die Ethnopsychiatrie (nicht nur im Rahmen interkulturellen Arbeitens) auch der genaueren Analyse der individuellen wie gesellschaftlich formierten Anteile der Gegenübertragung des/der TherapeutIn dienen. „Das Licht, das die Ethnopsychiatrie auf den klinischen Bereich wirft, ist somit nicht nur technischer Natur. Diese Wissenschaft lehrt den Therapeuten, wie grundlegend wichtig es ist, sich ein Bewußtsein von den gleichen kulturellen Vorbildern in seinem Innern zu bilden. Der Therapeut muß also dahin gelangen, die Manifestationen seiner eigenen gesellschaftlichen Gegenübertragung ebenso zu beherrschen, wie er dies im Hinblick auf seine individuelle Gegenübertragung gelernt hat.“ (ebd., S. 17)
Auf der Basis dieser theoretischen Bezugspunkte konzeptualisiert Nathan ein psychotherapeutisches Gruppen-Setting, das unter Einbezug eines multiethnischen/multikulturellen Teams, von DolmetscherInnen und von Elementen aus sogenannten traditionellen Heilmethoden den kulturellen Aspekt betont. Dieses spezifische ethnopsychoanalytische/ethnopsychiatrische Setting soll einen Raum schaffen, den Nathan zwischen privatem und öffentlichem Rahmen ansiedelt. Dieser Zwischen-Raum soll sowohl die Begegnung von Menschen mit verschiedenen Migrationserfahrungen ermöglichen als auch verschiedenen Modellen der „Krankheits“-Ätiologie Platz geben. Einem Gedanken von Lévi-Strauss folgend, der die Psychoanalyse als moderne Version schamanischer Technik versteht, wertet Nathan die verschiedenen Krankheitsmodelle als gleichwertig (vgl. Saller 1995). Da Nathan sich in seiner Vorstellung von Kultur ebenfalls eng an Lévi-Strauss anschließt, versteht er diese als diejenige, die „eine Struktur von Tauschbewegungen zwischen den Menschen bildet“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 292). Sowohl im Falle einer psychischen Störung als auch infolge einer Migration seien diese Austauschprozesse gestört bzw. unterbrochen. Aufgabe psychotherapeutischen Vorgehens sei es, diese Austauschprozesse, die vornehmlich über Sprache vermittelt würden, im intermedi-
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ären Raum wieder herzustellen. Es bestehe „[e]ine Grundtendenz der [i.S. Nathans, Anmerkung K.H.] metakulturellen Psychotherapie [...] darin, zwischen den beiden anwesenden Kulturen mit ihren unterschiedlichen ‚ätiologischen Theorien‘, zwischen der Kultur des Psychoanalytikers und jener des Patienten, einen ‚intermediären’ Raum auszuhandeln, der ein Embryo einer gemeinsamen Kultur ist. Die Formulierungen des Therapeuten in seinen Deutungen sind obligat schillernd und mehrdeutig, da sie stets einen Platz als psychodynamische Interpretation im Rahmen der ‚ätiologischen Theorie‘ der Psychoanalyse haben müssen als auch eine Bedeutung im Rahmen der kulturspezifischen ‚ätiologischen Theorie‘ des Patienten. Jedes Element des therapeutischen Prozesses muß in beiden kulturellen Bezugsrahmen seine Bedeutung finden“ (Benz zit. in Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 292). Das Werk Tobie Nathans wurde im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert (vgl. Saller 1995) und wird insgesamt kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite werden seine Kreativität und Experimentierfreude wertgeschätzt, mit denen er sich um neue therapeutische Zugänge in der ethnopsychoanalytischen Therapie bemüht. „Er verlässt den gesicherten Raum des psychoanalytischen Settings (und der Theorie) und experimentiert mit Techniken, die mitteleuropäisch geschulten TherapeutInnen zumindest ungewohnt, wenn nicht gar verdächtig vorkommen müssen.“ (ebd., S. 217)
Sicherlich ist auch die Relativierung der psychoanalytischen Theorie als universelles Erklärungssystem entgegen einer kolonisierenden Praxis des „Worlding“ (vgl. Kap. 2.5) als ein positiv zu wertender Aspekt seiner theoretischen Zugangsweise zu sehen, andererseits mutet sein Vorgehen immer wieder exotisierend an. So haben ihm die starke Bezugnahme auf sogenannte traditionelle Heilverfahren und die Verwendung magischer Mittel in seinem späteren Vorgehen den Vorwurf des Scharlatans und Kulturalisten eingebracht (vgl. Saller 1995 & Sturm 2001). Sein statischer Kulturbegriff, „der die Patienten auf eine ihnen zugeschriebene Kultur“ (i.e. in der Regel ihre „Herkunftskultur“) reduziere, wobei zur gleichen Zeit „ihre soziale Realität, in der sie leben, ausgeklammert würde [...]“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 293), trug ihm ebenfalls Kritik ein. Problematisch ist vor dem Hintergrund der Cultural Studies Nathans Annahme, „daß jeder Mensch über eine Kernpersönlichkeit verfüge, die von einer bestimmten Kultur geprägt sei“ (Saller 1995, S. 219, Hervorhebung i.O.), eine Annahme, die in der Praxis ethnisierend wirkt. Diese Annahme wird weder einem Modell der (täglichen) Aushandlung und Konstruktion kultureller Identität noch der multikulturellen Realität von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen gerecht. Erst recht kann dieses Konzept meines Erach-
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tens keine befriedigende Antwort auf die Identitätsbildung von Kindern aus bikulturellen Familien oder Menschen mit Migrationshintergrund zweiter und weiterer Generation geben. Marie Rose Moro, 1961 in Spanien geboren und in Frankreich aufgewachsen, war langjährige Kollegin Nathans und entwickelte mit Bezug zu ihrer Arbeit im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich an der Université Paris 13 den Ansatz der Eltern-Kind-Ethnopsychoanalyse. Sie wurde zur Kinder- und Jugendpsychiaterin, Psychologin und Psychotherapeutin ausgebildet. Neben der ethnopsychoanalytischen Behandlung von Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund legt sie in ihren Veröffentlichungen den Schwerpunkt auf die psychischen Probleme der sogenannten zweiten Generation von MigrantInnen (vgl. Sturm 2001 & 2003). Als wichtigste Arbeiten, in denen sie ihre Konzepte darlegt, veröffentlichte Moro Parents en Exil (1994), Psychiatrie transculturelle des enfants des migrants (1998) und Maternités en exil (2008, Hg. gemeinsam mit Neuman & Réal). Moros Vorgehen baut ebenso wie das Nathans auf dem komplementaristischen Ansatz von Devereux auf. Moro bezieht Erfahrungen aus der langjährigen Arbeit mit Nathan in ihre Konzepte der ethnopsychoanalytischen Therapie mit ein, sie „vertritt aber gleichzeitig einen Ansatz, der sich sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene deutlich von denjenigen Nathans unterscheidet. Sie versucht, die Einbindung der MigrantInnen in kulturelle Zusammenhänge jenseits des Gastlandes aufzugreifen, ohne dabei ihr Erleben auf einen unterstellten kulturellen Hintergrund zu reduzieren“ (Sturm 2001, S. 220). Generell geht Moro davon aus, die Grundstruktur der menschlichen Psyche sei universal, die psychischen Mechanismen jedoch seien herauszufinden und nicht als etwas Gegebenes vorauszusetzen. Aus diesem Grunde müsse „in einer therapeutischen Begegnung zunächst versucht werden, die spezifischen kulturellen Kontexte zu verstehen, die für eine PatientIn von Bedeutung sind. Erst über das Verständnis der spezifischen Denkweisen, Normalitätsvorstellungen und Handlungsschemata, auf die sich die PatientIn bezieht, wird ein Zugang zu ihren innerpsychischen Prozessen möglich“ (ebd., S. 221). Ausgangspunkt für Moros Überlegungen war ihre Erfahrung, wie bedeutsam kulturell geprägte Vorstellungen bezüglich der Entwicklung und Pflege des Kindes für die Eltern-KindInteraktion seien. „Die Art, wie man sich die Natur des Kindes vorstellt, seine Bedürfnisse, seine Erwartungen, seine Krankheiten, die Pflegevorschriften, all das ist weitgehend bestimmt durch die Gesellschaft, der man angehört.“ (Moro 1999, S. 150)
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4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
Innerhalb dieser gesellschaftlich/kulturell bedingten Vorstellungen ließen sich drei Aspekte unterscheiden. Erstens die ontologischen Vorstellungen, die prägend für den gesamten Diskurs der Familie bezüglich des Kindes seien. „Es handelt sich um die Vorstellungen, die die Eltern vom Kind haben: von seiner Natur, seiner Identität, seinem Ursprung, der Art und Weise seiner Entwicklung und seiner Bindung an die Familie.“ (ebd. S. 152)
Zweitens die ätiologischen Theorien, „die das biologische, beziehungsmäßige und sogar soziale Dysfunktionieren erklären [...]. Diese ätiologischen Theorien versuchen, der Unordnung, die das Kind, die Mutter, die Eltern-Kind-Beziehung betrifft, einen kulturellen Sinn zu geben. Sie sind Teil eines Korpus von Theorien, der erlaubt, die Ursachen und einen kulturell repräsentierbaren Sinn zu bestimmen“ (ebd.). Drittens die Vorstellung der Familie über die vorzunehmenden kurativen Handlungen. „Eine therapeutische Handlung, die auf den bezeichneten Ebenen beruht, kann nur von einer Person durchgeführt werden, die kulturell dazu bestimmt ist, Sinn zu geben: zum Beispiel ein Heiler, eine Matrone, fromme Männer und andere.“ (ebd. S. 153)
Erschwerend komme der verringerte, wenn nicht gar verhinderte Zugang von Müttern zu den familiär vermittelten Praktiken des Aufziehens von Kindern durch die meist isolierte Lebenssituation nach der Migration hinzu. Ein Aspekt, der neben den kulturell bedingten Faktoren in die Therapie mit MigrantInnen und deren Kindern Eingang finden müsse, sei die spezifische Vulnerabilität von Migrantenkindern. „Sie gehören einer Gruppe mit spezifischen Risiken an. Das erste Vulnerabilitätsmoment dieser Kinder ist die postnatale Phase, wo das Kind und die Mutter sich aneinander anpassen müssen. Die Schwierigkeiten zeigen sich zuerst in disharmonischen Interaktionen zwischen Mutter und Kind und in psychosomatischen Erkrankungen des Kindes. Die zweite kritische Periode findet sich in der Zeitspanne des Erlernens der Kulturfertigkeiten in der Schule: Rechnen, Lesen und Schreiben. In dieser Zeit schreibt sich das Kind in die Aufnahmegesellschaft ein. Die dritte Periode der Vulnerabilität ist unbestrittenerweise die Adoleszenz, in der sich die Fragen der Abstammung und Zugehörigkeiten von neuem stellen.“ (ebd. S. 158)
Moro wertet das Aufwachsen vor einem Migrationshintergund prinzipiell als Risikofaktor, da es zwangsläufig zu einer Art „Ich-Spaltung (Spaltung im phänomenologischen Sinn des Wortes)“ (ebd. S. 159) führe. Diese ergebe sich aus dem Prinzip der Komplementarität, also der „Entsprechung zwischen dem äuße-
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ren kulturellen Rahmen und dem inneren psychischen Rahmen“ [...] und der „Existenz einer durch das Individuum gelebten Kultur“ (ebd.). Moro folgert aus diesen Vorannahmen, dass das Kind einerseits psychisch, andererseits kulturell strukturiert werde. „Das Kind erhält gleichzeitig seine psychische Strukturierung – das ‚ich‘ – und seine kulturelle Strukturierung – ‚ich bin Bambara‘. Diese kulturelle Strukturierung entsteht unabhängig von der psychischen Strukturierung, aber sie unterhält mit jener homologe Bezüge, so wie das psychische Leben homologe Bezüge zur Kultur aufweist. Die Verbindung von psychischen und kulturellen Elementen wird in der Kindheit geformt, aber sie bleibt dank der homöostatischen, permanenten Austauschbeziehungen zwischen dem Individuum und seiner kulturellen Umwelt das Leben lang lebendig und funktionell.“ (ebd.)
Da das Kind mit Migrationshintergrund sich kulturell zweifach verankern müsse (z.B. als „Bambara“ und „FranzösIn“), sei diese Strukturierung nicht homogen und folglich fragil. Notwendigerweise müsse es zwischen der kulturellen Welt der Familie, „der Welt der Gefühle“ (ebd.) und der kulturellen Welt außerhalb der Familie eine Spaltung herstellen, wobei diese in der Regel von Prozessen der Verleugnung begleitet sei. Als weiterer Faktor für die gesteigerte Vulnerabilität sei das elterliche Migrationstrauma zu nennen, das bei den Eltern manchmal psychopathologische Prozesse auslöse, die sich negativ auf die Kinder auswirkten. Die neuesten Ergebnisse der Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS) weisen jedoch darauf hin, dass die Annahme einer erhöhten psychischen Vulnerabilität von Migrantenkindern deutlich differenzierter gesehen werden muss. Zwar weisen Kinder mit ein- oder beidseitigem Migrationshintergrund einen höheren Prozentsatz an psychischen Erkrankungen auf als Kinder von NichtMigrantInnen, dies ist jedoch vor allem im Zusammenhang mit dem im Schnitt niedrigeren sozioökonomischen Status der Migrationsfamilien zu sehen, denn als wichtigstes Ergebnis der KiGGS wird die Tatsache gewertet, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien in allen Bereichen von Gesundheit und Lebensqualität schlechtere Werte aufweisen als Kinder aus besser situierten Familien (vgl. http://kinderaerzte-lippe.de/kiggsmigranten.htm, letzter Zugriff: 13.1.2010). Neben den Risikofaktoren, so räumt allerdings auch Moro ein, gebe es zudem protektive Faktoren, die einem Teil der Kinder mit Migrationshintergrund eine gute Entwicklung ermöglichten. Kann eine entstehende Problematik in einer Familie mit Migrationshintergrund nicht mit den gängigen Behandlungskonzepten behandelt werden, sieht Moro die Indikation für den Einsatz ihrer speziell entwickelten ethnopsychiatrischen Eltern-Kind-Konsultation gegeben. Die Familie und das Kind können hier
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in verschiedenen, sehr variablen und individuell angepassten Settings behandelt werden, die von einer großen Gruppe mit HaupttherapeutIn und CoTherapeutInnen, ÜbersetzerIn, verschiedenen Verwandten und sonstigen bedeutsamen Personen und Angehörigen vermittelnder Institutionen bis hin zu einem Einzelsetting reichen können. Die professionellen TeilnehmerInnen der Großgruppe verfügen in der Regel über verschiedene kulturelle Hintergründe und sprechen mehrere Sprachen, möglichst auch aus dem Kulturkreis der KlientInnen (vgl. ebd.). Dieses Setting, von Moro als „komplementaristisches, eklektisches Dispositiv“ (ebd. S. 162) bezeichnet, hat die Aufgabe, „dass die Aufarbeitung gleichzeitig, oder sukzessiv, ‚auf verschiedenen Ebenen‘ verläuft: die kulturelle und idiosynkratische Ebene, die Ebene des Anderen und des Gleichen, der Raum der Intimität und – wenn es nötig ist – derjenige der Verbindung mit der Öffentlichkeit: Schule, Justiz, Quartier. Deshalb empfangen wir normalerweise zuerst einmal die Familie als Ganzes. Danach können sich die verschiedensten Kombinationen ergeben, die Eltern allein, das Kind allein, die Geschwister zusammen, aber ohne Eltern, die Kinder mit anderen Mitgliedern der Familie“ (ebd. S. 163). Neben den üblichen Funktionen des holdings finde in dieser spezifischen Form der Großgruppe auch das statt, was Sturm (2002, S. 43) als „Ko-Konstruktion kultureller Repräsentationen in transkulturellen Psychotherapien“ bezeichnet. JedeR der TherapeutInnen kann im Rahmen der Konsultation entsprechend des assoziativen Gedankenganges des/ der PatientIn „um eine kulturelle oder idiosynkratische Vorstellung zu geben, um eine Analogie zu machen oder eine Deutung vorzuschlagen, die für den Patienten annehmbar ist. Am Ende der Sitzung macht der Haupttherapeut einen therapeutischen Vorschlag, indem er sich diesmal direkt an den Klienten wendet. Der Therapeut schlägt Verbindungen zwischen den verschiedenen evozierten Vorstellungen vor, macht eine Deutung oder erwähnt die Verbindungsmechanismen direkt oder in Form eines Bildes“ (Moro 1999, S. 168). Eine bedeutsame Voraussetzung für das Funktionieren diese Vorgehens sieht Moro allerdings in der Fähigkeit des/der TherapeutIn zur Dezentrierung, also der Fähigkeit, sich von den eigenen kulturell geprägten Vorstellungen über Normalität und Abweichung distanzieren zu können (vgl. Moro 1999, Sturm 2001 & Reichmayr 2003a & 2003b). Marie Moro geht prinzipiell von einem Modell von Migration als Risikofaktor bezüglich psychischer Gesundheit aus, das in seiner Absolutheit fragwürdig ist. Das Risiko folgert sie aus der impliziten Annahme von Identität als etwas, das optimalerweise homogen strukturiert sei, um stabil zu bleiben, wobei sie eine notwendige Mehrfachverortung (z.B. als Mann und Vater und Arbeitnehmer etc.) und Konstruktion der Identität in der Postmoderne, die nicht nur ris-
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kant ist, sondern auch viele Freiheitsgrade ermöglicht, außer Acht lässt (vgl. Kap. 2.4). Wie deutlich wurde, geht es in Moros interkultureller Praxis allerdings nicht um die Zuschreibung, sondern um die, wie es Gesine Sturm darstellt, „dialogische Konstruktion und Re-Interpretation kultureller Repräsentationen“ (dies. 2002, S. 45). Ohne von Moro explizit so benannt zu werden, zieht Sturm an dieser Stelle eine Analogie zum Kulturbegriff, wie er in den Cultural Studies (vgl. Kap. 2.3.2) verwendet wird. Sie bezieht sich auf das Kulturkonzept von Stuart Hall und versteht „Kultur als Repräsentationssystem [...], in dem die Bedeutung einer Repräsentation nie eindeutig festgelegt ist. [...] Die Verständigung von zwei Menschen besteht daher immer in einer komplexen Übersetzungsleistung, in der die Aussagen des Gegenübers in – meist ähnliche, aber nicht gleiche – Repräsentationen umgewandelt und entsprechend interpretiert werden“ (Sturm 2002, S. 44f). Wenn Gesine Sturm Hall hier auch etwas verkürzt rezipiert (z.B. werden machtstruktrelle Aspekte in der diskursiven Verhandlung über diese Repräsentationssysteme, die auch in therapeutischen Settings vorzufinden sind, nicht thematisiert), wird doch deutlich, wie hilfreich dieser Kulturbegriff für die interkulturelle therapeutische Praxis sein kann. Aus den Texten Moros lässt es sich jedoch nicht eindeutig beantworten, ob ihr Verständnis von Kultur dem der Cultural Studies entspricht, da aus ihren Arbeiten nicht zu entnehmen ist, an welchen Stellen sie sich von Devereux’ teilweise essentialistischen, ethnozentrischen und rassistischen Annahmen in Bezug auf Kultur (vgl. Kap. 3.3.2) distanziert. Johannes Reichmayr (vgl. 2003a) übt in anderer Hinsicht Kritik an der Bezugnahme auf Devereux’sche Therorie in den Konzepten Moros und Nathans. Das Prinzip der Komplementarität, auf dessen Grundlage sie die Psyche in einen idiosynkratischen und einen kulturellen Teil aufspalten, entspreche dem kartesianischen Denken, der prinzipiellen Trennung von Geist und Körper. „Das vernünftige, kognitive, verbale Denken ist dabei prinzipiell getrennt von den Affekten bzw. von allem, was die Psychoanalyse unbewußt nennt. Die Freudsche Psychoanalyse geht von einem Konfliktmodell aus, wobei das Verdrängte ein Ergebnis zwischen bewußten und unbewußten Tendenzen ist. Ein entsprechender Konflikt in der französischen ethnopsychoanalytischen Tradition kann entstehen, wenn sich das Subjekt aus seiner ursprünglichen Kultur entfernt (Trennung Natur / Kultur).“ (ebd. S. 251f)
Dennoch sorgten vor allem die teilweise provokanten Arbeiten Nathans in Frankreich für eine Auseinandersetzung mit wichtigen Aspekten in Bezug auf interkulturelles psychotherapeutisches Arbeiten.
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4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
4.2 Die Entwicklung der interkulturellen psychoanalytischen Therapie im deutschsprachigen Raum Anders als in Frankreich haben sich im deutschsprachigen Raum keine eigenen „Schulen“ interkultureller psychoanalytischer Therapie herausgebildet. Der Begriff an sich, auf den ich mich in dieser Arbeit ebenfalls beziehe, geht auf den Titel der von Peter Möhring und Roland Apsel 1995 herausgegebenen Aufsatzsammlung Interkulturelle Psychoanalytische Therapie zurück, die sowohl Aspekte und Fragen aus der Theorie wie aus der Praxis berücksichtigt (vgl. auch Reichmayr 2003a). Die Autoren halten in ihrem Vorwort ein Plädoyer für die Verbindung von Psychoanalyse und interkultureller therapeutischer Praxis: „Die Psychoanalyse kann zu der Entwicklung interkultureller Psychotherapie Wichtiges beitragen, denn sie verfügt, besonders unter Einbeziehung der Ethnopsychoanalyse, über die theoretische Breite, die eine angemessene Würdigung der Bedeutung der Kultur für die Persönlichkeitsentwicklung in ihren bewußten und unbewußten Phasen erlaubt. Auch über die psychische Repräsentanz des Fremden, die für die interkulturelle Begegnung so zentral ist, kann die Psychoanalyse grundlegende Aussagen machen, indem die Erfahrung des Fremden zunächst entwicklungspsychologisch als grundsätzliche Erfahrung des befremdenden Anderen des anderen Geschlechts, sodann auch des eigenen ‚Fremden‘, des Unbewußten, definiert wird, um dann auf die Erfahrung mit fremden Kulturen und deren Angehörigen bezogen zu werden. So kann sie theoretische Einsichten für interkulturelle Begegnungen formulieren, die Personen in ihrer aktuellen Situation, ihrem kulturellen Kontext und dem Verhältnis von bewussten zu unbewussten psychischen Inhalten [erfassen].“ (Möhring & Apsel 1995, S. 7)
1999 erschien eine weitere bedeutsame Aufsatzsammlung mit dem Titel Kultur, Migration, Psychoanalyse: therapeutische Konsequenzen theoretischer Konzepte, die von Fernanda Pedrina, Vera Saller, Regula Weiss und Mirna Würgler herausgegeben wurde (vgl. auch Reichmayr 2003a). Dieser Sammelband wurde als Ergebnis einer über mehrere Semester andauernden Vortragsreihe am Psychoanalytischen Seminar Zürich herausgegeben, das somit seine ethnopsychoanalytische Tradition, wenn auch mit anderen Inhalten, fortsetzt. Der Band markiert die Hinwendung einiger „Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker [... zu] Problematiken und Fragestellungen, [...] die sich in der psychotherapeutischen Arbeit mit Migranten und Migrantenfamilien stellen“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 332). Anders als in Frankreich gab es im deutschsprachigen Raum bisher keine systematisierten Ansätze zur Thematik, vielmehr befindet sich dieser Bereich noch in der Phase des Sammelns und Zusammentragens verschiedener Aspekte aus Theorie und Empirie. Wichtige
4.3 Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Perspektiven in der Literatur
195
Hinweise auf die Art der Vermittlung des Wissens bezüglich interkulturellen psychoanalytischen Arbeitens und auf die Ausgestaltung des psychotherapeutischen Alltags innerhalb der interkulturellen Arbeit lassen sich im Empirieteil dieser Arbeit finden (vgl. Kap. 5). 4.3 Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Perspektiven in der Literatur Neben den beiden bereits angeführten Sammelbänden lassen sich in der Zwischenzeit einige Aufsätze und Bücher in verschiedenen Sprachen finden, die sich mit der praktischen Anwendung psychoanalytischer Konzepte im Rahmen der interkulturellen Therapiepraxis befassen. Die Literatur beleuchtet das Gebiet von verschiedenen Perspektiven aus und verdeutlicht den Facettenreichtum interkultureller psychoanalytischer Therapie und der mit ihr in der Praxis assoziierten Thematiken. Diese Perspektiven lassen sich schwerpunktartig zu folgenden Themenkreisen zusammenfassen, wobei diese Kategorisierung so wie jede ihrer Art an den Stellen artifiziell ist, an denen viele Arbeiten mehrere Themengebiete streifen. Dennoch habe ich versucht, die Beiträge anhand des behandelten Hauptthemas darzustellen, in einzelnen Fällen erschienen mir Mehrfachnennungen sinnvoll, woraus sich folgende Liste von Thematiken ergab:
Die Betonung der Migration/der Flucht/des Exils bzw. der innerpsychischen Prozesse und Problematiken, aber auch Chancen, die diese nach sich ziehen/ziehen können (z.B. Grinberg & Grinberg 1990, Felber-Villagra 1995, Bianchi Schaeffer 1996, Kohte-Meyer 1999, 2000a & 2000b, HovenBuchholz 2000, Adam, Walter & Romer 2000, Ardjomandi & Streeck 2002, Lazar 2002, Erdheim 2003, Cohen 2004, Kogan 2005, Akhtar 2007). Das Erfassen des Trauma-Aspektes, sei es durch Umstände vor der Migration/Flucht bedingt oder in Folge des migratorischen Prozesses (z.B. Herzog & O’Connell 2002, Lazar 2002, Steiner 2002, Endres 2005, Haluszczynski 2005, Tömmel 2005). Die Betonung der Fremdheit innerhalb der interkulturellen therapeutischen Beziehung oder auch des Fremdheits-Erlebens der MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft (z.B. Kristeva 1990, Möhring 1995, Forlani 1996, Loewenstein 1999, Cogoy 2001). Die Bedeutung der Muttersprache/Fremdsprache allgemein bzw. in ihrer Verwendung innerhalb des therapeutischen Settings (z.B. Theux-Bauer 1995 & 1996, Gerlach 1995, Weiss 1999, Cogoy 2001, Kogan 2005). Die Gestaltung und Besonderheiten der interkulturellen Therapiebeziehung (z.B. Kareem 1992, Thomas 1992, Maier 1995, Molinari 1995, ben Kalifa-
196
4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
Schor 1996 & 1998, Felber-Villagra 1996, Quindeau 1996, Michel 1999, Ninck Gbeassor, Schär Sall, Signer, Stutz & Wetli 1999, Pedrina 1999, 2001 & 2005, Wienand 1999, Möhring 2000, Cogoy 2001, Schär Sall 2001, Stutz 2001, Wetli 2001, Gerlach 2003, Kohte-Meyer 2003, Scheifele 2003, Hummel 2005, Trübel 2005, Utari-Witt 2005, Akhtar 2007). Die Frage nach der Universalität psychoanalytischer Konzepte (z.B. Kakar 1974, 1995, 1997, 1999 & 2002, Roland 1996, Adjormandi 2000). Die Bearbeitung bestimmter Begrifflichkeiten und Konzepte aus dem Bereich der interkulturellen psychoanalytischen Therapie (z.B. Möhring 1995, Saller 1995 & 1999, Moro 1999, Nathan 1999). Die Ausbildung und Bedeutung der kulturellen Identität im Kontext der Migration (z.B. Pedrina 1999, Muhs & Lieberz 2000, Rodewig & Fels 2000, Volkan 2002, Bründl J. 2005, Bürgin 2005, Tömmel 2005, Akhtar 2007). Die Bedeutung des psychosozialen Kontextes im Aufnahmeland und seine Auswirkung auf MigrantInnen bzw. auf die interkulturelle psychoanalytische Therapie (z.B. Zimmermann 1992, Apsel 1995, Kronsteiner 2002 & 2003). Die Aktualität der Auswirkungen des Holocaust, z.B. in Form transgenerationaler Weitergabe von Traumata (z.B. Fonagy 2002, Herzog & O’Connell 2002, Bründl P. 2005a, Hummel 2005). Die Darstellung einer „spezifischen“ Symptomatik bzw. typischer psychischer Problemkonstellationen bei MigrantInnen bzw. bestimmten ethnischen Subgruppen (z.B. Riedesser & von Klitzing 1986, Riedesser 1992, Modena 1995, Möhring 1995, Pedrina 1995, Adjormandi 2000 & 2003). Die Darstellung von Fallvignetten aus der interkulturellen psychoanalytischen Praxis (z.B. Leyer 1992, Abeken 2005).
Nach diesem Überblick über die Beiträge in der Literatur zur interkulturellen psychoanalytischen Therapie kommen wir nun zu Konzepten der praktischinstitutionellen Umsetzung derselben. 4.4 Beispiele interkultureller psychoanalytischer Konzepte in Institutionen der psychosozialen Versorgung von MigrantInnen Eine systematische Umsetzung von Konzepten der interkulturellen psychoanalytischen Arbeit mit MigrantInnen in entsprechenden Institutionen lässt sich punktuell finden, die Konzepte Moros und Nathans hierzu wurden bereits erläutert. Anhand zweier weiterer Beispiele, dem inzwischen geschlossenen Ethnolo-
4.4 Interkulturelle psychoanalytische Konzepte in Institutionen
197
gisch-Psychologischen Zentrum in Zürich und dem Nafsiyat Intercultural Therapy Centre in London, möchte ich Modelle darstellen, die das Spektrum der Möglichkeiten in diesem Feld verdeutlichen. Das Ethnologisch-Psychologische Zentrum (EPZ) in Zürich stellte eine Einrichtung dar, in der traumatisierte wie auch psychisch kranke Asylsuchende in einem besonderen, unter ethnopsychoanalytischen Gesichtspunkten gestalteten „,halbstationären‘“ (Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003, S. 388) Wohnkonzept betreut wurden. Finanziert wurde es von der Asyl-Organisation Zürich (vgl. Schär Sall 2001 & Schär Sall & Burtscher 2006). Geleitet wurde das EPZ von Heidi Schär Sall, die in ihrer Person die Professionen der Ethnologie, Psychologie/Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse verbindet (vgl. Reichmayr, Wagner, Ouederrou & Pletzer 2003 & Schär Sall & Burtscher 2006) und auf die Geschichte einer engen Verflechtung dieser Richtungen in Theorie und Praxis im Zürcher Raum hinweist (vgl. Saller, Würgler & Weiss 2008). „[D]as Team“, verstand sich weniger als eine Gruppe von PsychotherapeutInnen, sondern eher als EthnopsychologInnen, welche in einem bestimmten Kontext Feldarbeit leisten“ (Schär Sall 2002, S. 15).
Daniel Stutz (2002) führt verschiedene Punkte an, an denen die Arbeit mit Asylsuchenden im EPZ und ethnopsychoanalytische Feldforschung übereinstimmen:
Die Subjektivität des/der ForscherIn bzw. TherapeutIn dient als wichtiges Erkenntnisinstrument. Der/die ForscherIn/TherapeutIn versteht sich primär als Lernende, nicht als Wissende. Es wird eine Verbindung von Forschen und Heilen hergestellt, wobei in beiden Bereichen die Neugierde als treibende Kraft fungiert. Die Bedeutung des Kontextes, in welchem die Person lebt, wird betont.
Wenn sich das EPZ auch primär nicht als therapeutische Einrichung verstand, so bediente es sich neben ethnopsychoanalytischer auch psychoanalytischpsychotherapeutischer Konzepte bei der Gestaltung des Settings und der Betreuungspraxis, wie der holding-function des Teams und des Schaffens eines potential space im Sinne Winnicotts. Ebenso wurden ÜbertragungsGegenübertragungs-Prozesse beachtet (vgl. Ninck Gbeassor, Schär Sall, Signer, Stutz & Wetli 1999). Unter dem Vorwand der mangelnden Ökonomie wurde das EPZ in seiner besonderen Konzeptionalisiserung gegen den Widerstand der MitarbeiterInnen durch die Asyl-Organisation Zürich 2005 geschlossen (vgl. Schär Sall & Burtscher 2006).
198
4. Interkulturelle psychoanalytische Therapie als Anwendungsfeld der Ethnopsychoanalyse
Das Nafsiyat Intercultural Therapy Centre in London wurde 1983 von Jafar Kareem gegründet, um dem Mangel an Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Migrationshintergrund entgegenzutreten (vgl. Interview mit E. Arnold, P. Bartels-Ellis & S. Moorhouse vom 26.1.200117). Der Name ‚Nafsiyat‘ ist eine Komposition aus drei verschiedenen Silben der Wörter Geist, Körper und Seele, jedes davon übersetzt in eine andere alte Sprache, und steht als Sinnbild für ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen (vgl. Kareem 1994). Das Zentrum selbst definiert interkulturelle Therapie folgendermaßen: „Intercultural therapy is a form of dynamic psychotherapy that takes into account the whole being of the patient and also the patient’s communal life experience in the world both past and present. The very fact of being from another culture involves both conscious and unconscious assumptions, both in the patient and in the therapist. Intercultural therapy operates on the basis that for the successful outcome of therapy it is essential to address these conscious and unconscious assumptions from the beginning. [...] Intercultural psychotherapy and counselling recognizes the importance of internal realities of culture (beliefs, values, attitudes, religion and language) for both the therapist and patient. Recognising and working with the unconscious aspects of culture, the similarities and differences, in the therapy are considered vital for successful outcome of the therapy. Intercultural psychotherapy and counselling is sensitive to the external realities of the patient’s life (e.g. poverty, refugee status, racism, sexism, physical health and abilities).“ (http://www.nafsiyat. org.uk/therapy.htm#therapy1, letzter Zugriff am 22.6.2009)
Mit besonderer Sensibilität wird auch den Themen des strukturell/gesellschaftlich bedingten Machtgefälles zwischen TherapeutIn und PatientIn und dem historischen Kontext der interkulturellen therapeutischen Beziehung begegnet (vgl. Kareem 1994). Zudem ist das Zentrum in einer strukturschwachen Gegend angesiedelt, um dem meist unterprivilegierten Klientel den Zugang zu erleichtern. Die Arbeit findet sowohl als Einzel- und Gruppentherapie mit Kindern und Erwachsenen als auch als Paar- und Familientherapie statt und umfasst in der Regel Kurzzeittherapien. Nafsiyat bietet je nach Zusammensetzung und Qualifikation seiner TherapeutInnen Therapie in verschiedenen Sprachen an, um muttersprachliche Therapien ermöglichen zu können (vgl. Interview mit E. Arnold, P. Bartels-Ellis & S. Moorhouse vom 26.1.2001).
17
Im Rahmen meiner Diplomarbeit führte ich bereits mit drei Therapeutinnen von Nafsiyat (Elaine Arnold, Phillida Bartels-Ellis und Sharon Moorhouse) ein Interview zur Arbeit des Zentrums, aus dem hier sinngemäß Aussagen entnommen wurden.
4.4 Interkulturelle psychoanalytische Konzepte in Institutionen
199
Auch wenn die interkulturelle psychoanalytische Therapie ein relativ junger Bereich innerhalb der Psychoanalyse ist, so findet sie doch vor allem international, aber auch innerhalb des deutschsprachigen Raums immer mehr Beachtung. Dies spiegelt sich sowohl in einer vermehrten Thematisierung innerhalb der einschlägigen Literatur wider, als auch in einzelnen Einrichtungen, die sich konzeptionell der besseren psychosozialen Versorgung von MigrantInnen unter Verwendung (ethno-)psychoanalytischer Konzepte zugewandt haben. Dennoch bleibt die Frage offen, inwiefern die Beschäftigung mit Kultur und Interkulturalität in psychotherapeutisch-psychoanalytischen Praxen allgemein Einzug gehalten hat, und auch, wie sie innerhalb der entsprechenden psychoanalytischen Ausbildungsinstitute, die für die Arbeit in eben diesen Praxen vorbereiten, platziert ist. Mit den Antworten auf diese Fragen befasse ich mich in den folgenden Kapiteln.
5 Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
„Wer über Subjektivität gearbeitet hat, wird den unwiderstehlichen Drang kennen, der alles Subjektive erledigt.“ (Erdheim 1988, S. 62)
Ziel des mit Theorien befassten Teiles dieser Arbeit ist es, durch die Brille einer (post-) modernen Kulturtheorie, wie die der Cultural Studies, einen kritischen, aber dennoch würdigenden Blick auf die Art und Weise zu werfen, in der Kultur und/oder Interkulturalität im Rahmen der Psychoanalyse theoretisch gefasst wurden und werden. Es lässt sich dabei eine Linie von Freudscher Kulturtheorie über die Ethnopsychoanalyse bis hin zum Bereich der Weiterentwicklung und Anwendung von Konzepten zur interkulturellen psychoanalytischen Therapie nachzeichnen, die die Heterogenität und die Differenzierung dieses Feldes markiert. Die von mir konzeptionalisierte und durchgeführte empirische Forschung soll den Blick dem alltagspraktischen Handeln im Feld der interkulturellen psychoanalytischen Therapie zuwenden und die Vermittlung von spezifischem Wissen zu diesem Bereich beleuchten. 5.1 Fragestellung/en Der Überblick über die Literatur kann nur partiell beantworten, wie PraktikerInnen ihre alltägliche interkulturelle psychoanalytische Arbeit gestalten, welchen Fragen und In-Frage-Stellungen sie sich im Rahmen dieser Tätigkeit gegenübersehen und wie sie ihnen begegnen. Ebenso wenig wird durch die Literaturschau klar, ob und wie die psychoanalytischen Ausbildungsinstitute ihre KandidatInnen auf einen interkulturellen Arbeitsalltag vorbereiten, der der steigenden Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft und auch in den therapeutischen Praxen Rechnung trägt. Diesem Fragenkomplex möchte ich mittels meiner empirischen Untersuchung, deren Konzeption und Ergebnisse ich im Folgenden darstellen werde, nachgehen.
K. Hörter, Die Frage der Kultur, DOI 10.1007/978-3-531-93071-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
202
5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Innerhalb dieses Komplexes ergeben sich drei thematische Stränge, die allerdings untereinander verwoben sind: 1. 2. 3.
Erkenntnistheoretische Fragen bzw. Fragen zur Theoriebildung innerhalb der Psychoanalyse (wie z.B.: Sind psychoanalytische Konzepte „kulturell neutral“?) Institutionelle Aspekte bzgl. des Umgangs mit kultureller Differenz (z.B.: Was lernen KandidatInnen im Rahmen ihrer Ausbildungsinstitute zum Thema interkulturelle psychoanalytische Therapie?) Aspekte aus der interkulturellen psychoanalytischen Praxis (Welche Sichtweisen vertreten und welche Forderungen stellen PraktikerInnen, die verstärkt im Feld der interkulturellen psychoanalytischen Therapie tätig sind?)
5.2 Forschungsdesign und Methodik Ziel qualitativer Forschung ist es, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus der Sicht der handelnden Menschen heraus zu beschreiben. Damit will sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturen aufmerksam machen“ (Flick, von Kardorff & Steinke 2003, S. 14). Dabei ist eine empirische Untersuchung notwendigerweise nur ein Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit. Den von mir ausgewählten Ausschnitt repräsentieren neun InterviewpartnerInnen, die ich in ihrer SprecherInnenposition gleichsam als ExpertInnen für das von mir beforschte Feld verstehe (vgl. auch Hopf 2003) und deren „Fakten-“, aber auch „Ereigniswissen“ (Mayring 1996, S. 37) zum Thema ich erfassen wollte. Diese neun Interviewees entstammen drei Untergruppen à drei Personen, die die Heterogenität des Forschungsfeldes verdeutlichen und deren verschiedene Blickweisen das Forschungsfeld strukturieren. Es handelt sich bei ihnen um: 1. 2. 3.
AusbildungskandidatInnen mit eigenem Migrationshintergrund, die sich in einer psychoanalytischen/tiefenpsychologischen Ausbildung befinden („KandidatInnen“). Niedergelassene TherapeutInnen mit Migrationshintergrund („Niedergelassene“). Personen, die für die Strukturierung und Vermittlung von Ausbildungsinhalten innerhalb eines psychoanalytischen Institutes zuständig sind („AusbilderInnen“).
203
5.2 Forschungsdesign und Methodik
Die folgende Tabelle veranschaulicht noch einmal das Design, das Jahr der Interviewführung und die Zugehörigkeit zum entsprechenden psychoanalytischen Institut. Lediglich bei den AusbildungskandidatInnen wurde aus Gründen der möglichst weitgehenden Anonymisierung die Institutszugehörigkeit nicht genannt. Der zur Anonymisierung verwendete Alternativname enthält absichtlich keinen Hinweis zur kulturellen Verortung der Interviewees. AusbilderInnen
Niedergelassene
KandidatInnen
Frau Schreiber (2009) Institut A
Frau Jensen (2004) Institut C
Frau Sousa (2009)
Frau Szabó (2009) Institut B
Frau Zanolla (2004) Institut C
Frau Fischer (2009)
Herr Bernard (2004) Institut B
Frau Levine (2004) Institut B, dann C
Herr Günes (2009)
Kategorisierung der Interviewees
In der Stichprobe findet sich ein deutlich größerer Anteil an Frauen (zwei männliche vs. sieben weibliche Interviewees), was als Resultat der Bereitschaft zu einem Interview zu sehen ist. Da sich aus den Interviews erwartungsgemäß keine Hinweise auf einen geschlechtsspezifischen Einfluss in Bezug auf den Gegenstand ergaben, kann dieser Aspekt jedoch vernachlässigt werden. Der von mir zunächst gewählte „Feldzugang“ (Wolff 2003, S. 334) in Form der Anwerbung von InterviewpartnerInnen mittels nicht persönlich adressierter Aushänge in verschiedenen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten und mittels allgemein gehaltener E-Mails über entsprechende Verteiler schlug fehl. Da der/die ForscherIn im Forschungsfeld zunächst immer ein „Mensch ohne Geschichte“ (ders., S. 339, Hervorhebungen i.O.) ist, dessen theoriebezogene oder auch ideologische Verortung den ProtagonistInnen im Feld unklar und „dessen Loyalität zweifelhaft bleibt“ (ebd.), ist eine solche unpersönliche Kontaktaufnahme zu potentiellen InterviewpartnerInnen sicherlich nicht immer das günstigste Mittel, wobei sich der Bereich der Psychoanalyse eventuell als ein besonders sensibler erweist. Während meines Forschungsprozesses entstand bei mir immer wieder der Eindruck, dass es verstärkte Vorsicht von Seiten potentieller Interviewees gab, sich Außenstehenden (also Menschen, die sich nicht zumindest in einer psychoanalytischen Ausbildung befinden) zu öffnen, so dass ich teilweise den Hintergrund meiner Person (eine kundige „Freundin“ der Psychoanalyse) und auch mein Forschungsvorhaben, bis hin zu den einzelnen Fragen(bereichen), sehr genau darstellen musste, um eine Öffnungsbereitschaft zu fördern. Diese sicherlich legitime Skepsis könnte aus der in der Geschichte der
204
5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Psychoanalyse immer wieder gemachten Erfahrung stammen, mittels unsachgemäßer Kritik marginalisiert zu werden. Da die offene Anwerbung fehlschlug, nutzte ich persönliche Kontakte ins Feld, wobei sich eine der Interviewees (Frau Jensen) als besonders vertrauenswürdige und wichtige „Schlüsselperson“ (Flick, von Kardorff & Steinke 2003, S. 14) für andere potentielle InterviewpartnerInnen im Forschungsfeld erwies und sie einige Interview-Kontakte vermittelte. Alle Interviews wurden im Großraum München mit VertreterInnen dreier großer Institute geführt. Der Versuch, eine Vergleichsgruppe in Berlin anzuwerben, gelang nicht, vermutlich aus den oben bereits genannten Gründen. Mit den Interviewees führte ich ein jeweils ca. 40- bis 60-minütiges, problemzentriertes, semi-strukturiertes Interview durch. Das Problemzentrierte Interview (PZI) „ist ein theorie-generierendes Verfahren, das den vermeintlichen Gegensatz zwischen Theoriegeleitetheit und Offenheit dadurch aufzuheben versucht, dass der Anwender seinen Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel organisiert“ (Witzel 2000). Es ermöglicht, das Interview auf den Interessensbereich einzugrenzen und es dennoch für neue Aspekte offen zu halten, die im Leitfaden nicht erfasst werden, indem es „die angeregten Narrationen durch Dialoge ergänzt“ (ebd.). Diese Dialoge, die sich während des laufenden Interviews ergeben können, werden mittels entsprechender Ad-hocFragen vertieft. So kann den persönlichen Sinnstrukturen der InterviewpartnerInnen, zumindest teilweise, Raum gegeben werden (vgl. auch Mayring 1996). Das PZI bezieht sich theoretisch auf die Grounded Theory (vgl. Glaser & Strauss 1998, i.O. 1967), die „eine gegenstandsverankerte Theorie [ist], die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das untersuchte Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt. Folglich stehen Datensammlung, Analyse und die Theorie in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Am Anfang steht nicht die Theorie, die anschließend bewiesen werden soll. Am Anfang steht vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozeß herausstellen“ (Strauss & Corbin 1996, S.7f). Die Interviewleitfäden entwickelte ich anhand der von mir bereits im Vorfeld der Untersuchung erfassten Fragestellungen, wobei ich diese entsprechend der jeweils anderen Positionierung der einzelnen interviewten Subgruppen im Feld modifizierte, ohne jedoch die drei großen Fragen-Stränge zu vernachlässigen. Von den Interviews wurden Verbatim-Protokolle erstellt, aus denen im Folgenden Zitate unter Angabe der Zeilennummer im Transkript entnommen werden. Diese Zitate wurden teilweise zur Anpassung an die Schriftsprache etwas verändert übernommen, ohne jedoch deren Sinn zu entstellen. Das jewei-
5.2 Forschungsdesign und Methodik
205
lige Interview wurde durch ein Postscript zur Interviewsituation und zu eventuellen Besonderheiten ergänzt. Häufig als Manko qualitativer Forschung bezeichnet werden „die Interaktionsprozesse im Interview zwischen Forschenden und Beforschten“ (Jensen & Welzer 2003). Entsprechend der Annahmen des Symbolischen Interaktionismus (z.B. Blumer 1969) „sind Bedeutungen [...] ‚soziale Produkte‘, die im ständigen Wechsel zwischen Definition der Situation und Handeln geschaffen“ (Abels 2004, S. 44f) und auch interpretiert werden. Folglich sind die Äußerungen der Interviewees als Ergebnis eines wechselseitigen kommunikativen Prozesses mit mir als Interviewerin zu verstehen, wobei immer wieder deutlich wird, dass die Vorstellung von dem, wer ich bin und welche Erwartungen ich habe, ihre Antworten prägt und umgekehrt (vgl. Jensen& Welzer 2003 & auch Jaeggi & Faas 1993). Hohl (http://www.psy.uni-muenchen.de/sps-rs/Texte/mainColumnParagraphs/0111/document/hohl.pdf, letzter Zugriff: 22.10.2009) geht sogar so weit zu sagen: „Das eigentliche Erhebungsinstrument beim qualitativen Interview ist der Interviewer selbst.“
Zudem verändert der Forschungsprozess an sich sowohl „de[n] Forscher als auch sein[en] Gegenstand“ (Mayring 1996, S. 19). So werden z.B. bereits durch bestimmte Schlagwörter (Kultur/Migration/Interkulturalität), die der Interviewleitfaden induziert, bestimmte diskursive Felder eröffnet und andere ausgeschlossen. Dennoch verstehe ich, wie auch Jensen & Welzer (2003), diese interaktiven Prozesse während bzw. um das Interview herum nicht als „Verunreinigung“ des Datenmaterials, sondern schließe mich ihrem Plädoyer an, diesen Umstand mittels eines reflexiven Umgangs damit als notwendige Erkenntnisquelle für den Forschungsgegenstand zu nutzen. Schließlich können wir sowohl im Alltag als auch im Forschungsprozess nicht anders, als Bedeutungen in Bezug auf unsere Welt sozial herzustellen, zu interpretieren und uns auf der Grundlage dieser Bedeutungsmuster zu verhalten bzw. zu handeln (vgl. Blumer 1969). Ziel der Auswertung ist das Erfassen von Inhalten, der inneren Erzähllogik der Interviews und des diskursiven Feldes, das durch sie eröffnet wird. Neben den durch den Leitfaden vorgegebenen Stichpunkten sollen auch die in ihm nicht enthaltenen Aspekte erfasst werden. So erfolgt die Interviewauswertung sowohl theoriegeleitet, indem die Stichworte, die der Leitfaden vorgegeben hatte, im Transkript/Text markiert werden, als auch induktiv durch die Erfassung von „neuen thematischen Aspekte[n] aus den Darstellungen der Interviewpartner“ (Witzel 2000, Abs. 19). Als Technik bietet hierbei die Qualitative Inhaltsanalyse bzw. die inhaltsanalytische Zusammenfassung sowohl die Mög-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
lichkeit der deduktiven, also vorab aus der Theorie abgeleiteten, als auch induktiven, also aus dem Interviewtext gewonnenen Bildung von Auswertungskategorien (vgl. Mayring 1996). Den ersten Schritt meines Auswertungsprozesses bildete das intensive, wiederholte Lesen von Interviews und Postscripts (vgl. Schmidt 2003), dem das satzweise Erfassen der Thematiken jedes einzelnen Interviews folgte. Aus diesen Thematiken bildete ich eine Stichwortliste, die der Definition der Kategorien zunächst anhand eines Interviews als Grundlage diente. Diese Kategorien wendete ich auf das jeweils folgende Interviewmaterial an und revidierte sie, wo notwendig, in einem zirkulären Prozess interviewübergreifend. Durch die Brille des so gewonnenen Kategorienrasters hindurch arbeitete ich das gesamte Material wiederholt durch, um es – strukturiert durch das Kategoriensystem – abschließend zu interpretieren (vgl. Mayring 1996). Die Interpretation der neun von mir geführten Interviews werde ich im Folgenden darstellen. 5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees Ziel meiner empirischen Forschung ist es, das Praxisfeld der interkulturellen psychoanalytischen Therapie von verschiedenen Blickwinkeln aus beschreiben und darstellen zu können. Aus diesem Grunde habe ich ein Design gewählt, das verschiedene Subgruppen im Feld als „SprecherInnen“ umfasst und so die Wahrnehmung des Gegenstandes durch relevante ProtagonistInnen darstellbar macht. Mittels der Untergruppen können sowohl persönliche Meinungen und Erfahrungen als auch institutionelle Aspekte bezüglich des Forschungsgegenstandes erfasst werden. Erwähnt sei an dieser Stelle noch einmal, dass ich den in der Praxis notwendigen Unterscheidungen zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologischer Psychotherapie nur bedingt folge, da sie für den Gegenstand dieser Arbeit nicht notwendig sind. 5.3.1 Die „Niedergelassenen“ Zur Gruppe der „Niedergelassenen“ zählen drei Psychoanalytikerinnen (Frau Zanolla, Frau Levine und Frau Jensen), die bereits seit einiger Zeit in eigener psychotherapeutischer/psychoanalytischer Praxis arbeiten und selbst über einen Migrationshintergrund im engen Sinne, also eigene Migrationserfahrung verfügen.
5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees
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Die spezifische Perspektive der Niedergelassenen in Bezug auf das Forschungsfeld, so meine Vorannahme, sei geprägt durch eben dieses Wissen um Migration und ihre Bedeutung, durch mögliche Differenzerfahrungen während der psychoanalytischen Ausbildung, aber auch im (Arbeits-)Alltag, und einen tiefen Einblick in das Feld interkulturellen psychoanalytischen Arbeitens, da sie alle drei vermehrt mit MigrantInnen arbeiten. Aufgrund ihres eigenen Migrationshintergrundes befinden sie sich selbst strukturell stets in einer interkulturellen Situation. Frau Levine migrierte als Jugendliche aus einem lateinamerikanischen Land (X) nach Deutschland. Aufgrund ihrer Familienbiographie und ihrer Lebensumstände versteht sie sich als kulturell mehrfach verankert (deutsch, englisch und x). Diese hybride kulturelle Identität (vgl. Kap. 2.4) erlebte sie erst in Folge ihrer Migration in das von ihr als sehr homogen wahrgenommene Deutschland als problematisch. „[...] in X war das nicht so ein Problem, weil das eine sehr multikulturelle Gesellschaft war, bin ich sozusagen nicht so aufgefallen. Alle sind da so ein komisches Gemisch. Und als ich dann nach Deutschland kam, war das eine sehr schwierige Geschichte, das war für mich ein richtiges Trauma hierher zu kommen [...]. Und da wurde ich halt mit einem Problem konfrontiert, das vorher nicht so ein Problem für mich war.“ (Z. 28–33)
Nach ihrem Studium der Psychologie in Deutschland absolvierte sie einen Teil ihrer psychoanalytischen Ausbildung in Institut B, wechselte dann aus pragmatischen (die Anforderungen und die Strukturierung der Ausbildung), aber auch aus inhaltlichen Gründen zur weiteren Ausbildung zu Institut C. „Ein anderer Aspekt war, dass ich, also ich bin verheiratet mit einem Juden, und das Jüdische ist irgendwie doch immer wichtiger geworden, und ich habe gemerkt, bei C gibt es viele jüdische Analytiker und das hat mich einfach angesprochen. Und bei B gibt es auch zwei jüdische, ich weiß es nicht mehr genau. Ich hatte das Gefühl, [...] dass es dort [im Institut B, Anm. K.H.] nicht so präsent ist.“ (Z. 89–93)
Frau Levine arbeitet seit mehreren Jahren in ihrer Praxis mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Da sie zur sehr geringen Anzahl von PsychotherapeutInnen in München gehört, die die Landessprache von X sprechen, ist die Zahl der Menschen, die bei ihr therapeutische Hilfe suchen, entsprechend groß. Der Anteil an PatientInnen mit Migrationshintergrund in ihrer Praxis beträgt ca. 75%, wobei sie diese Zusammensetzung gezielt gestaltet.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
„Wobei ich –, also das mache ich ganz bewusst. Ich könnte die Praxis füllen nur mit migrierten Patienten. Aber ab und zu will ich auch mal einen Deutschen. (lacht)“ (Z. 321ff)
Frau Zanolla flüchtete Ende der 60er Jahre aus einem Land des ehemaligen Ostblocks (Y) nach Deutschland. Ihre kulturelle Identität erlebt sie, ebenso wie Frau Levine, als nicht homogen und aufgrund ihrer spezifischen Konstellation auch als leidvoll. „[...] weil ich in einer kulturgemischten Familie aufgewachsen bin. In einer Familie, wo zwei verfeindete, also Vertreter von zwei verfeindeten Völkern waren, und worunter ich schon immer als Kind sehr gelitten habe und immer bemüht war, zu integrieren, aber immer das Gefühl hatte, ich verrate dann den einen oder den anderen.“ (Z. 14–18)
Zudem hat Frau Zanolla jüdische Wurzeln. Im Grundberuf ist sie Psychologin und absolvierte ihre Ausbildung im Institut C. Seit einigen Jahren praktiziert sie als Psychoanalytikerin bzw. Psychotherapeutin für Erwachsene. Zusätzlich arbeitet sie innerhalb ihres Ausbildungsinstitutes mit Frau Jensen in einem Arbeitskreis zusammen, der sich vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Sichtweise mit dem Thema der interkulturellen Therapie bzw. Migration befasst. In ihrer Praxis haben ca. ein Drittel ihrer PatientInnen einen Migrationshintergrund, was jedoch nicht das Ergebnis einer bewussten Planung, sondern eher der Zuschreibung als „Andersartiger“ (d.h. sich von der Mehrheitskultur unterscheidender) durch die entsprechenden PatientInnen ist Frau Zanolla: „Ich merke durch meinen Namen, also durch meinen fremden Namen, und inzwischen sicher durch Mundpropaganda, dass viele Patienten kommen, die sich selber schwer tun mit der Fremdheit.“ (Z. 252–254) [...] Interviewerin: „Wie hoch ist denn ungefähr der Anteil von Patienten mit Migrationshintergrund in Deiner Praxis? Frau Zanolla: „Ach, das ist inzwischen ein Drittel.“ Interviewerin: „Also auch von Dir gewollt oder forciert oder ergibt sich das so?“ Frau Zanolla: „Nein, das ergibt sich. Also, ich glaube, das ist so. Manche sagen, ich bin aufgrund von Ihrem Namen gekommen.“ (Z. 262–267)
Die dritte Interviewee aus der Gruppe der Niedergelassenen, Frau Jensen, migrierte aus dem asiatischen Raum (aus Z) nach Deutschland, um hier Medizin zu studieren. In den 80er Jahren absolvierte sie ihre psychoanalytische Ausbildung im Institut C. Heute arbeitet sie in ihrer Praxis mit Kindern, Jugendlichen
5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees
209
und Erwachsenen, wobei, nach ihren eigenen Angaben, von ihr bewusst gesteuert ca. ein Drittel ihrer PatientInnen über einen Migrationshintergrund verfügen. „Also ich schaue, dass ich fünf ausl-, in Anführungszeichen fünf ausländische Patienten [habe]. Ich habe zurzeit eine Philippinin, zwei Vietnamesinnen, einen Marokkaner, und dann noch ein Misch-, ein Mischlingskind und ein indischer Junge. Sind sechs jetzt. Ah ja, und meine Perserin. Manche kommen zweimal, die eine kommt dreimal sogar. Aber auch bewusst eine richtige Bayerin (lacht), so. Also wo ich diese Aspekte ganz bewusst guck. Und ein gutes Drittel, wo es nicht so eine große Rolle spielt, normal nette deutsche Neurotiker. (lacht)“ (Z. 110–116)
Innerhalb ihres psychoanalytischen Instituts C hält sie „Migrationsseminare“ (Z. 124) und hat somit eine Position zwischen den Niedergelassenen und den AusbilderInnen inne. Da sie jedoch nicht für die generelle Strukturierung von Ausbildungsinhalten innerhalb ihres Institutes verantwortlich und sie somit nicht vornehmlich eine Vertreterin der Institution an sich ist, habe ich sie im Rahmen dieser Untersuchung in der Gruppe der Niedergelassenen verortet. Frau Jensen ist eine wichtige Schlüsselperson im Feld, da sie durch ihre Seminare viele Kontakte zu migrierten PsychoanalytikerInnen bzw. AusbildungskandidatInnen hat und als vertrauenswürdige Person gilt. Über sie konnten einige Kontakte zu Interviewees hergestellt werden. Herr Günes aus der Gruppe der AusbildungskandidatInnen bestätigte diese Position, indem er nach dem mit ihm geführten Interview äußerte, dass er dieses mit mir ohne die Vermittlung über Frau Jensen sicher nicht geführt hätte. Frau Jensen ist institutsübergreifend als „Migrationsspezialistin“ bekannt. Als gemeinsames Thema kristallisiert sich in der Gruppe der Niedergelassenen das Erleben der interkulturellen Arbeit als Ressource für die eigene Identitätsarbeit heraus. So wird der Umgang mit Menschen aus anderen kulturellen Kontexten als dem „rein deutschen“ als Möglichkeit erlebt, sich mit der eigenen hybriden Identität zu verorten und das eigene Fremdheitserleben zu verringern. Interviewerin: „Was würden Sie sagen, welche wichtigen Erkenntnisse ziehen Sie aus dem interkulturellen Arbeiten?“ Frau Levine: „Hm. Große Frage. Ich fang mal an mit den persönlichen Erkenntnissen, dass es für mich eine ganz große Befriedigung ist. Ich hab das Gefühl, seitdem ich so interkulturell arbeite, macht mir die Arbeit richtig Spaß. Weil ich irgendwie das Gefühl hab’, wenn man in verschiedenen Kulturen aufwächst, dass man doch verschiedene Identitäten hat und auch verschieden denkt, verschieden fühlt. Das ist fast so wie so eine multiple Persönlichkeit, man hat einfach verschiedene Seiten. Und durch das Arbeiten kann ich meine ganz verschiedenen Seiten leben, das ist einfach faszinierend. Ich hab das Gefühl, wenn ich manchmal mit einem Patienten
210
5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
aus X arbeite, das ist so, als würde ich in X sitzen. Also dann geht die Tür auf und dann merk ich erst, dass wir in Deutschland wieder sind.“ (Z. 337–347)
So kann Interkulturalität auch im Arbeitsalltag aktiv gelebt und gestaltet werden, wobei die Verankerung in den verschiedenen kulturell bedingten Werteund Normensystemen jedoch auch immer wieder Teil der eigenen Identitätsarbeit wird. „Und die [PatientInnen ohne Migrationshintergrund, Anm. K.H.] sind für mich wichtig, für meine eigene Ankerung immer wieder. Also ich drittele so ungefähr. Und das ist gut für mich, für mein eigenes Gleichgewicht. [...] Ja, ich brauche für mich, was das betrifft, immer wieder Verankerung. Sowohl sprachlich als auch, ja, auch von den Wertvorstellungen her. Dass sie sich nicht so verschieben oder so. Also das kann ich natürlich gut für mich selber gestalten.“ (Frau Jensen, Z. 116–122)
5.3.2 Die „AusbilderInnen“ Die Gruppe der AusbilderInnen wird durch drei weitere Personen vertreten, Frau Schreiber, Frau Szabó und Herr Bernard. Diese Subgruppe hat im Forschungsfeld verschiedene Funktionen inne. Ihre Mitglieder stellen einerseits ihre persönliche (fachliche) Meinung zum Thema dar, zum anderen äußern sie sich auch in ihrer Funktion als VertreterInnen des jeweiligen psychoanalytischen (Ausbildungs-)Institutes. Zudem sind sie AkteurInnen der Mehrheitskultur, da sie selbst nicht über einen Migrationshintergrund im engeren Sinne verfügen. Sie sind bereits seit einiger Zeit sowohl praktisch-therapeutisch als auch als AusbilderInnen tätig und sind somit ein wichtiger Referenzpunkt in Bezug auf mögliche Veränderungen im Umgang mit den Themen Kultur/Interkulturalität im psychoanalytischen Bereich. Frau Schreiber ist bereits lange Zeit im Feld der Psychoanalyse tätig und ist Angehörige des psychoanalytischen Institutes A. Entgegen ihrer ursprünglichen Verortung als Akademikerin wurde sie auf Bitten ihres Institutes hin im Rahmen der psychoanalytischen Ausbildung tätig. Wenn auch auf ganz andere Weise als die AnalytikerInnen mit Migrationshintergrund, verortet sie sich ebenso „hybrid“ – zwischen Hochschule und psychoanalytischer Praxis. „Meine Heimat ist eigentlich die Universität und nicht die psychoanalytische Identität in der Praxis. Da fand ich das nicht so wichtig. Hab mich dann aber, weil [...] wir auch irgendwie Nachwuchs brauchen und die Verbindung zur Universität auch wichtig ist, hab ich mich breitschlagen lassen, bin ich dann Lehr- und Kontrollanalytikerin von A geworden.“ (Z. 44–48)
5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees
211
Zusätzlich hält Frau Schreiber innerhalb ihres Institutes Seminare, ist in verschiedenen Gremien und Ausschüssen tätig und ist Forschungsbeauftragte. Da sie auch Verbindungen zu Instituten in anderen Städten hat, ist es ihr möglich, über den Münchner Tellerrand hinaus auf das Feld zu blicken. Eine stärkere Verankerung psychoanalytischen Denkens außerhalb therapeutischer Praxis und öffentliches Engagement von VertreterInnen der Psychoanalyse zu wichtigen Themen sind ihr ebenfalls ein Anliegen. „Das ist ein Thema, [wie man] Forschung konzipieren und auch integrieren kann in die Ausbildung. Und damit zusammenhängend überhaupt die Frage, [...] wie man sich öffentlich besser einmischen kann. Also Öffentlichkeit. Sowohl Berufsöffentlichkeit als auch Laienöffentlichkeit. Überhaupt. Wie kann Psychoanalyse es schaffen, an virulenten Punkten der Gesellschaft sich Gehör zu verschaffen, weil sie nach Meinung vieler, und meiner auch, viel zu sagen hätte an bestimmten Punkten, wenn sie die richtige Sprache fände.“ (Z. 97–103)
Herr Bernard ist im Grundberuf Sozialpädagoge und vertritt mittels seiner Zugehörigkeit das psychoanalytische Institut B. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet er bereits seit fünfzehn Jahren mit Kindern und Jugendlichen in eigener Praxis und ist zusätzlich Supervisor. Innerhalb seines Instituts ist er Ausbildungsleiter für den Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie bzw. –psychoanalyse und somit zuständig für die Strukturierung des Vorlesungsangebots und die Organisation verschiedener dafür notwendiger Gremien. Ein besonderes Anliegen ist ihm die Entwicklung neuer Ideen für die Ausbildung von analytischen Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen, um den therapeutischen Erfordernissen in diesem Bereich besser gerecht werden zu können. „Ein anderes wichtiges Thema, was sehr stark angestoßen worden ist von Kinderanalytikern, ist die Reichweite der Selbsterfahrung auf der Couch. Und die Kindertherapeuten, vermute ich jetzt, ja, spreche ich, würden mittlerweile sagen, dass die Lehranalyse eine notwendige, aber keine hinreichende Selbsterfahrung darstellt. Wir arbeiten an Selbsterfahrungsmöglichkeiten, die stärker in Verbindung stehen mit dem Handwerkszeug, das Kinderanalytiker [brauchen], das heißt Spiel, Körper und Bewegung, Ausdruck und so weiter.“ (Z. 32–37)
Kultur und interkulturelles Arbeiten sind für Herrn Bernard insofern ein Thema, als er in seiner eigenen Praxis mit Kindern und ihren Familien arbeitet, die einen Migrationshintergrund haben, diese Thematiken aber besonders im Rahmen der Supervision von AusbildungskandidatInnen auftauchen. Ebenso wie Herr Bernard ist Frau Szabó Mitglied des Instituts B. Sie ist ursprünglich Psychologin und praktiziert als Einzel- und Gruppenanalytikerin seit vielen Jahren in eigener Praxis. Im Rahmen ihres Instituts arbeitet sie als Wei-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
terbildungsleiterin für Gruppenanalyse, als Gruppenlehranalytikerin und Supervisorin. Aufgrund ihres persönlichen Interesses bringt Frau Szabó bereits eine besondere Sensibilität für den Themenbereich Kultur/Interkulturalität/ Migration mit, was sich auch in der Zusammensetzung ihrer PatientInnen widerspiegelt. „Ich hab’ eine Allgemeinpraxis hier in München und hab’ sehr viel, was heißt sehr viel, ungefähr ein Drittel, immer schon seit Jahren ausländische Patienten, also nicht-deutsche Patienten, sowohl in den beiden Gruppen, die ich hab, wie auch im Einzelsetting. Und bin, ja, an dem Thema Migration [...] sehr interessiert.“ (Z. 19– 24)
Im Bereich der psychosozialen Betreuung von Flüchtlingen sammelte sie ein Jahr lang zudem außerhalb ihrer eigenen Praxis interkulturelle therapeutische Erfahrung, was sie als sehr bereichernd erlebt. Sie hat außerdem Kontakte zum Nafsiyat Intercultural Therapy Centre in London (vgl. Kap. 4.4), was ihr einen internationalen Vergleich bezüglich des Umgangs mit Interkulturalität im therapeutischen Kontext ermöglicht. 5.3.3 Die „KandidatInnen“ Nun zur dritten Untergruppe meiner InterviewpartnerInnen, den AusbildungskandidatInnen, die selbst über einen Migrationshintergrund bzw. alle über eigene Migrationserfahrung verfügen. Zwei der drei Interviewees äußerten explizit den Wunsch, so weit anonymisiert zu werden, dass ein Rückschluss auf ihre Person unmöglich wäre. So bleiben einige biographische Angaben, die vielleicht von Interesse wären, unerwähnt. Ebenso wird die Zugehörigkeit zum entsprechenden psychoanalytischen Ausbildungsinstitut nicht genannt. Frau Sousa wanderte aus P nach Deutschland ein. Ihren Grundberuf, den der Psychologin, erlernte sie an einer deutschen Universität. Ihr Interesse für eine psychoanalytische Ausbildung wurde von einer Freundin geweckt und im Studium vertieft. Interviewerin: „Erzählen Sie mir bitte etwas über Ihren Weg zur psychoanalytischen Ausbildung.“ Frau Sousa: „Erst mal durch eine Freundin, die die psychoanalytische Ausbildung gemacht hat, und dann hat sie mich damit infiziert. (lacht) Und dann war das schon mehr oder weniger klar, als ich mit dem Studium angefangen habe.“ (Z. 16–18)
Wenn sie auch „dieses Denken“ (Z. 36), also das psychoanalytische Gedankengut, anfangs „völlig seltsam“ (Z. 35) fand, so hatte es jedoch einen hohen Erklä-
5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees
213
rungswert bezogen auf bestimmte transgenerationale Aspekte innerhalb ihrer Herkunftsfamilie, was sie faszinierte. Nach einigen Jahren Berufspraxis als Psychologin begann sie die Ausbildung zur Psychoanalytikerin für Erwachsene, in der sie sich zum Zeitpunkt des Interviews noch befindet. Bereits im Kindes- und Jugendalter wurde das Interesse von Herrn Günes, der aus Q immigrierte, für die Psychoanalyse geweckt. Die Beschäftigung mit psychoanalytischen Theorien und Auslegungen sozialer Phänomene führte bei ihm zu einem „revolutionäre[n] Umbruch“ (Z. 24) bezüglich seiner Sicht auf die Welt. „Ich hab gemerkt, das ist einfach eine Weltanschauung, die unglaublich wichtig ist. Für mich, kann man sich vorstellen, da ist man immer in seinem Raum, [...] in Q halt, und auf einmal kommt man zu so einem Zugang. Das ganze Weltbild und das ganze Verständnis, das man überhaupt hatte, die ganzen Jahre, in Frage zu stellen und zu überlegen, die Welt, die wir eigentlich haben, ist eigentlich nur unsere Wahrnehmungsproduktion, und wenn wir diese Wahrnehmungen in Frage stellen und uns einfach anders anknüpfen, die Welt anders verstehen, wahrnehmen, empfinden, dann ist auch die Welt anders.“ (Z. 27–34)
Aufgrund der limitierten Bedingungen in seinem Herkunftsland bezüglich eines entsprechenden Studiums und einer psychoanalytischen Ausbildung migrierte Herr Günes nach Deutschland, studierte dort Medizin und befindet sich aktuell in psychoanalytischer Ausbildung. Frau Fischers Weg zur psychoanalytischen Ausbildung führte über die eigene Erfahrung, durch das Verfahren einer psychoanalytischen Therapie Hilfe erlangen zu können. Da sie ihren Schulabschluss in R, dem Land, aus dem sie nach Deutschland einwanderte, erworben hatte, griffen Reglementierungsmechanismen der deutschen Hochschulen und sie war nicht völlig frei in der Wahl ihrer Studiengänge. Frau Fischer: „Und mein Weg zur Psychoanalyse, beziehungsweise zu dieser Ausbildung, ist der, dass ich nach einer ganz langen Orientierungsphase in Deutschland, was man studieren kann, darf, mit einem ausländischen Abitur, einiges angefangen und abgebrochen hatte, von Theaterwissenschaften und Politikwissenschaften“ – (lacht) Interviewerin: „Alles durch“ – (lacht) Frau Fischer: „Alles durch. Auch mal bis zum achten Semester. Und das war irgendwie nicht – hatte keine Verbindung für mich zum Inneren. Dann habe ich die Möglichkeit gehabt, Sozialpädagogik zu studieren, und danach hab’ ich ein paar Jahre auch gearbeitet, habe aber gemerkt, das erfüllt mich nicht, da ist noch was rauszuholen. Und in dieser Zeit habe ich aber auch eine, wegen persönlicher Schwierigkeiten, eine Heiltherapie [gemacht] und suchte währenddessen auch ver-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
schiedene Studiengänge und was ich so machen könnte, und bin durch Zufall ei18 gentlich auf die KJ-Psychoanalyse gekommen.“ (Z. 9–20)
Frau Fischer befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung. Am Beispiel dieser Subgruppe von Interviewees, den KandidatInnen, möchte ich ein besonderes Dilemma diskutieren, das sich aufgrund des von mir bezüglich aller Gruppen von Interviewees gewählten Forschungsdesigns stellt. Gewünscht ist von mir eine Darstellung des Feldes der interkulturellen psychoanalytischen Therapie durch verschiedene relevante AkteurInnen aus dem Praxisfeld. Explizit wählte ich dabei auch MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen vor dem Hintergrund der Annahme, dass deren Wahrnehmung des Feldes sich schon aufgrund eigener (Nicht-)Betroffenheit unterscheiden werde. Wie im Theorieteil erläutert (vgl. Kap. 2.4), ist (kulturelle) Identität das Ergebnis verschiedener Selbst- und Fremdzuschreibungs- bzw. Verhandlungsprozesse und folglich nie eindeutig (vgl. auch Dannenbeck 2002, Badawia, Hamburger & Hummrich 2003). Zwar schreibe ich meinen Interviewees keine ethnischen Zugehörigkeiten zu, dennoch identifiziere ich sie anhand eines bestimmten Merkmales: Haben sie einen Migrationshintergrund oder nicht? Anhand dieses Differenzmerkmales gewissermaßen als verschieden markiert zu werden kann auf unterschiedliche Weise von MigrantInnen erlebt werden. Ein Interview, in dem sie aufgrund ihrer eigenen Migrationserfahrung als ExpertInnen für dieses Gebiet angesprochen werden, könnte einerseits als Anerkennung und Möglichkeit, sich in Bezug auf diese (eigenen) Belange zu artikulieren, gewertet werden. Die Kehrseite der Medaille ist es aber sozusagen, von mir als Forscherin und Angehörige der Mehrheitskultur als different wahrgenommen und (vielleicht einmal mehr) als „Andere“ aus der Gruppe der Mehrheitsangehörigen herausgestellt und quasi „entlarvt“ zu werden, was verständlicherweise entsprechend negative Gefühle hervorrufen kann. So könnte hier das Merkmal „Migrationshintergrund“ ähnlich den Konzepten der „Ethnizität“ und auch der „Rasse“ als etwas wahrgenommen werden, das in marginalisierender Weise der Herstellung von innerer wie äußerer gesellschaftlicher Ordnung dient. „,Rasse‘ und ‚Ethnizität‘ markieren Ordnungsmodelle für die inner- und zwischengesellschaftlichen Austauschbeziehungen, die ein spezifisches System der Kontrolle über ökonomische und politische Ressourcen, eine spezifische Form der Arbeitsteilung etablieren und ein System von Bedeutungen errichten, mit dem die Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen reguliert werden. ‚Rasse‘ und ‚Ethnizität‘ [und evtl. auch das Merkmal ‚Migrationshintergrund‘, Anm. K.H.] 18
Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse
5.3 Wer spricht? Die Beschreibung der Interviewees
215
konkurrieren mit und/oder ergänzen solche Ordnungsvorstellungen, die das Verhältnis von oben und unten behandeln und mit den Begriffen ‚Klasse‘ und/oder ‚Schicht‘ operieren.“ (Dittrich & Radtke 1990, S. 16)
Zusätzlich zur Möglichkeit, dass die Auswahl der Interviewees anhand des Merkmals „Migrationshintergrund“ von diesen als Distinktionspraxis mit negativer Auswirkung empfunden werden könnte, spielt es auch eine Rolle, dass sich die AusbildungskandidatInnen, anders als die niedergelassenen Psychoanalytikerinnen, die ja auch einen Migrationshintergrund haben, in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis von ihren Ausbildungsinstituten befinden. Daraus resultiert wohl, so wurde es nach Ausschalten des Tonbandes von Herrn Günes und Frau Fischer geäußert, teilweise eine gewisse Unsicherheit, sich (kritisch?) bezüglich ihrer psychoanalytischen Ausbildung zu äußern. Ob diese Unsicherheit jedoch in besonderem Maße mit der Migrationserfahrung der KandidatInnen zusammenhängt oder eher mit dem Status als AusbildungskandidatInnen oder der Kombination von beiden Aspekten, müsste eine Vergleichsstudie klären. Die vorangegangenen Überlegungen stelle ich deshalb an, um eine Antwort auf bestimmte relevante Phänomene zu finden, die während des Forschungsprozesses auftraten und die ich sowohl an mir als auch an meinen Interviewees beobachten konnte. Gerade in der Subgruppe der KandidatInnen bedurfte es besonderer vertrauensbildender Maßnahmen, um sie für ein Interview zu gewinnen, was bei zweien (Frau Sousa und Herr Günes) letztlich nur durch den Kontakt mittels der Schlüsselperson Frau Jensen gelang. Die dritte Interviewpartnerin, Frau Fischer, konnte durch einen anderen persönlichen Kontakt ins Feld geworben werden. Während sich Frau Sousa weniger besorgt in Bezug auf die Veröffentlichung ihrer Aussagen zeigte, war es Herrn Günes und Frau Fischer ein besonderes Anliegen, anhand der Angaben über sie in dieser Arbeit keinesfalls identifiziert werden zu können. Aus diesem Grunde finden sich an dieser Stelle auch keine biographischen Angaben oder die Kennzeichnung der Institutszugehörigkeit, um die Möglichkeit der Identifikation auszuschließen. Die Befürchtungen, was passieren würde, wenn sie anhand der Interviews erkannt würden, ließen sich auf meine Nachfrage hin nur teilweise mit dem Verweis auf die schon erwähnte Abhängigkeit bezüglich des jeweiligen Ausbildungsinstitutes beantworten. Sicherlich hat auch die Tatsache, dass ich selbst nicht über einen Migrationshintergrund verfüge, den Forschungsprozess beeinflusst, was ich anhand einer starken Anspannung meinerseits und dem Bedürfnis, mich im Vorfeld und in den Interviews als jemanden darzustellen, der auf der „politisch korrekten“ Seite, also der der Minorität steht, spürte. Dieses Interaktionsgeschehen und die damit verbundenen Zuschreibungsprozesse wurden jedoch sowohl von mir als auch von meinen InterviewpartnerInnen größtenteils
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
unter der Hand verhandelt und kamen lediglich im Interview mit Frau Schreiber in einer Nachfrage zu meinem Hintergrund explizit zur Sprache, als es um das „Migrationsproblem“ in Deutschland, aber auch den möglichen gesamtgesellschaftlichen Nutzen durch MigrantInnen ging, ein Thema, das von Frau Schreiber sicherlich als heikel und potentiell kränkend in der Beziehung mit einer Person mit Migrationshintergrund bewertet werden würde. Frau Schreiber: „Also, was vielleicht irgendwie dazu noch zu sagen wäre, ist, denke ich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen in Bezug auf Migration in Deutschland vielleicht, ich hab da zu wenig Vergleich, hinterherhinken. Ja, also ich denke, dass das Problem sehr viel riesiger bereits geworden ist als die Wahrnehmung dieses Problems. Und dass es so erst jetzt anfängt in den Schulen, Kindergärten usw. wir anfangen zu kapieren, welche Ressourcen wir uns da auch – ham Sie, darf ich mal schnell fragen, sind Sie irgendwie aus diesem Grunde an diesem Thema interessiert – haben Sie selbst einen Migrationshintergrund?“ Interviewerin: „Nein, hab’ ich nicht [...].“ Frau Schreiber: „Ja, also ich denke, dass wir da ein bisschen hinterherhinken mit den Maßnahmen da.“ (Z. 145–156)
Die Darstellung und Beschreibung des Interaktionsgeschehens an dieser Stelle soll nicht als Kritik am Verhalten und den Aussagen meiner Interviewees verstanden werden, zumal ich selbst von den zugrunde liegenden Prozessen nicht ausgenommen bin. Vielmehr möchte ich sie als wichtigen Hinweis auf meines Erachtens typische Interaktionsformen zwischen Minderheits- und Mehrheitsangehörigen bzw. Mehrheitsangehörigen unter sich (wie im Beispiel des Interviewausschnittes mit Frau Schneider und mir) in diesem Bereich verstanden wissen, wobei die Interviewsituation, wenn sie auch in gewissem Sinne artifiziell ist, keine Ausnahme im Vergleich zur Alltagssituation darstellt. Auch der Forschungsprozess ist in einem Feld, das immer wieder von Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus geprägt ist, nicht ausgenommen von der Notwendigkeit der ForscherInnen, sich zu positionieren. 5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung Die Portraits meiner InterviewpartnerInnen sollen dazu dienen, sie als SprecherInnen plastischer zu machen. Die Aussagen, die sie treffen, finden jedoch nicht in einem „luftleeren“ Raum statt, sondern sind vielmehr in einem allgemeinen gesellschaftlichen und diskursiven Kontext situiert, der sie maßgeblich beeinflusst und den sie wiederum mitgestalten. Aus diesem Grund ist es notwendig, den Kontext genauer kennen zu lernen, der den Hintergrund dieser Untersu-
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
217
chung bildet. Als relevant für dieses Feld greife ich bei der Beschreibung des Hintergrundes folgende Punkte heraus, da sie als Referenzpunkte für die Aussagen meiner Interviewees dienen: 1. 2. 3.
Die Bedeutung von Interkulturalität in München Die psychoanalytische Landschaft in München und ihre Besonderheiten Wichtige Aspekte der Psychoanalyse international
5.4.1 Interkulturalität in München Die Bevölkerungsgröße Münchens beträgt mit dem Stand vom 30.09.2007 eine Zahl von 1.342.166 EinwohnerInnen (vgl. Landeshauptstadt München 2008). In Bezug auf die Zusammensetzung seiner interkulturellen „Landschaft“ unterscheidet sich München deutlich von der Gesamterhebung für die Bundesrepublik Deutschland. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland (vgl. auch Kap. 2.1) umfasst laut Migrationsbericht 2006 ca. 18% der Gesamtbevölkerung, davon sind 9% AusländerInnen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und knapp 10% Deutsche mit Migrationshintergrund (vgl. Bundesministerium des Inneren 2008). In München hingegen lässt sich die interkulturelle „Landschaft“ deutlich anders beschreiben. Hier verfügen insgesamt 35,6% der Bevölkerung über einen Migrationshintergrund, wovon 23,0% AusländerInnen und 12,6% Deutsche mit Migrationshintergrund sind (vgl. Landeshauptstadt München 2008, Püttmann 2008 & Sorg 2009). Zwischen den einzelnen Stadtteilen Münchens lassen sich wiederum Unterschiede feststellen, wobei in Milbertshofen-Am Hart 51,5% Menschen mit Migrationshintergrund wohnen, wovon 35,1% AusländerInnen sind (vgl. Sorg 2009). Nach Frankfurt am Main (24,9%) ist München mit 23,0 % unter den Großstädten mit mehr als 500.000 EinwohnerInnen diejenige mit dem zweithöchsten Anteil an AusländerInnen. Was die Herkunftsländer der ausländischen MünchnerInnen betrifft, so steht die Türkei an erster Stelle, gefolgt von Kroatien, Griechenland, Österreich, Italien, Serbien und Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Polen (vgl. Landeshauptstadt München 2008). So unterscheidet sich die Bevölkerung Münchens nicht nur im relativen Anteil an MigrantInnen, sondern auch bezüglich der Zusammensetzung der Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund von der Erhebung für Gesamtdeutschland. Hierbei weisen die Statistiken darauf hin, dass interkulturelle Erfahrungen in München längst zum Alltag gehören.
218
5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Europäische Union
78.582
Drittstaaten
Griechenland
22.101
Türkei
104.377 43.026
Österreich
21.466
Kroatien
24.697
Italien
20.871
Serbien u. Montenegro
20.169
Polen
14.144
Bosnien-Herzegowina
16.485
Staatsangehörigkeit der in München lebenden AusländerInnen (Quelle: Landeshauptstadt München 2008)
Neben der Bevölkerungszusammensetzung Münchens prägt auch die spezifische Geschichte der Psychoanalyse in dieser Stadt den Kontext der Untersuchung. 5.4.2 Psychoanalyse in München Die Landschaft der psychoanalytischen (Ausbildungs-)Institute in München stellt sich als relativ komplex dar. Aus historischen Gründen ist das Feld heute aufgefächert in eine größere Anzahl von „Nachbarinstituten“ (Bauriedl & Brundke 2008b, S. 8) mit teilweise verschiedener fachlicher Ausrichtung, deren Geschichte miteinander durchaus konfliktreich war. Die Historie der Psychoanalyse in München und ihre Einbindung in die deutsche Geschichte sei an dieser Stelle unter Auslassung verschiedener Aspekte kurz nachgezeichnet, um die Position der einzelnen Institute und deren VertreterInnen, die ich interviewte, einordnen zu können. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in den Beiträgen zu Thea Bauriedls und Astrid Brundkes (Hg./2008a) Buch Psychoanalyse in München – eine Spurensuche.19 In Berlin war bereits 1908 unter der Mentorenschaft Sigmund Freuds aus einem von Karl Abraham gegründeten Arbeitskreis die Berliner Psychoanalytische Vereinigung (BPV) entstanden. Als 1910 die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV) gegründet worden war, war die BPV die erste Zweigvereinigung derselben. Eine Standardisierung der psychoanalytischen Ausbildung mit entsprechendem Curriculum und dem Ausbildungsbestandteil der Lehranalyse wurde 1923 von Max Eitingon eingeführt. Als Konsequenz aus der Neubildung weiterer Gruppierungen in anderen deutschen Großstädten wurde die BPV 1926 in Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) umbenannt (vgl. http://www.dpg-psa.de/ in_ge.gesch.htm, letzter Zugriff: 6.11.2009).
19
Gudrun Brockhaus veröffentlichte 1989 einen allgemeiner gefassten Artikel zur Psychotherapie im Nationalsozialismus.
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
219
Die Versuche, die (Freudsche) Psychoanalyse in München zu institutionalisieren, waren zunächst nur von wenig Erfolg gekrönt. Leonhard Seif, der über C.G. Jung zur Psychoanalyse gekommen war, gründete 1911 die Münchner Ortsgruppe der IPV. Seif schloss sich nach dem Ersten Weltkrieg allerdings Alfred Adler an und sorgte für die Etablierung der Individualpsychologie in München (vgl. Bauriedl & Brundke 2008b & Brundke 2008), die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Aufstieg als „pädagogisch-soziale Bewegung“ (Brundke 2008, S. 40) erlebte. Richard Heyer, ein Münchner Schüler Jungs, arbeitete an der 1928 erfolgten Gründung der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) mit, in der die individualpsychologische Richtung dominierte. Im April 1933 übernahm C.G. Jung den Vorsitz der AÄGP, nachdem Ernst Kretschmer sein Amt aus Protest gegen die Nationalsozialisten niedergelegt hatte. Jung äußerte sich deutlich antisemitisch in seiner Antrittsrede (vgl. zur Rolle Jungs auch ausführlich Lockot 2002). Im September 1933 wurde in Folge der AÄGP die Deutsche Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie gegründet, und es kam zur Entlassung und Vertreibung jüdischer KollegInnen. Einige Münchner Vertreter der DAÄGP (Leonhard Seif, Gustav Richard Heyer, Hans von Hattingberg u.a.) arbeiteten an Görings Werk der Deutschen Seelenheilkunde mit, das 1934 erschien und das einen Beitrag dazu leisten wollte, „den für den nationalsozialistischen Staat notwendigen und von Adolf Hitler geforderten ‚neuen Menschen‘ zu schaffen“ (Brundke 2008, S. 55), dessen notwendige Eigenschaften in Hitlers „Mein Kampf“ vorgegeben seien. Psychische Regungen und Eigenschaften, die diesem Bild nicht entsprächen, müssten durch die peinlich genaue Untersuchung der Psyche bekämpft werden. Im Jahre 1933 wurde auch die DPG „arisiert“, d.h. jüdische KollegInnen wurden nicht mehr in leitenden Funktionen zugelassen, was dazu führte, dass Max Eitingon sein Amt nicht mehr ausfüllen konnte und stattdessen Carl Müller-Braunschweig und Felix Boehm in diese Funktion gewählt wurden (vgl. Lockot 1994 & 2002 & Schröter 2009, in beiden mehr Details zur Geschichte der DPG von 1933–1951). Später kam es zur Vereinigung der DPG und der DAÄPG, die im Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin aufgingen, das Matthias Heinrich Göring, Nervenarzt und ein Vetter von Hermann Göring, leitete (vgl. ebd., vgl. auch Bauriedl 2008 & http://www.dpg-psa.de/in_ge. gesch.htm, letzter Zugriff: 6.11.2009). Unter der Führung Berlins wurden die bis dahin bestehenden vier Richtungen (die JungianerInnen, die AdlerianerInnen, die „Gruppe A“ um Fritz Riemann und die „neoanalytische“ Gruppe um Harald Schultz-Hencke) zur Tiefenpsychologie amalgamisiert (vgl. Bauriedl 2008 & Bauriedl & Brundke 2008b).
220
5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
„Offiziell war alles ‚Jüdische‘ aus den Bezeichnungen und Inhalten verschwunden und die verbliebenen ‚Psychotherapeuten‘ stellten sich in ‚gutem Einvernehmen‘ mehr oder weniger in den Dienst der ‚neuen Sache‘. [...] Durch die Zentralisierung der Psychotherapie im Regierungszentrum Berlin wurden alle Psychotherapeuten und ihre Tätigkeiten überschaubar und kontrollierbar. Die Gleichschaltung hatte auch die Anpassung der Lehrmethoden für alle ‚Tiefenpsychologen‘ zur Folge. Die Psychoanalyse verlor ihren Namen und wurde zu einer Psychotherapie unter anderen, die zudem zur ‚Volkserziehung‘ missbraucht wurden. So wurde die Psychoanalyse mit ihren kulturkritischen und aufklärerischen Impulsen vernichtet.“ (Bauriedl 2008, S. 125f)
Im Jahre 1937 wurde die DPG gezwungen, aus der IPV auszutreten (vgl. ebd.), und im Jahre 1938 musste sie sich offiziell auflösen (vgl. http://www.dpg-psa. de/in_ge.gesch.htm, letzter Zugriff: 6.11.2009). Die IndividualpsychologInnen gestalteten aktiv ihre Anpassung an die nationalsozialistische Ideologie. Jung hatte ohnehin bereits große Sympathien dafür geäußert und gab sich auch in Folge immer wieder nationalsozialistischem Gedankengut zugetan. Entgegen dieser früheren Aussagen jedoch ging Jung noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges auf Distanz zum Nationalsozialismus und trat am 5.8.1939 vom Vorsitz des AÄGP zurück, was im Weiteren zu gewissen Sanktionen den Anhängern der Jung’schen Schule gegenüber führte (vgl. auch Lockot 2002). Ein Jung-Schüler jedoch, Gustav Richard Heyer, wurde als überzeugter Nationalsozialist im Oktober 1939 von Göring an das „Deutsche Institut“ nach Berlin berufen, wo er am Ausbau der „Deutschen Seelenheilkunde“ mitwirkte. In Folge dieser Berufung schlossen sich die Richtungen nach Adler und Jung zur Zweigstelle Bayern des „Göring-Instituts“ zusammen, ihre Selbstgleichschaltung in Anpassung an die Deutsche Seelenheilkunde erfolgte jedoch „schulenintern – lange vor dem Zusammenschluss der beiden Münchner Gruppen zur ‚Zweigstelle Bayern‘“ (Brundke 2008, S. 57). Nachdem das Institut in Berlin 1943 zum Reichsinstitut umgewandelt worden war, musste sich die „Zweigstelle Bayern“ in Arbeitsgemeinschaft München umbenennen. Der ehemalige Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie, Felix Scherke, übernahm nach Ende des Zweiten Weltkrieges von 1945 bis 1948 „Aufbau, Entwicklung und Gestaltung“ (ebd., S. 70) der Münchner Niederlassung. Indem er sich als Kunstgriff wieder auf Freud und Adler und die Einbindung in die „Internationale Vereinigung für Psychotherapie“ berief, gelang es Scherke, eine Genehmigung für die Weiterführung des Reichsinstituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie zu erlangen, allerdings sollte diese in München stattfinden (vgl. auch Grunert 2008). Die Münchner Gruppe allerdings wollte lieber ihre Eigenständigkeit bewahren, womit sie jedoch scheiterte. Wenn auch sicherlich nicht
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
221
alle Mitglieder dieses Instituts mit Scherke in Inhalt und Vorgehen übereinstimmten, so traf er jedoch zunächst nur auf passiven Widerstand. Dieser führte jedoch immerhin dazu, dass er, „der mit den neuen Machthabern, der amerikanischen Besatzungsmacht, ebenso ins Geschäft kommen wollte wie zuvor mit den Nationalsozialisten, [...] mit seinen hochfliegenden Plänen in München ins Leere [lief]“ (Brundke 2008, S. 71). Durch den verstärkten Zuzug von Berliner PsychotherapeutInnen wurden jedoch die vor 1945 liegenden Ursprünge im Grunde vollständig überdeckt. Scherke setzte mit Unterstützung von Otto Curtius gegen den Willen der KollegInnen durch, dass das ursprünglich von diesen geplante Projekt – der Aufbau einer Poliklinik, die der Versorgung der Münchner Bevölkerung, aber besonders der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung von Opfern des NS-Regimes und des Krieges dienen sollte – nicht realisiert wurde und stattdessen eine Beschäftigung mit der „Psychologie des deutschen Menschen“ stattfinden sollte. Elementar bedeutend für die offizielle Anerkennung des Instituts durch die amerikanischen Behörden war der Nachweis der Entnazifizierung desselben. „Scherke sorgte dafür, dass die politische Säuberung weit über das von den Amerikanern Geforderte hinausging und dennoch ad absurdum geführt wurde. Unter seiner Führung geriet sie zu einem reinen, geschäftsmäßig gehandhabten Verwaltungsakt. Handlungsmaxime war ausschließlich das ‚Wohl des Instituts‘, nicht eine inhaltliche Reflexion. Politisch belastete Personen waren schädlich fürs Institut und mussten aus diesem Grunde ferngehalten werden.“ (ebd., S. 86)
Am 18.3.1948 kam es jedoch zum Rücktritt Scherkes als Geschäftsführer. Er war endlich auf deutlichen Widerstand getroffen, als er die Frage der Nachfolge des verstorbenen Institutsvorsitzenden Max Steger, der Scherke loyal verbunden war, ohne echte demokratische Beteiligung der anderen Institutsmitglieder durchsetzen wollte. Nachdem der als Vorsitzender gewählte Otto Curtius kurz nach Amtsantritt starb, wurde Prof. Dr. Walter Seitz, Direktor der Medizinischen Poliklinik München und während der NS-Zeit Mitglied einer antinazistischen Widerstandgruppe, für das Amt gewählt und leitete das Institut zwanzig Jahre lang. 1968 jedoch wurde das historische Erbe wieder virulent, als Anton Schelkopf, ein Mann mit heute bestätigter einschlägiger Nazi-Vergangenheit, vom damaligen Vorstand des Instituts als Geschäftsführer nominiert wurde. Lotte Köhler und in Folge einige andere Institutsmitglieder forderten eine Aufklärung dieser Vergangenheit und eine Auseinandersetzung im Institut mit Schelkopfs Rolle im Nationalsozialismus, was Schelkopf wiederum veranlasste, rechtliche Schritte gegen Köhler einleiten und eine Verleumdungsklage einreichen zu wollen. Lotte Köhler sammelte auf Verlangen der Vorstands in Eigeninitiative
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Beweise, die belegten, dass Schelkopf, entgegen dessen eigener Umdeutung seiner Geschichte, bis zum Kriegsende überzeugter Nazi war. Der Institutsvorstand, um den Ruf des Instituts bedacht, wollte eine öffentliche Auseinandersetzung vermeiden und setzte einen Schlichtungsausschuss ein. Schelkopf zog in Folge der Auseinandersetzungen seine Kandidatur zurück (vgl. ebd.). Im Jahre 1945 wurde die 1938 aufgelöste DPG als Berliner Psychoanalytische Gesellschaft mit Müller-Braunschweig als erstem Vorsitzenden neu gegründet, erst nach 1950 war der Name DPG per Alliiertenrecht wieder zulässig. 1949 kam es nur zur vorläufigen Aufnahme der Vereinigung in die IPV, deren Misstrauen sich aus der zweifelhaften Rolle einzelner Mitglieder während des Nationalsozialismus speiste und durch die Kontroverse zwischen MüllerBraunschweig und Schultz-Hencke – Letzterer hatte seine „Neo-Analyse“ während des Nationalsozialismus ausbauen dürfen – markiert wurde. Marie Bonaparte, die zu diesem Zeitpunkt mit Ernest Jones der IPV vorstand, forderte den Rücktritt Schulz-Henckes als Voraussetzung der Wiederaufnahme der DPG in die IPV, der jedoch dazu nicht bereit war. Als Folge gründete MüllerBraunschweig ein Jahr später die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV), die, im Gegensatz zur DPG, Aufnahme in der IPV fand (vgl. Bauriedl 2008 & http://www.dpg-psa.de/in_ge.gesch.htm, letzter Zugriff: 6.11.2009). Diese Trennung führte zu nicht unerheblichen Konflikten, wie Bauriedl (ebd., S. 142) konstatiert: „Seit ihrer Trennung bezogen sich die beiden großen deutschen psychoanalytischen Fachverbände auf die von Freud selbst begründete Tradition der Psychoanalyse in Deutschland. Dabei standen gegenseitige Vorwürfe und Entwertungen einer Annäherung und damit auch der Wiedervereinigung entgegen. Auch Lohmann schreibt von ‚zwei Legenden‘: von der ‚Rettung‘ der Psychoanalyse [über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg, Anm. K.H.] (DPG) und deren Liquidation und dem Neubeginn am Punkt Null (DPV).“
Erst 2001 gelang der DPG eine Wiederaufnahme als IPA20 Executive Council Provisional Society (vgl. http://www.dpg-psa.de/in_ge.gesch.htm, letzter Zugriff: 6.11.2009). Neben der DPG und der DPV wurde in der Nachkriegszeit 1949 die DGPT (damals als Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie) gegründet, die sich in erster Linie als berufspolitisch motivierte Gruppierung „von Psychotherapeuten und von Instituten, die Psychotherapeuten ausbildeten [verstand], unabhängig von deren Ausrichtung“ (Bauriedl 2008, S. 134f). Das Münchner Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie war als 20
International Psychoanalytic Association
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
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eines der ersten an der Gründung der DGPT beteiligt und somit seit Kriegsende ein sogenanntes „freies“ Institut, da es in die internationalen Verbände nicht eingebunden war und ist, zugleich erfolgte aber eine Einbindung in die DGPT. Während des Vorsitzes von Siegfried Elhardt entwickelte das Münchner Institut deutlich eine psychoanalytische Ausrichtung, so dass es 1974 in Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München umbenannt wurde. Die Konflikte, die sich zwischen den Verbänden (DPG/DPV) auf deutscher Ebene manifestierten, wurden trotz vielfacher Aufarbeitungs- und Klärungsbemühungen (eine genauere Darstellung ebd.) bis in die Gegenwart hinein auch in München sichtbar. Die Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft München (PAM) wurde 1973 gegründet, eine für ihre Geschichte bedeutsame Gruppe mit Interesse an Freudscher Psychoanalyse hatte sich jedoch schon 1950 um Johannes Cremerius, damals Leiter der Psychosomatischen Beratungsstelle der Universität München, und später um Fritz Friedmann gebildet. Sowohl Friedman als auch Cremerius hatten ihre Ausbildung im „Münchner Institut“ absolviert. Friedmann gelang es, eine Zusammenarbeit mit Mitgliedern der DPV, die teilweise nach München zogen, und internationale Kontakte aufzubauen, so dass schließlich gemeinsam mit weiteren Mitgliedern des „Friedmann-Kreises“ die PAM gegründet wurde. Neben AnalytikerInnen aus dem Cremerius- und dem Friedmann-Kreis ist eine weitere Wurzel die Schule um Alexander Mitscherlich (vgl. Pabst 2008). Eine weitere wichtige historische Linie lässt sich in München verfolgen, die zur Gründung zweier bedeutender psychoanalytischer Institute führte, der heutigen Deutschen Akademie für Psychoanalyse (DAP) und in Folge der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP). Der Psychiater Günter Ammon war ein beim Berliner Institut der DPV von 1952–1956 ausgebildeter Psychoanalytiker. Während seiner Zeit in der Menninger Clinic and School of Psychiatry machte er Erfahrungen mit neuen Formen der Anwendung der Psychoanalyse auf Gruppen, Familien, „ja auf das Milieu einer Klinik“ (Schmidbauer 2008, S. 306). Diese Erkenntnisse wollte er mit Unterstützung von KollegInnen auch in Deutschland etablieren, was anfangs auch gelang, wie die Liste der MitarbeiterInnen seines ersten Heftes „Dynamische Psychiatrie“ (1968) untermauert. Ammons Ideen speisten sich auch aus dem gesellschaftlichen Kontext dieser Zeit: „Es war die Zeit der Studentenbewegung, zu deren Forderungen nicht nur politische Inhalte im engeren Sinn, sondern auch zahlreiche psychosoziale Impulse gehörten. [...] Die Ansprüche nach wirksameren, einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglichen Mitteln psychotherapeutischer Hilfe gehörten zu einem Programm, das nach größerer sozialer Gerechtigkeit rief. In einer Welt von morgen sollten mündige Bürger nicht nur äußere Reglementierungen, sondern auch verinnerlichte Repressi-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
onen überwinden. Ammons Gedanke, mit Hilfe der Gruppentherapie kleine ‚befreite Gebiete‘ zu schaffen, schien ein Weg, solche Hoffnungen einzulösen.“ (ebd., S. 306f)
Neben einer Reformierung der Psychiatrie plante Ammon auch eine Neuorganisation der psychoanalytischen Ausbildung. Bezüglich seiner Reformierungspläne wurde er zunächst auch von prominenten VertreterInnen der DPV ausdrücklich unterstützt. Zum Bruch zwischen der DPV und Ammon kam es jedoch, als dieser im Mai 1969 die Deutsche Gruppenpsychotherapeutische Gesellschaft (DGG) gründete, die aufgrund ihrer Ausbildungsstrukturen „an der DPV vorbei“ (ebd., S. 309) ausbildete. Zum Vorbild hatte sich Ammon Leute wie Martin Grotjahn genommen, der auch auf der Gründungsveranstaltung der DGG sprach. Wolfgang Schmidbauer (ebd., S. 308f) bemerkt dazu kritisch: „Grotjahn sprach über die große Zeit der Psychoanalyse zwischen 1920 und 1933 in Berlin, als dort das erste Ausbildungsinstitut gegründet und die erste psychoanalytische Poliklinik der Welt eingerichtet wurde, in der auch arme Patienten behandelt werden sollten. Damals hingen Forschung, Analyse und Ausbildung noch eng zusammen; man konnte – so Grotjahn – gleichzeitig Kandidat für die Ausbildung und Lehranalytiker sein. Solche kreative, unkonventionelle Dynamik sei später reguliert und verschult worden.Für Ammon waren solche Vorbilder Programm. Da sein Lehr- und Forschungsinstitut aus praktisch einem einzigen ausgebildeten Analytiker bestand, war es die Regel, dass Kandidaten, die selbst noch in Analyse waren, Ausbildungsfunktionen erfüllten. Was eine Lehranalyse war, bestimmte Ammon.“
Der resultierende Konflikt konnte nicht geklärt werden, was zum Austritt Ammons aus der DPV führte. Im selben Zuge gründete Ammon die DAP. Zur Gruppe um Ammon gehörten auch Wolfgang Schmidbauer, Siegfried Gröninger, Maria Helmrich und Leonore Enzler. Aufgrund massiver Unstimmigkeiten mit den „Ammoniten“ (ebd., S. 316) machten sich diese zunächst auf organisatorischer Ebene selbständig und gründeten die Gesellschaft für analytische Gruppendynamik (GaG) und 1974 die Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP). Bald erfolgte die endgültige Trennung von der DAP. Heute ist die MAP als „freies Institut“ in der DGPT organisiert. Zwischen der MAP und dem ebenfalls in der Nachkriegszeit gegründeten C.G. Jung-Institut in München besteht heute eine enge Zusammenarbeit (vgl. http://www.c-g-jung-institut-muenchen.de/home.html, letzter Zugriff am 11.11. 2009). Während die Individualpsychologie in der Zeit nach 1945 zunächst im Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie aufging, wurden parallel dazu Kontakte zu IndividualpsychologInnen im Ausland aufgebaut. Im Juli 1962 wurde die Alfred-Adler-Gesellschaft (AAG) gegründet, die 1970 in Deut-
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
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sche Gesellschaft für Individualpsychologie umbenannt wurde. Im November 1969 gründete sich ein regionaler Arbeitskreis der AAG in München, 1971 erfolgte die Gründung des Alfred Adler Instituts in München, das bis heute Bestand hat (vgl. Gröner 2008). Auch wenn die gemeinsame Geschichte konfliktreich gewesen sei, wie aus der vorangegangenen Darstellung ersichtlich wurde, so konstatieren Bauriedl und Brundke (dies. 2008b, S. 9), sei „die lange Zeit des mehr oder weniger kritischen Nebeneinander-her-Lebens weitgehend [beendet]. Man interessiert sich wieder füreinander und kooperiert, soweit das möglich ist“. Aus den Interviews lässt sich entnehmen, dass heute nur teilweise die Historie an sich den Blick auf die anderen Institute prägt als vielmehr die Frage nach internationaler Anerkennung der Institute durch die IPA, die allerdings wiederum historisch begründet ist. So gehört im Institut von Herrn Bernard die Anerkennung der Ausbildung durch die entsprechenden Dachverbände zu den viel diskutierten Themen. „Das Ganze hat viel mit der deutschen Geschichte zu tun. Dazu muss man wissen, dass die DPG eine Vereinigung ist, die vor dem Krieg bestanden hat bereits. Die in der Nazi-Zeit eine merkwürdige Wende vollzogen hat, so Schulz-Henke am Berliner Institut. Das war, wenn man so will, eine Arisierung der Psychoanalyse, und damit nach dem Krieg aus allen internationalen Verbindungen ausgeschlossen. Es gibt eine neue Gründung nach dem Krieg, das ist die DPV, der es von Anfang an gelungen ist, international anerkannt zu sein, weil sie sichergestellt hat, dass in ihren Reihen niemand sein kann, der Nazi-belastet ist. Das war auch ein bisschen ein Kunstgriff. Der DPG ist es jetzt gelungen, in den letzten zwei Jahren, wieder Anschluss an die IPA zu bekommen, aber nur unter der Bedingung, dass sie sicherstellen können, dass die Leute, die ausgebildet werden unter der Schirmherrschaft der DPG, von Anfang an überwacht sind, sozusagen, schon in der Auswahl der Kandidaten, damit sich keine Nazis einschleichen.“ (Herr Bernard, Z. 61–72)
Im Engeren dreht sich viel um die Frage der Frequenz der Lehranalyse, die einerseits ausschlaggebend ist für eine Anerkennung durch die DPG/DPV und in Folge der IPA, andererseits aber aufgrund des damit verbundenen Aufwands an Zeit und Geld die Zahl der AusbildungskandidatInnen beschränken kann. Diese wiederum sind jedoch notwendig für die weitere Existenz der Institute, die noch dazu mit Ausbildungsinstituten anderer therapeutischer Ausrichtungen konkurrieren müssen. „Das oberste, brennende Thema ist, glaube ich, wie man die Ausbildung verändern könnte, weil die Ausbildung jetzt einen hohen Grad an Kanonisierung hat. Ich war neulich eingeladen bei den Kognitiv-Behavioralen, da war ein Mann aus Toronto
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
da– Da hat man Mühe, nicht neidisch zu werden. Also, die Zahlen, die wir hier haben– Verschwindend, der Nachwuchs.“ (Frau Schreiber, Z. 68–72)
Die allgemeine Konkurrenz um AusbildungskandidatInnen wird noch dadurch verstärkt, dass sich in jüngerer Zeit einige neu gegründete psychotherapeutische/psychoanalytische Institute finden, die als reine Ausbildungsbetriebe organisiert sind, wie z.B. das Centrum für Integrative Therapie (CIP) München, das neben psychodynamischen Verfahren auch Verhaltenstherapie als mögliche Weiterbildungsrichtung anbietet. 5.4.3 Psychoanalyse international Die spezifisch deutschen bzw. Münchner Entwicklungslinien der Psychoanalyse sind natürlich eingebettet in die Entwicklung der Psychoanalyse auf internationaler Ebene, die somit ebenfalls den Kontext dieser Untersuchung bildet. Innerhalb der Psychoanalyse entwickelten sich seit Freud verschiedene Schulen und Richtungen (vgl. auch Kap. 3.1), eine „große Metatheorie“ ist nicht vorhanden. Die theoretische Vielfalt innerhalb der Psychoanalyse führt in der Gegenwart zu einer Art „postmoderner Identitätskrise“, und es wird die Frage laut, was denn den Kern psychoanalytischen Denkens eigentlich ausmache. Als Titel seiner Eröffnungsrede zum 35. International Psychoanalytic Congress 1987 in Montreal wählt Robert S. Wallerstein den Titel „One Psychoanalysis or many?“ (Wallerstein 1988, S. 5). „Such a topic [das für die psychoanalytische Community weltweit von Bedeutung ist, Anm. K.H.], I think, is the one I have selected today, that of our increasing psychoanalytic diversity, or pluralism as we have come to call it, a pluralism of theoretical perspectives, of linguistic and thought conventions, of distinctive regional, cultural and language emphases; and, what it is, in view of this increasing diversity, that still holds us together as common adherents of a shared psychoanalytic science and profession.“ (Wallerstein 1988, S. 5)
Diese Thematik setzt er in der Eröffnungsrede zum 36. International Psychoanalytic Congress in Rom 1989 fort (vgl. Wallerstein 1990). Will (2006, S. 9) konstatiert, dass es bereits zur Zeit Freuds das „Problem der Pluralität“ gegeben habe und sieht die psychoanalytische Community heute vor die Aufgabe gestellt, diese Pluralität anzuerkennen und mit ihr umgehen zu können. Um jedoch nicht einer völligen Beliebigkeit und Willkür Vorschub zu leisten, sei es notwendig herauszufiltern, was denn die Qualität psychoanalytischen Arbeitens
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
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ausmache, wozu Will eine Studie an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München durchführte. Auch meine Interviewees bestätigen die Aktualität der Pluralitäts-Frage. „Die Definition von ‚Was ist Psychoanalyse?‘, so könnte man sagen, wird immer wieder in diesem unserem Institut behandelt. [...] Dass immer wieder, also ich erlebe das so zumindest, dass immer wieder der Grundkonsens hergestellt werden muss dahingehend [...].“ (Frau Jensen, Z. 165f/171f)
Die Diversifizierung der Psychoanalyse ist nicht nur mit verschiedenen theoretischen Schulen an sich, sondern auch mit der Institutionalisierung und Weiterentwicklung von psychoanalytischen Traditionen und Kulturen in unterschiedlichen Ländern verbunden (z.B. Frankreich, Lateinamerika etc., vgl. dazu List 2009). Diese psychoanalytischen „Subkulturen“ bieten neben dem Risiko des Auseinanderfallens den VertreterInnen der Psychoanalyse die Möglichkeit, sich spezifisch zu identifizieren und eine eigene Identität in diesem Bereich zu erarbeiten, die sich über die Zeit hinweg auch verändern kann. „Am Anfang war die Psychoanalyse für mich sehr deutsch, eine deutsche Wissenschaft. Ich habe auch auf Deutsch Lehranalyse gemacht. Aber da ich hier auch lange in einer Klinik gearbeitet habe, wo der Leiter lange in Frankreich war, aber er war ein Deutscher, Herr L, ich weiß nicht, ob Sie den kennen, war das, wie wir gearbeitet haben, sehr geprägt von der französischen Psychoanalyse. Da habe ich also erst mal die Ausbildung im Institut B gemacht, die in so einer ganz deutschen Tradition war. Dann hatte ich meine Arbeit dort, die sehr stark geprägt war von dem französischen Denken, wozu ich sonst nie gekommen wäre, wenn ich da nicht gearbeitet hätte. Und dann habe ich viel später erst angefangen, mich mit der Psychoanalyse in X zu beschäftigen.“ (Frau Levine, Z. 138–146)
Hinzu kommt, dass psychoanalytisches Denken bzw. die Psychoanalyse als Therapieform in verschiedenen Gesellschaften auf unterschiedliche Weise oder auch gar nicht verankert ist und sie in den jeweiligen Ländern eine spezifische Historie hat. Auf diesen Aspekt beziehen sich auch die Interviewees, die selbst migriert sind und somit Erfahrungen mit der Psychoanalyse unter verschiedenen gesellschaftlichen wie kulturellen Bedingungen sammeln konnten. Das Spektrum dieser Erfahrungen ist weitreichend und umfasst viele verschiedene Facetten. Das (ja auch sehr „westlich“ geprägte) Modell der Psychoanalyse konnte im Land Z, aus dem Frau Jensen migrierte, zu deren Bedauern keine wesentliche Rolle einnehmen, und es wird deutlich, wie relativ das ist, was als different erlebt wird.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
„Als ich 1991 bis 93 noch mal in O. [der Hauptstadt von Z., Anm. K.H.] lebte, habe ich mich viel in der deutschen Diaspora sozusagen bewegt. Da habe ich festgestellt, in der Gesellschaft, an den Universitäten, kennen sie die Psychoanalyse eigentlich nur als Begriff. Es hat einen relativ bekannten Analytiker gegeben, [...] ich hatte ihn damals aufgesucht [...]. Also steht nicht im Curriculum, Freud kennt man, dass es Psychoanalyse gibt, kennen die Studenten, ich habe damals Kurse gegeben für die Dozenten der Universität von O. Was Psychoanalyse ist und wie wir hier in Deutschland in der Praxis Psychoanalyse betreiben. Ja, und es ist für die sehr weit, sehr exotisch.“ (Frau Jensen, Z. 71–79)
Ähnliches berichtet Herr Günes in Bezug auf das Land Q, in dem die Psychoanalyse zwar in größeren Zusammenhängen nicht gesellschaftlich verankert ist, es aber in bestimmten subkulturellen Kontexten ein großes Interesse an psychoanalytischem Denken gibt. Im Gegensatz dazu ist die Psychoanalyse bzw. die psychoanalytische Praxis im Land X, dem „Herkunftsland“ von Frau Levine, gut integriert, wenn auch als Therapieform nicht im Gesundheitssystem verankert, was seine Auswirkungen zeigt. „Das macht mir also großen Spaß, mit den Leuten aus X zu arbeiten. Weil Analyse zu machen nicht so ein Makel ist, kann man sehr offen darüber sprechen dort. Ich bin bei dem und bei der und mach das. Du gehst zweimal, ich geh viermal – das ist nicht so ein Tabu. [...]. Ich denke aber, durch die ganze ökonomische Krise ist das auch ein bisschen absurd, weil es können nur Leute betreiben, die nicht davon leben. Und die Patienten zahlen sehr wenig, also es ist ein ganz anderer Zugang als hier und das beeinflusst die Analyse dort auch natürlich. Es gibt keine Kassenanträge und nichts, das ist gar nicht, die entwickeln sich schon in eine andere Richtung auch.“ (Frau Levine, Z. 151–159)
In bestimmten Ländern kam es (ähnlich der deutschen NS-Geschichte) während totalitärer Regimes auch zur Unterdrückung bzw. zum Verbot der Psychoanalyse, wobei Frau Zanolla von den Schwierigkeiten berichtet, die die erneute Aufnahme und der Aufbau einer psychoanalytischen Ausrichtung nach einem solchen historischen Bruch mit sich bringt. „Also, das war damals [während des Kommunismus, Anm. K.H.] verboten. Aber es gab eine Untergrundbewegung der Psychoanalyse und später der Familientherapie. [...] Im Moment weiß ich, dass da sehr viel aufgebaut wird in Y, aber dass sie sehr feindselig sind gegenüber Emigranten, die da mitarbeiten möchten. Also sie sind offen gegenüber ausländischen Analytikern, aber ich habe mich auch schon angeboten und eine Kollegin von mir [...], und wir sind so brutal geschnitten worden. Und das ist in anderen Berufen ähnlich.“ (Frau Zanolla, Z. 57f/72–77)
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
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Immer wieder wird der schichtspezifische Zugang zur Psychoanalyse in den Interviews thematisiert, der sich in verschiedenen Ländern beobachten lässt und bereits Cremerius (1979, S. 57) in Bezug auf PatientInnen aus der sogenannten Unterschicht feststellen ließ: „Es bleibt jedoch eine Beobachtung für diese Schicht evident: Unabhängig von den oben genannten Faktoren (Großstadt, bessere Schulbildung, politisch-gewerkschaftliche Aktivität) erscheinen ihre Angehörigen weit seltener in den psychotherapeutischen Praxen und Polikliniken als die Angehörigen der unteren Mittelschicht.“
Jost Ackermann (1984) weist in seiner Untersuchung auf die Barrieren hin, die sowohl institutionelle Aspekte aufweisen als auch in der Person der professionellen HelferInnen liegen können. Besonders offensichtlich ist der schichtspezifisch selektive Zugang in Ländern, deren Infrastruktur ein starkes Stadt-Land-Gefälle aufweist, wie das Land P, aus dem Frau Sousa nach Deutschland migrierte. Auch Frau Fischer greift das Schicht-Thema in Bezug auf die therapeutische Versorgung in R auf. „Und es ist ein wahnsinnig großer Bedarf da. Darunter fällt alles. Psychoanalyse, therapeutische Gespräche, Verhaltenstherapie und so. Das Analytische ist nicht sehr bekannt, wobei R hat eine sehr unterschiedliche – der städtische Bau ist sehr unterschiedlich. Unter reicheren Leuten gibt es durchaus Analytiker, die ihre Ausbildung in Amerika gemacht haben, und das richtig mit Analysecouch und so weiter. Wobei das bei anderen Schichten, den unteren, gar nicht vorhanden ist. In der Mittelschicht ist es nicht speziell die Psychoanalyse, aber schon Therapie, also Gesprächstherapie.“ (Frau Fischer, Z. 30–37)
Die globalisierte Psychoanalyse trifft also, worauf auch die Interviewausschnitte hinweisen, in verschiedenen sozio-kulturellen Zusammenhängen auf spezifische Bedingungen, hat eine unterschiedliche Geschichte in den jeweiligen Ländern und ist dadurch entsprechenden Veränderungen unterworfen. Innerhalb der von mir geführten Interviews werden auch Zweifel geäußert, ob es sich denn bei den diversen theoretischen Zugängen innerhalb der Pychoanalyse überhaupt um „echte“ Theorien handelt. „Wobei es sich ohnehin nicht um Theorien handelt, meines Erachtens, sondern Ideengeschichte, wenn man es wissenschaftlich korrekt anschauen möchte.“ (Herr Bernard, Z. 115ff)
Wie das Urteil bezüglich dieses Aspektes (ist die Psychoanalyse eine Ideengeschichte oder eine Theorie?) ausfällt, ist allerdings im zugrunde gelegten Wis-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
senschafts- und Theoriebegriff bedingt. Der an diesen Aspekt anknüpfende Diskussionsstrang, der sich bereits durch die Geschichte der Psychoanalyse zieht, ist die Frage nach der Wissenschaftlichkeit bzw. dem Wissenschaftsverständnis. Diskutiert wird dabei allgemein, ob es sich bei der Psychoanalyse um eine nomothetische oder um eine hermeneutische Wissenschaft handelt. Freud selbst verortete die Psychoanalyse in den Naturwissenschaften, wobei die IchPsychologie zu dieser wissenschaftlichen Positionierung einen weiteren wichtigen Beitrag lieferte (vgl. Nitzschke 1993). Jürgen Habermas (1968, S. 300) spricht hier von einem „szientistischen Selbstmißverständnis“ Freuds und versteht die psychoanalytische Perspektive als hermeneutische Zugangsweise. Adolf Grünbaum (1988, S. 11) wiederum bezichtigt Habermas einer „willkürliche[n] Lesart“ Freuds und möchte die Psychoanalyse im Sinne Freuds als Naturwissenschaft verstanden wissen. Mertens (1992, S. 244) bemerkt allerdings, dass kritisch zu hinterfragen sei, ob denn Freuds Verständnis von Naturwissenschaft der heutigen Vorstellung davon entspreche. „Es ist zu vermuten, dass Freud ‚naturwissenschaftlich‘ im Sinne von geordnet, systematisch, auf Beobachtung fußend – kurzum: wissenschaftlich – verstand, aber sehr wohl Unterschiede zur damaligen medizinischen Wissenschaft oder zur Biologie angenommen hat.“
Ein nomothetisches Verständnis der Psychoanalyse erleichtert allerdings den Anschluss an den Mainstream der akademischen Psychologie (vgl. Nitzschke 1993) und liegt in der Regel auch der zunehmend an Bedeutung gewinnenden empirischen Psychoanalyseforschung zugrunde. Im Bereich der Forschung unterscheidet Schors (1993) eine Makro- und eine Mikroperspektive. Zur Makroperspektive zählt er die Forschung, die sich mit differentieller Indikationsstellung im klinischen Bereich beschäftigt, zudem die Versorgungsforschung und Forschungsarbeiten, die die Anwendung erlernter Techniken innerhalb der Therapie untersuchen. Unter der Mikroperspektive werden Inhaltsanalysen von Therapieprotokollen, wie sie z.B. in der „Ulmer Datenbank“ gesammelt und im Weiteren ausgewertet werden, zusammengefasst, zudem auch die Mimikanalysen im Rahmen der Affektforschung und die Computersimulation psychischer Abläufe. Vor allem aufgrund ökonomischen Drucks werden Wirksamkeitsstudien zunehmend wichtiger, um eine Finanzierung der Therapien durch die Krankenkassen weiter zu gewährleisten (vgl. Kaiser). Einen wichtigen Beitrag zur Forschung liefern auch Präventionsstudien bzw. -programme, wie das ADHS-Frühpräventionsprogramm (Leuzinger-Bohleber, Brandl & Hüther 2006). Eine ausführliche Darstellung der empirischen Forschung innerhalb der Psychoanalyse findet sich im Buch Psychoanalyse als Profession und Wissen-
5.4 Vor welchem Hintergrund? Der Kontext der Untersuchung
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schaft von Marianne Leuzinger-Bohleber, Heinrich Deserno und Stephan Hau (Hg./2002). Schulenübergreifend führten nicht zuletzt die Ergebnisse der Säuglings- und Bindungsforschung zu dem Paradigmenwechsel, der innerhalb der Psychoanalyse die Intersubjektive Wende oder der relational turn genannt wird (vgl. Baumgart 1993, Altmeyer & Thomä 2006). „Der Mensch ist keine Monade – er wird vielmehr in menschliche Beziehungen hineingeboren, gewinnt durch soziale Beziehungen hindurch ein Verhältnis zu sich selbst und der Welt und bleibt bis ins hohe Alter auf solche Beziehungen angewiesen. Als Menschen werden wir gerade dadurch zu einzigartigen, unverwechselbaren Individuen, dass wir unsere ‚Beziehungsschicksale‘ verinnerlichen und zum Aufbau unserer psychischen Struktur verwenden.“ (Altmeyer & Thomä 2006, S. 8)
Aufgrund der Untersuchungen der „baby-watcher“ veränderte sich das Bild des Säuglings hin zum „kompetenten Säugling“ (Stone et al. zit. in Altmeyer & Thomä 2006, S. 16), der von Beginn an in einem steten Dialog mit der Mutter (oder einer anderen primären Bezugsperson) steht und sich hierbei ein entsprechendes Beziehungswissen aneignet. Dieses Konzept der „primären Intersubjektivität“ (Trevarthen zit. in ebd.) findet „durch die Entdeckung einer besonderen Art von Nervenzellen [...], die als ‚Spiegelneuronen‘ einen einfühlenden Kontakt zur sozialen Umwelt erlauben“ (ebd. S. 17), wiederum Anschluss an die Neurowissenschaften. Eine Verbindung zwischen Säuglingsforschung und Psychoanalyse stellt auch die Londoner Forschungsgruppe um Peter Fonagy mittels ihres intersubjektiv gefassten Konzeptes der Mentalisierung21 her (vgl. Fonagy, Gergely, Jurist & Target 2008). Jean Laplanche (2006) schlägt eine Brücke zwischen Freudscher Triebtheorie und Konzepten der Intersubjektivität und vertritt eine intersubjektive Triebtheorie, was „ihn von jenen Kritikern Freuds [unterscheidet], die die monadologische Triebtheorie im Namen der sozialen Natur des Menschen ablehnen, aber auch von Freud und den Freudianern“ (Widlöcher zit. in Altmeyer & Thomä 2006, S. 259). Allerdings weisen Altmeyer & Thomä (ebd., S. 9) auch darauf hin, dass bereits Freud selbst „intersubjektive Einsichten“ gehabt habe, diese jedoch „unentfaltet[...]“ geblieben seien. Die vorangegangenen Kapitel dienten dazu, den Kontext der von mir durchgeführten empirischen Forschung genauer zu bestimmen, und stellten internationale wie lokale Bezüge und diskursive Anschlüsse her. Im Weiteren 21
Unter Mentalisierung wird – in Anlehnung an die Theory-of-Mind-Forschung – die „in den ersten Lebensjahren auftauchende[...] Fähigkeit verstanden, sich mentale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen“ (Fonagy, Gergely, Jurist & Target 2008, S. 31). Die AutorInnen beziehen in ihr Modell nicht nur kognitive, sondern auch affektive Prozesse mit ein.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
möchte ich zur Darstellung der Ergebnisse meiner Studie übergehen, die drei Themenkreise umfasst: 1. 2. 3.
Psychoanalyse und Kultur als Gegenstand der psychoanalytischen Ausbildung (Kap. 5.5) Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung (Kap. 5.6) Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis (Kap. 5.7)
5.5 Psychoanalyse und Kultur als Gegenstand der psychoanalytischen Ausbildung „It is, of course, debatable, whether therapeutic training, that is wholly tied to the European model of mind and its psychological concepts is any longer able to meet the task of today’s mobile and pluristic society.“ (Kareem 1992, S. 31)
Wie anhand der vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, ist die „multikulturelle Gesellschaft“22 in Deutschland, besonders in einer Großstadt wie München, längst Alltag. Umso wichtiger erscheint die Frage, ob und wie sich PsychotherapeutInnen, und in dieser Arbeit im Speziellen PsychoanalytikerInnen, dieser Realität gegenüber öffnen. Exemplarisch kann hier der Umgang der in meiner Untersuchung berücksichtigten Ausbildungsinstitute mit der Thematik verstanden werden, da sie strukturieren und vermitteln, was aktuell als essentiell für die Arbeit im Rahmen einer psychoanalytischen Praxis erachtet wird. 5.5.1 Die Vermittlung von Inhalten zum Thema Kultur und Interkulturalität Eine der zentralen Fragen, die ich an die PraktikerInnen stellte, war die danach, was an konkretem Wissen über Kultur und interkulturelles Arbeiten im Rahmen der drei ausgewählten Münchner Ausbildungsinstitute vermittelt wird und auf welche Weise dieses Wissen an die KandidatInnen weitertransportiert wird. Die vermittelten Inhalte spiegeln, so meine Annahme, die Vorstellung derer wider, die für die Ausbildung der KandidatInnen zuständig sind, was Psychoanalytike-
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Der Begriff der Multikulturalität ist allerdings kritisch zu betrachten, da er Kulturen als abgeschlossene Entitäten voraussetzt.
5.5 Psychoanalyse und Kultur als Gegenstand der psychoanalytischen Ausbildung
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rInnen „normalerweise“ brauchen, um der Behandlung der „typischen“ PatientInnen gerecht zu werden. Oder, wie Herr Bernard es ausdrückt: „Die Ausbildung vermittelt eine Art Führerschein, und innerhalb der Fahrpraxis sollte man sich mit dem einen oder anderen noch beschäftigen. Also, dass wir sicherstellen in einer Ausbildung, dass jemand gut genug ist, dieses Angebot, psychotherapeutisch zu arbeiten, sinnvoll realisieren kann.“ (Herr Bernard, Z. 174–177)
Es stellt sich also die Frage, ob in diesem Konstrukt der „typischen“ PatientInnen auch der Aspekt des Migrationshintergrundes und alles, was damit in Verbindung steht, enthalten ist, oder ob die Feststellung von Roland noch immer Aktualität besitzt. 23
„Culture and sociohistorical change are with rare exceptions the missing dimensions in psychoanalysis.“ (Roland 1996, S. xii)
Auf der Suche nach einer Antwort finden sich Gemeinsamkeiten, aber auch subkulturelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausbildungsinstituten. Als Referenz verwende ich hier die Aussagen der AusbilderInnen und der Niedergelassenen, da die KandidatInnen noch nicht die gesamte Ausbildung durchlaufen haben und folglich nur bedingt Aussagen in Bezug auf die Ausbildungsinhalte treffen können. Die Niedergelassenen ermöglichen mittels des Rückblicks auf die Einbindung der Thematik im Rahmen ihrer Ausbildung einen Vergleich zwischen verschiedenen Zeitpunkten. Im psychoanalytischen Institut A, vertreten durch Frau Schreiber, ist die Wissensvermittlung in Bezug auf Kultur und Interkulturalität im engen Sinne, wie z.B. die mögliche innerpsychische Auswirkung der Migrationserfahrung, innerhalb der Ausbildung der KandidatInnen so gut wie kein Thema. Demgegenüber finden allerdings gewisse soziokulturelle Aspekte in der Ausbildung Eingang. Interviewerin: „Was lernen denn WeiterbildungskandidatInnen innerhalb Ihres Institutes zum Thema Kultur und Interkulturalität?“ Frau Schreiber: „Hmmm. Kultur und Interkulturalität – zu wenig wahrscheinlich wieder mal. Ich weiß es auch nicht. Was sie natürlich lernen, den soziokulturellen Kontext des Verstehens von Neurosen und seelischen Erkrankungen. Gelegentlich gibt es jetzt auch Themen, wie z.B. bei den Theorien, wo auch sozialpsychologische Aspekte der Erkrankung ganz intensiv mit dem Mario Erdheim, den man einlädt, oder so, mitdiskutiert werden. Also das ist eine, wie soll man sagen, das ist ei23
Cyrus Khamneifar (2008) untersuchte die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Wandels durch PsychotherapeutInnen bzw. PsychoanalytikerInnen.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
ne Dimensionierung des Ausbildungsstoffes in die soziale Wirklichkeit und damit auch in die kulturelle –, in die Geschichte der Psychoanalyse.“ (Z. 254–262)
Während sie sich persönlich aufgrund ihres eigenen Interesses und auch der praktischen Notwendigkeit mit dem Themenkomplex Migration/Kultur/Interkulturalität befasst, gibt es hierfür jedoch kaum eine institutionelle Einbindung. „Ich habe zwei Migranten als Lehranalysanden, also dafür beschäftige ich mich persönlich schon damit. Aber im Kontext der Institution hier ist das Thema noch nicht richtig angekommen.“ (Frau Schreiber, Z. 122ff)
Auf der Suche nach Gründen für die geringe Aufmerksamkeit, die diesem Aspekt im Institut A gewidmet wird, geht sie der Überlegung nach, ob es daran liegt, dass die Thematik aufgrund der geringen Anzahl an migrierten KandidatInnen in das Institut nicht „hineintransportiert“ wird. „Wahrscheinlich, wenn wir mehr Ausbildungskandidaten hätten, ich denke, das wäre eine Möglichkeit, über die Schüler, die Migranten sind, dieses Thema hier reinzubringen [...]“ (Frau Schreiber Z. 124ff)
Eine weitere Überlegung führt sie dahin, dass die Thematik rund um Migration und Interkulturalität in Deutschland generell, oder aber speziell in der Psychoanalyse, zu wenig Beachtung fände. „[...] dass wir halt Menschen in Behandlung nehmen oder Beratungstätigkeit ausüben, wo das wichtig wäre, dass man da von außen mehr Bewusstsein schafft, von selbst kommt das, glaube ich, sehr spät. Ich weiß gar nicht, wann es kommen würde. Es wäre durchaus denkbar, dass es diese Probleme gibt, so wie wir anderes auch verschlafen haben, wo wir [i.e. die PsychoanalytikerInnen, Anm. K.H.] uns melden könnten.“ (Frau Schreiber Z. 166–171)
Die Ursachen dafür, dass Fragen rund um Migration und Interkulturalität im engen Sinne im Kontext der Ausbildung kaum vorkommen, sieht sie also einerseits strukturell in der Institution an sich verankert, aber auch im Kontext, in dem sich diese Institution befindet. Für das Institut B äußern sich Frau Szabó und Herr Bernard. Da das Interview mit Herrn Bernard ca. fünf Jahre früher als das mit Frau Szabó geführt wurde, lässt sich zudem eine Entwicklung bezüglich der Thematik im Institut B nachzeichnen. Auf meine Frage, was KandidatInnen in Bezug auf Kultur und Interkulturalität im Rahmen ihrer Ausbildung im Institut B lernen, fallen die Antworten,
5.5 Psychoanalyse und Kultur als Gegenstand der psychoanalytischen Ausbildung
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wenn auch zu verschiedenen Zeitpunkten gegeben, von Frau Szabó und Herrn Bernard zunächst inhaltlich gleich aus. „Wenig, sehr wenig. Also wenn sie was lernen, dann auf der Ebene der Therapien, die sie durchführen. Aber als ganz konkretes Angebot, bis auf die wenigen Seminare [der Abteilung Gruppenanalyse, Anm. K.H.], von denen ich gesprochen habe, also als konkretes Angebot, denke ich wenig.“ (Herr Bernard, Z. 167–170)
Ethnopsychoanalytische oder kulturtheoretische Werke seien zwar im Literaturverzeichnis aufgelistet, es bleibe aber dem Interesse der einzelnen AusbildungskandidatInnen überlassen, inwieweit sie sich damit befassen. Aspekte der Kultur würden lediglich praxis- bzw. fallbezogen beachtet. Auch fünf Jahre später äußert Frau Szabó, dass die Thematik zu ihrem Bedauern immer noch zu wenig in expliziten Angeboten vermittelt würde. Dies werde sich jedoch ändern, da ein hoher Bedarf für ein solches Angebot aus der Praxis der KandidatInnen entstanden sei und von diesen eingefordert werde. „Es gibt immer wieder [Angebote aus der Abteilung Gruppenanalyse, Anm. K.H.], 24 und das soll jetzt eben systematisiert werden für die Abteilung ETH und AKJP . Also ich hab das lange gemacht, dass ich jedes Semester etwas angeboten habe, z.B. zur Identität oder Verlusterleben, also Themen aus der Migration. Aber das ist, wie gesagt, das ist eher unsystematisch und das fehlt. Es fehlt ein übergeordnetes, find ich, ein stringentes Angebot über Migration und Interkulturalität. Also das ist einfach so sporadisch, ja.“ (Frau Szabó, Z. 93–98)
Während sich Herr Bernard noch nicht sicher ist, ob denn eine systematische Integration der Thematik in das Curriculum der Ausbildung notwendig sei, ergibt sich zum Zeitpunkt des Interviews mit Frau Szabó bereits aus der Behandlungspraxis der KandidatInnen heraus die Notwendigkeit, sich mit diesen Aspekten psychotherapeutischen Arbeitens zu befassen. Darauf soll nun von Seiten des Institutes reagiert werden. „Aber es ist ein großes Thema, das weiß ich einfach von Kollegen aus beiden Bereichen, die die kasuistischen Seminare abnehmen, was ich auch zum Teil gemacht habe. Dass gerade jetzt Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen in Ausbildung, dass die natürlich sehr viel mit türkischen Familien arbeiten, deutsch-türkischen und anderen Nationalitäten und auch sehr viele, das weiß ich auch jetzt von der Ambulanz des Institutes B, dass da ein Großteil, ich glaub, die Zahl hab ich jetzt wieder vergessen, aber bestimmt 50% der Patienten kommen mit Migrationshintergrund. Also von daher ist es einfach notwendig, dass da auch mehr Input kommt theoretisch.“ (Frau Szabó, Z. 98–106) 24
Erwachsenentherapie und Analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Ethnopsychoanalytische Schriften, die nach wie vor nicht systematisch in die Ausbildung eingebunden seien, könnten, so Frau Szabó, die Folie bieten, auf deren Hintergrund der „einseitige westliche Blick“ (Z. 136) dezentriert werden könnte. In Bezug auf das Institut C berichten sowohl Frau Jensen als auch Frau Zanolla, dass Inhalte rund um Migration und Interkulturalität während ihrer eigenen Ausbildungszeit (die bei Frau Jensen schon ca. 20 Jahre zurückliegt) überhaupt nicht vorhanden gewesen seien. Während es auf einer persönlichmenschlichen Ebene eine große Offenheit gegenüber MigrantInnen im Institut gegeben habe und heute noch gebe, finde sich auch gegenwärtig in diesem Institut keine Einbindung des Themenkreises in das allgemeine Curriculum, das alle KandidatInnen durchlaufen müssen. Die Realität des interkulturellen Alltags in München spiegele sich allerdings, so Frau Levine, in der Zusammensetzung des Klientels der Institutsambulanz wider. Lediglich eine Minderheit befasse sich jedoch mit Kultur, Migration und interkulturellem psychoanalytischem Arbeiten in Form von einzelnen Seminaren, die auf Initiative von Frau Jensen entstanden waren. Frau Jensen bedauert die Randständigkeit dieser Seminare im institutionellen Gesamtkontext. Auf der Suche nach Gründen für die marginale Bedeutung der Thematik finden sich verschiedene Antworten. Frau Levine geht davon aus, dass sich das Institut C in seinem Ausbildungsangebot vor allem nach den Wünschen der KandidatInnen richte. Diese konzentrierten sich ihrer Meinung nach vor allem auf behandlungstechnische Aspekte im engeren Sinne und bezögen sich vor allem auf das „Innere“, das scheinbar losgelöst vom soziokulturellen Kontext betrachtet werden könne. „[...] also es ist doch eine Minderheit, die sich mit dem Thema beschäftigt. Und ich glaube auch, weil es ein soziokulturelles Thema ist, und viele sich ja dann auch mehr mit der inneren Psyche beschäftigen wollen, also mit innerpsychischen Phänomenen, nicht so sehr mit kulturellen. Also sie sind auch sehr beschäftigt damit, sich überhaupt die Behandlungstechnik anzueignen, dass das im Vordergrund ist: Wie geh ich überhaupt mit einem Patienten um, was mach ich eigentlich überhaupt, wenn ich Psychoanalyse mache?“ (Frau Levine, Z. 248–254)
Frau Jensen moniert allerdings auch das mangelnde Interesse der KollegInnen (ohne Migrationshintergrund) ihrer Generation, mittels derer sie sich mehr institutionelle Einbindung wünscht. „[...] ich hab mich damals eigentlich beworben, dass ich das machen will, dürfte sozusagen. Und dann wurde das akzeptiert und das entwickelt sich jetzt so ganz gut. Ich bin noch zu sehr alleine. Also so, Kollegen, erfahrene Kollegen von meiner Generation, da habe ich bis jetzt noch zu wenig. Also ich habe zur Zeit eigentlich gar
5.5 Psychoanalyse und Kultur als Gegenstand der psychoanalytischen Ausbildung
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keine. [...] Ich hätte auch gerne einen deutschen, oder eine deutsche Kollegin, Kollegen oder Kollegin, die auch immer wieder das ankern. Und das Erfahren im Auseinandersetzen einfach auch immer wieder.“ (Frau Jensen, Z. 183–189)
Für sie bedarf es also sinnvollerweise der Verhandlung der Thematik in einer Gruppe, die sich aus Minoritäten- wie Majoritätenangehörigen zusammensetzt. Der Einblick in die verschiedenen Institute weist, wie eingangs erwähnt, auf subkulturelle Unterschiede zwischen den Instituten hin. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass eine systematische Einbindung des Themenkomplexes Kultur/Migration/Interkulturalität in die psychoanalytische/psychotherapeutische Ausbildung zum Zeitpunkt der Interviews nicht vorhanden war. Ethnopsychoanalytische Schriften spielten kaum eine Rolle. Entsprechendes Wissen schien den KandidatInnen also nicht notwendigerweise für die Behandlung des/der „typischen PatientIn“ vermittelt werden zu müssen, obwohl, vorausgesetzt die Zugangsvoraussetzungen wären für alle KlientInnen gleich (vgl. Kap. 2.1), rein statistisch gesehen mehr als ein Drittel der PatientInnen über einen Migrationshintergrund verfügen müsste. Im Institut B lässt sich jedoch eine Veränderung hin in Richtung einer Systematisierung des Angebotes beobachten, die als Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen und als Folge neuer Anforderungen an die psychotherapeutische Praxis verstanden werden kann. 5.5.2 Netzwerkstrategien als Schlüssel zum Erwerb spezifischen Wissens und Möglichkeit zum Empowerment Der Erwerb spezifischen Wissens in Bezug auf interkulturelles psychoanalytisches Arbeiten im Rahmen der Ausbildung war zum Zeitpunkt der Interviewführung nur sehr bedingt und eher einzelfallbezogen möglich. Es stellt sich also die Frage, wie PraktikerInnen, die vermehrt interkulturell arbeiten, das notwendige Wissen erwerben bzw. erworben haben, das sie im Arbeitsalltag benötigen. Ein genauerer Blick auf die Gruppe der Niedergelassenen liefert hierauf Antworten. Frau Zanolla, Frau Levine und Frau Jensen geben an, dass neben dem Studium der einschlägigen Literatur vor allem die Vernetzung mit KollegInnen im In- und Ausland zu Wissens-Netzwerken das interkulturelle Arbeiten erleichtert. Diese Vernetzung ermöglicht zum einen den Zugang zu spezifischem Wissen und die Diskussion auftretender Fragestellungen und Unsicherheiten, wie es Frau Levine schildert. Da sie vorwiegend mit KlientInnen aus X arbeitet, kann sie eine dort praktizierende Analytikerin als Referenzpunkt verwenden.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
„Also, ich hab eine gute Freundin, die ist Analytikerin in X und die frag ich immer. Ich frag immer, wie was machst du eigentlich, wie machst du das, weil ich das dort nämlich nicht gelernt hab, aber die Patienten hab von dort. Ich hab sie zum Beispiel gefragt, gebt ihr euch Küsschen und so weiter? Wenn man sich zwei-, dreimal gesehen hat, ist das automatisch, dass man sich so begrüßt. Und sie hat gesagt, nein, sie macht es nicht, obwohl sie aus X ist. Und da hab ich gemerkt, dass die eine, die das immer wollte bei mir, die eine Patientin, dass das o.k. ist, wenn ich das nicht will. Aber das waren so Unsicherheiten. Und auch das Duzen und Siezen, das war so eine Sache, die man selber lösen muss [...]. Da bin ich im Kontakt mit vielen ausländischen Analytikern. Da tauschen wir uns dann auch aus.“ (Frau Levine, Z. 387–395/398f)
Zum anderen dient der Zusammenschluss zu Netzwerken nicht nur dem Austausch von Wissen und Erfahrungen. Durch die Verbindung mit anderen Interessierten wird eine Art gegenseitiges Empowerment möglich, das „eine gelingende Mikropolitik des Alltags“ (Herringer 1997, S. 13) ins Zentrum stellt (vgl. auch Straus & Höfer 1998). Infolge dessen entsteht ein Raum für Identitätsarbeit und gegenseitige Anerkennung (vgl. Straus 2008), die eine Gegenbewegung bzw. einen Gegendiskurs zu den Normalisierungsstrategien der Majorität (die Dethematisierung von Themen rund um Migration und Interkulturalität ist „normal“) möglich machen. „Normalität“ gehört, so Jürgen Link Bezug nehmend auf die Diskurstheorie Foucaults (vgl. Kap. 2.2), zu den „diskurstragenden Kategorien. Diskurstragende Kategorien sind solche, durch deren ‚Entfernung‘ – wenn man sie sozusagen aus dem betreffenden Diskurs herauszöge wie die Stahlteile aus einer Betonkonstruktion – der betreffende Diskurs nicht länger ‚halten‘ könnte und in sich zusammenbräche wie ein Kartenhaus. Unter solchen Kategorien sind in der Regel nicht isolierte einzelne Wörter zu verstehen, sondern ganze semantische Komplexe einschließlich ihrer Praxisbezüge, wiederum vergleichbar mit kreuzweise angeordneten Stahlteilen in Beton“ (Link 1998, S. 15). Frau Jensen ergreift offensiv gegendiskursive Strategien, um dem Normalitätsdiskurs innerhalb ihres Instituts etwas entgegenzusetzen. „Ich hab jemanden gefunden, eine deutsche Kollegin von einem anderen Institut, [...] die eine Gruppe macht mit ausländischen Migranten [...]. Also mit ihr tausche ich mich dann sehr gerne aus. [...] Ja, also wir zeigen uns gegenseitig unsere Arbeiten. Da fühle ich mich verstanden. Ja. Glaube ich, hoffe ich jedenfalls. [...] Jetzt in unserer Gruppe sind junge Ausbildungskandidaten und Ausbildungskandidatinnen, und im Institut C sind eigentlich genügend Kandidaten, die aus anderen Kulturen kommen. Und ich denke, das ist mein Traum, da würde ich alle gerne dazu bewegen, dass sie ihre Erlebnisse, [...] ihre Arbeiten später mal niederschreiben. Ich merke ja beim Aufschreiben meines Artikels, wie schwierig das doch ist, dass ich
5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung
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mich ganz präzise in der deutschen Sprache ausdrücke. Aber ich hab den anderen gesagt, ihr sollt das trotzdem machen. [...] Die Erfahrungen sind so wertvoll.“ (Frau Jensen, Z. 190ff/194/198–200/202–208/211f)
Die Bedeutung für Frau Jensen, die der Austausch mit einer „deutschen“ Kollegin hat, die an der Migrations- bzw. Interkulturalitätsthematik ebenfalls interessiert ist, macht deutlich, wie wichtig für Angehörige der Minorität die Anerkennung durch bedeutsame VertreterInnen der Majorität (in diesem Fall „deutsche“ AnalytikerInnen) ist. Straus (2008) spricht Bezug nehmend auf Sigrun Anselm von der Untrennbarkeit von Identitätsarbeit und Anerkennung, indem er als eine zentrale Frage der Identitätsarbeit folgende sieht: „Wie erreiche ich mit dem, was ich tue und wie ich mich darstelle, Anerkennung von signifikanten Anderen?“
Deutlich wird anhand des Zitates von Frau Jensen auch, wie die „korrekte“ Verwendung der Sprache (und zwar die der Majorität) als Differenz- und auch Dominanzmerkmal fungieren kann. Mittels der durch Netzwerkbildung und gegenseitiges Empowerment ermöglichten gegendiskursiven Praxis der Minorität kann auch dem Gefühl der sprachlichen Unzulänglichkeit und auf einer symbolischen Ebene vielleicht der Sprachlosigkeit und des Nicht-Gehört-Werdens im Kontext der Mehrheitskultur anders begegnet werden. Kamta (2009) weist auf die besondere Bedeutung für ethnisierte (und marginalisierte) Minoritäten hin, „sich schreibend den Status von Subjekten gesellschaftlicher Diskurse zu erkämpfen“, um dann im Sinne Spivaks (1996) „sprechen“, d.h. an der Wissensproduktion teilhaben zu können (vgl. auch Kap. 2.5). 5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung Psychoanalytische Ausbildungsinstitute sind nicht nur Orte, an denen Wissen zur Behandlung von PatientInnen, hier mit dem Fokus auf PatientInnen mit Migrationshintergrund, vermittelt wird, sie sind auch Orte, an denen Interkulturalität gelebt wird. Es finden sich AusbilderInnen, bereits niedergelassene KollegInnen und AusbildungskandidatInnen mit und ohne Migrationserfahrung, die gemeinsam die intra- und interkulturellen Beziehungen (und natürlich nicht nur die) mit ihren spezifischen Interaktionsformen gestalten. Thea Bauriedl (2008, S. 112) hebt die interaktive, erfahrungsbasierte Vermittlung im Kontext der Ausbildungsinstitution besonders hervor.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
„Die Psychoanalyse entspricht einer besonderen Form des Erlebens und der zwischenmenschlichen Beziehung, wie sie zu Veränderungsprozessen im psychoanalytischen Prozess beiträgt. In der Ausbildung werden Kandidaten und Kandidatinnen vor allem durch die Beziehungsformen geprägt, die sie in ihrer Lehranalyse, in der Supervision und nicht zuletzt in der Art erleben, wie man ihnen im Institut begegnet.“ (Bauriedl 2008, S. 112f)
Dieser These folgend möchte ich genauer untersuchen, wie sich die interkulturellen Beziehungen an den analytischen Instituten gestalten. Hierbei möchte ich zuerst einen Blick darauf werfen, inwieweit sich in den Ausbildungsinstituten die Realität einer interkulturellen Gesellschaft widerspiegelt. Darauf folgt eine genauere Betrachtung dessen, auf welche Weise kulturelle Differenz im institutionellen Kontext verhandelt wird. 5.6.1 Ausbildungsinstitute als Spiegel der interkulturellen Gesellschaft? Psychoanalytische Ausbildungsinstitute sind auch als (kleiner) Teil bzw. als Subkulturen der deutschen, hier der Münchner Gesellschaft zu betrachten. Die Frage, die sich mir während der Konzeption dieser Arbeit stellte, ist die danach, ob sich diese Subkulturen bezüglich ihrer Zusammensetzung an Mitgliedern mit und ohne Migrationshintergrund von der Bevölkerungszusammensetzung Münchens unterscheiden oder ob sie diese repräsentieren. Im Rahmen dieser thematisch breiter konzipierten Arbeit war es leider nicht möglich, „harte“ Daten dazu zu bekommen, wie hoch der Anteil an AusbildungskandidatInnen mit Migrationshintergrund innerhalb der einzelnen Institute ist. Dies wäre nur mittels institutsinterner Erhebungen und einer genaueren Analyse der Zusammensetzung der KandidatInnen bezüglich dieses Merkmals möglich gewesen, was Gegenstand einer eigenen Forschungsarbeit wäre. Aus diesem Grunde verwende ich die „weichen“ Daten der von den Interviewees wahrgenommenen Zusammensetzung der Institutsmitglieder, um Antworten zu finden. Die wahrgenommene Zusammensetzung kann natürlich nicht der Forderung gerecht werden, die entsprechenden Zahlen genau abzubilden. Sowohl die Struktur der Untergruppe, in der sich der/die jeweilige Interviewee im Institut bewegt, als auch die entsprechende Sensibilität für dieses Thema bedingen die Wahrnehmung. Zudem ist die Frage, wer jeweils – zu Recht oder zu Unrecht – als „Mensch mit Migrationshintergrund“ identifiziert wird und anhand welcher Kriterien dieses Merkmal im Alltag überhaupt festgestellt werden kann, außer durch die entsprechende Selbstauskunft als eindeutiges Kriterium. Der Vorteil der Erhebung dieser subjektiven Dimension ist jedoch, neben all den erwähnten Nachteilen, die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund als
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Mitglieder der verschiedenen Institutionen erfassen zu können und den Weg zu subjektiven Bedeutungsstrukturen der Interviewees zu öffnen. Es zeigt sich anhand der Interviews, dass interkulturelles Zusammenleben und Zusammenarbeiten in einem gewissen Maße bereits Alltag in den jeweiligen Instituten ist und sich MigrantInnen in allen Subgruppen der Institutionen finden, also unter den AusbilderInnen und LehranalytikerInnen, den niedergelassenen Mitgliedern und den KandidatInnen. Der wahrgenommene Anteil an MigrantInnen unterscheidet sich jedoch sehr stark. Herr Günes hält ihn unter den KandidatInnen für sehr gering, wobei er von sich aus auf den Begriff des „Ausländers“, nicht auf den von mir angebotenen Begriff des/der MigrantIn, Bezug nimmt. Interviewerin: „Wie hoch, würden Sie denn schätzen, ist der Anteil an Migrantinnen und Migranten innerhalb Ihrer Ausbildung?“ Herr Günes: „Wenig. Also ich bin in der Ausbildung der einzige.“ Interviewerin: „In Ihrem Semester?“ Herr Günes: „Ja, in anderen Semestern kenne ich kaum jemanden, der Ausländer ist.“ (Z. 94–98)
Bis auf Frau Levine, die den Anteil an migrierten KandidatInnen mit ca. 5% ebenfalls als äußerst gering einschätzt, fallen die weiteren Schätzungen in einem Spektrum zwischen 10% und 25% aus. Frau Jensen, die allerdings aufgrund ihrer Seminare zur Migrationsthematik auch vermehrt Kontakt zu KandidatInnen wie fertig ausgebildeten KollegInnen mit Migrationshintergrund hat, schätzt ihn auf 30%. Von Niedergelassenen und AusbilderInnen wird in den letzten Jahren eine Zunahme des MigrantInnenanteils beobachtet. „Also – wie ist das da, also bei der Gruppenweiterbildung nicht so – doch, wir sind auch gemischt. Aber insgesamt überhaupt, ja, denke ich, das schlägt sich schon nieder, so in den letzten beiden Jahren. Es sind einfach mehr Ausbildungskandidaten aus dem europäischen Umland und aber auch aus anderen Kontinenten, aus Asien, Afrika, Amerika.“ (Frau Szabó, Z. 63–67)
Dies sind, wie bereits erwähnt, keine „harten“ Daten, dennoch werte ich die Aussagen meiner InterviewpartnerInnen als Trends, die es zu überprüfen gilt. Allgemein geben sie Hinweise darauf, dass unter den KandidatInnen Menschen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eher unterrepräsentiert sind. Die Frage, die daran anschließt, ist die nach den möglichen Gründen für diese Unterrepräsentation und lenkt den Blick auf die Zugangsvoraussetzungen zu den Ausbildungsinstituten und die dort stattfindenden Auswahlprozesse. Formale Voraussetzung für die psychoanalytische Weiterbildung ist ein entsprechender Hochschulabschluss, den Frau Levine für ein entschei-
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dendes Selektionsmerkmal im Vergleich zwischen MigrantInnen und NichtMigrantInnen hält. Interviewerin: „Sie haben den Eindruck, der [Anteil an KandidatInnen mit Migrationshintergrund, Anm. K.H.] ist mehr geworden, als er früher war?“ Frau Levine: „Ja, weil auch eine neue Generation da ist, die jetzt auch einen akademischen Abschluss hat. Das war früher – da gab’s eh weniger Ausländer. Viele hatten keinen akademischen Abschluss.“ (Z. 281ff)
Der Bildungsbericht 2006 (Bundesministerium für Bildung und Forschung) verweist auf eine neue Studie, die feststellt, dass die Übergangsquote der SchulabgängerInnen mit Migrationshintergrund auf die Hochschule sogar signifikant über der Quote der Studienberechtigten ohne Migrationshintergrund liegt, wobei sich gleichzeitig der Einfluss der Bildungsherkunft auf die eigene Bildung bei den Studierenden mit Migrationshintergrund als weniger bedeutend als in der Gruppe der Studierenden ohne Migrationshintergrund herausstellt. Dieses Ergebnis wird auf die starke Selektion bzw. die schlechteren Bildungschancen für Kinder mit Migrationshintergrund innerhalb der deutschen Schulen zurückgeführt (vgl. Kap. 2.1). „Die insgesamt höhere Studierbereitschaft der Migranten ist darauf zurückzuführen, dass sich hier diejenigen Studienberechtigten, die aus einer nichtakademisch vorgebildeten Familie kommen, deutlich studierfreudiger zeigen, als dies unter Studienberechtigten ohne Migrationsstatus, aber gleicher Bildungsherkunft der Fall ist. Der Wille zum Bildungsaufstieg scheint in dieser Gruppe besonders stark ausgeprägt: Wer es so weit geschafft hat, will dann auch studieren.“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006, S. 157)
Frau Sousa führt in ihrer Reflexion bezüglich der Zugangsvoraussetzungen für potentielle KandidatInnen mit Migrationshintergrund die Bedeutung der sprachlichen Kompetenzen als wichtige Grundvoraussetzung ein. „Die Voraussetzungen gelten für alle, was man an Voraussetzungen als berufliche Qualifikation haben muss. Ich denke, man muss dann natürlich sprachlich gut genug sein, weil dann die Sprache das Werkzeug ist, mit dem man als Analytiker oder Analytikerin arbeitet.“ (Frau Sousa, Z. 70–73)
Es ist allerdings davon auszugehen, dass die sprachliche Kompetenz zumindest für diejenigen, die ihre Bildungslaufbahn in Deutschland absolviert haben, nicht im engen Sinne als Ausschlusskriterium fungiert. Herr Günes hält die Ausgangslage von KandidatInnen mit Migrationshintergrund (er spricht hier aller-
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dings wieder von AusländerInnen) aus anderen Gründen für schwieriger als die derjenigen ohne Migrationshintergrund. Herr Günes: „Es sind sehr viele Faktoren, die [bei der Entscheidung für eine Ausbildung, Anm. K.H.] eine Rolle spielen. Auf jeden Fall ist da erst mal das individuelle Interesse daran. Wie viele Leute sich dafür interessieren, wenn man erst mal von der Allgemeingesellschaft her schaut, dann ist es nicht verwunderlich, wenn so ein geringer Anteil sich dafür interessiert. Das Zweite ist auch die Konkretisierung dieser Ausbildung, die sehr viel mit zeitlichen, materiellen und persönlichen Opfern verbunden ist, und was das alles an Opfern verlangt. Man muss einfach ein unglaublich Interessierter sein, dass man das Ganze auf sich nimmt.“ Interviewerin: „Das würde aber für beide Gruppen [i.e. die mit und die ohne Migrationshintergrund] zutreffen.“ Herr Günes: „Das würde für beide Gruppen – aber wohl für die Ausländer ein bisschen mehr, weil die meisten, wie ich das jetzt erlebe, die haben keine so Möglichkeiten, so große Möglichkeiten, das zu realisieren. Sowohl vom Materiellen als auch von den kulturellen Einflüssen, weil das verlangt schon, man gerät in eine ganz andere Welt, man gerät in eine ganz andere Dynamik, die einem völlig ungewohnt ist.“ (Z. 102–114)
Auf zwei Aspekte nimmt Herr Günes also Bezug, um zu erklären, warum sich die Ausgangslage von MigrantInnen im Vergleich zu den Nicht-MigrantInnen unterscheidet. Der eine Aspekt bezieht sich auf die materielle Benachteiligung von MigrantInnen (vgl. Kap. 2.1), die gerade im Zusammenhang mit einer sehr teuren psychoanalytischen Weiterbildung zum Tragen kommen kann. Es bliebe allerdings genauer zu untersuchen, ob an dieser Stelle eher die Schichtzugehörigkeit, der Migrationshintergrund oder die Kombination beider die möglichen wirksamen Faktoren sind. Der andere Aspekt weist darauf hin, welch starken Einfluss das sehr westlich orientierte psychoanalytische Modell vom Menschen auf die (kulturelle) Identität und das Selbstverständnis der entsprechenden KandidatInnen haben kann. Jafar Kareem (1992, S. 31) formuliert diesbezüglich sehr kritisch: „Such intensive training can sometimes be compared to a kind of colonisation of the mind and I constantly had to battle within myself to keep the head over water, to remind myself at every point who I was and what I was.“
Dies ist auch in Bezug zu setzen mit Praktiken des „Worlding“, wie sie Spivak (1988 & 1996) beschreibt (vgl. Kap. 2.5 dieser Arbeit). Folglich stellt sich die Frage, inwiefern die Individuums- und Autonomiezentrierte psychoanalytische Theorie auf Menschen attraktiv wirkt, die in anderen Modellen von Familie und anderen Werte- und Normsystemen aufgewach-
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sen sind. Es bliebe zu überprüfen, ob „die Übermacht westlicher Konzepte in der Psychotherapie z.B. in der Bewertung des Individuums als wichtigster Instanz im Gegensatz zum Familienverband, oder in der angenommenen Überlegenheit von individuellen Werten wie Vernunft und Selbstbestimmung im Gegensatz zu tradierten Werten wie soziale Anpassung und Unterordnung“ (Kahraman 2008, S. 19) nicht nur für bestimmte PatientInnen mit Migrationshintergrund, sondern auch für einen Teil der potentiellen AusbildungskandidatInnen, die ebenfalls einen Migrationshintergrund haben, unattraktiv wirkt. Jenseits möglicher kultureller Unterschiede bleibt auch zu hinterfragen, was die Art und Weise, wie sich die jeweiligen Ausbildungsinstitutionen präsentieren, bei Mehrheiten- wie Minderheitenangehörigen auslöst. 25
„Die soziale Klasse, ‚Rasse‘ und Ethnizität der TherapeutInnen (und darüber hinaus ganzer Institutionen) sind häufig verschieden von denen der Minderheitenangehörigen. Die unterschwellige Art und Weise, in der sich Institutionen der Welt präsentieren, ist dafür bekannt, daß sie diejenigen ausschließen, die nicht an den Eigenschaften derjenigen teilhaben, die als ‚Teil‘ der Institution betrachtet werden.“ (Phoenix 1998 S. 30)
Interessant wäre an dieser Stelle beispielsweise eine Analyse der Homepages, mit denen sich die verschiedenen Institute im Internet präsentieren, bezüglich ihrer interkulturellen Öffnung und ihrer Machtsensibilität (z.B. Kann die Homepage in verschiedenen Sprachen aufgerufen werden? Ist ersichtlich, ob Therapien bzw. Beratungsgespräche nur auf Deutsch oder auch in anderen Sprachen durchgeführt werden können? Mit welchen Bildern präsentiert sich das Institut, und welche Assoziationen löst das bei Mehrheits- und Minderheitsangehörigen aus?). Die Hinweise, die sich aus den Interviews ergeben, lassen, zusammengefasst, mehr Fragen offen, als sie beantworten, und regen zu weiteren Forschungsarbeiten an. Es bleibt zu analysieren, wie sich die Zusammensetzung der KandidatInnen (und auch anderen Institutsangehörigen) bezüglich des Merkmals Migrationshintergrund gestaltet und in welche Subgruppen wiederum sich diese Untergruppe aufteilen lässt (AusländerInnen und [Bildungs-]InländerInnen etc.). Falls sich ergeben sollte, und darauf gibt es deutliche Hinweise aus den Interviews, dass MigrantInnen in den Instituten eher unterrepräsentiert sind, bliebe herauszufiltern, an welchen Punkten Selektionsmechanismen greifen und welcher Art sie sind. Findet die Selektion bereits im Zugang zu den entspre25
Hier in der Verwendung als konstruierte, nicht biologisch begründete Entität, die der Begriff „Rasse“ im anglo-amerikanischen Sprachraum umfasst. Diese Anmerkung gilt für alle ursprünglich aus dem Englischen übernommenen Zitate.
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chenden Studiengängen an Universität und Fachhochschule statt, die die formale Grundvoraussetzung zur psychoanalytischen Weiterbildung wie auch den anderen psychotherapeutischen Ausbildungen darstellen, oder im Übergang zwischen Hochschule und Weiterbildungsinstitut? Ist die Unterrepräsentation von MigrantInnen in der Psychoanalyse ein spezielles Problem psychoanalytischer Institute oder trifft sie auch andere Therapierichtungen bzw. die Psychotherapie allgemein? Werden institutsinterne Selektionsmechanismen wirksam26 – welche Art möglicher AusbildungskandidatInnen wird überhaupt vom Weiterbildungsangebot angesprochen und bei Interesse von VertreterInnen des Institutes ausgewählt – oder greift die Selektion institutsextern? Und, nicht zu vernachlässigen, welche Antworten auf all diese Fragen lassen sich im innerdeutschen und internationalen Vergleich finden? 5.6.2 Die Verhandlung von kultureller Differenz innerhalb der Ausbildung Das vorangegangene Kapitel macht deutlich, dass psychoanalytische Weiterbildungsinstitute auf der Ebene ihrer Mitglieder keine „monokulturellen“ Einrichtungen sind. Daraus leitet sich die Frage ab, welche spezifischen Gestaltungsformen die interkulturellen Begegnungen zwischen den Mitgliedern der Institutionen annehmen und wie (kulturelle) Differenz auf dieser Ebene sowohl in Bezug auf die Mitglieder als auch die sich in Behandlung befindlichen PatientInnen verhandelt wird. In den Interviews befragte ich Niedergelassene wie KandidatInnen bezüglich ihrer Interaktionserfahrungen rund um das Differenzmerkmal Migrationshintergrund. Diese Interaktionserfahrungen umfassen verschiedene Settings und wurden bzw. werden sowohl im institutionellen Kontext allgemein wie auch in Kleingruppen und in Dyaden gemacht. Das allgemeine Klima im Institut Wer eine so aufwändige und kostenintensive therapeutische Ausbildung wie die in einem psychoanalytischen Ausbildungsinstitut aufnehmen und zu Ende führen möchte (was an sich eine hohe Hürde bildet), hat es wesentlich leichter, wenn sich das Klima innerhalb der Institution so gestaltet, dass er/sie sich in diesem Ausbildungsinstitut zumindest wohl und willkommen fühlt. Da es aus 26
Zu einer Kritik am psychoanalytischen Ausbildungsbetrieb und der Auswahlprozesse bezüglich der KandidatInnen vgl. Cremerius (1993).
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
der Literatur Hinweise darauf gibt (z.B. del Mar Castro Varela 1998), dass sich KandidatInnen, die kulturellen Minoritäten angehören, auch immer wieder der Eindruck vermittelt, von den Majoritätsangehörigen nicht willkommen geheißen zu werden, interessierte ich mich für diesen Aspekt im Erleben meiner Interviewees, die selbst als Menschen mit Migrationshintergrund einer Minorität in ihren jeweiligen Ausbildungsinstituten angehören, und erfragte ihre diesbezüglichen Erfahrungen und Einschätzungen. Generell kann als Ergebnis der Interviews festgehalten werden, dass sich KandidatInnen wie Niedergelassene im jeweiligen Institut in der Regel willkommen fühlen. Das Spektrum der interkulturellen Öffnung innerhalb der Institutionen umfasst verschiedene Facetten. Eine davon bildet die explizite Öffnung für migrierte KandidatInnen bzw. Mitglieder generell. „Ich glaube jetzt, das Institut C begrüßt sehr ausländische KandidatInnen, also mit türkischem, persischem, arabischem Hintergrund, z.B. weil es immer mehr einen Bedarf gibt [aus der Versorgungspraxis heraus, Anm. K.H.]. Und die eher so den Anspruch haben. Das ist ein wichtiges Thema. Und für den Leiter des Institutes C ist das auch ein wichtiges Thema.“ (Frau Levine, Z. 218–222)
Frau Zanolla und Frau Sousa machten die Erfahrung, dass das Differenzmerkmal „Migrationshintergrund“ als positives Dinstinktionskriterium fungierte. „Also, an meinem Institut ist ja der Herr F, der liebt ja Ausländer (lacht). Und der hat das ja immer sehr gefördert, und das fand ich sehr angenehm.“ (Frau Zanolla, Z. 83f)
Und Frau Sousa: „Ich kann mich an eines der Aufnahmegespräche erinnern, da wurde das positiv erwähnt.“ (Z. 74f)
Eine solche Distinktionspraxis ist natürlich auch doppelbödig, da sie die binäre Aufteilung in „Wir“ und „Andere“ zementiert, also die Vorstellung hybrider kultureller Identitäten (vgl. Bhabha 1997a, 1997b & 2000) vernachlässigt wird. Zudem kann bei den „Anderen“ das Gefühl entstehen, wenn auch positiv, auf das Merkmal „MigrantIn“ reduziert und festgeschrieben zu werden (vgl. Mecheril 1994). Eine weitere Facette bildet die Erfahrung, wenn auch nicht positiv hervorgehoben oder in besonderer Form unterstützt, so zumindest nicht benachteiligt oder „behindert“ (Herr Günes, Z. 149) zu werden, sondern unter den KandidatInnen ohne Beachtung des (kulturellen) Hintergrundes eine Gleichbehandlung zu erfahren.
5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung
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„Also ich wurde weder mehr bevorzugt noch benachteiligt wie deutsche Kandidaten.“ (Frau Sousa, Z. 100)
Insgesamt führen die Aussagen meiner Interviewees zum Ergebnis, dass in den psychoanalytischen Instituten A, B und C ein allgemeines Klima herrscht, in dem sich Mitglieder, die über einen Migrationshintergrund verfügen, (besonders) willkommen oder zumindest gleichgestellt mit den anderen Mitgliedern fühlen. Kritisch bezüglich dieses Ergebnisses bleibt natürlich anzumerken, dass wohl kaum jemand eine solche Ausbildung aufnehmen bzw. zu Ende führen würde, der sich nicht willkommen oder sogar benachteiligt fühlt. Möglicherweise vorhandene AbbrecherInnen, die auf der Suche nach einer kultursensiblen Ausbildung „Instituts-Hopping“ (del Mar Castro Varela 1998, S. 121) betreiben, berücksichtigt diese Studie nicht. Zudem bleiben die möglichen Barrieren in den Zugangsvoraussetzungen zu den Instituten weiterhin zu berücksichtigen. Differenzverhandlungen in der Lehranalyse Eine der zentralsten, wenn nicht die zentralste Beziehungserfahrung, die innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung gemacht wird, ist die im Rahmen der Lehranalyse erlebte. Mich interessierte, wie KandidatInnen und Niedergelassene ihre Lehranalyse erlebten, die durchwegs in einem interkulturellen Setting stattfand, und auf welche Weise kulturelle Differenz zum Thema gemacht und verhandelt wurde. Die jeweilige Differenzverhandlung fand nicht in einem machtfreien Raum statt, da die lehranalytische Situation an sich, gleich ob intra- oder interkulturell, geprägt ist von einem Machtgefälle zwischen LehranalysandIn und LehranalytikerIn, das aufgrund der Einbindung in die Ausbildungsinstitution noch in anderer Weise wirksam wird als das Machtgefälle zwischen AnalytikerIn und PatientIn. Zusätzlich kommt in einer interkulturellen Lehranalyse (ebenso wie in jeder anderen interkulturellen Therapie), in der die/der LehranalytikerIn der Mehrheits- und die/der KandidatIn der Minderheitenkultur angehört, die Machtungleichheit noch in einer weiteren Weise zum Tragen. Die Erfahrungen der KandidatInnen und der Niedergelassenen bezüglich der Verhandlung kultureller Differenz fallen sehr verschieden aus. Frau Levine und Frau Fischer sprechen von einer zu geringen Thematisierung bzw. weitgehenden Dethematisierung ihres kulturellen Hintergrundes, bewerten dies jedoch völlig verschieden. „Also in meiner Ausbildung damals in den achtziger Jahren hat das [i.e. interkulturelle psychoanalytische Therapie, Anm. K.H.] so gut wie keine Rolle gespielt. Es
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
gab keine Seminare darüber. In meiner eigenen Lehranalyse kam das natürlich ein Stück raus. Wobei das vielleicht zu wenig betont worden ist. Sowohl meinerseits als auch von Seiten meines Lehranalytikers. Er hat mich behandelt wie eine Pflanze einfach. Und die andere Art von oder fehlende, wie sagt man da – Es wurde vielleicht zu wenig reflektiert und nochmal auch gemeinsam reflektiert. Also das kann man zumindest sagen.“ (Frau Levine, Z. 148–153)
Frau Levine kritisiert rückblickend ihre Lehranalyse, was die Differenzverhandlung anbelangt. Beide ProtagonistInnen (Lehranalytiker und Analysandin) sind aus ihrer heutigen Warte heraus beteiligt daran, die kulturelle Differenz nicht genügend zu reflektieren und zum Thema zu machen. Gleichzeitig fühlte sie sich von ihrem Lehranalytiker behandelt „wie eine Pflanze“, ein Bild, das verschieden ausgelegt werden kann. Handelt es sich um eine besondere Pflanze, die als „exotisch“ empfunden und behandelt wird, oder kann bei einer Pflanze der kulturelle Kontext vernachlässigt werden? Die persönliche Bedeutung, die dieses Bild für Frau Levine hat, bleibt hier leider verborgen. Im Gegensatz dazu kommt die gemeinsame Dethematisierung ihres kulturellen Hintergrundes innerhalb der Lehranalyse den Bedürfnissen von Frau Fischer entgegen. Interviewerin: „Wie wird denn Interkulturalität oder kulturelle Differenz, wie auch immer man es nennen will, innerhalb Deiner Lehranalyse zum Thema?“ Frau Fischer: „Ähm. Innerhalb meiner Lehranalyse war das nicht Thema. Ne.“ Interviewerin: „Welchen Unterschied, jetzt mal als Gedankenspiel, würde es machen, wenn Du zum Beispiel bei einer Lehranalytikerin mit demselben kulturellen Hintergrund [...] Deine Lehranalyse gemacht hättest?“ [...] Frau Fischer: „Das muss ich auf mich erst mal wirken lassen, phantasieren erst mal. Ich glaube, das wäre auch sehr hilfreich, in manchen Bereichen, wenn man von einem – z.B. wenn ich sage, als ich in R war, oder man kann viel damit verbinden, wenn ich sage, z.B. das war ein schöner Baum, dann stellt man zusammen sich fast denselben Baum vor. Man weiß wie ein Baum gerochen hat oder die Erde. Da ist schon mal ein Zugehörigkeitsgefühl. Ich glaube, das hätte mich auf einer ganz anderen Ebene gestärkt.“ Interviewerin: „Auf welcher Ebene, würdest Du sagen?“ Frau Fischer: „Das hätte mich mehr nach R gezogen, aber das wollte ich nicht.“ Interviewerin: „Innerlich, meinst Du?“ Frau Fischer: „Innerlich, ja.“ (lacht) (Z. 135–142/145–154)
Während Frau Fischer zwar beschreibt, dass der gleiche kulturelle Hintergrund von Analysandin und Analytikerin die Möglichkeit böte, sich mittels der Bezogenheit auf gemeinsame Bedeutungsstrukturen zugehörig zu fühlen, wirkt die kulturelle Differenz bei gleichzeitiger Dethematisierung innerhalb der Lehranalyse für Frau Fischer eher entlastend.
5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung
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Frau Sousa wähnt aufgrund des Augenscheins ihre Lehranalytikerin „deutsch“, hat das jedoch nicht explizit in Erfahrung gebracht und verwendet stattdessen bestimmte äußere Merkmale als Zugehörigkeitskriterien. Interviewerin: „Hat Ihre Lehranalytikerin einen Migrationshintergrund?“ Frau Sousa: „Ich glaube nicht. Nicht, dass ich wüsste. Aber ich habe sie darauf auch nicht angesprochen. Sie erscheint mir deutsch. (lacht) Vom Namen her wie auch von der Sprache her.“ (Z. 120 ff)
Interkulturalität wird bisher in der Lehranalyse von Frau Sousa kaum Thema. Dennoch bedeutet, so merkt sie an, in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten aufgewachsen zu sein auch, sich selbst und seine Erfahrungen dem Gegenüber vermehrt erklären und gemeinsame Bedeutungsstrukturen erst herstellen zu müssen. „Vielleicht in einem Punkt ist ein Thema, was Schule anbelangt. Ich hab Schulkinder. Ich habe die – ich hab zwar hier in München studiert, aber in P so die Schulausbildung gemacht. Und doch. Ich muss, denke ich, ein bisschen mehr Erklärungen liefern in der Lehranalyse und ein bisschen erklären, wie das halt war, in diesem kommunistischen Regime. Also ich denke, man hat so gemeinsame Punkte oder gemeinsame Assoziationen, wenn man irgendwo aufwächst, z.B. in der Bundesrepublik. Da weiß man einfach viele Sachen. Also Stichwörter, und man weiß genau, was gemeint ist. Und das ist unterschiedlich. Weil ich weiß viele Stichwörter noch nicht oder wusste sie nicht. Oder Anspielungen.“ (Frau Sousa Z. 111–119)
Solche Erklärungen waren in der Therapie, die sie bereits bei einem Therapeuten, der ebenfalls aus P emigriert war, absolviert hatte, nicht in diesem Ausmaß nötig. Zentrale historische Ereignisse, wie z.B. die in P stattfindende politische Verfolgung, die sich auf die Lebensschicksale vieler Menschen auswirkte, waren beiden bekannt und mussten nicht ausgeführt werden. Anders als die von Frau Fischer beschriebenen sensorischen Eindrücke sind allerdings historische und soziokulturelle Bezugspunkte deutlich leichter erwerbbar. In den Lehranalysen von Frau Levine und Frau Zanolla war kulturelle Differenz eines der zentralen Themen, wenn auch nicht deutlich wird, welche der Akteurinnen (Lehranalytikerin oder Analysandin oder beide) für die Thematisierung sorgten. „Na ja, in der Lehranalyse war das das Thema. Wir haben ja in der ganzen Lehranalyse darüber gesprochen, ganz viel. Auch natürlich über meine familiären Geschichten, aber sehr viel über diese Problematik.“ (Frau Levine, Z. 187ff)
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Frau Zanolla, Kind einer binationalen Beziehung mit (nicht-jüdisch) deutscher Mutter und jüdischen Wurzeln aufgrund der Herkunft des Vaters, beschreibt, wie stark interkulturelle Themen in ihrer Lehranalyse auf ganz spezifische Weise bedeutsam wurden. „Meine Mutter war ja deutsch, also auch fremd, und außerdem war sie ja die Mörderin, also die Vertreterin des Mördervolkes. Und wenn dann meine Analytikerin plötzlich so sprach und ich mich wieder daran erinnert hab, dann fand ich das ganz schwierig. Klar, ist das in der Analyse schwierig. Aber ich glaube, da sind dann noch ganz viele so Schuldgefühle über die Vorurteile reingekommen. Jetzt wusste ich nicht, darf ich sie beschuldigen, dass sie so blöd redet? (lacht) Und ich weiß nicht, ob das verständlich ist jetzt, und auch dieses Gefühl oder dieses Bedauern, dass sie die Kultur nicht kennt.“ (Frau Zanolla, Z. 136–143)
Analysandin wie Lehranalytikerin begegnen sich, wie in jeder interkulturellen Therapie, nicht nur als Individuen mit ihren persönlichen Biographien, die sich innerhalb der Analyse in einer spezifischen Dynamik manifestieren. Vielmehr werden auch Faktoren wirksam, die über die persönliche Beziehung hinausgehen. Michel (1999) führt an dieser Stelle das Konzept der kulturellen Metaübertragung ein. „Es scheint mir nützlich, einen weiteren Zusammenhang zu definieren, welcher der Übertragung und Gegenübertragung zwischen Individuen gewissermaßen übergeordnet ist. Es geht dabei um etwas, das ich auf analoge Weise ‚kulturelle MetaÜbertragung‘ genannt habe. Diese definiert sich aus dem Verhältnis, das sich zwischen den Gruppen ergibt, denen die Protagonisten angehören [...]. Sowohl Analytiker als auch Analysand bringen ihr kulturelles Gepäck mit. Ihre Herkunftsgruppen stehen in realen und imaginären Beziehungen zueinander.“ (ebd., S. 34)
Im Rahmen der Lehranalyse von Frau Zanolla gewinnt die „gruppale Dimension“ (ebd. S. 42) beider Personen an besonderer Bedeutung. Auf biographischer Ebene wird sie für Frau Zanolla bereits in der Beziehung der Eltern wirksam, so dass die Analytikerin innerhalb der Lehranalyse für die Figur der deutschen, nicht-jüdischen Mutter steht. Aber auch jenseits der persönlichen Bedeutung ist auch heute noch die Begegnung von Menschen mit jüdischen Wurzeln und nicht-jüdischen Deutschen vom Holocaust überschattet (vgl. Bar On 1995). In diesem Sinne formuliert Weiss (1999, S. 244): „Neben der Erarbeitung individueller Sinnkonstruktionen im psychoanalytischen Dialog sind also immer auch die Bedeutungskonstruktionen der verschiedenen sozialen Kontexte relevant, in denen sich AnalysandIn und AnalytikerIn bewegen.“
5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung
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Es lässt sich aus den Erfahrungsberichten meiner Interviewees entnehmen, dass die Verhandlung kultureller Differenz innerhalb der Lehranalyse auf einer Linie von weitgehender Dethematisierung bis hin zur Thematisierung als Punkt von zentraler Bedeutung stattfinden kann. Es ist anzunehmen, dass dies nicht nur für Lehranalysen in einem interkulturellen Setting gilt, sondern auf die interkulturelle psychoanalytische Praxis an sich übertragbar ist. Interessant wäre es, anhand von Analyse-Verläufen genauer zu untersuchen, wie und an welchen Stellen kulturelle Differenz von wem thematisiert wird und welche Funktionen dies jeweils in der Interaktion übernimmt. Differenzverhandlungen in weiteren Ausbildungskontexten Innerhalb der Ausbildungsinstitutionen finden interkulturelle Begegnungen in vielen weiteren Zusammenhängen statt. So sind Supervisionen, Selbsterfahrungsgruppen als Teil der Ausbildung, Balint-Gruppen und kasuistisch-technische Seminare (KTS) als Orte zu nennen, in denen neben vielen anderen Aspekten auch kulturelle Differenz diskursiviert wird. Daran sind sowohl AusbilderInnen als auch KandidatInnen mit und ohne Migrationshintergrund als AkteurInnen beteiligt. Kultur wird zum einen als Differenz zwischen den Mitgliedern der Institution ohne und mit Migrationshintergrund angesprochen. Diese kulturelle Differenz wiederum kann sowohl Teil einer Selbst- als auch Teil einer Fremdzuschreibung sein (vgl. Dannenbeck 2002). Frau Zanolla beschreibt, wie sie sich selbst im Austausch mit anderen aufgrund ihrer Sprache als anders, ja sogar fremd erlebt. Interviewerin: „Kannst Du ein Beispiel nennen, was Du da erfahren hast, was Du vorhin gesagt hast, z.B. in so Gruppen, wo Du Dich besonders fremd fühlst?“ Frau Zanolla: „Also ganz stark mach ich das fest, indem ich meine Stimme höre und indem ich höre, dass ich die Umlaute nicht richtig ausspreche oder dass ich hart spreche. Und dass ich das Gefühl habe, aber das ist wahrscheinlich mehr ein Prozess in meinem Inneren, dass ich mir einbilde, die anderen sprechen fließender. Ich glaube nicht, dass von den anderen, also in meiner Ausbildungsgruppe, die ich total super fand, dass da irgendetwas Feindseliges vorhanden war, sondern das waren Reaktionen von mir, also die bedingt waren von früher.“ (Z. 111–120)
Kulturelle Differenz wird jedoch nicht nur durch Selbst-, sondern auch durch Fremdzuschreibungen (vgl. Dannenbeck 2002) von Seiten der Nicht-MigrantInnen thematisiert, und migrierte KandidatInnen werden in Bezug auf ihren kulturellen Hintergrund angesprochen.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Frau Fischer: „Also ich hab ganz deutlich gemerkt, dass mein Status allein dadurch, dass ich aus R komme, also eine Migrantin, ich habe das Interesse der anderen gemerkt, wie denkt die andere Seite? Wie ist die andere, die nicht, sag ich mal, deutsch ist, wie ist die andere Sicht?“ Interviewerin: „Jetzt Interesse Deiner Mit-AusbildungskandidatInnen oder von den Leuten, die das Institut vertreten?“ Frau Fischer: „Von den Institutsleuten, vor allem auch von den Leitern, die sich schon sehr auf Migranten spezialisiert haben. Und auch, also nicht in so großem Ausmaß, von meinen Mit-Kandidaten, Ausbildungskandidaten. Aber auch nicht ablehnend. Es waren schon immer wieder welche. Also Interesse war schon da.“ Interviewerin: „Wurde das explizit zum Thema, dass Du Migrantin bist, also bist Du darauf angesprochen worden?“ Frau Fischer: „Ja, ja. Da waren schon im ersten Semester und im zweiten – da habe ich das oft gehört, frag mich nicht, warum. Es ist aber sehr viel Interesse, was in R ist und warum überhaupt und wie sieht man das da. Wie komme ich überhaupt zur Analyse und so.“ (Z. 97–111)
Das Thematisieren der Differenz wird, sowohl von Frau Fischer als auch von Herrn Günes, dem Interesse auf ähnliche Weise entgegengebracht wird, als positiv erlebt. Interkulturelles Zusammenleben bzw. -arbeiten (so wie „intrakulturelles“) geht jedoch auch nicht ohne spezifische Konflikte vonstatten. Der Umgang mit Zeit bzw. die Bedeutung der Pünktlichkeit, die in verschiedenen Kulturen unterschiedlich gehandhabt wird, kann dabei für Zündstoff sorgen. Frau Levine: „Es gibt auch kulturelle Situationen, die schwierig sind, also wo, ich weiß nicht was – dass ich anders reagiere als die. Das war manchmal ein Thema. Es ist im Institut C eine feste Ausbildungsgruppe, durch die man geht, und manchmal bin ich wieder in die Situation des Außenseiters gekommen.“ Interviewerin: „Und konnte das zum Thema werden dann?“ Frau Levine: „Es wurde einmal zum Thema, weil ich oft unpünktlich war und da hat sich das wahnsinnig entzündet. Wo die einen sagten, das ist eine Missachtung und wa, wa, wa. Und die anderen sagten, wieso, das kann sie doch selber entscheiden, warum bist Du so persönlich gekränkt davon? Und wo das in der Gruppe eine große Diskussion war.“ (Z. 175–183)
Auch die Tatsache, vermeintliche Selbstverständlichkeiten aufgrund der anderen Sichtweise in Frage zu stellen, stößt nicht immer auf Gegenliebe, und es werden Anpassungs- bzw. Normalisierungsforderungen laut. Frau Jensen: „Also ich erlebe das so, dass ich immer wieder darum kämpfen muss, von anderen deutschen Kollegen verstanden zu werden.“ Interviewerin: „In der Art, wie Sie arbeiten, was meinen Sie, oder wie Sie Dinge sehen?“
5.6 Psychoanalytische Ausbildungsinstitute als Orte interkultureller Begegnung
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Frau Jensen: „Ja. Dass das auch geschätzt wird einerseits. Die müssen mit mir Geduld haben, merke ich. Und manchmal werden sie ungeduldig und sagen: ‚Du bist doch dreißig Jahre hier, Du bist doch keine Ausländerin! Jetzt hör’ doch auf, Ausländerin zu spielen!‘ So ungefähr.“ Interviewerin: „Gibt’s da ein Beispiel, wo Sie das konkret erlebt haben? [...]“ Frau Jensen: „Also in Arbeitsgruppen geht es mir des Öfteren so.“ (Z. 508–516)
Der Aspekt der Kultur hält ansonsten in die Ausbildungsinstitutionen im Rahmen von Supervisionen, Balint-Gruppen und kasuistisch-technischen Seminaren vor allem als „Kultur der Anderen“ Einzug. Vornehmlich wird Kulturelles bezogen auf die behandelten PatientInnen thematisiert. „Ganz konkret taucht es auf, taucht dieses Thema auf, in den kasuistisch-technischen Seminaren, wo Fälle vorgestellt werden.“ (Herr Bernard, Z. 141f)
Frau Levine bestätigt dies und beschreibt den Umgang mit dieser (möglichen) kulturellen Differenz, so wie sie das erfahren hat, als teilweise unsystematisch, wenig fachlich fundiert und eher essentialisierend. „Also ich glaube, das spielt nur insofern eine Rolle, wenn es konkret gegeben ist. Also wenn z.B. in einer Balint-Gruppe jemand einen ausländischen Patienten vorstellt, wird darauf eingegangen. So hab ich das schon erlebt. Aber es hat zum Teil einen unprofessionellen Hintergrund. Da heißt es einfach: Ja, bei den Türken ist es doch so und so, oder in der arabischen Kultur ist es doch gleich so. Und alles ist nicht so sehr fundiert. Aber auf jeden Fall spielt das eine Rolle. Ich habe nicht das Gefühl, dass das nicht gesehen wird. Aber, man ist ein bisschen hilflos im Umgang. Man kann damit nur so ein bisschen spekulieren.“ (Z. 291–297)
Im Gegensatz dazu räumt Herr Günes zwar ein, dass es im Rahmen von Supervisionen im Umgang mit Fragen der Interkulturalität „doch große Unterschiede“ (Z. 185) gebe, jedoch erlebte er ihn größtenteils als gemeinsames Ringen um Verständnis, an dem „beide Seiten“ (ebd.) beteiligt gewesen seien. Kulturelle Differenz wird innerhalb von Fallbesprechungen bezogen auf PatientInnen mit Migrationshintergrund auch zwischen den Polen des Individuellen und des Kulturellen verhandelt. Häufig, da dies auch eher dem Zugang klinisch-psychoanalytischen Denkens entspricht, liegt dabei der Schwerpunkt auf dem Individuellen. Frau Fischer äußert an dieser Stelle Veränderungswünsche. Frau Fischer: „Als Wunschkonzert hätte ich mir gewünscht, dass das auch viel mehr Raum einnimmt.“ Interviewerin: „Migration an sich auch viel Raum einnimmt, oder was meinst Du?“ Frau Fischer: „Der kulturelle Hintergrund einer Person, auch in der Supervision.“
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Interviewerin: „Hattest Du den Eindruck, da ging’s immer um das ganz individuelle Schicksal, oder wie würdest Du’s vergleichen?“ Frau Fischer: „Es geht meistens um das individuelle Schicksal und so ein bisschen um Migration.“ (Z. 189–194)
Fernanda Pedrina (1995) weist auf die Notwendigkeit hin, in interkulturellen Therapien beide Aspekte zu beachten. Zudem erweist sich die binäre Aufteilung in Kulturelles vs. Individuelle nicht immer als eindeutig. „Es ist nicht immer offensichtlich, ob ein bestimmter Konflikt der kulturellen oder der intrapsychischen Sphäre zuzuordnen ist. Doch ist es wichtig, den kulturellen Konflikt nicht psychoanalytisch zu deuten, da sich die Betroffenen missverstanden fühlen und häufig mit Beziehungsabbruch antworten.“ (ebd., S. 63)
Kultur wird in den psychoanalytischen Institutionen, so das Ergebnis der Interviews, in der Regel nur dann zum Thema, wenn es um die MigrantInnen geht. Sie wird also typischerweise als etwas diskursiviert, das die „Anderen“ haben und nicht die Angehörigen der deutschen Mehrheitskultur. Dabei, so Frau Schreiber, beinhaltet die Begegnung mit Menschen, die andere kulturelle Bezüge haben, die Möglichkeit, das eigene Selbstverständnis zu hinterfragen. „Und so kann man die Begegnung mit Migranten eigentlich auch sehen. Man muss eigentlich eine Freude daran haben, sich zu öffnen und Andersartigkeit zu erfahren. Und etwas über die eigene Identität.“ (Z. 326f)
Mit Blick auf einige ihrer KollegInnen hegt sie starke Zweifel daran, dass diese dazu bereit seien. Dieses Selbstverständnis der Majorität, das eigene kulturelle Bezugssystem als selbstverständlich und nicht erwähnenswert zu empfinden und somit zur Norm bzw. Normalität zu erheben, lässt sich als Normalitätsdiskurs und somit Teil der Dominanzkultur (vgl. Rommelspacher 1995) begreifen. Unter Dominanzkultur versteht Rommelspacher das „Geflecht verschiedener Machtdimensionen [...], die in Wechselwirkung zueinander stehen“ (ebd. S. 23, Hervorhebungen i.O.). Die Konstruktion des Anderen findet dabei in Kategorien der Über- und Unterordnung statt, die eben auch die Kategorien „normal“ und „abweichend“ umfassen. Teil des Normalisierungsdiskurses ist auch die Haltung, dass sich vor allem die „Anderen“ mit dem „Anderen“, sich also die MigrantInnen vornehmlich mit Themen rund um Interkulturalität beschäftigen sollen und dies nur bedingt Teil der Auseinandersetzungen innerhalb der Majorität wird. Migrierte KandidatInnen werden zu ExpertInnen bezüglich aller Migrations- und Kulturfragen gemacht, in einer impliziten Vorstellung, die „Anderen“ seien alle auf gleiche Weise „anders“, wie es Edward Said in seinem Werk Orientalism (1997) beschreibt (vgl. auch Kap. 2.4 & 2.5).
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Frau Fischer: „Ich habe z.B. in unseren KTS-Seminaren oder Balint-Gruppen immer wieder die Blicke auf mich gerichtet gesehen, wenn es um Migranten, egal, ging. Und ich hab mich da gefragt gefühlt, aber auch überfordert, weil ich kenne natürlich nur Leute aus R, und nicht Italiener und Polen und Türken oder was weiß ich. Da wurde ich auch direkt gefragt, wie ich das erlebt hatte, in diesem speziellen Punkt, da würde man sich interessieren. Das war schon mal die Frage [...]“ Interviewerin: „War das eher angenehm, sozusagen als Expertin dazustehen, oder wie hast Du das erlebt?“ Frau Fischer: „Ich hab mich, ganz ehrlich, überfordert gefühlt. Weil ich hätte das alles wissen sollen. So als ob, wenn eine Deutsche, sag ich mal, nach England geht, und dann erwartet man, dass sie von vorn bis hinten alles weiß. Dabei weiß man nur einen Teil seiner Gesellschaft auch. Ich hab mich überfordert gefühlt.“ (Z. 119– 124/129–134)
Littlewood (1992) beschreibt dieses Prinzip der ExpertInnen-Zuschreibung auch im Zusammenhang mit Rassifizierungs-Prozessen. „In addition, every black social worker I have worked with has had the experience of being ‚expected‘ to be especially concerned with black clients.“ (ebd., S. 7)
Frau Jensen erfährt auf doppelte Weise die Mechanismen des Normalisierungsdiskurses. Zum einen werden Fragen der Kultur trotz ihrer Bemühungen nicht in das allgemeine Curriculum von Institut C aufgenommen, sondern als randständiges „Spezialwissen“ behandelt. Zum anderen wird auch sie selbst, trotz zunehmender Anerkennung ihrer Arbeit, selbst unfreiwilligerweise auf die Migrationsthematik fixiert. Frau Jensen: „Im Institut fühle ich mich zur Zeit so, dass ich schon den Eindruck langsam bekomme, die schätzen doch, dass ich diese Migrationsseminare halte, das ist das dritte oder vierte Seminar jetzt. Aber ich fühle mich noch am Rande, ich persönlich. Ich hab da zum Beispiel gesagt, also ich mach gerne die Migrationsarbeit weiter, aber lasst mich doch auch mal was anderes machen, ja. Was im Curriculum vielleich dazu gehört. Und da komm ich noch nicht so richtig rein.“ Interviewerin: „Haben Sie den Eindruck, das liegt eher an dem, sozusagen, Spezialthema, oder vielleicht wird es zu einem Spezialthema gemacht, oder haben Sie den Eindruck, das liegt eher an den Strukturen, wie man quasi aufsteigt oder wann man was machen darf?“ Frau Jensen: „Ich denke beides. Die Strukturen waren halt da, bevor ich angefangen habe, so. Aber es wird schon zu einem besonderen – also es ist in der Eck e, es ist etwas Besonderes, dieses Migrationsthema, glaube ich. Es ist noch nicht so, wie soll ich sagen, weit. Es wird nicht schief angeguckt, oder so, aber ich habe zumindest das Gefühl, ja, das ist gut, aber es gehört dahin, in eine gewisse Ecke. Aber wir müssen im Institut dies und dies und dies machen. Es ist noch nicht einbezogen im Curriculum. Noch nicht.“ (Z. 122–136)
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Was die Verhandlung kultureller Differenz in den verschiedenen Settings der Institute angeht, findet sich ein breites Spektrum, das von völliger Dethematisierung (von beiden „Seiten“ aus) bis hin zur Behandlung als zentrales Thema reicht. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Themenkomplex rund um Migration, Kultur und Interkulturalität zwar als Kultur der „Anderen“ von hoher praktischer Bedeutung ist, da zunehmend PatientInnen mit Migrationshintergrund in Behandlung kommen, er jedoch nicht in das allgemeine Curriculum aufgenommen, sondern als eine Art „Spezialwissen“ behandelt und MigrantInnen innerhalb der Institute hier häufig der ExpertInnenstatus zugeschrieben wird. An dieser Stelle zeichnen sich – zumindest teilweise – Veränderungstendenzen ab. Offen ist allerdings noch die Frage, welches Wissen zur Thematik vermittelt und was bedacht werden sollte. Hiermit beschäftig sich der folgende Abschnitt. 5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis Der Großteil meiner Interviewees verfügt über ein fundiertes Erfahrungswissen in Bezug auf die interkulturelle psychoanalytische Praxis, sei es, dass sie sich auf ihren eigenen Migrationshintergrund als Referenz beziehen können, sei es, dass sie (zudem) vermehrt mit migrierten PatientInnen arbeiten. Aus diesem Erfahrungsschatz ergeben sich verschiedene fachliche Forderungen und Reflexionsanregungen, die nach Vorstellung meiner InterviewpartnerInnen auch in die Weiterbildung der KandidatInnen (und nicht nur dort) Eingang finden sollten. Diese aus den Interviews herausgearbeiteten Aspekte werde ich im Folgenden darstellen. Kapitel 5.7.1 befasst sich mit der Wahrnehmung der Versorgungslage von PatientInnen mit Migrationshintergrund bezüglich psychoanalytischer Therapie. Unter 5.7.2 findet sich eine Zusammenfassung des Fachwissens, das nach Meinung meiner Interviewees für interkulturelles therapeutisches Arbeiten notwendig ist. Die Kapitel 5.7.3 bis 5.7.6 befassen sich mit spezifischen Haltungen bzw. reflexiven Zugängen, die meine InterviewpartnerInnen als essentiell in diesem Feld erachten. 5.7.1 Versorgungslage migrierter PatientInnen Wie bereits in Kapitel 2.1 dargestellt, ist der Zugang von MigrantInnen zur psychosozialen Versorgung bei gleichzeitig erhöhtem Erkrankungsrisiko spezifisch erschwert. Zur Frage, wie es sich bezüglich der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in psychoanalytisch/tiefenpsychologisch arbeitenden Praxen verhält, liegen keine offiziellen Daten vor. Aus den Interviews ergeben
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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sich jedoch deutliche Hinweise darauf, dass psychoanalytische/tiefenpsychologisch arbeitende Praxen (wie vermutlich Praxen anderer therapeutischer Ausrichtung auch) in der Breite den teilweise spezifischen Bedürfnissen der Menschen mit Migrationshintergrund nicht gerecht werden. Die Niedergelassenen, die dafür bekannt sind, vermehrt mit migrierten PatientInnen zu arbeiten, bemerken die hohe Zahl von Anfragen durch therapiesuchende MigrantInnen und berichten von Schwierigkeiten, wenn sie selbst keinen Therapieplatz anbieten können, diese Menschen weiterzuvermitteln. Dies liegt zum einen am relativ geringen Angebot an Therapieplätzen für Menschen, die innerhalb der Therapie nicht Deutsch sprechen können oder wollen. Interviewerin: „Haben Sie den Eindruck, dass die normale, die psychoanalytische Regelversorgung sozusagen, den Bedürfnissen von MigrantInnen gerecht wird?“ Frau Levine: „Hm, na ja, ich mein, es gibt einen eklatanten Mangel an Analytikern oder Therapeuten für diese Bevölkerungsgruppe. Also ich finde, es gibt zwei oder drei, die man zulassen müsste. Die zum Beispiel keine Zulassung bekommen, weil sie nach den deutschen Kriterien keine Zulassung bekommen, weil es in München zum Beispiel zu ist. Also ich finde, die müssten eine Sondergenehmigung bekommen, weil es einen irren Bedarf gibt und weil ich einfach ständig Patienten immer abweise. Da ist es überhaupt nicht gedeckt, der Bedarf.“ Interviewerin: „Und liegt das vor allem an der Muttersprachlichkeit?“ Frau Levine: „Ja, also, die sich bei mir melden – entweder das Deutsch ist zu schlecht oder sie wollen es auch nicht, weil sie gefühlsmäßig ihre Muttersprache sprechen wollen. Wobei die, die einigermaßen sprechen können, schicke ich auch an Deutsche weiter. Also da gibt es wenigstens dann irgendeine Lösung manchmal.“ (Z. 324–336)
Auch Frau Zanolla berichtet von den erheblichen Problemen, Therapieplätze zu vermitteln, die verschiedenen Gruppen eine muttersprachliche Therapie ermöglichen, und antwortet auf meine Frage, ob denn die Standardversorgung in den psychoanalytischen Praxen den Bedürfnissen von MigrantInnen gerecht werden könnten, folgendermaßen: „Nein, also das weiß ich. Ich weiß es ganz konkret bei türkischen, albanischen, arabischen Patienten, dass die es wahnsinnig schwer haben, jemanden zu finden. Und 27 bei der KV , wenn ich mich anbiete zu suchen, gibt es so wenige Therapeuten, die also in der Heimatsprache sprechen und ihre Arbeit anbieten würden.“ (Z. 270–271)
Neben den von Frau Levine geforderten Sonderzulassungen spielt zur Gewährleistung einer besseren Versorgung in diesem Bereich auch die Ausbildung von TherapeutInnen mit mehrsprachigem Hintergrund eine bedeutende Rolle. Auch 27
Kassenärztliche Vereinigung
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
müssten Konzepte zur therapeutischen Arbeit mit DolmetscherInnen überdacht und die Frage der Finanzierung geklärt werden. Herr Bernard weist allerdings darauf hin, dass sprachliche Verständigung auch auf einer tieferen Ebene betrachtet werden muss, die mit Übersetzung im engen Sinne nicht bewältigt werden kann, sondern in der es um die Ebene der Symbole und, in den Worten der Cultural Studies, um die Anerkennung der Differenz geht. Herr Bernard selbst bezieht sich allerdings auf die Anerkennung des Gefühls der „Fremdheit“. Herr Bernard: „Im Rahmen der kasuistisch-technischen Seminare ist die Sprachverwirrung ein häufiges Thema. Denn Sprachverwirrung gibt es hier ganz konkret, da viele häufig den türkischen Hintergrund der Familien nicht verstehen.“ Interviewerin: „Wie wird das dann gelöst, oder wie versucht man sich dem zu nähern?“ Herr Bernard: (lacht) „Das Erste ist, dass man die realen sprachlichen Probleme irgendwie, wie sagt man, na ja, dass man mit ihnen umgehen muss, dass irgendeine Mutter oder ein Vater wirklich ganz pragmatisch, praktisch schlecht Deutsch spricht. Und, hm, das ist der Vordergrund. Und im Hintergrund geht’s ja stärker um die Symbolik, die angesprochen wird, und ein intuitives Gefühl von Fremdheit. Und ich glaube, das Einzige, was wir tun können, ist das erst mal wertzuschätzen und anzuerkennen, dass das so ist. Dass wir offensichtlich etwas nicht verstehen. Also im Vordergrund verstehen, logisch vielleicht, aber psychologisch nicht verstehen, weil wir den kulturellen Hintergrund, aus dem diese Wahrnehmungen kommen und diese Wahrnehmung auch passiert ist, selber nicht zur Verfügung haben.“ (Z. 146–160)
Die mögliche Sprachbarriere ist allerdings nicht der einzige Grund, der die Versorgung von Therapie suchenden MigrantInnen erschwert. Im Falle von Frau Jensen, die selbst keine muttersprachlichen Therapien mit MigrantInnen durchführt, ist es die bewusste interkulturelle Öffnung ihrer Praxis, die zu einer hohen, nicht mehr bewältigbaren Zahl von Anfragen führt. Interviewerin: „Haben Sie den Eindruck, es gibt mehr Nachfrage [von PatientInnen mit Migrationshintergrund, Anm. K.H.], oder hat sich da was verändert in den Jahren, in denen Sie jetzt praktisch arbeiten?“ Frau Jensen: „Ja, eigentlich schon. Es gibt mehr Nachfrage. Also ich fühle mich zunehmend eher überfordert von der Nachfrage.“ Interviewerin: „Hmhm. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Sie dezidiert angefragt werden.“ Frau Jensen: „Richtig, ja. Ich habe mich so bekannt gemacht und dann ist es für mich blöd, wenn nicht, wenn man sich schon so gezeigt hat, so, ich mach das, und dann sage ich immer, ja, es ist doch zu viel geworden. Das ist schon blöd.“ (Z. 273– 281)
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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Die Aussagen meiner InterviewpartnerInnen, die vermehrt interkulturell arbeiten, weisen darauf hin, dass die Versorgungslage von MigrantInnen psychoanalytische/tiefenpsychologische Therapie betreffend zumindest in München unzureichend ist. „Harte“ Daten in Bezug auf die Frage zu erlangen, ob PatientInnen mit Migrationshintergrund in eben diesen Therapieformen entsprechend ihres relativen Anteils in der Gesamtbevölkerung repräsentiert sind oder nicht, wäre sicherlich sinnvoll. Ebenso sollte untersucht werden, wie die Versorgungslage bezüglich anderer Therapieformen im Vergleich dazu aussieht, welche Diagnosen migrierte PatientInnen gestellt bekommen, welche Therapieformen empfohlen werden und wie der Verlauf und der Erfolg der stattfindenden Therapien – von beiden Seiten aus gesehen – bewertet wird (vgl. zu Letzterem auch Kahraman 2008). 5.7.2 Wichtige Aspekte zwischen Fachwissen und Einfühlung Trotz subkultureller Unterschiede innerhalb der psychoanalytischen Ausbildungsinstitute A, B und C, auf die sich die Aussagen meiner Interviewees beziehen, konnte im Kapitel 5.5.1 festgehalten werden, dass bisher im Rahmen der Ausbildung Inhalte zum Themenkreis Kultur/Interkulturalität/Migration nur sporadisch und unsystematisch vermittelt wurden. Demgegenüber steht der Fundus an ExpertInnenwissen bezüglich dieses Bereichs, das die (angehenden) AnalytikerInnen haben, die entweder selbst über einen Migrationshintergrund verfügen und/oder in der Praxis vermehrt interkulturelle psychoanalytische Therapien durchführen. Dieses Kapitel soll dazu dienen, die Aspekte zusammenzufassen, die diese ExpertInnen als Grundwissen für das interkulturelle Arbeiten ansehen. Bemerkenswert ist, dass dieses Grundwissen nur an wenigen Stellen den klinisch-therapeutischen Bereich berührt. Eine wichtige Frage, die sich generell durch den Bereich interkultureller Beratung und Psychotherapie zieht, ist die danach, wie viel Wissen (im engen Sinne) sich der/die professionell Helfende bezüglich des kulturellen Hintergrundes des/der KlientIn aneignen muss, um gut arbeiten zu können. „Dass wir uns überhaupt überlegen, müssen wir über die andere Kultur viel Bescheid wissen oder nicht?“ (Frau Zanolla, Z. 299f)
Wie in der Literatur beschrieben, so scheiden sich auch bei meinen Interviewees bezüglich dieser Frage die Geister. So steht auf der einen Seite die Position, sich ein möglichst genaues Wissen aus verschiedenen äußeren Quellen über die entsprechende Kultur aneignen zu müssen, um das Verstehen des/der PatientIn gewährleisten zu können. Demgegenüber befindet sich die Position, eine „kul-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
tursensible“ Haltung in der Therapie einzunehmen, die die Möglichkeit kultureller Einflüsse und Differenzen im Blick hat, wobei entsprechendes Wissen auch vom Gegenüber direkt erfragt werden kann. Aus der Praxis heraus, in der die meisten TherapeutInnen mit MigrantInnen verschiedenen kulturellen Hintergrundes arbeiten, ist schon aus pragmatischen Gründen vermutlich letztere Haltung relevanter. Zudem kann die Beschäftigung mit der Kultur der „Anderen“ essentialisierend wirken und auch subkulturelle Unterschiede vernachlässigen. Dennoch ist das Wissen darum, wie unterschiedlich das Aufwachsen und Leben in verschiedenen kulturellen Kontexten sein kann, sicherlich sehr bedeutsam, um den Blick für andere Lebenswelten zu weiten. Als ein wichtiger Punkt, in Bezug auf den sich Wissen angeeignet werden sollte, wird die politische bzw. die gesellschaftliche Situation im „Herkunftsland“ der MigrantInnen gesehen. Frau Zanolla kann dabei auf ihre eigenen Erfahrungen als Analysandin zurückgreifen und formuliert, sie hätte sich von ihrer Analytikerin deshalb mehr Kenntnisse bzgl. dieses Aspektes gewünscht, um in ihrerer Lebenssituation, die maßgeblich durch die politischen Bedingungen in Y geprägt war, besser verstanden werden zu können. „Und ich glaube, das ist wichtig, den Anspruch hätte ich an mich. Und wenn man mit Migranten arbeitet, nicht unbedingt die Kultur – die kriege ich ja auch mit, ich kann ja auch immer wieder fragen, wie war das. Aber so zu verstehen, unter welchen Bedingungen die reinkommen, finde ich, da muss man sich informieren.“ (Frau Zanolla, Z. 376–380)
Aber auch der Bezug zur Epoche, in der wir (zumindest aus westlicher Sicht) leben, wird hergestellt, und Frau Szabó findet es wichtig, dass KandidatInnen „ausgewählte Theorien zur Entwicklung der Identität in der Postmoderne“ (Z. 112f) vermittelt werden. Gerade in Bezug auf die Konstruktion kultureller Identität könnten hier die Cultural Studies einen wichtigen Beitrag leisten, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass kulturelle Identitäten sozial verhandelt werden und auch AnalytikerInnen hier als AkteurInnen tätig sind, sei es in Form von Selbst- oder Fremdzuschreibungen. Einige MigrantInnen, die sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, machten aufgrund der Umstände innerhalb des Landes, aus dem sie auswanderten bzw. flohen, traumatische Erfahrungen. Auf andere wirkten sich die extremen Umstände ihrer Flucht traumatisch aus. „Also, ich will auch sagen, dass viele von diesen Migranten, ich würd’ sagen alle, die zum Beispiel aus Afrika, die boat people, die hierher kommen, die brauchen alle Hilfe, die sind alle traumatisiert.“ (Frau Schreiber, Z. 529ff)
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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Aus diesem Grunde wird auch die Vermittlung Trauma-therapeutischen Wissens innerhalb der Ausbildung als wichtiger Bestandteil angesehen, der die interkulturelle Praxis, und natürlich nicht nur diese, verbessert. Auch zu typischen Prozessen der Migration bzw. der psychischen Verarbeitung derselben sollten AusbildungskandidatInnnen Wissen erwerben. Grinberg und Grinberg (1990) stellen mit einem vorwiegend defizitorientierten Blick auf Migration die „,Psychopathologie der Migration‘“ (ebd. S. XIII) dar und konzipieren ein Phasenmodell psychischer Vorgänge im Prozess der Migration. Auch andere psychoanalytische AutorInnen befassen sich mit diesem Aspekt interkulturellen Arbeitens, wobei sich auch ressourcenorientierte Arbeiten finden lassen (vgl. Kap. 4.3). Allerdings ist es, wie in der psychosozialen Arbeit generell, mit Faktenwissen alleine auch bezüglich interkulturellen Arbeitens nicht getan, sondern es bedarf der Verbindung von Fachwissen und der Einfühlung in die spezifische Lebenssituation von MigrantInnen. Frau Fischer erläutert dies am Beispiel der Migrationserfahrung und stellt gleichzeitig die Frage in den Raum, inwieweit diese ohne eigenen Bezug überhaupt nachempfunden werden kann. „Zum Beispiel, was es bedeutet, auswandern, sich trennen. Also das Traumatische dabei. Was es bedeutet, Freunde und Familie und das Land, einfach alles hinter sich zu lassen. Wird mir gerade klar, dass das sehr wichtig ist. Für jemanden, der das nicht gemacht hat, ist das innerlich sehr schwierig, das innerlich nachzuvollziehen.“ (Frau Fischer, Z. 229)
Die fünf hier angeführten Aspekte, die meine Interviewees als „wichtiges Fachwissen“ bezüglich interkulturellen Arbeitens an AusbildungskandidatInnen vermittelt sehen wollen, nahmen innerhalb der Interviews nur einen relativ geringen Raum ein. Wesentlich ausführlicher wurden weitere Aspekte überdacht, die in der interkulturellen Therapie relevant sind und die sich als spezifische Haltungen und reflexive Zugänge charakterisieren lassen. Diese werden im Folgenden behandelt. 5.7.3 Anerkennung äußerer Realitäten „Das ist nicht ein innerpsychisches Problem, das ist ein reales gesellschaftliches Problem.“ (Herr Bernard, Z. 278f)
Psychoanalytische Therapien legen, vereinfachend gesagt, in der Regel den Fokus auf die innerpsychische Verarbeitung bedeutsamer biographischer Erfahrungen und ihre aktuellen Auswirkungen in Bezug auf Befindlichkeit und Be-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
ziehungsgestaltung der PatientInnen. Der Schwerpunkt liegt also weniger auf den aktuellen äußeren Lebensbedingungen und deren Auswirkungen, sondern vielmehr auf vergangenen. Kareem (1992) weist jedoch darauf hin, dass die Betrachtung und auch die Anerkennung der Auswirkungen der (aktuellen) äußeren bzw. der gesellschaftlichen Realitäten gerade in der interkulturellen therapeutischen Begegnung unabdingbar notwendig seien. Diese Forderung unterstreichen meine Interviewees mittels ihrer Aussagen und verweisen auf verschiedene äußere Aspekte, die von TherapeutInnen innerhalb einer interkulturellen Therapie nicht vernachlässigt werden dürfen. Die gesellschaftliche Position als MigrantIn sollte selbstverständlich nicht nur unter einem defizitären Blickwinkel betrachtet werden. Dennoch lassen sich „reale Probleme, die mit der Migration einhergehen“ (Herr Bernard, Z. 277), benennen, die „auf der realen Ebene bearbeitet werden müssen“ (ders. Z. 277f). Zu dieser „realen Ebene“ gehört in besonderem Maße die aktuelle Situation im „Aufnahmeland“, in der sich MigrantInnen befinden, da sie sich deutlich auf diese auswirkt. Hierbei geht es häufig um existenzielle Aspekte, die sich auf aufenthaltsrechtliche und sozioökonomische Fragen beziehen. Diese sollten in ihrer Auswirkung nicht unterschätzt werden, zumal MigrantInnen im Durchschnitt einen schlechteren sozioökonomischen Status als Nicht-MigrantInnen haben und der Zusammenhang zwischen Erkrankungsrisiko und Armut, nicht nur für psychische Erkrankungen, hinlänglich bekannt ist (vgl. auch Kap. 2.1). Auch Salman Akhtar weist auf den Zusammenhang zwischen Gesellschaftlichem bzw. Politischem und innerpsychischer Befindlichkeit hin. „Drei Faktoren spielen in der Reaktion der aufnehmenden Bevölkerung auf einen Neuankömmling eine Rolle: (1) Das Wesen der bestehenden Gemeinschaft, (2) die spezielle Epoche, in der die Migration stattfindet, und (3) bereits bestehende historische Verbindungen zwischen dem Einwanderungs- und dem Herkunftsland. [...] Die Möglichkeit des Erhalts voller Staatsbürgerschaft ist hier ebenfalls ein wichtiger Faktor. Deutsche Einwanderungsgesetze sind z.B. denkbar entmutigend für seine türkischen Gastarbeiter [...] Diese Faktoren haben tiefgreifende Auswirkungen auf die interne Trauer und die äußere Assimilation des Einwanderers.“ (ders. 2007, S. 46f)
Diese Aspekte sind sicherlich nicht nur bei „Neuankömmlingen“ wirksam, sondern auch bei MigrantInnen, die bereits längere Zeit im Land leben oder in der zweiten oder dritten Generation ihren Lebensmittelpunkt im „Aufnahmeland“ haben und folglich dort geboren sind. Werden äußere Faktoren innerhalb der Therapie zentral, kann dies auch bedeuten, den klassischen therapeutischen/psychoanalytischen Rahmen zu verlassen und auf der Ebene des realen Problems tätig zu werden.
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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„Wo es jetzt um sehr viel Äußeres geht, da denke ich, ist eine analytische Praxis schlechter gerüstet. Wo es da drum geht, manchmal wirklich so ne sozialpädagogische Funktion zu übernehmen, wie Rechtsanwalt anzurufen oder sich eventuell, ja, bei der Ausländerbehörde da sich einzuschalten oder solche Sachen. Aber warum nicht, hab ich auch schon mal gemacht und gehabt.“ (Frau Szabò, Z. 269–275)
Sowohl Frau Szabò als auch Frau Fischer haben schon PatientInnen in das Ausländeramt begleitet, weil sie dies für notwendig hielten. Wie sie sich mit diesem Verhalten in der (imaginierten oder realen) Community ihrer psychoanalytischen KollegInnen positioniert erleben, ist jedoch sehr verschieden. Frau Fischer befürchtet eher, von KollegInnen bei „unanalytischem“ Handeln „erwischt“ zu werden. Frau Jensen: „Also einmal hab ich eine Frau aus Äthiopien einfach richtig begleitet, zum Ausländeramt. Also ich weiß, dass es nicht Analyse war, so. Punkt. Aber–“ Interviewerin: „Aber es ist die Frage, ob’s nicht trotzdem richtig ist.“ Frau Jensen: „Ja, natürlich. Da hab ich keine Bedenken. Aber ich weiß, dass es keine Analyse ist, ich mach’s ja auch trotzdem, wenn ich es eben für notwendig halte. Also ich hab manchmal zwischendurch gedacht, also hoffentlich sieht mich niemand.“ (lacht) Interviewerin: „Keiner der Kollegen?“ (lacht) Frau Jensen: „Ja.“ (beide lachen)
Frau Szabò hingegen hegt solche Befürchtungen nicht, wenn sie auch ihr Handeln nicht im engen Sinne als analytisch, sondern eher als traumatherapeutisch versteht. Interviewerin: „Weil Sie vorhin erwähnt haben, Sie gehen dann schon mal mit aufs Ausländeramt, wenn es sinnvoll ist. Ist es eher so, dass Sie denken, oh Gott, hoffentlich trifft mich kein Kollege oder –“ Frau Szabó: „Nein, da sind keine Kollegen (lacht), da bin ich mir ganz sicher.“ Interviewerin: „Oder hoffentlich erfährt das keiner meiner Kollegen“? [...] Frau Szabò: „Ne, das hat damit gar nichts zu tun. Also, warum hab ich das damals gemacht? Ich weiß, das war bei einer Frau, einer Kosovo-Albanerin, die darüber sehr in Panik war und nicht wusste, ob ihr Aufenthalt verlängert wird, und sie hatte dann in dem Moment auch niemanden, der mit ihr jetzt hätte hingehen können, der genügend Deutsch sprach und es ging dann zwar ganz entscheidend – es ist schon ein paar Jahre her, um eine entscheidende Stelle. Ich glaub, es ging dann darum, genau, dass die, die hatte die Duldung und rutschte in ’nen besseren Status rein und hatte da auch so paranoide Fantasien, haben die ja oft, also auch aufgrund von dem, was sie alles erlebt haben, die Flüchtlinge, dass dieser Mann da beim Ausländeramt ihr nicht bewilligen würde. Ich hatte mit dem auch schon telefoniert und hatte nicht den Eindruck. Und dann hab ich gedacht, das ist was ganz Wichtiges, also nicht unbedingt jetzt analytisch, aber jetzt von der Trauma-Forschung her, dass sie das nicht
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
als Retraumatisierung erlebt, und da hab ich mehr so als Halt fungiert und war halt dabei und hab dann ihn gefragt. Und zwar hat sich dann rausgestellt, dass es überhaupt kein Problem war. Das war auch so mein Gefühl und das hat sie, ja, sehr beruhigt. Es ging drum – sie sollte dann Auskunft geben und dann Unterlagen über die Bedingungen ihres Mannes bringen und das hat sie dann auch gemacht. Also da hab ich mich eher so in der mütterlich haltenden Funktion gesehen und das ist ja jetzt nicht was Analytisches, aber deswegen kann man es trotzdem machen.“ Interviewerin: „Es ist ja auch immer eine Frage, wie man diese Abstinenzregel versteht. Die kann man ja so und so verstehen.“ Frau Szabó: „Ich denk nicht, dass ich die damit irgendwie verletzt hab, weil es ging nicht um irgendeine Wunscherfüllung, sondern es war immanent notwendig für die Behandlung, sonst wär die Behandlung nicht weitergegangen. Es war praktisch die Behandlung irgendwie ein Stück ins Ausländeramt da verlegt, also hat dort stattgefunden, einfach dass die da einen sicheren Raum hatte, darum ging’s mir und das hat nichts damit zu tun.“ (Z. 291–295/304–330)
Fernanda Pedrina weist ebenfalls auf die Bedeutsamkeit sozioökonomischer Faktoren hin und legt PsychotherapeutInnen nahe, „das Problem in seiner sozialen Dimension zu erkennen und andere zuständige Berufsleute einzubeziehen“ (dies. 2001, S. 105). Neben den erwähnten Aspekten ist es auch die Realität des Rassismus, dem MigrantInnen immer wieder ausgesetzt sind, der Beachtung finden und nicht als individuelles Problem gesehen werden sollte. Albert Memmi (1992, S. 103) definiert Rassismus als „verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“. Mecheril betont, dass es im Besonderen um die Rassismuserfahrungen gehe, nicht um „Rassismus als gesellschaftliches Phänomen“ (ders. 1995, S. 100), und Rassismus somit nicht nur aus einer rein gesellschaftsanalytischen Perspektive erklärt werden dürfe. Wie Rassismus den privaten wie öffentlichen Raum durchdringt, beschreibt Kronsteiner (2002, S. 102). „Der Umgang einer Gesellschaft mit den ‚Fremden‘ sagt viel über diese und ihre Kultur aus. In Österreich ist die strukturelle Haltung, die sich zum Beispiel in der entsprechenden Gesetzgebung ausdrückt, vom Gefühl der Bedrohung, Angst und entsprechender Abwehr und Abschottung geprägt. Diese Haltung findet ihre Fortsetzung im institutionellen Rahmen (Behörden) bis zu ganz privaten Kontakten wie in Park oder Wohnhaus. In Österreich und Deutschland nennt man diese Haltung Ausländerfeindlichkeit, sonst Rassismus.“
Die Art, wie „Rassismus, ja, wie der in Erscheinung tritt, wie der sich auswirkt“ (Z. 116), sollte nach Meinung von Frau Szabó elementarer Bestandteil der Ausbildung von KandidatInnen bezüglich interkulturellen Arbeitens sein, da Thera-
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peutInnen in der interkulturellen Therapie sich in Bezug auf die Rassismuserfahrungen ihrer PatientInnen positionieren müssen. „[...] ich hab auch die Erfahrung gemacht, gerade von ausländischen Patienten, dass die auch kränkende Erfahrungen gemacht haben, weil deren äußere Realität zu wenig beachtet wird, wie die ihr Leben formt. Also ob [...] es der alltägliche Rassismus ist oder was auch immer, und dass das zum Teil geleugnet wird. Und das wissen wir ja aus der Holocaust-Forschung, dass das schon wichtig, notwendig ist, die Realität auch anzunehmen.“ (Z. 376–381)
Deutlich wird anhand der Äußerungen meiner Interviewees, dass äußere Faktoren, also Aspekte, die sich aus der besonderen Situation innerhalb der umgebenden Gesellschaft ergeben, Eingang in die Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund (und sicher nicht nur da) finden müssen und in ihren Auswirkungen nicht vernachlässigt werden dürfen. Wichtig wäre es, dass sich nicht nur bereits niedergelassene TherapeutInnen mit diesen Aspekten beschäftigen, sondern auch psychoanalytische Ausbildungsinstitute die Bedeutung und Wirksamkeit dieser Faktoren systematisch an ihre KandidatInnen vermitteln und diese auch ermutigen, an notwendigen Stellen den „klassischen psychoanalytischen Weg“ zu verlassen. Denn, wie Herr Bernard vermutet, halten viele AnalytikerInnen an eben diesem aus Angst fest. „Aber ich glaub, dass viele Analytiker nicht verstehen, dass sie sehr wohl Analytiker bleiben können, auch wenn sie ihre Methoden verändern. Da besteht dann irgendwie Angst, man verlässt etwas, dem man meint sich unterordnen zu müssen.“ (Z. 282–285)
Hier zeigt sich, dass die Begegnung mit „Anderen“ (es müssen ja nicht nur MigrantInnen sein) das eigene Selbstverständnis bezüglich der Berufsrolle erschüttern kann, da scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden. Diese Erschütterungen beziehen sich aber nicht nur auf die Rolle des/der AnalytikerIn, sondern reichen, wie das nächste Kapitel zeigen wird, noch deutlich weiter. 5.7.4 Systematische Reflexion eigener Zugehörigkeit/en, Stereotype und Rassismen Die interkulturelle therapeutische Situation erfordert von der Person des/der TherapeutIn einen reflexiven Zugang, der sowohl strukturell als auch individuell bedeutsame Aspekte berücksichtigt, die das interkulturelle Verhältnis prägen. Dies verhält sich deshalb so, da sich TherapeutIn und PatientIn sowohl als Indi-
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viduen begegnen, aber auch gleichzeitig bestimmte Bevölkerungsgruppen, Nationen, Subkulturen, die Mehrheits- bzw. Minderheitskultur, ihre Hautfarbe etc. vertreten. Auf struktureller Ebene sind es die genannten Zugehörigen der beiden an der Therapie beteiligten Personen und die daraus resultierenden Konsequenzen, die Michel (1999, S. 42) die „gruppale Dimension“ der interkulturellen Begegnung nennt (vgl. auch Kap. 5.6.2). Auch Weiss möchte zusätzlich zur persönlichen Ebene die gesellschaftliche beachtet wissen. „Neben der Erarbeitung individueller Sinnkonstruktionen im psychoanalytischen Dialog sind also immer auch die Bedeutungskonstruktionen der verschiedenen sozialen Kontexte relevant, in denen sich AnalysandIn und AnalytikerIn bewegen.“ (dies. 1999, S. 244)
Kareem (1992) fordert, in der interkulturellen Therapie weder die vergangenen noch die aktuellen Beziehungen zwischen den Gruppen, denen TherapeutIn und PatientIn angehören, zu vernachlässigen. Diesen gruppalen Aspekt führt er am Beispiel des Verhältnisses zwischen Schwarzen und Weißen aus (ebd., S. 23). „Neither patient nor therapist are ‚innocent‘ of history and of memory. It is necessary to take into account that the relationship that currently exists between black and white people in our society will be mirrored in the therapist-patient relationship.“
Allerdings solle, so Akhtar (2007, S. 129), die Tatsache, dass PsychoanalytikerInnen eine „Zugehörigkeit zu einer bestimmten rassischen28, kulturellen und politischen Gruppe“ mit all ihren Konsequenzen besitzen, nicht pathologisiert werden, und er stellt fest, dass „die Identität des Analytikers unleugbar eine bestimmte ethnische Dimension [besitzt], und dies ist in der Tat normal“. Besonders dann, wenn der/die TherapeutIn der Mehrheits- und der/die PatientIn einer Minderheitenkultur oder Subkultur angehört, werden in dieser Beziehung machtsstrukturelle Fragen virulent. Frau Szabó hat den Eindruck, dass es besonders in Deutschland wichtig wäre, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Frau Szabó: „[...] aber was mich interessiert, mit dem ich mich gern beschäftigen würde in den nächsten Jahren, ist das sogenannte Machtgefälle. [...] Also, ich hab irgendwie so den Eindruck, also wenn ich das hier von Deutschland aus sehe, dass, ja, wie soll ich das sagen, in der Kommunikation zwischen deutschen Therapeuten
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Hier wieder in anglo-amerikanischer Verwendung von racial/race zu verstehen.
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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und Patienten mit Migrationshintergrund sich gerne – [...] dass sich da so was einschleift, wie von oben nach unten.“ Interviewerin: „Therapeut/Therapeutin oben, Patient/Patientin unten?“ Frau Szabó: „Ja, genau. Es ist ja sowieso ein bestimmtes Gefälle drin, also z.B. so mit Couch, also in dem Couch-Setting, aber unabhängig davon. Und jetzt auch nicht beschränkt auf den klinischen Bereich. Und das interessiert mich. Also das hat ja auch oft so was Besserwisserisches oder Paternalistisches. Und ich hab die Erfahrung gemacht, dass Patienten oft sehr sensibel darauf reagieren und sich dann auch missverstanden und gekränkt fühlen.“ (Z. 360–373)
Frau Szabó beschreibt hier die Herstellung eines Verhältnisses zwischen Mehrheits- und Minderheitenangehörigen in „Kategorien von Über- und Unterordnung“, die „unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie Bilder, die wir vom anderen entwerfen“, durchdringt, was mit Birgit Rommelspacher (1998, S. 22) Dominanzkultur genannt werden kann (vgl. auch Kap. 5.6.2). Mit den Begrifflichkeiten der Postcolonial Studies kann hier von einer kolonialen Praxis gesprochen werden, in der die MigrantInnen als weiter unten stehend diskursiviert werden (Kap. 2.5), was sich diesen auch auf einer emotionalen Ebene transportiert. „[...] und sie fühlen sich schnell durch die Herrschaftskultur, die Migranten fühlen sich inferior.“ (Frau Jensen, Z. 500f)
Die strukturellen bzw. gesellschaftlichen Dimensionen schlagen sich notwendigerweise auch im Individuum, also dem/der einzelnen TherapeutIn nieder, da auch sie als „rassistisch verstrickte Subjekte“ (vgl. Jäger 1997, S. 132) konstituiert sind, worauf sich auch Frau Szabó bezieht. „Ja, es ist so damit, dass einfach wir hier uns, glaub ich, doch im Gegensatz zu angelsächsischen Ländern [...], immer noch nicht als Einwanderungsland verstehen. Und ja, es fehlt an Bewusstsein und Auseinandersetzung mit den unbewussten, ja rassistischen Elementen, die wir ja alle genossen haben in unserer Erziehung, so ist es ja nicht. [...] Also an meinem Institut ist das sicher noch nicht genügend verarbeitet. Ich mein, Holocaust-Forschung, damit findet schon eine große Auseinandersetzung statt, denk ich schon. [...] Aber die, ja, wie soll man das nennen, die Kommunikationsstruktur zwischen deutsch und nicht-deutsch. Also wie das an den anderen Instituten angegangen wird, das weiß ich nicht, da kenn ich mich zu wenig aus. Bei uns bestimmt nicht. Ich hab eher den Eindruck, dass es was Allgemeines ist, das es aufzudecken gilt.“ (Z. 385–389/397–403)
Entgegen einer strukturellen Betrachtungsweise des Rassismus legt Akhtar ein individualpsychologisches bzw. entwicklungspsychologisches Erklärungsmodell desselben zu Grunde, das Rassismus/Fremdenfeindlichkeit als Folge der Angst
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vor dem sogenannten „Fremden“ annimmt (vgl. auch Erdheim 1988 & 1992a, Kap. 3.3.4 dieser Arbeit). Aus diesem Grunde fordert er „die persönliche Behandlung des Therapeuten zur Milderung paranoider Abwehren“ (ders. 2007, S. 132), also übersetzt gesprochen eine Art „therapeutischer Behandlung“ des Rassismus, wie sie beispielsweise in der Lehranalyse stattfinden könnte. Prinzipiell ist die individuelle Beteiligung am Rassismus und die Produktion eigener Rassismen und Stereotype sicherlich etwas, das innerhalb therapeutischer Ausbildungen reflektiert werden muss. Rassismus lediglich auf eine „paranoide Abwehr“ zu reduzieren halte ich jedoch für unzureichend, da die Beteiligung des/der Einzelnen an rassistischen Praktiken wesentlich weitreichender ist. Um dies zu verstehen, ist Ute Osterkamps Modell des institutionellen Rassismus hilfreich, das davon ausgeht, dass „rassistische Denk- und Handlungsweisen [...] in der Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders verortet sind, welche die Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch gegenüber den Nicht-Dazugehörigen privilegieren. Indem man sich solchen Bedingungen anpasst, die einen gegenüber den anderen bevorzugen, beteiligt man sich an deren Diskriminierung, ohne dass persönliche Vorurteile im Spiel sein müssen“ (dies. 1997, S. 95). Rassismus und die eigene Beteiligung daran – individuell wie strukturell – systematisch zu reflektieren ist allerdings etwas, so attestiert Kareem, das der größte Teil der PsychotherapeutInnen nicht für notwendig erachtet, da Rassismus lediglich im „Außen“, also im politischen Raum verortet wird. „The concept of racism is in one aspect a psychological phenomenon; it affects whoever are its victims as well as its perpetrators. Since it is a reality of life for many people all over the world, [...] it is not helpful for us to explain it away simply as part of some people’s psychic problem. But if its ultimate rationale is that of social power, racism, a two-way process, operates through primitive feelings of envy, hate jealousy, greed, anger, violence, suspicion and fear. Most psychotherapists are supposed to have learned how to deal with this feelings, and yet most psychotherapists maintain that racism is not an issue for them, simply because it’s a political (and thus ‚external‘) issue.“ (ders. 1992, S. 25)
Auf die Tatsache, dass Rassismus und die von Stereotypen durchdrungene Konstruktion des/der Anderen auch in der psychosozialen Arbeit wirksam werden, weisen vergleichende Studien zur Versorgung und Diagnostik von Weißen im Vergleich zu Schwarzen hin. „In der Regel werden Angehörige der Mehrheitskultur sicher besser betreut als Angehörige von Minderheiten. Charles R. Ridley hat dies z.B. für die USA anhand verschiedener Mechanismen aufgeschlüsselt: So werden Schwarze öfter an jüngere und Halb- bzw. Nichtprofessionelle überwiesen. Fehldiagnosen sind bei ihnen häu-
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figer. Es werden mehr schwere Psychopathologien diagnostiziert. Harrison et al. (1988) finden in ihrer Untersuchung, daß Schwarze 12 Mal öfter als schizophren diagnostiziert werden als Weiße. Weißen werden häufiger psychoneurotische Symptome zugeschrieben im Unterschied zu Schwarzen, die eher psychotisch und psychopathisch gelabelt werden.“ (Wachendorfer 1998, S. 58)
Auch Littlewood und Lipsedge (1989) untersuchen, wie kulturelle Stereotypen in der Psychodiagnostik wirksam werden, und belegen, dass aus Irland stammenden ImmigrantInnen signifikant häufiger die Diagnose Alkoholismus gestellt wird, da Alkohol-Abusus das ist, was aufgrund stereotyper Zuschreibungen von Menschen aus Irland erwartet wird. Dass auch vermeintlich objektive Instrumente zur Diagnostik nicht vor der Verzerrung aufgrund von Stereotypen bewahren, belegt die sogenannte „U.S. – U.K.-Studie“ (vgl. Draguns 1985). Trotz standardisierter Erhebungsinstrumente konnte die unterschiedlich hohe Rate an Schizophrenie-Diagnosen in Großbritannien im Vergleich zu den USA eher durch die Person des/der DiagnoseStellenden erklärt werden als durch die Diagnostizierten. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studien ist Frau Fischers Antwort auf meine Frage, was denn der/die Standard-AusbildungskandidatIn in Bezug auf interkulturelles Arbeiten bzw. Migration lernen sollte, alles andere als banal. „Also Migration, da sollte man, finde ich, schon so ‘ne Grundausstattung mitnehmen, dass man weiß, Migrant ist nicht gleich Migrant.“ (Z. 220f)
Aus den von mir geführten Interviews ist jedoch kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass die individuelle wie strukturelle Ebene des Rassismus, oder auch die Produktion eigener Stereotypen, von denen auch (angehende) TherapeutInnen nicht ausgenommen werden können, in der Ausbildung adäquat reflektiert werden. Thomas merkt hierzu bereits 1992 kritisch an: „The working through of issues of racism seems to be relatively unimportant for the training analysis of candidates. It has proved difficult for analytical societies to deal with this issue,perhaps because training analysts and supervisors alike have little awareness of the significance of race and racism in the therapeutic process.“ (ebd. S. 133)
Die Aufmerksamkeit auf diese Aspekte bereits in der Weiterbildung der PsychotherapeutInnen/PsychoanalytikerInnen zu lenken und sie als essentiellen Bestandteil der interkulturellen Therapiebeziehung systematisch zu reflektieren wäre sicherlich notwendig, um die Reproduktion von Stereotypen, Rassismen und typischen Machtverhältnissen innerhalb der interkulturellen Therapie zu
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minimieren. Dies gilt sicherlich nicht nur für KandidatInnen einer psychoanalytischen Ausrichtung, ebenso wie die im folgenden Kapitel von den interviewten PraktikerInnen gestellte Forderung. 5.7.5 Dezentrierung und postkoloniale Haltung als zentrale Forderungen „Wir alle glauben doch, daß unsere Gesellschaftsform, auch wenn wir sie noch so kritisieren, die Gesellschaftsform ist und daß unsere Vorstellung von ‚seelisch gesund‘ irgendwie richtig ist.“ (Parin zit. in Heinrichs 1982d, S. 49)
Eine Frage, die interkulturelles Arbeiten in der Regel nach sich zieht (oder nach sich ziehen sollte), ist die nach der Anwendbarkeit der verwendeten Modelle auf Menschen anderen kulturellen Hintergrundes. Innerhalb der Psychoanalyse ist diese Debatte beinahe so alt wie sie selbst und wurde, wie in Kapitel 3.3.1 ausführlich behandelt, bezüglich der Frage nach der Universalität des Ödipuskomplexes bereits zwischen Ernest Jones und Bronislaw Malinowski geführt. Diese Auseinandersetzung zieht zum einen die Überlegung darüber nach sich, welche psychischen Prozesse und Strukturen als universal angesehen werden können und welche nicht. Zum anderen berührt sie eine erkenntnistheoretische Ebene: Sind Theorien ohne Bezug auf den gesellschaftlichen Entstehungskontext zu denken? Das heißt also für die Psychoanalyse gesprochen: Sind die im westlichen Kulturraum entstandenen Theorien über den Menschen allgemein gültig? Im Rahmen meiner Untersuchung war ich interessiert daran, ob die oben genannten Fragen auch heute noch in der psychoanalytischen Community diskutiert werden und welche Überlegungen (angehende) PsychoanalytikerInnen diesbezüglich anstellen, oder auch welche Forderungen sie aus ihren Reflexionen für die interkulturelle Praxis ableiten. Die Auswertung der Interviews zeigt als allgemeines Ergebnis, dass alle Interviewees die universale Anwendbarkeit psychoanalytischer Modelle hinterfragen. Von Herrn Bernard wird auf die Problematik der Modellbildung innerhalb psychologischer Theorien im Allgemeinen hingewiesen, eine Schwierigkeit, von der auch die Psychoanalyse betroffen ist. Auf meine Frage, was er denn in Bezug auf die Diskussion der Universalität des Ödipuskomplexes denke, antwortet er Folgendes: „Es gibt keinen Ödipuskomplex, das ist Käse. Es gibt auch kein Über-Ich, es sind ja keine vorfindbaren Entitäten, wenn überhaupt sind es Beschreibungen spezifischer
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Strukturen und es macht Sinn, denen so einen Begriff zu geben, um sich zu verständigen.“ (Z. 209ff)
Die Frage der Allgemeingültigkeit wird auch vor dem Erfahrungshintergrund diskutiert, der sich aus der klinischen Praxis ergibt, dass es nicht nur interkulturelle, sondern auch subkulturelle Differenzen zu beachten gilt, die sich zwischen verschiedenen Regionen innerhalb Deutschlands (Nord- vs. Süddeutschland/ Ost- vs. Westdeutschland), aber auch schichtspezifisch ergeben können. Nicht zu vernachlässigen sind zudem geschlechtsspezifische Unterschiede. „Dass der Ödipuskomplex, dass der relativiert werden sollte, schon zwischen Männern und Frauen, wie er heute in der Theorie allgemein immer noch vertreten wird, das ist schon innerhalb einer Kultur wichtig.“ (Frau Schreiber, Z. 393ff)
Psychoanalytische Theorie ist etwas, das die meisten meiner InterviewpartnerInnen als abhängig vom gesellschaftlichen Kontext sehen, in dem sie entstanden ist, und sie wird zudem im westlichen, letztlich kolonialen Diskurs über die Welt verortet. „Das ist ja was Grundsätzliches. Das ist ja ganz offensichtlich, inwieweit die Psychoanalyse als westliches Denkmodell, aber auch in ihrer Behandlungstechnik von westlicher gesellschaftlicher Tradition geprägt wurde. Und das ist einfach, denke ich, wird auch zunehmend, setzt sich auch immer mehr durch, auch in der IPA, das sieht man in den Zeitschriften und Kongressen. Es ist einfach nicht mehr, um nicht zu sagen, zu halten. Oder ist ein einseitiger westlicher Blick.“ (Frau Szabó, Z. 131– 136)
Der Kern des Problems liege schon im Familienmodell, das Freud seinen Konzepten zugrunde legte, und das weder im Kulturvergleich noch in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel als konstant beurteilt werden kann. Diesem Modell der patriarchalen Kernfamilie stehen in anderen kulturellen Kontexten deutlich andere Beziehungsgefüge entgegen. Welche Auswirkungen das wiederum auf die psychische Entwicklung des Kindes haben kann, darüber wird spekuliert. „Dass dieses Familienmodell, auf das vieles aufbaut in der Psychoanalyse, um nochmal bei Afrika zu bleiben, weil ich weiß, dass da Familie so gar nicht existiert. Und wenn ich denke, dass viele Kinder in afrikanischen Stämmen von vielen Leuten gleichzeitig aufgezogen werden und ganz viele Leute ‚Onkel‘ oder ‚Tante‘ nennen und wissen gar nicht, sind die jetzt eigentlich blutsverwandt mit mir, die Kinder fremdeln wahrscheinlich gar nicht, weil sie nicht so sehr auf eine Person fixiert sind.“ (Frau Sousa, Z. 195–200)
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Besonders virulent werden kulturelle Unterschiede in der interkulturellen Arbeit dann, wenn sie die Vorstellungen von Normalität und Abweichung und in Folge auch das Konzept von psychischer Störung betreffen. Hierbei bezieht sich der Begriff der Normalität „auf die in einer konkreten Gesellschaft mehrheitlich gewohnheitsmäßig nach Situationen/Kontexten und sozialen Milieus differenziert erwarteten, in Traditionen eingelebten und gefühlsmäßig relativ stabil verankerten Verhaltensweisen und auf die Befolgung von Regeln der alltäglichen Interaktion“ (von Kardorff 1998, S. 386). Psychische Krankheit kann, anders als es das biomedizische Krankheitsmodell in der Regel annimmt29, auch als abweichendes Erleben oder Verhalten bezogen auf die Normalitätsvorstellungen, also auch als gesellschaftliches Konstrukt angesehen werden (vgl. Keupp 2007). Außerdem weist Keupp (1979b, S. 201, Hervorhebungen i.O.) auch auf den „Doppelcharakter [jeder Krankheit] als objektives organisches Prozeßgeschehen und als spezifische soziale Lebensform“ hin. Normalitäts- und Krankheitsvorstellungen und auch der Umgang mit Devianz können sich also kulturbedingt unterscheiden. Folglich stellt sich die Frage nach der „Definitionsmacht zur Bestimmung von geistiger und seelischer Gesundheit“ (von Kardorff 1998, S. 387), die im Bereich psychischer Gesundheit in hohem Maße VertreterInnen der Medizin und der Psychologie/Psychotherapie zugeteilt wird (vgl. auch Foucault 1968). Nach Meinung von Frau Sousa sollte innerhalb der Weiterbildung der Aspekt der Relativität eigener Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen vermittelt werden. „Ja, genau, zu vermitteln, dass da wirklich Lebensweisen oder Verhaltensweisen, die für uns vielleicht pathologisch oder seltsam oder gestört erscheinen, in anderen Gesellschaften oder anderen Ländern eigentlich normal sind, und dass da mehr Bewusstsein dafür da ist.“ (Z. 161–164)
Ebenso lassen sich Differenzen bezüglich der zentralen Werte und Normen feststellen, welche ebenfalls als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse verstanden werden können (vgl. z.B. Gergen 1999). Diese Unterschiede gilt es, so Frau Levine, ebenfalls nicht zu pathologisieren. „Wenn zum Beispiel Kinder in X sehr lange bei den Eltern leben und erst ausziehen, wenn sie heiraten, dass das nicht unbedingt ist, weil sie nicht genügend Autonomie entwickelt haben oder so etwas, sondern es ist ganz einfach ein kulturelles Phänomen. Und die gehen dann anders um mit dieser ganzen Adoleszenzphase. Kinder können oft innerhalb der Familie sich emanzipieren und ein selbständiges, 29
Eine ausführlichere Diskussion des medizischen Krankheitsbegriffs allgemein findet sich z.B. bei von Kardorff (1978), Szazs (1978) und Keupp (1979a).
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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erwachsenes Leben führen. Hier muss oft ein Bruch dafür stattfinden. Hier ist es oft schwierig für die Kinder, wenn sie so 18, 19, 20 sind, der Übergang ins Erwachsenenleben ohne auszuziehen. Sie werden dann oft komisch angesehen, wenn das Kind mit 25 noch zuhause lebt. Und in X ist das völlig normal, weil sie diesen Übergang anders machen, und die sind deswegen jetzt nicht, was weiß ich, nicht autonom. Dieses Individualistische, Autonome, die Individuation hat einen ganz großen Wert hier. In X macht man ganz viel in Gruppen, man ist ganz wenig alleine, und das ist ein Problem hier für viele Menschen aus X, wenn sie herkommen. Die Einsamkeit, und dass das irgendwie erwartet wird, dass das hier Teil der Kultur ist.“ (Frau Levine, Z. 407–421)
Auch der therapeutische Kontext ist kein wertfreier Raum. Gerade innerhalb der Psychoanalyse, so merkt Frau Szabò kritisch an, sei Individuation „so ein Wert. Zum Beispiel von den Eltern unabhängig zu werden, also wie hier auch die Pubertät gesehen wird, als Ablösung von den Eltern-Imagines“ (Z. 212f). Sie zieht also eine direkte Linie zwischen sozial konstruierten Werte- und Normsystemen und psychoanalytischer Theoriebildung. Normalitäts- und Wertkonstruktionen formieren auch maßgeblich die Vorstellungen davon, wie Erziehung stattfinden solle und wozu Kinder erzogen werden. Hier spielen Annahmen über das Wesen des Kindes, wie sie schon Moro thematisiert (vgl. Kap. 4.1), eine große Rolle. Auch diesbezüglich lassen sich deutliche kulturelle Unterschiede benennen, was Frau Jensen am Einsatz von Disziplinierungsmaßnahmen in der Erziehung erläutert. Frau Jensen: „In anderen Kulturen sieht die [...] Erziehung [anders aus]. [...] Mit sieben wird in Z erst erzogen. Schon Grenzen gesagt und so, aber so richtig streng eigentlich mit sieben.“ Interviewerin: „Was ist dann mit sieben? Der Schuleintritt? Oder was ist das Spezielle an diesem Alter?“ Frau Jensen: „Ein Bauer in Z hat zu mir gesagt [...]: ‚I will tell them, if they understand.‘ Ja, wenn sie noch nicht verstehen, dann halt, ja schon beruhigen, erklären: ‚Nein, du sollst das nicht machen.‘ Aber hier [wird schon früher sehr streng erzogen, Ergänzung K.H.].“ (Z. 444f/449–455)
Sich im interkulturellen Arbeiten bei unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen nicht von den eigenen Normalitätsvorstellungen leiten zu lassen, beschreibt Frau Sousa als nicht immer einfach. Wichtig sei es, so Frau Schreiber, den eigenen Normalitätsbegriff möglichst weit zu fassen. „Mitscherlich hat mal [...] gesagt, man könne sich, wenn man Analytiker wird, die Bandbreite dessen, was normal ist, nicht groß genug vorstellen.“ (Z. 410f)
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Besonders kritisch wird das Modell der psychosexuellen Entwicklung, wie Freud es „als sequentielle Abfolge verschiedener Phasen der Libidoentwicklung“ (Tyson & Tyson 2001, S. 29) konzipiert hat, in puncto Übertragbarkeit hinterfragt. Dieses Stufenmodell entwickelte Freud über einen langen Zeitraum hinweg, und er greift in unterschiedlichen Arbeiten verschiedene Aspekte desselben auf (vgl. z.B. Freud 1905 & 1916–17). In Kurzform beschrieben, umfasst die Libidoentwicklung die orale, anale, Latenz- und die genitale Phase, wobei dieses Modell immer wieder Differenzierungen erfahren hat und auch der Aspekt miteinbezogen wurde, dass die entsprechenden Stufen nicht nur sequentiell ablaufen müssen, sondern auch dem Prinzip der Gleichzeitigkeit von Entwicklungen folgen können (vgl. z.B. Mertens 1997b, Tyson & Tyson 2001). Die Entwicklung der Ich-Psychologie führte diesbezüglich zudem zu einem paradigmatischen Wechsel. Nichtsdestotrotz hat das Stufenmodell der Psychosexualität auch heute noch einen hohen Stellenwert innerhalb psychoanalytischer Theoriebildung und Praxis inne. „Fast vierzig Jahre lang stellten Freuds libidotheoretische Konzepte das entwicklungspsychologische Fundament psychoanalytischer Theoriebildung und Behand30 lungstechnik dar. Mit Einführung des Strukturmodells und der dualistischen Triebtheorie, in der Freud der Aggression den gleichen Stellenwert zuschreibt wie dem Sexualtrieb, wird das Es, das zum großen Teil dem System des Unbewussten 31 im topischen Modell entspricht, zum Reservoir für beide Triebarten. Mit den neuen theoretischen und behandlungstechnischen Implikationen der ichpsychologischen Arbeiten von Anna Freud (1936) und Heinz Hartmann (1939) büßen jedoch das Es und die Libidotheorie ihre Stellung als einzig gültiges Paradigma des psychoanalytischen Verstehensprozesses ein. Das ändert allerdings nichts daran, daß sie für die Theorie und Praxis der meisten Psychoanalytiker wesentlich blieben.“ (Tyson & Tyson 2001, S. 53f)
Was die Kritik am Phasenmodell betrifft, die von meinen Interviewees geübt wird, lassen sich prinzipiell zwei unterschiedliche Positionen markieren. Die erste, die davon ausgeht, dass dieses Konzept generell nicht als universal betrachtet werden kann, wird von der Mehrzahl meiner Interviewees vertreten. „Ich denke schon, die Phasenlehre, sozusagen. Die ist schon hinfällig, wenn man im interkulturellen Kontext [arbeitet]. Wenn man sich überhaupt diesem Phasenmodell anschließen möchte als Entwicklungsmodell, was man für die Psychotherapie brauchbar hält.“ (Frau Schreiber, Z. 388ff) 30 31
Im Strukturmodell nimmt Freud an, dass sich die Psyche in die Strukturen Es – Ich – Über-Ich unterteilen lasse (vgl. z.B. Freud 1923). Im topischen Modell unterteilt Freud in Unbewusstes, Vorbewusstes und Bewusstes (vgl. z.B. Freud 1915).
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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Frau Jensen zieht in ihren Reflexionen diesbezüglich ihre eigenen, nichtwestlichen Sozialisationserfahrungen als Referenz heran und beschreibt am Beispiel der analen Phase ihre Probleme, dieses Konzept fassen zu können. „Es ist wahnsinnig schwierig für mich, psychosexuelle Entwicklung so zu verstehen. [...] Ja, wirklich, weil es war für mich schon immer schwierig, während dem Studium auch, es zu kapieren. Zum Beispiel anal. Anal, ooooh ja. Da hab ich Schwierigkeiten gehabt, bis damals mein Supervisor mir so richtig auf kindliche Weise erklärt hatte: ‚Das ist so: Wenn ein Kind auf den Topf gesetzt wird, dann muss es kacken, und wenn es das dann nicht will.‘ – also so, ja? Dann habe ich gesagt: ‚Ja mei, was soll ich denn dazu sagen? Ich kenn so was nicht.‘“ (Z. 427–433)
Allerdings finden sich auch Überlegungen dazu, auf welchem Abstraktionsniveau die Freudschen Konzeptionen zu übertragen sind und ob sich nicht in der Essenz allgemein gültige Prinzipien herausfiltern lassen, hier am Beispiel des Ödipuskomplexes reflektiert. „Es ist so mit der Vaterfigur. Wenn in einer Kultur, wie Sie vielleicht auch wissen, 32 33 zum Beispiel in z , es ist eine matriarchale Gesellschaft eher, bei den M . Ähnlich wie bei den M finden wir auch in vielen Familien in Z noch gelebt, dass der für das Kind zuständige Vater nicht unbedingt der leibliche Vater sein muss, sondern eben der Onkel, der älteste Bruder der Mutter, ja. Und wenn man die Abstracts, die Essenz vom Ödipusgedanken, die Essenz daraus zieht, dann denke ich nach wie vor, dass es trotzdem stimmt. Dass es ihn auch in allen Kulturen gibt, in dem Sinne, dass ein Kind sich vielleicht, wie soll ich sagen, ausgeschlossen, also die Erfahrung des Ausgeschlossenseins macht. Aber so Ödipus im, ja, wie soll ich sagen, im Sinne von der Beziehung her, wie ich es damals in der Ausbildung verstanden habe, nicht ganz.“ (Frau Jensen, Z. 409–418)
Diese Gedankengänge führen auch zur zweiten Position, die von Frau Levine vertreten wird. Sie geht davon aus, dass die Phasen der psychosexuellen Entwicklung prinzipiell kulturübergreifend zu finden sind, sich jedoch die Art, wie mit den einzelnen Stufen umgegangen wird, kulturbedingt unterscheidet, was sie ebenfalls am Beispiel der Analität erläutert. „Zum Beispiel anale Phase, nicht, die in bestimmten Kulturen anders abläuft als in anderen Kulturen, nicht? In Deutschland ist Analität einfach viel mehr ein Thema als in zum Beispiel in X. Also, da gibt’s zum Beispiel den Begriff ‚Trotzphase‘ nicht. Also in Englisch gibt’s die ‚terrible twos‘, aber in X gibt’s keinen Begriff dafür extra. Und das waren so Sachen, wo ich dachte, ja, hier finden die das völlig 32 33
einer Gegend in Z einer Subkultur in Z
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
normal, dass das Kind ne Trotzphase hat. Aber in X ist das nicht so. Da sagen die vielleicht: ‚Oh, er ist schwierig im Moment.‘ Ja, also eine andere Sichtweise. Und trotzdem gibt’s dort die anale und orale und so weiter. Also das schon. Aber es wird damit anders umgegangen.“ (Z. 428–436)
In der Diskussion darüber, was als allgemein menschlich angenommen werden kann und was sich kulturspezifisch unterscheidet, stimmen meine InterviewpartnerInnen an dem Punkt überein, an dem sie alle ein Bild vom Menschen als soziales Wesen zugrunde legen, der seine Beziehungserfahrungen in gewisser Form verinnerlicht. „Also ich denke, dieses Beziehungstheoretische kann man übertragen, dieses Bindungstheoretische ist übertragbar.“ (Frau Fischer, Z. 257f)
Frau Schreiber führt noch genauer aus, wie sie sich das Zusammenspiel zwischen äußerer, sozialer Umwelt des Menschen und innerpsychischen Vorgängen und Strukturen im Allgemeinen vorstellt. „Was ich denke, was ein gültiges Modell ist, das, glaube ich, durch alle Kulturen bestehen bleibt, dass es eine Triebdynamik gibt, Motive, wenn Sie sagen wollen, Wünsche, die den Menschen antreiben, sich der Umwelt zuzuwenden. Und dass es da Menschen gibt, die von ihren eigenen Trieben und Wünschen, Motiven her gesteuert, die diese Wünsche auffassen können, beantworten, und dass es durch die Beziehung zu einem bedeutungsvollen Anderen zu einer Internalisierung von Strukturen der Begegnung mit der Welt kommt, die, je nachdem, wie es läuft, dauerhaftere oder weniger dauerhafte, flexiblere oder weniger flexible Anforderungen, dass es da verschiedene Formen da auch der sozialen Formungsnotwendigkeit gibt, die wir das Über-Ich nennen, oder so. [...] Wie es dann inhaltlich im Einzelnen gefüllt wird, denke ich, ist von Kultur zu Kultur [verschieden].“ (Z. 395–407)
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass von meinen Interviewees, auch wenn sie von einer gewissen universellen Grundausstattung des Menschen ausgehen, die allgemeine Anwendbarkeit psychoanalytischer Theorie kritisch hinterfragt wird, nicht nur in Bezug auf das interkulturelle Setting. Mit den Begrifflichkeiten der Postcolonial Studies kann hier von einer postkolonialen Haltung gesprochen werden, die der Praxis des Worlding als diskursiver Aneignung des/der Anderen entgegenwirkt (vgl. Kap. 2.5). Ebenso wird zu bedenken gegeben, dass TherapeutInnen ihre eigenen Werte- und Normalitätsvorstellungen reflektieren müssen, wenn sie mit Menschen arbeiten, deren Sozialisationshintergrund sich maßgeblich von dem ihren unterscheidet (vgl. auch Cogoy 2001). Dieser reflexive Zugang lässt sich mit Marie Moro als Dezentrierung beschreiben, welche sie in der interkulturellen thera-
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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peutischen Praxis für zentral notwendig hält (vgl. Kap. 4.1), Salman Akhtar nennt ihn kulturelle Neutralität. „Kulturelle Neutralität meint die Fähigkeit des Analytikers, den gleichen Abstand zu den Werten, Idealen und Traditionen des Patienten wie zu denen seiner eigenen Kultur zu wahren. Dies scheint viel verlangt, und dennoch gibt es kein Entrinnen von der Tatsache, dass der Analytiker sich um die Erlangung einer solchen Position seines Ich bemühen muss.“ (ders. 2007, S. 129, Hervorhebungen i.O.).
Diese Reflexionen in die (interkulturelle) psychoanalytische Praxis einzubinden, betrifft sicherlich nicht nur die Psychoanalyse, sondern alle Formen von Psychotherapie. 5.7.6 Relativierung der eigenen Erkenntnisinstrumente am Beispiel der Gegenübertragung Mit der Forderung nach Dezentrierung bzw. kultureller Neutralität und postkolonialer Haltung hängt auch die Überlegung zusammen, mittels welcher Instrumente Erkenntnisse im psychoanalytisch-therapeutischen Prozess gewonnen werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Modelle von Übertragung und Gegenübertragung. Bei Laplanche und Pontalis (1973, S. 550) findet sich die Definition, dass Übertragung „in der Psychoanalyse den Vorgang [bezeichnet], wodurch die unbewussten Wünsche an bestimmten Objekten im Rahmen eines bestimmten Beziehungstypus, der sich mit diesen Objekten ergeben hat, aktualisiert werden. Dies ist in höchstem Maße im Rahmen der psychoanalytischen Beziehung der Fall. Es handelt sich dabei um die Wiederholung infantiler Vorbilder, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden. [...] Die Übertragung wird klassisch als das Feld angesehen, auf dem sich die Problematik einer psychoanalytischen Behandlung abspielt, deren Beginn, deren Modalitäten, die gegebenen Deutungen und sich daraus ableitenden Folgerungen.“ Zwar hat das Konzept der Übertragung und deren Handhabung im therapeutischen Setting nicht an Bedeutsamkeit verloren, jedoch wurde der Begriff in seiner relativ eindeutigen Verwendung nach und nach in Frage gestellt, wozu nicht zuletzt eine erweiterte Sicht auf das therapeutische Geschehen beigetragen hat, in dem nicht nur der/die AnalysandIn bedeutsam ist, sondern auch die Person des/der TherapeutIn. „Für viele Psychoanalytiker unmerklich hat eine begriffliche Erweiterung dieses Konzepts stattgefunden, was in etwa auch dem immer stärker erfolgenden Übergang von einer ‚one body‘- zu einer ‚Zweikörper-Psychologie‘ oder von einer indi-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
vidualisierenden persönlichkeitspsychologischen zu einer sozialpsychologischen und interaktionellen Sichtweise entspricht. [...] Die Folge davon ist, daß der Begriff der Übertragung genau genommen nicht mehr das abbilden kann, was er bezeichnen soll, nämlich das Zusammenwirken von gegenwärtigen Beziehungseindrücken und Wahrnehmungen, die auf dem Hintergrund vergangener Beziehungserfahrungen entstanden sind, die konflikthaft waren und deshalb eine übermäßige, die jetzige soziale Wahrnehmung bestimmende Funktion bekommen haben. Aber die gegenwärtigen Stimuli sind mehr als nur die Auslöser für die automatisch ablaufenden Wiederholungstendenzen; sie gehen auch in die inhaltliche Konstituierung der Übertragungsphantasien zu einem guten Teil mit ein.“ (Mertens 1990a, S. 165f)
Aufgrund dieses Verständnisses vom therapeutischen Geschehen als etwas, das die Person des/der AnalytikerIn maßgeblich mit beeinflusst, wendet sich der Blick auch dem Gegenstück der Übertragung, der Gegenübertragung zu. In der sogenannten klassischen Auffassung wird Gegenübertragung als die „unbewußte Reaktion“ des/der PsychoanalytikerIn „auf die Übertragung eines Patienten“ (Mertens 1990b, S. 18) verstanden. Die ganzheitliche Auffassung subsumiert alle Reaktionen des/der AnalytikerIn, die in Interaktion mit dem/der AnalysandIn auftreten, unter das Modell der Gegenübertragung. Klassische vs. ganzheitliche Auffassung versteht Mertens (ebd.) nicht als prinzipiell konträre Konzepte, sondern für ihn markieren „diese Positionen unterschiedliche zeitliche Etappen der Reflexionsbemühungen des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses“. In einer dritten Konzeptionalisierung wird Gegenübertragung als das Pendant zur Übertragung des/der AnalysandIn auf Seiten des/der TherapeutIn verstanden (vgl. Mertens 1996, S. 212). Géza Róheim war im Rahmen seiner Forschungsreisen der Erste, der die Analyse seiner Gegenübertragung systematisch in einem interkulturellen Kontext mit einbezog, um so einer unbewussten Ablehnung oder auch Idealisierung der von ihm beforschten Menschen anderer Kultur entgegenzuwirken (vgl. Reichmayr 2003a). Die ambivalenten Gefühle, Irritationen und (stereotypen) Vorstellungen, die der/die „Andere“ bzw. „Fremde“ im interkulturellen Setting auf Seiten des/der TherapeutIn hervorruft, werden in der Literatur am häufigsten thematisiert. „Es gehört zu jeder analytischen Begegnung, dass sich der Psychoanalytiker oder die Psychoanalytikerin die eigenen latenten Vorannahmen bewusst zu machen sucht und reflektiert, nicht zuletzt, wenn es zu Störungen oder Konflikten im analytischen Prozess kommt. In der interkulturellen Psychotherapie werden die latenten Vorannahmen des Analytikers eher mehr als in einer, in der beide einer Kultur angehören, in Frage gestellt – auch wenn diese selbst in sich differenziert ist, regional, schicht-, oder milieuspezifisch, durch den Unterschied von Stadt und Land. Andere kulturell bestimmte Arten der Körperpflege des Säuglings, des Kindes, andere Phantasien
5.7 Reflexionen und Kritik aus der interkulturellen Praxis
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der Eltern über das Kind, darüber, was ein Mann und was eine Frau ist, gehen auch in die analytische Beziehung ein und können in ihr Irritationen hervorrufen. Nicht bewußt gemachte Vorannahmen oder Vorurteile darüber, was fremd und was eigen ist, über die andere Kultur und die eigene, können die Abwehr der AnalytikerIn gegen die Annahme der Übertragungsangebote hervorrufen. Mehr als in der monokulturellen Psychoanalyse ist der Analytiker gefordert, sich aktiv um die Erkenntnis seiner blinden Flecke zu kümmern.“ (Schiefele 2003, S. 9)
Die hier angeregte kritische Selbstreflexion steht in engem Zusammenhang mit den unter Kapitel 5.7.4 zusammengefassten Forderungen nach Reflexion eigener (kultureller) Zugehörigkeiten, stereotyper oder auch rassistischer Vorstellungen „Anderen“ gegenüber auf Seiten der professionell Helfenden. Tobie Nathan (1979) mahnt dazu, auf einer allgemeineren Ebene individuelle wie gesellschaftlich geformte Anteile der Gegenübertragung reflektieren zu lernen. Die Ansicht, dass die Gegenübertragung auch kulturell gefärbt ist, teilen ebenso meine InterviewpartnerInnen. Interviewerin: „Man könnte ja auch sagen, die Inhalte von Gegenübertragungen sind unter Umständen kulturell gefärbt. Was denken Sie denn, wie könnte man in der Praxis damit umgehen?“ Frau Schreiber: „Die Tatsache, dass das kulturell gefärbt ist?“ Interviewerin: „Ich nehme das jetzt einfach mal an.“ Frau Schreiber: „Das können Sie sicher annehmen. Das muss ja so sein.“ (Z. 433– 438)
Die Antworten auf meine Frage, welche Konsequenzen diese Annahme für das klinisch-praktische Arbeiten nach sich zieht, greifen verschiedene Aspekte auf. Frau Sousa weist darauf hin, dass diese Tatsache dem/der AnalytikerIn erst einmal bewusst sein muss. „Ich muss mir einfach klar sein, dass meine Gegenübertragung kulturell gefärbt ist und die von daher reflektieren. Hoffentlich kann ich das. Wäre für mich so ein Anspruch an jemanden, also wenn man mit ausländischen Patienten oder mit Patienten mit Migrationshintergrund arbeitet. Dass man in der Lage ist, die eigene Gegenübertragung zu hinterfragen.“ (Z. 228–232)
Herr Bernard bezieht sich auf eine intersubjektive Sichtweise des therapeutischen Geschehens, die er über das interkulturelle Arbeiten hinaus als hilfreich ansieht. Der intersubjektive Zugang erfordert aber auch, die Subjektivität des/der TherapeutIn stärker zur Disposition zu stellen.
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
Herr Bernard: „Ich bin der Meinung, dass die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse immer intersubjektive Prozesse sind. Das heißt, dass ich unabhängig davon, ob ich jetzt in der Türkei aufgewachsen bin oder in Deutschland, mit meinen Patienten in eine Szene gerate, wo unsere unterschiedlichen psychischen Konzepte aufeinandertreffen. An der Stelle begegnen wir uns und arbeiten. Also, ich würde nie meinem Patienten anlasten, dass er vollständig für meine Gegenübertragung zuständig ist, sondern für die bin ich zuständig und es hat mit meinem Hintergrund, meinen Normen, meinen Werten zu tun. Also ich bin interessiert an dem Intersubjektivismus, den es da gibt, und stelle dann fest, dass je weiter mein Patient entfernt ist von dem, was für mich als Lebenshintergrund erfahrbar war, desto schwieriger wird die Verständigung werden.“ Interviewerin: „Also, ich versuche mir gerade konkret vorzustellen, wie Sie das machen. Ist das dann so ein Versuch, auch darüber ins Gespräch und in Verhandlung zu kommen, was Unterschiede ausmachen zum Beispiel?“ Herr Bernard: „Hm, ja. Ganz konkret bin ich der Meinung, dass die Subjektivität eines Analytikers eine Rolle spielen darf und dass sie auch ausgedrückt werden darf. Ich weiß nicht, ob Sie die Konzepte des self-disclosure kennen. Da gibt’s ja auch katastrophale Entwicklungen, es gibt nur noch Selbstenthüllungen und sonst gar nichts. Also, das halte ich nicht für sinnvoll. Aber ich halte es für sinnvoll, dann die eigene Subjektivität auch zum Gegenstand der Analyse werden zu lassen. Und sie unter Umständen auch zu äußern.“ (Z. 243–263)
Frau Levine geht davon aus, es sei in der interkulturellen Therapiesituation noch wichtiger als in der monokulturellen, dass TherapeutInnen vermehrt etwas von sich zeigen. Nicht zuletzt müssten sie auch ihr Unwissen bezüglich diverser Aspekte zur Sprache bringen. „Also, man muss zum Beispiel mehr explorative Fragen stellen. Man muss fragen, zum Beispiel, wie ist das zwischen Ihrem Vater und Ihnen, oder wie ist die Kultur sozusagen mit dem Vater. Oder was ist üblich in der Familie, welche Werte gibt es, welche Tabus und so. Und dass es Dinge sind, die man als Therapeut nicht wissen kann. Ich glaube, dass man sich da wirklich informieren muss bei den Patienten. Etwas, das man bei einem deutschen Patienten nicht so machen würde.“ (Z. 447– 452)
Wissen über den kulturellen Hintergrund des/der PatientIn, das auch zur Reflexion der Gegenübertragung dient, sollte zudem aus anderen Quellen erworben werden, so schlägt Frau Zanolla vor. Sie ist dafür, mehr in die „andere“ Lebenswelt einzutauchen und beispielsweise ein entsprechendes Kulturzentrum aufzusuchen, „um da ein bisschen mehr Verständnis für die Kultur zu bekommen“ (Z. 355). Üblicherweise ist die Supervision einer der zentralen Orte, an denen die Gegenübertragung systematisch reflektiert wird.
5.8 Resümee
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„Ich denke, dass man sich Supervision holt. Weil ich denke, die eigene Arbeit von jemandem anderen beurteilen zu lassen ist generell, und das gilt auch für kulturelle Aspekte, glaub ich, das beste Mittel, Dinge, die sich einschleifen, die dann eben Wahrnehmungs- oder Einstellungs- oder emotionale Haltungen sind, die dazu führen, dass bestimmte Dinge des Anderen nicht aufscheinen können und nicht zum Tragen kommen oder unterdrückt werden. Dass das nicht passiert. Also mein Allheilmittel ist die Supervision.“ (Frau Schreiber, Z. 468–474)
Allerdings stellt sich die Frage, ob SupervisorIn und SupervisandIn, wenn sie denselben oder einen sehr ähnlichen kulturellen Hintergrund teilen, nicht auch denselben kulturellen Verzerrungen in der Sicht der Dinge unterliegen. Aus diesem Grunde hält Frau Zanolla eine interkulturelle Konstellation in der Supervision für äußerst sinnvoll. Insgesamt gehen meine Interviewees von kulturbedingten Einflüssen auf die eigene Gegenübertragung aus und problematisieren dies. Welche Schlüsse sie daraus für ihre praktisch-klinische Arbeit ziehen, ist unterschiedlich und reicht von der Bewusstmachung dieser Tatsache an sich über die Reflexion eigener Werte-, Norm- bzw. Normalitätssysteme bis hin zu einer allgemein intersubjektivistischen Sicht therapeutischen Geschehens. Zudem wird die Möglichkeit, die eigene Sicht der Dinge mittels des Blickes der (kulturell) Anderen zu relativieren, als zentral angesehen. Dies kann im Rahmen von Supervision, aber auch außerhalb stattfinden. Akhtar (2007, S. 130f) fordert, diese Thematik bereits systematisch in die Ausbildung von PsychoanalytikerInnen mit einzubeziehen. „[Es] sollten didaktische Lehrgänge zum Thema Kultur in psychoanalytische und psychotherapeutische Curricula eingeführt werden. Diese Lehrgänge sollten die unzähligen Arten erhellen, in denen kulturelle, rassische und ethnische Unterschiede den Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehnissen Gestalt und Inhalt verleihen.“
5.8 Resümee Die von mir durchgeführte Interviewstudie hatte zum Ziel, den Umgang mit Fragen der kulturellen Differenz im Praxisfeld der Psychoanalyse näher zu beleuchten. Dabei wurden sowohl institutionelle Aspekte – innerhalb der Ausbildungsinstitute – als auch persönliche Erfahrungen, Haltungen und Reflexionen – auf der Ebene der (angehenden) PsychoanalytikerInnen – erfasst. Aus den Interviews ergeben sich Hinweise, dass AusbildungskandidatInnen mit Migrationshintergrund innerhalb psychoanalytischer Ausbildungsinstitute unterrepräsentiert sind. Harte Daten bezüglich dieses Aspektes konnten in diesem Zusammenhang jedoch nicht erfasst werden. Aus diesem Grunde wäre eine genauere Untersuchung, die wohl die Institute intern durchführen müssten, si-
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
cherlich wünschenswert, um festzustellen, ob eine Unterrepräsentation wirklich der Fall ist. Wenn feststehen sollte, dass MigrantInnen wirklich unterrepräsentiert sind, müssten die wirkenden Selektionsmechanismen und der Ort der Selektion genauer betrachtet werden. So könnte erfasst werden, ob die Selektion bereits innerhalb der Hochschulen greift, die die beruflichen Voraussetzungen für die psychoanalytische Weiterbildung schaffen, ob sie an der Schwelle zu den Instituten wirkt (z.B. indem die „westliche“ Psychoanalyse als unattraktiv angesehen wird) oder die Auswahlverfahren, die von den Ausbildungsinstituten intern durchgeführt werden, die Selektion bedingen. Interessant wären diesbezüglich auch Vergleichsstudien mit Institutionen anderer therapeutischer Ausrichtung, um differenzieren zu können, ob hier von einem Phänomen zu sprechen ist, das nur für die Psychoanalyse zutrifft oder die Psychotherapie allgemein. Allgemein berichten alle Interviewees mit Migrationshintergrund davon, sich in ihrem psychoanalytischen Institut wohlzufühlen, wobei das Erfahrungsspektrum von Egalität mit nicht-migrierten Institutsmitgliedern bis hin zur positiven Distinktion aufgrund der kulturellen Differenz reicht. Allerdings berücksichtigt diese Untersuchung nicht diejenigen KandidatInnen mit Migrationserfahrung, die eventuell aufgrund ihrer Wahrnehmung, bezüglich ihrer „Andersartigkeit“ nicht willkommen zu sein, ihre Ausbildung abgebrochen haben. Auch hier könnte institutsinterne Forschung differenziertere Ergebnisse liefern. Bemerkenswert ist auch, dass der Bedarf an Wissen bezüglich interkulturellen Arbeitens von Seiten der AusbildungskandidatInnen in den letzten Jahren gestiegen ist, da sie vermehrt mit PatientInnen arbeiten, die über einen Migrationshintergrund verfügen. Wenn es auch subkulturelle Unterschiede zwischen den Instituten im Umgang mit der Thematik Kultur/Interkulturalität gibt, so lässt sich insgesamt festhalten, dass die systematische Vermittlung eines solchen Wissens im Rahmen des allgemeinen Curriculums bisher nicht stattfindet, sondern situativ (z.B. anhand konkreter Fälle im Rahmen der Supervision) erfolgt oder als „Spezialwissen“ in „Spezialseminaren“ behandelt wird. Es wird zudem deutlich, dass innerhalb der Institute im Kontext von Gruppen (z.B. Balint-Gruppen) Kultur von den Majoritäts-Angehörigen in der Regel als etwas verhandelt wird, das nur die „Anderen“, also die migrierten PatientInnen oder KollegInnen, haben. Die eigene kulturelle Situierung wird in der Regel dethematisiert, was die Unterteilung in „Wir“ und „Andere“ auch innerhalb der Institute zementiert. Migrierten KollegInnen wird hierbei häufig der ExpertInnenstatus bezüglich aller kulturbezogenen Fragen zugeschrieben. Wissen, das für die interkulturelle Arbeit benötigt wird, eignen sich bereits niedergelassene KollegInnen durch die Bildung von Wissens-Netzwerken an. Diese Netzwerke dienen auch dazu, Gegendiskurse zu formieren, die dem Nor-
5.8 Resümee
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malisierungsdiskurs der Majorität (die Dethematisierung von Kultur ist „normal“) etwas entgegensetzen können. Niedergelassene und KandidatInnen berichten davon, in welch unterschiedlicher Weise das Thema Kultur innerhalb ihrer Lehranalyse auftaucht bzw. auftauchte. Das Spektrum reicht hier von Nicht-Ansprechen bis zur expliziten und ausführlichen Thematisierung, wobei es interessant wäre, mittels Analysen von Therapiesitzungen genauer zu untersuchen, wer (AnalytikerIn oder AnalysandIn) an welchen Stellen und im Rahmen welcher Verhandlungs- und Zuschreibungsprozesse kulturelle Differenz anspricht. Die PraktikerInnen stimmen in ihrer Einschätzung überein, dass die Versorgungslage von Menschen mit Migrationshintergrund bezüglich psychoanalytischer Therapie völlig unzureichend ist. Dies liegt nicht nur am Mangel an muttersprachlichen Therapieangeboten, sondern auch an der ungenügenden interkulturellen Öffnung der therapeutischen Praxen. Auch hier wären genauere Untersuchungen wünschenswert, die Versorgungsdaten in psychoanalytischen wie in psychotherapeutischen Praxen allgemein erfassen. Während die interkulturelle psychoanalytische Therapie in Frankreich sehr stark auf ethnopsychoanalytischen Konzepten aufbaut und sich teilweise auch die deutschsprachige Literatur zum Thema auf die Ethnopsychoanalyse bezieht, verbinden meine Interviewees ihre interkulturelle Praxis kaum mit diesem Zweig der Psychoanalyse. Innerhalb der Ausbildung werden die theoretischen Zugänge der Ethnopsychoanalyse lediglich punktuell in einzelnen, eher randständigen Veranstaltungen oder als freiwillige Zusatzlektüre in den Ausbildungsbetrieb mit aufgenommen. Was in Bezug auf interkulturelles Arbeiten innerhalb psychoanalytischer Therapie vermittelt werden sollte, so meine InterviewpartnerInnen, umfasst Fachwissen wie reflexive Zugänge zur Thematik, wobei klinisches Wissen an sich hier den geringsten Stellenwert einnimmt. AusbildungskandidatInnen sollten sich, so die Aussagen in den Interviews, Wissen über kulturelle und gesellschaftliche Bezüge ihrer migrierten PatientInnen, aber auch Wissen bezüglich spezifischer Aspekte der gesellschaftlichen Situation allgemein (wie der Identitätskonstruktion in der Postmoderne) aneignen. Zudem sollten Ausbildungsinstitute traumatherapeutische Kompetenzen vermitteln und typische psychische Prozesse im Rahmen der Migration zum Teil ihrer Lehre machen. Einen weit größeren Raum nahm innerhalb der Interviews die Darstellung bestimmter reflexiver Zugänge ein, die in der interkulturellen Situation von den AnalytikerInnen gewählt werden sollten. So seien stärker als in der Therapie mit nichtmigrierten PatientInnen die Lebensumstände (z.B. der Aufenthaltsstatus) und spezifischen Belastungsfaktoren (z.B. Rassismuserfahrungen im Alltag) zu berücksichtigen und anzuerkennen. Außerdem müssten TherapeutInnen lernen,
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5. Interkulturelle psychoanalytische Therapie – Aspekte aus der Praxis
ihre eigene gruppale Zugehörigkeit, die eigenen Rassismen und stereotypen Konstruktionen der „Anderen“ zu reflektieren, um Macht- und Differenzsensibel arbeiten zu können. Im Mittelpunkt steht die Forderung nach Dezentrierung und Einnahme einer postkolonialen Haltung, mittels derer die universelle Anwendbarkeit psychoanalytischer Modelle kritisch hinterfragt werden kann. Die Dezentrierung fordert von den professionell Helfenden auch die In-FrageStellung eigener Gesundheits- und Normalitätsvorstellungen. Besonders sensibel und kritisch sollte im interkulturellen Kontext auch mit der Gegenübertragung umgegangen werden, die als ein wichtiges Erkenntnisinstrument im therapeutischen Prozess dient. Die Ergebnisse dieser Untersuchung beziehen sich auf die Verhältnisse innerhalb dreier ausgewählter psychoanalytischer Ausbildungsinstitute in München. Es wäre wünschenswert zu überprüfen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich bezüglich der Thematik in anderen deutschen Städten oder auch im internationalen Vergleich finden lassen. Ebenso wäre die Gegenüberstellung bezüglich bestimmter Aspekte mit anderen therapeutischen Schulen sicherlich gewinnbringend.
6 Ausblick
„Weil sonst gehen wir doch sofort mit diesem analytischen Konzept auf den Menschen los.“ (Frau Zanolla, Z. 300f)
Die Frage der Kultur zieht sich, wie wir anhand dieser Arbeit sehen konnten, durch die Geschichte der Psychoanalyse von ihren Anfängen an. Schon früh wurde die Frage debattiert, was denn bezüglich der psychischen Ausstattung des Menschen als universell (von Natur aus gegeben) angesehen werden kann, und was als kulturell geformt. Diese Diskussion gewinnt erneut Aktualität, wenden wir uns dem Bereich interkulturellen Arbeitens zu, nicht nur unter einem psychoanalytischen Blickwinkel. Allerdings können heute andere theoretische Zugänge zur Thematik gewählt werden als zu Freuds Zeiten. Die Cultural und die Postcolonial Studies ermöglichen eine kritische Rezeption sowohl der Werke Freuds und anderer Zeitgenossen, als auch ethnopsychoanalytischer Konzepte, die dem/der „Anderen“ den Blick zuwenden. Sie bieten zudem die Möglichkeit, eigene Vorstellungen vom Menschen in Frage zu stellen und sich der Mechanismen bewusst zu werden, die der von Machtstrukturen durchdrungenen Herstellung vom „Anderen“ in Abgrenzung vom „Eigenen“ Vorschub leisten. Maya Nadig (2000 & 2004) greift bereits Konzepte von Homi Bhabha und Stuart Hall auf und versucht sie mit psychoanalytischen Konzeptionen in Übereinstimmung zu bringen. In ihren späteren Arbeiten beginnt die Ablösung des FremdheitsDiskurses, der in der Psychoanalyse eine bedeutende Rolle spielt, durch den Differenzdiskurs. Eine weitere Öffnung der Psychoanalyse den gegenwärtigen Kultur- und Gesellschaftwissenschaften und ihren Konzepten gegenüber könnte bezüglich dieser Thematik zu einer Weiterentwicklung und Differenzierung auf der Theorieebene führen. Fernanda Pedrina (2001) fordert innerhalb der interkulturellen psychoanalytischen Praxis die Berücksichtigung von Erkenntnissen aus angrenzenden Disziplinen, wie der Soziologie, den Politik- und den Rechtswissenschaften, außerdem aus der Geschichte und der Ethnologie. Anregungen könnten auch aus anderen therapeutischen Richtungen übernommen werden. Die Diskussion um Universalien und kulturelle Konstrukte lässt sich auch auf einer abstrakteren, erkenntnistheoretischen Ebene betrachten, indem wir danach fragen, ob die in der Psychoanalyse entwickelten Theorien überhaupt K. Hörter, Die Frage der Kultur, DOI 10.1007/978-3-531-93071-8_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6. Ausblick
unabhängig von ihrem gesellschaftlichen (westlichen) Entstehungskontext betrachtet werden können. Hier erweisen sich die Postcolonial Studies als brauchbar, um machtstrukturelle Aspekte der Wissensproduktion, wie sie auch in der Psychoanalyse ihre Wirkung entfalten, zu thematisieren und zu reflektieren. Die Forderungen nach Dezentrierung und der Einnnahme einer postkolonialen Haltung, die eine kritische Distanz zum eigenen professionellen Handeln erlauben, werden auch aus dem Praxisfeld laut. Kultursensibles Arbeiten, so meine InterviewpartnerInnen, erfordert eine hohe Reflexivität auf der Seite der professionell Helfenden, da in besonderer Weise Normalitäts- und Gesundheitsvorstellungen in Frage gestellt werden. Zudem konstellieren sich im interkulturellen therapeutischen Setting Machtstrukturen, wie sie in der Gesellschaft allgemein zwischen Majoritäts- und Minoritätsangehörigen festzustellen sind. Diese Aspekte gelten jedoch nicht nur für interkulturelles Arbeiten, da Subjekte auf vielfache Weise positioniert sind. Helga Bilden (2008) betont die Intersektionalität der verschiedenen Differenzkategorien (kulturelle Verortung, Geschlecht bzw. gender, sexuelle Orientierung, körperliche Unversehrtheit etc.) und verweist auf die „Vielzahl der einander überschneidenden Differenzen, die komplexe Dominanzverhältnisse beinhalten“ (ebd. S. 5, i.O. mit Hervorhebungen). Eine „differenzreflektierende“ (ebd. S. 6) Haltung von PsychotherapeutInnen könne prinzipell dekonstruierend wirken, indem sie den Konstruktionscharakter der verschiedenen Differenzkategorien deutlich machen und in Folge auch die herrschenden Machtverhältnisse hinterfragen könne. Um diesen Zugang zu vermitteln, müsste die psychoanalytische/psychotherapeutische Ausbildung
„basale Information über komplex sich überschneidende Differenzen (Geschlecht, Schicht, Hautfarbe/„Rasse“, ethnische bzw. kulturelle Zugehörigkeit, Behinderung, sexuelle Orientierung, Alter …) geben – als Systeme von Privilegierung und Benachteiligung, Dominanz und Unterdrückung, die Weltsichten beeinflussen (auch die der Therapeuten) und deren Konstruktionscharakter vermitteln (doing gender, doing difference; Dekonstruktion), exemplarisch an fremde Lebenswirklichkeiten und -erfahrungen heranführen, deren Berücksichtigung in der Praxis kreativ umsetzen und dabei die Beziehungs- und Kommunikationsprobleme, die auch aus Dominanzverhältnissen resultieren, thematisieren, und schließlich die eigenen Gefühle und Kognitionen bei der Begegnung und das eigene doing gender, doing difference reflektieren.“ (ebd., S. 8, Hervorhebungen i.O.)
Für die Differenzkategorie der Kultur lässt sich anhand der von mir durchgeführten Interviews feststellen, dass sie, trotz hoher praktischer Relevanz, bisher
6. Ausblick
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nur in geringem Ausmaß und als ein Seitenaspekt innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung Beachtung findet. Es gibt Hinweise darauf, dass dies für psychotherapeutische Ausbildungen im Allgemeinen gilt (vgl. Machleidt & Callies 2004), zumindest in Deutschland. In den USA und in Großbritannien spielt kultursensibles Arbeiten bereits eine größere Rolle (vgl. Bilden 2008 & Kahraman 2008). Die systematische Vermittlung von Wissen, Kompetenzen und insbesondere reflexiven Haltungen, die bezüglich kultursensiblen wie differenzsensiblen Arbeitens allgemein vonnöten sind, ist eine Aufgabe, der sich die psychotherapeutischen Ausbildungsinstitute auch in dieser Gesellschaft in Zukunft stellen sollten.
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