Deutsche Sprache und Kolonialismus
Deutsche Sprache und Kolonialismus Aspekte der nationalen Kommunikation 1884-1919
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Deutsche Sprache und Kolonialismus
Deutsche Sprache und Kolonialismus Aspekte der nationalen Kommunikation 1884-1919
Herausgegeben von
Ingo H. Warnke
≥
Walter de Gruyter Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020037-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Überhaupt dünkte uns dies Eiland von der ganzen Gruppe das schönste und zu einer europäischen Kolonie besonders geeignet zu sein. Wir fanden es nicht so stark bewohnt wie die nördlichen Inseln, die wir hinter uns gelassen hatten. Dieser Umstand würde die Gründung einer Kolonie erleichtern, und wenn sich jemals bei Kolonisten menschenfreundliche Gesinnungen vermuten ließen, so könnten sie hier mit wenig Mühe wahrhafte Wohltäter der Eingebornen werden. Georg Forster Entdeckungsreise nach Tahiti und in die Südsee 1772-1775
Le colonialisme fut le péché majeur de l'Occident. Claude Lévi-Strauss De près et de loin 1988
dédié à Ralph Winter Paris, 19 Janvier 2009
Vorwort Dieses Buch ist nicht mehr als der Versuch einer disziplinären Anfrage. Gefragt wird die Disziplin der Sprachwissenschaft nach ihrem kulturhistorischen Interesse an einem bisher übersehenen Gegenstand. Befragt wird die verflochtene Realität kolonisatorischer Aussagen über Afrika auf ihre Wirksamkeit. Dort, wo sich die Sprachgeschichte des Deutschen bisher überhaupt nicht für die nationale und auch nationalistische Kommunikationspraxis des Deutschen Kaiserreichs interessiert hat, werden auch die sprachlichen Formen der kolonisatorischen Fremd- und Selbstzuschreibungen schnell übersehen. Doch zeitigt das Reden und Schreiben über Afrika in den kaum 35 Jahren ab 1884 durchaus seine Wirkungen. Man erlebt Macht in dem, was man sagt. Und es ist weder fachwissenschaftlich überzeichnet noch unzutreffend, wenn man Kolonialismus auch als eine Kommunikationspraxis begreift. Gerade der international eher marginale deutsche Kolonialismus des Kaiserreichs – der nach Innen aber kaum als bedeutungslos bezeichnet werden kann − errichtet sich auch an der sprachlichen Realität des Kolonialen. Dass die Geschichts- und Literaturwissenschaften auf ihre Felder konzentriert sind und in der Sprache lediglich das sie interessierende Wissen suchen, liegt in der Natur disziplinärer Fragestellungen. Die bisherigen disziplinären Perspektiven auf die deutsche Kolonialgeschichte sind ungeachtet dessen ein Appell an die Sprachgeschichtsschreibung, ein wichtiges Kapitel der neueren deutschen Geschichte in den Blick zu nehmen. Allein darum geht es in diesem Buch, als Beginn. Dort, wo Kolleginnen und Kollegen mit mir über dieses Projekt gesprochen haben, entstand bisher immer Interesse. Das wünsche ich auch diesem Buch und vor allem den Autorinnen und Autoren der einzelnen Abhandlungen, die sich dem Versuch gestellt haben, ihr fachwissenschaftliches Engagement auf ein in der Sprachwissenschaft nahezu unbearbeitetes Feld zu richten. Der Einsatz war dabei beachtlich; ich danke dafür allen und namentlich Frau Hiltrud Lauer. Auch der Verlag Walter de Gruyter, dem ich mich verbunden fühle, hat uns stets motiviert und unterstützt. Göttingen, im März 2009
Ingo H. Warnke
Inhalt Vorwort .............................................................................................................. VII I. Einleitung Ingo H. Warnke Deutsche Sprache und Kolonialismus Umrisse eines Forschungsfeldes................................................................................. 3
II. Sprachgeschichte, Sprachplanung und Grammatik Katja Faulstich Deutscher Kolonialismus (K)ein Thema der Sprachgeschichtsschreibung? ....................................................... 65
Susanne Mühleisen Zwischen Sprachideologie und Sprachplanung Kolonial-Deutsch als Verkehrssprache für die Kolonien .......................................... 97
Mathilde Hennig Zum deutschen Blick auf grammatische Eigenschaften von Kolonialsprachen .............................................................................................. 119
III. Sprache als Werkzeug der Kolonisierung und nationalen Selbsterhebung Uta Schaffers An-Ordnungen Formen und Funktionen der Konstruktion von Fremde im kolonialen Afrika-Diskurs ...................................................................................... 145
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Inhalt
Medardus Brehl Diskursereignis ‚Herero-Aufstand‘ Konstruktion, Strategien der Authentifizierung, Sinnzuschreibung ......................... 167
Hiltrud Lauer Die sprachliche Vereinnahmung des afrikanischen Raums im deutschen Kolonialismus ........................................................................... 203 Katrin Otremba Stimmen der Auflehnung Antikoloniale Haltungen in afrikanischen Petitionen an das Deutsche Reich .......... 235
IV. Sprachliche Verfremdungen des Anderen Michael Schubert Kolonialpropaganda als Kolonialdiskurs Die Disponibilität des ‚Negerbildes‘ in der Deutschen Kolonialzeitung 1884-1914 .................................................................................... 265
Susan Arndt Afrikafantasien, Wörter und Wörterbücher Tradierte Schauplätze von ‚Rassen‘theorien .................................................................... 293
Inken Gesine Waßmuth Afrikaner als Produkt kolonisatorischen Sprechens in Kolonie und Heimat .......................................................................................... 315 V. Jenseits der Sprache – Ein Exkurs Wolfgang Fuhrmann Propaganda und Unterhaltung Kolonialismus im frühen Kino ............................................................................. 349 Autorinnen und Autoren ................................................................................. 365 Sach- und Personenregister ............................................................................. 369
I. Einleitung
Ingo H. Warnke Deutsche Sprache und Kolonialismus Umrisse eines Forschungsfeldes German colonialism is a topic that has been understudied by historical linguists. This contribution aims to provide an introduction to the subject, as well as trace the historical development of German colonialism. In addition, it is shown that colonial identity in particular is also formed by communication and language. So the linguistic interest is based on what we call secondary colonialism. For future investigations of the subject, dimensions of a colonial text corpus are treated.
Jetzt aber sah ich, wie weit der unter dem Patronat des Königs Leopold II. errichtete Bau über das bloß zweckmäßige hinausreichte, und verwunderte mich über den völlig mit Grünspan überzogenen Negerknaben, der mit seinem Dromedar als ein Denkmal der afrikanischen Tier- und Eingeborenenwelt hoch droben auf einem Erkerturm zur Linken der Bahnhofsfassade seit einem Jahrhundert allein gegen den flandrischen Himmel steht. W. G. Sebald: Austerlitz.
1.
Kolonialismus und Kommunikation Vorbemerkungen zum sprachgeschichtlichen Interesse
Der deutsche Kolonialismus ist mehr als imperialistische Machtnahme in Übersee. Das kolonisatorische Handeln des Kaiserreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert begründet sich auch aus dem Versuch, die Identitätsdefizite der jungen deutschen Nation im Konzert europäischer Mächte zu verdecken. Diese Kompensation ist maßgeblich durch Kommunikation gestützt, also durch die Art und Weise, wie man vor allem durch das Sprechen über Andere und Fremdes sich selbst und das Eigene definiert. Die Sprache ist dabei Werkzeug einer Ordnung der Dinge; eine Diskursgemeinschaft bildet sich. So entsteht das neu gewonnene kolonisatorische Selbstbild der Deutschen nicht zuletzt durch die Vernetzung von Sprechern, die mit ihren Äußerungen die Vorstellungen von den Kolonien
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prägen und kolonisatorische Haltungen manifestieren. Das Ensemble an entsprechenden Verlautbarungen und Texten gestaltet aber nicht nur die kolonialen Beziehungen (vgl. Hulme 1986: 2), sondern ist auch Mittel zum Zweck der nationalen Vereinheitlichung im gemeinsamen Bewusstsein als Kolonialmacht. Der deutsche Kolonialdiskurs ist insofern vor allem ein Identitätsdiskurs. Exemplarisch wird dies im Schießbefehl zur Vernichtung der Herero deutlich, den Generalleutnant Lothar von Trotha (1848-1920) am 2. Oktober 1904 verliest. Hier bezeichnet sich der neu ernannte Oberbefehlshaber der Schutztruppen von Deutsch-Südwestafrika als großer General des mächtigen Deutschen Kaisers. Die massive koloniale Repression des Militärs wirft in Verbindung mit dieser sprachlichen Selbststilisierung bereits ein Licht auf die Nähe von kolonisatorischer Aktion und kommunikativem Handeln. Der Befehlshaber von mehr als 15.000 deutschen Soldaten stellt sich sprachlich in das Zentrum einer nationalistisch gerechtfertigten Personal-, Raum- und Zeitstruktur: Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers spricht. Neben der militärischen Maßnahme ist es also die Sprache, mit der die eigene Überlegenheit unmissverständlich gemacht ist und jeder Zweifel daran unangebracht scheint. Kolonisatorische Handlungen und imperialistischer Sprachgestus gehen Hand in Hand. Wenngleich Trothas Amtsvorgänger, Major Theodor Leutwein (1849-1921), zur Beendigung militärischer Gewalt rät, da die Hereros schon genug bestraft seien (vgl. Graudenz 1942: 65), fordert Trotha unmissverständlich Härte. Die Sprache dieser Forderung verdient eine erste genauere Betrachtung. Mit Bühler (1934: 102ff.) kann man bei solchen selbsterhebenden Äußerungen auf den Nullpunkt sprachlicher Verweise blicken, auf das so genannte Hier-Jetzt-Ich-System. Darunter verstehen wir die Position eines Sprechers beim Verweisen auf Situationselemente, hier die Sprecherposition des Kolonisators. Der Ausdruck hier bezeichnet dabei lokal den Ort einer Aussage, jetzt temporal den aktuellen Zeitpunkt einer sprachlichen Handlung und ich personal den Sprecher selbst: „Ich, Hier und Jetzt sind psychologisch und sprachlich bestimmbare Größen mit dem Ego des Sprechenden als primärem Bezugspunkt“ (Vater 2005: 17). Wir erkennen recht schnell, dass sich in Trothas Befehl das Ich als militärische Größe markiert, das Jetzt zur historisch gerechtfertigten Stunde einer Vernichtungsproklamation wird und das Hier des afrikanischen OsombeWindembe zur Machtzone innerhalb deutscher Grenzen erklärt ist. Das Hier-Jetzt-Ich-System zeigt Trotha als inszenierte personale Größe in einem als gerechtfertigt erklärten Moment an einem nicht in Zweifel gezogenen Ort deutscher militärischer Befehlsgewalt (Trotha 1904):
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Abschrift. Kommando der Schutztruppe. J.Nr. 3737 Osombo-Windhuk, 2.10.1904 Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert erhält 1000 Mark, wer Samuel Maherero bringt erhält 5000 Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers.
Schon dieses Beispiel nationalistischer Selbsterhebung dokumentiert den sprachlichen Charakter einer kolonisatorischen Identität im deutschen Kaiserreich. An diesem kurzen Text kann bereits deutlich werden, wie eng die Kommunikationspraxis mit kolonisatorischer Identitätsbildung zusammenhängt. Als Linguistik hat Benveniste (1974: 252) in seiner strukturalistischen Sprachtheorie die Frage gestellt, welches die Realität ist, auf die das Personalpronomen ich sich bezieht. Seine Antwort lautet, es sei einzig die Realität der Rede, also der Kontext, der dem Pronomen eine referenzielle Gültigkeit zuschreibt; insofern begegnet uns auch in diesem ich, wie im hier und jetzt des Jahres 1904 die kontextuelle Realität eines kolonisatorisch Redenden, in seinem Sprachvollzug manifestiert sich ungetarnt, was kolonisatorisches Handeln ist. Sicherlich entspricht Trothas Ausdrucksgestus der Zeit, wie auch der militärischen Situation − dies ist bei aller Distanz, die man als heutiger Leser empfinden mag, zu bedenken. Interessant an Trothas Proklamation ist daher auch weniger die Überzeugung, mit der imperiales Selbstbewusstsein durch Unterdrückung und Vernichtungsabsichten anderer Völker dokumentiert wird, als vielmehr die Tatsache, dass hier eine „verspätete Nation“ (Plessner 1935/59) spricht. Keine zwanzig Jahre ist Deutschland auf die Bühne der Kolonialstaaten getreten, als Trotha in der Sprache des radikalen Nationalismus im fernen Deutsch-Südwestafrika seine Stimme derart erhebt. Seine Worte sind Teil einer nationalen Kommunikationspraxis zwischen 1884 und 1919, die sich im „Überschwange zivilisatorischer Überlegenheit“ unter anderem als eilige Maschinerie „dünner Militärbürokratien“ (Mann 1958/92: 507) ins Werk setzt. Gleichwohl und gerade deshalb erhielt Trotha für seine genozidale Militärpolitik, die er selbst als Rassenkampf verstand, den Orden
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Pour le Mérite und wurde als beispielhafter Kolonialmilitär in der deutschen Öffentlichkeit lange bewundert (vgl. Speitkamp 2005: 126f.).1 Befasst man sich mit der kolonisatorischen Kommunikation des Kaiserreichs, so stellt man fest, dass die Bildung nationaler Identität von der Prägung bestimmter Kommunikationsformen nicht zu trennen ist. Vor allem durch sprachliches Handeln in ähnlichen Mustern mit übereinstimmenden Themen entsteht eine gemeinschaftlich erfahrene Gleichheit, denn Identität im Sinne eines nationalen Selbstverständnisses ist das Resultat von Übereinstimmungen, die auch kommunikativ herbeigeführt werden. So positionieren sich gesellschaftliche Gruppen im Umfeld der nationalen Kommunikation des Kaiserreichs und bilden durch ihr sprachliches Handeln unterschiedliche Formen des kolonisatorischen Selbstbildes aus. Vor allem funktioniert das durch Abgrenzung, denn in vertrauter Übereinstimmung empfindet man sich relational zu einer gemeinsam erkärten Fremde, zum Exotischen, zum Kolonialraum: „Das Fremde trägt stets das Eigene als Abgrenzungsbegriff in sich“ (Schaffers 2006: 21). Die kolonisatorische Identität ist dabei von der kolonialen Identität unterworfener Regionen und Völker zu unterscheiden, sie ist die Identität einer Selbstzuschreibung von Überlegenheit, wie Trothas Vernichtungsbefehl verdeutlicht. In den Colonial und Post-Colonial Studies hat man nun zu Recht darauf verwiesen, dass die Trennung der Identitäten von Kolonisierenden und Kolonisierten eigentlich problematisch ist, da beide den Kolonialismus als Machtinstrument jeweils voraussetzen; Kolonisierende und Kolonisierte bedingen sich ebenso wie Täter und Opfer, Subjekt und Objekt. Auch Hall/Rose (2006: 20) betonen die Problematik des Konzepts coloniser vs. colonised und zeigen für das Britische Empire, dass derartige Identitätszuschreibungen nur im Zusammenspiel von „multiple axes of power“ funktionieren. Und es sind auch in den Machtverwicklungen des deutschen Kolonialismus keineswegs immer klare Fronten zwischen Unterdrückern und Unterdrückten zu erkennen: Gerade die alten Eliten versprachen sich von der Kooperation mit den Europäern eine Stärkung ihrer internen Machtposition, die in den Wirren und Wandlungen des 19. Jahrhunderts vielfach von konkurrierenden Gruppen oder jüngeren Generationen bedroht war. (Speitkamp 2007: 209)
Gleichwohl ist für den deutschen Kolonialismus als Ausdruck der Weltpolitik einer verspäteten Nation die Unterscheidung von kolonisatorischer und kolonialer Identität trotz der damit verbundenen geschichtstheoreti1
Der Vernichtungsbefehl wurde im Nachhinein und damit folgenlos durch die Reichsregierung revidiert (vgl. Speitkamp 2007: 218).
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schen Probleme hilfreich. Denn der Kolonialismus des Deutschen Kaiserreichs ist im Vergleich mit anderen Nationen weniger durch die historische Bedeutung faktischer Machtausbreitungen gekennzeichnet als durch eine massive Identifizierung mit der kolonialen Sache. Das Kontrafaktische, der Kolonialismus als Imagination einer weltpolitisch bedeutsamen Identität, rückt in das Zentrum des Interesses: Charakteristika des deutschen Kolonialismus, insbesondere die kurze Dauer des eigentlichen Überseereichs und seine relativ nachgeordnete Bedeutung für die politische und gesellschaftliche Geschichte der Epoche, sperren sich in gewisser Weise für traditionelle Fragestellungen, eignen sich aber umso mehr für eine Wissenschaft, die sich mit Diskurs, Ideologie und Phantasie beschäftigt. (Berman 2003: 22)
Die diskursive, ideologische und phantasierte Identität als Kolonialmacht ist gewichtiges Inhaltsfeld der nationalen Kommunikation zwischen 1884 und 1919. Dass die kolonisatorische Identität vor allem eine sprachliche Gestalt aufweist, wird im vorliegenden Buch an verschiedenen Feldern der öffentlichen Kommunikation gezeigt. Da man in der Sprachgeschichte des Deutschen die Zeit des Kolonialismus aber bisher kaum zur Kenntnis genommen hat, scheint es sinnvoll, zunächst historische Grundlinien als Rahmen der unterschiedlichen Ausprägung kolonisatorischer Selbstzuschreibung zu verfolgen. Eine solche Gliederung des geschichtlichen Verlaufs kolonialer Aktivitäten und Einstellungen verfolgt nicht das Ziel einer hinreichenden historischen Periodisierung, sondern rubriziert lediglich die vielförmigen Interessenlagen an Kolonialaktivitäten im Sinne einer vorläufigen Strukturierung des sprachgeschichtlichen Interesses am deutschen Kolonialismus.2 Es ergeben sich dabei Parallelen zu einer allgemeinen Geschichte der Globalisierung, wie sie Ette (2002) vorschlägt. Danach sind vier Phasen beschleunigter Globalisierung zu unterscheiden: Die erste Phase umfasst das Zeitalter der Entdeckungen seit dem späten 15. Jahrhundert, die zweite Phase markiert das Zeitalter der Aufklärung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer Welle von ethnographisch und naturkundlich motivierten Entdeckungsfahrten. Hier werden bereits Leitlinien vorgezeichnet für die dritte Phase der kolonialen Ausbreitung Europas und der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die gegenwärtige Globa2
In der Kolonialgeschichtsschreibung unterscheidet man häufig drei Phasen: „1. Akquisition der Kolonien und diplomatische Absicherung unter Bismarck (bis 1890); 2. Periode von Eroberung und Krise (bis 1906), und 3. die Reformära unter Dernburg mit ihrem Ausklang (bis1914)“ (Grosse 2000: 22).
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lisierung schließlich wird von Ette als vierte Phase beschrieben; hier sind vor allem neue Kommunikationstechnologien prägend. Der deutsche Kolonialismus als faktische Machtausbreitung in Übersee steht im Kontext der dritten Phase und ist in vielen Dimensionen ein Reflex auf die beschleunigte politische Globalisierung des 19. Jahrhunderts. Jedoch ist die kolonisatorische Identität dieser Zeit nicht isoliert von vorausgehenden Versuchen der Expansion und wurzelt vor allem auch in Kolonialphantasien und im Exotismus seit der Frühen Neuzeit. Kolonialbegeisterung und Kolonialagitation im Kaiserreich ertönen mithin in einem kulturhistorisch vorgestimmten Resonanzraum.3 2. Geschichtliche Grundlinien des deutschen Kolonialismus 2.1 Kaufleute und Sklaverei Bis zum 19. Jahrhundert ist die deutsche Beteiligung an kolonialer Expansionspolitik im internationalen Vergleich nicht von großem Gewicht. 3
Bereits 1915 legt der Historiker Veit Valentin eine Kolonialgeschichte vor (Valentin 1915), auf die sich Speitkamp (2005: 11) mit seiner Monographie im Titel bezieht. Kolonialgeschichte wird hier als „Geschichte von Gewalt, Eroberung und Durchdringung ebenso wie von Selbstbehauptung und Widerstand“ verstanden, so dass eine Doppelperspektive berücksichtigt ist. Speitkamps Arbeit ist die derzeit differenzierteste und zuverlässigste historische Darstellung zum deutschen Kolonialismus. Sie behandelt vor allem die unklaren Verwaltungs- und Verfassungsstrukturen, den Aufbau eines neuen Rechtsraums mit eigenen Regeln durch Gesetze und Justiz, sowie die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Einschlägig ist auch die Kleine Geschichte Afrikas, die ebenfalls Speitkamp (2007) vorgelegt hat. Hier wird eine sehr differenzierte und dennoch konzentrierte historische Darstellung der Geschichte Afrikas südlich der Sahara geleistet, von vorkolonialer Zeit bis zur Gegenwart. Für das Thema Kolonialismus ist vor allem das Kapitel Koloniale Expansion und Aufteilung lesenswert, da Parallelen wie auch Abweichungen des komplexen europäischen Imperialismus um 1900 in ihren Grundzügen sehr gut erkennbar werden. Allgemeine neuere Darstellungen zur deutschen Kolonialgeschichte finden sich bei Graudenz (1984), Wesseling (1999), Gründer (2004); van Laak (2005) legt eine Darstellung des deutschen Imperialismus seit dem beginnenden 19. Jahrhundert bis zu Fragen der Globalisierung in der Gegenwart vor. Die Rechtsverhältnisse der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika werden in Zellers (2003) juristischer Dissertation unter besonderer Beachtung der Kolonialgrenzen erörtert. Krause (2007) befasst sich in einer kontrastiven geschichtswissenschaftlichen Studie mit der kolonialen Schulpolitik Deutschlands und Britanniens. In Stoecker et al. (1977) findet sich eine Überblicksdarstellung zur Kolonialforschung aus der Perspektive marxistischer Geschichtsschreibung insbesondere der DDR und der UdSSR. Neben den einschlägigen wissenschaftlichen Monographien gibt es auch eine Fülle an älteren Darstellungen, die aus dem Geist einer imperialistischen Kolonialmentalität den geschichtlichen Verlauf perspektivieren und damit bis in die Gegenwart Verbreitung finden. Beispiel dafür ist die inzwischen in der 8. Auflage vorliegende Chronik von Lenssen (2006) über Deutsch-Südwestafrika.
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Während der portugiesische und spanische Kolonialismus seit dem 15. Jahrhundert zu Ausbreitungen europäischer Machtansprüche in Mittelund Südamerika sowie in Afrika und Asien führt, die Niederländer seit dem 17. Jahrhundert unter anderem Niederländisch-Ostindien beherrschen, Russland durch eine massive Ostausdehnung sein Herrschaftsgebiet erweitert und schließlich England und Frankreich zu den dominierenden Kolonialmächten der Neuzeit werden, sind die Anfänge des deutschen Kolonialismus in Übersee zunächst ohne großen Einfluss; die Aktivitäten beschränken sich auf individuelles Engagement und einige historische Zwischenspiele ohne nachhaltige Wirkung. So verdingt sich der aus dem Kasseler Land stammende Hans Staden (~1525-1579) als Landsknecht der Spanier und Portugiesen und unternimmt zwei Brasilienfahrten.4 Im Jahr 1553 wird er von den kannibalischen Tupinambá gefangengenommen. Seine Erlebnisse publiziert er mit Unterstützung des berühmten Marburger Mediziners Johann Dryander und hinterlässt damit das erste wichtige deutschsprachige Dokument der frühen Kolonialgeschichte und Reiseliteratur: Warhaftig[e] Historia vnd beschreibung eyner Landtschafft der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschfresser Leuthen […].5 Dieser in seiner Zeit viel beachtete Text ist kein Zeugnis kolonialer Aktion, sondern vielmehr früher Beleg für das deutsche Interesse an einer exotistisch-imaginierten Ferne in Übersee, in der das Nackte im Text zugleich zum Wilden und damit Gefährlichen wird; ein Bild, das als Les Sauvages Americains auch in Frankkreich und England verbreitet ist (vgl. Sayre 1997). Ein tatsächlich koloniales Engagement in Deutschland entwickelt im 16. Jahrhundert neben anderen Handelshäusern vor allem das Augsburger Kaufmannsgeschlecht der Welser, das die bedeutendste Waren, Handels- und Reedereigesellschaft der Zeit besitzt, in Expeditionen investiert und wesentlich an der Eroberung Südamerikas beteiligt ist. Die Welser6 beherrschen bis zum Jahr 1556 Venezuela und nutzen ihre Macht
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Noch vor Staden ist der Nürnberger Patrizier Martin Behaim (1459-1507) in portugiesischen Diensten an der Suche des Seewegs nach Indien beteiligt, indem er als Kosmograph eine Expedition des Diego Cão 1485/86 begleitet. Hans Staden: Warhaftig[e] Historia vnd beschreibung eyner Landtschafft der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschfresser Leuthen, in der Newenwelt America gelegen, vor vnd nach Christi geburt im Land zu Hessen vnbekant, biß vff dise ii. nechst vergangene jar, Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfarung erkant, vnd yetzo durch den truck an tag gibt [...] / Mit eyner vorrede D. Joh. Dryandri, genant Eychman, Ordinarii Professoris Medici zu Marpurgk. Marpurg: Kolbe 1557. Karl V. überträgt im Jahr 1528 den Großkaufleuten Bartholomäus Welser (1484-1561) und Anton Welser (1486-1557) das Kolonisationsrecht für Venezuela.
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mit großem Erfolg zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil unter Einschluss des Sklavenhandels (vgl. Häberlein/Burkhardt 2002). Am Sklavenhandel beteiligt sich im Kontext der frühneuzeitlichen Machtsignaturen des Kolonialismus auch Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), der ab 1680 Seefahrten nach Afrika veranlasst (vgl. Stuhr 1839 und Schück 1889). 1682 ergeht das Edikt wegen Oktroyierung der aufzurichtenden Handelskompagnie auf denen Küsten von Guinea und die Brandenburgisch-Africanische Compagnie wird als Handelsorganisation gegründet. Eine Expedition des kurbrandenburgischen Majors Otto Friedrich von der Groeben (1656/57-1728) führt 1683 schließlich zum Abschluss von Verträgen mit afrikanischen Häuptlingen und zum Bau der Festung Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana, von wo aus Kurbrandenburg versucht, am Dreieckshandel teilzuhaben. 1717 wird die expandierte Kolonie Groß-Friedrichsburg aber bereits wieder an die Niederlande verkauft (vgl. Heyden 2001).7 Hierbei zeigt sich nicht nur in der Dauer, sondern auch in der Überschätzung wirtschaftlicher Vorteile eine erstaunliche Parallele zum späteren Kolonialismus des Deutschen Kaiserreichs. Der Wille zur Kolonie ist stark, die Vorstellungen darüber greifen weit, doch die Realität ist eng und der Nutzen gering. Nicht nur die erhofften aber meist ausgebliebenen wirtschaftlichen Gewinne motivieren das kolonisatorische Engagement; es sind auch erste Formen der kolonisatorischen Identitätsbildung zu beobachten, der Selbstzuschreibung europäischer Größe. Durch Besitzergreifung exotischer Fremde und das politisch-militärische Engagement in Übersee erfolgt die Manifestation von Macht im Geflecht widerstreitender europäischer Kräfte; dies ist ein Grundmotiv des europäischen Kolonialismus. Im ausgehenden 17. Jahrhundert ist Sklaverei dabei ein selbstverständlicher Ausdruck wachsenden Machtbewusstseins; so auch in Kurbrandenburg. Im Vertrag der Dänisch-westindisch-guineischen Compagnie (1685: 472), den der brandenburgische Marinedirektor Benjamin Raule (~1634-1707) als Unterhändler schließt, wird das Selbstverständnis europäischer Überlegenheit biopolitisch begründet und besonders deutlich:
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Die Brandenburgischen Kolonialunternehmungen streuen sich also in kurzer Zeit, ohne dass sich nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg einstellt (vgl. Koltermann 1999). Neben anderen kleineren Inselbesitzungen in der Karibik sind zu nennen: a. 1683–1717. Groß Friedrichsburg wird als kurbrandenburgische Festung zur Sicherung westafrikanischer Handelsbesitzungen im heutigen Ghana errichtet. b. 1687–1717. Die Insel Arguin ist wichtiger Stützpunkt im Golf von Guinea für die brandenburgischen Aktivitäten im Dreieckshandel. c. 1685–1721. Die Antilleninsel St. Thomas ist kurbrandenburgisches Pachtgebiet zwecks Sklavenhandels in Dänisch-Westindien.
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Nur die Compagnie und die brandenburgischen Privilegirten dürfen Sklaven nach St. Thomas zu Verkauf und Ausfuhr bringen. (…) Wenn Fremde, nicht Privilegirte, mit Sklaven handeln, so dürfen selbe nur der Gouverneur und die Privilegirten kaufen und zwar den frischen gesunden Sklaven nicht über 60 Thlr. (…). Wenn dänische und brandenburgische Schiffe an der Sklavenküste gleichzeitig erscheinen, so sollen sie sich nicht den Einkauf verderben, sondern wechselseitig fördern.
Spuren dieser frühen kolonisatorischen Identität finden sich übrigens noch heute in Toponymen, wie die ‚Mohrenstraße’ in Berlin-Mitte als Ausdruck der preußischen ‚Mohrenbegeisterung’ zeigt. Noch Friedrich Wilhelm I. will seine Armee mit Trommlern und Pfeifern aus Schwarzafrika schmücken. Ungeachtet dieser unübersehbaren Bereitschaft zum kolonisatorischen Gestus und zur Demonstration eurozentrischer Machtansprüche, lassen sich in Deutschland vor dem 19. Jahrhundert jedoch noch keine breiten gesellschaftlichen Reflexe auf den Kolonialismus ausmachen, so dass von einer Ausbildung kolonisatorischer Identität in der Breite weder politisch noch in sprachlichen Handlungszusammenhängen die Rede sein kann. Sicherlich gibt es neben den kurbrandenburgischen Besitzungen auch in der Frühen Neuzeit weitere kleinere Kolonien,8 diskursive Reflexe in gestreuten öffentlichen Gesprächen finden diese Überseeterritorien jedoch nicht. Was in anderen Staaten seit der frühen Neuzeit Praxis und im Fall Frankreichs und Englands seit dem 17. Jahrhundert wesentlicher Bestandteil des politischen Handelns ist – die Machtausdehnung in Übersee –, beginnt in Deutschland wirkungsvoll erst 1884/85 und dauert nicht länger als 35 Jahre. Vor dem 19. Jahrhundert kann man daher auch nicht von sozial verankerter Kolonialbegeisterung sprechen, zumal nicht von einer solchen, die an nationale Identitätsbildung gekoppelt wäre. Erst wenige Jahrzehnte vor und nach 1871 nährt der konkurrierende Blick auf Frankreich und England im Deutschen Reich den Willen auf faktische Macht in Übersee.9
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Hinweisen kann man auf das Projekt einer Kolonie der Grafschaft Hanau im Jahr 1669, die Insel Tobago, Teile von Gambia und die Andreasinseln, die Herzog Jakob von Kurland zeitweise besitzt, sowie die Österreichischen Kolonien im heutigen Süd-Mosambik und auf den Nikobaren (vgl. Gründer 2004: 15). Während Deutschland sich am Handeln der großen Kolonialmächte orientiert, findet bei diesen das deutsche Streben nach Übersee offenbar keine größere Beachtung. In einer systematische Untersuchung zum Deutschlandbild in der britischen Presse 1912-1919 kommt Schramm (2007: 174) zu dem Ergebnis, dass der deutsche Kolonialismus in der britischen Presse „keine besondere Rolle“ spielt.
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2.2 Kolonialfieber und Handelsexpansionen Bezeichnend für den Beginn des engagierten Kolonialismus im Deutschen Reich ist die Tatsache, dass in der Summe „weder Wirtschaft noch Parteien das Deutsche Reich in eine Kolonialpolitik“ (Speitkamp 2005: 23) hineindrängen. Im Gegenteil drückt sich die politische Haltung einflussreicher Kreise zunächst in Zurückhaltung aus. Die Scheu vor kolonialem Engagement nimmt jedoch als Wirkung unterschiedlicher Diskurse des 19. Jahrhunderts zunehmend ab. Seit den 1830er-Jahren bestehen zahlreiche deutsche Handelsbeziehungen vor allem auch hanseatischer Kaufleute nach West- und Ostafrika. 1849 wird bereits der Hamburger Kolonisationsverein gegründet, der vielfältige Aktivitäten in Brasilien entwickelt. In diesem Umfeld wird der Gedanke einer europäischen Großraumwirtschaft im Sinne eines deutschen kontinentalen Imperialismus mit Unterdrückung Ost- und Südosteuropas formuliert (List 1841). Auch die Nationalversammlung von 1848 denkt an Kolonien in Übersee. Derartige Bestrebungen, die zunächst noch Phantasie bleiben, verbinden sich mit einem kulturellen Sendungsbewusstsein, das als Kampf ums Dasein verstanden wird. Die Idee des Sozialdarwinismus – nach der nicht nur biologische Evolution als Kampf ums Dasein funktioniert, sondern Gesellschaften und Gesellschaftsmitglieder in Kampf zueinander treten müssen, wollen sie in den naturnotwendigen sozialen Selektionsprozessen nicht unterliegen – wird für die Kolonialphantasien besonders lebhaft ausgespielt. In biologistischen Metaphern werden ‚Geburtenüberschuss’, ‚Abwanderungsnotwendigkeiten’ und ‚Lebensinteressen’ thematisiert und damit Grundlagen einer biologistischen Rassentheorie gelegt. Die bereits in der frühneuzeitlichen Sklaverei realisierte Biopolitik wird mit vermeintlich natur- und sozialwissenschaftlichen Argumenten neu thematisiert. Neben dem Volkswirtschaftler und Politiker Friedrich List (17891846) propagieren vor allem Ökonomen die Expansion in Übersee und argumentieren für den wirtschaftlichen Nutzen von Auswanderung.10 Träger der frühen kolonialen Bewegung in Deutschland ist damit vor allem das liberale Bürgertum im Umfeld der Revolution von 1848: „Die Kolonialbewegung der 1840er Jahre war eine zutiefst bürgerliche Bewegung, die mit dem Scheitern ‚ihrer’ Revolution und dem Einsetzen der konservativ-agrarischen Reaktion in den 1850er Jahren beendet wurde.“ (Schwarz 1999: 25). Nach der Reichsgründung 1871 wächst die öffentliche Haltung nationalistischer Kolonialbegeisterung. Die allgemeine, durch Wirtschafts10
Dazu gehören Wilhelm Roscher (1817-1894), Karl Ludwig Freiherr von Bruck (17981860), Johann Karl Rodbertus-Jagetzow (1805-1875).
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wachstum und massive Industrialisierung hervorgebrachte Aufbruchstimmung und auch die Unsicherheiten über die Ziele der nationalen Einigung wecken das Bedürfnis nach Machtzonen in Übersee und greifen auf die Diskursstränge der vorhergehenden Jahrzehnte zurück. Zu bedenken ist, dass im 19. Jahrhundert ohnehin massive Wanderungsbewegungen als Folge der Bevölkerungsexplosion statthaben. Einzelne Akteure der kolonialen Idee tun sich hier besonders hervor, so der Pfarrer Friedrich Fabri (1824-1891), er ist von 1857-1884 Leiter der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen; insbesondere seine Schrift Bedarf Deutschland der Colonien? von 1879 beeinflusst und prägt den Kolonialdiskurs wesentlich.11 Agitatorische Veröffentlichungen sind Teil eines beginnenden Gesellschaftsgesprächs über Kolonialnotwendigkeiten, das losgelöst von tatsächlichen politischen Haltungen eine Stimmung kolonialer Bedürfnisse überhaupt erst begründet und sich mit verklärenden Reiseberichten zur Sehnsucht nach exotischen Räumen in breiteren Bevölkerungsschichten verbindet. Foucault (1971: 62) spricht in der Archäologie des Wissens von den „Oberflächen des Auftretens“ der Diskurse und bezeichnet damit die Bedingungen, unter denen Gegenstände erst erfahrbar bzw. wahrnehmbar werden und damit sowohl individuell als auch gesellschaftlich Relevanz besitzen. In den 1880er-Jahren formieren sich in diesen Oberflächen des Auftretens zunächst Begriffsfelder der so genannten Kolonialfrage; sie entfalten eine politische Wirkung und besetzen öffentliche Meinungen. Nach Speitkamp (2005: 18) sind hier vier Felder der Diskussion zu nennen12: (1) Schaffung außereuropäischer Absatzmärkte, (2) Auswanderungsgedanke, (3) nationale Überlegenheit und (4) Rückdrängung des sozialistischen Gedankenguts. Wie oft in geschichtsträchtigen Phasen geht die Sprache der Praxis voraus, die Kommunikation über den Kolonialismus verfügt über Mittel und Akteure, bevor die koloniale Praxis beginnt. Noch ehe das Deutsche Reich versucht, sich den europäischen Kolonialmächten einzureihen, ist es die Kommunikation über das Thema Kolonisation – durch wirtschaftlich und politisch einflussreiche Akteure und Institutionen gesteuert –, die zum Wegbereiter des politischen Handelns wird. Das öffentliche Sprechen
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Zu nennen sind auch der Rechtsanwalt Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916) mit seinen imperialistischen Vorstellung vom Werden eines Weltreichs (Hübbe-Schleiden 1881) und der viel beachtete Kolonialagitator Ernst von Weber (1830-1902) mit seinem Reisebericht Vier Jahre in Afrika (1878). In Speitkamp (2007: 198f.) werden fünf Argumente für die überseeische Expansion der europäischen Staaten seit den 1870er-Jahren aufgezählt.
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über Kolonien ist also neben diplomatischen Verwicklungen der Zeit13 eine wichtige Ursache dafür, dass Otto von Bismarck (1815-1898) als Reichskanzler und zunächst dezidierter Gegner kolonialer Ansprüche schließlich 1884/85 koloniale Aktivitäten unterstützt. Eine der treibenden Kräfte ist dabei das koloniale Vereinswesen.14 So besteht eine wesentliche Aufgabe des 1882 gegründeten Deutschen Kolonialvereins in der Weckung des öffentlichen Bedürfnisses nach kolonialer Macht. Dazu gehört die massive Thematisierung der so genannten Kolonialfrage, die, ohne ernsthaft politisch gestellt zu sein, in den Augen vieler einer schnellen Beantwortung bedarf. In der Satzung des Vereins ist dieses Ziel deutlich formuliert: Der Deutsche Kolonialverein hat sich die Aufgabe gestellt, das Verständnis der Notwendigkeit, die nationale Arbeit dem Gebiet der Kolonisation zuzuwenden, in immer weitere Kreise zu tragen, für die darauf gerichteten, in unserem Vaterlande bisher getrennt auftretenden Bestrebungen einen Mittelpunkt zu bilden und eine praktische Lösung der Kolonisationsfrage anzubahnen. Zunächst wird der Verein die Errichtung von Handelsstationen als Ausgangspunkt für größere Unternehmungen fördern. (Deutscher Kolonialverein 1882)
Die Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit des Vereins verfehlt ihr Ziel nicht und erzeugt tatsächlich ein wachsendes Bedürfnis nach Teilnahme des Deutschen Reiches an der internationalen Kolonisationspolitik, die jedoch weniger faktischer Notwendigkeit entspringt als der kontrafaktischen Phantasie im Gewand der Kolonisationsfrage. Ähnliche Ziele verfolgt die in Berlin am 3.4.1884 durch Carl Peters (1856-1918) gegründete Gesellschaft für deutsche Kolonisation, später Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft, deren Zweck vor allem in der Kapitalbeschaffung für koloniale Aktivitäten in Ostafrika besteht. Am Beispiel von Carl Peters15 wird übrigens auch be13 14
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Insbesondere um die portugiesisch-englische Allianz zur wirtschaftlichen Nutzung des Kongobeckens. Nachdem sich 1878 bereits der Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland in Berlin konstituiert und 1879 der Westdeutsche Verein für Kolonisation und Export, gründet Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg (1832-1913), der 1877/78 Zweiter Vizepräsident des Reichstags ist, am 6.12.1882 den Deutschen Kolonialverein in Frankfurt/M. Nach der Vereinigung mit der Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft im Jahr 1888 zählt der Verein mehr als 16.300 Mitglieder (Graudenz 1984: 26). Polenz (1999: 28) rechnet diesen neben dem 1885 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachverein zu den „radikalnationalistischen Vereinen“. Carl Peters – „eine der absonderlichsten Persönlichkeiten aus der an kuriosen Figuren so reichen Geschichte des Imperialismus in Afrika“ (Wesseling 1999: 129) –, der in einem Londoner Handelshaus zwischen 1881-1883 Erfahrungen mit dem englischen Kolonialismus macht und damit ein symbolischer Repräsentant des an England orientierten Kolonialstrebens ist, erwirbt 1884 das Kernland des späteren Deutsch-Ostafrika mittels Verträ-
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sonders deutlich, wie eng der imperialistische Machtgestus der 1880erund 90er-Jahre mit dem „expressiven Tun“ einzelner Akteure16 verbunden ist: Individuum, Idee und Verlangen formulieren ein Bild (Foucault 1971: 171). Dies gilt auch für die spätere Stilisierung von Peters im Kolonialrevisionismus der Nationalsozialisten.17 Die kommemorative Koppelung eines ungezügelten Radikalkolonialismus mit nationalsozialistischer Ideologie reicht bis in den Sprachgebrauch. Davon gibt nicht nur der BavariaPropagandafilm Carl Peters (1940/41) Zeugnis, sondern prospektiv auch die verbale Radikalität von Peters selbst, die unter anderem in seiner Vereinskorrespondenz dokumentiert ist: Die Kolonialpolitik will nichts anderes, als die Kraftsteigerung und Lebensbereicherung der stärkeren, besseren Race, auf Kosten der schwächeren, geringeren, die Ausbeutung der nutzlos aufgespeicherten Reichthümer dieser im Dienste des Kulturfortschrittes jener. Es ist ein Irrthum, der gerade dem Deutschen naheliegt und der deshalb um so unzweideutiger zurückgewiesen werden muss, wenn man meint, die Kolonialpolitik bezwecke allein die moralische und materielle Hebung fremder Volksstämme. Sie soll weitblickend genug sein, um sich diese Aufgabe als ein hervorragendes Mittel zum Zweck zu stellen. Dieser ist und bleibt aber schließlich die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer schwächerer Völker Unkosten. (Peters 1886)
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gen über deutsche Herrschaft und Nutzen, die er mit örtlichen Häuptlingen unter mehr als fragwürdigen Bedingungen unter Ausnutzung sprachlichen und rechtlichen Unvermögens seiner afrikanischen Vertragspartner abschließt. 1891 wird Peters Reichskommissar für das Kilimandscharo-Gebiet, wo er ein erbarmungsloses Regiment ausübt und den Wachagga-Aufstand provoziert. Er gehört damit zu den zentralen Figuren des frühen deutschen Kolonialismus. Während Peters nach erfolglosem Versuch der Unterwerfung Ugandas und der Rückkehr nach England im Jahr 1897 aufgrund seiner menschenverachtenden Aktionen in Afrika unehrenhaft aus dem Reichsdienst entlassen wird, wird ihm durch Wilhelm II. sein Titel im Jahr 1904 wieder zuerkannt, 1914 erfolgt seine vollständige Rehabilitierung. (vgl. Perras 2004) Neben den individuellen Akteuren im Feld von Handel und Gewerbe, die insbesondere in der Frühphase des deutschen Kolonialismus eine aktive Rolle bei Gebietserwerb und Verwaltung der deutschen Schutzgebiete haben, kommt einzelnen Militärs eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung kolonialer Ansprüche zu. Neben dem bereits erwähnten Lothar von Trotha zählt zu diesen auch exemplarisch General Lettow-Vorbeck, der insbesondere durch seinen Widerstand im 1. Weltkrieg in den kolonialrevisionistischen Tendenzen nach dem Versailler Vertrag als Löwe von Afrika verehrt wird. Vgl. dazu Schulte-Varendorff (2006). Die begonnene Ausgabe seiner Gesammelten Schriften wird 1934/44 mit Unterstützung des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands durch seinen Präsidenten Walter Frank (1905-45) besorgt, der eine unmittelbare Verbindung zwischen Peters und dem nationalsozialistischen Antisemitismus herstellt (vgl. Lammers 2001).
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Wettlauf um Afrika
Die Berliner Konferenz – auch Westafrika-Konferenz bzw. Kongokonferenz genannt –, die Bismarck vom 15.11.1884 bis zum 26.2.1885 zusammen mit Frankreich als multilaterale Beratung einberuft, dient der Klärung von Handelsbeziehungen im Kongogebiet und der Koordination des europäischen Machtanspruchs in Westeuropa. Das Jahr 1884/85, das so genannte Kongojahr, steht für den Beginn kolonialer Aktivität des Deutschen Reichs in Deutsch-Südwestafrika, Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika. Im Umfeld der Kongokonferenz steht die deutsche Annexion von Togo, Kamerun und Angra Pequeña/Lüderitzbucht. Afrikanische Gebiete müssen nicht erst aufgeteilt werden, denn die Konferenz wird einberufen, „weil sich hier und da in Afrika ein wildes Wettrennen um Kolonien, Protektorate und Einflusssphären entfesselt hatte.“ (Wesseling 1999: 119) Mithin sind auch ältere geschichtswissenschaftliche Deutungen vom kolonialen Politikwechsel durch Bismarck inzwischen angezweifelt: Bismarcks Entscheidung vom Sommer 1884, überseeische Territorien unter deutschen Schutz zu stellen, bedeutete nur scheinbar eine Zäsur, sie stand in der Kontinuität vorausgegangener Aktivitäten des Reichs in Übersee und führte auch in der Folge lediglich zur schrittweisen Ausweitung deutschen Engagements. (Speitkamp 2005: 14)
Die Kongokonferenz gibt dem politischen Aktionismus um Afrika eine Struktur und sichert Deutschland Handelsprivilegien, die für die neu gewonnene Rolle als Kolonialmacht bedeutsam sind. Unter Bezug auf den kurbrandenburgischen Kolonialismus findet das Deutsche Reich seine faktische kolonisatorische Identität also zunächst in Afrika, weshalb ich mich im Weiteren auch auf Afrika konzentrieren möchte. Bismarck ist anfangs bestrebt, das koloniale Engagement nach englischem Vorbild „durch Charter-Gesellschaften verwalten zu lassen und das Reich damit aus der Verantwortung für die Schutzgebiete zu entlassen“ (Schwarz 1999: 28), ein Programm, das sich bereits nach kurzer Zeit als nicht umsetzbar erweist. Das ausbleibende Verwaltungsengagement der Handelshäuser und Kolonialgesellschaften führt in allen Schutzgebieten früher oder später zur Reichsverwaltung und damit zur staatlichen Kolonialisierung:18
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Bereits Decharme (1903) zeigt, dass Bismarcks Plan der Verwaltung durch Kolonialgesellschaften scheitert, und das Deutsche Reich sich gezwungen sah, stattliche koloniale Verwaltungsstrukturen zu etablieren.
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i. ii. iii. iv.
Deutsch-Südwestafrika19 Togo20 Kamerun21 Deutsch-Ostafrika22
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1883 erwirbt Heinrich Vogelsang (1862-1914) im Auftrag des Bremer Kaufmanns Franz Adolf Lüderitz (1834-1886) durch Vertrag mit den Nama das Gebiet Angra Pequeña. Das anschließende Schutzbegehren an das Deutsche Reich wird von England abgelehnt. Durch Entsendung von Kriegsschiffen wird am 24. April 1884 das Territorium Lüderitz unter deutschen Schutz gestellt. Bis 1885 wird das Gebiet durch Landankäufe erweitert. Lüderitz tritt seinen Besitz am 4. April 1885 an die Südwestafrikanische Gesellschaft ab. Bis 1890 wird die Schutzhoheit ausgedehnt, ab 1898 eine eigene Gouverneursverwaltung unter Heinrich Göring (1839-1913) eingesetzt, die eine faktische Kolonialherrschaft errichtet. Schon 1888 werden Herero-Unruhen militärisch eingedämmt. In den Jahren 1903 bis 1907/08 werden zahlreiche Aufstände unter Anwendung zum Teil massiver Gewalt durch die Schutztruppen niedergeschlagen. Nach Niederlage gegen die Südafrikanische Union im 1. Weltkrieg wird Deutsch-Südwestafrika im Versailler Vertrag als Völkerbundsmandat der Südafrikanischen Union überschrieben. Seit Beginn der 1880er-Jahre gründen unter anderem die Häuser C. Woermann und Vietor Handelsniederlassungen. 1884 trifft Reichskommissar Gustav Nachtigal (18341885) in seiner Eigenschaft als deutscher Generalkonsul in Tunis mit dem König von Togo ein Schutzabkommen. Die Schutzerklärung des Deutschen Reichs erfolgt am 5. Juli 1884. Das Hinterland von Togo wird in der Folgezeit erschlossen und durch Schutzverträge unterworfen. Der Versailler Vertrag sieht eine Teilung in einen französischen und englischen Bereich vor, die 1922 durch entsprechende Mandatsverwaltungen realisiert wird. Seit den 1860er-Jahren gründen unter anderem die Häuser Woermann und Jantzen & Thormälen Handelsniederlassungen. Im Wettlauf mit England schließt Gustav Nachtigal nach dem Vertragsabschluss in Togo am 12. Juli 1884 einen Vertrag des Deutschen Reichs mit Königen und Häuptlingen zum Schutz der Interessen deutscher Firmen, insbesondere des Hamburger Handelshauses C. Woermann, das aber selbst keine Verwaltungsaufgaben übernimmt. In den Folgejahren wird das Gebiet durch weitere Schutzabkommen erweitert und in der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre zur faktischen Kolonie. Zur Niederschlagung von Aufständen wird 1891 eine Polizeitruppe aufgestellt. 1911 übernimmt das Deutsche Reich in Folge der Marokko-Krise einen an Kamerun angrenzenden Teil des französischen Kongogebietes. Wie Togo wird Kamerun im Versailler Vertrag zwischen England und Frankreich als Völkerbundsmandat aufgeteilt. Wegen ihrer guten lokalen Kontakte erheben die lokal agierenden Hanseatischen Handelshäuser im Gegensatz zu Kaufleuten in anderen afrikanischen Gebieten kein Schutzbegehren an das Deutsche Reich. Hier schließt 1884 Carl Peters für die Gesellschaft für deutsche Kolonisation Abtretungsverträge mit verschiedenen Häuptlingen zunächst gegen den erklärten Willen des Deutschen Reichs. Am 27. Februar 1885 werden die Gebiete unter Kaiserlichen Schutz gestellt. Peters versucht über eine Beteiligungsgesellschaft den Erwerb und die Kontrolle der ostafrikanischen Gebiete umzusetzen, was insbesondere infolge der finanziellen Beteiligung des Bankiers Karl von der Heydt (1851-1929) zum Versuch des eigenen Verwaltungsaufbaus führt; juristische Bedenken werden formuliert. Die wirtschaftlichen Aktivitäten unter Carl Peters bleiben erfolglos und weitere Machtgewinne der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft führen im September 1888 zum Araberaufstand mit der Folge eines Zusammenbruchs der Verwaltungsstrukturen. 1889 wird Hermann Wissmann als Reichskommissar eingesetzt. Ab 1891 formelle Gouverneursverwaltung durch das Deutsche Reich. Nach langjährigen Kämpfen im Ersten Weltkrieg werden
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Neben Afrika interessiert man sich bald für den pazifischen Raum und positioniert sich auch hier mit Kolonien: v. vi.
Melanesien (Deutsch-Neuguinea, Bismarck-Archipel, Salomonen-Inseln Buka und Bougainville)23 mikronesische Marshall-Inseln, 1884/85 bis 1918/1924
Die vorgegebenen wirtschaftlichen Ziele der Kolonisierung sind weit weniger motivierend als machtkompensatorische Handlungen im Konzert von Innen- und Außenpolitik. Jedoch versäumt man es seitens der Ökonomie nicht, die vermeintlich sachliche Notwendigkeit des Kolonialimus jenseits imperialistischer Machtansprüche immer wieder zu begründen: Alles in allem genommen ergiebt diese kurze Uebersicht, dass, wenn es dem Reich auch nicht geglückt ist, die Kolonialpolitik in dem ursprünglich in Aussicht genommenen ganz engen Rahmen durchzuführen, der Schutz und die Förderung des deutschen Handels und deutscher wirtschaftlicher Unternehmungen immer das Hauptziel geblieben sind. Nicht Abenteuerlust, nicht Landhunger haben die deutsche Kolonialpolitik ins Leben gerufen, sondern der berechtigte Wunsch, der mächtig gewachsenen Bevölkerung neue, sichere Arbeitsgebiete zu erschliessen. (Schweinitz et al. 1897: 89)
Bereits Mann (1958/92: 507) erkennt jedoch in der Begründung des deutschen Kolonialismus nichts anderes als eine Form des billigen Imperialismus zur Sicherung nationalen Friedens zu Lasten außereuropäischer Völker: In den 1880er Jahren erlebte die europäische Staatengesellschaft eine Periode solchen expansiven, abenteuerlichen Ehrgeizes. Sie mochte damit zusammenhängen, dass nun in Europa wieder Friede war, derart zwar, dass ihn zu stören und sich auf Kosten europäischer Nachbarn zu vergrößern ein furchtbares Risiko bedeutete. Viel billiger war Erweiterung dort zu haben, wo man nur eingeborene Häuptlinge übers Ohr zu hauen, nicht aber sich mit europäischen Massenarmeen zu schlagen brauchte. Imperialismus, genauer Kolonialismus, wäre insofern das Merkmal einer friedlichen, nicht kriegerischen Epoche. Tatsächlich ha-
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im Versailler Vertrag weite Teile an England als Völkerbundsmandat überschrieben, der Nordwesten wird später Belgien zugesprochen und das Kongo-Dreieck erhält portugiesische Mandatsverwaltung. Adolph von Hansemann (1827-1903) bereitet als einflussreicher Bankier den Erwerb der Gebiete vor, die am 17. Mai 1885 unter den Schutz des Reichs gestellt werden und deren Verwaltung zunächst in den Händen der Neuguinea-Kompagnie liegt. 1898/99 tritt die Neuguinea-Kompagnie ihre Hoheitsrechte an das Reich ab. Im Versailler Vertrag wird das ehemalige Schutzgebiet Australien überschrieben. Reichsschutz ab 1885. Im Versailler Vertrag Japan überschrieben.
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ben große Kriege um Kolonien zwischen europäischen Mächten im 19. und 20. Jahrhundert nicht stattgefunden, und man hat sich über koloniale Gegensätze schließlich immer einigen können.
Der öffentliche Diskurs zum Kolonialismus, der selbstverständlich nach Beginn der kolonisatorischen Aktivitäten in Bewegung gehalten wird – unter anderem durch die 1887 vollzogene Vereinigung des Deutschen Kolonialvereins mit der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation zur Deutschen Kolonialgesellschaft –, thematisiert die vermeintlichen wirtschaftlichen Chancen durch Rohstoffimport und die Vorteile der Auswanderung. Bis zum Ersten Weltkrieg wächst die Mitgliederzahl der Deutschen Kolonialgesellschaft auf 43.000 an (vgl. Speitkamp 2005: 20). In ihrer Satzung vom 19. Dezember 1887 wird die Lenkung der öffentlichen Wahrnehmung des Kolonialismus besonders hervorgehoben. Ziel sei es, „im Dienste des Vaterlandes die Erkenntnisse von der Notwendigkeit deutscher Kolonien zum Gemeingut des deutschen Volkes zu machen“ (Satzung Deutsche Kolonialgesellschaft, §2). Die erste Phase des deutschen Kolonialismus, die als Wettlauf um Afrika geradezu idiomatisch in das Bewusstsein der öffentlichen Meinung eingeschrieben ist, aber eben auch auf den Pazifik ausgreift, verhandelt die Kolonien als nationale Identifikationsorte, die, jenseits einer nennenswerten Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität des Deutschen Reiches, Übereinstimmung im Empfinden der eigenen Überlegenheit herstellt. Leo von Caprivi (1831-1899), Reichskanzler nach Bismarck von 1890-1894, bezeichnet die deutschen Kolonien daher auch zutreffend als Kinder des Gefühls und der Phantasie, was Kundrus (2003: 7) in ihrer Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus dazu veranlasst, von „Phantasiereichen“ zu sprechen.25 Der Einfallsreichtum der neuen Kolonialherren in Afrika erfasst in den folgenden Jahren und Jahrzehnten viele Lebensgebiete und reicht bis zur Anordnung, Rassenunterschiede auf den Schutztruppenuniformen durch weiße Abzeichen „Für Weiße.“ und rote Abzeichen „Für Farbige.“ erkennbar zu machen; die Amtstracht der Kolonialbeamten wird durch Kaiserliche Verordnung bestimmt (§ 1 KolBG.; § 17 ReichsBG). Da die frühen Schutzgebiete zunächst staatlich legitimierte Herrschaftszonen von Kolonialgesellschaften sind, lebt sich in ihnen vor allem das aus, was als Kolonialphantasie in den 100 Jahren vor 1870 geblüht hat. Zantop (1999) 25
Ein besonders absurdes Beispiel für ein solche Phantasiereich ist die 1887 erfolgte private Gründung von Nueva Germania in Paraguay durch den Antisemiten Bernhard Förster (1843-1889) und seine Frau Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935), die 1886 versuchen, in Paraguay einen Überlebensort für die ‚arische Rasse’ zu schaffen (Kraus 1999).
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zeigt in ihrer ausführlichen und materialreichen Studie, wie seit dem 18. Jahrhundert der Traum von Neu-Deutschland − von einer Tochterkolonie des Vaterlandes − zum Wegbereiter des deutschen Kolonialismus wird. Wenn Friedrich Fabri (1889) als Kolonialpropagandist auf fünf Jahre deutscher Kolonialpolitik zurückblickt, ist ihm durchaus bewusst, dass die faktische koloniale Expansion durch ein Stadium des Unbewussten, des Enthusiasmus vorbereitet ist. 2.4 Große überseeische Aufgaben In den 1890er-Jahren verbindet sich die uniformgeschmückte Imagination eigener imperialer Macht in exotischer Ferne mit den radikalnationalistischen und rassistischen Diskursen des Inlands rund um den Begriff der Weltpolitik (vgl. Hasse 1897). Die Forderung nach Erschließung neuer Siedlungsgebiete wird zum Topos einer rassistisch-ideologischen Debatte über das als exponentiell erachtete Wachstum der Bevölkerung. Das Scheitern der wirtschaftlichen Aktivitäten von Kolonialgesellschaften führt zum verstärkten Engagement des Deutschen Reichs selbst. Neben einer Reihe anderer Organisationen ist vor allem der Allgemeine Deutsche Verband als öffentlicher Wortführer in den nationalen Diskursen zu nennen, der am 9. April 1891 unter Beteiligung von Carl Peters in Berlin gegründet wird und seit 1894 Alldeutscher Verband heißt: eine „sehr merkwürdige Vereinigung von Männern der Öffentlichkeit, Parlamentariern, Schriftstellern, Gelehrten, Gewerbetreibenden“ (Mann 1958/92: 510). In den Flugschriften des Alldeutschen Verbandes wird der völkische Diskurs um Weltpolitik öffentlichkeitswirksam in Gang gebracht und ungeachtet der eher marginalen politischen Stellung der Vereinigung als nationale Kritik an der Reichsregierung gebündelt. So begegnet einem in der exemplarischen Flugschrift Warum brauchen wir Marokko? aus dem Jahr 1904 das gesamte Repertoire eines völkischen Rassismus: Die Länder, denen wir einst unseren Volksüberschuss abgaben, haben inzwischen einen Aufschwung genommen, der sie uns auf dem Weltmarkt gefährlich werden lässt. Voran steht uns Amerika. Und es ist ein trauriger Trost, sich sagen zu können, dass es Kraft von unserer Kraft, Intelligenz von unserer Intelligenz ist, welche jenem Volke seinen unaufhaltsamen Fortschritt ermöglicht […]. Also keine Vergeudung unserer Volkskraft mehr! Wir brauchen sie zur Ernährung unseres eigenen Körpers, damit er sich zu voller nationaler Größe auswachse. Wir wollen unser frisches, gesundes Blut nicht mehr anderen, schwächeren Köpfen einimpfen lassen, damit sie erstarken an unserer Kraft. (Pfeil 1904: 5f.)
Aber nicht nur die extremnationalistischen Zirkel kreisen um den Kolonialismus, auch Intellektuelle wie der national-liberale Max Weber (1864-
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1920), der Wirtschaftspolitik nicht isoliert von völkischen Bestrebungen betrachten mag. In seiner Freiburger Antrittsvorlesung sagt Weber (1895: 30): Schon als nach den Einheitskriegen die ersten Anfänge positiver politischer Aufgaben der Nation nahe traten, der Gedanke einer überseeischen Expansion, da fehlte ihm [dem Bürgertum] selbst jenes einfachste ökonomische Verständnis, welches ihm gesagt hätte, was es für den Handel Deutschlands in fernen Meeren bedeutet, wenn an den Küsten umher die deutschen Fahnen wehen.
Von Bedeutung in diesen Jahren ist ein Gewebe an zerstreuten Diskussionen. Die Vormachtstellung der christlichen ‚Weltreligion’ wird ebenso ernsthaft diskutiert, wie der Begriff ‚Weltmacht’ in Umlauf gebracht ist. Auch wird gefragt, ob man sich beim Bau der Bagdadbahn im ‚Orient‘ engagieren sollte. Und schließlich verfolgt man den deutschen Seegedanken, also das politische Ziel, als Seemacht in der Welt Anerkennung zu finden. Die kolonisatorische Identität seit den 1890er-Jahren begründet sich in der Folge daher auch zunehmend aus dem Selbstbewusstsein als Flottenmacht, einer Macht, die ihre nationale Bestätigung durch militärische Aktivität in Übersee findet; es geht um die diskursiv erzeugte Angst davor, in der Welt leer auszugehen, der man durch Navalismus begegnen will. So ist es auch Alfred von Tirpitz (1849-1930)26, der aufgrund seiner früheren Erfahrungen als Chef der Kreuzerdivision in Ostasien entscheidend an den Beratungen zum Pachtvertrag mit China (6. März 1898) betreffend das Schutzgebiet Kiautschou beteiligt ist. Kiautschou wird mit der Hafenstadt Tsingtau ein wichtiger Marine- und Handelsstützpunkt des Kaiserreichs in Südostasien, wenn auch nicht für die vertraglich vereinbarten 99 Jahre, sondern nur bis zum 7. November 1914 (vgl. Leutner 2005). Der Kampf um Weltmacht verlagert sich in diesen Jahren von Afrika zunehmend nach Asien und in den pazifischen Raum:27
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Alfred von Tirpitz ist zunächst 1892-95 Chef des Stabes beim Oberkommando der Marine, ab 1895 Konteradmiral, 1896/97 Chef der Kreuzerdivision in Ostasien und ab 1897 als Staatssekretär des Reichsmarineamtes maßgeblich an den Flottengesetzen (1898 und 1900) beteiligt. Kerngedanke des politischen Handelns ist für Tirpitz das Wettrüsten mit England im Ziel um ein Gleichgewicht der Kräfte. Tirpitz versichert sich der öffentlichen Meinung; insbesondere das Nachrichtenamt des Reichsmarineamtes bewirkt durch propagandistische Lenkung breiter Schichten eine wachsende Marinebegeisterung im Kaiserreich. Engelberg (2006) hat eine sehr lesenswerte Darstellung zur Integration deutscher Lehnwörter in den Sprachen des Südpazifik vorgelegt.
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Kiautschou28 Karolinen, Palau- und Marianeninseln29 Deutsch-Samoa30
In eine sprachlich markanten Wendung kleidet der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Fürst Bernhard von Bülow (1849-1929), Reichskanzler von 1900-1909, am 6. Dezember 1897 die imperialistischen Ansprüche des Deutschen Reichs: Er verlangt einen Platz an der Sonne, jene Redewendung, die nicht nur im Kaiserreich begeisterte Aufnahme fand, sondern unreflektiert noch immer als Titel einer deutschen Fernsehlotterie gebräuchlich ist: In Ostasien schien der Herr Abgeordnete Dr. Schoenlank zu fürchten, daß wir uns in Abenteuer stürzen wollten. Fürchten Sie gar nichts, meine Herren! […] Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront (Heiterkeit - Bravo!) - diese Zeiten sind vorüber. Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen. […] Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. (Lebhaftes Bravo.) Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. (Bravo!) Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne. (Bülow 1897) 28
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Die Kiautschou-Bucht mit dem Hafen Tsingtau und umliegenden Gebieten wird als begehrter Handelsstützpunkt durch Vertrag mit dem Kaiser von China am 6. März 1898 auf 99 Jahre gepachtet. Der hier stattfindende Boxeraufstand von 1899 wird durch eine internationale Truppe unter Beteiligung des Deutschen Reichs niedergeschlagen. Kiautschou wird jedoch nicht als Kolonie verwaltet, sondern bis 1914 durch die Reichsmarineverwaltung als Handels- und Militärstützpunkt genutzt. Nach japanischer Besetzung fällt das Gebiet 1922 an China zurück. Deutsche Kolonie von 1899 bis 1918/19. Ein Schiedsspruch des Papstes Leo XIII. im Jahr 1885 sichert Spanien die Souveränität über die Karolinen zu, das Deutsche Reich kann aber weiterhin Kohlestationen nutzen und ungehinderten Handel treiben. Mit dem Vertrag vom 30. Juni 1899 kauft das Deutsche Reich die Karolinen, Palau- und Marianeninseln von den über Spanien siegreichen USA. Im Versailler Vertrag werden die Gebiete Japan überschrieben. Deutsche Kolonie von 1899 bis 1918/19. Das koloniale Engagement von Großbritannien, Deutschland und den USA führt zu Machtkonkurrenzen, die durch die Berliner Samoa-Konferenz im Juni 1899 zur Teilung Samoas zwischen Deutschem Reich und USA mit Abfindung Großbritanniens führen. Mit dem Versailler Vertrag werden Australien, Neuseeland und Großbritannien Mandatsmächte.
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Die Rede vom Kampf um Weltgeltung prägt das außenpolitische Tagesgeschäft unter reger Beteilung ziviler Interessengruppen. Dazu gehört auch der mitgliederstarke, am 30. April 1898 in Berlin gegründete Deutsche Flottenverein. Man spricht von der Weltstadt Berlin, von Weltmacht, Welthandel, Ansehen in der Welt, Weltpolitik und vom Weltreich. In der so genannten Hunnenrede, die Kaiser Wilhelm II. dann am 27. Juli 1900 in Bremerhaven anlässlich der Verabschiedung des Deutschen Expeditionskorps hält – das den Boxeraufstand in China niederschlagen soll – wird die martialische Ausdrucksweise der Zeit schließlich mehr als deutlich. Gegenüber der bei Görtemaker (1996: 357) abgedruckten inoffiziellen Fassung, die dem Vortrag in Bremerhaven wohl eher entspricht, ist der hier abgedruckte Ausschnitt aus der offiziellen Version des Textes, der in den von Penzler zu Lebzeiten herausgegebenen Reden Kaiser Wilhelms II. erscheint, noch zurückhaltend: Große überseeische Aufgaben sind es, die dem neu entstandenen Deutschen Reiche zugefallen sind, Aufgaben weit größer, als viele Meiner Landsleute es erwartet haben. Das Deutsche Reich hat seinem Charakter nach die Verpflichtung, seinen Bürgern, wofern diese im Ausland bedrängt werden, beizustehen. […] Eine große Aufgabe harrt eurer: […] Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freundlichen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel. […] Ihr wißt es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wißt: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen. Wahrt Manneszucht. Der Segen Gottes sei mit euch, die Gebete eines ganzen Volkes, Meine Wünsche begleiten euch, jeden einzelnen. Öffnet der Kultur den Weg ein für allemal! Nun könnt ihr reisen! Adieu Kameraden! (Penzer 1904: 209-212)
2.5 Aufstände und Krieg Die von Weltmachtphantasien getragene Kolonialbegeisterung in Deutschland erfährt nach 1900 eine Prägung durch Zuspitzung kolonialer Konflikte. In den Debatten spielen populäre Reflexe auf die Rechtfertigung des Krieges durch Carl von Clausewitz (1780-1831) ebenso eine Rolle wie die generalisierende Beurteilung von Gewalt gegen ‚Naturvölker’ als notwendige Handlung. Vor allem die großen Aufstände 1904/05 gegen die weiße Siedlerkultur in Südwest- und Ostafrika befördern zwanzig Jahre nach Beginn kolonialer Aktivitäten in Afrika neue Debatten um Sinn und Nutzen militärischer Präsenz in Übersee. Die allgemeine Kolonialschwärmerei bleibt davon aber erstaunlich unberührt; das Faktische und
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Kontrafaktische, Aktion und Kommunikation weichen voneinander erkennbar ab. Schon das Zweckbündnis von USA, Japan und europäischen Staaten unter Beteiligung deutscher Truppen im Sommer 1900 zur Niederschlagung des so genannten Aufstands der Boxer in China markiert das koloniale Konfliktpotential, mit dem das Deutsche Reich nun befasst ist. Dabei hat sich die Konfrontation von Interessen in den Kolonialgebieten lediglich zugespitzt, so dass es eher um eine Wahrnehmungsverschiebung als um substantielle Veränderungen der politischen Bedingungen kolonialen Engagements geht. Schon vor der deutschen Kolonialpräsenz gibt es im Gebiet von Deutsch-Südwestafrika massive Unruhen zwischen Hottentotten und Hereros. Im Friedensschluss von Otjimbingwe (1892) verbünden sich die Stämme gegen die weiße Herrschaft, was bereits 1893 zu einer Niederschlagung des damit verbundenen Aufstands durch deutsche Truppen führt. Der deutliche Anstieg deutscher Siedler in DeutschSüdwestafrika – über 4.500 im Jahr 1900 gegenüber 539 im Jahr 1891 – führt jedoch zu wachsenden Unruhen. Im Herbst 1903 beginnen Aufstände der Hottentotten und am 11.01.1904 bricht der wohl vorbereitete Aufstand der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht endgültig aus. Die Herero sehen sich „ihrer traditionellen Existenzgrundlagen“ (Speitkamp 2005: 123) beraubt und überfallen deutsche Siedler. Eine Lösung sieht man darin, den Kommandeur der Schutztruppen durch Generalleutnant Lothar von Trotha zu ersetzen. Unter seinem Befehl kulminiert ab dem 11. August 1904 der massive Militäreinsatz in der Schlacht am Waterberg, nach der die noch überlebenden Herero in die wasserlose Halbwüste von Omaheke getrieben werden und dort in großer Zahl sterben. Zeller/Zimmerer (2003) sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Nach der Niederschlagung des Hereroaufstands flammen im Süden von Deutsch-Südwestafrika im Oktober 1904 Unruhen der Witbooi-Nama aus, was 1905/06 zur Mobilmachung von 13 Kompanien unter Major Ludwig von Erstorff (1859-1943) führt. Erst ein Jahr später im November 1905 ergeben sich die Witbooi-Nama, doch bis in das Jahr 1908 werden noch Gefangene gehalten. Speitkamp (2005: 133) geht von über 60.000 Opfern bei den Herero und 10.000 getöteten Nama aus. Im Kontext dieser Zuspitzung gewalttätiger Auseinandersetzungen findet im Inland eine Diskussion über den wirtschaftlichen Nutzen der politisch-militärischen Aktivitäten statt. Massive Kritik an der deutschen Kolonialpolitik wird im Reichstag durch das Zentrum und die SPD formuliert. Wegen der Ablehnung eines Nachtragshaushaltes für den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika muss der Reichstag am 13. Dezember 1906 aufgelöst werden. Die anschließende Neuwahl am 25.02.1907 be-
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zeichnet man ironisch als Hottentottenwahl und bedient sich dabei der diskriminierenden Bezeichnung für das Volk der Khoikhoin in Süd- und Südwestafrika, die bereits im 17. Jahrhundert durch Buren versklavt sind und im Hereroaufstand in großer Zahl sterben. Zu ersten großen Unruhen in Deutsch-Ostafrika führt bereits ein Araberaufstand in den Jahren 1888-90. Im Maji-Maji-Aufstand gegen die deutsche Steuerpolitik und Zwangsarbeit kulminieren die Erhebungen dann im Juli 1905. Unvorbereitet trifft die Deutschen der sich zum Guerillakampf auswachsende Aufstand der kultisch geeinten Afrikaner, der unter Einsatz drastischer militärischer Mittel „mit äußerster Brutalität“ (Speitkamp 2005: 132) niedergeschlagen wird. Bis zu 300.000 Opfer werden bis in das Jahr 1908 gezählt. Der deutsche Kolonialismus im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist faktisch durch Konflikte, Aufstände und militärische Gewalt mit sehr vielen Opfern geprägt. Durch die Erhebungen und ihre Niederschlagung gewinnt das Deutsche Reich zwangsläufig eine auf Repression aufbauende kolonisatorische Identität als Unterdrücker. Die Zerschlagung der gemeinschaftsbildenden Lebensmodelle von Afrikanern führt überdies zu einer Situation, die weit entfernt ist von den ursprünglichen Erwartungen an die Kolonien als positive Projektionsfläche. Nach einer Phase der Rückgewinnung des politischen Kolonialbewusstseins jenseits von kämpferischen Auseinandersetzungen und militärischer Gewalt − auch als Reformphase bezeichnet (vgl. Grosse 2000: 22) − werden die Kolonien des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg dann zum Schauplatz von Kämpfen der Kriegsparteien. Bereits am 6. August 1914 wird für Deutsch-Südwestafrika der Kriegszustand erklärt und am 7. August 1914 beginnt dort die allgemeine Mobilmachung einer den Engländern und der Südafrikanischen Union massiv unterlegenen deutschen Schutztruppe. Am 9. Juli 1915 erfolgt bereits die Übergabe von DeutschSüdwestafrika an die Südafrikanische Union, wobei weite Teile der deutschen Bevölkerung das Bleiberecht erhalten und auch deutsche Verwaltungsstrukturen zunächst beibehalten werden. Togo fällt bereits im August 1914, Kamerun wird bis 1916 gehalten, in Deutsch-Ostafrika leistet General Paul von Lettow-Vorbeck (1870-1964) Widerstand bis 1918 und wird damit zu einem kolonialen Helden gerade in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus erklärt. Mit dem Versailler Vertrag tritt Deutschland seine gesamten Kolonialgebiete ab, so dass der deutsche Kolonialismus im Sommer 1919 faktisch beendet ist. Gleichwohl bleiben die Kolonien eine „Projektionsfläche für persönliche wie kollektive Wünsche“ (Kundrus 2003: 7). Die wachsende Politisierung und Militarisierung des faktischen deutschen Kolonialismus und schließlich das Austragen europäischer Machtansprüche in den Kolonien
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im Ersten Weltkrieg steht immer wieder im Widerspruch zur diskursiven Konstruktion der Kolonien. So gelingt es, die Gewalt in Übersee als Bestätigung eigener nationaler Identität umzuschreiben, wie überhaupt das Sprechen über Koloniales zumeist ein selbstbezogenes Sprechen ist. Innerhalb kürzester Zeit ist die Verwurzelung kolonisatorischer Identität durch Vereinsarbeit, Institutionen bis hin zu Forschungsstellen geleistet.31
3.
Sekundärer Kolonialismus und Selbstbezug der Kommunikation
Obwohl das Gesellschaftsgespräch des Kaiserreichs nicht unwesentlich durch das Sprechen über Kolonien, durch das Für und Wider des Kolonialismus geprägt ist, gehört der deutsche Kolonialismus in der Zeit von 1884/85 bis 1919 zu den am wenigsten behandelten Gegenständen der neueren Sprachgeschichte des Deutschen. Dies lässt sich nur bedingt aus der kurzen Dauer der damit verbundenen nationalistischen Kommunikation erklären, denn auch nach 1919 hält das Sprechen über Kolonien an und gerade die kurze Dauer des faktischen Kolonialismus lässt Deutschland geradezu als Modell der kommunikativen Identitätsbildung durch expansive Unterwerfung außereuropäischer Gebiete erscheinen. Charakteristisch für diese Zeit ist das Auseinanderfallen von Aktion und Kommunikation. In der Frühphase vor der Reichseinigung sind Kolonien in Deutschland ohnehin nur ein diskursiver, wenn auch präsenter Gegenstand und noch bis in die 1880er-Jahre stehen Agitation, Propaganda und öffentliche Manifestation in Texten und Verlautbarungen der ausbleibenden kolonialen Aktion gegenüber. Speitkamp (2007: 201) fasst die Stimmung der Zeit gut zusammen: Auffallendes Merkmal der Kolonialagitation war die Standardisierung der Denkweisen und die Verwendung fast stereotyper Argumente, mit denen ein spezifischer nationaler Auftrag begründet wurde.
Mit Eintritt des Deutschen Reichs in den Kreis der Kolonialmächte behält das Sprechen über Kolonien aber diese stereotype Eigenständigkeit, es ist häufig selbstadressiert und kreist in einem breiten Gespräch, in dem sich Imagination und Realität vermischen. Das Auseinanderfallen von Aktion 31
Zu nennen ist hier die 1898 gegründete Deutsche Kolonialschule GmbH in Witzenhausen (Baum 1997).
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und Kommunikation wird schließlich besonders im so genannten Kolonialrevisionismus deutlich. Auch noch nach dem Versailler Vertrag schließen sich zahlreiche Vereine am 16. September 1922 zur Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft zusammen. Es wird weiterhin für Kolonien geworben und gegen den Versailler Vertrag polemisiert. Ungeachtet der Tatsache des von vielen empfundenen Verlustes der Kolonien erscheinen nach 1919 nicht nur zahlreiche Buchtitel, die sich den deutschen Kolonien widmen, sondern auch im Alltag bleibt das Kolonialinteresse bestehen. Dabei spielen das Ideal einer soldatischen Männlichkeit und die Gründungsmythen zu den Helden der Kolonisation eine Rolle, die mehrere Generationen erfassen und auch mit der Rückkehr der ‚kolonialen Helden’ aus dem 1. Weltkrieg zelebriert werden. Die öffentliche Herausstellung des Generals Paul von Lettow-Vorbeck als kolonialer Held manifestiert das besonders deutlich. Bis in den Nationalsozialismus reichen die revisionistischen Kolonialphantasien dann (vgl. Maß 2006). Auch insoweit ist der Kolonialismus keineswegs eine historisch unbedeutende Phase der deutschen Geschichte, sondern auf vielfältige Weise verflochten mit den konkreten Machtkonstellationen des 20. Jahrhunderts und der kollektiven Imagination von Weltmacht, ohne dass hier eine NS-Vorläuferthese vertreten wird. Ich gehe vielmehr davon aus, dass der Kommunikation über Kolonien eine zentrale Rolle bei der Konstruktion nationaler Identität zukommt. Das Sprechen, die sprachliche Manifestation von Themen, Intentionen, Bewertungen etc. ist konstitutiv für die kolonisatorische Identität in Deutschland. Hier kann Berman (2003: 28) nur zugestimmt werden, wenn er aus US-amerikanischer Perspektive das deutsche Selbstbewusstsein als ewig Zweiter zum Ausgangspunkt der Beschreibung des so genannten Sekundärkolonialismus macht. Darunter versteht er ein Phänomen, dessen Hauptmotivation nicht wie im Falle anderer Kolonialmächte mit Illusionen des Reichtums, Kapitalexport oder Zivilisationseifer zu tun hatte. Vielmehr bildet der primäre Movens zu einem Überseereich die Gleichstellung mit anderen Kolonialmächten, insbesondere die Konkurrenz mit, aber auch die Imitation von Großbritannien.
Dieser Annahme wird mit dem vorliegenden Buch gefolgt; es entspricht damit der neueren wissenschaftlichen Einordnung des deutschen Kolonialismus, die als zentrales Motiv die Angst des Deutschen Reichs vor dem Verlust nationaler Identität im Globalisierungswettkampf erkennt (Speitkamp 2005: 19).
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Für die Sprachgeschichte des Deutschen ist das Muster der sekundären Existenz im Übrigen nichts Neues. Die gesamte Spracharbeit des 17. Jahrhunderts ist bereits Teil kompensatorischer Absichten und noch das sprachreflektorische Schrifttum des 18. Jahrhunderts ist geprägt durch Debatten um eine nationale Identität in Abgrenzung zu anderen Europäischen Großmächten bzw. das Bestreben nach kulturellem Anschluss vor allem an Frankreich. Hundt (2000: 55) nennt dies das „Aufrücken in kultureller Hinsicht zu den führenden Nationen mit Hilfe der Aufwertung und Anwendung der eigenen Sprache.“ Dass man den deutschen Kolonialismus etwa in Frankreich kaum ernst genommen hat, zeigen Quellen der Zeit, wie Decharmes (1903) Pariser Dissertation zu den deutschen Kolonialgesellschaften; das abwertende Urteil über Deutschland fällt lakonisch aus: L'esprit de particularisme et la pusillanimité bourgeoise de la race germaine, conséquences de son défaut d'unité politique et géographique, empêchèrent l'Allemagne de profiter tout d'abord de la découverte du Nouveau Monde, puis, de se mettre sur les rangs, au moment où l'Angleterre et la France se taillaient d'immenses empires coloniaux au détriment de Espagnols et des Portugais. (Decharmes 1903: 24)32
Versteht man den deutschen Kolonialismus mithin als sekundär, so gewinnt die Behandlung der diskursiven Präsenz natürlich einige Bedeutung auch für die sprachgeschichtliche Behandlung. Der kontrafaktische Kolonialismus erscheint als Netz von Wünschen, Imaginationen, Vorstellungen und Erfahrungen, der die faktische Politik keineswegs nur moderiert. Zwei Kommunikationsrichtungen sind hier zu unterscheiden. Die Kommunikation nach Außen, in die und in den Kolonien, und die Kommunikation nach Innen, im Kaiserreich selbst. Natürlich spielt auch die nach Außen gerichtete Kommunikation eine nicht unbedeutende Rolle. So beteiligt sich etwa das Seminar für orientalische Sprachen in Berlin ab 1887 an der sprachlichen Vorbildung angehender Kolonialbeamter. Jedoch ist die deutsche Weltpolitik im Gewand des sekundären Kolonialismus viel weniger durch imperiale Missionen eigener kultureller Größe geprägt als durch den selbstbezogenen Beweis nationaler Bedeutung. Ein nicht unbedeutender Hinweis darauf ist der Identitätsriss zwischen Kolonialbegeisterung in Deutschland und dem Gefühl der Isolation von Deutschen in den Ko32
Der Geist des Partikularismus und der bürgerliche Kleinmut der germanischen Rasse, Folgen seiner fehlenden politischen und geographischen Einheit, hinderten Deutschland zunächst daran, aus der Entdeckung der Neuen Welt Nutzen zu ziehen und dann auch, in eine Reihe mit England und Frankreich aufzurücken, die sich zu dieser Zeit riesige koloniale Reiche zurechtschnitten zum Nachteil der Spanier und Portugiesen. [Übers. IHW]
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lonien. Während man in der internen Kommunikation der Daheimgebliebenen koloniales Interesse befriedigt, fühlen sich ausgewanderte Deutsche in den Kolonien nicht selten vergessen. Während die Beachtung der kolonialen Realitäten offenbar nicht so ausgeprägt sind, besteht großes Interesse an der imaginierten Kolonie. Die selbstadressierte nationale Kommunikation über Kolonien dient vor allem der internen Machtaushandlung und -stabilisierung einer jungen Nation. Antagonistische Positionen sind kaum zu übersehen. So offenbaren bereits die Skandale der 1890erJahre um die Ausschreitungen von Carl Peters „eindringlich die Risse, die sich in der Kolonialfrage durch die Gesellschaft zogen“ (Speitkamp 2005: 139). Das Thema Kolonien betrifft daher keineswegs nur die kolonialen Unterwerfungen selbst, sondern in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß die Ausbildung eines nationalen Selbstbewusstseins und das heißt − in der Machtkonkurrenz der europäischen Staaten im ausgehenden 19. Jahrhundert − einer kolonisatorischen Identität. 4.
Kolonisatorische Identität durch Sprache
Die bisherige Zurückhaltung der Germanistischen Sprachgeschichtsschreibung gegenüber den sprachlich manifesten Identitätsbildungsprozessen in Deutschland zwischen 1884/85 und 1919 ist kaum zu rechtfertigen. Erklärbar wird das Desinteresse freilich, wenn man bedenkt, dass selbst die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft bis in die 1970er-Jahre in der Breite eher uninteressiert war; Grosse (2000: 239) geht sogar soweit keine „differenzierte Reflexion über die Bedeutung des deutschen Kolonialismus jenseits simplifizierender Interpretationen“ (Grosse 2000: 239) bis in die 1970er-Jahre erkennen zu können. Angesichts etwa der umfangreichen Analyse des Kolonialrevisionismus der Jahre 1919-1945 durch Hildebrand (1969) ist eine solche Bewertung nicht zu halten, jedoch ist gerade Hildebrands Arbeit durch einen personen- und institutionsgeschichtlichen Fokus geprägt, der die sozialgeschichtlichen Dimensionen und damit auch sprachgeschichtlich relevante Zusammenhänge höchstens am Rande erkennbar werden lässt. Da es meines Erachtens noch immer Aufgabe der philologischen Fächer ist, „den geistigen Zustand der Menschen und ihre gesellschaftliche Konstruktion zu erforschen, ihre Religion, ihre Verfassung, ihr Recht, den Zustand der Wissenschaft und Technik, die ganze Vorstellungswelt, die Sitte, wozu auch die Sprache gehört“ (H. Paul 1920: 37), ist der Kolonialdiskurs fraglos zentraler Forschungsgegenstand der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen. Die Beschäftigung mit Kolonialismus bedeutet aber immer auch die Auseinandersetzung mit Themen-
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feldern jahrzehntelanger Tabuisierungen im Geflecht geschichtlicher Verantwortung. Es erstaunt daher nicht wirklich, dass man das Thema so lange vernachlässigt hat. Man muss der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen aber durchaus Ignoranz attestieren; Ignoranz im Sinne einer partiellen kulturhistorischen Vergessenheit. Faulstich (i.d.B.) zeigt sehr deutlich diesen Mangel an Interesse am deutschen Kolonialismus und Friedrichsmeyer et al. (1998) kann zugestimmt werden, wenn sie festhalten „German cultural studies comes belatedly to the investigation of colonialism and postcoloniality“. Dies erstaunt vor allem deshalb, weil im Projekt der Colonial Studies seit geraumer Zeit für andere Kolonialmächte differenzierte Analysen des Sprachverhaltens der weißen Siedlerkulturen vorliegen. Kein geringerer als Said (1978) selbst hat in seinem zentralen Werk über den Orientalismus zahlreiche Analysen zu sprachlichen Routinen vorgelegt. Verwiesen sei exemplarisch auch auf die Untersuchungen zum ethnographischen Präsens in Fabian (1983), eine Untersuchung zur Objektgestaltung der Anthropologie, die besonders gut zeigt, wie die systemlinguistische Fixierung von Sprachgeschichte dazu führt, dass Analysen und Erörterungen der sprachlichen Praxis des Kolonialismus anderen Wissenschaften überlassen bleibt; die partielle Theoretisierung der Historischen Linguistik lässt ihre Gegenstände, das historische Sprechen, fahren. Insoweit ist der vorliegende Band ein spätes Echo der Germanistischen Linguistik auf eine internationale Diskussion der letzten 30 Jahre. Man mag vielleicht sogar von einem verspäteten Nachklang sprechen, jedoch begründet die Bedeutung des Gegenstandes für die neuere deutsche und europäische Geschichte und damit auch Sprachgeschichte ein solches überfälliges Projekt. Während die sprachgeschichtliche Behandlung des Nationalsozialismus bereits in den 1960er-Jahren beginnt und bis in die Gegenwart reicht, scheint das wissenschaftliche Interesse an schuldbehafteten, verstörenden und erschütternden Jahren der deutschen Geschichte gerade durch die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus derart gebunden zu sein, dass eine angemessene Befassung mit dem Themenfeld Deutsche Sprache und Kolonialismus ausgeblieben ist. Aus US-amerikanischer Perspektive wird das auch von Friedrichsmeyer et al. (1998: 4) so beurteilt: „The German focus on the Holocaust as the central and unavoidable fact of German history may also have occluded German’s view of European colonialism and their own complicity as Europeans in it.“ So stellt man auch kaum mit Erstaunen fest, dass der bisher wichtigste Band zu den sprachgeschichtlichen Wurzeln des heutigen Deutsch im 19. Jahrhundert (Wimmer 1991) zwar eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher Themenfelder behandelt − von Bürgertum und Sprachgeschichte über Presse im 19. Jahrhundert bis zum parlamen-
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tarischen Sprachgebrauch; selbst das Themenfeld Sprache und Antisemitismus ist behandelt −, der Kolonialismus als zentrales Kommunikationsfeld des ausgehenden 19. Jahrhunderts aber auch hier aus dem Blick geraten ist. Symptomatisch ist daher auch die Themengliederung des Feldes Sprachenpolitik gegenüber fremdsprachigen Minderheiten im 19. Jahrhundert in diesem Band: „Polen“ an der Ruhr, Elsaß, k.(u.)k. Monarchie, Jiddisch, Zur Situation des Judendeutschen. Koloniale Sprachpolitik im Zeichen einer als Weltpolitik verstandenen Unterwerfung ist als naheliegendes Themenfeld aus dem Interesse ausgeklammert bzw. wird nicht wahrgenommen. Dem gegenüber ist die Germanistische Literaturwissenschaft weitaus interessierter an Fragen der kolonisatorischen Identitätsbildung. Einen ausgezeichneten Überblick zur literaturwissenschaftlichen Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit gibt das Kompendium von Honold/Scherpe (2004). Vor allem die imaginativen Konstruktionen der Fremde in Literatur und Alltagskultur werden hier in den Blick genommen. Zum deutschen Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert ist auch die Arbeit von Fiedler (2005) von großem Interesse, der insbesondere den kolonialen Diskurs in seiner „zutiefst widersprüchlichen Struktur von Bestätigung und Gefährdung der eigenen kulturellen Vorzugsstellung“ (Fiedler 2005: 280) erkennbar macht. Über die engeren Grenzen der Germanistischen Literaturwissenschaft hinaus wird seit den 1980er-Jahren in einer Vielzahl diskursanalytischer Arbeiten zum Kolonialismus und Postkolonialismus der Verbund von sozialen Praktiken, Textproduktion und Machtverhältnissen untersucht.33 Der theoretische Ansatz dieser Arbeiten ist durchaus auch für die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit der kolonialistischen Identitätsbildung von Interesse. Mit Bezug auf Foucault erscheint gerade das Modell einer diskursbedingten Gegenstandskonstruktion linguistische und vor allem sprachgeschichtliche Relevanz zu besitzen. Versteht man Sprachgeschichte nicht allein als historischtheoretische Rekonstruktion des Sprachsystems sondern auch als Teil einer Kulturgeschichte – und was sollte sachlich begründet dagegen sprechen −, so kommt der Kommunikation vermittels Sprache über Gegenstände in einer Gesellschaft eine wichtige Position innerhalb der linguistischen Forschungsgegenstände zu. Dies ist für ältere Phasen der deutschen Sprachgeschichte auch Konsens. 33
Aus der Vielzahl einschlägiger Publikationen seien hier als frühe Arbeiten genannt: Hulme (1986), der den frühneuzeitlichen Kolonialraum der Karibik untersucht und Mackenthun (1997), die für denselben Zeitraum englische und spanische Erzählungen zur Kolonialisierung Amerikas analysiert. Als jüngere Arbeit sei hier Hofmann (2001) mit ihren Untersuchungen französischer Karibiktexte des 17. Jahrhunders angeführt. Vgl. auch den Themenband der Zeitschrift Dispositio zum Colonial Discourse (Adorno/Mignolo 1989).
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Nun ist den meisten literaturwissenschaftlichen Ansätzen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten eine vorgängige Marginalisierung des Sprachlichen eigen. Sprache wird fast ausnahmslos als ein Medium verstanden, in dem literarische oder wie immer geartete Konzepte transportiert werden. Das Medium ist hier weit weniger interessant als die ‚verpackte Mitteilung’. Man nimmt dabei häufig unbegründet an, dass Sprache lediglich eine Form der Verständigung ist. In einem solchen Verständigungsmodell „sind Medien randständig, vernachlässigbare Vehikel, die – durchsichtigen Fensterscheiben gleich – einen ungestörten, unmittelbaren Zugriff auf etwas, das sie nicht selber sind, zu gewährleisten haben“ (Krämer 2008: 16f.). Die Spuren von Identitätsbildungsprozessen durch Sprachverwendung werden im analytischen Zugriff dann auch von ihrer Sprachlichkeit befreit, um in einem interpretatorischen Akt den Kern des Gemeinten zu bestimmen. Man ist also in kulturwissenschaftlichen Arbeiten durchaus interessiert am Themenfeld Kolonialismus, begreift aber Sprache neben anderen Kommunikationsmedien allein als Aufbewahrungsform von Inhalten, die es hermeneutisch zu öffnen gilt. Dabei wird sicher ohne gravierende Absicht übergangen, dass die sprachliche Präsenz von Themen in Form von Wörtern, komplexen Wortverbünden, Textmustern usw. einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung gesellschaftlich präsenter Richtpunkte der Identifikation leistet. Was sprachlich präsent ist, bietet sich in besonderer Weise für die Identitätsbildung an, bildet Identität. Dass die sprachliche Seite der Ausbildung kolonisatorischer Selbstwahrnehmung in Deutschland in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten unspezifisch bleibt, verstärkt seine Wirkung durch die Medienvergessenheit der Linguistik selbst. In der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts ist „Sprache als Performanz, als externe Interaktivität von Zeichenhandlungen“ (Jäger 2007: 11) allenfalls epiphänomenal. Die germanistische Linguistik hat mit dieser Ablehnung aller medialen Dimensionen des Sprachlichen natürlich auch die Behandlung des Themas Sprache und Kolonialismus bisher anderen Fächern überlassen, die sich um das Sprachliche an sich wenig kümmern. Erst jüngst erkennt man auch in der Germanistischen Linguistik, dass über Sprache selbst, über ihre mediale Präsenz in konkreten historischen Konstellationen kultureller Sinn hervorgebracht wird. Notwendig ist daher ein Kommunikationsbegriff, der die traditionelle Verpackungsvorstellung von Inhalten durch Kommunikation hinter sich lässt. Hier ist Luhmanns systemtheoretische Modellierung von Kommunikation nicht nur aufschlussreich, sondern auch im Zusammenhang unserer Fragen von Bedeutung. Da nach Luhmann (1987) Selbstreferenz kein Sondermerkmal des Denkens ist, sondern ein allgemeines Prinzip der
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Systembildung, besitzt auch Kommunikation diese selbstreferentiellen bzw. reflexiven Dimensionen. Kommunikation entsteht demnach aus einem Zusammenspiel von Selektion einer Information, Selektion einer Mitteilung und dem selektiven Verstehen bzw. Missverstehen. Demnach ist Sprache ein ständig fluktuierendes Rauschen, das zur Kommunikation wird, wenn eine sprachliche Auswahl von Information in Form einer Mitteilung getroffen wird. In der Kommunikation geht es folglich stets um Auswahlprozesse aus einem größeren Feld von Wahrnehmungsinput. Während in den traditionellen Kommunikationsmodellen das Verstehen eine Duplikation der Mitteilung darstellt – in einer technisch orientierten Sprache auch oft als Decodierung und Encodierung bezeichnet – ist mit Luhmann das Verstehen ein Selektionsvorgang. Das Verstehen bzw. Missverstehen kommuniziert sich dann enstprechend selbst weiter. Es wird nichts übertragen, sondern vielmehr Redundanz erzeugt „in dem Sinne, daß die Kommunikation ein Gedächtnis erzeugt, das von vielen auf sehr verschiedene Weise in Anspruch genommen werden kann“ (Luhmann 1987: 49). Daher kann auch allein Kommunikation weitere Kommunikation beeinflussen, kontrollieren oder reparieren. Während man in literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten Sprache als Mittel zum Zweck der kolonialen bzw. kolonisatorischen Kommunikation interpretiert, kann man mit Luhmann davon ausgehen, dass Kommunikation keinen Zweck hat: „Sie geschieht, oder geschieht nicht – das ist alles, was man dazu sagen kann.“ (Luhmann 1987: 52) Kommunikation schafft damit zwei Realitäten, die einer möglichen Zustimmung und der potentiellen Ablehnung von Mitteilungen, über die jeweils wiederum im Weiteren nur kommuniziert werden kann. Eben dieses Geschehen der Kommunikation durch Sprache an sich ist Gegenstand des linguistischen Interesses an der nationalen Kommunikation in Deutschland zwischen 1884/85 und 1919. Dies mag sich abstrakt oder theoretisch anhören, ist jedoch auf die konkrete Sprachlichkeit der kolonisatorischen Identitätsbildung selbst bezogen: Wer sagt was mit welchen Mitteln? Welche Sprache bildet kolonisatorische Identität im Alltag faktisch aus durch bloße Existenz von Kommunikation? Es ist die äußerliche Präsenz von Sprache als bloße Positivität eines Diskurses (vgl. Warnke 2007), die interessiert. Wenn man in den Kulturwissenschaften dafür in den Blick nimmt, was etwa der Automatenverkauf der Schokoladenfabrik Stollwerck mit kolonialen Absatzmärkten zu tun hat oder wie im Jahr 1905 die Exotik des Wiesbadener Palast-Hotels gefeiert wird und wenn Literaturwissenschaftler Carl Einsteins Afrikanische Legenden erörtern, so interessiert man sich als Sprachwissenschaftler dafür, in welcher Sprache diese Informationen überhaupt erst zur Mitteilung werden, wie Sprache
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als bloßes Rauschen durch Beachtung, Selektion und Redundanz von Formen und Mustern eine diskursive Präsenz erhält und damit kolonisatorische Identität bildet. Was man als vorgängige Marginalisierung des Sprachlichen bezeichnen kann, wird in einem linguistischen Ansatz also umgekehrt. Sprache als Form ist notwendige Bedingung jeglicher Selektionsvorgänge in der Kommunikation. Man mag hier einwenden, dass Sprache sich immer schon auf zuvor ausgehandelte Wissensformationen bezieht, dass Sprache also lediglich auf das referiert, was bereits als Realität beschreibbar ist. Diesem einfachen Referenzmodell von Sprache wird hier jedoch widersprochen. Bedeutung ist wesentlich ein pragmatischer Effekt: „Die semantischen Gehalte von Sprachzeichen gehen […] ihrer Übermittlung durch Zeichenausdrücke nicht einfach voraus, sondern sie werden im medialen Modus performativer Vollzüge konstituiert. Insofern distribuieren sprachliche und andere Medien nicht nur die Inhalte der kulturellen Semantik, sondern sie sind auch wesentlich an ihrer Hervorbringung beteiligt.“ (Jäger 2007: 21)
Sprache ist fraglos ein Medium der Kommunikation, aber weit mehr eine Bedingung für die Bildung von Vorstellungen, Wünschen, Imaginationen, Erfahrungen, Konzepten usw. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mag man in Anbetracht der Fülle an historischen Fakten – die sich von den unter eigentümlichen Bedingungen geschlossenen Verträgen durch deutsche Kaufleute oder Desperados bis zu komplexen diplomatischen Verwicklungen mit weltpolitischen Konsequenzen abbilden – die Beschäftigung mit Sprache und Kommunikation im Zirkel kolonialer und kolonisatorischer Identität auf den ersten Blick als unerheblich beurteilen. Doch neben der Aktion steht die Kommunikation als Vorgang der Sinnbildung in einer Zeit. Die kulturelle Codierung des Kolonialismus in Sprache ist e i n e wesentliche Voraussetzung ihrer Konstitution und damit Wahrnehmbarkeit. Kolonialismus baut sich unter anderem durch Kommunikation auf. Dabei ist zu bedenken, dass Arbeiten − auch der Geschichtswissenschaft − dadurch gekennzeichnet sind, dass Sprache zumeist nur als Medium der Abbildung kolonialer Realitäten verstanden wird. Sprache wird als Baustein von Texten verstanden, die wiederum den Status als historische Quelle, als Beleg besitzen. Die sprachliche Dimension des Kolonialismus, von der Sprachpolitik bis zur sprachlichen Perspektive auf Alltagswelten, bleibt unberücksichtigt. So erstaunt es ja heute durchaus, wenn in einer Werbeanzeige des Deutschen Kolonialhauses Berlin für das Osterfest 1901 nicht nur Ostereier und Hasen aus feinstem Kamerun-Kakao angeboten
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werden, sondern neben Negern, Soldaten der Schutztruppen auch Kaffernkraale (vgl. Badenberg 2004c: 102). Besonders augenscheinlich wird das kommunikativ-sprachliche Ausmaß der kolonisatorischen Identität in Deutschland im „Zusammenhang von kolonialer Aggression und nationalsozialistischer Rassenpolitik“ (Speitkamp 2005: 9), also nach Ende der Kolonialzeit. In den 1930erJahren dienen Agitation und rhetorische Auftritte den Nationalsozialisten zur Verbreitung kolonialer Revisionsphantasien, die bereits in den 1920erJahren immer lauter geworden waren. So entwickelt sich auch eine nationalsozialistische Kolonialkultur mit großer Popularität. Aber nicht allein in der historischen Weiterung des Faschismus und seiner propagandistischen Nutzung sprachlicher Ressourcen wird der Kolonialismus als Kommunikationsraum erkennbar, sondern bereits im Feld einander widerstrebender öffentlicher Debatten, individueller Verlautbarungen und institutioneller Statements zwischen 1884/84 und 1919. Diese kommunikativ-sprachliche Dimension des Kolonialismus bildet einen nationalen Binnenraum, in dem verschiedene Akteure das Selbstbild von Befürwortung bis zur entschiedenen Ablehnung modellieren. So ist etwa die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 − als Reaktion auf die Weltausstellungen in Paris, Chicago und Antwerpen − nicht nur Rahmen einer obskuren Zurschaustellung von mehr als 100 Afrikanern in nachgebauten Hütten, im Negerdorf – im Kraal –, sondern eben auch ein Feld agonaler Diskurse34, die die Wahrnehmung dieser Ausstellung entscheidend prägen und unter anderem dazu führen, dass im Jahr 1901 ein „Verbot der Anwerbung von Eingeborenen aus den deutschen Kolonien zu Schaustellungszwecken“ (Badenberg 2004b: 194) ergeht. Keineswegs sind kolonialistische Degradierungen von Schwarzafrikanern, wie sie etwa im verbreiteten Stereotyp der vergeblichen Mohrenwäsche zum Ausdruck kommen (vgl. Badenberg 2004a) oder eben im „umfangreichen erzieherischen und ideologischen“ (Badenberg 2004b) Projekt der Kolonialausstellung, ohne diskursives Echo geblieben. Die offizielle Diskursposition gibt sich ethnographisch-fürsorglich, es soll „das Interesse für unsere Schutzbefohlenen“ (Arbeitsausschuß 1897: 6) geweckt werden. Diesem Gestus hierarchisierender Dokumentation begegnen kritische Einwände mit Karikaturen, die Carl Peters – damals bereits bekannt als Hänge-Peters – zum schaurigen Schirmherrn der Berliner Colonial-Peters Ausstellung erklären (vgl. Baer/Schröter 2001: 89f.).35 Der deutsche Kolonialismus zeigt also bereits 34 35
Lyotard (1987) hebt hervor, dass Wissen ein Resultat von agonalen Diskursen ist. Das Emblem der Berliner Gewerbeausstellung von Ludwig Sütterlin, ein aus der Erde aufragender Arm mit einem schweren Hammer vor Industrielandschaft, wird in der kriti-
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wenige Jahre nach seiner Entstehung konträre Kommunikationsfelder: Fortschrittsoptimismus durch kolonialen Imperialismus einerseits – Speitkamp (2007: 199) spricht von „Imperialpropaganda“ − und Empörung über gewalttätigen Rassismus andererseits. Neben Bildern begründet Sprache diese Felder. Die kommunikativen Dimensionen sind für den deutschen Kolonialismus auch deshalb wichtig, weil das Kolonialreich weit verstreut und zerstückelt ist, die nationale Einheit einer kolonisatorischen Identität also faktisch kaum besteht. Es ist die kontrafaktische Kommunikation, mit der die kolonisatorische Identität in der Gesellschaft verankert wird. De facto ist das Deutsche Reich als Kolonialmacht in ein verworrenes Geflecht aus Eigen- und Fremdinteressen gestellt: Die konzeptionslos wirkende und umstrittene Expansionspolitik, die bald nach Nordafrika, bald nach China, bald in den Nahen Osten und bald nach Zentralafrika gelenkt wurde, legte die Eigenheiten des europäischen Imperialismus bloß. Die Erwartungen an materielle Gewinne waren vage und spekulativ, sie wurden selten präzise überprüft. Dafür trieben nationale Konkurrenzängste, Furcht vor einem Bedeutungsverlust in einer kleiner gewordenen Welt, Abkehr gegen Globalisierung und ihre politischen Rückwirkungen, zunehmend auch völkischrassistische Vorstellungen eines Weltkampfes der Nationen die Expansion voran. (Speitkamp 2005: 40)
Das ist die Stunde der Kommunikation, der Selbstverständigung, der internen Identitätskonstruktion und Vorstellungskraft einer Gesellschaft. Anderson (1983) beschreibt in seiner konstruktivistischen Theorie der Erfindung von Nationen treffend die Imagination von Zusammengehörigkeit als wichtige Voraussetzung der Nationenbildung. Die disparaten Raumdimensionen des deutsche Kolonialreichs, die einander widerstrebenden Interessen von Kaufleuten mit Schutzbegehren, eine zunächst noch zurückhaltende Staatsmacht, die dann zunehmend die Notwendigkeit zur Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben sieht und schließlich in gewalttätige Auseinandersetzungen in Übersee verstrickt wird; all dies gibt dem deutschen Kolonialismus ein keineswegs einheitliches Gesicht. In der Kolonialzeit selbst hat die Binnenkommunikation im Feld einander widerstrebender Kräfte die wichtige Funktion eines konstruierten Zusammenhalts. Erst der Kolonialrevisionismus in den 1920er-Jahren erfindet die geschlossene Vergangenheit kolonialer Einheit.
schen Umdeutung zu eben diesem Arm, der einen Galgen emporstreckt, an dem ausgehungerte Afrikaner vor einer Wüstenlandschaft erkennbar sind.
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Die Konvergenzen kolonisatorischer Identität bilden sich in einem durch Sprache maßgeblich strukturierten Kommunikationsraum. Unter einem Kommunikationsraum verstehe ich dabei eine textübergreifende Struktur von Äußerungen und Äußernden, in der Wissensbestände einer Zeit organisiert sind. Dabei richtet sich das sprachwissenschaftliche Interesse am Kolonialismus in bewusster Ergänzung der literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten auf Sprache mit Alltagsbezug, auf so genannte pragmatische Schriftlichkeit. In der Alltagskommunikation sind die Kontextualisierungszusammenhänge (vgl. Busse 2007) des Kolonialismus am deutlichsten markiert, hier sind allgemeine verstehensrelevante Sinnzusammenhänge erkennbar, in denen Texten Bedeutung zugeschrieben werden kann. Eine Geschichte der kolonisatorischen Identität in Deutschland durch Sprache versteht sich damit als Teil einer allgemeinen Kulturgeschichte. Medialität und Konstruktivität stehen eng zueinander: „Auch Sprache entfaltet ihre sinn-generative Leistung gerade vermöge ihrer material-zeichenhaften Erscheinung in symbolischen Prozessen.“ (Jäger 2007: 22) In Primitive Culture beschreibt Tylor (1871: 1) Kultur als ein Ensemble von Fähigkeiten des Individuums in der Gesellschaft. Sprachen sind dabei nicht nur Teil der kulturellen Signatur von Gesellschaften, sondern weit mehr ein Schlüssel zur Gestaltung und zum Verständnis nahezu aller kulturellen Sphären. Die neuere kulturwissenschaftliche Linguistik nimmt nicht zuletzt im Programm einer Sprachgeschichte als Kulturgeschichte (Gardt et al. 1999) diesen Gedanken auf und setzt damit eine Haltung in der wissenschaftlichen Reflexion von Sprache fort, die sich bereits in der anthropologischen Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts zeigt. Offensichtlich ist der Zusammenhang von Sprache und Kultur da, wo die Aneignung fremder Sprache mit dem Kennenlernen unvertrauter Kulturen verbunden ist bzw. die Rezeption von fremden Kulturgütern sich sprachlich etwa in Entlehnungen dokumentiert. Nicht minder geschichtsträchtig ist die Betonung der eigenen kulturellen und nicht zuletzt nationalen Identität; hier interessiert dann vor allem die Bildung von Identität als imaginierte Gemeinschaft durch Kommunikation. Zum Kommunikationsraum oder Diskurs gehören nicht nur die Texte und Themen, sondern auch die Richtkräfte des Sprechens und die als Vermittler fungierenden Akteure. Mit Warnke/Spitzmüller (2008) kann ein solches Feld mit den Methoden der Diskurslinguistik systematisch in einem Mehr-Ebenen-Modell (DIMEAN) erfasst werden:36 36
Zu den Verfahren der Ebenenanalyse siehe die dortige ausführliche Erläuterung und Darstellung.
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Tab. 1: Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) nach Warnke/Spitzmüller (2008: 44) Intertextualität Schemata (Frames/Scripts) Diskurssemantische Grundfiguren Transtextuelle Ebene
Diskursorientierte Analyse
Topoi Sozialsymbolik Indexikalische Ordnungen Historizität Ideologien/Mentalitäten Allgemeine gesellschaftliche und politische Debatten
Diskursprägung
Akteure
Diskursregeln
Interaktionsrollen
Diskurspositionen Medialität
Visuelle Textstruktur Textorientierte Analyse
Makrostruktur: Textthema Mesostruktur: Themen in Textteilen
Intratextuelle Ebene Propositionsorientierte Analyse
Wortorientierte Analyse
- Autor - Antizipierte Adressaten
Mikrostruktur: Propositionen
Mehr-WortEinheiten Ein-WortEinheiten
Soziale Stratifizierung/Macht Diskursgemeinschaften Ideology Brokers Voice Vertikalitätsstatus
-
Medium Kommunikationsformen Kommunikationsbereiche Textmuster -
Layout/Design Typographie Text-Bild-Beziehungen Materialität/Textträger
- Lexikalische Felder - Metaphernfelder - Lexikalische Oppositionslinien - Themenentfaltung - Textstrategien/Textfunktionen - Textsorte -
Syntax Rhetorische Figuren Metaphernlexeme soziale, expressive, deontische Bedeutung - Präsuppositionen - Implikaturen - Sprechakte -
Schlüsselwörter Stigmawörter Namen Ad-hoc-Bildungen
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Während für andere Sprachen die kolonisatorische Identitätsbildung durch Kommunikation bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist – man kann hier, um nur einen Titel zu nennen, auf Calvet (1974) verweisen, der für das Französische das Konzept von den Untersprachen aufgearbeitet hat –, besteht für das Deutsche ein offensichtliches Desiderat. Sicherlich kann keine Parallelität zwischen Deutschland und anderen europäischen Kolonialmächten hergestellt werden, das Phänomen des sekundären Kolonialismus stellt vielmehr die Verkürzung der Identitätsbildungsprozesse in den Vordergrund, die den Faktor Zeit als besonderes Spezifikum der gedrängten Ausprägung kolonialer Identität in Deutschland erscheinen lässt. Während für die französischen und britischen Kolonien langfristige Prozesse der Identitätskonstruktion über Sprache zu beschreiben sind, lassen sich für die deutschen Kolonien zeitliche Verdichtungen in sprachpolitischer Planung und Verfügung beschreiben. Da jede Kolonialisierung mit außerordentlichen Konflikten verbunden ist, erscheint Sprache natürlich nicht nur als Schlüssel zur Ausbildung und Vermittlung von Kultur, sondern insbesondere auch als Machtinstrument. Mit Verweis auf Bourdieu zeigt Thompson (2005: 6), dass gerade aus der Kolonialisierung eine „Sprache oder Sprachpraxis als die herrschende und legitime Sprache“ hervorgeht. Sprache allein strukturell bzw. systembezogen zu erfassen, erscheint vor dem Hintergrund einer solchen sozialen Funktionen daher auch als besonders abwegig. In seiner Theorie des sprachlichen Tausches führt Bourdieu (1982) aus, wie der sprachliche Markt als System von Sanktionen und Zensur funktioniert. So ist die vermeintlich verständnisvolle Solidarisierung der Missionare mit den Afrikanern da begrenzt, wo die Kolonisierten sich über den Besitz der Kolonialsprache eine Selbstständigkeit im Ausdruck verschaffen wollen. Der zivilisatorische Überlegenheitsanspruch der Europäer wird sprachpolitisch in ein christliches Stufenmodell umgedeutet, wie etwa die Eingabe der deutschen evangelischen Missionen an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes zum Deutschunterricht in den Kolonien vom 27.12.1904 deutlich belegt: Wenn unter Ignorierung der Stufe geistiger Entwicklung, auf der sich die Eingeborenen befinden, und ihrer Geistigen Bedürfnisse sowie der sittlichen und religiösen Bildungsfaktoren den Eingeborenen schnell und unvermittelt das Deutsche beigebracht wird, so muss eine oberflächliche Scheinbildung entstehen, die ein Unrecht gegen die Eingeborenen wäre, und zu einer Gefahr für die Kolonie werden könnte, denn man zieht dadurch ein eingebildetes, anspruchsvolles und leicht auch unzufriedenes Geschlecht heran; denn die Eingeborenen hören von den Europäern vieles, was schädlich wirkt, und fühlen sich im Besitze der Sprache der Europäer versucht, sich ihnen gleich zu stellen. (Eingabe der deutschen evangelischen Missionen 1904)
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Die performative Gestalt des Deutschen ist vom Wortschatz bis zur Textualisierung Teil einer auch sanktionierenden Strukturierung der Kolonien als nationale und auch nationalistische Identifikationsorte. 5.
Konturen eines Kolonialkorpus
Die systematische Untersuchung des Zusammenhangs von deutscher Sprache und Kolonialismus wird sich wie jede linguistische Arbeit zu Mentalitäten, zu kulturellen Signaturen bzw. zum Bewusstsein von Eigenheit und Fremdheit eines Korpus zu versichern haben, vermittels dessen sinnvolle Einsichten zur kolonisatorischen Identität durch Kommunikation möglich sind. Unter Sprache sind hierbei weit mehr als lexikalische und grammatische Strukturen verstanden, zur Sprache gehören, wie bereits gezeigt, weitere Ebenen, so das Sprechen selbst, die Produktion von Texten, die Bedeutungskonstitution sowie Regeln und Normen der Sprachverwendung. Die Konturen eines Kolonialkorpus haben dieser Komplexität Rechnung zu tragen. Weniger geht es aber hier um eine lückenlose Taxonomie korpuslinguistischer Grunddaten zur Untersuchung von deutscher Sprache und Kolonialismus, sondern weit mehr um Dimensionen einer sinnvollen Belegbasis. 37 Es ist kaum möglich, ein solches Kolonialkorpus nach Inhalten, Formen und Funktionen klar zu begrenzen. Saids (1978) Unifizierung des Kolonialdiskurses hat daher auch viel Kritik geerntet, nicht zuletzt durch Hulme (1986), der von einer Heterogenität der textuellen Überlieferung ausgeht. In den Subaltern Studies (vgl. Spivak 1993) konzentriert man sich daher auch bewusst auf jene Diskurspositionen, die die kolonisatorische Machtarchitektur nicht stützen. Es geht gerade bei der Korpusstrukturierung darum, sich der eigenen Diskursivität bewusst zu bleiben. Dieses Diskursivitätsbewusstsein beinhaltet auch die Erkenntnis, dass die Analysierenden selbst als Wissenschaftler in spezifische historische Perspektiven eingebunden sind, von denen die Analysen unter Einschluss der Wahl der Methoden, Themen, Quellen nicht unberührt bleiben. Eine bloße historische Distanzierung über die Wahl allein massiv kolonisatorischer Skandaltexte ist kaum sinnvoll. Da auch die Diskursstruktur des deutschen Kolonialismus komplex ist, enspricht diesem im Allgemeinen ein poststrukturalistisch orientierter 37
Bereits Klein (2002) führt in seiner knappen Abhandlung zu Topik und Frametheorie als argumentations- und begriffsgeschichtliche Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs, 14 Texte unter der Überschrift Korpus „Kolonialpolitik“ auf.
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Text- und Korpusbegriff am besten. Denn in den textbezogenen Positionen des Poststrukturalismus (vgl. Warnke 2007 und Warnke/Spitzmüller 2008), wie sie insbesondere mit Foucault und Derrida vorliegen, werden traditionelle Textbegriffe mehrfach infrage gestellt. Dazu gehört die Abkoppelung des Textes von einer subjektphilosophisch bestimmbaren Identität des Autors, der zufolge Texte nicht Produkte individueller Textproduzenten sind, sondern Resultat vielfacher Texteffekte. Dies lässt sich für den Kolonialismus wiederholt und überzeugend nachweisen. Der Einzeltext hebt sich gegen den Diskurs als Gesamtheit von Texten eines Wissensfeldes bzw. Themas ab und wird zur Spur einer Ordnung der Dinge in der Sprache. Ein solcher Textbegriff ist zudem modal entgrenzt und daher auf außersprachliche Zeichenkomplexe erweitert: urbane Strukturen, architektonische Codes, Mode, Verhaltenssysteme, Sexualität und anderes mehr sind unter dieser Annahme als textuelle Struktur in diskursiver Kontextualisierung zu untersuchen. Dabei resultiert aus den gegenseitigen Verweisen der Texte zu- und aufeinander ein intertextuelles Gewebe, in welchem die Identität des Einzeltextes als historische Quelle oder Ausdrucksform individueller Intentionen verschwindet. Ein Korpus kann unter dieser empirisch adäquaten und doch theoretisch komplexen Vorannahme nicht mehr sein als eine offene Struktur. Nun bezieht man sich in jüngeren diskurslinguistischen Arbeiten, sofern man auf Textkorpora zurückgreift, zumeist explizit oder implizit auf Busse/Teubert (1994: 14). Diese sprechen von „virtuellen Textkorpora“, was häufig übersehen wird. Diskurse erscheinen de facto sowohl material als auch inhaltlich und funktional kaum begrenzbar, sie sind ihren Inhalten und Ausdehnungen nach virtuelle Größen wissenschaftlicher Praxis. Die Beschreibung von Konturen eines solchen Korpus kann sich sinnvoll allein auf abstrakte Koordinaten beziehen. Diese mögen in heuristischen Prozessen der Inhaltsfindung modifiziert und ergänzt werden. Die Korpusstrukturierung auf der Grundlage eines poststrukturalistisch entgrenzten Textbegriffs, bei dem Intertextualität ebenso selbstverständlich als Gegenstand linguistischer Untersuchung anerkannt ist wie medienübergreifende Formen der Symbolisierung, sollte methodisch an vier Grundsätzen anknüpfen, die Foucault (1974) bereits in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France im Jahr 1970 formuliert hat: (a)
Prinzip der Umkehrung als Frage nach den Bedingungen, unter denen eine Aussage zustande kommt. Während sprachliche Äußerungen herkömmlich als intendierte Produkte von Sprechern oder Schreibern angesehen werden, versteht Foucault die Aussagen nicht als Ergebnis von individuellen Absichten. Aussagen werden nicht vor dem Hintergrund ihrer
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Ingo H. Warnke Bindung an Subjekte analysiert – sie werden nicht als Schöpfung verstanden −, sondern als Ereignis in einem Feld von Diskursbedingungen.
(b)
Prinzip der Diskontinuität als Frage nach den Brüchen in Diskursen. Foucault lehnt die Annahme kontinuierlicher Entwicklungen des Sprechens über die Welt ab. Sprache ist demnach keine evolutionäre Einheit, sondern ein System von Serien. Aussagen werden in ihren Widersprüchen zueinander in den Blick genommen.
(c)
Prinzip der Spezifität als Absage an die Annahme von konstantem Sinn jenseits diskursiver Aushandlung. Gegen die Vorstellung ursprünglichen Sinns stellt Foucault das Prinzip der Regelhaftigkeit von Diskursstrukturen.
(d)
Prinzip der Äußerlichkeit als Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Aussagen. Weil im Diskurs ausgehandelt wird, was überhaupt zu wissen ist, wird die Suche nach den Bedingungen von Aussagen relevant. Untersucht werden sprachliche Oberflächenstrukturen.
Diese abstrakten methodischen Grundannahmen ermöglichen die mehrdimensionale Strukturierung eines Kolonialkorpus. Fünf Dimensionen eines kulturgeschichtlich relevanten Korpus können dabei unterschieden werden und sind für jeweilige Untersuchungszwecke zu präzisieren: Akteure, Themen, Symbolgestalt, Handlungsmuster und ihre Textsorten sowie Phasen. Dabei mag bedacht werden, dass das hier umrissene deutsche Kolonialkorpus mehr als eine Quellensammlung ist. Obgleich eine systematische Untersuchung noch aussteht, ist die Fülle der Texte in ihrer Differenzierung nach Akteuren, Themen, Symbolgestalten, Handlungsmustern und Textsorten sowie Phasen schon hier und jetzt als tragende Säule bei der Entstehung nationaler Identität im Spiegel des Fremden angesehen. Dass die Kommunikation über Koloniales als Kompensation einer verspäteten nationalen Einigung nützlich ist und das Kontrafaktische die tatsächliche Bedeutung deutscher Kolonialherrschaft übersteigt, mag die Bedeutung eines solchen Kolonialkorpus für die Selbst- und Fremdwahrnehmung im Kaiserreich nur noch unterstreichen. Zu bedenken bleibt dabei, was Speitkamp (2005: 144) nachdrücklich betont: „In einer Phase jahrzehntelangen Friedens, in der die Kritik an satter Selbstzufriedenheit und nationalpolitischer Trägheit in Deutschland stieg, stellten die Kolonien die Mythen bereit, welche die Heimat nicht mehr bot, die Geschichten über gemeinsame Taten, an denen sich die Nation aufrichten konnte.“
5.1 Akteure Wer zu welcher Gesellschaft gehört und wer dabei welches Gehör findet, entscheidet über die Rollenaufteilung von Kolonisierten und Kolonisie-
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renden. Wie sich diese Diskursakteure sprachlich verhalten, kennzeichnet zugleich ihre gesellschaftliche Position. Es sind Lehrer, Politiker, Journalisten, Schriftsteller usw., die als ideology brokers (Blommaert 1999) den Kolonialismus erst zu einer erfolgreichen Sache in Deutschland machen. Das Feld der ideologischen Akteure ist dabei so breit und differenziert, wie die Gesellschaft des Deutschen Reichs. Die koloniale Sache greift wohl in fast alle gesellschaftlichen Domänen und erreicht eine ungeheure Präsenz, in der Alltagskultur ebenso wie im Fachdiskurs. Die frühen einzelnen nichtstaatlichen Kolonialakteure, deren Agitation die wichtigste Wegbereitung späterer Aktivitäten darstellt, werden zunehmend gestützt durch einen kolonialen Verwaltungsapparat in Legislative und Exekutive, in dem zahlreiche Personen ihre Vorstellungen vom Kolonialismus mit- und gegeneinander ausleben. Gerade im Zusammenhang der kolonialen Konflikte spielt das Militär eine wichtige Rolle. Akteure sind aber nicht nur die Individuen mit ihren mehr oder weniger dezidiert geäußerten und gehörten Auffassungen über koloniale Notwendigkeiten, sondern auch gesellschaftliche Institutionen und Wissensfelder. Die Kolonialisierung wird verstanden als „Zivilisationsauftrag im Namen von Medizin und Christentum, als Raum für Abenteuer oder als konkreter Gestaltungsbereich von Wissenschaftlern, Strukturplanern, Beamten und Frauenorganisationen.“ (Kundrus 2003: 7) Besonders die zahlreichen Vereine mit ihren ungezählten Lobbyisten und Publikationsorganen agieren in der Öffentlichkeit und prägen die Kolonialbegeisterung oder doch zumindest das Kolonialinteresse in breiten Bevölkerungskreisen; so die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft, der Deutsche Frauenverein für Krankenpflege und viele mehr. In eurozentrischer Selbstgewissheit wird der eigene Zivilisationsauftrag geradezu aus der vermeintlichen Bedüftigkeit der rückständigen außereuropäischen Kulturen legitimiert (vgl. Pratt 1992). Insbesondere Afrika wird dabei als geschichtsloser Raum38 wahrgenommen bzw. als geschichtlich rückständig beschrieben; die koloniale Unterwerfung wird mit humanitärer Sorge begründet. So verstehen sich die Akteure der Kolonisation selbst nicht selten als Helfer zur Verbreitung von Humanität. Eine immer saubere Abgrenzung zu den Missionsgesellschaften ist gerade deshalb nicht einfach, da manche missionarische Absicht einfach nur die dezidiert christliche Prägung des kolonisatorischen Zivilisationsauftrags darstellt. Die Missionsgesellschaften nehmen häufig aber auch eine Mittelstellung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten ein, indem sie Partei 38
In diesem Kontext muss auch Speitkamps (2007) Kleine Geschichte Afrikas gesehen werden, als Versuch, einem Kontinent aus der Perspektive Europas wieder Geschichte zu verleihen.
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für Schwache ergreifen und nicht zuletzt einen christlich formulierten Bildungsgedanken nachhaltig fördern. Auf Gewinn und Expansion sind die Handelshäuser, Bankiers, Investoren und die Unternehmer in den Kolonien bedacht. Die Wirtschaft formuliert ein eigenständiges Interesse an den Territorien in Übersee, ihre Anliegen sind dabei ja auch der Anlass für die meisten Schutzerklärungen. Die Breitenwirkung der sich festigenden kolonisatorischen Identität der Deutschen wird überdies in den Massenmedien, und das heißt zunächst in Zeitungen und Zeitschriften, später auch im Film gefestigt. Eine nicht unwichtige, abseits der Alltagswahrnehmung agierende Gruppe sind die Wissenschaftler, die mit ihren im 19. Jahrhundert zumeist präzise ausgearbeiteten Methoden das koloniale Feld bearbeiten. Allen voran stehen dabei Ethnologie, Anthropologie, Botanik und Geographie, die sich als Expeditionswissenschaften mit den neu zugänglichen Lebensräumen befassen.39 So hat Pratt (1992) gezeigt, wie ein botanisches System, das zunächst zur Erfassung europäischer Pflanzen entwickelt wurde − Linnés Genera Plantarum – zum terminologischen Werkzeug der globalen Erfassung von Pflanzen im 19. Jahrhundert wurde. Einheimische Klassifikationssysteme werden dabei übergangen und geraten in Vergessenheit, etwa solche, die nach medizinischen Wirkungen und nicht nach morphologischen Analogien organisiert sind. Nicht zuletzt die europäische Benennungshoheit kolonisiert in wissenschaftlichen Projekten auf diese Weise über sprachliche, wissensorganisierende Verfahren außereuropäisches Wissen (vgl. Mills 1994). Die dabei aus heutigem Blick exzessiven Klassifikationsverfahren, die Pflanzen ebenso erfassen wie Tiere und die indigene Bevölkerung, sind Teil des gesamteuropäischen Kolonialismus, wie Young (1995) mit seiner Untersuchung zum kolonialen Verlangen zeigt. Das wissenschaftliche Interesse mischt sich dabei vor allem in Eugenik und Rassenbiologie mit den Vorstellungen europäischer Überlegenheit, besonders deutlich ist das im Projekt der Kraniologie. Die Vermessung von Schädeln dient nicht nur der biologischen Taxonomie, sondern weit mehr der naturwissenschaftlichen Begründung rassistischer Überlegenheitsvorstellungen. Die Arbeiten von Foucault (1977) und Agamben (2002) zur neuzeitlichen Ausprägung einer politischen Biomacht sind Schlüssel des Verständnisses dieses naturwissenschaftlichen Forschungsei-
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Ein besonders eindrucksvolles Bild von deutschen Expeditionserfolgen vermittelt noch heute der Ostafrikasaal des Berliner Naturkundemuseums, der die bedeutsamen Funde einer 1909-1913 durch das Berliner Geologisch-Paläontologische Institut organisierten Expedition nach Tendaguru/Ostafrika zeigt.
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fers.40 Wie auch manche Juristen begründen die rassistisch motivierten Lebenswissenschaftler eine natürliche Überlegenheit mit allen daraus abzuleitenden Herrschaftsansprüchen. So befasst sich auch die Medizin, vor allem in Zusammenhang mit der Bakteriologie, mit dem kolonialen Lebensraum, etwa in der Erforschung der Tropenkrankenheiten (vgl. Besser 2004). Vor diesem Hintergrund sollte verständlich sein, dass eine präzise und vor allem hinreichende Nennung aller am deutschen Kolonialdiskurs Beteiligten hier nicht zu leisten und daher auch nicht beabsichtigt ist. Für eine grundlegende Strukturierung des Kolonialkorpus sind aber im Mindesten folgende Akteure zu berücksichtigen: einzelne nichtstaatlichen Kolonialagitatoren kolonialer Verwaltungsapparat Militär Vereinswesen und Lobbyisten Missionsgesellschaften Wirtschaft Massenmedien (Bio)Wissenschaften Medizin
5.2 Themen Bereits in seiner für die Colonial Studies zentralen Arbeit über den Orientalismus hat Said (1978) gezeigt, dass im kolonisatorischen Texten die Häufung von Themen zu beobachten ist; man spricht über alles und nichts, nimmt alles wahr, was die eigene Kolonialperspektive bestärkt und übersieht, was den eigenen Blick trüben könnte. Said geht nun davon aus, dass gerade regelhafte Themenhäufung ein Mittel der kolonialen Perpektivierung und damit Teil einer kolonialen Repräsentationspraxis ist. Der Vielfalt der Akteure des Kolonialkorpus entspricht insofern die Mannigfaltigkeit der darin verhandelten Themen. Viele Dinge liegen noch im Dunkeln und sind durch systematische Analysen der thematischen Struktur von Texten und Paratexten erst aufzudecken. Eine abstrakte thematische Strukturierung ist insofern kaum sinnvoll. Lediglich einige besonders präsente thematische Felder lassen sich hier bereits nennen. 40
Agambens (2002) Trennung zwischen vergesellschaftetem Wesen (zoon politikon) und dem bloßen Leben (la nuda vita), die auf Aristoteles Unterscheidung zwischen bios und zoé in der Nikomachischen Ethik zurückgeht, entspricht die Differenzierung von kolonialistischer Aktion und Kommunikation. Der Gewalt über das biologische Leben der Kolonisierten entspricht die diskursive Kraft der kommunikativen Zurichtung im Diskurs um den Homo Sacer, den vogelfreien Menschen, der in den als staatenlos angesehenen ‚Negern’ bereits im 18. Jahrhundert manifest ist (vgl. Sadji 1979).
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Nützlich ist bei einem derart breit gestreuten Themenverbund wie dem Kolonialismus im Deutschen Reich die methodische Unterscheidung von exoterischer und esoterischer Thematisierung. Während viele Texte erkennbar dem Kolonialdiskurs angehören - wie etwa Artikel einer Vielzahl von kolonialen Zeitungen und Zeitschriften – und Inhalte exoterisch (nach außen gerichtet, laienadressiert) für eine breite Öffentlichkeit thematisieren, finden sich auch zahlreiche beiläufige oder von kleineren Spezialistenkreisen hinterlassene Spuren des Sprechens über die Kolonien. Solche auf den ersten Blick häufig zu übersehende Aussagen sollten aber als esoterische (nach innen gerichtete, fachadressierte) Thematisierung nicht vernachlässigt werden. Die Hierarchisierung von Einzel- zu komplexen Textaussagen bezieht sich im Kolonialkorpus auf immer wiederkehrende Felder. Allen voran steht das Themenfeld der Kolonial- und Überseewirtschaft mit den dazu gehörigen Fragen einer gewinnbringenden Besiedlung und Nutzung der natürlichen Ressourcen. Viele andere Themen in Texten des Kolonialkorpus stehen damit in Beziehung, insbesondere das Themenfeld Fremdheit und Alterität mit den Inhalten ‚Besiedlung fremder Kontinente’, ‚Eroberung fremder Reiche’, ‚Überleben in einer gefährlichen Natur’, ‚Sieg über feindliche Stämme’, ‚das Bild vom infantilen Eingeborenen’ oder die immer wieder thematisierte ‚Unterlegenheit der Schwarzen’.41 Die ferne Fremde bleibt nicht nur imaginierte Welt, sondern ist für die Ausgewanderten, die Kolonialbeamten, für alle in Übersee lebenden Deutschen eine gewohnte Realität, die sich aber mit erwarteten Bildern und diskursiv geprägten Bewertungsmustern mischt. Schilderungen des kolonialen Alltags geben ein Bild davon und sind in Berichten, Briefen und zahlreichen Erinnerungen überliefert. Die privaten Lebensentwürfe weißer Aussiedler, die sich als koloniale Migranten verstehen, reflektieren die Konfrontation von Vorstellung und Realität besonders gut. So zeigt Aldrich (2003) in einer umfassenden Untersuchung, dass die exotistische Vorstellung von Kolonien sich im 19. und 20. Jahrhundert unter anderem mit Phantasien sexueller, insbesondere homosexueller Freiheiten verbin41
Zu bedenken ist, dass der gesamte Diskurs um Afrikaner in Deutschland ambivalent ist. Gerade nach dem ersten Weltkrieg versucht man über die Einordnung der Afrikaner eine Gegenposition zu Frankreich einzunehmen: „Als Gegenbild des in der ‚Schwarze Schmach’-Kampagne mobilisierten Stereotyps des französischen Kolonialsoldaten als ‚schwarzer Vergewaltiger’ ließ sich mit dieser Figur zeigen, dass die Deutschen der (nicht nur) ‚sexuellen Gefahr’, die schwarzen Männern zugeschrieben wurde, Herr geworden und damit die ‚besseren’ Kolonialherren waren.“ (Lewerenz 2006: 10) Keineswegs ist das Bild über Afrikaner im Kolonialsdiskurs also eindimensional, worauf auch bei der Korpusstruktuierung zu achten ist.
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det. In diesem Zusammenhang haben auch die Debatten um die so genannten ‚Mischehen’ und die ‚Rassenmischung’ ihren Platz. Immer wieder begegnen im Zusammenhang privater Impressionen auch Schilderungen der als eindrucksvoll empfundenen fremden Naturlandschaften. Das Leben der Kolonialbeamten und der Militärs ist schließlich nach 1900 besonders durch die massiven Kolonialaufstände geprägt und wird zum Gegenstand von Berichten und Aufzeichnungen. Dies gilt vor allem für DeutschSüdwestafrika von 1904-1907 und Deutsch-Ostafrika von 1905-1908. Ein weites Themenfeld ist die Mission. Heyden/Stoecker (2005: 14) fassen das Spektrum der hier relevanten Fragestellung wie folgt zusammen: In der Historiographie (…) wird seit mehreren Jahrzehnten über Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Mission und Kolonialismus, über die durch die Missionstätigkeit erfolgte Zerstörung autochthoner Kulturen bzw. die dadurch erworbenen zivilisatorischen Segnungen, über Kollaboration der Missionare mit der staatlichen Herrschaft bzw. über ihre Funktion als ‚Anwalt der Eingeborenen’ über die Stellung der Missionare ‚ als Power Broker’ bzw. als ‚Agenten des Kolonialismus’ debattiert.
Die aktuelle Forschung diskutiert vor allem, ob eine systematische Trennung zwischen Missionspraxis und politischer Kolonisierung sinnvoll ist. Zum Themenfeld Mission gehören im Übrigen die kolonisatorischen Bildungsentwürfe ebenso wie sozial- und gesundheitspolitische Konzepte. In den Wissenschaften interessieren während der Kolonialzeit unter anderem die vorgefundenen autochthonen Kulturen und Sprachen, deren Dokumentation und machtpolitisch bedingte Zerstörung gleichermaßen zum Thema werden. Häufig sind mit der Kulturbeschreibung auch Bewertungen verbunden, die jedoch nicht immer zu Gunsten der Kolonisierenden ausfallen. Ein schönes Beispiel für die perspektivische Mischung des Interesses an den Kolonien gibt Carl Gotthilf Büttner (1848-1893), der in einer merkwürdigen Mischung als Missionar sowie Sprachforscher und Dozent am Seminar für orientalische Sprachen Berlin über die Herero-Sprache publiziert, Lieder und Geschichten der Suaheli herausgibt und afrikanische Gesellschaftsstrukturen als Modelle sozialistischer Idealstaaten ansieht. Häufig verbinden sich mit den unterschiedlichen Themen des Kolonialkorpus recht allgemeine und auch in anderen Gesellschaftsgesprächen präsente Fragen, Inhalte und Gegenstände. Allen voran Identitätsdiskurse um Kultur und Nation und nicht zuletzt auch um die Rolle der Geschlechter (vgl. Walgenbach 2005). Bei einer ersten thematischen Orientierung im komplexen Kolonialkorpus sind folgende Felder von Bedeutung:
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Kolonial- und Überseewirtschaft Fremdheit und Alterität Kolonialer Alltag und private Lebensentwürfe Natur und Landschaft Kolonialaufstände Mission autochthone Kulturen und Sprachen Identitätsdiskurse
5.3 Symbolgestalt Die kommunikative Bildung eines kolonisatorischen Bewusstseins erfolgt gewiss nicht allein über Texte im engeren Sinn, also sprachlich verfasste Äußerungen, sondern umfasst auch andere symbolische Formen der Mitteilung. Wenn Fix (2001) für einen erweiterten Stilbegriff plädiert, der neben den sprachlichen Formen auch andere semiotisch komplexe Einheiten in den Blick nimmt, so ist eine Öffnung der Sprachwissenschaft für Randbereiche des Sprachlichen offensichtlich. Gerade die Verbindung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Ausdrucksformen kann wichtige Aufschlüsse über die kommunikative Verfasstheit einer Gesellschaft geben. Neben literalen und oralen Medien sind es Malstile, Musikstile, Lebensstile etc., die als verschiedene Formate des sozialen Verhaltens kulturgeschichtliches Interesse auf sich ziehen. Dies hat für die sprachwissenschaftliche Behandlung eines Gegenstandes wie den deutschen Kolonialismus einige Konsequenzen auch für die Korpusstrukturierung. Profile sprachlicher Ausdrucksformen interagieren häufig mit anderen kulturellen Kodierungsmedien. So ist die Symbolisierung des kolonisatorischen Handelns nicht auf Sprache beschränkt. „Zeichen verschiedener Zeichenvorräte“ (Fix 2001: 118) sind Gegenstand auch einer sprachhistorischen Untersuchung des Kolonialismus am Schnittpunkt zur Semiotik, weil eine Begrenzung auf Sprache kaum sinnvoll erscheint. Die Symbolisierung der kolonisatorischen Identität ist multimodal und multiformal. Wie auch bei anderen zeitgebundenen Themen um 1900 sind für den Kolonialdiskurs als Formen der Themenstreuung und Symbolisierung von Handlungen, Intentionen, Positionen und Inhalten einige Medien zu nennen. Ganz im Sinne des in den Kulturwissenschaften diskutierten iconic turn sind neben den Texten im engeren Sinne vor allem Bildmedien von Interesse, und das heißt in erster Linie Fotografien bzw. Illustrationen. Über Bildmotive, -kompositionen und -ausschnitte etc. werden koloniale Machtverhältnisse ebenso verfestigt, wie sich ethnologisches Interesse, wirtschaftliche Ambitionen, missionarischer Eifer, kurz das ganze Interessenbündel zu den Kolonien manifestiert. Nicht weniger interessant erscheint der
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frühe ethnographische Film, der bereits vor 1910 wichtig wird und zunehmende Bedeutung bei der Aufzeichnung fremder Kulturen hat (vgl. Oksiloff 2001). Zusammen mit den visuellen Formen des massenmedialen Kolonialinteresses, wie sie in Werbeanzeigen, Sammelbildern etc. zugänglich sind, darf man die Bildmedien als zu ihrer Zeit viel beachtete Bausteine einer visuellen Kultur des Kolonialismus verstehen. Das an der Sprache orientierte Interesse an Dimensionen der kolonisatorischen Identität kann durch Berücksichtigung auch dieser Symbolisierungen nur bereichert werden. Nicht nur die Schnittstelle von Sprache und Bild ist aufschlussreich, auch die Korrelationen von textuellen und räumlichen Positionen des Kolonialismus. Offensichtlich ist dies in den Toponymen, also den Ortsbezeichnungen sowohl in den Kolonien als auch in Deutschland selbst. Schon die Bezeichnung der Kolonien als ‚Schutzgebiete’ gibt einen Hinweis auf die euphemistische Verklärung der Fremde, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg anhält in der Vermeidung des Wortes ‚Kolonie’ zugunsten der neutral erscheinenden Benennung ‚Überseegebiet’. Viele Straßennamen, Bezeichnungen für Kleingartenanlagen usw. legen noch heute beredtes Zeugnis von der deutschen Kolonialzeit ab. Ein Beispiel konzentrierter toponymischer Symbolisierung ist etwa das Afrikanische Viertel in Berlin. In dem 1896-1908 errichteten Areal werden ab 1899 die Straßen nach afrikanischen Toponymen und ‚kolonialen Helden’ bezeichnet; den Beginn machen die bis heute existierende ‚Togostraße’ und die ‚Kameruner Straße’. Wenn die Benennung des Raums eindrückliche Hinweise auf koloniale Machtverhältnisse gibt, so manifestiert die Gestaltung kolonialer Räume diese unmittelbar. Es gibt einen ganzen Stadtplanungsdiskurs zur Errichtung eines kolonialen Herrschaftsraums. Die Effekte dieser Raumplanung sind nicht weniger interessant für die kulturwissenschaftliche Sprachgeschichtsschreibung als konstruierte oder dokumentierende Visualität. Bezüge zwischen Sprache und Raum zeigen auch Einrichtungen wie die Kolonialausstellung und Völkerschau. In solchen Ausstellungen/Expositionen wird versucht, das fremde Leben zu simulieren, was in erster Linie wohl der Unterhaltung dienen soll. Schließlich ist die Besetzung des physischen Raums Teil des kolonisatorischen Diskurses, wie das große Interesse an der Erstbesteigung des Kilimandscharo42 im Jahr 1889 zeigt. 42
Am 6. Oktober 1889 erreichte der Leipziger Geograph Dr. Hans Meyer zusammen mit dem österreichischen Alpinisten Ludwig Purtscheller den höchsten Punkt des Kraterrandes. Die damalige „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ (ab 1902-1918) wurde 1961 aus Anlass der Unabhängigkeit Tansanias in „Uhuru Peak“ umbenannt. Man sprach in Kolonialzeiten auch vom höchsten Berg Deutschlands.
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Schließlich sollten wenigstens als Gegenstände im Randbereich eines Kolonialkorpus auch künstlerische Positionen eine Beachtung finden. Nicht zuletzt die Bildende Kunst arbeitet an der kolonialen Sache und prägt zeittypische Zeichensysteme für Fremde, Herrschaft und Exotismus. Versteht sich Sprachgeschichte als Kulturgeschichte, wird sie Interesse an den folgenden Symbolisierungen einer kolonisatorischen Identität zeigen: Texte Fotografien bzw. Illustrationen ethnographischer Film visuelle Formen des massenmedialen Kolonialinteresses Toponyme Raumplanung Ausstellungen/Expositionen künstlerische Positionen
5.4 Handlungsmuster und ihre Textsorten In der Pragmalinguistik geht man davon aus, dass sich Handlungen stets in Handlungsmustern realisieren, die den Status sozialer Regeln besitzen (vgl. Holly 2001: 12). Auch das Sprechen und Schreiben über die Kolonien besitzt eine solche Regelhaftigkeit, aus deren Systematik eine Reihe spezifischer Kommunikationsabsichten abzuleiten sind. Die verschiedenen Handlungsmuster werden von unterschiedlichen Textsorten bedient. Nicht zuletzt für die Entstehung des Kolonialismus in Deutschland sind die Textsorten der Agitation und Propaganda ausschlaggebend. Ein Bündel unterschiedlichster Texte, wie Flugblätter von Kolonialvereinen, Fachmonographien, Eingaben usw. gestaltet den Kommunikationsraum zur vermeintlichen Notwendigkeit von Kolonien. Dabei spielen übersteigerte Szenarien der Überbevölkerung in Europa eine ebenso wichtige Rolle wie ein sozialdarwinistisch legitimierter Kulturationszwang. Agitation und Propaganda ziehen sich dabei wie viele andere Handlungsmuster auch durch das Feld der Akteure, Themen und Symbolgestalten. Das staatliche Handeln in den Schutzgebieten, das sich ja recht bald als absolut notwendig zeigt, weil die agitatorischen Kolonialinvestoren keine Verwaltungsaufgaben übernehmen, drückt sich eher in Textsorten der Direktion und Administration aus. Diese Texte sind durch den zeittypischen Verwaltungsstil geprägt, was nicht heißt, dass in ihnen nicht charakteristische koloniale Haltungen zum Ausdruck gebracht werden. Bei den beschreibenden Texten begegnen einem neutrale Textsorten der Deskription, so in ethnographischen Schriften, neben eher ausschmückenden Textsorten der Narration, wie sie etwa mit den vielen Erlebnisberichten aus den Kolonien zugänglich sind. Gerade die nicht selten beschönigenden Schilderungen exotischen
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Erlebens zeigen den Übergang zu den Textsorten der Imagination recht deutlich, bei denen es kaum mehr um Realitätsverweis geht. Die Einbildung von eigener und fremder Identität steht bei solchen Texten über jeder Form von Sachlichkeit. Nicht unwesentlich sind Texte, die mit Unterstellungen, Stereotypen und Hypostasierungen von vermeintlich typischen Eigenschaften der Kolonisierten arbeiten. Diese Textsorten der Insinuation, in denen man den Schwarzen bzw. ‚Eingeborenen’ Afrikas attestiert, sie seien ‚vertiert blutdürstig’, ‚kleptomanisch’, ‚gefräßig’ und ‚undankbar’ (vgl. Scheulen 1998: 61ff.) sind beste Beispiele für koloniale Projektionsphantasien. Derartige Unterstellungen und Verdächtigungen sind − wie auch der imperialistische Kolonialgestus überhaupt − nicht ohne Entgegnung geblieben. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert gibt es, nicht zuletzt von Kardinal Charles Martial Allemand Lavigerie (1825-1892) ausgehend, eine offenkundige Antisklavereibewegung. Zu den Textsorten des Antikolonialismus gehören auch die zahlreichen Vorschläge kolonialer Reformen.43 Häufig werden dabei zwei Widerstandstypen unterschieden: der Widerstand gegen die koloniale Unterwerfung an sich und der Widerstand gegen einzelne Maßnahmen (vgl. Speitkamp 2007: 210). Ungeachtet dessen sind koloniale Themen unter Einschluss von Stereotypen und exotistischen Fantasien oft auch willkommener Anlass zur Zerstreuung in Textsorten der Unterhaltung und Skandalisierung. Auch bei der Nennung typischer Handlungsmuster und ihrer Textsorten geht es natürlich weniger um die Kennzeichnung deutlich abgrenzbarer textanalytischer Klassen, als um erste Konturen des Kolonialkorpus, die einer vertieften und auch präziseren Kategorisierung in Zukunft dienlich sein mögen: Textsorten der Agitation und Propaganda Textsorten der Direktion und Administration Textsorten der Deskription Textsorten der Narration Textsorten der Imagination Textsorten der Insinuation Textsorten des Antikolonialismus Textsorten der Unterhaltung und Skandalisierung
43
Eine materialreiche Übersicht zum antikolonialen Denken im Kaiserreich legt Schwarz (1999) vor. Darin werden die Positionen der großen Parteien differenziert dargestellt.
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5.5 Phasen Bereits in der Darstellung der Grundlinien einer kolonisatorischen Identität zu Beginn dieses Aufsatzes wurde deutlich, dass die fünfunddreißigjährige deutsche Kolonialgeschichte durch sehr unterschiedliche Motive und Aktivitäten gekennzeichnet ist. Grosses (2000: 22) Vorschlag, drei Phasen zu unterscheiden, ist sinnvoll und kann für die sprachgeschichtliche Binnenperiodisierung modifiziert genutzt werden. Danach ist die Gründungsphase (1884/85 bis 1890) durch die Akquisition der Kolonien und ihre diplomatische Absicherung unter Bismarck gekennzeichnet. Die Expansions- und Krisenphase (1890 bis 1906) ist geprägt durch Eroberungen, Aufstände, militärische Niederschlagungen und innenpolitische Diskussionen. In der Reformphase (ab 1907) unter anfänglicher Leitung des Reichskolonialamtes durch Bernhard Dernburg (1865-1937) konsolidiert sich die deutsche Kolonialmacht zunächst. Beendet wird der deutsche Kolonialismus durch die kriegerischen Auseinandersetzungen im Ersten Weltkrieg. Bei der Untersuchung der deutschen Sprache als Ausweis und Faktor einer kolonisatorischen Identität wird man entsprechend dieser unterschiedlichen Phasen nicht nur fragen, worüber in einer Gesellschaft gesprochen wird, sondern auch wann: Gründungsphase (1884/85-1890) Expansions- und Krisenphase (1890-1906) Reformphase (ab 1907)
6.
Skizzen einer Sprachgeschichte des deutschen Kolonialismus Die Beiträge des Bandes
Der vorliegende Sammelband kann nun angesichts der vielen sprachhistorischen Gegenstände nicht mehr sein als ein Anfang. Die Zurückhaltung der bisherigen linguistischen Forschung, vielleicht auch ihre Scheu vor der historischen Brisanz des Kolonialismus oder gar das Desinteresse an kulturgeschichtlichen Fragestellungen hat dazu geführt, dass eine Sprachgeschichte des deutschen Kolonialismus nicht einmal in ersten Ansätzen erarbeitet ist. Nicht mehr und nicht weniger wird hier versucht. Dabei sind Konzentrationen ebenso unvermeidbar, wie eine gewisse Breite der Themen erstrebt ist. Die Beiträge dieses Buches richten ihre Aufmerksamkeit allein auf den deutschen Kolonialismus in Afrika. Dies mag bedauerlich sein, entzünden sich doch viele exotistische Träume gerade auch an Imaginationen der so genannten Südsee. Gleichwohl ist eine räumliche Eingrenzung des For-
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schungsinteresses zunächst, und nur zunächst sinnvoll. Sie trägt zum Bezug der einzelnen Aufsätze bei und lässt das hier vorgelegte Buch vielleicht als nicht allzu beliebig in seinen Schwerpunkten erscheinen. Zeitlich sind die Untersuchungen auf den faktischen Kolonialismus beschränkt, also auf die Jahre 1884/85 bis 1919. Damit werden viele aufschlussreiche Gegenstände nicht berührt. Weder finden sich Arbeiten zur frühen und wegbereitenden Kolonialagitation noch zur gerade sprachwissenschaftlich so bemerkenswerten Phase des Kolonialrevisionismus, der die Kolonien als kommunikativen Gegenstand weiterleben lässt. Bedenkt man, wie wenig man sich bisher aber überhaupt um die hier interessierenden Gegenstände gekümmert hat, mag auch diese Begrenzung nachvollziehbar sein. Nachteile einer räumlichen und zeitlichen Einschränkung der Arbeiten mögen durch den Versuch akzeptabler sein, verschiedene Themenfelder, Diskursausschnitte, Akteursgruppen und Medien zu behandeln. Die Impulse, die von diesem Buch für eine vertiefte Erforschung der Sprachgeschichte des deutschen Kolonialismus ausgehen sollen, werden ganz unterschiedliche Erkenntnisinteressen wecken. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wäre dabei vermessen. Viele Schwächen und eine gewisse Beliebigkeit mag man einem solchen anfänglichen Projekt zu Recht vorhalten können. Wenn die Lücken und Probleme der Darstellung aber zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Themenfeld ermuntern, wäre ein wichtiges Ziel erreicht. Zunächst thematisiert der Band kolonisatorische Praxis in der Sprachgeschichte des Deutschen, der Sprachplanung und Grammatik. KATJA FAULSTICHS Beitrag untersucht die Fragestellung, ob das Thema Deutscher Kolonialismus in Afrika in der Zeit von 1884 bis 1919 bisher zum Gegenstand germanistischer Sprachgeschichtsschreibung geworden ist. Hierzu werden sprachhistorische Gesamtdarstellungen und ausgewählte Forschungsbeiträge der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart herangezogen. Trotz der Erweiterungstendenzen der Sprachgeschichtsschreibung in den letzten 30 Jahren lautet das Fazit der Untersuchung: Der deutsche Kolonialismus wird in den untersuchten Schriften in der Regel nicht behandelt, vereinzelt negiert, seltener am Rande gestreift und nur in Ausnahmefällen angemessen thematisiert. Anders als die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich hatte das wilhelminische Deutschland kaum Erfahrungen mit Sprachpolitik in den Kolonien. SUSANNE MÜHLEISENS Beitrag befasst sich mit einem Vorschlag zur Etablierung einer deutsch-basierten Kontaktsprache in den Kolonien, dem von Emil Schwörer 1916 vorgestellten Kolonial-Deutsch. Neben seiner Bedeutung als interessante sprachplanerische Kuriosität, bietet Schwörers Entwurf Einblicke in das Verhältnis von Sprache, Nation
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und Ideologie im Wettlauf der europäischen Nationen um die kulturelle Vorherrschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. MATHILDE HENNIGS Beitrag beschäftigt sich mit der deutschen Perspektive auf grammatische Eigenschaften afrikanischer Sprachen während der deutschen Kolonialzeit. Anhand von sechs von deutschen Autoren zwischen 1899-1911 verfassten Grammatiken wird herausgearbeitet, inwiefern das deutsche Kategoriensystem trotz abweichender grammatischer Eigenschaften als Modell für die Beschreibung der einschlägigen Niger-Kongo-Sprachen angewendet wird und welche Schwierigkeiten die Autoren mit der Erfassung von nicht aus dem Deutschen oder Lateinischen bekannten Phänomenen haben. Im Teil zur Sprache als Werkzeug der Kolonisierung und nationalen Selbsterhebung geht es um kommunikative Funktionen sprachlicher Formen. Der Beitrag von UTA SCHAFFERS befasst sich mit Formen und Funktionen der Konstruktion des ‚Fremden/Anderen‘ im kolonialen AfrikaDiskurs. Dabei werden neben konstituierenden Elementen der (Zuschreibungs-)Kategorie ,Fremde/Fremdheit‘ auch Schemata der Inszenierungen des ,Fremden‘ sowie Mechanismen der ,Fremdstellung‘ näher in den Blick genommen. Bei der Untersuchung der Traditionen und Fortschreibungen (narrativer) Repräsentationen des ,Fremden‘ im kolonialen Afrika-Diskurs zeigt sich, dass diesen eine wesentliche Funktion im Kontext des kolonialen Machterhalts sowie der Konstruktion einer ,eigenen‘ nationalen Identität zukommt. Der ‚Hereroaufstand’ des Jahres 1904 war ein Ereignis im Sinne der Diskurstheorie Foucaults. In den Jahren nach 1904 erscheint im Deutschen Reich eine Flut von Texten unterschiedlicher Genres, die dieses Ereignis thematisierten. Der Beitrag von MEDARDUS BREHL untersucht, wie die Geschehnisse in der Kolonie als ‚Ereignis‘ konstruiert werden und welche Strategien der Authentifizierung wirksam sind. Dabei wird gezeigt, wie sozio-kulturelles Wissen entsteht und wie historische Geschehnisse in dieses integriert werden. HILTRUD LAUER untersucht mit diskurslingusitischen Methoden ein Korpus von ‚Raumtexten‘ der Deutschen Kolonialzeitung im Zeitraum zwischen 1884 und 1887 mit der Fragestellung, wie der afrikanische Raum versprachlicht und verfügbar gemacht wird. Mit neuen Gebietsbezeichnungen und mit der Evaluation von wenigen topologischen Einheiten werden die ‚Schutzgebiete‘ ausschließlich mit Bewertungen von Eignung bzw. Nicht-Eignung für das deutsch-koloniale Projekt diskursiv vereinnahmt, wobei sich in der sprachlichen Oberfläche erhebliche Widersprüche und Ambivalenzen zeigen.
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Die indigenen Völker standen der deutschen Kolonialmacht nicht ausschließlich als wehrlose Opfer gegenüber, sondern initiierten auf vielfache Weise Widerstände. Die Duala in Kamerun führten ihren Protest zum Beispiel in Form einer Petitionsbewegung. KATRIN ORTREMBA befasst sich mit diesen Quellen. In den Petitionsdokumenten werden die deutschen Beamten argumentierend kritisiert, da diese mit ihren Handlungsweisen immer wieder die Vereinbarungen des Schutzvertrags brechen. Im Beitrag werden die historischen Quellen diskursgeschichtich eingeordnet. Dass in Sprache und mit Sprache auch Identitäten entworfen werden und diese in der Polarisierung von eigener Nähe und fremder Ferne erscheinen, behandelt der vierte Teil des Buches. Im Beitrag von MICHAEL SCHUBERT wird die deutsche Kolonialpropaganda im maßgeblichen Organ der deutschen Kolonialbewegung, der Deutschen Kolonialzeitung (DKZ), von der Errichtung kolonialer Herrschaft in Afrika 1884 bis zum Ende der Kolonialkriege in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika 1908 analysiert. Eurozentrisch-rassistische Fremdzuschreibungen für Afrika und seine Bewohner, die sich durch die Verwendung spezifischer Topoi an bestimmte Diskursregeln und -grenzen halten, stehen im Mittelpunkt der Analyse. Dabei wird auf den konstruktiven und disponiblen Charakter des Fremdbildes eingegangen. Der Beitrag von SUSAN ARNDT untersucht, wie sich kolonial erzeugtes Wissen lexikalisch in die deutsche Sprache eingeschrieben hat. Er zeigt auf, wie in einem symbolischen Akt der Negierung afrikanischer Begrifflichkeiten in europäischen Sprachen und konkret auch in der deutschen Sprache eine spezifische Terminologie für den kolonialen Raum im Allgemeinen und Afrika im Besonderen entwickelt wurde. Dabei fanden vor allem zwei Strategien Umsetzung: Zum einen wurden neue Wörter erfunden, die abwertend konnotiert sind, wie etwa ‚Häuptling‘ oder ‚Mulatte‘. Zum anderen wurden bereits bestehende Begriffe aus der Botanik (‚Bastard‘) oder der Historiographie (‚Stamm‘) adaptiert. Mehrheitlich bauen diese Begrifflichkeiten auf der Annahme auf, dass Menschen nach ‚Rassen‘ unterteilt werden können. Susan Arndt identifiziert und dekonstruiert diese Konnotationen und untersucht dabei, wie der rassistische Diskurs bis in aktuelle Wörerbücher hinein weitgehend unkritisch tradiert wurde. Dabei diskutiert sie auch Ansätze zur Fragmentierung und Überwindung des rassistischen Diskurses in der deutschen Afrikaterminologie. INKEN WAßMUTH geht der Frage nach, wie sich kolonisatorische Bedeutung von Fremdentwürfen manifestiert. Der Aufsatz ist ein Versuch der Rekonstruktion stereotypischen Wissens der deutschen Sprechergemeinschaft über Afrikaner. Die Analyse sprachlicher Gebrauchsmuster in
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der Zeitschrift Kolonie und Heimat gibt Aufschluss über das imaginierte und kommunikativ erzeuget Bild des ‚Anderen’. Sprachlich zeigt sich eine bipolare Aufteilung im kolonialen Denken, die eine Welt von Gegensätzen suggeriert und der Bildung einer kolonialen Identität dient. Im letzten Teil des Buches geht das Interesse über die Sprache hinaus. Als Exkurs zum Kolonialdiskurs jenseits der Sprache nähert sich WOLFGANG FUHRMANN in seinem Artikel abschließend der historischen Rezeption früher Filme aus den Kolonien. Neben den unterschiedlichen Aufführungskontexten, die in einer Analyse von Filmen aus den Kolonien berücksichtigt werden müssen, zeigt das Beispiel eines kolonialen Reisefilms, wie ein vermeintlich ‚einfacher‘ Film aus der Frühzeit der Kinematographie nicht nur dem Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer gerecht wurde, sondern auch verschiedene Aspekte der kolonialen Ideologie visualisierte.
7.
Literatur
7.1
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II. Sprachgeschichte, Sprachplanung und Grammatik
Katja Faulstich Deutscher Kolonialismus (K)ein Thema der Sprachgeschichtsschreibung? This contribution analyses in how far the issue of German colonialism in Africa between 1884-5 and 1919 has become a subject of German historical linguistics. Sources include relevant language historical textbooks and selected pieces of research literature from the post-war years to the present. As pointed out in the introduction, language historiography has greatly extended its scope of study over the past 20 twenty years and is now characterised by theoretical and methodological pluralism. Despite these tendencies, one has to conclude that German colonialism is not usually dealt with in the sources analysed for this article. A few authors negate it, while others touch upon it only in passing. The texts where the topic is treated in any great depth must be seen as rare exceptions. Possible reasons for this blind spot in language historiography, which are rooted in the history of this academic discipline, are then discussed in the final section. Das wäre meine Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Sprachgeschichte, daß Sprachgeschichte andere Möglichkeiten anderen Denkens in Möglichkeiten anderen Sprechens dartun kann. (Fritz Hermanns)1
1.
Einleitung
Das Thema Deutscher Kolonialismus wurde bislang nur sehr vereinzelt Forschungsgegenstand der Germanistischen Sprachwissenschaft. Bereits 1992 erscheint ein Themenheft Sprache und Kolonialismus der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (Schlieben-Lange 1992), die enthaltenen Beiträge befassen sich jedoch vorrangig mit dem frankophonen Raum. Des Weiteren befassen sich zwei Ausgaben der Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (vgl. Pleines 1984 und 1985) mit der Sprachpolitik zur Zeit des Kolonialismus und dem kolonialen Erbe, allerdings wird das Thema deutsche Sprache und deutscher Kolonialismus in Afrika in keinem der Beiträge aufgearbeitet. In jüngerer Zeit hat Klein (2002) einen Beitrag mit dem Titel Topik und Frametheorie als argumentations- und begriffsgeschichtliche 1
Zitiert nach der Wiedergabe der Podiumsdiskussion des Symposions Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen - Gegenstände, Methoden, Theorien von 1992, siehe Gardt/Mattheier/Reichmann (1995: 458).
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Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs vorgelegt, der zwar einen sprachwissenschaftlichen Zugang zum Thema vorstellt, aber das Phänomen des Kolonialismus nur ansatzweise entfaltet. Eine systematische Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus in der Zeit zwischen 1884/85 bis 1919 steht somit in der Germanistischen Sprachwissenschaft noch aus. Dieser Umstand muss angesichts der zentralen Funktion von Sprache als Vermittlungsmedium von Kultur auf der einen Seite und als konstitutives Macht- und Herrschaftsinstrument auf der anderen Seite überaus verwundern. Darüber hinaus spielt der deutsche Kolonialismus insbesondere für die Herausbildung einer nationalen deutschen Identität eine nicht zu unterschätzende Rolle, für die die Sprache zentrales Medium wie Konstituente ist.2 Der vorliegende Beitrag geht der Fragestellung nach, ob das Thema Sprache und deutscher Kolonialismus ungeachtet des allgemeinen sprachwissenschaftlichen Desinteresses Eingang in die Sprachgeschichtsschreibung gefunden hat, wobei eine Fokussierung auf das in dem vorliegenden Band interessierende Teilthema deutscher Kolonialismus in Afrika in der Zeit 1884/85 bis 1919 erfolgt. Ausgewertet wird eine Auswahl an sprachhistorischen Gesamtdarstellungen der letzten 50 Jahre, hierzu zählen sowohl ein- als auch mehrbändige Monographien und Sammelbände. Des Weiteren werden einschlägige Studien bzw. Tagungsberichte zur Sprachgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts herangezogen. Eine Auswertung der Sprachgeschichtsschreibung vor 1945, d. h. der Sprachinhaltsforschung, der Ausläufer der vorrangig an Lautgesetzen interessierten Junggrammatiker, der idealistisch-geisteswissenschaftlichen Sprachgeschichtsschreibung in Anlehnung an den Romanisten Karl Vossler (vgl. von See 1984: 252) sowie der nationalen bzw. nach 1933 völkisch ausgerichteten Sprachgeschichtsschreibung muss Gegenstand weiterer wissenschaftshistorischer Aufarbeitung bleiben. Wenngleich diese wissenschaftshistorische Rekonstruktion Antworten auf die Frage sucht, ob und in welchem Umfang der deutsche Kolonialismus zum Gegenstand sprachhistorischer Forschung wurde, soll an dieser Stelle nicht der Eindruck entstehen, dass hier ein teleologisches und positivistisches Wissenschaftsverständnis vertreten wird in dem Sinne, dass die vorangegangene Forschung als lediglich defizitär im Hinblick auf ihren 2
Dass die Sprache für die Herausbildung nationaler Identität eine entscheidende Rolle spielt, zeigen insbesondere die Beiträge in dem von Gardt (2000) herausgegebenen Sammelband Nation und Sprache, für den Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhundert ist der Zusammenhang dargestellt in Faulstich (2007). Allerdings ist die Herausbildung einer nationalen Identität der Kolonisierten in der Folgezeit des deutschen Kolonialismus bisher nicht systematisch erforscht.
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Gegenstandsbereich oder ihre theoretischen Programme verstanden wird.3 Es gilt vielmehr zu untersuchen, ob das Thema afrikanische Kolonialgeschichte in der Zeit zwischen 1884/85 bis 1919 zum Gegenstand der sprachhistorischen Arbeiten geworden ist und falls nicht, welche Themen oder Gegenstände in den sprachhistorischen Arbeiten präsent sind bzw. die Darstellung des uns interessierenden Zeitraums dominieren. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich fundiertere Schlussfolgerungen über mögliche Ursachen dieser (ausgebliebenen) Erforschung und Aufarbeitung treffen. Der Rekonstruktion des (Des-)Interesses der Sprachgeschichtsschreibung am deutschen Kolonialismus im dritten Abschnitt werden einige Anmerkungen zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Afrika im öffentlichen Diskurs wie in der Geschichtswissenschaft vorangestellt. Im Rahmen dieses Beitrags kann allerdings kein umfassender Überblick über die Forschungsergebnisse der Kolonialhistoriographie geleistet werden, zumal zum Teil sehr kontroverse Debatten geführt werden und die Bewertung der Kolonialgeschichte in den europäischen Ländern nicht unumstritten ist. Die Ausführungen beschränken sich auf Schlaglichter auf den geschichtswissenschaftlichen Diskurs nach Ende des zweiten Weltkrieges.4 2.
Deutscher Kolonialismus in der öffentlichen Diskussion und in der Geschichtswissenschaft
Der Historiker Gründer schreibt in seiner Einleitung zu seiner erstmals im Jahre 1985 erschienenen Geschichte der deutschen Kolonien über den Umgang der Deutschen mit der kolonialen Vergangenheit: Die deutsche Kolonialgeschichte scheint im Geschichtsbewusstsein der Deutschen und in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 eher eine nebengeordnete und beiläufige Rolle zu spielen. Das mag sowohl aus der Kurzlebig3
4
So besteht heute in der Wissenschaft weitgehend Konsens darüber, dass die Geschichte der Wissenschaft nicht als Prozess stetiger Wissensakkumulation gelesen (und erzählt) werden kann, der gleichzeitig zu einer stetigen Perfektionierung wissenschaftlicher Methoden und Modelle führt. Seinen Niederschlag hat diese Erkenntnis beispielsweise in den Begriffen ‚Paradigmen‛ und ‚Paradigmenwechsel‛ von Kuhn (2006) gefunden. Einen weiteren wissenschaftskritischen Ansatz hat Foucault (1994) in der Archäologie des Wissens vorgestellt, der den Blick auf die Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte lenkt. Im Übrigen liegt ein ebenso detailreicher wie kenntnisreicher Überblick von van der Heyden (2003) vor, siehe insbesondere die in Fußnote 3 referierte Literatur. Siehe auch die Literaturangaben bei Zimmerer (2003) und Eckert (2008).
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Katja Faulstich keit des deutschen Kolonialreiches resultieren, das nur exakt dreißig Jahre effektiven Bestand hatte (1884 - 1914), als auch aus der relativen Folgenlosigkeit dieser historischen Erfahrung für das gegenwärtige politisch-historische Bewusstsein in Deutschland. (Gründer 2000: 9)
Diesem Befund Gründers kommt sowohl für den wissenschaftlichen Diskurs wie auch für die öffentliche Diskussion bis weit in die 1990er Relevanz zu. Besonders in der Öffentlichkeit erfolgt die Beschäftigung mit den Schatten kolonialer Vergangenheit, insbesondere der Vernichtungskriege, nur kursorisch, obwohl Deutschland in seiner nur dreißig Jahre währenden Kolonialherrschaft für zwei der brutalsten Kolonialkriege verantwortlich ist: den Krieg gegen die Herero und Nama im damaligen DeutschSüdwestafrika und heutigen Namibia (1904 bis 1908) sowie den so genannten Maji-Maji-Krieg im damaligen Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) (vgl. hierzu: Zimmerer 2004; Becker/Beez 2005).5 Die Schwierigkeiten einer Bilanz europäischer Kolonialherrschaft reflektiert van der Heyden, der vor Vereinseitigungen und Pauschalisierungen warnt und folgendes Fazit zieht: Die Kolonialgeschichte – auch die deutsche – ist nicht nur eine Geschichte von Entrechtung und Ausbeutung, sondern auch von Anpassung, vom Freisetzen neuer Kräfte, von einer Erweiterung des Horizonts, von Bewältigung neu entstandener »innerer Spannungen« freigesetzt durch den Kolonisierungsprozess, von Übernahme neuer, bislang unbekannter Komponenten einer fremden Welt, von Entstehung besonderer Kunst- und Erinnerungsformen sowohl durch die Kolonisierten als auch durch die Kolonialherren sowie wohl am wenigsten erforscht – der kognitiven Interaktion. Das alles bedeutet jedoch nicht, dass Kolonialismus vor allem aus moralischer Sicht gesehen kein Unrecht war, woraus sich moralische Verpflichtungen zur Wiedergutmachung – nicht unbedingt nur finanzielle – ergeben. (van der Heyden 2003: 419)
Das Vergessen kolonialer Geschichte erstreckt sich somit nicht allein auf die gewalttätigen Traditionen, die in die Geschichte des Kaiserreichs eingeschrieben sind (vgl. Bley 1996) sowie auf die gewaltsame Unterwerfung der Kolonisierten, sondern auch auf die Vielfalt kommunikativer wie kog5
Eine Erklärung dafür, dass die Mehrheit der europäischen Politikerinnen und Politiker sich mit offiziellen Entschuldigungen für die Verbrechen in den ehemaligen Kolonien zurückhält, sind die befürchteten Reparationsforderungen. Erst Entwicklungsministerin Heide Wieczorek-Zeul hat sich im Rahmen einer Gedenkfeier in der namibischen Hauptstadt Windhuk im August 2004 entschuldigt und damit erstmals öffentlich als Vertreterin der Bundesregierung ein moralisches Schuldeingeständnis für die Verbrechen in der Zeit der direkten Kolonialherrschaft abgelegt.
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nitiver Interaktion zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten sowie entsprechende Text-, Bild-, Ton- und Filmdokumente. Eckert (2008: 37) führt diese kollektive Amnesie in seinem Aufsatz Der Kolonialismus im europäischen Gedächtnis ähnlich wie Gründer darauf zurück, dass der deutsche Kolonialbesitz weder von ökonomischer Bedeutsamkeit noch von zeitlicher Dauer war, sodass der Beschäftigung mit dem Thema kaum Bedeutung zugemessen worden sei (Eckert 2008: 37). Er verweist aber auch darauf, dass die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Shoa sowie die Westintegration die politische Agenda Deutschlands im Kontext des Kalten Krieges bestimmt habe. So verwundert es auch nicht, dass der deutsche Kolonialismus nach dem Zweiten Weltkrieg in der deutschen Geschichtsschreibung zunächst weitgehend ignoriert wird. Eine erste Aufarbeitungswelle setzt im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen und der Herausbildung von mehr als 50 Nationalstaaten in Afrika seit Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ein. Die nun entstehenden wissenschaftlichen Darstellungen kommen zu einer revidierten historiographischen Rekonstruktion der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Afrika (vgl. Westphal 1987: 15), die die vorher vorherrschende Rechtfertigung der deutschen Kolonialpolitik ablöst. Für die Debatten nach 1960 klassifiziert van der Heyden (2003: 405ff.) zwei historiographische Werke als Zäsuren, zum einen die Studie Bilanz des Kolonialismus von Perham (1963), die mit der kolonialen Vergangenheit des britischen Empire abrechnet und bereits auf die Auswirkungen der britischen Kolonialzeit hinweist.6 Das Werk sei – so van der Heyden (2003: 406) – als eine Ehrenrettung der Kolonialmacht Großbritannien zu interpretieren, sei aber insofern für die Diskussion in Deutschland eine Bereicherung gewesen, als es die Debatte um die koloniale Vergangenheit auf ein höheres intellektuelles Niveau gehoben habe. Denn bis dahin hätten in der Geschichtsschreibung immer noch Kolonialapologeten wie der faschistische Kolonialexperte Wahrhold Drascher (siehe Rüger 1967) oder der Historiker Gerhard Ritter dominiert, die eine Legitimation der deutschen Expansions- und Kolonialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg anstrebten. Das zweite von van der Heyden (2003: 405ff.) benannte Werk stellt ein Lehrbuch zur afrikanischen Geschichte dar, die Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert des Historikers Harding (2005). Das Werk doku6
Es handelt sich um eine 1961 zuerst in London erschienene und zwei Jahre später ins Deutsche übersetzte und in der Bundesrepublik publizierte Bilanzanalyse der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika.
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mentiert den aktuellen Stand der Debatten um die Bilanzierung des Kolonialismus in Afrika, wobei er fast 40 Jahre wissenschaftliche Diskussion und die dabei hervortretenden unterschiedlichen Positionen darlegt. Er zeigt, dass es nach 1960 nicht an historiographischen Publikationen zur deutschen Kolonialvergangenheit gemangelt hat, dies gilt sowohl für die ost- wie westdeutsche Historiographie, wenngleich die ostdeutschen Afrikawissenschaftler einen deutlichen Forschungsvorlauf hatten, wie die Forschungsbilanz Kolonialgeschichtsschreibung in Deutschland van der Heydens (2003) belegt. Trotz der hervorragenden Publikationen fristet die Diskussion im geschichtswissenschaftlichen Diskurs wie in der breiteren Öffentlichkeit aber zunächst ein Schattendasein. Erst seit den 1990er Jahren haben sich schließlich die Geschichtswissenschaft und andere Disziplinen verstärkt der deutschen Kolonialgeschichte angenommen. Gefördert wurde diese wissenschaftliche Annäherung an den Gegenstand durch die in den USA entstandenen postcolonial studies (siehe Conrad 2001), die eine breitere, kulturwissenschaftliche Erforschung der kolonialen Geschichte Deutschlands motivierten (siehe etwa Kundrus 2003; Honold/Scherpe 2004). Auf zwei Aspekte der jüngeren historiographischen Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Afrika sei an dieser Stelle verwiesen, zum einen die Debatte um den Herero-Krieg, zum anderen die Erforschung kolonialer Erinnerungsorte und Denkmäler. Der HereroKrieg ist in der wissenschaftlichen Diskussion deshalb von besonderer Brisanz, weil er nach Ansicht einiger Historiker und Historikerinnen in Kontinuität zum Nationalsozialismus und zur Shoa steht. Der Historiker Jürgen Zimmerer etwa sieht eine direkte Verbindung Von Windhuk nach Auschwitz, so der Titel einer aktuellen Publikation (Zimmerer 2007). Während die Mehrheit der Historiker dieser Kontinutitätsthese, die die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik in die Tradition des europäischen Kolonialismus stellt, nicht folgt (vgl. etwa Malinowski/Gerwarth 2007), ist seine These, dass der Krieg der deutschen Schutztruppen gegen die Herero und Nama ein Genozid war, heute von vielen akzeptiert. Der zweite hier in den Blick genommene Aspekt betrifft die kolonialen Denkmäler und die Schaffung von Erinnerungsorten (vgl. Zeller 2000). In vielen deutschen Städten werden in den letzten 15 Jahren zahlreiche Kolonialdenkmäler in Antikolonialdenkmäler umgewidmet, so etwa das Reichskolonialdenkmal in Bremen 1989 – ein überlebensgroßer Elefant aus Klinkerstein, das 1931/32 errichtet wurde. Die oftmals aus der Wilhelminischen Zeit stammenden Gedenktafeln werden im Zuge dieser Bewusstmachung kolonialer Vergangenheit durch Erinnerungstafeln ersetzt. Trotz derartiger Anzeichen für einen Wandel im Umgang mit der
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kolonialen Vergangenheit bleibt die Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialismus in der Öffentlichkeit ein sporadisches Bemühen. Diese notwendigerweise knappe Skizze des Umgangs der Geschichtswissenschaft sowie der öffentlichen Diskussion mit dem Thema deutscher Kolonialismus belegt zunächst zweierlei: Zum einen zeigt sie ein weitgehendes Vergessen bzw. Verdrängen des deutschen Kolonialismus, das vor allem mit der kurzen Dauer der deutschen Kolonialzeit sowie mit der Dominanz der historischen Aufarbeitung der Shoa in den gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen wie auch in der Wissenschaft selbst erklärt wird. Erfreulicherweise wird die vergessene bzw. verdrängte Geschichte kolonialer Eroberungspolitik Deutschlands aber in den letzten Jahren zunehmend wissenschaftlich erforscht und aufgearbeitet (vgl. die Literaturangaben in Eckert 2008). So hat die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und ihrer Repräsentation in literarischen wie nichtfiktionalen Texten und anderen Medien vor einer Rezeption in der Germanistischen Sprachwissenschaft Eingang in die deutsche Literaturwissenschaft, insbesondere die Filmwissenschaft, gefunden.7 Zum anderen ist der Kolonialismus ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität der Deutschen und in seiner konstitutiven Wirkung für die Entstehung derselben – gerade in Abgrenzung zu nationalen, ethnischen oder kulturellen Identitäten der Kolonisierten – noch weitgehend unerforscht. 3.
Deutscher Kolonialismus in der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung
Die kontrastive Analyse der Sprachgeschichten der letzten 50 Jahre ist einer zweifachen Simplifizierung geschuldet, die vorab dargelegt werden soll. Nachfolgend sind Sprachgeschichten unterschiedlicher theoretischmethodologischer Provenienz und mit zum Teil erheblich divergierenden Gegenstandsbereichen versammelt. Es soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, dass es je ‚eine‛ deutsche Sprachgeschichtsschreibung gegeben hätte. Zweitens sind die Sprachgeschichten unterschiedlichen nationalen Entstehungskontexten zuzuordnen, da sie zur westlichen Inlandsund Auslandsgermanistik sowie zur ‚DDR-Germanistik‛ und zur östlichen Auslandgermanistik gehören. Die folgende Darstellung ist insofern stark 7
Stellvertretend für die Vielzahl kultur- und literaturwissenschaftlicher Arbeiten seien genannt Honold (2002) sowie Honold (2004), Dunker (2004), Bechhaus-Gerst (2006) sowie für die Filmwissenschaft Fuhrmann (2004).
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vereinfachend, als sie die Vielfalt theoretischer und methodischer Ansätze in einem historischen Längsschnitt abbildet und die verschiedenen Entstehungskontexte der Schriften und die Biographien der Verfasser nicht ausführlich thematisiert werden können. In historischer Perspektive werden 3 Etappen unterschieden: Im ersten Abschnitt werden Sprachgeschichten der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre herangezogen. Zweitens sollen Sprachgeschichten von Beginn bis Ende der 1990er Jahre betrachtet werden. Im dritten Abschnitt schließlich werden kurz einige lehrorientierte Sprachgeschichten behandelt, die nach 2000 erschienen sind. Um die Untersuchung der Sprachgeschichten der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart wissenschaftshistorisch einordnen zu können, werden vorab wichtige Entwicklungen in der Sprachgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart skizziert. 3.1
Wissenschaftshistorische Anmerkungen zur Sprachgeschichtsschreibung seit 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verliert sich das Interesse am ‚Völkisch-Nationalen‛ und damit auch das Interesse an einer gesamtgeschichtlich begründeten Sprachgeschichte. Die Sprachgeschichtsforschung bemüht sich, die Wechselwirkung zwischen der Sprache und ihrem politisch-gesellschaftlichem Umfeld nicht allzu hoch einzuschätzen (vgl. von See 1984: 256). Ebenso gehört die Orientierung sprachhistorischer Arbeiten an den Junggrammatikern der Vergangenheit an (vgl. Wolf 1993: 173). Für die Germanistik in Deutschland prägend ist seit den 1960er Jahren die Rezeption strukturalistischer Theorie. Für die Folgezeit lässt sich ein Diktat der Synchronie (so der Aufsatztitel von Wolf 1993) festhalten. Dies gründet allerdings weniger auf der tendenziell angelegten Präferenz der Synchronie bei de Saussure als auf dem Übergewicht strukturalistischer Arbeiten, die diese in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen (vgl. Wolf 1993: 174f.). Die strukturale Linguistik mit Ausnahme der Prager Linguistik blendet die Geschichtlichkeit der Sprache weitgehend aus (vgl. von Polenz 1984: 5).8 Die eigentliche ‚geschichtliche Erforschung‛ außersprachlicher Bezüge und Bedingtheiten von Sprache wird lange weitgehend unabhängig von der strukturalen bzw. generativen Linguistik als Sprachgeschichte nach traditionellen bzw. intuitiven Methoden weiter betrieben (vgl. von Polenz 1984: 5). Hierzu zählen nach von Polenz die nachfolgend berücksichtigten Sprachhistoriker: Bach (1970), Frings 8
Andere Ansätze wurden vorgelegt von Coseriu, Trier und Weisgerber. Die „Dogmatisierung geschichtsferner diachronischer Linguistik“ (von Polenz 1984: 5) wurde am konsequentesten von Coseriu kritisiert (Coseriu 1974).
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(1957), Tschirch (1971-1975), Eggers (1963-1977) sowie Sonderegger (1979). Insbesondere seit Mitte der 1960er Jahre ist die Germanistik gekennzeichnet von Selbstverständigungsdiskursen, die die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie die methodologischen und theoretischen Grundlagen des Fachs betreffen (vgl. Bogdal/Müller 2005: 7). Diese Zeit gilt „als eine der wichtigsten Umbruchsphasen“ (Voßkamp 1991: 19) der Germanistik im 20. Jahrhundert. Hervorstechende Zäsur ist der Münchner Germanistentag 1966, auf dem die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und eine Aufarbeitung der Phase der völkisch-nationalistischen Literatur- und Sprachbetrachtung eingefordert wird (vgl. Dainat 1993: 208). Bis 1970 werden schließlich eine Vielzahl thematisch-inhaltlicher, methodisch-theoretischer, organisatorischinstitutioneller ‚Umbauten‛ sowie personelle Umbesetzungen folgen (Bogdal/Müller 2005: 8), in deren Gefolge Reformuniversitäten gegründet werden, die universitäre Lehrerbildung neu geordnet wird und schließlich neue Fachgebiete entstehen: Linguistik und Didaktik. Linke schätzt deshalb den Zäsurcharakter ‚der 1968er‛ für eine Neuorientierung der Sprachgeschichtsschreibung in Bezug auf die Gegenstände, Fragestellungen, Theorien und Methoden als weitaus bedeutsamer ein, als die Zäsur von 1945 (vgl. Linke 2003: 27). Eine weitere, wesentliche Neuorientierung in der Sprachgeschichtsforschung erfolgt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im Zuge der Herausbildung einer sprachpragmatischen Ausprägung der Sprachgeschichte (vgl. Sitta 1980; Warnke 1994: 358ff. und Linke 2003). Kennzeichnend für die pragmatische Sprachgeschichtsschreibung ist ein verstärktes Interesse am historischen Sprachgebrauch und eine Öffnung der Untersuchungsperspektive über die sprachlichen Daten hinaus auf die situativen Kontexte und die historisch gebundenen kommunikativen Funktionen sprachlicher Verwendungsweisen auf der einen Seite sowie auf die sprachexternen Faktoren von Sprach(gebrauchs)veränderung auf der anderen Seite (vgl. Linke 2003: 31). Die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte unterstreichen vor allem die kulturelle Dimension der Sprachgeschichte (vgl. die ausführliche Darstellung in Linke 2003 sowie Gardt/HaßZumkehr/Roelcke 1999). Für die letzten 15 bis 20 Jahren lässt sich mit Mattheier darüber hinaus eine ungeheure Ausweitung des Gegenstandsbereichs ‚Deutsche Sprachgeschichte‛ (Mattheier 1995) feststellen, die der verstärkten soziokommunikativen und soziopragmatischen Einbettung
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geschuldet ist (Mattheier 1995).9 Bis heute hat sich in der Sprachgeschichtsschreibung eine bemerkenswerte Pluralität theoretischer Zugänge, ein enorme Ausweitung des methodischen Apparats sowie eine kaum noch zu überschauende Vielfalt der Gegenstände herausgebildet.10 Insbesondere gehört zur Geschichte historischer Einzelsprachen eine „Bewusstseinsgeschichte“ (siehe Sonderegger 1979: 1ff. sowie Scharloth 2005) bzw. eine Geschichte der Sprachreflexion der Kommunikationsgemeinschaft (vgl. u.a. Gardt 1994; Bär 1999; Stukenbrock 2005 sowie Faulstich 2008). 3.2 Sprachgeschichten der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre Wie bereits erläutert, setzt unsere Auswertung sprachhistorischer Gesamtdarstellungen und einschlägiger Monographien und Sammelbände erst nach 1945 ein, wenngleich der wissenschaftshistorische Abriss zeigt, dass mit diesem Datum kein umfassender Neubeginn der Sprachwissenschaft verbunden ist, sondern verschiedene Strömungen der Sprachgeschichtsschreibung bzw. der Sprachwissenschaft im Allgemeinen weiter bestehen und zum Teil weitergeführt werden, wie etwa die inhaltsbezogene Sprachwissenschaft Weisgerbers. Frings führt als einer der bedeutendsten deutschen Sprachhistoriker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine in den 1930er Jahren entwickelte Theorie zur Entstehung der neuhochdeutschen Standardsprache in der Nachkriegszeit fort. Mit dieser grenzt er sich von bisherigen Erklärungsversuchen ab, insbesondere der Schule um Burdach. Bekanntermaßen geht Frings davon aus, dass der Ausgleich der regionalen Varianten des Deutschen nicht in der Schriftsprache, sondern in der gesprochenen Sprache erfolgt sei. Seiner Ansicht nach stellt das Meißnische Deutsch die Grundlage der Standardsprache dar (vgl. Frings 1936). Wenngleich Frings Sprachgeschichte in das Feld der Kulturgeschichte einbettet, ist seine Sprachtheorie volkskundlich orientiert. Der 1956 erschienene Band Sprache und Geschichte (Frings 1956) enthält zum einen Frings Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache aus dem Jahre 1938. Des Weiteren sind in dem Band ältere Beiträge zur Sprachund Kulturgeographie, insbesondere rheinischer Gebiete versammelt. Die 1957 nochmals veröffentlichte Grundlegung einer Geschichte der deutschen Spra9 10
Daneben bleibt insbesondere die Erforschung der Geschichte der gesprochenen Sprache – selbst für das 20. Jahrhundert – ein wichtiges Desiderat, wenngleich für einzelne Aspekte erste Arbeiten vorliegen (vgl. beispielsweise Ágel/Hennig 2006). Vgl. zur diskurslinguistischen Sprachgeschichtsschreibung insbesondere den von Warnke (2000) herausgegebenen Sammelband.
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che (Frings 1957) ist der älteren Sprachgeschichte verpflichtet und behandelt: I. II. III. IV.
Sprachgeographie und Kulturgeographie. Sprache, Staat, Kirche. Römisch und Germanisch. Aufbau und Gliederung des deutschen Sprachgebietes Westgermanisch, Ingwäonisch, Deutsch Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache
Die lange vor Frings diskutierte Frage nach der Herausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache bleibt eine der Kernfragen der Sprachgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und wird von verschiedenen Sprachhistorikern seit den 1960er Jahren unterschiedlich beantwortet.11 Dass die hier untersuchten Sprachgeschichtsdarstellungen vorrangig der Darstellung der Entstehung der Standardsprache eine wesentliche Bedeutung zumessen, werden die weiteren Ausführungen zeigen. Der DDR-Germanist Kögler hat 1956 eine Einführung in die Geschichte der deutschen Sprache vorgelegt (Kögler 1956). Es handelt sich um ein Lehrbuch für Studierende. Das Neuhochdeutsche wird behandelt in Kapitel D. Die Weiterentwicklung unserer Nationalsprache von 1700 bis zur Gegenwart (Kögler 1956: 95-124). In diesem Kapitel wird Gottscheds Wirken für die Vereinheitlichung der Nationalsprache behandelt sowie die Vereinheitlichung der Aussprache und der Orthographie und Veränderungen im Wortschatz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Das Kapitel endet mit einer Auflistung von Entlehnungen im 18. und 19. Jahrhundert und behandelt außerdem den Einfluss des „faschistischen Jargons“ (Kögler 1956: 118ff.) auf den Wortschatz sowie die Rolle der Dichter für die Entstehung der Nationalsprache. Die deutsche Kolonialzeit wird nicht thematisiert, die knappe Einführung in die Sprachgeschichte des Deutschen fokussiert im Wesentlichen die Entstehung der Standardsprache. Der Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Politik rückt lediglich in Form einiger weniger Bemerkungen zum Einfluss des Nationalsozialismus auf die Sprache in den Blick. Die russische Germanistin Guchmann (1969) skizziert in ihrer Sprachgeschichte ebenfalls primär den Weg zur deutschen Nationalsprache, worunter sie die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache versteht. Sie skizziert u. a. die Ausbreitung der ostmitteldeutschen Literatursprache und die Herausbildung einer einheitlichen literatursprachlichen Norm und beschreibt im elften Kapitel Ge11
Die Diskussion kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, verwiesen sei aber auf den Forschungsüberblick bei Kriegesmann (1990) sowie Wegera (2007).
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setzmäßigkeiten der Herausbildung einer deutschen Nationalsprache. Sowohl die Einführung in die Sprachgeschichte Köglers als auch die Arbeit Guchmanns belegen, dass nicht nur die westliche Inlandsgermanistik bzw. Sprachgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit der Frage nach der Herausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache besondere Bedeutung zumisst. Während Guchmann (1969) die Sprachgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts völlig außer Acht lässt, finden sich bei Kögler (1956) nur einige skizzenhafte Anmerkungen zum Nationalsozialismus. Eine Berücksichtigung der deutschen Kolonialvergangenheit fehlt in beiden Sprachgeschichten. Neben der Grundlegung einer Geschichte der Sprache von Frings (1957) liegt mit der Geschichte der deutschen Sprache von Bach (1970) ebenfalls eine dem ‚sprachgeographischen‛ Paradigma in der Sprachgeschichte verhafteter Beschreibungsansatz vor. Bachs Sprachgeschichte erscheint zuerst 1938 und wird in der 9. Auflage von 1970 herangezogen. Auch die 9. Auflage zeigt, dass Bach der Volkstumideologie und in Teilen der völkischen Ideologie der Zeit des Nationalsozialismus verhaftet bleibt. So heißt es da: Jede neue Generation junger Deutscher wächst also – durch Abstammung und Umwelt von vornherein zu ihr in ein Verhältnis besonderer Aufnahmefähigkeit gesetzt – hinein in die Welt der dt. Sprache und gewinnt so erst Anteil an der geschichtl. Gewordenen dt. Welt und ihre feste Eingliederung in den dt. Volkszus.hang; sie erwirbt so erst die letzte Möglichkeit, das überkommene dt. Volkstum in die Zukunft zu tragen. Der Kampf um Bestand und Reinheit der dt. Sprache ist daher ein Ringen um den Bestand, die Einheit und den Geist des dt. Volkes in der Zukunft. Deutsche Sprache wird so deutsches Schicksal – heute mehr denn je. (Bach 1970: 474)
An dieser Stelle kann nur auf die Problematik derartiger sprachideologischer Kurzschlüsse verwiesen werden, da in diesem Beitrag eine andere Fragestellung verfolgt wird. Das 19. Jahrhundert wird vorrangig im Hinblick auf die regionalen Varietäten, die Fremdwortproblematik und die Literatursprache abgehandelt, wobei auch sozialgeschichtliche Entwicklungen angerissen werden. Im § 160 finden sich laut Register Hinweise auf Entlehnungen aus afrikanischen Sprachen, der Abschnitt beginnt wie folgt: Die mit dem ausgehenden 15. Jh. einsetzende Eroberung der Welt durch die europ. Völker wie die Entstehung eines Welthandels brachten eine Fülle von Ausdrücken aus den Sprachen der neuentdeckten Länden in den dt. Wortschatz. Wir haben diese Entwicklung in dem vorhergehenden Zeitabschnitt ihren Anfang nehmen sehen […] und verfolgen hier an wenigen Beispielen ihre weitere Entfaltung Wenn das Dt. meist erst durch die Vermittlung anderer europ. Spra-
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chen in den Besitz dieser Wörter gelangte, so hat dies seinen Grund darin, daß das deutsche Volk keine Kolonien erwarb. (Bach 1970: 319)
Der Leser ist sicherlich geneigt, der These zuzustimmen, dass viele Entlehnungen aus den afrikanischen Sprachen erst durch die Vermittlung anderer Sprachen ins Deutsche gelangten. Erstaunlich ist aber die Tatsache, dass Bach behauptet, dass die Deutschen keine Kolonien erworben hätten. Zwei Sprachgeschichten, die der strukturalen bzw. generativen Linguistik zuzurechnen sind, seien an dieser Stelle erwähnt, die Einführung in die historische Linguistik von Lehmann (1969) sowie die gleichnamige Einführung von Boretzky (1977). Sie stellen keine Einführung in die Sprachperioden des Deutschen samt seiner sozialgeschichtlichen Bedingungen dar, sondern haben vielmehr abstrakte innersprachliche Probleme zum Untersuchungsgegenstand wie etwa Sprachsystemwandel, Systemlücken, Übergang von einem Sprachstadium zu einem anderen, Zusammenfall von Phonemen, Regelzuwachs und Regelverlust usw.(vgl. von Polenz 1984: 5). Tschirch (1975) hat im zweiten Teil seiner kultur- und wortgeschichtlich ausgerichteten Geschichte der deutschen Sprache die Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache ausführlich beschrieben. Die Darstellung des uns interessierenden Zeitraums 1884/85 bis 1919 spielt keine zentrale Rolle in seiner Sprachgeschichte.12 Im Gegensatz dazu lässt sich eine andere Schwerpunktsetzung beobachten: Entlehnungen im Neuhochdeutschen, Sprachpurismus und Fremdwortproblematik werden ausführlich diskutiert. So findet sich für das 19. Jahrhundert eine ausführliche Beschreibung des Sprachsystemwandels. Als politisch-gesellschaftlicher Entwicklung wird lediglich der Nationalsozialismus kurz in seiner Wirkung auf die deutsche Sprache behandelt, während das Thema deutscher Kolonialismus nicht zum Gegenstand der Darstellung wird (vgl. Tschirch 1975: 258).13 12 13
Dies gilt auch für die erste Auflage seiner Sprachgeschichte (Tschirch 1969). In dieser findet sich im Wort- und Sachverzeichnis nur der Eintrag Kolonisationsstädte, ostdt. S. 96, 136, der sich auf ostdeutsche Siedlungsgebiete bezieht. Tschirch führt aus: „Aus diesen Erörterungen ergibt sich, daß die typischen Wendungen der NS-Zeit in Wahrheit keine Schöpfungen der Nationalsozialisten sind, sondern bis zum Überdruß wiederholte Wortschablonen, die sie im zeitgenössischen Dt. vorfanden oder gemäß seinen Entwicklungsgesetzen mechanisch weiterbildeten und sie als spezifische Termini für ihre Parteisprache ursupierten. Aber kann man Bildungen, die im Zuge der allgemeinen Sprachentwicklung vor 1933 entstanden sind, anlasten, daß die NaziSprache nach ihnen gegriffen, sich ihrer mit besonderer Vorliebe bedient und sie vielfach in einem bestimmten, oft schrecklichen Sinn entstellt hat? Jedenfalls ist diese lingua tertii imperii nach 12 Jahren mit dem jämmerlichen Ende des ‚Tausendjährigen Reichs‛ wie ein Spuk verflogen.“ (Tschirch 1975: 258)
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Der 1979 veröffentliche (erste) Band der Sprachgeschichte von Sonderegger ist der Darstellung der Diachronie des deutschen Sprachsystems verpflichtet und überwindet die Aneinanderreihung von Sprachstufen. Darüber hinaus werden im Gegensatz zu den bisher angeführten Schriften theoretische wie methodologische Grundlagen der Sprachgeschichte ausführlich vorgestellt und diskutiert. Während das erste Kapitel über die Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung Auskunft gibt, wird im zweiten Kapitel die Geschichte der Sprachbezeichnung Deutsch vom Frühmittelalter bis zur Neuzeit dargelegt. Der Beschreibung der genealogischen Herkunft im dritten Kapitel schließt sich die Behandlung der Periodisierungsproblematik des Deutschen an, das fünfte und letzte Kapitel erörtert konstante und inkonstante Entwicklungstendenzen in der äußeren Sprachgeschichte wie im Hinblick auf das Sprachsystem selbst. Wenngleich das uns in diesem Beitrag interessierende Thema des deutschen Kolonialismus nicht behandelt wird, ist die vorliegende Sprachgeschichte doch Ausgangspunkt einer Neuorientierung in der Sprachgeschichtsschreibung, die ihren methodologischen wie theoretischen Bezugsrahmen um bewusstseins- und kulturgeschichtliche Fragestellungen erweitert. Die 1986 erstmals erschienene Einführung in die Diachrone Sprachwissenschaft von Bauer (1992) ist ein Lehr-, Studien- und Übungsbuch für Germanisten. Das Neuhochdeutsche wird im neunten Kapitel unter folgenden Aspekten behandelt: Die Entstehung der Standardsprache (Schriftsprache) von den ersten Ansätzen des Ausgleichs bis zu Luther, die Ausbildung der Schriftsprache als Sprache der Dichter und Literaten, neuere Sprachregelung. Eine Darstellung sozialgeschichtlicher Bedingungen des 19. Jahrhunderts fehlt ebenso wie Ausführungen zum deutschen Kolonialismus, dies gilt im Übrigen auch für die überarbeitete Auflage von 1992. Die beiden Teilbände der zuerst 1984/85 erschienenen Sprachgeschichte (Besch/Reichmann/Sonderegger 1984/85) aus der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft stehen explizit in der Tradition einer kulturhistorisch orientierten Sprachforschung (vgl. Besch/ Reichmann/Sonderegger 1984:V). Sie sind somit Ausdruck der eingangs dargelegten pragmatisch-kulturorientierten Sprachgeschichtsschreibung seit den 1980er Jahren. Die Konzeption wird im Vorwort ausführlich erläutert und begründet: Die wesentlichen Aussagen dieser Konzeption lauten in heutiger theoretischer Fassung: Sprachen werden von Menschen gesprochen; Sprechen ist Handeln; dies geschieht erstens prinzipiell in kommunikativen Situationen gegenüber Mitmenschen; es geschieht drittens nach geschichtlich erlernten, sozial gültigen, aber dennoch (oder gerade deshalb) variablen und veränderbaren Regeln. [...] Indem sich die Herausgeber in die Tradition der Bemühungen um größere Ein-
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sicht in die Funktionszusammenhänge von Sprechen und Sprache stellen, ist eine Beschränkung des Gegenstandes dieses Handbuches auf ein zumindest in der methodischen Isolierung letztlich als ungeschichtlich konzipiertes homogenes System von Zeichen und Regeln ausgeschlossen. Im Gegenteil, Sprechen und Sprache sind in allen ihren mündlichen und schriftlichen Ausprägungen, in ihrer räumlichen, sozialen, gruppenspezifischen und situativen wie selbstverständlich in ihrer geschichtlichen Dimension, in ihren individuellen und sozialen Variationsmöglichkeiten, in ihrer Bedingtheit durch die Kultursysteme und als Bedingung für diese zu beschreiben. Dies sollte für alle hierarchischen Ebenen der Sprache vom Phonem/Graphem bis zum Text hin erfolgen. (Besch/ Reichmann/ Sonderegger 1984:Vf.)
Die beiden Teilbände dokumentieren denn auch neben der Fülle der Gegenstände des Fachs die volle Bandbreite der theoretischen wie methodologischen Diskussion. Der Leser kann sich über die Vielzahl der sprachhistorischen wie wissenschaftshistorischen Fragestellungen informieren, wenngleich selbst derartig monumentale Projekte – wie die Herausgeber im Vorwort selbst einräumen – verständlicherweise nie die volle Bandbreite der Gegenstände, Theorien und Methoden abbilden können. Der Zusammenhang von Sprach- und Kulturgeschichte wird insbesondere im Kapitel I Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte sowie in Kapitel VII Das Deutsche im Sprachkontakt behandelt. Für unsere Fragestellung finden sich in der ersten Auflage aber keine einschlägigen Artikel. Im Sachregister finden sich zum Themenkomplex Kolonialismus drei Einträge: koloniale Ausgleichssprache, omd. 1787, Kolonialniederländisch 925, Kolonistensprache, nl. – im Nd. 359. Sie zeigen, dass für die Sprachgeschichtsschreibung unter ‚Kolonien‛ vorrangig die ostdeutschen Siedlungsgebiete subsumiert werden, in denen das Ostmitteldeutsche entsteht. Die Aufsätze zum Neuhochdeutschen im zweiten Teilband (Besch/Reichmann/ Sonderegger 1985) schließlich behandeln mehrheitlich das 17. Jahrhundert, das 19. Jahrhundert spielt eine untergeordnete Rolle. Der 1989 von Cherubim und Mattheier herausgegebene Band Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert (1989) versammelt die Beiträge eines Kolloquiums von 1986 zu den Themen: Periodisierungsproblematik, Sprache und Sozialgeschichte, Verstädterung, Bildungsbürgertum, Sprache der Arbeiterschaft, Industrialisierung, Sprachkritik, Wissenschaftssprache u.a. Die Auflistung ist zwar unvollständig, vor allem im Hinblick auf das uns interessierende Thema, Ziel der Tagung war aber zunächst das Abstecken eines Forschungsfeldes, das, wie die bisherigen Ausführungen zeigen, bis dahin vernachlässigt wurde: die Sprachgeschichte der jüngeren Vergangenheit.
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3.3 Sprachgeschichten der 1990er Jahre Eggers (1992) befasst sich im zweiten Band seiner 1992 in einer überarbeiteten Fassung erschienenen Deutschen Sprachgeschichte mit dem Neuhochdeutschen und gliedert die Darstellung wie folgt: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.
Ein neues Hochdeutsch – Neuhochdeutsch Gelehrte und Dichter im Hochbarock (ca. 1650 bis 1680) Zwischen Barock und Aufklärung (ca. 1830 bis 1730) Aufklärung und Empfindsamkeit (ca. 1720 bis 1770) Auf dem Wege zur Spracheinheit Weg zur Höhe (ca. 1750 bis 1790) Bestimmtheit hier – Gestimmtheit dort (Ca. 1790 bis 1830) Sprache des Bürgertums (ca. 1830 bis 1870) Sprache im Wandel der Gesellschaft (nach 1870)
Wenngleich seine Sprachgeschichte stärker als die seiner Vorgänger sozialgeschichtlich ausgerichtet ist (auch für die Zeit nach 1870), zielt auch er im Wesentlichen darauf, die Entstehung der neuhochdeutschen Standardsprache darzulegen (Eggers 1992: 367ff.). Die vorangestellte Kapitelübersicht zeigt, dass der Schwerpunkt hierbei auf dem 17. und 18. Jahrhundert liegt. Berücksichtigt werden besonders die geistes- und literaturgeschichtlichen Entwicklungen dieser Zeit. Die Sprachgeschichte nach 1870 legt zum einen sozialgeschichtliche Entwicklungen (wie Reichsgründung, Daten zum Schulwesen etc.) dar, zum anderen werden die Entstehung einer einheitlichen Standardsprache sowie einer überregionalen Umgangssprache und die Sprache der Großstadt beschrieben. Wenngleich sich einige Ausführungen zum Thema Sprache und Politik finden, wird der deutsche Kolonialismus nicht zum Gegenstand. Die Deutsche Sprachgeschichte von Wolff (1994) ist als Studienbuch konzipiert und behandelt in der herangezogenen dritten Auflage die für uns relevante Zeitspanne im Kapitel Deutsche Sprache von ca. 1830 bis 1920: Bürgerkultur und Realismus (Wolff 1994: 180-207). Wolff grenzt diese Periode von den anderen Sprachperioden ab und erläutert allgemeine Charakteristika, äußere Rahmenbedingungen, die Bürgerkultur, mediengeschichtliche Veränderungen, die wachsende Ideologisierung des Bürgertums (Wolff 1994: 184f.) sowie sozialgeschichtliche Entwicklungen wie die Industrialisierung. Er erläutert zwar kurz die Ursachen des gesteigerten Nationalbewusstseins um die Jahrhundertwende (Wolff 1994: 184f.), berücksichtigt aber weitere Entwicklungen wie Imperialismus und Kolonialismus nicht. Die weiteren Ausführungen, insbesondere für die Zeit nach 1920, widmen sich im Wesentlichen der Entstehung der deutschen Standardsprache. Ein Blick in die überarbeitete Neuauflage zeigt, dass für die Darstellung des
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untersuchten Zeitraumes nur marginale Veränderungen vorgenommen wurden (vgl. Wolff 2004). Schildt ist einer der prominentesten Vertreter der ‚DDR-Germanistik‛. In der Kurzen Geschichte der deutschen Sprache (Schildt 1991) behandelt er Das neuzeitliche Deutsch, das die Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts umfasst (Schildt 1991: 128-161), und zwar im Hinblick auf den Wandel der Gesellschaftsstruktur, die Entstehung einer modernen Gesellschaftsordnung, Dialekte und die nationale Literatursprache (Schildt 1991: 132ff.). Insgesamt werden sprachinterne wie sprachexterne, sozialgeschichtliche Entwicklungen der deutschen Sprache dargelegt. Als zentrale sozialgeschichtliche Entwicklungen berücksichtigt Schildt die Französische Revolution, die Befreiungskriege, die wirtschaftliche Entwicklung, die Entstehung der Arbeiterklasse, die Reichsgründung von 1871, die Sprachverwendung der Nationalsozialisten sowie das Wortgut des Rassismus und Militarismus (Schildt 1991: 142ff.). Auch hier bleibt festzuhalten: Der deutsche Kolonialismus wird nicht behandelt. Die 1986 zuerst erschienene Sprachgeschichte von Keller (1995) berücksichtigt soziohistorische, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge sprachlicher Kommunikation. Seine umfassende Beschreibung der Entwicklungen auf phonologischer wie morphologischer Ebene beruht auf der strukturalen Linguistik. Die Zeitspanne 1884-85 bis 1919 wird in Kapitel 7 Klassische Literatursprache und das heutige Deutsch (Keller 1995: 454609), genauer im Kontext der Ausführungen zum Zeitalter und Sprachgebiet (Keller 1995: 462-470) behandelt. Hier findet sich eine differenzierte Beschreibung der Sprachgrenzen des Deutschen, wobei Keller explizit auf überseeische Kolonien und Auswanderungsprozesse verweist: Die Auswanderung Deutscher nach Übersee hat nirgends zu einer dauerhaften und sicheren Vergrößerung des deutschen Sprachgebiets geführt. Die älteste Sprachkolonie ist diejenige, die nach 1683 durch Auswanderung von Pfälzern und anderen Südwestdeutschen nach Pennsylvania entstanden ist. Obwohl das Pennsylvaniadeutsch oder Pennsylvania Dutch, wie die deutsche Kolonistenmundart oft genannt wird, über zwei Jahrhunderte hinweg blühte, sind die Sprecher immer mehr zum Englischen übergewechselt, das als geschriebene Sprache dient. Sein Sprachgebiet ist geschrumpft. Andere isolierte Siedlungen von Mennoniten und Hutteriten in Nordamerika […] blieben und bleiben klein. In der früheren deutschen Kolonie Südwestafrika gebrauchen ein paar Siedler immer noch ihre Muttersprache. (Keller 1995: 469)
Das Kapitel ist allerdings vorrangig der Entstehung der Standardsprache gewidmet, deshalb nimmt die Darstellung der Diskussion um das Hochdeutsche seit dem 18. Jahrhundert breiten Raum ein. Die Beschreibung
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des Wortschatzes des Gegenwartsdeutschen ist vorrangig auf den Zusammenhang von Ideologie und Wortschatz gerichtet (vgl. Keller 1995: 586ff.). Im Mittelpunkt der Darstellung steht der Einfluss des Nationalsozialismus auf den deutschen Wortschatz (Keller 1995: 592ff.) sowie Entlehnungen in der deutschen Sprache (Keller 1995: 95ff.). Die von dem englischen Auslandsgermanisten Wells 1990 vorgelegte und ins Deutsche übersetzte Sprachgeschichte bis 1945 ist auf die Lehrtätigkeit in Oxford zugeschnitten (vgl. Wells 1990: Vorwort, IX). Der in diesem Aufsatz interessierende Zeitabschnitt fällt bei Wells in das IX. Kapitel: Die moderne Periode (1800 – 1945): I Einheit und Vielfalt sowie das nachfolgende Kapitel X: Die moderne Periode (1800 – 1945): II Semantik, Sprachreinigung und Politik (Wells 1990: 414-452). Die Darstellung umfasst gesellschaftsgeschichtliche Aspekte wie etwa die Entstehung der Stadtbevölkerung und die steigende Mobilität des Bürgertums sowie politisch-kulturelle Entwicklungen, wobei hier vor allem der Einfluss der Französischen Revolution und deren Auswirkungen auf Deutschland und die deutsche Sprache sowie die Revolutionszäsuren von 1830, 1848 und 1918 in den Fokus rücken. Neben der Beschreibung wichtiger politischer Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und ihren Auswirkungen auf die Sprachgeschichte behandelt Wells vorrangig die Herausbildung der deutschen Umgangssprache im Spannungsfeld der regionalen Varietäten. Die Beschreibung der Zeit von 1800 bis 1945 im zehnten Kapitel (Wells 1990: 414-452) umfasst vordringlich die sprachlichen Auswirkungen des Purismus, die Politisierung der deutschen Gesellschaft und den Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Teilkapiteln Die politischen Ideologien und ihre sprachliche Auswirkungen (Wells 1990: 429-434), Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache (Wells 1990: 434-435), Propagandaapparat und Sprache (Wells 1990: 437-440), Nationalsozialistischer Stil und Rhetorik (Wells 1990: 440-443), Einzelne Stränge und Quellen der nationalsozialistischen Sprache (Wells 1990: 443-450) nimmt dabei breiten Raum ein, d. h. die Zeit nach 1900 wird völlig von der Darstellung des Themas Nationalsozialismus und deutsche Sprache dominiert. Im Umfeld der Beschreibung des späteren Purismus des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins fällt zwar ein Hinweis auf deutsche Kolonien, allerdings wirkt dieser zufällig und erhält auch keine weitere Kommentierung: Der Einfluß des Sprachvereins konnte selbst die höchste politische Ebene erreichen: 1902 schreibt [Otto] Sarrazin [Präsident des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins von 1900 bis 1921] an den Reichskanzler von Bülow hinsichtlich des verdorbenen Deutsch, das in Deutsch-Südwest-Afrika gesprochen werde und erhält eine verständnis-innige Antwort. Ein neugegründeter Zweigverein in
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Windhoek (1900-1) zählte 1903 bereits 101 Mitglieder, während Wien es im selben Jahr lediglich auf 92 brachte. (Wells 1990: 427)
Über die Sprach- und Gesellschaftsgeschichte in Deutsch-Südwest-Afrika erfahren wir an dieser Stelle nichts, ebenso wie der Kolonialismus keine weitere Berücksichtigung findet. Den Gegenstandsbereich der Sprachgeschichtsforschung und -schreibung am Ende des 20. Jahrhunderts dokumentieren zwei Großpublikationen, zum einen die dreibändige Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (von Polenz 1991-1999) sowie zum anderen die vierbändige Neuauflage der Sprachgeschichte aus der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Besch et al. 1998/2000/2003/2004). Zunächst soll die Sprachgeschichte des Trierer Linguisten von Polenz in den Blick genommen werden. Die deutsche Sprachgeschichte wird in den drei Bänden im Kontext der politischen, medialen und soziokulturellen Entwicklungen dargestellt. In diesem Sinne ist Sprachgeschichte ein Bestandteil der Gesellschaftsgeschichte überhaupt. Der dritte Band befasst sich mit dem 19. und 20. Jahrhundert und stellt gleichzeitig den umfangreichsten der drei Bände der Polenzschen Sprachgeschichte dar. Das Kapitel Deutsch in der Zeit des Nationalismus und der Industriegesellschaft (von Polenz 1999: 1-576) beginnt mit einer einführenden Darstellung des Nationalismus, der Industriegesellschaft und des Sprachbewusstseins als sozialgeschichtliche Epochenmerkmale (von Polenz 1999: 1-9). Im nachfolgenden Teilkapitel Staat, Wirtschaft und Gesellschaft von 1800 bis 1933 wird die historische Entwicklung vom Ende des Heiligen Römischen Reiches bis hin zum Beginn der nationalsozialistischen Diktatur dargestellt. Der Kolonialismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wird an dieser Stelle soziohistorisch eingebettet (vgl. von Polenz 1999: 108-162: Bismarckzeit, Wilhelminische Zeit), wobei Verbindungen zum Nationalismus aufgezeigt und radikalnationalistische Vereine wie der Deutsche Kolonialverein genannt werden (vgl. von Polenz 1999: 27), wenngleich die Ausführungen überaus knapp gehalten sind. An dieses Kapitel inhaltlich anschließend wird in einem umfangreichen Kapitel zur sprachenpolitischen Entwicklung die Unterdrückung und Tolerierung von Sprachminderheiten zum Gegenstand (von Polenz 1999: 108-162). Der Abschnitt 6.4.1 Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges umfasst: A-C: Deutsch, Französisch, Italienisch und Bündnerromanisch in der Schweiz – D-G: Deutsch und Französisch im Elsass und in Ost-Lothringen – HI: Deutsch und Französisch in Luxemburg – J: Deutsch und Französisch in Ost-Belgien – K: Deutsch und Niederländisch an der Sprachgrenze – L: Deutsch, Niederdeutsch und Friesisch in Ost- und Nordfriesland – MN: Deutsch und Dänisch
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Katja Faulstich in Süd- und Nord-Schleswig – OP: Deutsch und Sorbisch in der Lausitz – Q–T: Deutsch und Polnisch, Masurisch, Kaschubisch, Litauisch in den preußischen Ostprovinzen und Polen – U: Österreich-Ungarn allgemein – V: Deutsch und Slowenisch in Süd-Kärnten – X: Deutsch und Italienisch in Südtirol – Y: Deutsche Sprachminderheiten außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets – Z: Jüdischdeutsch/Jiddisch.
Dieser sehr umfassende Überblick über ausgewanderte Deutschsprachige im Ausland sowie über verschiedene Sprachminderheiten, der zudem in drei historische Abschnitte unterteilt wird, enthält nur eine kurze Anmerkung über die afrikanischen Kolonien. So heißt es dort: In Südafrika war schon Ende des 18. Jh. über die Hälfte der Siedler deutschsprachig, von den Niederländern nicht als Fremde empfunden, also relativ bald assimiliert oder zweisprachig (Bodenstein 1993). Nur gering war die Zahl der deutschen Auswanderer in deutsche Kolonien in Afrika (1913: 23.000), davon die Hälfte in Südwestafrika, da die expansiv imperialistische Phase der deutschen Kolonialpolitik erst in den 1890er Jahren begann (K. E. Born 1994: 123ff.).
Neben den dargelegten soziohistorischen Entwicklungen sind als zentrale Themenfelder zu nennen: Entwicklung der Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Entwicklung der Massenmedien und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Sprachentwicklung, Herausbildung der Standardsprache, Fremdwortpurismus, Sprachkritik, Varietäten des Deutschen sowie Politische Sprache. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Neuauflage der Sprachgeschichte aus der Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Besch et al. 1998) zeigt, dass die Darstellung der Entwicklung des Neuhochdeutschen vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts um einige Beiträge, insbesondere zur jüngeren Sprachgeschichte sowie zu weiteren Themenfeldern der sprachsystematischen wie sprachexternen Sprachentwicklung, bereichert wurde. Die in diesem Abschnitt zum Neuhochdeutschen versammelten Beiträge liefern einen überaus fundierten und relativ umfassenden Überblick über die soziokulturellen Voraussetzungen des Neuhochdeutschen und die Entwicklung des Sprachsystems seit dem 17. Jahrhundert auf allen Hierarchieebenen der Sprache. Insbesondere wurden für das 19. Jahrhundert aufgenommen der Beitrag von Mattheier zur Durchsetzung der Standardsprache (Mattheier 2003) und ein Beitrag von Maas zur Sprache im Nationalsozialismus (Maas 2003). Als weiteres zentrales Thema, das uns bereits in den anderen Sprachgeschichten als zentrales Themenfeld germanistischer Sprachge-
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schichtsschreibung begegnet ist, ist der Bereich Sprachpurismus zu nennen (vgl. den Überblick von Kirkness 1998). Wenngleich im vierten Band der HSK-Sprachgeschichte zwei Beiträge der Sprachkontaktgeschichte gewidmet sind, bleiben auch hier die afrikanischen Kolonien unberücksichtigt. Nichtsdestotrotz ist eine enorme Bandbreite erfasst, so werden im Abschnitt Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte folgende Sprachkontaktbereiche behandelt: Lateinisch/Deutsch, Griechisch/Deutsch, Französisch und Provencalisch/Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch, Ungarisch/Deutsch, Slavisch/Deutsch, Jiddisch/ Deutsch, Baltisch, Skandinavisch/Deutsch, Niederländisch/Deutsch, Friesisch/Deutsch, Britisches Englisch und amerikanisches Englisch/Deutsch
Im nachfolgenden Abschnitt Das Deutsche im Sprachenkontakt II: Aspekte der Sprachgrenzbildung des Deutschen fällt der Blick auf: Geschichte der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Westen, Geschichte der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Süden, Geschichte der deutschungarischen und deutschslawischen Sprachgrenze im Südosten, Geschichte der deutsch-skandinavischen Sprachgrenze, Geschichte der deutsch-friesischen und deutsch-niederländischen Sprachgrenze.
Das Sachregister der Neuauflage der Sprachgeschichte liefert folgende Einträge zum Stichwort Kolonien: Kolonialdialekte des Frnhd. II 1516, koloniale Ausgleichssprache I 514, II 1088, III 2258, Kolonialniederländ. Einfluss im Omd. IV 3293, Kolonisation Brandenburg III 2678, Kolonistensprache, nl. I, 506. Es zeigt sich, dass – wie bereits in der ersten Auflage – Kolonialsprache in der Regel mit der ostmitteldeutschen kolonialen Ausgleichssprache im 11.13. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird (vgl. Frings 1956). Das von Wimmer 1991 herausgegebene Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache mit dem Titel Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch behandelt eine große Bandbreite von Themen: Bürgertum und Sprachgeschichte, die Presse im 19. Jahrhundert, Arbeitersprache, privater und öffentlicher Sprachgebrauch, parlamentarischer Sprachgebrauch und Gesetzessprache, journalistische Textsorten, parlamentarischer Sprachgebrauch, Sprache und Antisemitismus, Sprachenpolitik sowie Sprachkritik. Die Aufarbeitung des Themas Sprachenpolitik gegenüber fremdsprachigen Minderheiten im 19. Jahrhundert berücksichtigt „Polen“ an der Ruhr, das Elsass, die k.(u.)k. Monarchie, das Jiddische und die Situation des Judendeutschen. Die außereuropäische, imperialistische Sprachpo-
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litik und das koloniale Expansionsbestreben, die zweifelsfrei in diesen Themenkomplex einzubinden sind, bleiben aber außen vor. Der von Cherubim u.a. 1998 herausgegebene Band Sprache und bürgerliche Nation. Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts wird eingeleitet von einem Beitrag von Mattheier zum sprachhistorischen Forschungsstand und zu Perspektiven der Forschungsentwicklung zum 19. Jahrhundert (Mattheier 1998: 1), der einige für die in diesem Beitrag verfolgte Fragestellung wichtige Bemerkungen enthält. Wenngleich für einzelne Varietäten bzw. einzelne Aspekte durchaus Forschungsbeiträge vorlägen (vgl. hierzu insbesondere die Literatur bei Mattheier 1998: 30-45), sei für das 19. Jahrhundert durchaus ein erheblicher Forschungsbedarf zu konstatieren. Dieser lasse sich u.a. darauf zurückführen, dass es sich bei der Erforschung des 19. Jahrhunderts um kein institutionell fassbares Forschungsgebiet der deutschen Sprachgeschichte handele, mit den entsprechenden Periodika, Fachkongressen etc. (vgl. Mattheier 1998: 8). Für unsere Fragestellungen aufschlussreich ist die Aufzählung von Forschungsarbeiten, die in den Zeitraum 1978 bis 1998 fallen. Diese sind vorrangig der Literatur- und Theatergeschichte, der Mediengeschichte, Schul- und Lesegeschichte gewidmet. Für das sozialgeschichtlich entscheidendere Feld der Geschichte des Bürgertums sind in dem genannten Zeitraum weitaus weniger Beiträge entstanden (vgl. Mattheier 1998: 10). Die lange Liste an Desiderata, die Mattheier samt eines möglichen Forschungskorpus anführt, lässt sich zweifelsfrei ergänzen um den Bereich Deutsche Sprache und Kolonialismus. Für das 20. Jahrhundert sei schließlich noch das Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache aus dem Jahr 1998 herangezogen, das sich mit dem 20. Jahrhundert befasst (Kämper-Jensen/Schmidt 1998). In diesem Sammelband skizziert von Polenz (1998a) die Verschärfung des deutschen Sprachnationalismus seit 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu einem Sprachimperialismus als bewusst versuchte oder tatsächliche Sprachverdrängung, eines Zwangs zum Sprachwechsel, der in letzter Konsequenz zum Sprachentod führe (von Polenz 1998a: 12). Mühelos lässt sich an dieser Stelle die Frage nach sprachimperalistischen Tendenzen in den afrikanischen Kolonien Deutschlands anschließen. Der Band Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts von Linke (1996) zeichnet ein vielschichtiges Bild der Sprachkultur des Bürgertums im 19. Jahrhundert; beleuchtet werden etwa bürgerliche Konversationsformen, bürgerliche Geselligkeit und Gespräch. Die Darstellung ist deshalb vorrangig auf den privaten Raum fokussiert, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass der öffentlich-politische Diskurs allenfalls eine nebengeordnete Rolle spielt.
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Abschließend seien zwei sprachhistorische Darstellungen angeführt, die vorrangig auf die sprachsystematische Entwicklung gerichtet sind, und zwar die Sprachgeschichten von Frey (1994) und Schweikle (1996). Freys Einführung ist ebenso wie die von Schweikle als Lehrbuch für den universitären Betrieb ausgestaltet. Beide Sprachgeschichten widmen sich vorrangig der Lautgeschichte des Deutschen, die detailliert dargestellt wird. Demzufolge findet sich – ebenso wie in der Einführung Schweikles – keine Darstellung der Sprachstufen des Deutschen im Kontext der Sozialund Kulturgeschichte. 3.4 Lehrorientierte Sprachgeschichten seit 2000 Abschließend fällt der Blick auf einige lehrorientierte Sprachgeschichten, die in den letzten Jahren erschienen sind bzw. neu aufgelegt wurden. Die Kleine deutsche Sprachgeschichte von Brundin (2004) befasst sich mit der Geschichte der deutschen Sprache von ihren Anfängen bis zum 19. Jahrhundert. Die deutsche Sprache wird im Kontext der gesellschaftlich-sozialen, politischen und kulturellen Strömungen dargestellt. Berücksichtigt wird insbesondere die sprachpolitische Geschichte des Deutschen sowie die Sprachbewusstseinsgeschichte oder Sprachreflexion. Die Zeitspanne des deutschen Kolonialismus wird im zehnten Kapitel Deutsche Sprache im 19. Jahrhundert (Brundin 2004: 181-210) behandelt. Brundin erörtert sowohl den sozialgeschichtlichen Hintergrund als sie auch explizit auf die Frage der Nationalstaatsbildung verweist (Brundin 2004: 181ff.). Der (Sprach-) Nationalismus und die Frage der nationalen Identität werden zwar angesprochen, eine Thematisierung imperialistischer bzw. kolonialistischer Strömungen des 19. Jahrhunderts findet sich allerdings nicht (Brundin 2004: 183ff.). Die Einführung in die deutsche Sprachgeschichte von Ernst (2006) enthält ein Kapitel Das 19. Jahrhundert (Ernst 2006: 177-197). Dieses wiederum umfasst zwei Abschnitte: die Rolle der Schriftsteller sowie die Sprache der Schriftsteller. Ernst zeichnet hier unter Bezugnahme auf maßgebliche Sprachkundler des 19. Jahrhunderts die Entstehung der Standardsprache nach. Im siebten Kapitel Von etwa 1875 bis heute (Ernst 2006: 209-232) werden zum einen die sprachlichen Vereinheitlichungsbestrebungen und die deutsche Sprache nach 1945 dargestellt. Neben der Darstellung der Herausbildung der Standardsprache und wichtiger Norminstanzen des 19. Jahrhunderts nimmt die Beschreibung des Purismus des 19. Jahrhunderts breiten Raum ein, außerdem werden für die neuere Sprachgeschichte die Sprache des Faschismus, die deutsche Sprache nach 1945, DDR-Deutsch sowie Tendenzen der Gegenwartssprache dargelegt.
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Die dritte lehrorientierte Sprachgeschichte dieser Zusammenschau wurde von Stedje 1994 erstmals vorgelegt und ist 2007 in Zusammenarbeit mit Prell in überarbeiteter Fassung vorgelegt worden, wobei die Grundkonzeption beibehalten wurde (Stedje 2007). Das Neuhochdeutsche wird im Kapitel Der Weg zur deutschen Standardsprache (Stedje 2007: 172-195) unter folgender Schwerpunktsetzung behandelt: der historischsoziale Hintergrund, der Wortschatz als Spiegel geistiger Strömungen und technischer Entwicklung, Sprachpflege und erste Normierungsversuche, Sprachgesellschaften, die Zeit bis 1900: Festigung und Durchsetzung der Norm (Stedje 2007: 180f.), die klassische Literatursprache als Vorbild und nationale Hochsprache (Stedje 2007: 181f.), die Verbreitung einer standardsprachlichen Norm (Stedje 2007: 180f.), neues Interesse für den Purismus (Stedje 2007: 184f.), englischer Einfluss und Internationalismen (Stedje 2007: 185f.), die Brüder Grimm und die historische Sprachwissenschaft (Stedje 2007: 186f.), gefolgt von der Darstellung der Entwicklung des neuhochdeutschen Sprachsystems (Stedje 2007: 188ff.). Im nachfolgenden Kapitel Deutsch von heute (Stedje 2007: 195-261ff.) werden kulturgeschichtliche Entwicklungen und der Wortschatz skizziert. Der historisch-soziale Hintergrund wird dabei ebenso zum Gegenstand wie das deutsche Sprachgebiet; es folgt ein historisch-sozialer Rückblick auf die geschriebene Sprache von 1900 bis 1945 sowie Teilkapitel für die Zeit nach 1945, außerdem finden sich weitere Ausführungen zur Entwicklung des sprachlichen Systems sowie zu den Entwicklungstendenzen im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Interessanterweise findet sich an dieser Stelle ein Hinweis auf die deutschsprachige Bevölkerung in Namibia (Stedje 2007: 197), es überwiegen allerdings die Anmerkungen zum Thema Sprache und Nationalsozialismus. Zuletzt sei auf die Einführung Historische Sprachwissenschaft des Deutschen von Nübling (2006) verwiesen. Diese versteht sich vorrangig als Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels, insofern handelt es sich um keine ‚herkömmliche‛ Darstellung sprachhistorischer Perioden samt ihrer soziohistorischen Rahmenbedingungen, sondern allein um eine Aufarbeitung des Phänomens des Sprachwandels in der Sprachgeschichte. Demgemäß werden behandelt: I. Die Ebenen des Sprachwandels (phonologischer, morphologischer, syntaktischer, semantischer, lexikalischer, pragmatischer und graphematischer Wandel), II. ebenenübergreifender Sprachwandel (Ablaut und Umlaut, Grammatikalisierung, Analyse und Synthese, typologischer Wandel).
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Vom Ende der Amnesie
Der Blick in die einschlägigen Sprachgeschichten und sprachhistorischen Forschungsarbeiten zeigt, dass eine systematische Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus in der deutschen Sprachgeschichtsforschung noch aussteht. Der im zweiten Abschnitt erläuterte Befund, dass in der Geschichtswissenschaft die Aufarbeitung erst in den letzten 10 bis 15 Jahren verstärkt aufgenommen wurde und dass die Diskussion in der Öffentlichkeit lediglich kursorisch geführt wird, kann allenfalls die Gebundenheit der Sprachgeschichtsschreibung an gesamtgesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse aufzeigen und das Desinteresse der Sprachgeschichte insofern plausibel machen. Für die innerdisziplinäre Wissenschaftsgeschichte aber kann diese Erklärung nicht ausreichen. Einige mögliche Gründe für die bisherige Nichtbeachtung des Themas in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung, die die in diesem Beitrag präsentierte Untersuchung sprachhistorischer Gesamtdarstellungen sowie einzelner, ausgewählter Forschungsbeiträge und Tagungsberichte nahelegt, seien deshalb an dieser Stelle zusammenfassend benannt und um einige Überlegungen für die zukünftige sprachhistorische Erschließung des Themenfeldes Deutsche Sprache und Kolonialismus ergänzt: i.
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In den untersuchten Sprachgeschichten und sprachhistorischen Forschungsbeiträgen dominieren zwei Hauptthemen in Bezug auf die Darstellung des 19. und 20. Jahrhunderts: die Herausbildung der Standardsprache sowie die Aufarbeitung des Themas Sprache und Nationalsozialismus. Eine wichtige Rolle spielt zusätzlich der Sprachpurismus und das Phänomen der Entlehnungen. Forschungsgeschichtlich steht die Erforschung der Herausbildung der Entstehung der deutschen Standardsprache in einer langen Tradition. Gleichwohl ist in den letzten 15 Jahren eine enorme Ausweitung des Forschungsfeldes erfolgt, diese Entwicklung dokumentiert nicht zuletzt die vierbändige Neuauflage der HSK-Sprachgeschichte (Besch et al. 1998ff.). Insofern ist von einer stetigen Gegenstandserweiterung der Sprachgeschichtsschreibung zu sprechen, die einher geht mit einem wachsenden Pluralismus der Theorien und Methoden. Darüber hinaus zeigt sich, dass der deutsche Kolonialismus nur in einigen wenigen Sprachgeschichten Erwähnung findet. Die jeweiligen Nennungen beispielsweise von deutschen Sprechergemeinschaften in Namibia werden aber relativ kontextlos präsentiert und bleiben für den Leser wenn nicht unverständlich, so doch eine Randnotiz. Eine singuläre Erscheinung ist allerdings die explizite Negation der Existenz deutscher Kolonien wie sie in der Sprachgeschichte Bachs (1970: 319) begegnet. Eine Ausnahme stellt die Darstellung bei von Polenz (1991-1994) dar, wenngleich die Ausführungen zum deutschen Kolonialismus sehr knapp gehalten sind. Nun ist zunächst einzuwenden, dass die Erforschung der Entstehung der deutschen Standardsprache zweifelsfrei ein wichtiger und sinnvoller Gegenstand der historischen Sprachforschung darstellt. Die Entstehung einer Standardsprache auf der Basis staatlicher, regionaler, sozialer, kultureller wie sprachlicher Diversität in den deut-
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Katja Faulstich schen Territorien galt schon den Sprachkundlern des 17. und 18. Jahrhunderts als überaus bemerkenswert und erklärungsbedürftig und ist in jüngerer Vergangenheit vor allem unter sprachbewusstseinsgeschichtlichen Fragestellungen zum Forschungsgegenstand geworden (Faulstich 2008). Dennoch ist der Klage Mattheiers (1981: 4f.) uneingeschränkt zuzustimmen, dass auf Grund dieser Engführung der Sprachgeschichtsschreibung andere sprachhistorische Problemstellungen aus dem Blick geraten sind, deren Erforschung nicht minder von Bedeutung ist. Neben der Erforschung der Herausbildung der deutschen Standardsprache besitzt die Erforschung des Themenkomplexes Sprache und Nationalsozialismus einen besonders hohen Stellenwert in den untersuchten sprachhistorischen Gesamtdarstellungen, wobei auf die Vielzahl weiterer Einzelstudien zur Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus nur hingewiesen werden kann. Dieser Befund ist wenig verwunderlich, nicht zuletzt auf Grund der nach 1945 zunächst ausgebliebenen, und dann nur zögerlich erfolgten Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, insbesondere der personellen Kontinuitäten in der Verwaltung und Wissenschaft, die mit dem Umbruch der 1960er dann geradezu exzessiv verfolgt wurde.14 Verwunderlich bleibt aber die Tatsache, dass die imperialistische Politik sowie der Kolonialismus, die ja beide bedeutsame Signaturen des 19. Jahrhunderts und mit den totalitären Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts verbunden sind, bei der umfassenden Analyse des Themenkomplexes Sprache und Nationalsozialismus so lange unberücksichtigt blieben. Somit gilt für die Sprachgeschichtsschreibung wie für die Historiographie insgesamt, dass die Analyse des Nationalsozialismus die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit wenn nicht verhindert, so doch zumindest verzögert hat. Folgt man der von Mattheier (1985: 5) präsentierten Übersicht über die Gegenstandsbereiche der Sprachgeschichte, lässt sich der Themenbereich Deutsche Sprache und Kolonialismus zweifach verorten: Zum einen ist seine Erforschung Teil einer Sprachkontaktgeschichte, zum anderen fällt seine Analyse in den Bereich der Sprachbewusstseinsgeschichte bzw. Sprachreflexion. Für diesen Bereich wiederum relevant wären Fragen nach der Herausbildung eines deutschen Nationalbewusstseins der Kolonisierenden und der Herausbildung und Verstärkung des deutschen Nationalbewusstseins in Deutschland durch den Kolonialismus.15 Ein wichtiges Desiderat für die Sprachwissenschaft und insbesondere die Sprachgeschichtsforschung ist ferner die Frage, inwiefern die Identitäten der Kolonisierten und die der Kolonisierenden über Sprache miteinander in Beziehung stehen, inwiefern die medial über Filme, Zeitungen und Zeitschriften, Romane, Postkarten und Sammelbilder etc. vermittelten Elemente sowie die sprachlichen Elemente des Kolonialdiskurses die Identitäten sowohl der Kolonisierten als auch der Kolonisierenden geprägt, beeinflusst oder verändert haben.16 Der sich in den letzten 15 Jahren entwickelnde Methoden- und Theoriepluralismus und die aufgezeigte Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Sprachgeschichtsschreibung ist insofern nicht Ausdruck völliger Belie-
Den ‚Umbau‛ der Sprachwissenschaft von 1918 bis 1945 hat Knobloch (2005) unlängst umfassend dokumentiert. In dem von Cherubim u.a. (1998) herausgegebenen Sammelband befassen sich zwei Beiträge mit dem Zusammenhang von Nation und Sprache: Barbour (1998) und von Polenz (1998b). Die Sprachgeschichtsforschung kann dabei auf neuere Erkenntnisse benachbarter Disziplinen zurückgreifen, vgl. etwa die Beiträge in Bechhaus-Gerst (2006).
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bigkeit, sondern führt zu Kernfragen einer kulturorientierten Sprachgeschichtsschreibung. Falls die Sprachgeschichte das bis heute vorherrschende Desinteresse am deutschen Kolonialismus ablegt, könnte sie in entscheidender Weise dazu beitragen, dass die von Eckert (2008) beschriebene kollektive Amnesie im Hinblick auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands ein Ende findet. Dabei ist – analog zur Forderung nach einer europäischen Sprachgeschichtsschreibung (Reichmann 2001) – eine europäische Rekonstruktion des Kolonialismus gefordert, die über die nationalstaatliche Binnendifferenzierung hinausgeht (vgl. Eckert 2008: 38).
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Susanne Mühleisen Zwischen Sprachideologie und Sprachplanung Kolonial-Deutsch als Verkehrssprache für die Kolonien1 Despite Germany’s colonial enterprise between 1884/5 and 1919, German has not become a world language. At the time when Germany entered the colonial power scene, English or English-based contact varieties had already been firmly established as a medium of communication in most parts of the world. Germany had no experience with overseas language politics, and attempts at establishing the German language in the colonies remained rudimentary. During World War I, when the race for political, economic and cultural dominance between the colonial powers reached its peak, some suggestions were made for the creation of a simplified German for international communication (Baumann 1916) as well as for communication in the colonies (Schwörer 1916). Schwörer’s proposal for Kolonial-Deutsch, a German-based contact variety mainly intended for use in colonial Deutsch-Südwestafrika, is not only a historical footnote of colonial language politics, but also an interesting example of an artificial language that seeks to imitate the simplification processes of natural contact varieties. This article first looks at the ideological and language political motivation for the creation of Kolonial-Deutsch. It will then scrutinize the language structural choices made in Schwörer's proposal and discuss their possible influences (English-based pidgins, Bantu languages, foreigner talk). Some selected features of this artificial language will be compared with natural German-based contact varieties (Gastarbeiterdeutsch, Unserdeutsch, Küchendeutsch) before a tentative prognosis of a potential success of Schwörer’s proposal will be made.
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Sprache, Nation und Ideologie im Kontext der wilhelminischen Kolonialpolitik
Anders als andere europäische Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch ist Deutsch keine Weltsprache geworden – und daran hat auch Deutschlands kurze Phase als Kolonialmacht nichts geändert. Zur Zeit des Beginns des deutschen Kolonialversuchs, in den Jahren 1884/85, war Englisch längst auf allen Kontinenten als Muttersprache von Siedlern, als Verkehrssprache oder als Kontaktvarietät etabliert, während deutschsprachige Gemeinschaften außerhalb Europas vornehmlich auf religiös1
Dieser Aufsatz ist eine veränderte, aktualisierte und erweiterte Version eines früheren Artikels über Kolonial-Deutsch, der in der elektronischen Zeitschrift Philologie im Netz (www.phin.de) erschienen ist (Mühleisen 2005). Ich danke Tobias Döring für Anregungen zu diesem Thema.
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weltanschauliche Gruppierungen (z.B. die Amish Gemeinschaft in Pennsylvania) limitiert blieben.2 Das Wilhelminische Deutschland konnte also zur Zeit der Gründung seiner Kolonien keine Erfahrung mit überseeischer Sprachpolitik aufweisen. Um den Kommunikationsbedürfnissen vor Ort gerecht zu werden, mussten Siedler und Kolonialbeamte so zunächst auf schon bestehende Verkehrssprachen wie Swahili in Ostafrika, Afrikaans im südlichen Afrika oder Pidgin Englisch in Westafrika zurückgreifen oder aber sich der Kenntnisse der einheimischen Sprachen von Missionaren bedienen. Dennoch – oder gerade deshalb – wurde aus deutscher Sicht der Wettlauf um die Kolonien als Kampf nicht nur um die ökonomische, sondern auch um die kulturelle Vorherrschaft in der Welt verstanden. Wie in dem folgenden Kolonialgedicht Aufruf des konservativ-völkischen Autors Felix Dahn zu ersehen ist, soll die deutsche Sprache so, gleich den Pflanzungen, in der Fremde Wurzeln schlagen: Noch ist die Welt nicht ganz verteilt Noch manche Flur auf Erden Harrt gleich der Braut. Die Hochzeit eilt; Des Starken will sie werden. […] Pflanzt auf dies rauschende Panier In jedes Neulands Brache: Wohin wir wandern, tragen wir Mit uns die deutsche Sprache. (Felix Dahn, Aufruf, in Sembritzki 1911: 7-9)
Im Wettstreit mit den anderen europäischen Kolonialmächten ging es nicht zuletzt darum, die eigene ‚Kolonisationsfähigkeit’ zu beweisen, ja, sogar die eigene unterstellte Überlegenheit an dieser Frage zu demonstrieren. In der zeitgenössischen einschlägigen Presse (Kolonial-Politische Korrespondenz 1886: 338) wird diese Überlegenheit in der „Fähigkeit der Deutschen, sich in fremde Rassencharaktere hineinzuleben,“ konstruiert, die es erübrigt, sich an den etablierten Kolonialländern wie Holland, Spanien, Italien, Frankreich oder gar England zu orientieren, „denn wir wissen, daß wir durch die dem deutschen Geiste eigene tiefere Behandlung socialer Probleme auch die Frage der Eingeborenenerziehung weit besser, als alle diese kolonisirenden [sic] Nationen lösen werden“ (1886: 338).
2
Innerhalb Europas war Deutsch allerdings sehr wohl eine Verkehrssprache, zumal nach den frühen 1780ern Deutsch als vereinigende Sprache innerhalb des Habsburg-Reichs proklamiert wird. Siehe hierzu auch Anderson (1983: 81).
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Wie diese Frage gelöst werden sollte, blieb zunächst offen. Die Bedeutung der deutschen Sprache im Sendungsbewusstsein der jungen Kolonialmacht sollte jedoch nicht unterschätzt werden und wird verdeutlicht, wenn man sich das Verständnis der Beziehung zwischen Sprache und Nation gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ansieht. In seinem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Werk über Nationen als imaginierte Gemeinschaften beschreibt Anderson (1983: 80ff.) das Dilemma der polyglotten, oft von Diglossie geprägten europäischen Dynastien des neunzehnten Jahrhunderts, eine vereinigende Sprache im Zuge der offiziellen Nationenbildung zu etablieren. Dies geschah vor allem auch mit Hilfe der sprachlichen Standardisierung im Printmedium: The lexicographic revolution in Europe […] created, and gradually spread, the conviction that languages (in Europe at least) were, so to speak, the personal property of quite specific groups – their daily speakers and readers – and moreover that these groups, imagined as communities, were entitled to their autonomous place in a fraternity of equals. (Anderson 1983: 80-81)
Gerade für die junge Nation Deutschland war eine gemeinsame Sprache ein Grundpfeiler des nationalen Selbstverständnisses und wurde nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als Ausdruck gemeinsamer Werte begriffen. Wilhelm von Humboldts Idee der engen Beziehung zwischen Sprache und Denken einerseits und einem Nationalcharakter von Sprachen andererseits, hatte hier bereits Jahrzehnte zuvor die Grundlage für diese Auffassung gesetzt:3 Die Geisteseigentümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes stehen in solcher Innigkeit der Verschmelzung eineinander, daß, wenn die eine gegeben wäre, die andre müßte vollständig aus ihr abgeleitet werden können. Denn die Intellektualität und die Sprache gestatten und befördern nur einander gegenseitig zusagende Formen. Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken. Wie sie in Wahrheit miteinander in einer und ebenderselben, unserem Begreifen unzugänglichen Quelle zusammenkommen, bleibt uns unerklärlich verborgen. Ohne aber über die Priorität der einen oder andren entscheiden zu wollen, müssen wir als das reale Erklärungsprinzip und als den wahren Bestimmungsgrund der Sprachverschiedenheit die geistige Kraft der Nationen ansehen, weil sie allein lebendig selbständig vor uns steht, die Sprache dagegen nur an ihr haftet. (Humboldt 1836/1973: 32-33) 3
Hier muss allerdings angemerkt werden, dass Humboldts Nationenbegriff ein anderer ist als der spätere nationalstaatlich-politische. Nichtsdestotrotz haben sich seine Ideen bei der Bildung des Nationalstaates auch in der Verknüpfung von ‚einer Sprache mit einer Nation’ niedergeschlagen.
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Obwohl es in der Deutschen Kolonialgesellschaft (gegr. 1887) neben einer Majorität von Kauf- und Geschäftsleuten und Regierungsbeamten auch eine geringere Anzahl von Mitgliedern gab, die aus den Bereichen Sprache und Bildung kamen (z.B. Lehrer, Schriftsteller, Gelehrte und Künstler), blieben explizite Vorschläge zu einer kolonialen Sprachpolitik vorerst aus (Pierard 1987: 26). Im Jahre 1916 jedoch verfasste ein gewisser „königlich bayerischer Hofrat, Hauptmann a. D.,“ Dr. jur. E. Schwörer schließlich einen Vorschlag zur Verbreitung eines vereinfachten Deutsch in den Kolonien. 2.
„[…] eine dürftige, aber sehr brauchbare Arbeitsmagd neben ihrer vornehmen hochdeutschen Schwester“ Kolonial-Deutsch als geplante Verkehrssprache für die Kolonien
Die „Vorschläge einer künftigen deutschen Kolonialsprache in systematisch-grammatikalischer Darstellung und Begründung“ wurden unter dem Titel Kolonial-Deutsch4 in München veröffentlicht. Wie das Publikationsjahr 1916 vermuten lässt, bezweckt Schwörer mit seinem 62 Seiten starken Büchlein, die deutschen Expansionsträume während des ersten Weltkrieges auch sprachlich zu beflügeln und die erhoffte Vormachtstellung Deutschlands vor allem im südlichen Afrika weiter auszubauen. In seinem abschließenden Plädoyer für seinen eigenen Entwurf einer geplanten Verkehrssprache kritisiert er die bislang vernachlässigte koloniale Sprachpolitik, das „sprachliche[n] ‚laissez faire‘„, dessen Ergebnis „ein Chaos, ein Emporwuchern korrumpierter sog. ‚Sprachen‘, ein ‚Pidgin-Deutsch‘ im allerschlimmsten Sinne, kurz eine Sprachverwilderung, nicht eine Sprachreform“ (1916: 62) zur Folge habe. Nach dem Krieg und dem damit einhergehenden Verlust der Kolonien wurde Schwörers Idee einer deutschen Kolonialsprache überflüssig. Seine Vorschläge wurden folglich nie in die Praxis umgesetzt. Ob eine Umsetzung von Erfolg gekrönt worden wäre, hätte die Kolonialregierung Schwörers Entwurf ernst genommen, bleibt fraglich. Kolonialdeutsch gibt es in dieser Form daher lediglich auf dem Papier. Dennoch ist diese linguistische Kuriosität für eine Reihe von Gesichtspunkten interessant: 4
Anmerkungen zur Schreibweise: in diesem Text wird die Referenz auf den Titel von Schwörers Schrift kursiv gesetzt und – wie im Originaltitel Kolonial-Deutsch – mit Bindestrich versehen. Wenn jedoch auf die in der Schrift vorgeschlagene ‚geplante’ Sprache Bezug genommen wird, wird dies in der Schreibweise ‚Kolonialdeutsch’ – in Analogie zu ‚Weltdeutsch’ und ‚Küchendeutsch’ – vorgenommen.
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Kolonial-Deutsch ist eine der wenigen Abhandlungen über die Kommunikationssituationen zwischen Kolonialisten und einheimischer Bevölkerung und stellt daher ein wichtiges Zeugnis dar für diesen fast vergessenen praktischen Aspekt der deutschen Kolonialgeschichte. Die Lektüre dient als recht anschauliche zeitgenössische Illustration für die ideologische Grundlage der deutschen Kolonialpolitik und ihre praktischen Umsetzungsprobleme angesichts des Wettlaufs mit den anderen europäischen Kolonialmächten. Schwörers Sprachentwurf kann als interessantes Beispiel für die Konstruktion einer reduzierten Sprachvarietät angesehen werden. Diese Konstruktion beruht nicht auf bloßer Willkür oder Fantasie, sondern orientiert sich an Reduktionsmustern, wie sie auch in der natürlichen Sprachentwicklung vorkommen. Ausgangspunkt hierfür ist zum einen die Intuition des Muttersprachlers,5 zum anderen scheint Schwörer zumindest rudimentäre Kenntnisse über echte Kontaktsprachen gehabt zu haben.6 Es ist interessant zu sehen, welche linguistischen Merkmale er für sein „vereinfachtes Deutsch“ heranzieht und inwieweit sich diese Merkmale von denen echter Kontaktvarietäten (z.B. Unserdeutsch,7 Gastarbeiterdeutsch) unterscheiden oder überschneiden. Ein Vergleich mit der im heutigen Namibia noch gesprochenen Varietät Küchendeutsch gibt ebenfalls Aufschluss über konstruierte versus reale Simplifizierungsmerkmale. Schwörers Vorschlag fällt in eine Periode einer ausführlichen Diskussion über und Vorschlägen für künstliche Sprachen, einer Art ‚Suche nach der perfekten Sprache’ am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch Schwörers Konstrukt ist eine künstliche Sprache, die sich allerdings auf die Besonderheiten der kolonialen Situation orientiert und nicht für den ‚allgemeinen Sprachgebrauch’ (anders als beispielsweise Baumann 1916) gedacht ist (siehe auch Mühleisen 2005: 42-45). Obwohl Kolonialdeutsch nie eine sprachliche Realität war, lebt es in der Fiktion weiter: Schwörers Modell hat implizit und explizit für einige fiktive Verarbeitungen von Kommunikationssituationen in Romanen über die deutsche Kolonialzeit Pate gestanden.
Im folgenden (2.1) möchte ich zunächst auf tatsächliche und fiktive Szenarien der Kommunikation in der sicherlich bedeutendsten Kolonie und einzigen Siedlerkolonie des wilhelminischen Deutschlands, dem ehemaligen Südwestafrika und heutigen Namibia eingehen, um dann (2.2) die ideologische und praktische Begründung für Schwörers Entwurf zu beleuchten. Die sprachlichen Merkmale von Kolonialdeutsch werden ausführlich in Teil 3 dargelegt, bevor sie dann einem Vergleich mit genuinen Kontaktvarietäten unterzogen werden. 5 6 7
Solche Intuition kommt typischerweise auch zum Tragen, wenn die Muttersprache in der Kommunikation mit Sprachlernern simplifiziert wird (foreigner talk). Schwörer, so scheint es von der Lektüre von Kolonial-Deutsch, war mit Pidgin-Englisch in anderen Teilen des kolonialen Afrika vertraut, ebenso verweist er einige Male im Text auf die Struktur von Bantu-Sprachen und Swahili. Unserdeutsch, das in Rabaul (Papua Neuguinea) und um Brisbane (Australien) gesprochen wird, stellt die einzige deutsch-basierte kreolisierte Varietät dar (Mühlhäusler 1984: 28).
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Susanne Mühleisen
2.1
Reale und imaginierte Kommunikationssituationen: Sprachvielfalt und Kommunikationsprobleme in Südwest Südwestafrika, das heutige Namibia, war seit 1884 ein deutsches Protektorat und wurde Deutschlands einzige Kolonie mit einer erheblichen Anzahl deutscher Siedler. Eine Erhebung im Jahr 1903 zählte eine weiße Bevölkerung von 4.640 Menschen, davon 2.998 Deutsche, der Rest Buren oder Briten (in Anonym 1907: 26). Obwohl das Gebiet nur dünn besiedelt war, trafen die deutschen Kolonialherren auf eine große Vielzahl von ethnischen und linguistischen Gruppen. In zeitgenössischen Kolonialzeitschriften findet man demographische Informationen über die einheimische Bevölkerung, zum Beispiel werden in der Zeitschrift Kolonie und Heimat (1911: 30) Zahlen von 20.000 Hereros, 19.000 Damaras, 14.000 „Hottentotten“ (Nama oder Khoi Khoin) genannt, ebenso wie „einige tausend Buschleute, namentlich im Osten der Kolonie, in der Kalahari, und 8.000 Eingeborene im Caprivizipfel.“ Die Mehrheit der Sprachen im damaligen Südwestafrika und heutigen Namibia sind Bantu-Sprachen. Ethnologue (2007) listet nicht weniger als insgesamt 29 Sprachen,8 unter ihnen auch Englisch (mit 10.941 Sprechern)9 und Afrikaans (133.324 Muttersprachlern, 1991 census). Deutsch10 spielt mit immerhin 12.827 Sprechern auch heute noch eine Rolle, wenngleich Englisch als internationales und Afrikaans als intra-nationales Verständigungsmittel sicher die größere Bedeutung zukommt. Die Konkurrenz mit den in der Region schon früher etablierten Sprachen Englisch und Afrikaans war denn auch während der deutschen Kolonialzeit ein vielbeachtetes Thema. In dem 1907 erschienenen SüdwestAfrika deutsch oder britisch? (Anonym 1907) wird die Frage der europäischen Vorherrschaft zur nationalen Angelegenheit. Der (nichtgenannte) Autor moniert zur Kommunikation in der Kolonie: „Während die Engländer prinzipiell nur ihre eigene Sprache sprechen, überbieten sich unsere Beamten, Soldaten und Farmer, das so überaus armselige Afrikanerholländisch zu radebrechen“ (1907: 26). Einige Jahre später wird von einem anderen Autor die Sprachsituation etwas anders dargestellt: 8
9 10
Die größten Sprachgruppen werden in Ethnologue (2007) wie folgt angegeben: KWANYAMA: 713.919 Sprecher in Namibia zusammen mit Ndonga und Kwambi (1991 census); NAMA: 176.201 Zugehörige in Namibia (1992 Barnard), bestehend aus 70.000 Nama und 105.000 Damara (1998 J.F. Maho); HERERO: 113.000 in Namibia (1991 census). Gemeint ist hier Englisch als Muttersprache. Als Verkehrssprache und offizielle Sprache ist Englisch natürlich sehr viel weiter verbreitet. Hier ist eine deutsche Standardvarietät (Hochdeutsch) gemeint, nicht das in Teil 3.2 diskutierte Küchendeutsch (siehe Deumert 2003).
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Die Umgangssprache ist die deutsche Sprache. Fast alle Eingeborenen verstehen ganz gut deutsch. Wenn man sich mit einem Eingeborenen nur schwer oder gar nicht verständigen kann, dann ist es ratsam, einen anderen Eingeborenen hinzuzuziehen, von dem man weiß, daß er deutsch gut versteht und spricht. Sehr häufig sagt nämlich der Eingeborene „ja“ zu allem, hat aber eigentlich nichts verstanden. Man ist dann ungehalten, wenn er seine Sache falsch macht, deshalb überzeuge man sich vorher, ob er auch alles richtig verstanden hat. (Von Gleichen 1914: 30)
Es ist natürlich bei der Verschiedenheit der Texte und Autoren – bei dem einen handelt es sich um eine ideologische Kampfschrift, bei dem anderen um einen praktischen Ratgeber für angehende Farmer in Südwest – schwierig zu beurteilen, ob die Bedeutung des Deutschen als Kommunikationsmittel tatsächlich zugenommen hatte. Der stetige Anstieg der Siedler, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts von Deutschland nach Südwestafrika auswanderten,11 lässt jedoch vermuten, dass es tatsächlich zu Kommunikationsszenen, wie von Gleichen sie beschreibt, gekommen sein mag. Auch in der Fiktion wird die Kommunikationssituation thematisiert. In Orla Holms 1906 erschienenem Buch Pioniere. Ein Kolonialroman aus Deutsch-Südwest-Afrika wird ein Dialog zwischen Kolonist und Missionar angeführt um die unterschiedlichen Interessen dieser beiden Gruppen zu beleuchten, aber auch, um die Wichtigkeit der Sprachvermittlung als Kulturvermittlung zu thematisieren. Während der selbst des Herero mächtigen Missionar dafür plädiert, dass die in Südwest angesiedelten Deutschen ebenfalls Herero lernen, um Missverständnisse zu vermeiden und ‚den Charakter des Eingeborenen’ besser zu verstehen, sieht der Kolonist Hardt die Lernsituation auf der Seite der einheimischen Bevölkerung: „[…] Sie wissen wohl, Herr Missionar, daß wir nicht in dies Land kommen, um Sitten und Gebräuche der Hereros anzunehmen, vielmehr um diese auf einen höheren Kulturstand zu bringen.“ „Ja,“ fügte der Missionar schroff hinzu, „um den Hereros schlechte Angewohnheiten beizubringen.“ „Einzelne mögen unter den Weißen sein,“ erwiderte Hardt, „die den Kulturstand des Eingeborenen nicht heben, aber es gibt viele, deren redliches Bemühen dahin geht, den Schwarzen heranzubilden. Wenn die Hereros sich jemals erheben, dann wird zum großen Teile die Schuld daran liegen, daß wir sie nicht recht zu nehmen wußten, daß sie die gesamten Weißen nach dem Gebaren ein11
In Grimm (1928: 25) wird auf eine Volkszählung von 1926 verwiesen, laut der damals insgesamt 24.200 Weiße (nicht näher spezifiziert) und 235.000 „Farbige“ in SüdwestAfrika lebten, in der sogenannten Polizeizone (dem eigentlichen Kolonisationsgebiet) war das Verhältnis 24.000 Weiße zu 91.000 Einheimische.
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Susanne Mühleisen zelner beurteilen, die sie in brutaler Art ausbeuteten. Und dies kann leicht verhindert werden, wenn der Herero deutsch spricht und dem Denken der Deutschen näher kommt. Dann wird er auch begreifen, daß er das ihm zustehende Recht erlangen kann, wenn er sich vertrauensvoll an uns werdet.“ (Holm 1906, zitiert in Melber 1984: 50)
Die Idee der Sprachvermittlung als präventive Maßnahme zur Verhinderung von Aufständen kommt zwei Jahre zu spät, wie es scheint, wird hier der Herero-Aufstand von 1904 rückblickend verarbeitet. Weder in der faktischen Ratgeberliteratur, noch in der zeitgenössichen Fiktion wird jedoch die Möglichkeit der Entstehung einer vereinfachten deutsch-basierten Kontaktsprache thematisiert. Dabei wäre die koloniale Sprachsituation mit einer kleinen, aber sozial dominanten Sprache in begrenztem Kontakt mit einer größeren, sprachlich diversen Bevölkerungsgruppe typisch für das Entstehen eines Pidgins, einer rudimentären Handels- und Verkehrssprache, wie andere Beispiele aus der Kolonialgeschichte auch gerade in Afrika belegen (z.B. Nigerian Pidgin English in Nigeria, Cameroonian Pidgin English in Kamerun, etc.). Die soziale und funktionale Begrenzung der Interaktion zwischen Kolonialherren und Kolonisierten begünstigt die Entwicklung einer solchen Hilfssprache, die zumeist die lexikalischen Elemente der dominanten Sprache übernimmt und grammatikalisch relativ simpel ist. Wird die Kontaktsprache – beispielsweise also ein Pidgin Deutsch – dann auch noch von verschiedenen einheimischen Sprachgruppen als Verständigungsmittel untereinander benutzt, dann stehen die Chancen gut, dass sich das Pidgin stabilisiert und die grammatikalischen Regeln sich verfestigen oder sogar ausbaut werden. Das Entstehen eines Pidgins ist normalerweise eine ungeplante Aktion, die sich aus den kommunikativen Bedürfnissen der Interaktionspartner ergibt. Zumeist geht ja eine Pidginisierung auch aus einer unvollständigen Sprachlernsituation hervor – unvollständig, weil der Kontakt zur sozial dominanten Gruppe zu limitiert ist und der Bedarf an Kommunikation bereits mit eingeschränktem Vokabular und einfachen Dialogstrukturen zu decken ist. Ein geplantes Pidgin ist also eine Art Oxymoron, ein Widerspruch in sich selbst. Schwörers Vorschlag, eine künstlich reduzierte Form des Deutschen einzusetzen, eine geplante und ordentliche Simplifizierung zu erreichen, soll der natürlichen, ungeplanten und ‚chaotischen’ Entstehung einer Kontaktsprache, dem „Emporwuchern korrumpierter sog. ‚Sprachen’, einem ‚Pidgin-Deutsch’ im allerschlimmsten Sinne, kurz eine[r] Sprachverwilderung“ (Schwörer 1916: 62) vorgreifen.
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2.2
„ … zu einer modernen sprachlichen Waffe im künftigen wirtschaftlichen Völkerkrieg“ Kolonial-Deutsch als Munition gegen Englands sprachliche Vorherrschaft Neben rein praktischen Gesichtspunkten – der Notwendigkeit der Kommunikation mit den diversen einheimischen Sprachgruppen – stand für Schwörer als Beweggrund für seinen Vorschlag auch im Vordergrund, der schon bestehenden sprachlichen Dominanz von Englisch und Afrikaans etwas entgegenzusetzen.12 In seinem Vorwort macht er deutlich, dass der Zweck seines Buches über die unmittelbaren Kommunikationsprobleme hinausgeht. Schwörer sieht seinen Beitrag im Zeichen eines generellen Wettlaufs um ökonomische und politische Dominanz zwischen den europäischen Kolonialmächten: Als völkisch denkende Vaterlandsfreunde dürfen wir daher vor kleinen sprachlichen Opfern, die sich tausendfach lohnen, nicht zurückschrecken. Dies gilt gerade jetzt um so mehr, als es sich auch nach den Friedensschlüssen um einen schweren Wettkampf unserer Sprache mit der englischen handeln wird, die ihr durch ihre Einfachheit, ihre leichte Erlernbarkeit und Verbreitung in allen Erdteilen leider ohnehin so sehr überlegen ist. Deshalb darf uns unsere Muttersprache im internationalen Wettbewerb nicht eine hindernde Schranke sein; sie soll vielmehr zu einem der wichtigsten Verständigungsmittel der Welt werden, uns selbst aber zu einer modernen sprachlichen Waffe im künftigen wirtschaftlichen Völkerkrieg […]. (Schwörer 1916: 6)
Kolonial-Deutsch war nicht die einzige Munition gegen die sprachliche Vorherrschaft Englands. Schwörer lehnt sich in seiner Schrift explizit an einen anderen zeitgenössischen Vorschlag für ein künstlich simplifiziertes Deutsch an (z.B. Schwörer 1916: 6), nämlich das Weltdeutsch von Adalbert Baumann. Baumanns Ausführungen zu Weltdeutsch wurden ebenfalls 1916 publiziert, waren jedoch zuvor schon in Vorträgen öffentlich gemacht worden. Im Unterschied zu Kolonialdeutsch war Weltdeutsch nicht für den spezialisierten Gebrauch in den Kolonien gedacht, sondern als generelles internationales Kommunikationsmittel „für unsere Bundesgenossen und Freunde!,“ wie im Titel der Veröffentlichung (Baumann 1916) vermerkt ist. Allerdings ist die Motivation, nämlich die Behauptung der 12
Mit Bezug auf die damalige deutsche Kolonie Deutsch-Ostafrika (Tanganijka) gilt dies auch für Swahili, das in diesem Gebiet Verkehrssprache war (und ist) – auch für die deutschen Kolonialherren: „Daß dem Durchschnittsdeutschen (der z.B. bei Kisuaheli meist über eine Art von ‚Pidgin-Kisuaheli’ nicht hinauskommt) die sehr unerwünschte Rolle des radebrechenden, sprachlich Unbeholfenen und Unterlegenen, statt umgekehrt, zufallen muß, ist ein sicher nicht bedeutungsloser Grund für die baldige Einführung des K.D.“ (Schwörer 1916: 24).
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deutschen Sprache gegenüber dem ‚Vormarsch’ des Englischen, ähnlich der, die hinter der Abfassung von Kolonial-Deutsch steht. Dies wird in der folgenden Passage aus Weltdeutsch, das in einer Art phonemischen Schreibweise verfasst ist, deutlich: in disem kampfe hat England ainen ungeheüren fortail in der umfasenten ferbraitung sainer laichten sprache, di fon 1/10 der mensh-hait gesprochen wird. es gehört fer-blendung dazu, di bedeütung dises for-sprunges zu fer-kenen oder zu untershäzen. innerhalb unseres blokes mus selbst-ferständlich sowol aus politishen wi kulturelen gründen di deütshe sprache di ainhaitliche ferkers- und hilfs-sprache sain. […] di notwendigkait der ferbraitung der deütshen sprache als grundlage jedes dauernten wirtshaftlichen und politishen erfolges ist in Deütshland in sainer bedeütung stets zu nider gewürdigt worden. di geribensten kolonisatoren der welt, die Engländer, zu denen wir shon in fershidener hinsicht in di lére géen musten, zaigen uns auch hir forbildlich den weg. es sai nur auf di aifrigen anstrengungen englisher Amerikaner hingewisen, um di wirtshaftliche for-hershaft auf kinesishem boden mitels der durch-sezung der englishen sprache zu begründen. (Baumann 1916: 6-7)
Auch in Kolonial-Deutsch wird der Beweggrund für die ‚Sprachreform’ ausführlich dargelegt. Es hat hier den Anschein, als ob Schwörer befürchtet, dass die ‚sprachlichen Opfer’ einer reduzierten Version des Deutschen nicht von der weiteren Öffentlichkeit in Deutschland akzeptiert würde. Wie Schwörer versichert, würde diese neue Sprache nur in den Kolonien angewendet und keinen Einfluss haben auf das Hochdeutsch, das zuhause gesprochen wird – und auch nicht auf die Sprache der Deutschen untereinander in den Kolonien.13 „Das K.[olonial]-D.[eutsch] soll und will nicht anderes sein als eine dürftige, aber sehr brauchbare Arbeitsmagd neben ihrer vornehmen hochdeutschen Schwester“ (Schwörer 1916: 20). Schwörer sieht dagegen eine ganze Reihe von Vorteilen eines Kolonialdeutsch, wie er in seiner Einleitung ausführt und die wie folgt zusammengefasst werden können: −
Die Sprache wird ein Symbol für deutsche Autorität in der Kolonie sein.14
13
Schwörer befürchtet auch Kritik an seinem Sprachentwurf von den Deutschen in den Kolonien. Wie er ausführt ziehen es manche Deutsche vor, von ihren schwarzen Dienstboten nicht verstanden zu werden, oder aber beharren einige „alte Afrikaner“ – gemeint sind alteingesessene deutsche Kolonisten – darauf, „statt des gewöhnlichen Deutsch sich einer Bantu-Sprache zu bedienen“ (Schwörer 1916: 12). Hier soll auch die „unwürdige Vorherrschaft fremder Sprache auf deutschem Gebiet“ (Schwörer 1916: 24) gebrochen werden. „Denn unwürdig ist und bleibt es, wenn der deutsche Kolonisator nicht wie bei den anderen Kolonialvölkern seine eigene Sprache
14
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Sie wird die Kommunikation zwischen deutschen Kolonialherren und Einheimischen erleichtern (und bringt die Kolonialherren hierin nicht in eine ‚unwürdige’ sprachliche Position wie bei Swahili, siehe oben). Sie wird der Kommunikation zwischen Einheimischen verschiedener Sprachgruppen dienen. Durch das Wegfallen der Sprachbarriere wird es für die Kolonialadministration einfacher sein, Leute von einem Teil der Kolonie zum anderen zu transferieren. Mobilität wird dadurch erleichtert. Kolonialdeutsch wird den Gemeinschaftssinn in der Kolonie fördern, gemeinsame Interessen betonen, die „Eingeborenen kulturell […] heben“ (K.D., 13) und ihnen zur deutschen Kultur schaffen. Die neue Sprache wird regelmäßiger und ‚ästhetischer’ sein als das „unschöne, korrumpierte […] dazu unlogische, häufig sogar lächerliche“ (1916: 16) Pidgin-Englisch, das schon in vielen Teilen des afrikanischen Kontinents vorherrscht:
In Anbetracht solcher Aussichten [der Vorteile des K.D.] werden die opponierenden Stimmen jener Kritiker nicht durchdringen, die die koloniale Sprachreform mit Scheingründen oder mit den Waffen des Spottes bekämpfen und vielleicht von ‚Pidgin-Deutsch’ im Sinne einer Sprachverschlechterung oder gar einer ‚Verhunzung’ der deutschen Sprache reden werden. Der Vergleich mit dem Pidgin-Englisch wäre nur insoferne berechtigt, als auch dieses eine bedeutende Vereinfachung und Erleichterung des Geschäftsverkehrs bezweckt (weshalb noch kein praktischer Engländer oder Amerikaner diese häßliche Sprache bekämpft hat). Im Uebrigen aber aber muß jede Verwandtschaft zwischen dem korrumpierenden Pidgin-Englisch und dem systematisch gebildeten K.D. entschieden abgelehnt werden. (Schwörer 1916: 25-26) Im letzten Argument wird deutlich, dass Schwörer sein Kolonialdeutsch neben dem praktischen und politisch-ökonomischen Nutzen auch aus sprachideologischen Gründen für notwendig hält. Offenbar wird hier die mechanische Regelvereinfachung als ‚höherwertig’ angesehen als natürliche Simplifizierungsprozesse, wie sie in Pidginsprachen nachzuvollziehen sind. 3.
Kolonialdeutsch im sprachlichen Vergleich
Schwörers nachdrücklicher und wiederholter Verweis auf Pidgin-Englisch lässt jedoch die Vermutung zu, dass er auch einige der Eigenschaften dieser Kontaktsprachen für sein Kolonialdeutsch heranzieht. Als weiteres voranstellt, sondern zu einer Negersprache herabsteigt, mögen für diese noch so viele Gründe bisher gesprochen haben.“ (Schwörer 1916: 24)
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Modell und einflussreiche Quelle auf seine Auswahl an Reduzierungsmerkmalen gibt er das oben bereits erwähnte Weltdeutsch von Adalbert Baumann an, „[…] wenn auch ‚Kolonial-Deutsch’, das zunächst nur für unsere Kolonien bestimmt ist und den besonderen afrikanischen Verhältnissen (namentlich in lautlicher Beziehung) Rechnung zu tragen hat, zum Teil andere Wege einschlagen muß als das universelle ‚Welt-Deutsch‘“ (Schwörer 1916: 6). Als dritte Quelle, die Schwörers Auswahl an sprachlichen Merkmalen beeinflusst haben mag, kommt noch Schwörers Kenntnis – zumindest scheint dies im Text impliziert – von Swahili und/oder anderen Bantu-Sprachen. Schwörer erwähnt phonologische und grammatikalische Bantu-Strukturen im Zusammenhang mit Überlegungen zu lexikalischen Präferenzen („leichter oder weniger leicht auszusprechen“) oder auch bei der Entscheidung, im Kolonialdeutsch nur ein grammatikalisches Geschlecht zu bestimmen: „Auch das sonst ziemlich formenreiche Kisuaheli hat (gleich anderen Bantu-Sprachen) überhaupt keinen bestimmten oder unbestimmten Artikel und daher auch keine erkennbare Verschiedenheit des Geschlechts der Hauptwörter“ (Schwörer 1916: 29). 3.1
„Ist dir schwer gewesen, Deutsch lernen?“ Sprachliche Merkmale des Kolonialdeutsch Schwörer macht zwei graduell verschiedene Vorschläge, wie ‚das koloniale Sprachproblem’ gelöst werden kann, und zwar beschreibt er diese als ‚System A’ – eine Art Minimallösung – und als das sehr viel weiter gehende und detailreicher dargelegte ‚System B.’ System A stellt lediglich zwei Kriterien auf: 1. 2.
Auswahl von 500 bis zu allerhöchstens 800 Wörter, Vermeidung von Synonymen und Bedeutungsähnlichkeiten, „[dabei] sind solche zu bevorzugen, die für die Eingeborenen leicht aussprechbar sind“ (1916: 17). Verwendung der Verben im Infinitiv, „in Verbindung mit ganz wenigen, nur in Gegenwart und Vergangenheit zu konjugierenden Hilfszeitwörtern“ (1916: 18).
Hinzu kommen nicht weiter spezifizierte Vereinfachungen im Satzbau. System B baut auf System A auf, stellt aber eine wesentlich radikalere Lösung dar: I.
Lexikon (wie in System A)
−
Der Wortschatz wird reduziert auf ungefähr 500 bis 600 Basisworte, eine Wortliste ist dem Text angehängt. Der Hauptbestandteil der Wortliste ist den offenen Kategorien Hauptwort (ca. 200), Zeitwort (ca. 100), Eigenschaftswort (ca. 100) und Um-
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−
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standswort (ca. 50) zugeordnet, geschlossene Kategorien wie Fürwort beinhalten immerhin auch noch 37, Verhältniswort 19, Bindewort 11 Einträge. Um die Bezeichnungsmöglichkeiten zu erweitern, werden folgende Strategien vorgeschlagen: a) Multifunktionalität von Basiswörtern, b) Kombinationen von allgemeineren Begriffen für spezialisiertes Vokabular (z.B. ‚de alte Mann’ für ‚Greis’ oder ‚de junge Mann’ für ‚Jüngling’), c) Komposita (‚Last-Mann’ für ‚Arbeiter’, ‚Arbeit-Mann’ für ‚Vormann’), d) Gebrauch von Negation (z.B. ‚nicht sauber’ für ‚schmutzig’), e) Umschreibungen.
II. a.
Grammatik Substantiv, Artikel, Pronomen
−
Gebrauch von gender-neutralen bestimmten Artikeln für Nomen im Singular (‚de’) und im Plural (‚die’). Als unbestimmter Artikel soll das ebenfalls gender-neutrale ‚eine’ im Singular und Plural fungieren. Sowohl bestimmte als auch unbestimmte Artikel können oft weggelassen werden. Regularisierung der Pluralendung mit ‚-en’ (‚-n’ in Fällen, wo der Singular auf ‚-er, -el’ oder ‚-e’ endet; z.B. ‚Lager/n’, ‚Esel/n’, oder ‚Kanne/n’). Wegfallen von Kasusmarkierungen. Genitiv und Dativ werden mit Präpositionen und bestimmtem Artikel gebildet, zum Beispiel ‚von de Mensch’ (gen.) oder ‚zu de Mensch’ (dat.). Pronomina bleiben relativ komplex (mit Possessiv- und Dativformen), Reflexivpronomen fallen weg. Numerale bleiben ähnlich wie im Hochdeutschen, bis auf die Positionierung in höheren Zahlwörtern, wo, ähnlich wie im Englischen, die kleinere Zahl der Dezimalzahl nachgestellt wird (z.B. ‚zwanzig-drei’ statt ‚dreiundzwanzig’).
− − − −
b. −
− −
Verben und Verbformen
Alle Verben erscheinen in der Infinitivform des Präsens, bis auf 5 Modal- und Hilfsverben (‚tun’, ‚wollen’, ‚können’, ‚müssen’, ‚sein’, ‚haben’), die in Gegenwarts- und Vergangenheitsformen konjugiert werden. Futur wird mit Hilfe von temporalen Adverbien (z.B. ‚morgen’) ausgedrückt. Passivform entfällt. die Imperativform wird durch eine Infinitivform ersetzt, die dem Objekt vorangestellt ist,15 z.B. ‚Holen (INF) Wasser (N)’ statt ‚Hol (IMP) Wasser (N)’.
c.
Adjektive, Adverbien und Präpositionen
−
Alle attributive Adjektive enden ausnahmslos auf –e, ungeachtet Genus (da im K.D. nicht unterschieden), Kasus oder Zahl (z.B. ‚eine gute Esel’, ‚die gute Eseln’, ‚von de gute Esel’); Adverbialformen von Adjektiven bleiben wie im Hochdeutschen. Einige Frageworte erscheinen in analytischer Form (z.B. ‚von was’ anstatt ‚wovon’); Die Anzahl der Präpositionen ist reduziert: als wichtigste Verhältnisworte werden aufgelistet: ‚an’, ‚auf’, ‚für’, ‚in’, ‚von’, ‚vor’, ‚wegen’ und ‚zu’. Daneben sind als sekundäre Präpositionen ‚aus’, ‚bei’, ‚bis’, ‚gegen’, ‚mit’, ‚noch’, ‚neben’, ‚ohne’, ‚seit’, ‚über’ und ‚um’ angegeben;
− −
15
Anders als eine im Hochdeutschen ebenfalls mögliche Befehlsform, nämlich die Stellung der Infinitivform nach dem Objekt, z.B. ‚Wasser holen!’
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d.
Koordination
−
Die Anzahl der Konjunktionen ist reduziert (Gruppe I: ‚aber’, ‚auch’, ‚oder’, ‚und’, ‚wenn’, ‚wie’; Gruppe II: ‚bis’, ‚daß’, ‚denn’, ‚vor’, ‚weil’); Einfache Satzstellung, möglichst ohne Rekursion (wenn, dann mit koordinierenden eher als subordinierenden Konjunktionen) ist bevorzugt;
−
III. Schreibweise −
Die Orthographie bleibt an das Hochdeutsche angelehnt (anders als in Baumanns Weltdeutsch (1916), das eine Art phonemische Schreibweise – „in laut-shrift geshriben!“ – verwendet.16)
Wie genau diese Regeln implementiert werden sollten, bleibt in Schwörers Vorschlag ziemlich vage. Selbst wenn diese Regeln in einer Sprachlernsituation eingesetzt werden, scheint es doch denkbar unwahrscheinlich, dass Muttersprachler in einer alltäglichen Sprachsituation im Umgang mit einheimischen Sprechern und Sprecherinnen oder gar anderen Deutschen diese Regeln konsistent anwenden würden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass ein Muttersprachler mit den Nichtinitiierten sogenannte foreigner talkStrategien, d.h. generelle natürliche Vereinfachungsstrategien gegenüber Sprachlernenden verwendet (siehe z.B. Hinnenkamp 1982) – die zum Teil auch in Kolonialdeutsch vorkommen17, so z.B. der Gebrauch der unkonjugierten Infinitivform des Verbs oder das Wegfallen des Artikels im Deutschen. Trotz gewisser Ähnlichkeiten zwischen Kolonialdeutsch und solchen natürlichen Reduktionsmerkmalen (siehe auch 3.2) erscheint ein Erfolg in der praktischen Anwendung von Kolonialdeutsch fraglich: a) b) c) d)
16
17
Foreigner talk-Strategien sind viel flexibler als die Regeln des Kolonialdeutsch. Einige der Regeln für Kolonialdeutsch erscheinen unnötig komplex, beispielsweise was das Pronominalsystem oder die Konjunktion der Hilfsverben angeht. Für das Erlernen von Kolonialdeutsch müsste großflächig Gelegenheit zu gesteuertem Sprachlernen geschaffen werden. Durch die bereits bestehende Präsenz von Englisch und Afrikaans besteht kein hoher Kommunikationsdruck für das Erlernen von Kolonialdeutsch.
Wie Baumann (1916: 11) ausführt, sind „di grösten shreken der deütshen sprache […], aine regellose recht-shraibung, mit der selbst der deütshe maist nicht zurecht komt. […] der deütshe hat z.b. für das lange i fünf fer-shidene shraib-arten, di der sprach-laie nicht immer begründen kann, nemlich i ie ih ieh und y, z.b. mir Bier ihr flieh Tyrann […]“ Schwörer verweist auf die dem foreigner-talk ähnlichen baby-talk Strategien in seiner ausführlichen Begründung für K.D.: „Jede Mutter hat für ihr Kind eine besondere Kindersprache. Warum sollen wir nicht auch der afrikanischen Umgebung Rechnung tragen? Warum wollen wir gerade von den dortigen Eingebornen ein korrektes Deutsch verlangen, das wir selbst so oft nicht sprechen?“ (Schwörer 1916: 26).
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Während Schwörer keine detaillierten Angaben macht, wie die praktische Umsetzung vonstatten gehen soll, gibt er einige konstruierte Dialoge in verschiedenen Situationen als Beispiele dafür an, wie die Kommunikation in Kolonialdeutsch funktionieren soll: Beispiele von Kolonialdeutsch in konstruierten Dialogen und Schrift: Sprachprobe 1 (K.D., 56) Gespräch eines Weißen mit einem Eingeborenen: W (Plantagenbeamter): „Bist du bei unsere Pflanzung? Kannst du Deutsch?“ E (Eingeborerer, intelligent): „Ja wohl, bana. Ich bin bei Ihre Pflanzung. Ich kann Deutsch. Ich kann sagen Alles in Deutsch und ich kann verstehen nun alle Menschen seit 4 Wochen.“ W: „In was für eine Schule bist du gewesen?“ E: „Ich bin nit gewesen in Schule; ich tat lernen de neue Sprache von einige Kameraden, die sind gewesen in Schule von de Mission.“ W: „Ist dir schwer gewesen, Deutsch lernen?“ E: „Nein, bana, gar nit schwer. De neue Sprache ist gut für die Eingeborenen; de ist leicht für uns, weil de hat nit viele Worten. Ich habe können sagen keine deutsche Wort vor fünf oder sechs Monaten. Niemand tat verstehen mir an Anfang. Das ist gewesen nit gut für meine Arbeit. De Vormann (Aufseher) tat zanken mir oft; ich habe nit können verstehen, was er tat befehlen. Ja, de neue Sprache ist sehr gut für uns.“ […] Sprachprobe 2 (K.D., 57) Der Sprachunterricht: Aufseher (Eingeborener, der gut K.D. spricht): „Ich will nun wieder halten Schule für euch, weil ich habe Zeit an diese Abend für eine halbe Stunde. Aber ihr müßt gut aufpassen; denn ihr müßt lernen de deutsche Sprache so schnell wie möglich. Also aufpassen! A, sagen mir, was ist das?“ (zeigt seine Hand) A (Anfänger): „Diese sein Ande“.* Aufseher: „Gut, aber du mußt sagen: „Das ist eine Hand“. B, sagen mir, was ist diese Sache?“ (zeigt eine Grammatik). B (Anfänger): „Diese Sage ise eine Buge fü leanen de deitse Spage.“* Aufseher: „Ja, ist recht, aber deine Sprache ist noch nicht gut.“ (korrigiert B) „So nun will ich wieder C fragen. Ich tat gestern fragen de gleiche Sache.“ (zeigt ein Kaiser-Bild) „Wer ist das, C? Tust du nun wissen?“ C (Anfänger, sehr ungewandt): „Ne, ise glose Mann, abe ig wissen nit, was ise.“* […] * [Fußnote im Originaltext] Hier soll annähernd die Aussprache der noch ungeübten Eingeborenen (Abschleifung der Wörter, Beifügung eines Vokals als Endung) zum Ausdruck gebracht werden. Es müßte sehr viel Zeit überflüssiger Weise darauf verwendet werden, wenn man den Schwarzen die sehr zahlreichen schwierig auszusprechenden Wörter des H.D. [Hochdeutsch] einigermaßen richtig beibringen wollte.
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Die letzte der Sprachproben soll hier zeigen, dass Kolonialdeutsch auch für kompliziertere Sachverhalte und in formaleren Registern eingesetzt werden kann als nur für reduzierte und direkte Kommunikationsbelange: Sprachprobe 3 (K.D., 58-59) Unsere Kolonien: Unsere Kolonien sind gewesen vor de letzte große Krieg viel zu weit aus einander. Unsere Feinden haben daher können angreifen von alle Seiten und mit alle Mitteln, auch mit eine große Zahl von Krieg-Schiffen. Das ist gewesen eine sehr böse Zeit für uns alle, für die Deutschen, aber auch für die Eingeborenen und wir haben nicht können halten alle unsere Kolonien. Diese müssen von nun an mehr zusammen liegen; angreifen ist dann schwer möglich und man hat mehr Respekt vor uns. Diese Zweck ist eine sehr wichtige Sache für de deutsche Regierung und für alle Deutschen; denn wir können nicht leben für lange Zeit ohne Waren aus Kolonien und wir tun brauchen sehr notwendig gute und sichere und auch größere und neue Kolonien in Afrika in unsere feste Besitz, daß wir nicht müssen kaufen alle notwendige Waren (wie Baumwolle, Kaffee und so fort) viel zu teuer aus zweite und dritte Hand von Ausland oder gar von unsere Feinden. […] Kurz und gut, wir Deutschen können verlangen und wir müssen haben, was de Kaiser tat sagen: eine gute Stelle an de Sonne für unsere fleißige Arbeit.
Abgesehen von den sehr konstruierten Konversationen und dem übertriebenen Eigenlob für den eigenen Sprachentwurf erscheinen die Dialoge auch aus anderen Gründen als unrealistisch. Eine Konstruktion wie „Ist Dir schwer gewesen, Deutsch lernen“(Sprachprobe 1) ist relativ komplex, mit Dativ-Markierung des Pronomens ‚Du – Dir’ und der Partizip Perfekt-Bildung des Verbs ‚sein – ist gewesen’, die Vereinfachung im Vergleich zum Hochdeutsch liegt hier also höchstens in der Wahl des Verbs und im Wegfallen des ‚zu’ bei dem Infinitivkomplement ‚lernen’. Ausdrücke wie ‚Schule halten’ (Sprachprobe 2) sollen verdeutlichen, wie durch Kombination von Basiswörtern der Wortschatz reduziert werden kann. Dennoch scheint es arbiträr und zu sehr an den Transfer aus dem Hochdeutschen (‚Unterricht (ab)halten’) angelehnt, wo das Verb ‚halten’ schon eine metaphorische Erweiterung erfahren hat. ‚Schule machen’ wäre daher mindestens so plausibel und semantisch transparenter. 3.2
Fiktion und Realität: Kolonialdeutsch im Vergleich mit echten Kontaktsprachen Ob Kolonialdeutsch einen Praxis-Test bestanden hätte oder nicht, kann heute wohl nicht mehr nachgeprüft werden. Allerdings kann ein Vergleich mit natürlichen Kontaktsprachen Aufschluss darauf geben, ob das Konstrukt Schwörers an natürliche Reduktionsprinzipien angelehnt ist, oder
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ob es sich gänzlich von den Varietäten unterscheidet, die sich aus genuinen Kontaktsituationen gebildet haben. In Mühleisen (2005: 38-41) wurde ein detaillierter Vergleich der Vereinfachungsprinzipien von Kolonialdeutsch mit deutsch-basierten Kontaktvarietäten (Unserdeutsch, Gastarbeiterdeutsch) sowie mit den von Klein/Perdue (1997) aufgestellten Merkmalen der frühen Stadien des Zweitspracherwerbs (Basic Variety) vorgenommen. Die Gegenüberstellung von Schwörers Konstrukt mit diesen durchaus sehr unterschiedlichen realen Varietätstypen18 ergab zunächst eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit den Merkmalen der ebenfalls abstrahierten Basic Variety (BV): Sowohl Kolonialdeutsch als auch Klein/Perdues Lernervarietät weisen keine funktionalen Flexionen auf, ihr Wortschatz besteht hauptsächlich aus lexikalischen Kategorien, sie besitzen einen einzelnen Negator, markieren Zeitreferenz durch temporale Adverbien und besitzen syntaktisch einheitliche Strukturen und thematische Rollenschemata. Jedoch ist Kolonialdeutsch in einigen Punkten komplexer als BV, zum Beispiel was das Pronominalsystem, die Anzahl der Zahlworte und das Vorhandensein von Komplementen anbelangt. „Couldn't natural languages be much simpler?“, fragen Klein/Perdue (1997) im Titel ihres Aufsatzes zu den Prinzipien von Basic Variety. Der Vergleich mit den wirklich natürlichen Varietäten Unserdeutsch und Gastarbeiterdeutsch lässt annehmen, dass natürliche Varietäten eher sehr viel uneinheitlicher sind. Einige der Merkmale von Kolonialdeutsch wie das Vorhandensein bestimmter Artikel, die Flexion von Hilfsverben und die Inversion im Fragesatz kommen bei Unserdeutsch und Gastarbeiterdeutsch nicht oder nur sehr bedingt vor. Wie auch Mühlhäusler (1984: 54) in seinem ausführlichen Vergleich von verschiedenen Pidgin-Deutsch Varietäten anhand von Bickertons Merkmalliste19 für Kreolsprachen fest18
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Bei einem Kreol wie Unserdeutsch – einer erweiterten Kontaktsprache, die muttersprachlich gesprochen wird – kann man mit einer stabilen Normbildung sowohl innerhalb der Sprachgemeinschaft (synchron) als auch über die Generationen hinweg (diachron) rechnen. Bei Gastarbeiterdeutsch hingegen handelt es sich um eine Zwischensprachvarietät (Engl. interlanguage) – einem fossilisierten Stadium des unvollendeten Zweitspracherwerbs – die beträchtliche inter- und intrasprachliche Variation aufzeigt. Das in Deutschland von Migrationsarbeitern unterschiedlicher sprachlicher Herkunft gesprochene Gastarbeiterdeutsch ist daher sehr viel weniger stabil als Unserdeutsch oder auch ein stabiles Pidgin. Mit Basic Variety (BV, cf. Klein/Perdue 1997) ist ein Typ von Varietät gemeint, der regelmäßig in den ersten Stadien von natürlichem Zweitspracherwerb vorkommt. Die Strukturen von BV scheinen unabhängig von Zielsprache und von L1 des Lerners zu sein. Oft kommt es in diesem Stadium des Spracherwerbs zu einer Fossilisierung, und eine weitere Annäherung an die Zielsprache bleibt aus. Derek Bickerton hat 1981 eine 12-Punkte-Liste von sprachlichen Merkmalen aufgestellt, die typischerweise in Kreolsprachen – unabhängig von den konkreten sprachlichen Einflüssen – vorkommen.
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stellt, gibt es überraschend wenig Konsistenz, was die sprachlichen Charakteristika von vereinfachten Varietäten des Deutschen angeht.20 Dies betrifft nicht nur den Unterschied zwischen den natürlich vorkommenden Varietäten, sondern auch den Unterschied zwischen natürlichen und künstlich konstruierten Varietäten. Auch weisen einige der natürlich vorkommenden Pidgin und Kreol-Varietäten ‚untypische’ Merkmale, wie beispielsweise den Einsatz eines Kopulaverbs auf – beides auch Teil der grammatikalischen Merkmale von Unserdeutsch und Gastarbeiterdeutsch, sowie auch von Schwörers Kolonialdeutsch. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch eine ganze Reihe von Merkmalen, die die natürlichen Kontaktsprachen und dem Kolonialdeutsch gemeinsam haben, vielleicht weil sie grundsätzlichere Kernmerkmale sind, z.B. dass Präpositionen multifunktional sind, dass die Verben weitgehend im Infinitiv erscheinen. Auch die Reduzierung des Lexikons auf einen Basiswortschatz mit den dazugehörigen lexikalischen Expansions-Strategien, wie es im Kolonialdeutsch vorgeschlagen wurde, sind generelle Merkmale von natürlichen Pidginsprachen.21 In der Diskussion über den ‚Realitätsbezug’ von Kolonial-Deutsch bietet sich ein Exkurs über eine weitere Varietät an: Zwar wurde Kolonialdeutsch im damaligen Südwest-Afrika nie eingesetzt, dennoch hat die deutsche Präsenz ihre sprachlichen Spuren im kolonialen und nachkolonialen Namibia hinterlassen. Dies gilt vor allem für das Hochdeutsch, das viele Nachfahren deutscher Siedler pflegen. Darüberhinaus gibt es allerdings auch eine – bislang wenig beachtete – Kontaktvarietät, die von schwarzen Namibiern mit unterschiedlichem muttersprachlichen Hintergrund als Zweitsprache gesprochen wird. In ihrer Studie zu Sprachkontakt und Zweitspracherwerb untersucht Deumert (2003) die Präsenz und Struktur des Namibian Black German (oder ‚Küchendeutsch’, wie es auch von seinen Sprechern genannt wird). Da die meisten KüchendeutschSprecher über 50 Jahre alt sind, so Deumert, kann man davon ausgehen, dass diese Kontaktvarietät in geraumer Zeit aussterben wird. Jüngere schwarze Namibier orientieren sich stärker an Englisch oder Afrikaans als inter-ethnische Kommunikationssprachen, beide Sprachen wurden in unterschiedlicher Weise – Afrikaans vor und Englisch nach Namibias Unabhängigkeit im Jahre 1990 – durch die Sprachpolitik des Landes gefördert. 20 21
Allerdings ist die Liste etwas irreführend. So wird z.B. Kolonialdeutsch der Wegfall von bestimmten Artikeln zugeordnet, was sich weder aus der Beschreibung Schwörers noch aus seinen Sprachbeispielen schließen lässt. Nicht jedoch von den muttersprachlich gesprochenen Kreolsprachen.
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Die Entwicklung von Küchendeutsch scheint durch die soziopolitischen Verhältnisse unter dem Apartheid-Regime unter ähnlichen Bedingungen verlaufen zu sein, wie sie typischerweise bei Kontaktsprachen zu finden sind: The legal, political as well as socioeconomic isolation of the African population defined a contact situation vaguely reminiscent of the colonial settlements on which many pidgins and creoles developed: access to the lexifier was limited and restricted to the work environment, and acculturation to the superstrate community was even in principle impossible. (Deumert 2003: 577)
Die Autorin sieht Küchendeutsch als einen Grenzfall zwischen Pidgin und Interlanguage an, schließlich erfolgte der Spracherwerb von Deutsch eher unter individuell verschiedenen (Arbeits-)bedingungen. Wenngleich der Gebrauch von Küchendeutsch hauptsächlich der Verständigung zwischen schwarzen Namibiern und deutschsprechenden weißen Namibiern vorbehalten ist, gibt es doch auch bestimmte Situationen, wo Deutsch auch über diese spezielle inter-ethnische Kommunikation hinaus eine Rolle spielt, „these include conversational banter, ritual insults and verbal duelling, swearing, the keeping of secrets as well as instances of conversational Afrikaans-German code-mixing“ (Deumert 2003: 577). Ein wirklicher Vergleich zwischen Kolonialdeutsch und Küchendeutsch kann aufgund von fehlenden Vergleichsdaten hier nicht vorgenommen werden – Deumerts Studie beschäftigt sich hauptsächlich mit Genus- und Tempusmarkierungen. Dennoch wird aus Deumerts Studie klar, dass auch hier die Konstruktion des Kolonialdeutsch und die Realität der echten Kontaktvarietät nicht übereinstimmen. 4.
„[…] eine gute Stelle an de Sonne“ für Kolonialdeutsch? Ein Ausblick
In seiner Schlussbemerkungen zu Kolonial-Deutsch schreibt Schwörer: Es mag sein, daß diese bisher neuen Vorschläge des K.D. einigen gelehrten und ungelehrten Theoretikern als revolutionärer Willkürakt erscheinen wird. Ein um so höheres Verdienst wird es für die deutsche Kolonialverwaltung sein, zum ersten Mal ein hochwichtiges Sprachproblem vom praktischen und vom deutschen Standpunkt aus der tatsächlichen Lösung entgegenzuführen. (Schwörer 1916: 62)
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Doch Schwörers sprachplanerischer Vorschlag, wäre er denn tatsächlich angenommen worden, kam zu spät. Zur Zeit der Publikation von Kolonialdeutsch hatte sich bereits die politische Situation verändert und Südwestafrika war unter südafrikanischer Kontrolle. Am Ende des ersten Weltkrieges waren schließlich auch die kolonialen Expansionsträume Deutschlands zu einem Ende gekommen und Kolonial-Deutsch verschwand unwiderruflich in den Archiven der Kolonialgeschichte. Wie sähe wohl die Sprachwelt aus, wenn Schwörers Kolonial-Deutsch tatsächlich in den damaligen deutschen Kolonien zum Einsatz gekommen wäre? Hätte es Deutsch womöglich noch geschafft, eine Weltsprache zu werden und unterschiedliche afrikanische (und weitere) Varietäten auszubilden? Hätte es gar das Englische als Weltsprache zurückdrängen können? Sicherlich nicht. Selbst wenn die Geschichte der militärischen Vorherrschaft einen anderen Verlauf genommen hätte, so war doch der von Schwörer so betitelte „schwere[n] Wettkampf unserer Sprache mit der englischen“ (1916: 6) bereits verloren und Englisch längst unumstrittene Weltsprache. Dennoch hätte eine Einführung von Kolonialdeutsch sicherlich eine – wenngleich geringere als angestrebt – Auswirkung gehabt. Die Frage ist, ob das Resultat nach Schwörers Geschmack gewesen wäre. Künstlich konstruierte Sprachen, so zeigt es die Geschichte22, können ebenfalls ‚außer Kontrolle’ geraten und von ihren Sprechern kreativ erweitert werden. Es scheint sehr zweifelhaft, dass in dieser sehr künstlichen Sprachsituation für sowohl eine kleine Anzahl deutscher Muttersprachler und einer größeren Zahl von Sprachlernern Erfolg beschieden wäre ohne – und das mag das wahrscheinlichste Szenario sein – dass die Regeln in der kreativen Anwendung eine Phase der Diffusion durchlaufen hätten, um sich dann womöglich neu zu fokussieren. Schwörers Regelwerk auf dem Papier wäre dann durch natürliche Prozesse unterlaufen worden und möglicherweise wären Schwörers Befürchtungen eines „Chaos, ein[es] Emporwuchern korrumpierter sog. ‚Sprache’, ein Pidgin-Deutsch“ im allerschlimmsten Sinne“ (1916: 6) doch noch zu Realität geworden.
22
Siehe z.B. die Geschichte von Volapük, einer hauptsächlich auf Englisch und Deutsch basierten künstlichen Sprache, die 1880 von Johann Martin Schleyer kreiert worden war und zu einem großen Erfolg wurde. Die Sprache kollabierte jedoch Ende des 19. Jahrhunderts zu dem Zeitpunkt, als sein Erfinder die Kontrolle über die vielen Modifizierungen, weiteren Vereinfachungen und Restrukturierungen verlor, die die stark angewachsene Zahl von Sprechern machte – sozusagen als die Benutzer die Sprache kreativ zu verwenden begannen.
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Literatur
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Schwörer, Emil (1916): Kolonial-Deutsch. Vorschläge einer künftigen deutschen Kolonialsprache in systematisch-grammatikalischer Darstellung und Begründung. Diessen vor München. Sembritzki, Emil (1911): Kolonial-Gedicht- und Liederbuch. Berlin. Smith, Woodruff D. (1987): Anthropology and German colonialism, In: Arthur, J. Knoll und Lewis H. Gann (Hg.), Germans in the Tropics. New York, 39-57.
Mathilde Hennig Zum deutschen Blick auf grammatische Eigenschaften von Kolonialsprachen The paper issues the German perspective on grammatical features of African languages during the period of German colonies in Africa. It is empirically based on six grammar-books of Niger-Congo-languages written by German authors between 18991911. The study aims at finding out, how the description of grammatical features of the Niger-Kongo-languages is influenced by the authors knowledge of the German grammatical system. Two major issues are followed: (1) The German category system as a modell for the description of colonial languages. In this chapter examples for unadaquate usage of German categories for registering features of the target languages are given (i.e. speaking of case-categories although the category ‚case’ does not exist in the handled languages). (2) Difficulties in dealing with unknown categories. By focussing on grammatical features which do not fit in the well known Latin and/or German categories (e.g. special aspectual verbal forms), the limitations of the German view on the African languages can be demonstrated.
Für Vilmos Ágel zum 50. Geburtstag
1.
Einführung
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der deutschen Perspektive auf die Grammatik afrikanischer Sprachen zu Zeiten deutscher Kolonien. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob sich die „kolonisatorische Identität“ (Warnke i.d.B.: 6) auch in der grammatischen Beschreibung von Kolonialsprachen niederschlägt. 1.1 Die untersuchten Grammatiken Die empirische Grundlage der hier vorzustellenden Überlegungen bilden die folgenden Darstellungen zur Grammatik afrikanischer Sprachen: Velten (1901): Kinyamŭesi Wolff (1905): Kinga-Sprache Raddatz (1899): Suahili Mischlich (1911): Hausa-Sprache Westermann (1907): Ewe-Sprache Meinhof (1906): Grundzüge einer vergleichenden Grammatik der Bantusprachen
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Bei diesen Sprachen handelt es sich um Niger-Kongo-Sprachen. Hausa und Ewe gehören der Niger-Kongo-Gruppe A an, die anderen Sprachen der Niger-Kongo-Gruppe B, die als ‚Bantusprachen’ bezeichnet werden. Da es sich bei den Texten nur um eine kleine Auswahl aus der Fülle an grammatischem Material zu Kolonialsprachen handelt, kann der Beitrag keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der Erfassung der grammatischen Darstellungsweise erheben. Folglich sollen auch keine quantitativen Aussagen getroffen werden, es geht vielmehr um ein qualitativ ausgerichtetes exemplarisches Bild von möglichen Konsequenzen der kolonisatorischen Perspektive auf die Beschreibung von grammatischen Eigenschaften von Kolonialsprachen. Mit der Konzentration auf ausgewählte Einzeltexte, die exemplarisch für eine Gruppe von Texten eines Diskurses stehen, folge ich Warnke: „Der Einzeltext hebt sich gegen den Diskurs als Gesamtheit von Texten eines Wissenschaftsfeldes bzw. Themas ab und wird zur Spur einer Ordnung der Dinge in der Sprache.“ (i.d.B.: 41) Der Beitrag beschäftigt sich also am Beispiel der Grammatik mit der Frage, inwiefern die „deutsche Brille“ die Beschreibung der afrikanischen Sprachen prägt. Typologische Fragestellungen sind deshalb nachrangig, es geht nicht um eine Erfassung der typologischen Eigenschaften der zur Debatte stehenden afrikanischen Sprachen, sondern lediglich um den deutschen Blick auf diese Sprachen. Der Beitrag gliedert sich in das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes ein, die sprachliche Gestalt der kolonisatorischen Identität in ausgewählten Quellentexten aufzuspüren. Ausgangspunkt ist Warnkes These, wonach sich Kolonialismus auch durch Kommunikation aufbaut. Im Sinne des diskursanalytischen Ansatzes des Sammelbandes werden Grammatiken von Kolonialsprachen hier als Bestandteile des Kolonialsprachendiskurses aufgefasst. Sie sind Teil des pragmatischen Schrifttums, indem sie die beiden von Warnke in diesem Band beschriebenen Kommunikationsrichtungen – nach Außen, in die Kolonie einerseits und innerhalb des Kaiserreiches andererseits – verbinden: Es handelt sich um Texte, die aus der wie auch immer gearteten (häufig missionarischen) Tätigkeit der Autoren in deutschen Kolonien entstanden sind. Die Autoren beschreiben es als ihr Bedürfnis, ihre im Kolonialgebiet erworbenen Kenntnisse über die jeweiligen Sprachen festzuhalten: […] sie [die Aufzeichnungen, M.H.] sind also nicht gemacht, nur um etwas zu schreiben, sondern damit sie von Nutzen seien für solche, die sich mit Bantusprachen überhaupt und insonderheit mit der Kingasprache beschäftigen wollen. (Wolff 1905: VII)
Deutscher Blick auf grammatische Eigenschaften von Kolonialsprachen
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Diese Grammatik […] möchte […] in erster Linie dazu dienen, den in unserer deutschen Kolonie Togo arbeitenden Europäern das Verständnis der EweSprache zu erleichtern. (Westermann 1907: 3)
Dabei geht es darum, diese Kenntnisse einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit in den Kolonien und im Kaiserreich mitzuteilen. Die Beweggründe sind unterschiedlicher Art. Einige Autoren verbinden wissenschaftliche Ansprüche mit ihren Darstellungen und wollen einen weiteren fachwissenschaftlichen Beitrag zur Erfassung afrikanischer Sprachen leisten: Daneben wird es mir eine Freude sein, wenn auch heimische Fachkreise durch diese Arbeit auf die Ewe-Sprache aufmerksam gemacht werden. (Westermann 1907: 3)
Während die Zielgruppen solcher Grammatikbücher in erster Linie die heimischen Fachkreise sind, verfolgen andere Autoren eher praktische Zwecke, indem sie Hilfsmittel zum Erlernen der von ihnen beschriebenen Sprachen zur Verfügung stellen wollen. So betont beispielsweise Raddatz, daß das vorliegende Buch lediglich für elementare praktische Zwecke bestimmt ist und daher die Regeln nicht immer in ein wissenschaftliches Gewand kleidet. (Raddatz 1899: IV).
Aber auch Meinhof, der auch heute noch als ein Wegbereiter der Erforschung der Bantusprachen gilt,1 ordnet das akademische Interesse der angestrebten Benutzbarkeit seiner Grammatik unter: Ich hatte aber nicht die Absicht, ein gelehrtes Nachschlagewerk für europäische Bibliotheken zu schreiben, sondern ein kurzes Wort zur Orientierung, das man auch in Afrikas Sonne mit frischem Mut bis zu Ende liest. (Meinhof 1906: 5)
Im Sinne der von Warnke (i.d.B.: 42) vorgeschlagenen mehrdimensionalen Gliederung des Kolonialkorpus aufgrund der fünf Dimensionen „Akteure, 1
Vgl. Möhlig (1981: 84): „Inzwischen klassische Werke der Bantuistik, die auch heute noch ihre Gültigkeit haben, sind Meinhofs ‚Grundriß einer Lautlehre der Bantusprachen’ (1899 […]) und seine ‚Grundzüge einer vergleichenden Grammatik der Bantusprachen’ (1906).“ Als bahnbrechend werden bspw. seine Hypothese zur Entstehung der Bantusprachen sowie seine Versuche einer linguistisch fundierten Gliederung der Bantusprachen angesehen (Möhlig 1981: 99f./103). Ein weiteres Indiz für die Bedeutung Meinhofs, ist die Tatsache, dass sein Grundriß einer Lautlehre der Bantusprachen 1932 in einer erweiterten englischsprachigen Version erschienen ist (Meinhof/Warmelo 1932). Meinhof wurde 1909 Inhaber des weltweit ersten Lehrstuhls für Afrikanistik in Hamburg.
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Themen, Symbolgestalt, Handlungsmuster und ihre Textsorten sowie Phasen“ sind die Grammatikbücher aus den hier angedeuteten Handlungsmustern entstandene Textsorten. Als Akteure kommen von den von Warnke aufgelisteten in erster Linie die Missionsgesellschaften in Frage. Es gibt aber durchaus auch grammatische Darstellungen von Sprachwissenschaftlern (wie etwa die Arbeiten von Carl Meinhof). Aber auch in sprachwissenschaftlichen Kontexten entstandene Grammatiken offenbaren teilweise heute naiv wirkende Vorstellungen über den Beschreibungsgegenstand ‚Grammatik’: Die Grammatik des kinyamŭesi, speciell des Dialectes von Unyanyembe, hoffe ich bis in ihre Einzelheiten hiermit festgelegt zu haben. Es dürfte sich nur wenig Nachtragenswerthes finden. (Velten 1901: VII)
Im Sinne der von Warnke unterschiedenen exo- und esoterischen Thematisierung handelt es sich um „beiläufige oder von kleineren Spezialistenkreisen hinterlassene Spuren des Sprechens über die Kolonien“ (Warnke i.d.B.: 46) und somit um esotorische Thematisierung. Themenbereich sind „autochthone Kulturen und Sprachen“ (i.d.B.: 47), die es mit den Grammatikdarstellungen zu dokumentieren gilt. Es handelt sich also um beschreibende Texte, wobei allerdings zu hinterfragen sein wird, ob diese Texte tatsächlich „neutrale Textsorten der Deskription“ (Warnke i.d.B.: 51) sind. 1.2 Kolonialgrammatik im Forschungskontext Während mit dem vorliegenden Sammelband ein für die germanistische Linguistik neues Forschungsfeld etabliert werden soll, kann die ‚Missionarslinguistik’ bzw. ‚Koloniallinguistik’ im Rahmen der ‚colonial studies’ in der Romanistik als etablierter Forschungszweig gelten. Mit der Bezeichnung ‚Kolonialgrammatik’ wird der Untersuchungsgegenstand auf die „frühneuzeitliche Grammatik in Übersee“ eingegrenzt (Schmidt-Riese 2004: 2). Anliegen der Kolonialgrammatik ist es, „die Kategorisierung grammatischer Domänen durch die europäischen Missionare im Detail zu rekonstruieren, so wie sie sich in den historischen Texten manifestiert“ (Schmidt-Riese 2004: 4). Vor allem die Beobachtungen zum Einfluss der lateinischen Grammatiktradition auf die Grammatisierung2 von Sprachen der Neuen Welt und zu den Konsequenzen für die Kategorisierung bieten eine wichtige Grundlage für Überlegungen zum Einfluss der deutschen bzw. lateini2
‚Grammatisierung’ meint hier die Erfassung grammatischer Systeme von Volkssprachen, vgl. Oesterreicher (2005: 106).
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schen Grammatiktradition auf die Grammatisierung der deutschen Kolonialgebiete. Zu Recht wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass auch die europäischen Sprachen qua Akkulturation dem Modell der lateinischen Grammatik unterworfen wurden, sodass „sich die Applikation des Modells der lateinischen Grammatik auf die amerindischen Sprachen zuerst einmal durchaus noch als Fortsetzung eines europäischen Projekts sehen“ ließen (Oesterreicher 2005: 109). Schmidt-Riese weist darauf hin, dass das lateinische Vorbild nicht unbedingt nur als Handicap betrachtet werden muss, da schlechte Kategorien besser seien als keine: „Der Zugriff auf die Strukturen der Zielsprachen konnte auf der Basis der durch die Tradition vermittelten Kategorien wesentlich schneller erfolgen, als es in Abwesenheit einer grammatischen Tradition möglich gewesen wäre“ (SchmidtRiese 2004: 5f.). Die von der Überzeugung, dass Kategorien grundsätzlich Voraussetzung des Erkennens sind (Schmidt-Riese 2004: 6), ausgehende These, dass die grammatischen Gegebenheiten einer Zielsprache mit schlechten Kategorien besser erfasst werden können als ohne bereits vorhandene Kategorien, wird hier anhand der vor dem Hintergrund des deutschen Kolonialismus erfolgten Grammatisierungsversuche afrikanischer Sprachen zu überprüfen sein. In Bezug auf die amerindischen Sprachen stellt Oesterreicher fest, dass die ungleich größere typologische Differenz zum Lateinischen einen im europäischen Rahmen unbekannten Typ von grammatischer Sprachreflexion hervortreibt, der zu kategorialen Innovationen führt (2005: 109f.). Dabei verfolgen die Autoren das lateinische Modell so weit, „wie es die Integration der Daten erlaubt“ (Oesterreicher 2005: 110). Dagegen führen „die zahlreichen ‚widerspenstigen’ Daten […] bei den Autoren aber eben zu einer Flexibilisierung und Modifikation des kategorialen Rahmens“ (Oesterreicher 2005: 110). Auch Schmidt-Riese geht davon aus, dass „insbesondere im Fall reflexiver Kategorien wie der grammatischen […] die Subsumtionsvorgänge unvermeidlich zur Revision der Kategorie, unter Umständen zu deren Zerbrechen“ führen (Schmidt-Riese 2004: 8). Auch in Bezug auf die Einschätzungen zur Innovationsfreudigkeit soll im vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen werden, ob sich diese Einschätzung auch für die im Zusammenhang mit der deutschen Kolonialisierung stehende Grammatisierung afrikanischer Sprachen halten lässt. 1.3 Vorgehensweise Ausgehend von Kleins (2004: 381) Unterscheidung der Dimensionen ‚Autor’, ‚Rezipient’, ‚Text’ und ‚Daten’ bei der begrifflichen Erfassung von ‚Deskription’ und ‚Präskription’ in der Grammatikschreibung konzentriert
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sich vorliegender Beitrag auf die Textdimension.3 Im Mittelpunkt stehen folglich die die jeweiligen grammatischen Eigenschaften beschreibenden Texte als solche. Mögliche Rekonstruktionen der Absichten der Autoren sind ebenso wenig intendiert wie Mutmaßungen über Kontexte der Rezeption der Grammatikbücher. Auch die für den „kolonialen Blick“ äußerst aufschlussreichen Daten (= hier: die verwendeten Beispiele) als solche sind nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages.4 Vielmehr werde ich auf die Beispiele nur dann zurückgreifen, wenn sie die Grundlage für Schlussfolgerungen bilden, die aus den grammatischen Erklärungen nicht hergeleitet werden können. In den Abschnitten 2 und 3 werden Beispiele für möglicherweise deutsch-perspektivisch ausgerichtete grammatische Beschreibungen aus dem Quellenmaterial aufgeführt. Wie bereits gesagt, geht es dabei nicht um eine systematische Erfassung des Materials, sondern eher darum, einen Eindruck von den Auswirkungen des deutschen Blicks auf die grammatische Beschreibung zu vermitteln. Dabei beschäftigt sich Abschnitt 2 mit solchen Fällen, in denen die grammatische Beschreibung vom deutschen bzw. lateinischen Kategorieninventar ausgeht, obwohl die jeweiligen Kategorien möglicherweise nicht relevant für die Beschreibung der Zielsprachen sind. Mit Abschnitt 3 soll der umgekehrte Fall erfasst werden, indem Beispiele für Probleme der Erfassung solcher grammatischen Erscheinungen der Zielsprache aufgeführt werden, die vom Deutschen bzw. Lateinischen her nicht bekannt sind. Abschnitt 2 thematisiert folglich die Überschreitung des Datenmaterials mit der grammatischen Erklärung und Abschnitt 3 die Unterschreitung des Datenmaterials und somit Grenzen einer am Deutschen ausgerichteten grammatischen Beschreibung von Kolonialsprachen. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn die Daten (= hier: die Zielsprachen) mit Hilfe von Kategorien beschrieben werden, die grammatische Erscheinungen erfassen, über die die jeweilige Zielsprache 3
4
Dies soll nicht bedeuten, dass es hier um den deskriptiven vs. präskriptiven Charakter der Grammatikbücher gehen soll. Ich meine vielmehr, dass die von Klein in diesem Kontext vorgestellten Dimensionen auch auf andere sprachwissenschaftliche Darstellungsformen und Anliegen übertragbar sind. Erwähnt sei nur am Rande, dass in den Beispielsätzen und Paradigmenübersichten auffällig häufig das Verb schlagen vorkommt. Bei im Deutschen nicht vorhandenen grammatischen Kategorien nimmt das mitunter groteske Züge an: „Ich werde schlagen, wenn ich ihn sehe, oder dorthin komme, wo er sich befindet.“ (Wolff: 75) „Ich werde ihn schlagend sein, in der Ferne.“ (Wolff: 77) Wenn man annimmt, dass diese Gestaltung der Beispiele in unmittelbarem Zusammenhang zum kolonialen Hintergrund steht, verwundert es um so mehr, Paradigmenübersichten mit schlagen auch in einem modernen Lehrbuch des Suahili zu finden (Wandeler 2005: 75f., 89, 148, 209). Dass dieses Beispielmaterial sich sogar bis ins Zeitalter der political correctness hinein gehalten hat, ist ein beredtes Zeugnis der nachhaltigen Auswirkungen des deutschen Kolonialismus.
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gar nicht verfügt, geht die Beschreibung über das Datenmaterial hinaus, es wird überschritten. Wenn dagegen die Konzentration auf das bekannte Kategorieninventar dazu führt, dass grammatische Erscheinungen der Zielsprache nicht erfasst werden können, kann keine vollständige Beschreibung der Zielsprache erreicht werden, das Datenmaterial wird unterschritten. Das Gliederungsprinzip des vorliegenden Beitrages ist ein an der Textdimension orientiertes, es sollen also nicht die einzelnen Quellentexte sukzessive abgearbeitet werden. Durch die durch dieses inhaltliche Prinzip entstehende Mischung der Quellentexte soll allerdings nicht der Eindruck der Uniformität erweckt werden. Vielmehr lassen die Quellentexte zum Teil gravierende Unterschiede in der den Zielsprachen entgegengebrachten Sensibilität erkennen. Auf diese Unterschiede wird an einigen Stellen hinzuweisen sein. 2.
Zum deutschen Kategoriensystem als Modell für die Beschreibung von Kolonialsprachen
Bereits die Gliederungen der Grammatikbücher lassen eine Anlehnung an die Tradition der deutschen Grammatikschreibung erkennen. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Beispiel 1: Wolff Lautlehre Wortlehre Substantiva Adjektiva Pronomina […]5 Numeralia Verba […] Adverbia Präpositionen Konjunktionen Interjektionen Satzlehre Beispiel 2: Westermann Erster Hauptteil. Lautlehre6 5
Die Auslassungen kennzeichnen Subkapitel.
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Mathilde Hennig […] Zweiter Hauptteil. Tonlehre […] Dritter Hauptteil. Formenlehre Das Substantiv Das Pronomen Das Verbum Das Adjektiv Das Zahlwort Das Adverb Die Konjunktion Die Interjektion Vierter Hauptteil. Satzlehre (Syntax) Erstes Kapitel. Syntax einzelner Redeteile Syntax des Verbum. Gebrauch der Verbformen. Syntax des Adjektivs. Steigerung. Zweites Kapitel. Der Satz Der Satz im Allgemeinen Besondere Arten von Sätzen Fünfter Hauptteil. Wortbildungslehre Bildung des Substantiv Bildung des Verbum Bildung des Adjektiv Bildung des Adverb Bildung der Konjunktion
Vergleicht man diese beiden exemplarisch aufgeführten Gliederungen mit Grammatiken des Deutschen aus dem 19. Jahrhundert, so fallen vor allem die Übereinstimmungen im Bereich der Wortlehre auf. Die Wortarten, die zum Ausgangspunkt der Beschreibungen gemacht werden, decken sich bis auf kleine Ausnahmen mit den in zeitgenössischen Grammatiken des Deutschen anzutreffenden. So geht beispielsweise Becker in seiner Ausführlichen deutschen Grammatik als Kommentar der Schulgrammatik von den Wortarten Verb, Substantiv, Adjektiv, Pronomen, Zahlwort, Adverb, Präposition und Konjunktion aus. Blatz nimmt in der Neuhochdeutschen Grammatik Artikel, Substantiv, Adjektiv, Numerale, Pronomen, Verbum, Adverb, Präposition, Interjektion und Konjunktion als Wortarten an. Bei Wolff und Westermann finden sich acht bzw. neun dieser Wortarten – bei beiden ist kein Artikel vorgesehen, Westermann hält darüber hinaus auch die Präposition für nicht einschlägig (vgl. Abschnitt 2.3). 6
Ich verzichte auf die Wiedergabe der Gliederung zur Lautlehre und zur Tonlehre, weil diese nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist. Auch bei den weiteren Hauptteilen werde ich jeweils nur die Oberkapitel angeben.
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Wenn man diese Gliederungen dagegen jüngeren Darstellungen zu den einschlägigen Sprachen gegenüberstellt, so fällt auf, dass das aus dem Deutschen übernommene Gliederungsprinzip nicht die Relevanzverhältnisse der grammatischen Teilbereiche in den Niger-Kongo-Sprachen widerspiegelt. So beschreibt Möhlig als „hervorstechendste[s] Merkmal der Bantusprachen […] ihre Nominalklassenstruktur. Jedes Nomen mit Ausnahme der Eigennamen gehört in eine bestimmte grammatische Klasse.“ (1981: 92) In drei der diesen Überlegungen zugrunde gelegten Grammatiken finden sich keine Kapitel zu den Nominalklassen (Westermann, Raddatz und Mischlich). Hervorzuheben ist dagegen Meinhof, auf dessen Nominalklassensystem man sich noch heute beruft (vgl. Möhlig 1981: 92f.). Als weiteres herausragendes Merkmal der Bantusprachen benennt Möhlig (1981: 92) das Prinzip der Konkordanz: „Alle syntaktisch abhängigen Syntagmen eines Satzes auf der Wortebene werden in derselben Klasse konstruiert [mit Hilfe von Klassenpräfixen, M.H.], in der das herrschende Nomen steht.“ Dieses zentrale Prinzip kommt in den stark von einzelnen Wortarten ausgehenden Darstellungen zu kurz, zumal in allen untersuchten Grammatiken die Syntax eine deutlich untergeordnete Rolle spielt – Velten, Raddatz und Mischlich haben kein Kapitel zur Syntax, bei den übrigen Autoren spielt die Syntax proportional eine untergeordnete Rolle. Mit den Nominalklassen und dem Konkordanzprinzip seien nur zwei Beispiele dafür genannt, inwiefern die Orientierung an Gliederungsprinzipien deutscher Grammatiken zu Perspektivierungen führen kann, die möglicherweise den Blick auf für die Zielsprachen wesentliche Prinzipien verstellen. Als Paradoxon kommt hinzu, dass die Erfassung der deutschen Grammatik stark am lateinischen Vorbild orientiert ist. Das Deutsche fungiert quasi als Vermittlungsinstanz zwischen den zu erfassenden Kolonialsprachen und dem grammatischen System des Lateinischen. Die folgende Übersicht ist in zentrale grammatische Bereiche untergliedert, in denen deutsch-perspektivische Beschreibungen anzutreffen sind. Die Gliederung erhebt keinen Anspruch auf eine grammatische Systematik, sondern folgt dem Belegmaterial. Dass dabei die Wortarten als Gliederungsprinzip dominieren, ist der Tatsache geschuldet, dass in den Quellentexten die nach Wortarten gegliederten Darstellungen der Morphologie den größten Raum einnehmen.7
7
Aus Gründen der Überschaubarkeit klammere ich die in einigen Quellentexten erfasste Lautlehre aus und beschränke mich auf den Kernbereich der Grammatik.
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2.1 Der nominale Bereich Ein zentrales Problem in der grammatischen Beschreibung des Nominalbereichs wird in der Erfassung von Ersatzformen zur deutschen Deklination der Substantive gesehen. Die deutsch-perspektivische Darstellungsweise gipfelt hier darin, dass Kapitel mit ‚Deklination’ überschrieben werden (Velten: 14; Mischlich: 20), die mit der lapidaren Feststellung beginnen: − − − −
„Eine eigentliche Deklination existiert nicht“ (Velten 1901: 14) „Eine eigentliche Deklination im Hausa gibt es nicht, das Substantiv bleibt in allen Kasus unverändert“ (Mischlich 1911: 20) „Nominativ, Dativ und Akkusativ der Hauptwörter sind gleich, da der Begriff des Kasus überhaupt fehlt“ (Wolff 1905: 101) „Der Ausdruck der Kasus-Idee ist im Bantu völlig verschieden von europäischen Anschauungen. Die Kasusbezeichnung am Nomen ist nicht etwa verloren gegangen wie im Französischen und Englischen und dann durch Präpositionen ersetzt, sondern sie ist nie vorhanden gewesen. Für den Ausdruck des Kasus werden Veränderungen des Verbum finitum verwandt, und auf diesem Prinzip beruht die charakteristische Eigentümlichkeit des Bantu“ (Meinhof 1906: 27)
Obwohl erkannt wird, dass die Einheitenkategorie Kasus offenbar nachrangig ist, werden ihr eigene Kapitel gewidmet. Diese Diskrepanz ist besonders ausgeprägt bei Meinhof, der einerseits klar hervorhebt, dass es nie eine Kasusflexion im Bantu gegeben hat und andererseits dem Kasus ein Kapitel mit Teilkapiteln zu Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv widmet. Inhalt dieser Kapitel sind dann natürlich nicht die Kasuskategorien als solche, da sie ja nicht existieren, sondern die Suche nach Entsprechungen. Es geht also um die Frage, wie die Inhalte, die im Deutschen durch die nominale Flexion, insbesondere durch die Kategorie Kasus, realisiert werden, bei Nichtvorhandensein dieser Kategorie ausgedrückt werden. Dabei sind aus der Sicht der heutigen Grammatikforschung Feststellungen wie die von Mischlich oder Wolff höchst widersprüchlich – wenn der Begriff des Kasus fehlt, wie können dann Nominativ, Dativ und Akkusativ gleich sein? – dieser Widerspruch wird aber anscheinend nicht als solcher erkannt. Das scheint wiederum damit zusammenzuhängen, dass die heute selbstverständliche Unterscheidung grammatischer Kategorien und Relationen nicht dem damaligen Stand der Grammatikforschung entspricht: Relationale und kategoriale Begriffe werden vermischt, d. h., es wird kein Unterschied zwischen den Kasus als Flexionsformen (Einheitenkategorien des Substantivs) und der Funktion dieser Kasus, syntaktische Relationen wie Subjekt oder Objekt zu markieren, gemacht. So kommt es zu Aussagen wie
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Nominativ und Akkusativ haben dieselbe Form […] Nominativ und Akkusativ sind durch die Stellung im Satz erkenntlich“ (Velten 1901: 14) „Akkusativ unterscheidet sich vom Nominativ durch die Stellung“ (Wolff 1905: 101) „Die Kasus sind entweder an ihrer Stellung im Satz kenntlich oder werden mit Hilfe von Substantiven oder Verben ausgedrückt“ (Westermann 1907: 50) „Der Nominativ, sofern er Subjekt ist, wird regelmäßig ausgedrückt, indem das Klassenpräfix des Subjekts vor dem Verbum erscheint. […] Der Nominativ als Prädikat wird in den meisten Bantusprachen gar nicht bezeichnet“ (Meinhof 1906: 27) „Die Übereinstimmung eines Nomen mit dem Subjektspräfix des Verbum kennzeichnet es als Subjektsnominativ […] Die Übereinstimmung eines Nomen mit dem Objektspräfix des Verbum kennzeichnet es als Objektsakkusativ oder, wenn das Verbum die relative Endung –ela hat, als Objektsdativ“ (Meinhof 1906: 83)
Mit solchen Aussagen sind nicht die Flexionsformen, sondern ihre Funktionen gemeint. Durch die nicht vorhandene begriffliche Trennung von Kategorie und Relation kommt es zu der für den heutigen Leser paradox klingenden Verwendung der Begriffe für die ja eigentlich gar nicht vorhandenen Kasus. Dabei ist die Form-Funktion-Distinktion um 1900 durchaus bereits bekannt. So lassen bspw. die Satzgliedbestimmungen von Blatz eine Unterscheidung von Kasus als Formen des Substantivs und der Satzglieder als Funktionen dieser Formen im Satz erkennen (vgl. bspw.: „Das Objekt wird durch ein Substantiv oder substantivisches Pronomen bezeichnet […] und kann ausgedrückt sein durch: a. einen Akkusativ; b. einen Genitiv; c. einen Dativ; d. einen Präpositionalkasus.“ (1986: 16) „Unmittelbare Kasus und noch mehr Präpositionalkasus und Adverbien können nicht selten als Adverbiale oder als Attribute bestimmt werden […]“ (Blatz 1986: 42). Die Verwendung der sprachliche Formen bezeichnenden Begriffe für Funktionen wird bei der Suche nach Entsprechungen in der Zielsprache beibehalten. Neben der Wortstellung werden vor allem Partikelverwendungen angeführt: − − − − −
„Genitiv wird durch die Präposition –a gebildet“ (Velten 1901: 14) „Statt des Genitivs braucht man auch die Vorsilbe nya“ (Wolff 1905: 20) „Die unserem Genitiv und Dativ entsprechenden Formen werden durch Präpositionen (siehe darselbst) ausgedrückt“ (Raddatz 1899: 3) „Nur durch das zwischen zwei Substantiva gestellte Wort na oder ta = von […] wird eine Art Kasus genitivus oder Kasus possessivus gebildet“ (Mischlich 1911: 20) „Der Genetiv steht vor dem Nomen, das es näher bestimmt; gewöhnlich werden beide durch wé getrennt. Dies wé bedeutet „Platz, Ort, Heim, Eigentum“: fa wé ho „König Eigentum Haus“, d.i. des Königs Haus […] oft wird ein deutscher Genetiv im Ewe durch eine Präposition wiedergegeben“ (Westermann 1907: 51)
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Auch für den nicht mit afrikanischen Sprachen vertrauten Leser wird hier ersichtlich, dass in diesen nicht flektierenden Sprachen Partikeln eine wesentliche Rolle für die Kodierung relationaler Informationen zu spielen scheinen. Dieses völlig andere Prinzip wird hier teilweise sehr einseitig durch die flektierende Brille gesehen, indem einfach die Flexionskategorien auf die Partikelverbindungen übertragen werden. Allerdings zeichnen sich hier gewisse Abstufungen ab: Während Velten die Partikelverbindung mit der „Präposition“ –a einfach mit dem Genitiv gleichsetzt, sprechen etwa Raddatz und Westermann von deutschen Kasus entsprechenden Formen. Das kommt zwar einer die Unterschiede zwischen den Sprachen berücksichtigenden grammatischen Beschreibung schon etwas näher, andererseits entsteht auch hier der Eindruck, die zielsprachigen Entsprechungen wären quasi nur dazu da, die im Deutschen vorhandene Kasusdifferenzierung wiedergeben zu können. Sensibler ist da die Einschätzung Mischlichs, dass eine „Art Kasus genitivus oder Kasus possessivus“ gebildet werde. Es geht also gar nicht um den Genitiv, sondern es geht um den Ausdruck von Besitzverhältnissen, wie es auch Westermann deutlich macht. Trotz der Unterschiede in der Stärke der deutschen Brille bleibt allen Darstellungen gemeinsam, dass im Mittelpunkt des Interesses nicht die Frage steht, wie eine Funktion in der Zielsprache grammatisch kodiert wird, sondern die Frage, wie die hinter einer deutschen Form steckende Funktion wiederzugeben ist. Schließlich finden sich vereinzelt auch Angaben zu verbalen Entsprechungen deutscher Kasuskategorien: − − −
„Dativ kann durch Akk ersetzt werden oder beim Zeitwort durch Zufügung des Fürworts oder die relative Form des Verbs ausgedrückt werden“ (Velten 1901: 14) „Oft wird der Akkusativ durch ein Verbum wie yi, de ausgedrückt“ (Westermann 1907: 51) „Der Dativ kann nur ausgedrückt werden, indem das Verbum in die Bildung auf -ela […] gesetzt wird“ (Meinhof 1906: 28)
Die konsequente Übertragung der deutschen grammatischen Systematik auf die Zielsprachen lässt sich auch in anderen Bereichen der Nominalflexion beobachten. So enthalten die Grammatikbücher häufig auch Kapitel zu Artikeln, obwohl es diese in den beschriebenen Sprachen nicht gibt: − −
„Das Substantiv hat keinen Artikel […], ein grammatisches Geschlecht wird nicht unterschieden“ (Velten 1901: 13) „Die Hausa-Sprache zeichnet sich eben gerade durch einen sehr schwachen Gebrauch des Artikels aus“ (Mischlich 1911: 7)
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Auch zu den Adjektiven finden sich Kapitel, obwohl − − − − − −
„Die Sprache hat sehr wenig Eigenschaftswörter“ (Wolff 1905: 20) „Die Adjektiva des Bantu sind nicht zahlreich“ (Meinhof 1906: 31) Teilweise geht es auch hier um die Frage, wie die geringe Rolle der Adjektive kompensiert wird: „Dem Mangel an Adjektiven wird auf folgende Weise geholfen“ (Velten 1901: 19) „Die Sprache hat sehr wenig Eigenschaftswörter; zum Ersatz nimmt man oftmals ein Substantiv im Genitiv“ (Wolff 1905: 20) „Viele deutsche Adjektive werden im Ewe durch Verba wiedergegeben“ (Westermann 1907: 77)
Auch hier kommt es mitunter zu einer Vermischung formaler und funktionaler Eigenschaften von Adjektiven, wenn etwa als Bildungsweise des Adjektivs angegeben wird: −
„Substantiva in Verbindung mit der Präposition da (mit) oder dem Präfix mai (besitzen)“ (Mischlich 1911: 22)
Im Mittelpunkt steht die Suche nach Möglichkeiten zum Ausdruck von Vergleichen: −
−
− −
„Steigerung der Eigenschaftswörter. Besondere Komparationsformen giebt [sic] es in den Bantusprachen nicht“ (Raddatz 1899: 5); „Der Superlativ wird oft durch besondere Betonung der letzten Silbe des Eigenschaftswortes ausgedrückt“ (Raddatz 1899: 6) Der Komparativ „wird ausgedrückt durch das Verb fi = übertreffen“ (Mischlich1911: 26); Der Superlativ „wird ausgedrückt a) durch das Verb fi (übertreffen), gefolgt von dúka (alles). […] b) durch gaba-n-dúka = vor allen. […] c) durch ga dúka = zu allen, über allen“ (Mischlich 1911: 27) „Der Komparativ wird ausgedrückt 1. Durch das Verbum wú übertreffen […] 2. Durch ẃo-ta auf den Kopf schlagen, übertreffen […]“ (Westermann 1907: 102) „So wird die fehlende Komparation fast in allen Sprachen, wenn sie ausgedrückt werden muß, durch Verba umschrieben“ (Meinhof 1906: 84)
2.2 Der verbale Bereich Auffällig im verbalen Bereich sind einerseits Angaben zum Ausdruck der aus dem Deutschen bekannten verbalen Kategorien, andererseits Informationen zu durch Verben erfüllte nicht-verbale Aufgaben. Auch hier wird, wie bereits im nominalen Bereich beobachtet, als Flexion eingeordnet, was keine Flexion ist: −
„Das Verbum ist unveränderlich; die Tempus- und Modusformen werden durch Zusammensetzung mehrerer Verba oder durch Zusammensetzung von Verben und
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− − − −
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Offenbar wird die Personenreferenz hier durch Pronomina bzw. pronominale Präfixe hergestellt und nicht durch Verbalflexion. Auch hier wird also wieder von einer Funktion einer Kategorie auf diese Kategorie geschlossen, obwohl diese als formale Kategorie nicht vorhanden ist. Durch die deutsche Perspektive wird das, was möglicherweise der Normalfall ist, als Abweichung geschildert: −
„Infinitiv wird zuweilen an Stelle irgend einer Verbalform gesetzt und so die Ausdrucksweise sehr vereinfacht“ (Velten 1901: 40)
Auch hier ist zu vermuten, dass die im Deutschen als verbale Kategorien kodierten Informationen anders realisiert werden und dass somit die Unterscheidung ‚finite vs. infinite Form’ gar nicht greift. Wie im nominalen Bereich führt auch im verbalen Bereich die deutsche Brille mitunter dazu, dass etwas thematisiert wird, was gar nicht vorhanden ist. Dies ist zu beobachten an folgenden Bemerkungen zur NichtVerwendung von sein: − −
„Das Hilfszeitwort „sein“ wird in einfachen aus Subjekt und Prädikat bestehenden Sätzen nicht (oder durch das unveränderliche ni) ausgedrückt“ (Raddatz 1899: 5) „Sein: Das Präsens wird in einfachen Sätzen nicht ausgedrückt“ (Velten 1901: 53)
Es verwundert nicht, dass die nach lateinischem Vorbild auf das Deutsche übertragenen Tempora angenommen werden (so bspw. bei Velten). −
„Das Kishuahili hat Präsens, Imperfektum, Futurum und Perfektum. Die Modi sind Indikativ, Konjunktiv und Imperativ“ (Raddatz 1899: 14)
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Dabei geht es häufig um alternative Ausdrucksweisen zur Wiedergabe deutscher Tempora: − −
„Zum Ausdruck des deutschen Futurum wird la zwischen Pronomen personale und Verbalstamm eingefügt“ (Wolff 1905: 68) „Es besteht eine weitere Form mit der Endung –ile und dem Präfix a, die etwa entspricht unserm Plusquamperfekt“ (Velten 1901: 45)
Schließlich finden sich in den Kapiteln zu den Verben Angaben dazu, welche im Deutschen auf andere Art und Weise kategorisierten Informationen in den Zielsprachen verbale Entsprechungen haben: − − − −
„Die Ka-Form. […] Diese Form wird meist in der Erzählung gebraucht und pflegt zugleich das deutsche und mitzuübersetzen“ (Wolff 1905: 67) „Obengenannte Präfixe in Verbindung mit der Präposition a= von, werden zur Bezeichnung unserer Genitivform und des Besitzes gebraucht“ (Raddatz 1899: 9) „Wie oben gesagt, müssen manche Verba, wenn sie neben anderen Verben stehen, als Vertreter der deutschen Präpositionen, Adverbien und Konjunktionen dienen“ (Westermann 1907: 96) „Das Verbum findet ferner eine reichliche Verwendung zu Umschreibungen. […] Besonders merkwürdig ist die Umschreibung mancher Adverbia durch ein Verbum finitum. […] Auch Konjunktionen und Präpositionen werden durch Verbalkonstruktionen wiedergegeben“ (Meinhof 1906: 84f.)
Auch hier zeigt sich wieder, wie stark die deutsche Brille die grammatische Beschreibung prägt: Als wäre eine spezifische verbale Kategorie der Kinga-Sprache nur dazu da, das deutsche und zu übersetzen oder als dienten Präfixe des Suahili der Bezeichnung unseres Genitivs. Auch umschreiben die Verbformen nicht Kategorien wie Konjunktion, Präposition und Adverb, sondern stellen andere Ausdrucksmuster zum Ausdruck der im Deutschen durch Kategorien wie Konjunktion, Präposition und Adverb ausgedrückten Inhalte dar. Die grammatische Beschreibung des verbalen Bereichs ist also ebenso wie die des nominalen Bereichs geprägt davon, dass Form und Inhalt häufig vermischt werden. 2.3 Nicht flektierbare Wortarten Die im Deutschen nicht flektierbaren Wortarten spielen gegenüber dem nominalen und verbalen Bereich eine deutlich untergeordnete Rolle in der grammatischen Beschreibung. Das liegt sicherlich daran, dass – wie wir bereits im Teilkapitel zum verbalen Bereich gesehen haben – die im Deutschen durch diese Wortarten ausgedrückten Inhalte häufig anders kodiert werden.
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Im Folgenden sollen Adverbien und Präpositionen aus dem Bereich der nicht flektierbaren Wortarten herausgegriffen werden. Bei den Adverbien ist wieder die nun bereits bekannte Gleichsetzung von Funktion und Form zu beobachten: − −
„Das Umstandswort. Außer eigentlichen Adverbien werden auch Substantiva und zusammengesetzte Ausdrücke adverbial gebraucht“ (Raddatz 1899: 27) „Wie schon gesagt ist […], wird das Adverb oder die adverbielle Bestimmung, wenn sie ein Substantiv ist oder ein solches enthält, durch le eingeleitet […]“ (Westermann 1907: 81)
Zwar unterscheiden sowohl Raddatz als auch Westermann Adverbien und Adverbiale, ordnen aber beide Perspektiven dem Kapitel ‚Adverb’ bzw. ‚Umstandswort’ zu. Auch hier ist bei einigen Autoren wieder die Frage nach der Umschreibung von Adverbien zentral: − −
„Adverbien. Eine besondere Adverbialbildung gibt es nicht. Die deutschen Adverbien werden ausgedrückt durch Adjektiva mit dem Präfix der 4. und 8. Klasse ohne vokalischen Anlaut […] ferner durch Substantiva“ (Wolff 1905: 95) „Die außer den […] aufgeführten Adverbialbildungen vorkommenden Umschreibungen der Adverbia mögen hier eine Stelle finden. Man verwendet häufig die Substantiva. Vgl. hierzu den ‚adverbialen Akkusativ’ […] Die Pronomina von Kl. 16-18 werden selbstverständlich viel zum Ausdruck des Adverbs gebraucht. […] Auch Pronomina andrer Klassen, auf ein als selbstverständlich ausgelassenes Hauptwort bezogen, finden sich als Adverbia. […] Auch Zeitwörter finden sich zum Ausdruck des Adverbs“ (Meinhof 1906: 85f.)
In Bezug auf die Präpositionen zeichnet sich bei allen Autoren eine Nähe zu nominalen Ausdrücken ab: − − − − −
„Präpositionen gibt es nicht, da das Substantivum keinen Kasus bilden kann. […] Andere scheinbare Präpositionen entstehen aus Substantiven mit folgendem Genitiv“ (Meinhof 1906: 78) „Zum Ausdruck der deutschen Präpositionen werden die Lokative […] und na „mit“ („und“) gebraucht“ (Wolff 1905: 97) „Im Anschluß an diese Bedeutungen stehen die Lokalsubstantive oft an Stelle der deutschen Präpositionen“ (Westermann 1907: 52) „Die Suahilisprache kennt nur vier wirkliche Präpositionen […] Die übrigen Präpositionen sind durch Zusammensetzung genannter vier Präpositionen mit einem Substantivum oder Adverb gebildet“ (Raddatz 1899: 28) „Die Präpositionen sind ursprünglich Substantive“ (Mischlich 1911: 64)
Logisch erscheint die Erklärung Meinhofs, dass es deshalb keine Präpositionen geben kann, weil Substantive nicht über die Kategorie Kasus ver-
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fügen und dadurch die Voraussetzung für ein Rektionsverhältnis fehlt. Aber auch hier ist Meinhof wieder inkonsequent, indem er zunächst auf die fehlende Kategorie Kasus verweist und anschließend von Substantiven mit Genitiv spricht. 3.
Schwierigkeiten im Umgang mit aus dem Deutschen nicht bekannten Kategorien
Während in Kapitel 2 solche Fälle beschrieben wurden, in denen die deutsche Perspektive zu das Datenmaterial überschreitenden Darstellungen führt, weil von dem aus der Grammatik des Deutschen bekannten Kategorieninventar ausgegangen wird, sollen im Folgenden Grenzen dieser Vorgehensweise skizziert werden, die darin bestehen, dass mit diesem Kategorieninventar schwerlich alles erfasst werden kann, was in den Zielsprachen vorgefunden wird. Es geht also um eine gewisse Hilflosigkeit der Grammatikautoren gegenüber ihnen nicht aus dem Deutschen oder Lateinischen bekannten grammatischen Erscheinungen. Besonders deutlich zeigt sich das Unvermögen mit dem Umgang nicht vertrauter Kategorien im Bereich der verbalen Kategorien. Die Grammatiken lassen eine Orientierung an dem aus dem Deutschen und Lateinischen bekannten Tempus-Modus-System erkennen. Schwierigkeiten ergeben sich im Umgang mit aspektuellen Verbformen. Dabei – so Möhlig – scheint es so, daß die Bantusprachen im allgemeinen keine Tempora im Sinne der indoeuropäischen Grammatik kennen, sondern stattdessen Zeitaspekte verwenden. Diese lassen sich hauptsächlich in die drei Kategorien ‚Vorzeitigkeit’, ‚Gleichzeitigkeit’ und ‚Nachzeitigkeit’ einteilen. Hinzu kommen andere Aspekte wie Perfektiv, Habitual, Progressiv, Stativ und Motiv, die sich in verschiedener Weise mit den Zeitaspekten kombinieren lassen. Aus der Blickrichtung einer temporaeinteilenden Sprache wie dem Deutschen ergeben sich durch dieses System von Aspekten ständig Verschiebungen in der Zeitachse, die es erforderlich machen, dieselben Verbalformen einmal präsentisch, ein anderes Mal im Futur oder im Präteritum zu übersetzen. (Möhlig 1981: 96f.)
Das Nichtvorhandensein aspektueller Kategorien kann zu vagen Aussagen führen, wenn es um die Beschreibung eines solchen Phänomens geht: −
„Auch in gewisser Beziehung zeitlich kann das Suffix [ni, M.H.] übersetzt werden, z. B.: kununuani beim Kaufen […], kwanguakani beim Fallen“ (Raddatz 1899: 4)
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Die Übersetzungen der Beispiele deuten auf einen Progressiv hin, was durch die Beschreibung „in gewisser Beziehung zeitlich“ nicht erfasst werden kann. Auch die Beispiele von Raddatz zum Tempussystem des Suahili deuten auf eher aspektuelle Bedeutungen hin: −
„Zur Bezeichnung der Gegenwart hat das Kisuahili zwei Formen. Das mit der Partikel na gebildete Präsens betont die Dauer der Handlung, also: ni na panda ich pflanze, ich bin beim Pflanzen beschäftigt; dagegen: n a panda ich pflanze überhaupt“ (Raddatz 1899: 14)
Der Unterschied zwischen den beiden Formen muss aus den Beispielübersetzungen erschlossen werden. Die Bezeichnungen ‚gegenwärtige Zeit’ vs. ‚dauernde gegenwärtige Zeit’ (Raddatz 1899: 15f.) sind eher vage. Eine weitere Verbform, die möglicherweise eine Art Gerundium darstellt, erfasst Raddatz als ‚adverbielle Verbalformen’. Dazu seien die folgenden Beispiele genannt: −
„ni-ki-penda wenn, da weil, ich liebe […] ni-lipo-penda wenn, da als ich liebte“ (Raddatz 1899: 17/19)
Mischlich spricht in Bezug auf eine aspektuelle Form von „Plural der Handlung“: −
„Um den Plural oder die Emphasis der Handlung besonders hervorzuheben, wird die erste Silbe des Verbs wiederholt. Er schlug den Knaben (heftig). Ya bubbugí yāro“ (Mischlich 1911: 51)
Wolff behilft sich, indem er die Formen selbst anstelle von grammatischen Kategorien benennt: − −
− −
„Die ka-Form. Um eine Handlung zu bezeichnen, die in der Vergangenheit einmal geschah, fügt man ka zwischen Pronomen personale und Verbalstamm ein“ (Wolff 1905: 67) „Die tsi-Form. Um auszudrücken, daß die Handlung an einem Orte vor sich ging, geht, oder gehen wird, welcher von dem Redenden entfernt ist, schiebt man die Silbe tsi in eine Anzahl der oben genannten Formen ein, z.B.: a) nditsitova ich werde schlagen, wenn ich ihn sehe, oder dorthin komme, wo er sich befindet“ (Wolff 1905: 75) „Die pi-Form. Um eine partizipiale Umschreibung, ähnlich dem englischen I’m going auszudrücken, wird pi in eine Anzahl der schon behandelten Zeitformen eingefügt, z.B. a) ndipitova ich bin schlagend“ (Wolff 1905: 76) „Die pitsi-Form. Auch Formen mit tsi können noch außerdem pi annehmen, wobei pi vor tsi tritt. a) ndipitsitova ich werde schlagend sein, wenn ich hinkomme“ (Wolff 1905: 77)
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„Die ģa-Form. Um auszudrücken, daß die Handlung eine gewisse Dauer haben soll, nimmt die a-Form hinter dem Verbalstamm die Endung ģa an, z.B.: ndatovaģ ich schlug immerzu: ebenso die Präsensform nditovago ich schlage anhaltend“ (Wolff 1905: 78)
Wolff umgeht hier das Problem, dass ihm aus dem Deutschen keine Kategorien zur Erfassung der grammatischen Formen der Zielsprache bekannt sind, indem er einerseits die Formen zum Ausgangspunkt der Beschreibungen macht und andererseits die durch diese Formen ausgedrückten Inhalte umschreibt. Die Grenzen dieser Vorgehensweise lassen sich durch folgendes Beispiel illustrieren: − −
„Die ile-Form. Zur Bildung von Formen, die die Vollendung ausdrücken, wird statt des schließenden a die Endung ile an den Stamm gehängt, z.B.: ndelondile ich habe gesucht, bin damit fertig“ (Wolff 1905: 68) „Perfektum mit Personalpornomen. 1. Vor diese Perfektstämme treten also die Personalpronomen aus […] zur Bildung einer Form, die die vollendete Handlung ausdrückt, z.B.: a) ndetovile ich habe geschlagen, bin damit fertig“ (Wolff 1905: 73)
Hier liegen zwei unterschiedliche Einordnungen für offenbar dasselbe Phänomen vor (die Beispiele deuten zumindest darauf hin) – einmal als ileForm, einmal als Perfektum mit Personalpronomen – sodass unklar bleibt, welche Einordnung nun für die aspektuelle Bedeutung verantwortlich ist: Ist es ile, sind es die Personalpronomen oder ist es das Zusammenspiel beider Elemente? Ein Versuch der Kategorisierung von aus dem Deutschen nicht bekannten Verbformen findet sich bei Westermann, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen: − −
−
„Der Habitualis (Kontinuativ) zeigt an, daß eine Tätigkeit in der Regel, gewöhnlich (habituell) zu geschehen pflegt. Er wird dadurch gebildet, daß an das Verbum die Silbe na gehängt wird. […] meyina ich pflege zu gehen“ (Westermann 1907: 65) „Der Progressiv zeigt eine eben jetzt vor sich gehende, in der Handlung begriffene Tätigkeit an. Er wird gebildet mit Hilfe des Verbum le sein, vorhanden sein. Das eigentliche Hauptverbum tritt in den Infinitiv und ihm wird das in m verkürzte Substantiv me „das Innere“ angehängt. mele yiyim ich bin vorhanden im Innern des Gehens“ (Westermann 1907: 66) „Der Ingressiv oder Intentionalis zeigt an, daß man im Begriff ist, die Absicht hat, etwas zu tun oder daß etwas sicher eintreffen wird. Er wird gebildet wie der Progressiv, nur daß statt des m die Silbe gé an den Infinitiv des Verbum gehängt wird. […] mele yiyi gé ich bin vorhanden in der Gegend des Gehens; d. i. ich bin im Begriff zu gehen, habe die Absicht zu gehen“ (Westermann 1907: 66)
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Geschmälert wird diese Leistung der präziseren Erfassung der Verbalformen dadurch, dass sich diese in einem Kapitel zur „Konjugation des Verbs“ befinden, in dem äußerst unterschiedliche verbale Kategorien aufgelistet werden, die keineswegs durch Flexion, sondern teilweise analytisch, teilweise durch Präfigierung gebildet werden. Neben den bereits genannten Kategorien sind das die folgenden: Aorist, Futurum, Präteritum, Imperativ, Jussiv, Kohortativ, Prohibitiv, Infinitiv, Verbaladjektiv und Nomen agens. Bei Jussiv, Kohortativ und Prohibitiv handelt es sich offenbar um Modalität ausdrückende Kategorien (Jussiv – Befehl, Kohortativ – Aufforderung, Prohibitiv – Verbot). Unter ‚Konjugation’ werden also die verschiedensten verbalen Kategorien und Verbalableitungen subsumiert. In Kapitel 2 wurde einleitend bereits das Konkordanzprinzip als wesentliches Prinzip der Niger-Kongo-Sprachen hingewiesen. Dazu finden sich nur vereinzelt Hinweise: − −
−
„Alle von Substantiven abhängige Redetheile werden in bestimmter Uebereinstimmung mit denselben gebildet. Ausgenommen hiervon sind nur die Adverbien, Präpositionen, Conjunctionen und Interjectionen“ (Velten 1901: 3) „Wie die Eigenschaftswörter und Zahlwörter durch übereinstimmende Präfixe der gesamten acht Klassen dem zugehörigen Hauptworte angeschlossen werden, so werden auch die übrigen Redeteile, Fürwörter, Zeitwörter und Präpositionen durch besondere, den einzelnen Klassen eigentümliche Silben mit dem Hauptworte verbunden“ (Raddatz 1899: 8) „Die Eigenschaftswörter nehmen die Vorsilbe des regierenden Hauptwortes an, machen dieselben Veränderungen mit und unterliegen denselben Regeln wie die Hauptwörter“ (Wolff 1905: 19)
Abschließend sei noch auf eine Erfassung einer quasi doppelten Sachverhaltsdarstellung durch zwei Verben bei Westermann mit interessanten grammatischen Konsequenzen verwiesen: −
„Nun werden im Ewe viele Handlungen, die wir durch ein Verbum wiedergeben, durch zwei oder mehr Verba ausgedrückt; sind dann zwei Objekte da, so erhält das erste Verbum das nähere, das zweite das entferntere Objekt. Das zweite Verbum ist in diesem Falle meistens „ná“ „geben“, weil man eben das, was man tut, an einem andern, für einen andern tut (Dativus commodi) und ihm also gleichsam das gibt, was man getan hat. Z.B. egblo nya na ame er sagte ein Wort gab (es) dem Menschen, d.i. er sagte dem Menschen ein Wort […] So muß das Verbum ná besonders oft dazu dienen, einen deutschen Dativ wiederzugeben; es bleibt aber Verbum und wird auch als solches konjugiert […] In der neueren Sprache wird nun allerdings oft ná, wenn es nach einem andern Verbum steht, nicht mehr konjugiert, sondern bleibt in allen Verbalformen unverändert, es ist also auf dem Wege, in dieser Verbindung zu einer den Dativ anzeigenden Partikel zu werden“ (Westermann 1907: 51f.)
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Ich habe diese Textstelle deshalb so ausführlich zitiert, weil sie beide in diesem Beitrag diskutierten Konsequenzen einer deutsch-perspektivischen Darstellung einer Zielsprache beinhaltet: Einerseits haben wir es hier mit einer grammatischen Erscheinung zu tun, die uns aus dem Deutschen nicht bekannt ist: Zwei Verben geben ein Geschehen wieder. Bei dem Versuch der Beschreibung dieser Erscheinung wird auf die nominale Kategorie Dativ zurückgegriffen, wahrscheinlich, weil das involvierte Verb geben im Deutschen ein Dativobjekt regiert. Die Funktion des Verbs ná wird somit deutsch-perspektivisch auf die Wiedergabe des deutschen Dativs reduziert. Besonders aufschlussreich erscheinen mir die Schlussfolgerungen zur von Westermann beobachteten Entwicklung, ná nicht mehr verbal, sondern als Partikel zu verwenden: Hier wird ein Grammatikalisierungsvorgang mit einer in der Zielsprache nicht vorhandenen Kategorie – der Flexionskategorie Dativ – beschrieben. Offenbar durchläuft ná den Prozess der Grammatikalisierung von einer flektierten zu einer nicht flektierten Form. Da es in der Zielsprache keine Kasuskategorie gibt, kann die Einordnung als eine „den Dativ anzeigenden Partikel“ nur auf die deutsche Perspektive auf diesen Grammatikalisierungsvorgang zurückgeführt werden. 4.
Schluss
Die exemplarischen Analysen von Darstellungen zur Grammatik afrikanischer Sprachen aus der deutschen Kolonialzeit haben diese als stark deutsch-perspektivisch ausgewiesen. Dabei erweisen sich die aus dem Deutschen bzw. Lateinischen übernommenen Kategorien als unzureichende Kategorien, da sie kaum geeignet sind, um die in den Zielsprachen vorgefundenen grammatischen Phänomene wiederzugeben. Der These von Schmidt-Riese, dass schlechte Kategorien besser seien als keine Kategorien, kann in Bezug auf die Grammatisierungsversuche aus der deutschen Kolonialzeit nur bedingt zugestimmt werden, da die schlechten Kategorien nur sehr eingeschränkte Rückschlüsse auf die grammatische Struktur der Zielsprachen zulassen. Vielmehr müssen die grammatischen Eigenschaften häufig aus den Beispielen bzw. den Übersetzungen der Beispiele hergeleitet werden, diese sind oft aussagekräftiger als die Kategorisierungsversuche. Auch halten sich die von Oesterreicher und SchmidtRiese für den amerindischen Raum diagnostizierten kategorialen Innovationen stark in Grenzen, das Material lässt vielmehr häufig eine Ohnmacht gegenüber den aus dem Deutschen und Lateinischen nicht bekannten Eigenschaften der Zielsprachen erkennen.
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Abschließend möchte ich auf die folgenden Einschränkungen der hier vorgestellten Beobachtungen hinweisen: −
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Da ich über keine detaillierten Kenntnisse über die in den Grammatiken erfassten afrikanischen Zielsprachen verfüge, konnte ich vieles nur eingeschränkt einschätzen und habe sicherlich manche für die hier verfolgte Fragestellung relevanten Phänomene übersehen. Einige der hier aufgezeigten Probleme, die sich aus einer starken Perspektivierung auf die Ausgangssprache ergeben, sind sicherlich allgemeine Probleme kontrastiver Sprachbetrachtung und keine Spezifika der Erfassung der Grammatik von Zielsprachen in kolonialen Kontexten. Jede Form der bilingualen kontrastiven Sprachbetrachtung, die ein besseres Verständnis der Zielsprache durch Personen der Ausgangssprache zum Ziel hat, wird die Ausgangssprache als Vergleichsbasis heranziehen, um der anvisierten Benutzergruppe das Verständnis zu erleichtern. Die Ausrichtung auf die Ausgangssprache wird also eher durch den Charakter einer Grammatik (etwa: linguistische vs. didaktische Grammatik) und die Zielgruppe (etwa: Fachkollegen vs. Laien) determiniert sein als durch einen „kolonialen Blick“.
Die eingangs gestellte Frage, ob sich die kolonisatorische Identität auch in den grammatischen Beschreibungen niederschlägt, kann deshalb nicht eindeutig beantwortet werden. Dennoch hoffe ich, gezeigt zu haben, dass es sich bei den die grammatischen Systeme von Kolonialsprachen erfassenden Darstellungen keineswegs um „neutrale Textsorten der Deskription“ handelt. Die hier vorgestellte erste Annäherung an die Thematik ‚deutsche Kolonialgrammatik’ eröffnet folgende Perspektiven für weiterführende Untersuchungen: −
Sollte die Einbeziehung weiteren Datenmaterials sowie ein Vergleich der Analyseergebnisse mit den Ergebnissen der romanistischen Missionarslinguistik den Eindruck bestätigen, dass die Grammatisierungsversuche zu amerindischen Sprachen eine größere kategoriale Innovationsbereitschaft aufweisen als die Grammatisierungsversuche der deutschen Kolonialzeit, müsste der Frage nachgegangen werden, von welchen Faktoren die Innovationsbereitschaft abhängt: Von der Grammatisierungszeit? Von den Aus-
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5. 5.1.
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gangs- oder von den Zielsprachen? Oder von weiteren, gesellschaftlich-pragmatischen Faktoren? Interessant dürfte eine kategorisierungstheoretische Aufarbeitung des Materials sein, die etwa die folgenden Fragestellungen verfolgen könnte: Welche grammatischen Phänomene sind leicht kategorisierbar, welche nicht? Gibt es universale Kategorien? Gibt es tatsächlich für Kategorisierungsfragen besonders interessante und ergiebige Funktionsbereiche (Oesterreicher 2005: 110)? Schließlich wäre ein Vergleich mit nicht aus Kolonialisierungskontexten stammenden vergleichenden Darstellungen zur Grammatik aufschlussreich, um auf diese Weise der Frage nachgehen zu können, ob es in der Kolonialgrammatik tatsächlich über die üblichen in vergleichenden Darstellungen anzutreffenden von der Ausgangssprache geprägten Perspektivierungen hinausgehende spezifisch kolonialgrammatische Charakteristika gibt.
Literatur Quellen
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5.2.
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Mathilde Hennig
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III. Sprache als Werkzeug der Kolonisierung und nationalen Selbsterhebung
Uta Schaffers An-Ordnungen Formen und Funktionen der Konstruktion von Fremde im kolonialen Afrika-Diskurs In this article the author focuses on the forms and functions of the construction of the ,alien‘ (das Fremde) in the colonial discourse on Africa. For this purpose, the lexical and semantic field of the German terms ,der/die/das Fremde‘ and ,fremd‘ as well as their relation to Andersheit/Alterität (otherness/alterity) and identity are discussed. The construction of the ,Fremde‘ in the colonial discourse on Africa is based on certain images and patterns connected with the occidental concepts of space and distance, the body and the ,light-dark‘ metaphor that determines the discourse on knowledge as well as on good and evil. It is obvious that the interpretation of otherness as ,Fremde/fremd‘ has certain consequences for the ,other‘ and involves a broad range of modes of perception, reactions, and behavioural patterns (e.g. xenophobia, exoticism, racism). Nonetheless, the collective representations of the ,Fremde Africa‘ which are handed down have essential functions with regard to maintaining the power of the colonizers as well as constructing a national identity.
In meiner freien Zeit stand ich oft bei den Schwarzen und beobachtete sie, wie sie friedlich beieinander saßen und in gurgelnden Tönen miteinander schwatzten, und wie sie um die großen Eßtöpfe hockten, mit den Fingern eine Unmenge Reis zum Munde führten, und mit großen knarrenden Tiergebissen Beine, Gekröse und Eingeweide ungereinigt fraßen; es schien ihnen gar nicht darauf anzukommen, etwas Schmackhaftes zu essen, sondern nur, ihren Bauch zu füllen. Und es schien mir, daß es so stand, daß die Leute von Madeira zwar Fremde für uns sind, aber wie Vettern, die man selten sieht, daß diese Schwarzen aber ganz, ganz anders sind als wir. Mir schien, als wenn zwischen uns und ihnen gar kein Verständnis und Verhältnis des Herzens möglich wäre. Es müßte lauter Mißverständnisse geben. (Frenssen 1943: 34)
In diesem kurzen Zitat aus dem wohl erfolgreichsten zeitgenössischen Roman eines deutschen Autors über den Aufstand der Herero in ‚Deutsch‘-Südwestafrika, dem heutigen Namibia (Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht ; 1906), entfalten sich recht ungeschminkt einige konstituierende Aspekte des kruden kolonialistischen Sprechens über die ‚Anderen‘, geprägt durch den kolonialen Diskurs 1 und diesen prägend: Der 1
Als kolonialer Diskurs soll im Folgenden in Anlehnung an Brehl (2007: 64f.) „eine auf den Gesamtkomplex Kolonialismus bezogene konventionalisierte und institutionell sanktio-
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Blick des unmarkierten – weißen – Ich richtet sich auf die markierten „Schwarzen“, wobei die Hautfarbe visuell wahrnehmbares Differenzmerkmal und Makel zugleich ist. Über die Darstellung der Essgewohnheiten als prä-zivilisatorisch wird die Verweisung der Anderen in die Sphäre der Natur, der Wilden und auch explizit in die tierische Sphäre – „knarrende Tiergebisse“ – eingeleitet und befestigt. Gerade die Art und Weise des Essens, aber auch das, was gegessen wird, dient als Distinktionsmerkmal: Der ‚Kulturmensch‘ vollzieht den Akt hoch ritualisiert, seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Art der Zuführung und den Geschmack der Speisen. Der ‚Wilde frisst‘ triebgesteuert große Mengen mit den Fingern. Statt gepflegter Konversation, statt Sprache, nur Schwatzen, „gurgelnde Töne“. Der Weg vom Genuss ungereinigten Gekröses und ungereinigter Eingeweide hin zum kannibalischen Akt scheint denn auch nicht mehr weit zu sein. Die Darstellung wirkt hier als cue, als Abrufhinweis, und ruft tradierte Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis auf, die als Warnung vor dem fungieren, zu dem man nicht ‚zurückkehren‘ darf, das mithin verdrängt, verstoßen, oder auch vernichtet werden muss. Indem die „Schwarzen“, die schon aufgrund ihrer Hautfarbe (in hygienischer und moralischer Hinsicht) als schmutzig gelten,2 sich ungereinigte Nahrung einverleiben, können sie selber auch als nicht-rein gelten: Ängste und Phantasmen einer ‚Infektion‘, einer Ansteckung am Anderen, wie sie (nicht nur) um die Jahrhundertwende kursieren, werden hier greifbar – den Blick darauf wirft man denn auch besser aus einigem Abstand.3 Nachdem nun der Sprecher seine Beobachtungen in seiner „freien Zeit“
2 3
nierte kollektive Rede bezeichnet werden, die allerdings in verschiedenen soziokulturellen Milieus und Kommunikationssituationen unterschiedlicher Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit unterliegen kann.“ Der koloniale Diskurs ist dabei weder in Bezug auf sein Regelsystem, noch im Hinblick auf die damit verbundenen Bedeutungskonstruktionen als hermetisch zu begreifen, sondern ein durchaus heterogener und vielstimmiger, und er ist mit gesellschaftlich relevanten Ideologien, Epistemen und Diskursen verschränkt (vgl. Brehl 2007: 66). Die Funktion eines solchen Diskurses liegt darin begründet, „auf dem kolonialen Feld Bedeutungen und mit ihnen verbundene Machteffekte“ performativ zu erzeugen (Uerlings 2006: 6), wobei es nicht zuletzt die Literatur war, deren Inszenierungen diesen Diskurs und seine Effekte mit etabliert haben (vgl. Uerlings 2006: 3). Zu den Traditionen und Facetten des Motivs der ›Mohrenwäsche‹ vgl. Badenberg (2004: 176f.). Auch wenn sich der Abstand zwischen dem Beobachter und den Beobachteten auf einer ganz anderen Ebene wieder zu reduzieren scheint, betrachtet man die Klangähnlichkeit zwischen dem Namen des Protagonisten Moor und ‚Mohr‘. Polaschegg verweist auf die große semantische Reichweite des Begriffs ‚Mohr‘ (und seiner Variante ‚Maure‛), konnte er doch die Bewohner Nordafrikas sowie des gesamten afrikanischen Kontinents bezeichnen und war auch als Synonym zu ‚Muhammedaner‛ gebräuchlich (vgl. Polaschegg 2005: 74ff.).
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gemacht und somit keineswegs gegen das westliche Arbeitsethos verstoßen hat, kommt er zu der nicht unerheblichen Schlussfolgerung: „daß diese Schwarzen [...] ganz, ganz anders sind als wir.“ An dieser Äußerung lässt sich ein recht alltäglicher Vorgang beobachten: Die eigentliche Voraussetzung eines solcherart inferiorisierenden und gewalttätigen Diskurses, wie wir ihn hier vorfinden, nämlich die Konstatierung einer scheinbar uneinholbaren Andersheit, wird als die Folge einer objektiven Wahrnehmung beschrieben, die auf einem Akt der Erkenntnis (wiederholte visuelle Beobachtung sowie Reflexion) beruht. Letztlich ist es jedoch erst die Konstruktion einer antipodischen Anordnung zwischen dem ‚Eigenen‛ und dem ‚Anderen‛, der damit als radikal ‚Fremder‛ in eine weite Distanz versetzt wird, die einen solchen Diskurs und seine Folgen legitimiert, die sozusagen den Boden bereitet, auf dem die Machteffekte der Rede vom ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ gedeihen können (vgl. auch Uerlings 2006: 6).4 Es gehört zu den Gemeinplätzen des wissenschaftlichen Diskurses über (den, die oder) das Fremde, dass es per se nicht existiert. Es ist keine Eigenschaft einer Person oder Sache, keine Größe, die zu vermessen wäre, nichts was sich berühren ließe. Fremde/Fremdheit ist ein Interpretament der Andersheit (vgl. Weinrich 1993: 131), wird konstruiert. Die Zuschreibung ‚fremd‘ zu einer Person, einer Sache, Situation oder einer Kultur hat deiktischen Verweischarakter und vollzieht sich relational unter bestimmten kollektiven, individuellen, kulturspezifischen und historischen Paradigmen und Einflüssen in der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung des Subjekts. Wahrnehmung jedoch steht immer in einem komplexen Verhältnis zu einer ‚gegebenen Wirklichkeit‘, − „es ist uns mehr gegeben als wir meinen und wir meinen mehr, als uns gegeben ist“ (Waldenfels 1974: 1672). So wird etwas Gegebenes immer als etwas wahrgenommen, ebenso wie etwas immer als etwas verstanden wird. Ähnliches kann auch für die ‚Erfahrung von Fremde‘ geltend gemacht werden:5 Erfahrungen gründen auf Wahrnehmungen, sie prägen die weiteren Wahrnehmungen und verändern auch die bisherigen eigenen Erfahrungen. Nicht das Fremde oder die Fremde wird also wahrgenommen und erfahren, eher müsste 4 5
Die hier zitierte Äußerung soll im Folgenden exemplarisch herangezogen werden, um einige Mechanismen der Konstruktion und Zuschreibung von Fremdheit sowie Prozesse und Funktionen von Fremdstellung darzulegen. Gemeinhin scheinen die Begriffe Fremdwahrnehmung und Fremderfahrung fast synonym verwendet zu werden. Der Begriff der ‚Erfahrung‘, wie er hier aufgefasst werden soll, meint aber eher etwas, das in gewisser Weise der Gegenwärtigkeit, wie sie der Wahrnehmung innewohnt, enthoben ist. Zwar erfahre ich etwas instantan, ich könnte also den Moment, in dem ich eine Erfahrung mache, benennen (‚Erfahrungen-Machen‘). Auf eine Erfahrung kann man aber auch zurückgreifen, sie wird reflektiert, insofern geht sie in den Besitz über (‚Erfahrungsschatz‘) und führt dadurch zu Urteilen.
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man davon sprechen, etwas als Fremde(s) wahrgenommen und als Fremderfahrung verbucht bzw. beurteilt oder gedeutet zu haben.6 Obgleich nun aber (der, die) das Fremde oder ‚fremd‘ eine Zuschreibung ist, so meinen wir doch darauf zu re-agieren. Dieses Erleben des Fremden ruft denn auch starke Emotionen hervor, Reaktionen, die zwischen Faszination und Abwehr oszillieren, und es bildet zudem den Ausgangspunkt bipolarer Anordnungen – im Falle des kolonialen Geschehens etwa ist ‚fremd‘ ein Negationswort (vgl. Hermanns 1996), das extrem inferiorisierende Ab- und Ausgrenzungsprozesse hervorruft und legitimiert, wobei diese imaginären Grenzziehungen identitätsstiftende Funktion für die (ebenso konstruierte) ‚Wir‘-Gruppe haben.7 Worauf gründet nun aber das ‚Erleben‛ des Fremden bzw. die Zuschreibung fremd? „[A]m Anfang steht die Differenz“ (Waldenfels 2006: 116) oder die Wahrnehmung von Differenz.8 Ich bemerke einen Unterschied zwischen mir und dem Anderen. In diesem Wahrnehmen eines Unterschieds liegt der Moment des Erkennens des Anderen sowie – damit untrennbar verbunden – das Erkennen des Eigenen, des Selbst: „Daß etwas nur ein Selbes ist, indem es sich zugleich als Anderes von Anderem unterscheidet, gehört zu den Entdeckungen der platonischen Dialektik [...]. Der Kontrast von Selbem und Anderem, der einer jeden Ordnung der Dinge zugrunde liegt, geht hervor aus einer Abgrenzung, die eines vom anderen unterscheidet.“ (Waldenfels 2006: 114)
Identität und Alterität sind mithin einander bedingende Begriffe. Alterität als einer der „zentralen Begriffe der europäischen Philosophiegeschichte“ (Schlieben-Lange 1998: 6) ist nun eine Kategorie, die keineswegs vereindeutigend dargestellt und fruchtbar gemacht werden kann. „Gemeinsam 6
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An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass das Fremde hier als eine Zuschreibung, ein ‚Interpretament der Andersheit‘ aufgefasst werden soll. Für eine Phänomenologie des Fremden ist insbesondere auf die Werke von Waldenfels (Studien zu einer Phänomenologie des Fremden 1-4 sowie Waldenfels 2006) zu verweisen. In diesem Fall gehört die Zuschreibung von fremd und Fremde zum ideologisierenden Vokabular innerhalb eines Prozesses der Konstruktion einer kollektiven (nationalen) Identität. Diese strategischen und funktionalisierenden Grenzziehungen haben mithin einen anderen Hintergrund als die identitätskonstituierende Etablierung einer Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Waldenfels (2006: 116) weist weiterführend darauf hin, dass am Anfang zwar die Differenz steht, jedoch gleichzeitig „auch eine Mischung, die jedes familiäre, nationale, rassische oder kulturelle Reinheitsideal als bloßes Phantasma entlarvt.“ Im wissenschaftlichen Diskurs über kulturelle Differenzen ist in den letzten Jahren denn auch ein Paradigmenwechsel hin zu solchen Konzepten wie dem der Hybridität, der Transkulturalität sowie dem der Transdifferenz (nach Breinig und Lösch) zu beobachten (vgl. dazu Allolio-Näcke et al. 2005).
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ist den verschiedenen Ausdeutungen jedoch die unbedingte Zuordnung von alter zum ersten, einen, zu ego oder zum Subjekt“ (Schlieben-Lange 1998: 3). Alter ist dann kein beliebiger Anderer, sondern, im Gegensatz zu griech. xenos oder lat. alius, peregrinus‚ ‚der eine oder der andere von beiden‘, gleichursprünglich und gleichartig. Der Kategorie der Alterität (heterótes, alteritas) ist dabei die für die Kategorie Fremdheit unabweisbare Asymmetrie nicht inhärent (vgl. Waldenfels 2006: 118). Erkennen kann sich das Ich nur über und durch den Anderen: „Der Andere nimmt die Position einer psychischen Bezugsfigur des Selbst ein, da es sich nur in der identifizierenden Differenz von Alterität zu erfassen vermag“ schreibt Gutjahr (2002: 48) im Zusammenhang mit der von Lévinas entwickelten Konzeption des Anderen,9 in der dieser Andere immer auch die Dimension einer ethischen Forderung für und an das Ich bedeutet. Wann und wie jedoch wird der oder das Andere zum Fremden? Dass das Andere in dem Moment zum Fremden wird, wenn es nicht „in ein vertrautes Schema überführt und damit wiedererkannt werden kann“ (Gutjahr 2002: 48) leuchtet zunächst, nicht zuletzt ontogenetisch betrachtet (‚Fremdeln‘ eines Kleinkindes), ein.10 In aller Regel lässt jedoch schon die Differenz den Wahrnehmenden nicht unberührt, sie bedeutet ihm etwas, und was sie ihm bedeutet, ist darüber hinaus bereits kulturell vorgeprägt. Das kollektive Gedächtnis oder, konkreter gefasst, das genuin medial und diskursiv geprägte individuelle Gedächtnis enthält potentiell eine Vielzahl recht vertrauter, lang tradierter und auf Konsens beruhender Schemata der Fremdwahrnehmung und Fremdbeschreibung sowie affektive Reaktionsweisen darauf, die abrufbar sind und abgerufen werden. Diese Schemata liegen bereit als sprachliche (narrative) und ikonographische Inszenierungen des Fremden, die im jeweiligen historischen Moment individuell und kollektiv je unterschiedlich aktualisiert werden, wobei die Aktualisierungen wiederum an der Tradierung weiter- und diese fortschreiben. Solche Rekonstruktionen und Fortschreibungen von Inszenierungen des Fremden beruhen auf intertextuellen und intermedialen Prozessen und verdichten sich wiederum in Narrativen sowie in sprachlichen 9
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Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Soziologie, Psychologie und Anthropologie sowie in der Sprach- und Literaturwissenschaft wird der Begriff der Alterität und des Anderen im Sinne von Lévinas (vgl. etwa 19994 sowie 19932) akzentuiert und fruchtbar gemacht. Vgl. auch Polaschegg (2005), die die Figur ‚eigen-ander‛ und ‚vertraut-fremd‛ vorschlägt, wobei in dieser Auffassung Fremdheit als eine Kategorie der Hermeneutik oder der Epistemologie aufgefasst wird (,Distanz‘), während sich identitätskonstituierende Differenzierungen zwischen dem Eigenen und dem Anderen über Grenzziehungen vollziehen (,Differenz‘). Anderes und Fremdes werden als „Effekte zweier völlig unterschiedlicher Prozesse“ verstanden (Polaschegg 2005: 46).
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und ikonographischen Bildern, etwa Bildern einer anderen Kultur, bei denen es sich um Kollektiv-Chiffren oder Heterostereotype handelt. Insofern handelt es sich bei dem Interpretament ‚fremd‘ um ein kollektives, kulturell tradiertes Deutungsmuster, das historischen Wandlungen unterliegt (vgl. auch Albrecht 1997: 87).11 Für den deutschsprachigen Kontext muss auf die Polysemie in der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs fremd verwiesen werden, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs zeigt sich ein recht weites Bedeutungsspektrum. Das Grimmsche Wörterbuch nennt in Bezug auf das Adjektiv fremd einmal die Bedeutungshöfe von ‚Nicht-eigen-sein‘ und damit einem anderen angehörig sein (z.B. „peregrinus, extraneus, it. estraneo, straniero, fr. étrange, ausländisch [...] fremde götter, ausländische, gegenüber den alten heimischen [...] fremde könige und völker“) und ‚Nicht-angehören‘ und damit einem anderen gehörend (z.B. „der nicht eigen, nicht angehörig ist.“) (germazope.uni-trier.de/Projects/DWB). Im Vergleich zwischen dem deutschen und dem englischen, französischen sowie dem lateinischen und griechischen Wortfeld zeigt sich, dass hier zwar von Ähnlichkeiten und Schnittmengen, keineswegs jedoch von klaren und einsinnigen Verbindungen ausgegangen werden kann. Als weitere Verwendungsweisen, die mehr den Bereich der Kognition sowie Entwürfe von Normalität betreffen, finden sich noch „die abstraction befremdend, befremdlich, seltsam, wunderbar, unerhört“ (germazope.uni-trier.de/Projects/DWB) sowie nichtpassend (zu etwas oder jemandem; vgl. auch Albrecht 2003: 234). Wimmer (1997) zeigt auf, inwiefern sich in der möglichen Substantivierung des Adjektivs in allen drei Genera „grob die Metaphernregister bzw. Referenzrahmen [selegieren und dies] zugleich eine inhaltliche Bestimmtheit des wesentlich Unbestimmten“ suggeriert: „das Fremde als etwas Sächlichobjekthaftes oder Unbestimmt-transzendentes [...] die Fremde als fernes Land [...] der Fremde als Eingrenzung auf vorwiegend menschliche Gestalten“ (Wimmer 1997: 1067). Waldenfels (1997) macht noch auf die „besondere Verführung der Sprache“ aufmerksam, die darin liegt, daß man das Fremde adjektivisch verwendet; im Deutschen werden daraus Doppelsubstantive wie Fremdsprache, Fremdkultur, Fremdgruppe, Fremderfahrung oder Fremdich. Hier hört es sich so an, als wüßten wir bereits, was Sprache, Kultur, Gruppe, Erfahrung oder Ich sind und als würde die Bedeutung der Stammwörter durch die Eigenschaft der Fremdheit lediglich spezifiziert. (Waldenfels 1997: 9) 11
Beobachtbar und beschreibbar ist mithin nicht die oder das Fremde, sondern viel eher „Vehikel und Medien, die Begleitumstände und Folgen, die sich entlang der Phänomene und diskursiven Ereignisse bemerkbar machen.“ (Honold/Scherpe 2004: 10).
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An dieser Stelle soll noch einmal das eingangs vorgestellte Zitat aus dem Roman Peter Moors Fahrt nach Südwest aufgegriffen werden, um konstituierende Elemente einer Kategorie ‚Fremde/Fremdheit‘ exemplarisch darzulegen. Dabei sollen nicht zuletzt auch Schemata der Inszenierung des Fremden sowie Mechanismen der Fremdstellung, insbesondere im Kontext des tradierten Heterostereotyps ‚Afrika‘,12 genauer betrachtet werden: „Und es schien mir, daß es so stand, daß die Leute von Madeira zwar Fremde für uns sind, aber wie Vettern, die man selten sieht, daß diese Schwarzen aber ganz, ganz anders sind als wir.“ (Frenssen 1943: 34) Hier eröffnet der Sprecher ein komplexes Beziehungsgeflecht, das auf geographischen bzw. räumlichen sowie auf familialen (und ethnischen) Kategorien und Ordnungsmustern gründet, und in dem nicht zuletzt körperliche Differenzen Teil einer Vermessung zwischen den Polen ‚Eigenes-Fremdes‘ werden. „Madeira“ verweist auf einen Raum, der in einiger Entfernung vom eigenen Raum situiert ist; die Insel liegt über 3000 km von Deutschland entfernt und nur etwa 700 km westlich der marokkanischen Küste. Innerhalb einer Typologie möglicher inhaltlicher Ausdifferenzierungen des Fremderlebens und der Fremdheitskonzeption13 spiegelt sich hier das räumliche Grundkonzept wider, das das Fremde als etwas bestimmt, das woanders, auswärtig oder ‚außen‛ ist, das sich also jenseits einer räumlich bestimmten Trennungslinie befindet. Obgleich nun zwar die Polarisierung zwischen Zugehörigem und Fremdem häufig anhand solcher Kategorien des Raums 14 vorgenommen wird, scheint in diesem Fall die Trennungslinie zwischen ‚hier‘ und ‚dort‘ aber nicht das entscheidende Kriterium zu sein. Zwar werden die „Leute von Madeira“ ausdrücklich als „Fremde“ bezeichnet, sie bleiben aber Verwandte, indem sie a) als „Leute“ klassifiziert werden, was sie im Unterschied zu den „Schwarzen“ im Bereich der (Kultur-)Menschen verortet und indem sie b) als „Vettern“ in eine Familienstruktur eingefügt werden: Auch wenn sie ein Stück entfernt leben und man sie nicht oft sieht, gibt es noch eine Verbindung zwischen dem ‚Wir‘ und dem ‚Ihr‘. So lassen sich auf der Skala zwischen Eigenem und Fremdem verschiedene Positionen besetzen, die „verschiedene Grade der Fremdheit“ (Waldenfels 1997: 148) bezeichnen. Die Leute von Madeira gehören offenbar noch einer gemeinsamen – ethnisch fundierten – Ord12 13
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Hierin versammeln sich Bilder und Imaginationen, die sich in Europa in Bezug auf das subsaharische Gebiet des afrikanischen Kontinents herausgebildet und tradiert haben. Es gibt eine Fülle solcher Ausdifferenzierungen, die z.T. hier bereits vorgestellt wurden oder noch werden. Ich möchte an dieser Stelle noch auf die Darstellung von Waldenfels (1997: 145-166; hier: 145-149) im Kontext seiner Ausführungen zu Nationalismus als Surrogat verweisen. Zur Bedeutung des Raumes in diesem Kontext vgl. insbesondere Waldenfels (1997). Zu ‚Raum‘ als ein Konstrukt, das handelnd erst hergestellt wird, vgl. Löw (2004: 46-60).
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nung an: Die Insel wurde im 15. Jahrhundert durch Portugiesen und bald auch von italienischen und flämischen Händlern besiedelt. Die imaginären Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem als Antipoden werden hier also durch andere als räumliche Distinktionsmerkmale bestimmt. Zudem unterliegen topographische Grenzen im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus ohnehin einem potentiellen (sowie durchaus konkreten) Bemächtigungsakt und stehen mithin zur Disposition. Stellt sich das ‚Außen‘ jedoch noch als unentdeckt, unerforscht, unbekannt dar, öffnen sich Räume für Projektionen, in denen sich die Faszination für das Fremde spiegelt, die Furcht und Sehnsucht in sich vereinigt. Solche von den Europäern noch nicht erschlossenen und bemächtigten Räume fanden sich insbesondere vor den und während der großen Entdeckungsfahrten: In der mittelalterlichen Völkerkunde zeigen die Erdprospekte denn auch sogenannte Monstrengalerien, wie sie etwa auf der Ebstorfer Weltkarte auftauchen oder auf einer Weltkarte zum Apokalypsenkommentar des asturischen Mönchs und Schriftstellers Beatus von Liébana (Ende des 8. Jh.), der sogenannten Apostel-Karte aus Burgo de Osma (1086).15 Die Beschreibung von Physiognomien, von Körpern und Ausdruck, die damit verbundenen Attribuierungen und gewählten Analogien offenbaren, wie fremd und seltsam der menschliche Körper in seinem doch relativ begrenzten Ausgestaltungsrepertoire empfunden wird, bzw. wie dieses Repertoire überschritten und angereichert werden kann.16 Das „Fremde als unbekanntes Draußen“ (Gutjahr 2002: 51) öffnet zudem Räume für einen Aufbruch ins Unbekannte, der die Figuren der Reisenden, Abenteurer, Forscher und Entdecker aufruft.
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Die Ebstorfer Weltkarte entstand um 1240 im niedersächsischen Benediktinerkloster Ebstorf (verbrannt: 1943). Vgl. z.B. auch die Erdkarte des Richard de Haldingham in der Kathedrale von Hereford (Herefordshire), entstanden zwischen 1276 und 1283 sowie Hartmann Schedels Nürnberger Chronik von 1493 (Liber Chronicarum), die 21 Erdrandsiedlernationen zeigt und porträtiert. Diese Chronik, die auch nach der ‚Entdeckung‘ Amerikas weiter Verbreitung fand, tradiert die über Plinius d. Ä. im VII. Buch seiner Naturalis historia, und über die Collectanea rerum memorabilium des Solinus zu Augustinus und Isidor von Sevilla gelangte Kunde von den Wundervölkern am Erdrand, die vom Klerus begierig aufgegriffen wurde (vgl. Perrig 1987: 33f.; vgl. auch: von den Brincken 1992). Vgl. auch die Gestaltbildungen in modernen Science-Fiction Filmen, die sich wiederum als ‚Monstrengalerien‘ präsentieren. Ein ‚Monstrum‘ ist „das Produkt einer Mischung verschiedener Arttypen [...], dessen Bestandteile als arttypisch erkennbar bleiben und dessen Ganzes eine Anomalie darstellt.“ (White 1986: 225). Perrig (1987: 41) weist darauf hin, dass bis ins 18. Jahrhundert alles und jeder ‚Monstrum’ hieß, „was aus dem Rahmen des dem Europäer Vertrauten herausfiel“: Menschliche und tierische ‚Missgeburten‘, Menschen mit anderem Wuchs, Gliedern, Behaarung, Menschen die „durch Mangel an dezenter Bekleidung und westlichen Sitten oder durch Fremdheit der Sprache oder der Wohnund Ernährungsweise Befremden erzeugte[n].“
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Sind die Räume hingegen entdeckt und hat sich der Akt der Bemächtigung bereits vollzogen (oder vollzieht er sich gerade), dann geht es viel eher darum, wie das ‚Innen‘ innerhalb der gezogenen Grenzen wahrgenommen und/oder wie es beschrieben, also diskursiv inszeniert wird. Dabei umfasst das Innen sowohl die Natur als auch die Menschen und insgesamt die Kultur im Sinne eines semiotischen Kulturbegriffs. Die ohnehin diskursiv bestimmten Grenzziehungen zwischen ‚Natur‛ und ‚Kultur‛ verschieben sich dabei nicht nur aufgrund historischer sowie ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Prozesse, sondern werden auch im Sinne ideologischer Funktionalisierungen vorgenommen. Die Darstellung der afrikanischen Natur etwa kulminiert in dem semantisierten Raum Dschungel, der Assoziationen von dunklem Labyrinth, Verschlungenwerden, dionysischer Triebnatur und Fruchtbarkeit aufruft. Hier wird die „Parallele zwischen der mit Dunkelheit assoziierten [‚wilden‘] afrikanischen Natur und ‚Weiblichkeit‘ „ (Horatschek 1998: 56) evident.17 Horatschek zeigt denn auch auf, inwiefern der afrikanische Dschungel als „Statthalter für die unbewußte Triebnatur der westlichen Kolonisatoren“ (Horatschek 1998: 41) inszeniert wird. Die Dimension des Fremden als das Unheimliche, die Rückverweisung des Fremden in uns selbst, in eine intrapersonale Dynamik im Sinne einer ‚innersubjektiven Fremderfahrung‘18 scheint auf in Brantlingers Einschätzung: „when they [the Europeans] penetrated the heart of darkness, only to discover lust and depravity, canniblism and devil worship, they always also discovered, as the central figure in the shadows [...] a Kurtz – an astonished white face staring back” (Brantlinger 1988: 195). Die Einwohner des subsaharischen afrikanischen Kontinents wurden im zeitgenössischen Diskurs eher in der Sphäre dieser ‚Natur‘ bzw. dieses Natur-Bildes angesiedelt denn in einer normativ bestimmten kulturellen Sphäre.19 Dies, und damit verbunden die Auffassung, dass die „Schwarzen“ nicht zur Familie gehören, nicht einmal entfernt lebende Verwandte („Vettern“) seien, beruht im kolonialen Diskurs insgesamt auf einer ras17
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Wobei mit Uerlings (2006: 11) darauf hingewiesen werden soll, dass der Kontext Weiblichkeit bzw. weibliche Sexualität und fremder Raum doch insgesamt komplexer ist, als es der „Stabreim ›Frauen und Fremde‹ suggeriert. [...] Es gibt also weniger einen Diskurswechsel von der Fremde zu den Frauen, sondern vielmehr den Versuch einer gegenseitigen Bestätigung von Ethnographie und Geschlechterdiskurs.“ Vgl. dazu insbesondere Freud (1989 [1919]), Kristeva (1990) sowie Hammerschmidt (1997). Im Zeitalter des Kolonialismus findet sich ein normativer Kulturbegriff, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit anderen Völkern noch durch einen deskriptiven, holistischen Kulturbegriff (im Gefolge von Edward Burnett Taylor 1871) ergänzt wird (vgl. Schaffers 2006: 176).
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senbiologischen, ethnizistischen und sozialdarwinistischen ‚Logik‘, die sich wesentlich in beobachtbaren körperlichen Merkmalen sowie in Differenzen der Lebenswelt und Lebenspraxis begründet. Als solche eignet sie sich für die Installierung einer Fremdstellung (vgl. Wierlacher 1993: 74) und eines damit verbundenen inferiorisierenden Diskurses.20 Im Verlauf dieser Fremdstellung wird der Andere zum normativ Fremden21 und an das ‚ganz ganz andere‘ Ende der Skala zwischen Eigenem und Fremdem situiert; als antipodisch wahrgenommener Fremder wird er dann „u.U. zum ,Un‘Menschen, [und] im Extremfall zum Monstrum[22] stilisiert“ (Korte 1999: 384). Die Markierung des Anderen als Fremder lässt sich anhand körperlicher Merkmale ohne große Mühe vollziehen und begründen, denn diese sind nicht nur beobachtbar, sie sind in aller Regel bereits beschrieben und katalogisiert, auch eine Bewertung wurde bereits vorgenommen. So wurde körperliche Andersheit v.a. seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit einem autoritativen, weil wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch geordnet und systematisiert sowie mit epistemologischen, moralischen und religiösen Konnotationen versehen. Diese wiederum bildeten die Grundlagen für Akte der Ausgrenzung, Unterdrückung und Aneignung, aber auch der positiven Exotisierung und Zuneigung. Ausgangspunkt (der Wahrnehmung von Andersheit sowie der zugrunde gelegten Ordnungsstruktur) ist dabei ein hegemoniales Subjekt, „das die Macht hat, Alterität zu definieren, d.h. [...] Individuen und Gruppen, deren Identität sich um die Signifikanten der anderen ›Rasse‹ und des anderen Geschlechtes bildet und stabilisiert.“ (Uerlings 2006: 2) Einen besonderen Stellenwert im Rahmen der rassentypologischen Systematisierung nimmt, neben Haarfarbe und ‚Gesichtsbildung‘, vor allem die Farbe der Haut ein (vgl. Gernig 2001: 274). Die Überdeterminierung und Politisierung der Hautfarbe geht hervor aus einer „stillschweigende[n] Übereinkunft, dass ‚Weiß‘ ein neutraler Maßstab für die Alterität der ,Farbigen‘ sei, [dies] bindet den Bedeutungskomplex der Hautfarben eng an europäische Blickregimes“ (Schmidt-Linsenhoff 2004: 9). Die Bewertung dieser Beobachtung einer ‚Abweichung‘ bzw. eines ‚Sonderfalls‘, die entscheidenden Anteil am inferiorisierenden kolonialen Diskurs hat, beruht nicht zuletzt auf einem europäischen Schlüsselkonzept: ‚Schwarz-Weiß/Licht-Dunkel‘ markiert die Scheidelinie zwischen Erkenntnis und Unkenntnis, zwischen Erhellen und in den Tiefen der 20
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Uerlings (2006: 6) weist darauf hin, dass im kolonialistischen sowie im Fremdheitsdiskurs die Art und Weise der Definition von Ethnizität (religiös, biologisch, mythisches Kollektiv, kulturell, sprachlich, etc.) sowie die Begründung der postulierten Inferiorität (theologisch, chronologisch-zeitlich, umweltdeterministisch, biologisch, etc.) variieren kann. Der Begriff geht zurück auf Ohle (1978). [Vgl. Fußnote 16].
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Nicht-Kultur versinken oder verharren. Das Licht, die Helligkeit hat in der Metaphorologie des Abendlandes einen unangefochtenen Platz inne, es ist die Metapher für die Quelle der Erkenntnis (vgl. Blumenberg 1957). Der Weiße bringt mithin mit seinem Körper (oder als sein Körper)23 das Licht, der Schwarze dagegen trägt etwas ganz anders an oder in sich: In Europe, the black man is the symbol of Evil. […] The torturer is the black man, Satan is black, one talks of shadows, when one is dirty one is black […]. In Europe, whether concretely or symbolically, the black man stands for the bad side of the character. […].Blackness, darkness, shadow, shades, night, the labyrinths of the earth, abysmal depths […]. In Europe, that is to say in every civilized and civilizing country, the Negro is the symbol of sin. The archetype of the lowest values is represented by the Negro. (Fanon 1967: 188f.)24
Fanon zeigt hier die Bindung der im Abendland mit Dunkel verknüpften Assoziationen an die ‚Schwarz‘-Afrikaner und generell an Menschen mit dunkler Hautfarbe. Diese Bindung bringt es dann mit sich, dass diesen die ohnehin westlich geprägten Formen der Erkenntnis gänzlich abgesprochen werden.25 Der so abgesteckte ‚Körper-Raum‘ ist einer, der für die eigene Kultur als unbetretbar tabuisiert werden muss: „Die Stigmatisierung des Körpers ist in diesem Akt der kulturellen Identitätsbildung ein archaisches Grundmuster. In die Rubrik Fremdheit werden alle Attribute eingeschrieben, die am kollektiven Leib der eigenen Kultur zum Verschwinden gebracht werden sollen“ (Mattenklott 2001: 7f.).26 In diesem Zusammenhang muss auch auf den „Aufstieg der Eugenik zu einer kolonialen Leitwissenschaft“ (Schwarz 2004: 377) verwiesen werden, die auf dem sozialdarwinistisch und rassenanthropologisch geprägten Phantasma 23 24 25
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‚Körper‛ soll hier verstanden werden als menschlicher bzw. organischer und natürlicher Körper sowie als Gegenstand und Gedächtnis kultureller Einschreibungen. Fanon (1967: 231) bricht dieses Muster auf, indem er schreibt: „The Negro is not. Any more than the white man“. Zur Tradition dieser Sichtweise vgl. auch Hegel (1970: 122): „Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, daß ihr Bewußtsein noch nicht zur Anschauung irgend einer festen Objektivität gekommen ist, wie z.B. Gott, Gesetz, bei welcher der Mensch mit seinem Willen wäre, und darin die Anschauung eines Wesens hätte. [...] Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche anklingende in diesem Charakter zu finden.“ An dieser Stelle soll noch auf Derridas Untersuchungen zur dichotomischen und hierarchisierenden Struktur des abendländischen (logozentrischen und patriarchalen) Denkens verwiesen werden, das auf einer Inferiorisierung und Abwertung des ‚Anderen‘ basiert bzw. eine solche evoziert (vgl. etwa Derrida 1974). Die Unterscheidung zwischen ,Körper‘ und ‚Leib‛ geht zurück auf die Phänomenologie und die philosophische Anthropologie von Plessner, Schmitz und Merleau-Ponty.
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beruhte, die Vermischung der ‚weißen‘ mit der ‚dunklen Rasse‘ würde zu „ › Rückschlägen‹ oder ›Atavismen‹ [führen,] durch die ›besonders wilde, unbändige, Individuen‹ entstünden. Die Mischlinge, heißt es, erbten nicht die ›Tugenden‹, sondern ›die Begierden und die Laster‹ ihrer Vorfahren.“ (Schwarz 2004: 377)27 Zu solchen Atavismen gehört u.a. die mit einem starken Tabu belegte Anthropophagie: „The more that Europeans dominated Africans, the more ,savage‘ Africans came to seem; cannibalism represented their nadir of savagery“ (Brantlinger 1988: 184). Anthropophagie ist denn auch eine Form der Einverleibung des ‚Anderen‘, die auch beim Europäer unter dem dünnen Firnis der Zivilisation immer mal wieder hervorzubrechen droht, und die deshalb umso stärker abgewehrt werden muss (vgl. auch Schaffers 2007: 34-37). Die Konstruktion einer solchen extrem bipolaren Anordnung von Eigenem und Fremdem sowie ihre ideologische Unterfütterung lässt nun keinen Platz mehr für Verständigung, zumal diese auch gar nicht vorgesehen ist: „Mir schien, als wenn zwischen uns und ihnen gar kein Verständnis und Verhältnis des Herzens möglich wäre. Es müßte lauter Mißverständnisse geben.“ Weder auf affektiver noch auf kognitiv-rationaler Ebene kann und soll noch eine Brücke geschlagen werden.28 Vielmehr bereitet eine solche Zurückweisung der Verringerung von Distanz den Boden für verschiedenste Formen der affektiven Wahrnehmungsweise des Fremden sowie für Formen und Funktionen der semantischen und konkreten Machtergreifung. Albrecht (1997) betont in ihren Ausführungen die verhaltenssteuernde Wirkung der Konstruktion des Anderen als (normativ) Fremden und führt unter den affektiv besetzten individual- und sozialpsychologischen Wahrnehmungsmustern u.a. die Xenophobie sowie den Exotismus an. Die Xenophobie bewertet das Fremde grundsätzlich als eine Bedrohung. Sie ist aus (sozial-)psychologischer Sicht eine unangemessene Furchtreaktion; unangemessen deshalb, da sie erkennen lässt, dass sich eine entwicklungs27
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Schwarz (2004: 377f.) zitiert hier aus Otto Ammons Buch Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. Entwurf einer Sozial-Anthropologie. Jena 18962. Vgl. auch die sogenannte Mischehendebatte im Deutschen Reichstag im Jahr 1912 und ihre Auswirkungen auf die Kolonien. Eine solch radikale Zurückweisung der Möglichkeit von Verstehen und Verständigung ist notwendiger Bestandteil des kolonialen Diskurses. Jede Form von Verstehensbemühung, jeder Versuch eines „Vertrautwerden in der Distanz“ (Plessner 1983: 91) impliziert notwendiger Weise die Anerkennung des Anderen und die Anerkennung von Differenz. Zum Begriff Fremdverstehen vgl. Hammerschmidt (1997). Polaschegg (2005: 48f.) verweist in ihrer Arbeit im Zusammenhang mit den Sphären von Identitätsbildung einerseits und hermeneutischem Prozess andererseits auf die Notwendigkeit einer terminologischen Unterscheidung der Achsen ,Differenz‘ (das Eigene und das Andere) und ,Distanz‘ (das Vertraute und das Fremde).
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notwendige Reifung des Menschen nur unzulänglich oder gar nicht vollzogen hat (vgl. auch Wierlacher (1993: 39). Xenophobie wird im gesellschaftlichen und politischen Diskurs immer wieder auch in dem Sinne instrumentalisiert, als sie als ‚natürliche‘ Reaktion deklariert und mithin als Rechtfertigung und/oder Entschuldigung für fremdenfeindliches Verhalten genutzt wird (vgl. Albrecht 1997: 90f.). Der Exotismus gilt als eine besondere Spielart des epistemologischen Imperialismus und zeichnet sich durch eine reduzierte Wahrnehmung des Fremden aus, das zur Projektionsfläche für jeweils von Gesellschaft und Epoche abhängigen Wunschvorstellungen wird. Dabei geht es nicht nur um eskapistische Sehnsüchte nach einer engen Verbundenheit von Kunst und Leben, Einklang mit der Natur, Reinheit und Schönheit, wie sie sich etwa in der europäischen Begeisterung für den ‚Fernen Osten‛ im Deutschland der Jahrhundertwende spiegelten. Ebenso evident werden hier Wünsche nach einem unbeschränkten Ausleben von (nicht zuletzt sexuellen) Machtphantasien oder, wie im Fall der deutschen Kolonien, um den Wunsch nach männlichem und gleichzeitig nationalem Bewähren und Erstarken. Der exotistische Diskurs der Jahrhundertwende war insgesamt gesehen weniger von der Verständigung über die andere Kultur geprägt; es war eher eine vornehmlich intellektuelle Auseinandersetzung mit sich selbst, in der es u.a. um Aspekte wie Bewusstseinserweiterung bzw. Bewusstseinserneuerung, um neue philosophische und religiöse Perspektiven sowie um sehr handfeste machtpolitische Interessen und Erwägungen ging. Diese Form der Wahrnehmung idealisiert, dämonisiert und/oder negiert Aspekte des Fremden, die solche Wunschprojektionen stören könnten. Insofern handelt es sich um eine Form der Aneignung des ‚Anderen‘, die diesem Gewalt antut und kann als Ausdruck eines individuellen und kollektiven Begehrens verstanden werden. Sie ist ebenso traditionell gebunden wie hartnäckig und wird nicht zuletzt von der Werbe- und Tourismusindustrie ‚weiter‘-geschrieben.29 Der Exotismus als kulturspezifisches und kulturhistorisches Phänomen (vgl. dazu Trauzettel 1995: 3ff.) hat in Bezug auf unterschiedliche Länder und Kulturen jeweils divergierende Diskurse hervorgebracht. So konstituierte sich etwa der exotistische Diskurs über Japan im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Europa oberflächlich gesehen eher positiv (vgl. Schaffers 2006), während er in Bezug auf das subsaharische Afrika imperialistische, kolonialistische und rassistische Einstellungen und Hand29
U. a. folgende Veröffentlichungen erweitern den Blick nicht zuletzt auch auf die Tradierungen sowie den Bereich der Bildenden Kunst: Santaolalla (2000), Koebner/Pickerodt (1987) sowie der Ausstellungsband Exotische Welten. Europäische Phantasien (1987).
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lungen legitimierte. Insofern müssen exotistische Konstruktionen als psychologische und gesellschaftliche Phänomene verstanden werden, die auch bestimmten Machtinteressen, etwa politischen und ökonomischen, imperialistischen und hegemonialen, dienen. Die Divergenz der exotistischen Projektionen und Diskurse kann anhand einer Gegenüberstellung des Bildes von ‚der‘ japanischen und ‚der‘ afrikanischen Frau kurz illustriert werden. Wie bereits erwähnt, wurden auch konkret sinnliche Sehnsüchte und erotische Wunsch- und Angstphantasien sanktionsfrei in den fremden Raum projiziert. ‚Dort‘ wurden sie dann stellvertretend ausgelebt. Als besonders geeignete Projektions-‚Flächen‘ erweisen sich bestimmte Landstriche und vor allem Frauen aus bestimmten Kulturen – hier wird die geographische Fremde dann mit der fremden Frau (oder: der Fremde ‚Frau‘) zu einer Einheit. Als die japanische Frau schlechthin verstand und versteht der europäische Mann die zum Bild geronnene Geisha. In diesem Bild versammeln sich Imaginationen von Weiblichkeit gepaart mit den Stereotypen, die der europäische Mann für die japanische Frau bereithält (vgl. auch Schaffers 2006: 115ff.), und die so ganz anders sind als die, die er der afrikanischen Frau vorbehält: [Sie ist] die exotische, verführerische, hingebungsvoll kalte und maskenhafte Liebedienerin, deren Treue so schwer wiegt wie ein Schmetterling. [...] Sie ist erotisches Weltkulturerbe, die ewig lockende Geisha, die servile Domina, ach, ihre grazile Figur macht den Weißen Lust ohne die Angst vor dem Verschlungenwerden, die schwarze Frauen verbreiten. Loti, Puccini und ihre Epigonen haben diese schöne, verworfene Puppe, die ohne christliche Moral auskommt wie eine Kirschblüte ohne Duft, dem Stereotyp des Samurai als Theaterweib zugesellt und der europäischen Männerphantasie übereignet. Und das Wesen lebt zäh. (Schmitt 1999: 221)
Als Archetyp der Imagination der afrikanischen Frau kann hingegen die Gefährtin von Kurtz aus Joseph Conrads Heart of Darkness gelten, eine „wilde und prächtige Frauensperson“: Sie war primitiv und herrlich, funkeläugig und grandios; etwas Unheilverkündendes und Hoheitsvolles lag in ihrem bedächtigen Näherkommen. Und in dem Schweigen, das sich plötzlich über das ganze kummervolle Land gebreitet hatte, schien die riesige Wildnis, der gewaltige Leib des fruchtbaren und geheimnisvollen Lebens, sinnend auf sie herabzublicken, als betrachte er das Bildnis seiner eigenen lichtscheuen und leidenschaftlichen Seele. (Conrad 1977: 144f.)
Im Zusammenhang mit der Kollektiv-Chiffre ‚Afrika‘ finden sich insgesamt verhältnismäßig wenige positiv besetzte exotisierende Projektionen. Insbesondere im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus überwie-
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gen bzw. verfestigen sich die bereits mehrfach angesprochenen abgründigen, mit Furcht und Angstlust durchsetzten Imaginationen. In den vorkolonialen Traditionen des Afrika-Bildes finden sich jedoch durchaus noch Aspekte wie etwa ein ursprüngliches, noch nicht korrumpiertes Eden (vgl. JanMohamed 1985), Afrika als Gesund- und Jungbrunnen oder als glückliche Insel (einfaches Leben, Paradiesmotive). Bis heute ist auch in der Populärkultur die Faszination für das ‚magische Afrika‘ der Naturreligionen und Fetische, der Spiritualität und Naturverbundenheit ablesbar. Bitterli (1987) hat darauf hingewiesen, wie schnell solche, auf den ersten Blick positiv konnotierten exotisierenden (Wunsch-)Vorstellungen in inferiorisierende Konzepte umschlagen können: Einfachheit und Anspruchslosigkeit stehen [...] komplementär zur Primitivität; Unschuld und Unvorgenommenheit finden ihre Entsprechung in Unvernunft und Dumpfheit; ruhiges Behagen, natürliche Daseinsharmonie und unbesorgte Lebensfreude schlagen um in Faulheit, Gesetzlosigkeit und triebhafte Vitalität. (Bitterli 1987: 19)
Auf ähnlichen Funktionalisierungen basiert das Konzept des ‚Guten oder Edlen Wilden‘, das auch als eine besondere Ausprägung des Exotismus gelten kann.30 Dubiel (2007) geht den Verästelungen des Bildes vom ‚guten‘ und ‚edlen Wilden‘ als „stereotypes Produkt europäischer Projektion und Ausdruck des Unbehagens in westlicher Kultur“ (Dubiel 2007: 66) genauer nach und verweist auf die Abgrenzung dieser Imagination gegen die Figur des ‚netten, hilfsbereiten und diskreten Negers‘ aus der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. auch bei Bitterli 1991: 432f.). Beide Imaginationen basieren jedoch auf einer grundlegenden Oppositionsstellung und Hierarchisierung bzw. führen in eine solche. Göttsche (2003) konstatiert, dass in Bezug auf den Afrika-Diskurs „die exotistischen Projektionen entsprechend mit dem Rassismus des Kolonialzeitalters Hand in Hand [gingen und gehen], indem die komplementär-entgegengesetzten Stereotype des ›edlen Wilden‹ und des ›primitiven Negers‹ historisch weithin parallel laufen und zudem ineinander umschlagen“ konnten (Göttsche 2003: 167). Konstruktionen des Fremden sind relational, sie sind variabel und graduierend, und nicht zuletzt sind sie auch funktional . So kann im Zusammenhang mit dem kolonialen Geschehen insgesamt von einem „strategischen Gebrauch von Fremdheit“ (Uerlings 2006: 1) gesprochen werden. Ein solcher (inferiorisierender) Diskurs bedeutet Machtergreifung auf zwei Ebenen, einmal auf der semantischen Ebene sowie, dieser folgend und sie 30
Zur Fiktion des ‚Edlen Wilden‘ und ihrer Tradition vgl. auch White (1986: 177-231).
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begleitend, auf der Ebene des konkreten, in der Regel gewalttätigen Geschehens. Die Wir-Rede gehört zu den performativen Akten, die nicht bloß feststellen, was ist, sondern etwas bewirken. [...] In solchen Wir- und Ihr-Reden wird das Spiel von Eigen- und Fremdkultur aufgeführt, bis hin zur Verteilung von Haupt- und Nebenrollen, bis hin zu zwanghaften Ein- und Ausschlüssen.“ (Waldenfels 2006: 123)
‚Besprochen‘ wird der Andere, wie gezeigt werden konnte, nach den Diskursregeln des hegemonialen Subjekts, er wird, so könnte man sagen, sprachlich erzeugt als einer (Fremder, Wilder, Schwarzer, …). Der Andere wird insofern sowohl durch den „Weißen Blick“ in die Objektposition versetzt, als auch im europäischen Sprechen über den Anderen.31 Der Hinweis auf die sprachliche und diskursive Inbesitznahme der Anderen soll noch einmal den Blick darauf lenken, dass „kolonialistische bzw. imperialistische Gewalt des ideologischen Diskurses bedarf“ (Dubiel 2007: 35), zu dessen unerlässlichen Bestandteilen die Konstruktion von Fremdheit und Prozesse der Fremdstellung gehören. Im Zusammenhang mit den realen Effekten eines solchen Diskurses32 soll neben den in diesem Band vorliegenden Beiträgen noch kurz auf die Studie von Brehl (2007) verwiesen werden, in deren Zentrum die „Untersuchung der sprachlichen Strategien [steht], mit denen die Vernichtung der Herero in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika in der Öffentlichkeit des Deutschen Kaiserreiches legitimiert wurde.“ (Brehl 2007: 10) Die deutsche Kolonialpolitik und der koloniale Diskurs nahmen nicht zuletzt auf symbolischer Ebene innerhalb des Konstituierungs- und Formationsprozesses einer deutschen Nation eine wichtige Funktion ein. In der Untersuchung von Brehl wird in diesem Kontext evident, dass der koloniale Diskurs insofern als ‚modernistisch‘ oder ‚fortschrittlich‘ bezeichnet werden muss, da er 31
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Fanon (1967: 18) verweist zudem darauf, dass sich dieses europäische Sprechen über den Anderen in der Sprache der Kolonisatoren vollzieht, weshalb etwa „[t]he Negro of the Antilles will be proportionately whiter – that is, he will come closer to being a real human being – in direct ratio to his mastery of the French language. […] A man who has a language consequently possesses the world expressed and implied by that language. What we are getting at becomes plain: Mastery of language affords remarkable power.“ In Bezug auf das Phantasma einer (‚rassischen‘, biologischen, ethnischen, kulturellen etc.) ‚Reinheit‛ verweist Sarasin (2004: 158f.) auf mögliche Wirkungen dieser idée fixe: „Dieser Basis-Code ist ein kleines Stück Sprache, eine kurze Signifikantenkette, ein wenig Semantik, ein paar einfache Regeln für metaphorische Verschiebungen und zwei, drei Anwendungsinstruktionen, mehr nicht. Er läßt ein Gesellschaftssystem autoritär werden und treibt es nicht selten in einen Angriffskrieg oder gar zum Genozid an der eigenen Bevölkerung.“
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nicht nur der Legitimation eines Völkermordes, sondern gleichzeitig der Herausbildung einer dringend geforderten kollektiven Identität diente. Honold und Scherpe (2004) verzeichnen im zweiten deutschen Kaiserreich eine „singuläre Konjunktur von nationalstaatlichen Gründungsaktivitäten“ (Honold/Scherpe 2004: 16) und konstatieren als „implizite kulturpolitische Agenda [...] die arbiträren geopolitischen Konturen des Landes in eine homogene, wesenhaft durchdrungene Gestalt zu verwandeln. [...] Denn wie die rückwärtige, so diente auch die auswärtige Expansion der Entfaltung nationaler Identität.“ (Honold/Scherpe 2004: 18f.) Sowohl Nation als auch nationale Identität sind nun Konstrukte, die auf In- und Exklusionsprozessen beruhen. ‚Nation‘ wird heute verstanden als Ausdruck eines politischen Willens, als ein rhetorisch konzipierbares und manipulierbares Konstrukt, das der menschlichen Vorstellungswelt entstammt. Es existiert relativ unabhängig von einer Wirklichkeit und ist nicht zuletzt deshalb in ideologischer Hinsicht so wirkungsmächtig (vgl. Lauterbach 2004: 5). ‚Nationale Identität‘ ist eine Spielart der kollektiven Identität, über die sich das Individuum zur Welt, zur Gesellschaft, zu bestimmten Gruppen, etc. ins Verhältnis setzt. Das Konzept einer nationalen Identität eignet sich recht gut für einen ideologischen Diskurs und der Begriff selbst gehört zum Vokabular der ideologisch-politischen Mobilmachung. Die Konstruktion eines normativ Fremden nun leistet in diesem Kontext einem weiteren affektiv besetzten individual- und sozialpsychologischen Wahrnehmungsmuster Vorschub (vgl. Xenophobie und Exotismus), das ein unerlässliches Ingredienz eines solchen politischen Willens und Formationsprozesses ist: „Im Ethnozentrismus erweitert sich das Ich, auf dem Weg über eine Identifizierung mit Anderen, zum kollektiven Wir einer Gruppe, eines Stammes, eines Volkes oder einer Kultur.“ (Waldenfels 1997: 150) Lenz und Lüsebrink (1999) verweisen dann auch auf die historischen Tradierungen der Funktionalisierung von Fremdheitskonstruktionen im Rahmen eines deutschen Nationalismus: Publizisten wie Ernst Moritz Arndt und Ludwig Jahn hypostasierten den Gegensatz von ,Eigenem‘ und ,Fremden‘, von ,Muttersprache‘ und ,Fremdheit‘ und nutzten ihn zur Konstruktion deutschen Identitätsbewußtseins. Sie schufen hiermit ein Bild des ,Fremden‘, das Identitätsgefährdung, Andersartigkeit und Identitätsverlust verkörperte. […In] den Jahren 1804 bis 1807 entsteht somit im frühen deutschen Nationalismus ein Diskurspositiv, das Fremdheit grundlegend negativ einstuft und interkulturelle Beziehungen als Identitätsgefährdung betrachtet, als ,Übertünchung‘ und ,Verfälschung‘ des ,Eigenen‛, als ,Mischmasch des Verschiedenen‘, wie Arndt es formuliert. (Lenz/Lüsebrink 1999: 10f.)
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Ein solcher strategischer Gebrauch von Fremdheit, die damit verbundenen Phantasmen (wie etwa das der ‚Reinheit‛) und affektiven Reaktionsformen sowie Prozesse der Fremdstellung sind heute weder diskursiv noch im konkreten Handeln überwunden, auch wenn sich die Bezugsfelder und die Funktionalisierungen etwas verschoben haben. Im Zusammenhang mit der europäischen Reaktion auf die Migration aus Afrika zeigen ein tief verwurzelter Rassismus, Xenophobie sowie lang tradierte westliche Imaginationen und Phantasmen ihr hässliches Gesicht: „Die Neger vermehren sich wie wild, und dann fallen sie über uns her. [...] Sie schleppen nur die Negerkrankheiten ein, Aids, Kriminalität“ (Grill 2007: 22), so äußert sich eine selbst nach Teneriffa zugewanderte Schweizerin über die ‚illegalen Einwanderer‛ aus Afrika, die dort ankommen. Die Anderen werden zum infizierten und infizierenden Fremd-Körper,33 der nur in Schutzanzügen in Empfang genommen werden kann. Sogar der aus der Sahara eingeführte weiße Sand an einem Strand in Teneriffa wird in dieser Phantasie zur Brutstätte von giftigen Skorpioneiern. Dieser Diskurs weist zurück auf den der frühen Bakteriologie des 19. Jahrhunderts, in dem „für die Beschreibung von pathogenen Mikroorganismen eine Sprache verwendet [wurde], in der nicht nur [...] die Invasion fremder Eindringlinge eine zentrale Rolle spielte, sondern die seit den 1880er Jahren auch der Sprache des Krieges oder eines sozialdarwinistischen Kampfes ums Dasein nachgebildet war.“ (Sarasin 2004: 145) Herkunftsort der Epidemien, der Viren und Bakterien, war und ist das ‚white man’s grave‛, ist Afrika, der dunkle Kontinent, der Dschungel, aus dem sich das „Fremde in Erregerform“ (Besser 2004: 217) nach Europa verbreitet.34 Im heutigen öffentlichen (medialen) Diskurs vereinigen sich nicht selten die Traditionen des Sprechens über den Anderen, die Prozesse der Fremdheitskonstruktion 33
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Vgl. das in der Ideologie des Nationalsozialismus aufgegriffene, lang tradierte Phantasma des Juden als Fremdkörpers, der Gift und Unheil, wie etwa die Pest, mit sich bringt. Sarasin (2004) untersucht in seinem Essay aktuelle Bedrohungsszenarien und ihre Traditionen, u.a. im Zusammenhang mit ‚dem‛ arabischen Selbstmordattentäter, der sich mit Pockenviren infiziert und dann in die ‚westliche Welt eindringt‛, um diese zu vernichten. Im Pariser Journal médical quotidien aus dem Jahr 1885, bezeichnet der Mediziner und Anthropologe Rudolf Virchow Bakterien als fremde Eindringlinge, die „›in den Organismus eindringen wie Sudanesen‹, [und die] das Recht des Stärkeren, der ›Invasion und Eroberung‹ gegen alle Bindungen, Allianzen und Loyalitäten durchsetzen“. Sarasin (2004: 150) macht auf die Paradoxie dieses Bildes aufmerksam, die darin besteht, dass das hier den ‚Sudanesen‛ zugesprochene Handeln de facto die kolonialen Eroberungshandlungen der europäischen Mächte beschreibt: „Die phantasmatische Umkehrung war total, um in einem scheinbar eingängigen metaphorischen Bild auszudrücken, wie gefährlich Bakterien sind, aber sie war keineswegs beiläufig oder zufällig, sondern folgte einem weitverbreiteten rassistischen plot.“ Zum historischen Hintergrund dieses metaphorischen Sprechens über die ‚Sudanesen‛, vgl. Sarasin (2004: 150).
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und Fremdstellung sowie Narrative und Inszenierungen des Fremden, wie sie sich im Kontext des kolonialen Geschehens verdichteten, mit aktuellen Bilder und Stereotypen eines unterentwickelten, von Armut, Aids und anderen ‚Krankheiten‛ heimgesuchten Katastrophenkontinents. Der semantische und metaphorische Überschuss eines solchen Sprechens sorgt dafür, dass Ab- und Ausgrenzung, dass die Exklusion des ‚Fremden‛, zu einer Frage des (wirtschaftlichen und körperlichen) Überlebens stilisiert werden. Wie so oft geht es dabei jedoch mehr um das scheinbar bedrohte Überleben des Eigenen und weniger um das konkrete Überleben der Anderen.
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Medardus Brehl Diskursereignis ‚Herero-Aufstand‘ Konstruktion, Strategien der Authentifizierung, Sinnzuschreibung The ‘Herero uprising’ of 1904 was an event in the sense of discourse theory. In the years after 1904 there was a flood of publications in Germany, in a variety of genres and texts, which all sought to take the ‘Herero uprising’ as their subject and attempted to deal with its motivations, social and political context, entanglements and consequences. On the assumption that the relevant contexts of these contemporary publications can only be found in the socio-cultural knowledge, the socio-cultural and discoursive framings which determine perception and re-presentation of what happened in the colony, the article examines the discoursive structure of the ‘Herero uprising’ event. In the first part of the article the focus is set on three basic aspects of the publications in general: the strategies of authentication, as they are typical for texts about the ‘Herero uprising’ (e.g. moments of intertextuality, citations, illustrations, references); interdiscoursive relations in the narratives and the mix of genres; strategies of coming to terms with and making sense of the uprising, the wars, and the politics of annihilation used by the German ‘Schutztruppe’. In the second part these aspects are exemplified in a more detailed analysis of one of the most successful novels in the context of German colonial literature: Gustav Frenssen’s Peter Moors Fahrt nach Südwest, published in 1906.
1.
Einleitendes
Gegenstand der folgenden Überlegungen sind die Mechanismen einer diskursiven Konstruktion des Ereignisses ‚Hereroaufstand‘, die entlang einer kursorischen Analyse eines breiten Spektrums publizierter Texte über die Kolonialkriege der Jahre 1904 bis 1907 und über die Vernichtung der autochthonen Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama untersucht werden. Dabei steht die Frage im Fokus, wie die Geschehnisse in der Kolonie als ‚Ereignis‘ konstruiert wurden, welche Strategien der Authentifizierung dabei wirksam waren und wie sich die Folie eines gesellschaftlich breit geteilten sozio-kulturellen Wissens beschreiben lässt, in das die Geschehnisse integriert und vor dem ihnen Sinn zugeschrieben wurde. Ein zentrales theoretisches Problem einer solchen Untersuchung stellt sich in der Bewertung des Verhältnisses von Diskursivität und Textualität zu Historizität. Geschichtsschreibung ist nicht allein eine Re-Konstruktion von Vergangenheit, sondern ein Beitrag zu ihrer diskursiven Konstruktion und Festschreibung. Dass jedem Akt von Re-Konstruktion eine konstruk-
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Medardus Brehl
tive Operation inhärent ist, letztere dem re-konstruktiven Verfahren gar zugrunde liegt, mag wie ein Gemeinplatz erscheinen. Allerdings wird dieser Aspekt in der praktischen historiographischen wie auch literarhistorischen Arbeit oftmals verschwiegen, vielleicht sogar vergessen. Ausgeblendet wird dabei zudem das Problem der sprachlich-diskursiven Verfasstheit jeder Geschichte und die Frage nach der die Geschichte (mit-)formenden Funktion von Sprache und Diskursen. Einer Konzeptionalisierung der Beziehung zwischen Diskursen und ihrem Gegenstand kommt in diesem Kontext also ein besonderes Interesse zu. Mit einem Fokus auf die diskursive Produktion und Re-Produktion gesellschaftlich gültigen sozio-kulturellen Wissens verlangt zudem die Bewertung des historischen Quellenwertes genuin literarischer Diskurse nochmals besondere Aufmerksamkeit. Dabei steht hier zunächst einmal die These im Vordergrund, dass Deutung und literarische Codierung der Kolonialkriege und des kolonialen Genozids einerseits durch Traditionen beziehungsweise Konventionen der Rede über die Kolonien und die koloniale Kriegführung, andererseits durch die Struktur der Medien (Sprache und Schrift) determiniert sind. Das heißt, dass die zeitgenössisch über die Kolonialkriege produzierten Texte Ansichten dieser Kriege projizieren, die nicht die Realität abbilden, sondern, vor dem Hintergrund gültigen sozio-kulturellen Wissens und einer konventionalisierten Rede über die Kolonien, eine Wirklichkeit der Kolonialkriege konstruktiv erzeugen. Mit dem Begriff des sozio-kulturellen Wissens möchte ich ausdrücklich an dessen bisherige Verwendung in den Literaturwissenschaften anschließen, ihn jedoch zugleich präzisieren und als Rahmen der Textanalyse erweitern. Im Rekurs auf Foucaults Diskurstheorie definiert Titzmann (1989) ‚kulturelles Wissen‘ als die „Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt.“ (Titzmann 1989: 48. Vgl. auch Titzmann 1977: 263ff.). Die Annahme eines völlig homogenen Wissensbestandes bei allen „Mitgliedern der Kultur“ erscheint allerdings unwahrscheinlich, da, wie Bourdieu (1982) nachweist, unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden kulturellen Konventionen und ihren ‚feinen Unterschieden‘ innerhalb einer Kultur eine zentrale sozial-distinktive und sozialdifferenzierende Bedeutung zukommt.1 Daher wird im folgenden, die 1
Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch die grundlegenden Arbeiten von Mukarovsky, der – insbesondere in seinem grundlegenden Aufsatz Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten [1936] (Mukarovsky 1970: 7ff.) – aus der Perspektive einer strukturalen Ästhetik, eine Theorie ästhetischer Diskurse als sozial-differenzierender Faktoren entwickelt (Mukarovsky 1970: 57f.). Dabei misst Mukarovsky ästhetischen Diskursen eine differenzierende Funktion in Hinsicht auf eine vertikale (verschiedene gesell-
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Grunddefinition Titzmanns um kultursoziologische Überlegungen erweiternd, der Begriff sozio-kulturelles Wissen verwendet.2 Während das Attribut sozio-kulturell oft nur allgemein und überaus unspezifisch auf Strukturerscheinungen verweist, kann gerade eine im Schnittfeld von Diskurstheorie, Kultursoziologie und Literaturgeschichte angesetzte Prüfung sozio-kulturellen Wissens wichtige Aspekte zu einer Analyse (inter-)generationaler Wissensbestände, ihrer Tradierung, Aktualisierung und Neukonstruktion beitragen. Das Attribut sozio-kulturell verweist in diesem Kontext auf die Schwierigkeit, soziale Normen, kulturelle Werte, Deutungsmuster und sprachlich-diskursive Konventionen in der Moderne voneinander zu trennen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Weltauffassung, Sozialstruktur und kulturell-ästhetische Konventionen eine zunehmende Integration und Verschränkung in den Konstruktions- und Repräsentationszusammenhängen von Wirklichkeitsentwürfen erfahren. Die relevanten Kontexte der zeitgenössischen Publikationen über die Ereignisse der Jahre 1904 bis 1907 sind weniger im realen Geschehen zu suchen, als im sozio-kulturellen Wissen, in den soziokulturellen und diskursiven Rahmungen, die Wahrnehmung und RePräsentation determinieren. Mit dem Begriff Kolonialdiskurs wird im folgenden eine auf den Gesamtkomplex ‚Kolonialismus‘ bezogene konventionalisierte und institutionell sanktionierte kollektive Rede bezeichnet, die allerdings in verschiedenen sozio-kulturellen Milieus und Kommunikationssituationen unterschiedlicher Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit unterliegen kann. Der Kolonialdiskurs beschreibt somit zugleich ein Regelsystem, nach dem als wahr geltende Aussagen (im folgenden: wahre Aussagen) über die Kolonien formuliert werden können, sowie sämtliche Aussagen, die diesem Regelsystem gemäß formuliert sind, und zwar unabhängig von ihrer primären (politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder poetischen) Qualität. Dabei ist die kollektive Rede über die Kolonien, dies hat auch Hofmann (2001: 18-46; 2004) in ihrer eng an Foucault angelehnten Untersuchung französischer Texte des 17. Jahrhunderts über die Karibik gezeigt, gerade nicht als ein Reflex, als mimetisches Abbild oder Widerspiegelung einer kolonialen Wirklichkeit zu verstehen, sondern primär als ein flexibles System ihrer Konstruktion, ihrer diskursiven Vorstrukturierung und Er-
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schaftliche Schichten wie Adel und Bürgertum) als auch horizontale (Alters- oder Berufsgruppen, Stadt- und Landbevölkerung u.ä.) Gliederung der Gesellschaft zu (Mukarovsky 1970: 32f. u. 57ff.). Zu einer vergleichbaren, jedoch systemtheoretisch programmierten Erweiterung von Titzmanns Ansatz siehe: Ort (1992).
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zeugung. Der Kolonialdiskurs, die kollektive Rede über die Kolonien, ist somit als ein System der Konstruktion und Re-Präsentation eines kollektiven Wissens über die Kolonien zu begreifen, vor dessen Folie die koloniale Praxis erst denkbar wird und legitim erscheint. Dabei soll der Kolonialdiskurs nicht im Sinne Bhabhas (2000: 97ff.) als ein a priori strategisch funktionales, geschlossenes und stereotypisierendes ‚Wahrheitssystem‘ verstanden werden, dessen Zielsetzung ausschließlich darin bestehe, „die Kolonisierten auf der Basis ihrer Ethnizität als aus lauter Degenerierten bestehende Bevölkerung darzustellen, um die Eroberung zu rechtfertigen und Systeme der Administration und Belehrung zu etablieren“ (Bhabha 2000: 104). Für eine Analyse, die nicht den Aporien eines letztlich wiederum ideologiekritischen Programms – denn das Konzept ‚Kolonialdiskurs‘ ersetzt beziehungsweise verschleiert in dieser Perspektive letztlich ein Konzept der ‚Kolonialideologie‘ – erliegen will, ist es wenig hilfreich, von einem intentionalen und geschlossenen Begriff des Kolonialdiskurses auszugehen. Diese Perspektive wird weder der polykontexturalen Struktur der kollektiven Rede über die Kolonien gerecht, noch lässt sich mit einem solchen Begriff die gesellschaftliche Relevanz und breite gesellschaftliche Anschlussfähigkeit des kolonialen Projektes erklären. Dagegen ist darauf zu verweisen, dass der koloniale Diskurs keineswegs als ein geschlossenes oder gar hermetisches Bedeutungs- und Regelsystem zu begreifen ist. Er ist vielmehr auf vielfältige Weise mit anderen gesellschaftlich relevanten Diskursen und Wissenskontexten (u.a. der Medizin, Anthropologie, Klimatologie, Geographie, [Rassen-]Biologie, Ökonomie, Nationalpolitik, aber auch der Geschichtstheorie und Philosophie) verschränkt, wird von diesen Wissensdiskursen überhaupt erst produziert, schließt an sie an und wirkt auf sie zurück. Geschlossen ist das ‚Wahrheitssystem‘ des Kolonaldiskurses allenfalls insofern, als es sich nicht anhand einer wie auch immer gearteten außerdiskursiven Realität überprüfen, als ideologisch überführen und durch nicht-kolonialdiskursive, wahre Aussagen widerlegen lässt: Die Wahrheit beziehungsweise Wahrscheinlichkeit, die einer Aussage zum Beispiel über die afrikanischen Kolonien um 1900 zeitgenössisch zugemessen wurde, resultiert nicht aus ihrem Verhältnis zu einer afrikanischen Realität, sondern aus ihrer Konventionalität und Kompatibilität mit den Regularien der zeitgenössischen Rede und dem zeitgenössischen Wissen über Afrika. Die De-Konstruktion einer diskursiv konstruierten kolonialen Wirklichkeit beziehungsweise die De-Konstruktion einzelner kolonialdiskursiver Begrifflichkeiten wie beispielsweise ‚Eingeborener‘, ‚Schwarzer‘ oder ‚Wilder‘ ermöglicht keinen Zugriff auf eine außerdiskursive Realität, auf eine Essenz des mit diesen Begriffen bezeichneten und belegten Gegen-
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standes kolonialer Rede. Sichtbar werden dagegen möglicherweise das Regelsystem, die Mechanismen der Zuschreibung, der Exklusionen und vielleicht auch der Stereotypisierung, die Prozesse der Verweise, Validierung, Positionierung, die Mechanismen der Anschlüsse an gültiges Wissen und die Aktualisierung tradierter Wissensmuster. Denn die Begriffe referieren ausschließlich auf koloniale Konzepte und erfüllen eine positionierende Funktion in kolonialdiskursiven Konstruktionen afrikanischer Wirklichkeit. Zugespitzt ließe sich formulieren: Außerhalb der Regeln kolonialer Rede und eines diese Rede produzierenden Wissens handelt es sich um referenzlose Zeichen. Als Kolonialliteratur soll nun jener Teilbereich von Texten innerhalb des Kolonialdiskurses bezeichnet werden, denen die poetische Qualität als primäre Qualität eingeschrieben ist und/oder von den Rezipienten zugeschrieben werden kann. Dabei muss allerdings festgestellt werden, dass eine diskrete Unterscheidung kolonialliterarischer Texte von Texten anderer Teilbereiche des Kolonialdiskurses nicht immer leicht fällt, was ja gerade auch die skizzierten definitorischen Probleme der literarhistorischen Annäherungen an die sogenannte Kolonialliteratur evoziert hat. Einzelnen Texten können viele, möglicherweise unzählige Qualitäten eingeschrieben sein beziehungsweise können ihnen von den Rezipienten zugewiesen werden. Für Texte aus dem Kontext des Kolonialdiskurses gilt dies in einem besonderen Maße und zwar in verschiedener Hinsicht. Denn einerseits gibt es keine Beispiele kolonialer Belletristik, die nicht zumindest implizit auf kolonialwissenschaftliche Paradigmen (seien sie kolonialanthropologischer, -geographischer, -militärischer, -agrarwissenschaftlicher oder sonstiger Provenienz) verweisen. Andererseits bedienen sich kolonialwissenschaftliche Texte häufig genuin literarischer narrativer und tropologischer Muster zur Veranschaulichung ihrer Ausführungen. Des weiteren lässt sich keine eindeutige disziplinäre Zuordnung der jeweiligen ‚Autoren‘ kolonialer Texte treffen: Viele der Autoren kamen als Offiziere oder Mitglieder der ‚Schutztruppe‘, als Farmer, Siedler, Kaufleute oder Missionare, als Ingenieure oder Mitarbeiter der Kolonialverwaltung, als Kolonialgeographen, Sprachwissenschaftler oder Anthropologen selbst mittelbar oder unmittelbar aus einem kolonialen Milieu. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zudem, dass viele Kolonialschriftsteller zwar ausschließlich Texte mit kolonialer Thematik veröffentlichten, bestimmte Autoren jedoch parallel Texte zu verschiedenen Teilbereichen des kolonialen Diskurses beitrugen. Für den Gesamtzusammenhang der deutschen Kolonialliteratur ist somit eine Heterogenität der Genres und die Disparatheit der soziokulturellen und disziplinären Hintergründe der Textproduzenten – unter denen pro-
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Medardus Brehl
fessionelle Schriftsteller eher die Ausnahme sind – charakteristisch. Der koloniale Diskurs im allgemeinen und die Kolonialliteratur im speziellen lassen sich somit als prototypische und zudem offene Interdiskurse im Sinne von Link (1988; 1999; 2005) beschreiben. Vor diesem Hintergrund kommt den zeitgenössischen Publikationen über den Hererokrieg eine besondere Relevanz zu. Denn einerseits bereiten diese Texte ein aus der Perspektive des Reiches in der vermeintlichen Peripherie stattfindendes Ereignis für das Zentrum auf. Andererseits lässt sich anhand der De-Konstruktion der in jenen Texten präsenten und wirksamen Diskurse und Wissensmuster die Folie eines sozio-kulturellen Wissens re-konstruieren, vor dem koloniale Gewalt als gerechtfertigt, die Vernichtung ‚eingeborener Völker‘ als legitim und notwendig erscheinen konnte. In der nach 1904 erschienenen Literatur über die Kolonialkriege wurde die Vernichtungspolitik in einen historischen Sinnhorizont eingeordnet. Das Interesse wird im Folgenden daher insbesondere den strukturellen und diskursiven Konventionen, an die die Rede über die Kolonialkriege der Jahre 1904-1907 anschließt, sowie der Folie eines sozio-kulturellen Wissens gelten müssen, vor der die Texte eine Wirklichkeit dieser Kriege entwerfen und die Maßnahmen der deutschen ‚Schutztruppe‘ deuten und legitimieren. Dabei soll und kann es nicht darum gehen, Redekonventionen und Wirklichkeitsentwürfe, die aus heutiger Perspektive möglicherweise unangemessen erscheinen, durch eine Konfrontation mit solchen Entwürfen, die heute angemessener erscheinen, ideologiekritisch zu entlarven. Im Gegenteil: Die (poetische) Rede über die Kolonialkriege und den Genozid an den Herero soll hier hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit geprüft werden, ihrer Einbindung in Diskurskonventionen und Wissenshorizonte. Dabei interessieren die Rahmungen (oder die begrenzenden Bedingungsfelder) der Deutungen der Kolonialkriege, die diskursiv erzeugte Sinnhaftigkeit, die dem Geschehen vor dem Hintergrund gültigen Wissens zugeschrieben wird, sowie die Bedeutung, die die jeweils spezifische Struktur der literarischen Genres für Deutung und Codierung der Erfahrung des Kolonialkrieges zukommt. 2.
Die diskursive Struktur des Ereignisses ‚Hereroaufstand‘
In öffentlichem Bewusstsein in Deutschland spielten die Kolonialkriege der Jahre 1904 bis 1907 und die Vernichtung der Herero lange Zeit eine allenfalls marginale Rolle. Dieses Schicksal teilten sie allgemein mit der
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deutschen Kolonialzeit (1884-1915/1919), ihren Implikationen und Folgen: Sie war, so könnte man meinen, kurz und weitgehend folgenlos. Allerdings trifft diese Charakterisierung zuvorderst auf die deutsche Erinnerungskultur nach 1945 zu. Denn zeitgenössisch wurden die deutschen Kolonialkriege grundsätzlich anders rezipiert: Insbesondere der ‚Hereroaufstand‘ im Jahr 1904 war ein regelrechtes Diskursereignis, während der ungleich länger andauernde Nama-Krieg, der im Herbst 1904 begann und bis 1907 dauern sollte, bei weitem nicht jenen Widerhall in der öffentlichen Rede des Kaiserreichs gefunden hat. Eine Erklärung hierfür lässt sich sicherlich in der Beobachtung finden, dass der Herero-Krieg als das vorgängige, initiale und entscheidende Ereignis für die Kolonialkriege bis 1907 perzipiert wurde, während der Krieg gegen die Nama gewissermaßen als eine Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzungen wahrgenommen wurde und der Kriegszustand in der Kolonie bereits diskursiv normalisiert worden war. Dies gilt in einem ähnlichen Maße für den sogenannten ‚Maji-Maji-Aufstand‘ im ‚Schutzgebiet‘ Deutsch-Ostafrika im Jahr 1905. Symptomatisch ist in diesem Kontext, dass die Kämpfe in Südwestafrika zeitgenössisch als ein Krieg wahrgenommen wurden,3 obwohl der Herero-Krieg und der Nama-Krieg weder zeitlich parallel (der NamaKrieg begann erst, als die militärischen Operationen gegen die Herero weitgehend abgeschlossen waren) noch in einem geographisch einheitlichen Raum stattfanden, ohne dass damit ein enger, durchaus auch kausaler Zusammenhang der beiden Kriege negiert werden soll. Sicherlich ist jedoch die Feststellung berechtigt, dass der ‚Hereroaufstand’ ein ‚Ereignis‘ im Sinne der Foucaultschen Diskurstheorie (vgl. Fouault 1971: 269ff.; 1973: 13, 33ff.; vgl. auch Brieler 1998: 208ff.; Link 1999; Link 2005: 84f.) war, während die anschließenden Kriege eher als Folgeerscheinungen dieses Ereignisses interpretiert und vornehmlich im Kontext dieses Ereignisses erklärt beziehungsweise gedeutet wurden. Deutlich wird dies zum Beispiel anhand der Artikel über den ‚Hereroaufstand‘ und den ‚Hottentottenaufstand‘ im Deutschen Kolonial-Lexikon (Schnee 1920). Unter dem Stichwort ‚Hottentottenaufstand‘ findet sich lediglich der Eintrag „s. Hereroaufstand“ (Schnee 1920, Bd. 2: 81). Interessant ist nun, dass der „Hereroaufstand“ (Schnee 1920, Bd. 2: 59f.), die anschließenden Operationen der ‚Schutztruppe‘ und die Entsendung der Seebataillone, die Gefechts3
Diese Wahrnehmung hat sich im übrigen bis heute weitgehend erhalten, was auch auf die Geschichtswissenschaft zutrifft. Dies wird bereits in den Titeln einiger neuer Publikationen deutlich. So lautet der Untertitel von Krüger 1999: „Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs [Hervorhebung M.B.] in Namibia 1904 bis 1907“ (Krüger 1999). Analog formuliert der Untertitel eines 2003 erschienenen, von Zimmerer/Zeller 2003: „Der Kolonialkrieg (1904-1908) [Hervorhebung M.B.] in Namibia und seine Folgen“.
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verläufe bis zur Waterbergschlacht und die „Verfolgung in das Sandfeld“ recht daten- und detailreich geschildert werden, während der Artikel den Leser über den „allgemeine[n] Aufstand der Hottentottenstämme“ nur insofern informiert, als dass dieser auf „dieselben allgemeinen Ursachen zurückzuführen“ sei wie der „Hereroaufstand“ – wobei allerdings darauf verwiesen wird, dass die Niederwerfung der ‚Hottentotten‘ aufgrund ihrer ‚Kriegstüchtigkeit‘ weitaus „schwieriger, zeitraubender und verlustreicher“ gewesen sei (Schnee 1920, Bd. 2: 60). Während also der ‚Hottentottenaufstand‘ zeitgenössisch zumeist im Kontext des Ereignisses ‚Hereroaufstand‘ nachgeordnet gedeutet wurde, erschien in den Jahren ab 1904 neben Berichten in der allgemeinen Tagespresse und den kolonialen Zeitschriften in Deutschland eine Flut von Publikationen unterschiedlicher Textsorten, die dieses vorgängige Ereignis thematisierten und sich mit den Motivationen, den sozialen und politischen Rahmenbedingungen, den Einbindungen und Konsequenzen auseinander setzten: − − − − − − − − −
Berichte von ‚Augenzeugen‘ (Rheinische Missionsgesellschaft 1904), Drucksachen des Reichstags (Reichstag 1904), offizielle Verlautbarungen (Großer Generalstaab (Hg.) 1906/1907), (populär-)historiographische Darstellungen (Rust 1905, Schwabe 1907), Memoiren und Tagebücher von Ansiedlern (u.a. Falkenhausen 1905, Sonneberg 1905, Eckenbrecher 1907, Karow 1909), Memoiren und Tagebücher von Feldzugsteilnehmern (u.a. Erffa 1905, Salzmann 1905, Bayer 1909), Editionen von Feldpostbriefen (Liliencron (Hg.) 1906), belletristische Prosa (u.a. Holm 1906, Holm 1909, Kraze 1909, Steffen 1910, Steffen 1911), Jugend- und Kinderbücher (u.a. Gümpell 1904, Meister 1904, Metterhausen 1908, Koch 1910).
Dabei dominieren unter den belletristischen Publikationen deutlich narrative Genres, Romane und Erzählungen. Vereinzelt erschienen auch Gedichte (etwa Liliencron (Hg.) 1905) und Arbeiten für die Bühne (Liliencron 1904; Liliencron 1907a; Frenkel 1907) über den ‚Hereroaufstand‘, denen aber nur geringer Erfolg beschieden war (vgl. hierzu ausf. Brehl 2007: 104-107). Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei der ungleich umfangreicheren Gruppe der Prosatexte: Die heute ebenfalls zum großen Teil unbekannten Texte waren seinerzeit keineswegs randständig, sondern überaus populär, so dass sie zum Teil innerhalb weniger Jahre zahlreiche Nachauflagen erlebten. Auch im Bereich der narrativen Genres setzte die Auseinandersetzung mit den Kolonialkriegen nahezu unmittelbar ein, und die ersten umfangreichen Publikationen erschienen noch im Jahr 1904.
Diskursereignis Hereroaufstand
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Dabei fand eine Aufbereitung des Themas zunächst in Jugendbüchern statt. 2.1 Authentifizierungsstrategien Zu den frühesten Veröffentlichungen zählt die 1904 erschienene „Erzählung für die reifere Jugend“ Ins Land der Hereros von Jean Gümpell (1904), die in ihrer Anlage und hinsichtlich der Entwicklung der Story bereits als paradigmatisch für die große Breite der Publikationen über die Kolonialkriege gelten kann: Die Erzählung ist als Erlebnisbericht eines ‚Schutztrupplers’ entworfen, scheint sich somit aus der ‚Realität des Feldzuges‘ zu speisen und bedient sich zugleich der Erzählmuster des Abenteuerromans. Auffallend ist, dass beide hier angesprochenen Dimensionen des Textes – der Erlebnisbericht und die literarische Erzählung – im Untertitel der Publikation explizit formuliert sind: Die „Erlebnisse eines jungen Deutschen“ werden nicht einfach für die „reifere Jugend“ erzählt, sondern ausdrücklich mit der Genrebezeichnung ‚Erzählung‘ beschrieben. Der hier zu beobachtende Verweis auf Erleben und Erlebtes, der Rekurs auf ‚Erfahrungsberichte‘, seien dies die Erfahrungen der ‚Autoren‘ selbst oder die Verwendung von Erlebnisberichten anderer (Schutztruppler, Farmer oder sonstiger Garanten des Authentischen) und auch von offiziellen Dokumenten, die den Autoren zugänglich gemacht worden seien, gehört zu den initialen Diskursstrategien der zeitgenössischen Belletristik über die Kolonialkriege: Kaum ein literarisches Werk zu diesem Themenkomplex verzichtet darauf, dem Leser entweder bereits im Titel oder im Vorwort die Authentizität des Erzählten zu versichern. So wird der Leser von Adda von Liliencrons (1906; 1907b; 1908) dreiteiliger, in der Deutschen Jugend- und Volksbibliothek erschienenen Erzählung über den Herero-Krieg auf dem Titelvorsatz eines jeden der drei Bändchen darüber informiert, dass die Erzählung „nach Briefen von Mitkämpfern und mit Benützung der Veröffentlichungen des Generalstabs“4 abgefasst seien. Solche Beteuerungen finden sich im übrigen nicht allein in belletristischen Texten, sondern auch in sogenannten Erlebnisberichten und Memoiren, was um so mehr verwundert, als die Authentizität eines Erlebnisberichtes oder veröffentlichten Tagebuchs eigentlich keiner solchen Versicherung bedürfen sollte, da die Authentizität des Geschilderten, zumindest dessen vordergründige Nicht-Fiktionalität, bereits durch die Textsorte nahegelegt wird. Allerdings – und hier findet explizit eine, wie bereits angesprochen, für koloniale Texte typische Auflösung einer Trennschärfe
4
Gemeint ist hier: Großer Generalstab (1906/1907).
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der Textsorten statt – sind zahlreiche der sogenannten ‚Augenzeugenberichte‘ von Redakteuren bearbeitet und arrangiert worden. Ein interessantes Beispiel in diesem Kontext ist ein Buch, das 1907 unter dem Titel Meine Kriegserlebnisse in Deutsch-Süd-West-Afrika (Anonymus 1907) erschienen ist und als dessen Verfasser ein nicht namentlich genannter „Offizier der Schutztruppe“ firmiert. Das Vorwort dieses, an der Auflagenstärke gemessen, höchst erfolgreichen Buches5 verrät dann jedoch, dass es sich bei den geschilderten Erlebnissen keineswegs um die des anonymen alten Offiziers handelt, der sich selbst als „Verfasser“ des Textes bezeichnet. Ihm sei es „leider nicht beschieden“ gewesen, „selbst an dem Kriege teilzunehmen.“ (Anonymus 1907: 3) Statt dessen habe er versucht, „an der Hand des Tagebuchs eines Mitkämpfers […] ein Bild des Kriegslebens im fernen Lande vorzuführen.“ (Anonymus 1907: 3) Die Lektüre des Buches zeigt dann jedoch, dass der anonyme ‚Autor‘ dieses Tagebuch mit weiteren, bereits in Zeitungen und anderen Publikationen veröffentlichten Berichten kompiliert, redaktionell bearbeitet und schließlich zu einem – zumindest aus seiner Perspektive wohl – idealtypischen Kriegserlebnis verschmolzen hat.6 Aber nicht allein die Erzählung wird durch den Verweis auf einen Mitkämpfer – im Vorwort ist dieses Wort übrigens fett gedruckt und somit hinsichtlich seiner Autorität als Garant für den Wahrheitsgehalt der Erzählung nochmals besonders akzentuiert – auf eine außertextliche Realität zurückgeführt und somit beglaubigt. Auch die Abbildungen im Text – es handelt sich dabei teils um reproduzierte Fotografien, teils um Zeichnungen – werden in gleicher Weise authentifiziert: Sie seien „nach Amateurphotographien angefertigt, die während des Krieges aufgenommen wurden“ (Anonymus 1907: 3). Über die Verweise auf den Mitkämpfer, der vor Ort seine Erlebnisse im Tagebuch protokolliert habe, auf die Fotografie als Inbegriff eines Mediums zur mimetischen, ja tautologischen Abbildung von Realität, und auf den Amateur (und gerade nicht den professionellen Fotografen, der ja eher für die Inszenierung von Bildern und Szenen stehen würde und nicht für die Authentizität des Augenblicks) – über diese Strategie eines dreifachen Verweises wird dem Text eine Aura des Authentischen zugeschrieben: Nichts sei erfunden, alles werde gesagt und gezeigt, wie es bezeugt ist. Ein weiterer zentraler Aspekt in diesem Kontext ist die zumindest 5 6
Die Erstauflage wird mit der – allerdings eher unwahrscheinlichen – Zahl von 134.000 Exemplaren angegeben. Noch im gleichen Jahr soll der Band laut Verlag bereits im 140. Tausend nachgedruckt worden sein. Ein ganz ähnliches Verfahren findet sich in Dincklage-Campe (1908). Allerdings wird hier der Leser über die kompilierende Tätigkeit und redaktionelle Bearbeitung bereits im Untertitel des Buches unterrichtet.
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vordergründige Löschung der Instanz des Autors: Der Text erscheint gewissermaßen von der Realität des Kolonialkriegs selbst geschrieben und illustriert zu sein, die Realität wird zum Autor, zum Herren des Diskurses über den Kolonialkrieg und die Vernichtung der Herero, während der Verfasser allenfalls als Protokollant des Geschehenen fungiert. Kurz: Nichts soll erdichtet sein, allenfalls verdichtet. Das Verfahren, das der Verfasser zur Erstellung eines „Bild[es] des Kriegslebens im fernen Lande“ (Anonymus 1907: 3) anwendet, steht den Beteuerungen seines Vorwortes dann jedoch, wie bereits angedeutet, diametral entgegen. Durch die Kompilation verschiedener, als gültig angesehener Texte über den Krieg und die Vernichtung der Herero, also durch das Montieren und Arrangieren von anschlussfähigen Wirklichkeitsentwürfen, wird das vom Verfasser selbst geschilderte Verfahren geradezu umgekehrt: Das idealtypische Kriegsbild entsteht im Rekurs auf Texte, die Wahrheit des Berichts wird durch den Rückgriff auf anschlussfähige Aussagen konstruiert. Im Diskurs über den Hererokrieg ist die gesellschaftlich vermittelbare ‚Realität‘ des Kriegserlebnisses somit vorstrukturiert, ja sie wird überhaupt erst über ihn generiert. Die Wahrheit der konstruierten Erfahrung misst sich an der Kompatibilität mit den Regeln der kollektiven Rede über die Kolonialkriege. Es ist also keineswegs eine wie auch immer geartete Realität der Kolonialkriege, die die Hand des Verfassers lenkt, sondern der Diskurs über die Kolonialkriege. Der Verfasser des Textes erscheint somit weniger als Protokollant des Geschehenen, denn vielmehr als Agent des Diskurses, als ein Ort, an dem der Diskurs sich manifestiert. 2.2 Interdiskursivität und Diffusion der Genres Das hier zu beobachtende, zunächst vielleicht befremdlich erscheinende Verfahren der Textkonstitution kann, wenn in diesem Falle auch in einer extremen Form vorliegend, als paradigmatisch für einen Großteil der veröffentlichten Texte über die Kolonialkriege und die Vernichtungspolitik gelten. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften hat diese Beobachtung dazu geführt, den ‚Quellenwert‘ zeitgenössischer Publikationen über die Kolonialkriege, so denn ein solcher Quellenwert überhaupt angenommen wird, zu problematisieren. In ihrer Studie zur „Realität, Deutung und Verarbeitung“ der Kolonialkriege in Deutsch-Südwestafrika hinterfragt Krüger (1999: 80) die Relevanz der Bedeutung veröffentlichter Texte über den Herero-Krieg, insbesondere belletristischer Texte, für eine Bewertung der Sinndeutung des Kriegs kritisch und stellt fest, dass „die kolonialapologetische wie kritische Literaturwissenschaft durch die fehlende Unterscheidung der Genres [insbesondere einer dezidierten Differenzierung zwischen Roman und Tagebuch; M.B.] eine zwar ambivalente, aber
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homogene Kriegerfigur konstruiert [habe], die sich so nicht in den Tagebüchern“ wiederfinde (Krüger 1999: 80). Tagebücher, als „Zeugnisse der Selbstinszenierung und alltagsgeschichtliche Quellen“ würden – anders als veröffentlichte Texte – „brisante Themen“ ansprechen, sie würden „ungewollt Emotionen“ mitteilen (so beispielsweise, wenn die Schrift zittere oder Grammatikfehler aufträten). (Krüger 1999: 80) Unberücksichtigt lässt Krüger dabei allerdings, dass die Texte über den Hererokrieg, wie gezeigt, diese Differenzierung ja gerade selbst auflösen. Aber nicht nur aus diesem Grunde stellen sich aus literaturwissenschaftlicher, vielmehr jedoch aus diskurstheoretischer und wissenssoziologischer Perspektive im Hinblick auf Krügers Diagnose unmittelbar vier Fragen: Zunächst die Frage nach der sozialen Reichweite der Tagebücher, denen Krüger einen höheren Wirklichkeitsgehalt zuerkennt, und damit verbunden die Frage nach dem Einfluss dieser Tagebücher auf ein in breiten Kreisen der Gesellschaft geteiltes Bild über die Kriege und den Kriegsalltag, beziehungsweise nach ihrer Repräsentativität im Hinblick auf ein solches Bild. Zudem die Frage nach den spezifischen Regeln der Textsorte ‚Tagebuch‘ und nach dem Typus der über die Erfüllung dieser Regeln generierten Aussagen (etwa die Erfüllung der Anforderung Introspektion an den Produzenten eines Tagebuchs); viertens stellt sich natürlich die Frage nach den Interrelationen von Tagebuchtexten und poetischer Literatur, so beispielsweise die Frage nach der Vorstrukturierung von Tagebucheinträgen durch literarische Muster. Ein Beispiel dafür, wie ein Tagebucheintrag seine Evidenz gerade durch den Rekurs auf einen poetischen Text produziert und so der explizit fixierten Aussage über ein angedeutetes Zitat eine weitere Bedeutungsdimension hinzufügt, führt Krüger in ihrer Studie selbst an, allerdings ohne die intertextuelle Verweisstruktur ihres Beispiels und die Konsequenzen dieser durchaus beabsichtigten Intertextualität des von ihr angeführten Zitates zu dechiffrieren. So führt sie folgende Passage aus dem Tagebuch eines Major Stuhlmann an, der, so Krüger, in seinem Tagebuch wiederholt auf seine Kultiviertheit und auf seine Bildung verweise: „Als besonders echte Hottentotten-Schönheit wird die Dame betrachtet, welche durch lange Rassenzüchtung eine besonders mächtige Rundung des Gesäßes – Verzeihung – aufweist. Die glücklichen Mütter tragen dann auch ihre Kinder reitend auf Hüfte oder besagtem Körperteil und reichen ihnen auch so die Brust. – ‚da wendet sich der Gast mit Grausen ...!‘“ (zitiert nach: Krüger 1999: 84) Krüger liest diese Passage als einen Versuch Stuhlmanns, dessen „Urteile über Afrikaner […] zwischen Respekt und Anerkennung, Rassismus und enthnographischem Interesse“ schwanken würden, einen Abstand
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zwischen den ‚Weißen‘ und den ‚Hottentotten‘ (wieder-)herzustellen, die er kurz zuvor als „fast weiß“ bezeichnet habe, (Krüger 1999: 84). Die Passage, dies sollte vielleicht noch einmal betont werden, steht im Kontext eines Tagebuchs, das die Kriege gegen die Herero und Nama zum Gegenstand hat. Stuhlmann selbst war erst kurz vor der Schlacht am Waterberg im Schutzgebiet eingetroffen, und ihm waren die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Herero in ihrer gesamten Konsequenz durchaus präsent. Nun ist interessant, dass der Autor des Tagebuchs seine Beschreibung mit einem verkürzten Zitat enden lässt, das Krüger in ihrer Analyse nicht auflöst, obwohl Stuhlmann den Satz selbst als Zitat kennzeichnet und auch die Fortführung des zitierten Gedankens durch drei Punkte offensichtlich andeutet und dem impliziten Leser seines Tagebuchs (selbst wenn es sich allein um ihn selbst handeln sollte) eine solche Fortführung des Gedankens anrät. Bei dem Text, den der seine Bildung stets betonende Stuhlmann zitiert, handelt es sich um den Schluss von Schillers 1797 entstandener Ballade Der Ring des Polykrates (Schiller 1900, Bd. 1: 161-163), die sicherlich zum Pool des bildungsbürgerlichen Kanons um 1900 gerechnet werden darf. Das vollständige, vom Bildungsmenschen Stuhlmann nur angedeutete Zitat lautet: „Hier wendet sich der Gast mit Grausen: / ›So kann ich hier nicht ferner hausen, / Mein Freund kannst du nicht weiter sein. / Die Götter wollen dein Verderben; / Fort eil‘ ich, nicht mit dir zu sterben.‹ / Und sprach’s und schiffte schnell sich ein“ (Schiller 1900, Bd. 1: 163). Sicherlich erhält die Passage des Tagebuchs durch das angedeutete Zitat einerseits einen ironisierenden Charakter. Andererseits erhält der Text, der offen mit um 1900 gültigem ethnologischen Wissen7 und rassischen Stereotypen operiert, durch die im angedeuteten Zitat ausgesprochene Vision eines gottgewollten Untergangs, der nun auf die als pars pro toto für die autochthone Bevölkerung, zumindest aber für die Nama stehende ‚Hottentottenfrau‘ übertragen wird, im Kontext des Kriegsgeschehens und der auf Vernichtung abzielenden Strategien der deutschen Schutztruppe 7
So ist die von Stuhlmann beschriebene, als ‚Fettsteißigkeit‘ oder ‚Steatopygie‘ bezeichnete physiognomische Besonderheit der Nama-Frau dem in den 1920er Jahren erschienenen Deutschen Kolonial-Lexikon (Schnee 1920) immerhin gleich zwei Einträge wert, wobei der Interessent unter dem Begriff „Fettsteißigkeit“ zunächst nur auf das entsprechende Fachwort verwiesen wird (vgl. Schnee 1920, Bd. 1: 610). Unter dem Eintrag „Steatypogie“ findet sich dann eine ganzspaltige, sowohl hinsichtlich der morphologischen als auch organischen Dimensionen recht detailreiche Beschreibung des besagten Körperteils. Ergänzt und validiert wird das Ganze durch einen Verweis auf empirische Untersuchungen (Sektionen) und auf Forschungsliteratur (Schnee 1920, Bd. 3: 402). Zu guter Letzt kann sich der interessierte Leser dann auch noch selbst mittels einer Schautafel von den Dimensionen der „Steatopygie bei Hottentottinnen“ überzeugen (Schnee 1920, Bd. 3:Tafel 183).
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eine fatale Bedeutungsdimension. Interessant ist, dass der ‚Untergang‘ durch den Rekurs auf einen ‚klassischen Text‘ als Gott-gewollt und damit zwangsläufig, unabwendbar und gerechtfertigt entworfen wird. Die Passage und ihre diskursive Strategie zeigt sehr deutlich, dass eine diskrete Trennung der Genres kaum möglich ist, da ‚Tagebuch‘ und ‚Roman‘, ‚authentisches‘ Egodokument und ‚fiktionaler‘ poetischer Text, ihre Evidenzen gerade erst durch eine wechselseitige Durchdringung produzieren: Der Tagebucheintrag beglaubigt sich durch einen klassischen Text, während zahlreiche poetische Texte über den Herero-Krieg, wie bereits gezeigt, auf ‚tatsächlich Erlebtes‘, auf Augenzeugenberichte und nicht zuletzt auf Tagebücher zurückverweisen, um ihre Story zu authentifizieren. Aber nicht allein diese auffällige und vielschichtige Diffusion der Genres ist ein typisches Merkmal zeitgenössischer Codierungen der Kolonialkriege. Für die Publikationen, insbesondere für die erzählenden Texte trifft ebenfalls zu, was Benninghoff-Lühl (1983: 7) allgemein hinsichtlich der deutschen Kolonialliteratur feststellt, nämlich „dass die verschiedenen Handlungsmuster nur geringfügig voneinander abwichen.“ Das Gros der erzählenden Literatur setzt mit der Überfahrt des Soldaten eines Seebataillons ein, der selbst zunächst über keine Erfahrung in den Kolonien verfügt.8 Recht stereotyp werden bestimmte Ereignisse und Stationen der Überfahrt geschildert: Seekrankheit, Zwischenstop auf Madeira oder einer Kanarischen Insel, erster Kontakt mit ‚Farbigen‘ und Reaktionen der Befremdung, Äquatortaufe, Aufnahme von afrikanischen ‚Schiffjungen‘ in Monrovia, deren Äußeres als ebenso ‚abstoßend‘ geschildert wird wie ihr Verhalten. Häufig wird die Republik Liberia als schwarzafrikanische Karikatur eines Staatswesens beschrieben. Ein festes Motiv ist dann die Enttäuschung der Protagonisten über die Kargheit der Südwestafrikanischen Landschaft bei der Ankunft in Swakopmund, oftmals auch der Zweifel, ob dieses karge Land überhaupt einen Krieg wert sei. Eine Variante dieser Entwicklung des Plots besteht darin, dass die Erzählung unmittelbar mit der Ankunft von ‚Neulingen‘ kurz vor ‚Ausbruch des Aufstandes‘ in Swakopmund einsetzt, mit ihrer Konfrontation mit den ‚Alten Afrikanern‘9 und mit Diskussionen über die Behandlung der ‚Ein8 9
Exemplarisch sind hier neben zahlreichen ‚Erlebnisberichten‘ (so dem bereits erwähnten Anonymus 1907) u.a. folgende Publikationen: Gümpell (1904); Liliencron (1906); Meister (1904) oder Frenssen (1906). Im Konzept des ‚Alten Afrikaners‘ manifestiert sich eine in kolonialer Rede präsente positionierende Begriffsbildung von größter Bedeutung, die in der Kolonialgeschichtsschreibung und selbst in von der Postcolonial Theory programmierten Untersuchungen zum Colonial Discourse bisher keine Rolle gespielt hat. In Untersuchungen, die sich mit der deutschen Kolonialgeschichte beschäftigen (so auch in diesem Aufsatz), wird in der Regel zwischen ‚Europäern‘ und ‚Afrikanern‘ beziehungsweise ‚indigener Bevölkerung‘
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geborenen‘. Während die erste Variante der Erzählung, den Auszug der stets männlichen Protagonisten als Reaktion auf den Ausbruch des Krieges beschreibt, sind die Motivationen der Protagonisten für eine Reise oder Übersiedlung in die Kolonie im zweiten Typus der Erzählung häufig wirtschaftlicher oder sozialer Natur: Männer und Frauen, die sich als Kaufleute, Farmer oder Farmarbeiter im kargen Südwest eine neue Existenz aufbauen wollen, Personen, die den Massengesellschaften der europäischen Metropolen entfliehen, um in der Einsamkeit der Kolonie zu sich selbst zu finden, oder Offiziere und Soldaten, die im Reich aufgrund eines Konfliktes in Unehre gefallen sind und nun in der Kolonie ein neues Leben beginnen wollen (vgl. etwa Holm 1909 oder Steffen 1911). Der Aspekt der Bewährung in der Fremde ist jedoch beiden Varianten der Entwicklung des Plots gemein. Der Krieg mit den ‚Eingeborenen‘ wird dann in der Regel entlang der Ereignisse geschildert, wie sie in offiziellen Darstellungen des Generalstabs entworfen worden sind. Zentrale Motive hierbei sind Zerstörung der deutschen Kulturleistungen und Bedrohung der weißen Farmer und Soldaten durch die ‚Eingeborenen‘, Kameradschaft, soziale Integration durch gemeinsam erfahrene Bedrohung und Not, Schilderung von Entbehrungen und Hunger. Breiten Raum nimmt oftmals der Bericht über die Schlacht am Waterberg ein sowie die Darstellung einer entbehrungsreichen Verfolgung der flüchtenden Herero in das Sandfeld und der ‚Untergang des Hererovolkes‘. Diese auffällig stereotype, um Fragen der Bewährung des Eigenen kreisende Erzählkonstellation hat zentral damit zu tun, dass zahlreiche der Texte über die Kriege gegen die Herero und Nama – und dies gilt durchaus auch für die sogenannte ‚Kolonialliteratur‘ im allgemeinen –, zwar die Kolonien als Setting nutzen und auch ihre Story anhand kolonialpolitischer Themen oder kolonialer Ereignisse entwickeln, im Grunde aber von etwas ganz anderem sprechen: Sie sprechen davon, in Auseinandersetzung und im Kampf mit einer kargen Landschaft und mit unbotmäßigen ‚Eingeborenen‘ als einzelner und als Volk zu sich selbst zu finden. Sie spreunterschieden, oder zwischen ‚Kolonisten‘ und ‚Kolonisierten‘. Im deutschen Kolonialdiskurs der Jahre 1884-1915 sind diese Begrifflichkeiten selten zu finden. In der zeitgenössischen Rede über die Kolonien wird, wie geschildert, meistens in einem rassischen Diskurs die Begriffe ‚Weißer‘ und ‚Schwarzer‘ verwendet. Häufig findet sich jedoch auch eine Unterscheidung – die, wie ich meine, explizit einem kulturevolutionistischen Diskurs folgt – von ‚Afrikanern‘ und ‚Eingeborenen‘, wobei mit dem Begriff ‚Afrikaner‘ respektive ‚Alte Afrikaner‘ die europäischen Farmer, Ansiedler und Angehörigen der Schutztruppe bezeichnet werden, die sich längere Zeit in Afrika aufhielten. Die Bedeutung der Begrifflichkeiten ist evident: Den ‚Eingeborenen‘ gehört Afrika – den diskursiven Strukturen folgend – von Anbeginn der Geschichte genauso wenig, wie es den einheimischen Tieren gehört. Afrika wird von den Kolonisatoren nicht nur militärisch und ökonomisch in Besitz genommen, sondern auch diskursiv.
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chen von dem, was ‚deutsch‘ ist, beziehungsweise von dem, was es sein oder werden soll. Mit der Schilderung von ‚Wildnis‘ und ‚Wilden‘ wird somit zugleich das Gegenbild des tätigen, schaffenden und auch sich selbst schaffenden ‚Deutschen‘ entworfen. Koloniale Rede ist also, so lässt sich schließen, eingebunden in die komplexen Prozesse der Produktion dessen, was man eine kollektive deutsche Identität nennen könnte (vgl. hierzu Dabag 2004; Brehl 2007: 165ff.). 2.3 Sinnzuschreibungen 2.3.1 Grundmuster Neben den beiden geschilderten Charakteristika der Literatur über die Kolonialkriege der Jahre 1904 bis 1907 – einer gewissen Stereotypie in der Entwicklung der Story, der Strategien der Beglaubigung und der Einbindung in die Kontexte der Konstruktion kollektiver Identität – findet sich ein dritter Aspekt, der nahezu sämtlichen dieser Texte gemein ist: der Grundtenor hinsichtlich der Deutungen des Krieges und der von der deutschen ‚Schutztruppe‘ verfolgten Vernichtungsstrategie. So ist es auffallend, dass in den frühen Publikationen über die Kolonialkriege die Vernichtung der Herero und Nama weder bestritten noch bagatellisiert wird, sondern als sinnvoller und gerechtfertigter Beitrag im Vollzug – und als Vollziehen – eines allgemeinen Prozesses der Entwicklung einer Weltkultur gedeutet und als legitimes Mittel in einer als unausweichlich angenommenen Auseinandersetzung zwischen ‚Weißen‘ und ‚Schwarzen‘, zwischen ‚Kultur‘ und ‚Unkultur‘ beschrieben wird. Die in den Texten wirksamen Argumentationsmuster können über kulturevolutionistische, sozialdarwinistische und geschichtstheoretische Entwürfe des 19. Jahrhunderts (etwa bei Hegel) bis in die Philosophie der deutschen Aufklärung (beispielsweise zu Kant oder Herder) zurückverfolgt werden, so dass sich in einer diachronen Perspektive die Genealogie einer diskursiven Exklusion der „Schwarzafrikaner“ aus dem „Universum allgemeiner Verbindlichkeiten“ (Fein 1999: 39 ) nachzeichnen lässt (vgl. hierzu Brehl 2000; 2007: 143ff.). Auffallend ist zudem, dass in den frühen Erzählungen die absichtsvolle Vernichtung der ‚Schwarzen‘ gerade nicht ausgeblendet wird: Die vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen literarischen Texte über die Ereignisse der Jahre 1904 bis 1907 enden mit der Vernichtung der Herero, während die Aufhebung des im Oktober 1904 von General von Trotha erlassenen Vernichtungsbefehls in keinem der Texte auch nur Erwähnung findet. Die Ermordung der ‚Eingeborenen‘ erscheint als ein notwendiges Ziel kolonisierender und kultivierender Arbeit.
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2.3.2 Gegenreden? Sicherlich waren die Diskussionen um die Kriegführung und die Vernichtungsstrategie nicht so homogen, wie es die skizzierten Argumentationsmuster nahezulegen scheinen. Auch andere Darstellungen des Geschehens und andere, kritische Auseinandersetzungen mit der Vernichtungsstrategie der Schutztruppe wurden formuliert, so insbesondere im missionarischen (vgl. hierzu Irle 1906; Irle 1909) und sozialdemokratischen Umfeld (vgl. hierzu Weinberger 1967; Mergner 1988) sowie – mit Einschränkungen – im Umfeld des katholischen Zentrums (vgl. hierzu Epstein 1959). Beispielhaft ist in diesem Kontext der damalige SPD-Vorsitzende Bebel, der im Reichstag die Kriegführung der deutschen Schutztruppe verschiedentlich kritisierte (vgl. z. B. Bebel 1904). Allerdings blieben diese kritischen Äußerungen hinsichtlich ihrer Breitenwirkung eher randständig. Die Ergebnisse der sogenannten ‚Hottentottenwahlen‘ (25. Januar 1907, Stichwahlen am 5. Februar 1907), in denen die Befürworter einer Fortsetzung des Kolonialkriegs eine große Mehrheit der Reichstagssitze erzielten, während die Sozialdemokraten fast die Hälfte ihrer Reichstagsmandate verloren und nur noch 43 Mandate erhielten,10 sprechen hier eine deutliche Sprache: Die konservativen und liberalen Wahlsieger hatten im Wahlkampf eine dezidiert gegen die Sozialdemokratie gerichtete, nationalistische und kolonial-imperialistische Programmatik vertreten (Reinhard 1978; van der Heyden 2003). Die Sozialdemokraten zogen aus dieser Wahlniederlage Konsequenzen und gaben ihre seit 1904 deutlich vertretene kolonialkritische Position auf. Auffallend ist zudem, dass in den eher als kritisch einzuschätzenden Äußerungen und Publikationen dieselben Grundstrukturen und Argumentationslinien präsent sind wie in der großen Breite der legitimatorischen (Kolonial-)Diskurse, aus denen allerdings andere und – zumindest vordergründig – weniger radikale Schlussfolgerungen gezogen werden. Diese Beobachtung gilt gleichermaßen für den sozialdemokratischen wie auch den missionarischen Kontext: Aus einer angenommenen und unhinterfragten Unterlegenheit der Afrikaner wird durchaus auch die Berechtigung zu kolonialer Expansion und zu einer notwendigen und damit auch legitimen Herrschaft der ‚überlegenen Weißen‘ über die Afrikaner gefolgert. Verbunden wird dies jedoch mit einem Auftrag der kulturellen Hebung sowie (insbesondere im sozialdemokratischen Kontext) einer sozialen Modernisierung oder eben der Missionierung. Bedeutsam ist nun, dass 10
Dies allerdings in erster Linie aufgrund der Spezifika des Wahlrechts und der Aufteilung der Wahlkreise sowie aufgrund geschickter Wahlbündnisse der bürgerlichen und konservativen Kandidaten bei den Stichwahlen (vgl. hierzu van der Heyden 2003: 100).
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solche modernisierenden Eingriffe häufig in bellizistische Konstruktionen gefasst werden, die bisweilen unmittelbar an die Argumentationsmuster der kolonialen Rede anschließen, ja geradezu von den Parametern einer (kolonial-)diskursiv generierten afrikanischen Wirklichkeit bestimmt werden. So wird in einem kurzen Text zum Thema Der Sozialismus und die Kolonialfrage, den der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Bernstein (1900) in den eher dem rechten Flügel der SPD nahestehenden aber keineswegs genuin kolonialpropagandistischen Sozialistischen Blättern publizierte, dem „Kolonialchauvinismus“ eine deutliche Absage erteilt und die Sozialdemokratie zum „natürliche[n] Anwalt der Eingeborenen“ (Bernstein 1900: 59) erklärt. Dies hindert Bernstein allerdings nicht daran, zuvor festzustellen, dass die höhere Kultur gegenüber der niedern stets das größere Recht auf ihrer Seite [hat], ja, die Pflicht, sich jene zu unterwerfen. [...] So interessiert [sic!] die Vertreter niederer, ursprünglicher Kulturen für den Ethnologen sein mögen, so wird der Soziologe sich keinen Augenblick besinnen, ihr Zurückweichen vor den Vertretern höherer Kultur für notwendig und weltgeschichtlich gerecht zu erklären. (Bernstein 1900: 58)
Bernstein weist hier dem Kolonialismus eine Legitimität zu, die er aus dem notwendigen Fortschritt einer einheitlichen Weltgeschichte schließt. Auffällig ist zudem, dass den kolonisierten Völkern kein Existenzrecht um ihrer selbst Willen zugesprochen wird: Ihre Anwesenheit in den Kolonien, ihre Existenz erscheint allein aufgrund eines – bei Bernstein zudem in der Möglichkeitsform formulierten – Interesses der Ethnologen gerechtfertigt, das aber den Notwendigkeiten des Geschichtsprozesses untergeordnet wird. Für „keineswegs notwendig“ hält Bernstein dagegen, dass der Prozess der Geschichte, „das Zurückweichen von Kultur vor Kultur [...] mit dem Verschwinden der minder entwickelten Rassen und Nationalitäten verbunden“ sein müsse (Bernstein 1900: 58). Ausgeschlossen oder kritisiert wird die Möglichkeit des „Verschwindens“ der „Eingeborenen“ jedoch nicht – und bleibt somit auch hier als letztlich „weltgeschichtlich gerechtfertigte“ Konsequenz des kolonialen Programms legitim. Einen vergleichbaren Anschluss an gültige Muster kolonialer Diskurse findet sich dann auch im Kontext der Mission. So wird im Vorwort zu der 1909 erschienenen Schrift Wie ich die Herero lieben lernte, in der die Missionarsfrau Irle (1909) versucht, um Verständnis für die Herero zu werben und dem gültigen Bild des mordlustigen Wilden entgegenzuwirken, der kolonialmissionarische Diskurs an den kolonialmilitärischen Diskurs angenähert, ja sogar zur Deckungsgleichheit gebracht. So schreibt der Kon-
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sistorialrat Dr. von Rohden, der Bruder Irles, dass die „Herero der inneren Überwindung durch die christliche Liebe ebenso Widerstand“ entgegensetzen würden „wie der Niederwerfung durch die deutschen Waffen“ (Irle 1909: 3f.), und folgert daraus, dass „der Sieg“, den die Mission über die Herero errungen habe, „viel herrlicher und bleibender“ sei, „als der mit Blut und Eisen errungene.“ (Irle 1909: 4) Schließlich wird auch der Expansionismus dezidiert auf die Missionstätigkeit in Südwestafrika übertragen, wenn Rohden prognostiziert, „dass in dem unterworfenen Lande, unserer mit so schweren Opfern erkauften Kolonie noch viele moralische Eroberungen zu machen sind“ (Irle 1909: 3f.). Das sich hier abzeichnende Bild der Missionstätigkeit als eines (Eroberungs-)Kampfes hatte bereits im Jahr 1888 der Missionar und Missionstheoretiker Merensky (1888) in seiner vielbeachteten Schrift Europäische Mission und Christentum gegenüber dem südafrikanischen Heidentum unmissverständlich und programmatisch formuliert und den Kampf der Mission sogar darüber hinaus als einen notwendigen Vernichtungskampf entworfen. In Merenskys Schrift lesen wir, dass zunächst das „ganze Volksleben eines Heidenvolkes […] erst umgewandelt, seine Eigentümlichkeit vernichtet werden“ müsse, „ehe die Kultur das innerste Herz und Mark eines Volkes erreicht, wo doch der Sitz des Aberglaubens zu suchen ist. Das Christentum greift bei seiner Missionsarbeit gleich diese innerste feste Burg des Heidentums an“ (Merensky 1888: 16). Die Voraussetzung für eine kulturelle Hebung und Missionierung des Afrikaners bestehe also in der Vernichtung „seiner Eigentümlichkeiten“. Ziel der Missionsarbeit, so Merensky in einer bedeutungsschweren Assoziation von Luthers Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott“, sei daher die Schleifung der „innerste[n] feste[n] Burg“ des afrikanischen Heidentums (Merensky 1888: 16). Missionsarbeit ist Kriegshandwerk, so lässt sich Merenskys bellizistischer Diskurs sicherlich lesen, ohne der Textvorlage dabei Gewalt anzutun. Ziel dieser missionarischen Kriegführung, die sowohl von Merensky als auch von Irle über den Rekurs auf den bellizistischen Diskurs entworfen wird, sei allerdings nicht die physische Vernichtung des Afrikaners, sondern die Vernichtung seiner kulturellen Eigenständigkeit. Mit dieser Vision treffen sich missionarische Diskurse übrigens durchaus mit kolonial-ökonomischen Argumentationslinien, die nach 1907 für eine ‚Erhaltung‘ der ‚Herero und Hottentotten‘ plädieren, um sie – „ihrer körperlichen, geistigen und politischen Eigenart“ beraubt – „einst erinnerungslos eingeschmolzen […] mit dem Zeichen des Reichsadlers und des christlichen Kreuzes versehen, mit der Aufschrift ‚farbige Arbeiter‘ als Wirtschaftswert in allgemeiner Tagelöhnerwährung wieder neu in Kurs“ setzen zu können (Schulze 1910: 295). Im ökonomisch programmierten
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Diskurs, der sich hier explizit abzeichnet – nicht allein über die Begrifflichkeiten ‚farbige Arbeiter‘, ‚Wirtschaftswert‘, ‚Tagelöhnerwährung‘ und ‚in Kurs setzen‘ –, korrespondiert die Assoziation quasi-industriellen ‚erinnerungslosen Einschmelzens‘ mit Merenskys Vision der Vernichtung der ‚Eigentümlichkeiten‘ des Afrikaners. Das Programm einer ‚Vernichtung‘ bleibt somit auch in den der Vernichtungspolitik der Schutztruppe vordergründig kritisch entgegenstehenden Diskursen gültig (vgl. hierzu auch: Böttger 2002). 2.3.3 Soziale Reichweite Bereits weiter oben ist festgestellt worden, dass ein großer Teil der Produzenten kolonialer Texte in spezifischer Weise selbst in das koloniale Projekt involviert war. Dennoch existiert im Widerspruch zu der häufig formulierten Annahme, dass im Falle der ‚Kolonialliteratur‘ ein geschlossener Publikations- und Rezeptionskreis anzunehmen ist, der zudem eindeutig mit einer bestimmten sozialen Interessensgruppe identifiziert und auf diese beschränkt werden könne (so etwa Warmbold 1982: 278; Reif 1983: 160; Melber 1992: 99f.; vgl. auch Wassink 2004), auch eine nicht geringe Anzahl von Texten zum ‚Herero-Krieg‘, die nicht von Autoren mit kolonialem Hintergrund geschrieben und nicht im Kontext vornehmlich kolonialpolitischer Interessen publiziert und gelesen wurden. Eine Lektüre dieser Publikationen zeigt, dass Bild und Deutung der Ereignisse, wie sie in den auf ein kolonial-interessiertes Publikum zugeschnittenen Publikationen entworfen wurden, auch in breiteren Kreisen des wilhelminischen Bürgertums anschlussfähig waren (vgl. hierzu ausführlich Brehl 2007). So stimmen die Schilderungen und Deutungen der Ereignisse der Jahre 1904 bis 1907 in Publikationen, die an eine breite bürgerliche Leserschicht gerichtet waren, mit denen in Texten genuin kolonialer Autoren wie Maximilian Bayer, Orla Holm oder Kurd Schwabe nicht allein in ihrer Thematik, sondern auch hinsichtlich der Struktur ihrer Argumentation weitestgehend überein. Romane wie Krazes Heim Neuland (1911), Kochs Die Vollrads in Südwest. Erzählung für junge Mädchen (1910; 1928 erschien die 17. Auflage) oder auch das bereits im Jahr 1904 erschienene Muhérero riKárera! (Nimm dich in acht, Herero!) von Meister (1904), sind hier beispielhaft. 3.
Repräsentative Verdichtung: Peter Moors Fahrt nach Südwest
Das prominenteste Beispiel in diesem Kontext ist jedoch der im Jahr 1906 erschienene, der „deutschen Jugend, die in Südwestafrika gefallen ist, zu
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ehrendem Gedächtnis“ gewidmete Roman Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht von Frenssen (1906). Dies nicht allein deshalb, weil es sich bei diesem Roman um die erfolgreichste zeitgenössische Publikation über den ‚Hereroaufstand‘ handelt, der Text also bereits aufgrund seiner Auflagenstärke als repräsentativ gelten kann,11 sondern auch, weil Frenssen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu den renommiertesten, auch international anerkannten und meistdiskutierten deutschen Schriftstellern gehörte (vgl. hierzu Dohnke/Stein (Hg.) 1997; Ketelsen 1992: 148-171; Ketelsen 1997), der 1910 und 1912 sogar für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde – der dann beide Male jedoch nicht an ihn, sondern an Paul Heyse (1910) und Gerhart Hauptmann (1912) verliehen wurde. In seinem Führer durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts aus dem Jahr 1913 schreibt der Romancier und Literaturkritiker Geißler (1913) über Frenssen: Er ist der beste deutsche Erzähler; er hat die Literatur mit einer Reihe für ihn und deutsches Wesen typischen Figuren beschenkt, die an Umfang und innerem Reichtum kein anderer Romancier aufweisen kann. Er hat den deutschen Roman zu einer Höhe geführt, über die er in Einzelheiten wohl, alles in allem aber vor ihm nicht hinausgekommen ist.“ (Geißler 1913: 134)
Sicherlich ist die Einschätzung Geißlers, der selbst mit Romanen hervortrat, die eine gewisse Nähe zu Frenssens ‚niederdeutschen‘ Themen aufweisen (Geißler 1907; 1911; 1919), subjektiv und vom eigenen, stark 11
Der Roman wurde im In- und Ausland von der Kritik zumeist mit Begeisterung aufgenommen und entwickelte sich in kurzer Zeit – auch international – zu einem Best- und Longseller: zunächst als Band 89 der Grote’schen Sammlung von Werken zeitgenössischer Schriftsteller in einer Stückzahl von 25.000 Exemplaren aufgelegt, wurde der Roman bis zum November des Jahrs der Erstauflage im 100. Tausend nachgedruckt. Bis ins Jahr 1953 erreichte der Roman eine Gesamtauflage von deutlich mehr als einer halben Million Exemplare. Dass dieser Text aber nicht allein eine zeitgenössisch anschlussfähige Erzählung über den Krieg in Deutsch-Südwestafrika darstellte, sondern dass dort ‚Werte‘ vermittelt wurden, die man für zentral und bewahrenswert hielt, zeigt sich daran, dass der Roman als geeignet für die Lektüre in Schulen erachtet wurde. Bereits im Jahr 1908 waren Auszüge des Romans unter dem Titel Schwere Kriegstage in Südwest (Frenssen 1908) in den sechsten Band des Deutschen Lesebuchs für Lyzeen und Höhere Mädchenschulen aufgenommen worden. Im Jahr 1915 erschien dann – ebenfalls in der Grote’schen Verlagsbuchhandlung – eine dezidiert für die Verwendung im Schulunterricht bestimmte Ausgabe (Frenssen 1915), die bis 1927 drei Auflagen erreichte. Die Schulausgabe brachte den vollständigen Text nebst Einleitung, Abbildungen und Anmerkungen, wobei die Anmerkungen auf Parallelstellen anderer Publikationen zum ‚Herero-Krieg‘ verweisen oder bestimmte Schilderungen Frenssens durch die Nennung von Daten, Personen- oder Ortsnamen wiederum ‚authentifiziert‘ werden. Eine ebenfalls annotierte Ausgabe für den Deutschunterricht an US-amerikanischen Schulen war bereits 1914 erschienen, eine schwedische Schulausgabe erreichte zwischen 1908 und 1920 immerhin vier Auflagen (Jordan 1978).
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deutsch-konservativen Geschmack geprägt, doch kann sie als repräsentativ für weite Kreise bürgerlich-konservativer Bildungsschichten gelten. Im Peter Moor sprach also nicht ein Namenloser, kein dichtenddilettierender Schutztruppler oder Farmer, kein Kolonialbeamter oder Auftragsautor, sondern ein anerkannter Schriftsteller ersten Ranges, dessen Name in bürgerlichen Kreisen einen guten Klang hatte: Frenssen war der Autor des Jörn Uhl (Frenssen 1901), jenes ersten echten Bestsellers in Deutschland, von dem bereits im Erscheinungsjahr 130.000 Exemplare verkauft worden waren (zum Vergleich: von Thomas Manns ebenfalls 1901 erschienenem Roman Die Buddenbrooks wurden im gleichen Zeitraum nur wenig mehr als 1000 Exemplare abgesetzt). 3.1 Frenssen und das Koloniale Projekt Peter Moors Fahrt nach Südwest ist nicht der einzige und auch nicht der erste Roman Frenssens, in dem die Kolonie Deutsch-Südwestafrika und der ‚Aufstand der Herero‘ thematisiert werden. Bereits in dem 1905 publizierten Roman Hilligenlei (Frenssen 1905)12 werden am Rande die Ereignisse in der Kolonie thematisiert: Einer der Protagonisten des Romans, der Theologiestudent Kai Jans, der das wahre Leben des Heilands zu erforschen und ein neues Evangelium zu schreiben beabsichtigt, durchreist auf der Suche nach einem „heiligen Land“ – laut Frenssen die Übersetzung für Hilligenlei (Jensen 1997: 293) – das südliche und südwestliche Afrika und gerät im Jahr 1904 in die Wirren des Aufstandes, „der uns soviel edles Blut gekostet hat“ (Frenssen 1905: 596). Dieser Rekurs auf das 1905 in der deutschen Öffentlichkeit hochaktuelle Thema des Kolonialkriegs ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Frenssen die Ereignisse in der Kolonie verfolgte und ihnen große Bedeutung zumaß. Die Beschäftigung mit der Kolonie Deutsch-Südwestafrika und eine positive Einstellung zu einer von Frenssen für den Siedler als gewinnbringend eingeschätzten Ansiedlung in der Kolonie zeichnet sich im übrigen auch in seinen früheren Korrespondenzen ab. In diesen Stellungnahmen sind zahlreiche zentrale Motive der Kolonialdiskussionen um 1900 wirksam, die dann auch, wie weiter unten gezeigt werden wird, die im Peter Moor präsente Deutung des Kolonialkriegs und der Vernichtung der Herero bestimmten. In einem privaten Schreiben an Hermann Niebuhr vom 15. Mai 1897 äußerte sich Frenssen etwa wie folgt: „Aber Südwestafrika? […] Warum solltest du nicht dahin gehen? Hier Menschenüberfluß, dort 12
Auch dieser Roman war ungeheurer erfolgreich (allein zwischen September und November 1905 wurden 120.000 Exemplare in die Buchhandlungen gebracht), auch wenn er eine öffentliche Kontroverse über Frenssen auslösen sollte und schließlich zu einem endgültigen Bruch Frenssens mit der Kirche führte, die den Roman aufs heftigste kritisierte.
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Mangel. Alles, was du geben kannst, haben sie dort nicht: kräftige Hände, Intelligenz, Frömmigkeit. Geh doch hin! Besinn dich nicht lange. Wenn ich – in deinen Verhältnissen – die Wahl zwischen Preetz und Afrika hätte, so würde ich die afrikanischen Schwarzen den hiesigen vorziehen.“ (zitiert nach: Stein 1997: 25). So kann der Rekurs auf die Ereignisse in Deutsch-Südwestafrika, die den Daheimgebliebenen in Hilligenlei durch Zeitungen und Briefe zur Kenntnis gebracht werden, durchaus als eine Vorbereitung auf Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest gedeutet werden, seinen einzigen Roman, der im engeren Sinne zur Kolonialliteratur zu rechnen ist. 3.2 Sekundäre Zeugenschaft Das für die deutsche Kolonialliteratur und insbesondere für Texte über den Hererokrieg typische Verfahren der zumindest mittelbaren Authentifizierung des Geschilderten lässt sich auch an Frenssens Peter Moor beobachten. So wird durch ein paratextuelles Verfahren13 zunächst auf Erlebtes verwiesen, lautet doch die Gattungsbezeichnung, die Frenssen dem Titel seines Textes nachstellt, nicht ‚Roman‘ oder ‚Erzählung‘, sondern ‚Ein Feldzugsbericht‘. Frenssen, der selbst nicht am Feldzug teilgenommen und die Kolonie auch ansonsten niemals besucht hatte, betrieb nach eigenem Bekunden vor der Abfassung des Romans nicht allein Quellenstudien – die Lektüre von Zeitungsartikeln und Berichten über die Ereignisse in der Kolonie –, sondern führte auch umfassende Gespräche mit Kriegsteilnehmern, die ihm nicht allein mündlich von ihren Erlebnissen während des Feldzuges berichtet, sondern auch ihre Tagebücher und umfangreiches Bildmaterial zur Verfügung gestellt hätten (Frenssen 1940: 143ff.).14 Den Berichten zweier Personen misst er in seinem Lebensbericht 13
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Der Begriff ‚Paratext‘ wird hier im Sinne von Genette (1993) verwendet. Genette versteht das Präfix ‚Para-‘ im selben Sinne wie es in ‚paramilitärisch‘ zum Ausdruck kommt“ (Genette 1993: 11). Als Paratexte bezeichnet Genette „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet“ (Genette 1993, 11f.). In seiner erstmals 1987 erschienenen, großangelegten Studie zur Funktion des Paratextes (Genette 1992) fügt Genette diesem Katalog noch Verlagsreihen, Formate, Schrifttypen aber auch Autorennamen und Erscheinungsorte hinzu. Allerdings haben diese intensiven Quellenstudien und Recherchen Frenssen nicht vor sachlichen Fehlern bewahrt, etwa bei der schlichten geographischen Verortung. So rechnet Frenssen in der Erstausgabe seines Romans beispielsweise Teneriffa nicht zu den Kanarischen, sondern zu den Kapverdischen Inseln (vgl. Frenssen 1906: 25f.). In späteren Ausgaben ist diese geographische Verwirrung korrigiert.
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dabei besonderen Quellenwert zu: Zum einen dem Bericht eines Dr. Schian, der den „Feldzug als Generaloberarzt mitgemacht“ habe (Frenssen 1940: 143). Da Frenssen jedoch nicht einen Bericht aus der Perspektive eines Feldzugsteilnehmers mit einem „hohen [...] Amt“ habe geben wollen, sondern aus der Perspektive eines einfachen Soldaten, der den Zug als Kämpfer in einer bestimmten Truppe mitgemacht habe, die in der Erzählung begleitet werden sollte, hebt er zum anderen den Bericht eines Hamburger Studenten namens Michaelsen hervor, „der den ganzen Feldzug als ‚Einjähriger‘ […] mitgemacht und sich als Berichterstatter freundlich angeboten hatte“ (Frenssen 1940: 144). Neben diesen beiden Hauptinformanten habe er zudem einen ganzen Tag mit einem Leutnant Klinger aus Kiel gesprochen, der insbesondere über verschiedene Patrouillenritte und die Abriegelung des Sandfeldes ab Oktober 1904 berichtet habe. Auch dieser, so Frenssen, habe ihm sein „Tagebuch und seine Briefe zur Verfügung gestellt“ (Frenssen 1940: 145). Alle drei – Dr. Schian, Michaelsen und Leutnant Klinger – habe er dann in der Gestaltung des Romans als Nebenfiguren eingeführt: „der Generaloberarzt [Dr. Schian] in seiner Wirklichkeit“, Michaelsen als Heinrich Gehlsen und den Leutnant Klinger als „roten Freibeuter“ (Frenssen 1940: 145). Nach diesen intensiven Studien, so Frenssen, habe er schließlich das Gefühl gehabt, in seiner Erzählung etwas zu schildern, das er selbst erlebt habe, er habe „den Sand nun zwischen den eigenen Zähnen gehabt“ (Frenssen 1940: 145). Bemerkenswert an diesen Passagen aus Frenssens, beinahe vierzig Jahre nach Erscheinen des Romans entstandenen Lebenserinnerungen ist, dass Frenssen seine Erzählung über einen Prozess narrativer Aneignung authentifiziert und sich selbst als sekundären Zeugen des Geschehens beschreibt. Diese Konstruktion einer sekundären, mittelbaren Zeugenschaft des ‚Autors‘ hat Frenssen auch in der Erstausgabe des Romans entworfen. Am Ende von Peter Moors Fahrt nach Südwest kehrt der Ich-Erzähler nach Hamburg zurück, wo er zufällig mit einem „Mann in den mittleren Jahren“ zusammentrifft, der „von Kind an“ mit dem Vater des Ich-Erzählers bekannt gewesen war und der den Ich-Erzähler nun nach seinen Erlebnissen während des Feldzuges befragt. Hier führt Frenssen nun eine seltsame Wendung der Erzählperspektive ein: Denn diesem Fremden, so der IchErzähler, habe er nun „alles, was ich gesehen und erlebt und was ich mir dabei gedacht habe, erzählt. Er hat dieses Buch daraus gemacht“ (Frenssen 1906: 210). Fraglich ist an dieser innerhalb des Romans problematischen Konstruktion, wer diesen letzten Satz des Romans spricht, beziehungsweise überhaupt sprechen kann. Der Ich-Erzähler konstruiert mit diesem Satz
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eine zweite, höhere Erzählerinstanz und de-konstruiert zugleich die eigene Position als Erzähler. Die neu-konstruierte Erzählerinstanz fällt in der (nun eigentlich aufgehobenen) Erzählperspektive des Ich-Erzählers mit einem textexternen Erzähler respektive dem ‚Autor‘ zusammen. Allerdings kann der Ich-Erzähler genaugenommen diesen letzten Satz selbst gar nicht formulieren, da gerade mit dem Aussprechen dieses Satzes die Erzählerposition an einen anderen delegiert und die Instanz des IchErzählers depotenziert wird: Der Erzähler des Textes lässt sich den IchErzähler selbst explizit als Figur oder auch als Agent einer höheren Erzählerinstanz entwerfen, dem der Schlusssatz in den Mund gelegt wird. Diese aus erzähltheoretischer Perspektive mindestens fragwürdige Schlussszene der Erzählung erfüllt im Rahmen von Frenssens Erzählkonzeption allerdings eine wichtige Funktion: Explizit entwirft Frenssen hier eine Scharnierstelle zwischen Erlebnisbericht und literarischer Codierung, zwischen Rohmaterial und künstlerischer Gestaltung. 3.3 Produktion von Identität und die Signatur der Geschichte Bemerkenswert ist, dass in Frenssens Peter Moor die kolonialdiskursiven Sinnkonstruktionen wie unter einem Brennglas verdichtet erscheinen (vgl. zum folgenden ausführlich Brehl 2007: 143ff.). So werden in diesem an die genuin bildungsbürgerliche Erzählform des Entwicklungsromans anschließenden Text zwei Aspekte explizit entwickelt, die auch in zahlreichen anderen veröffentlichten Darstellungen des ‚Herero-Kriegs‘ auffallen, aber eher implizit enthalten sind: Die Ereignisse in Südwestafrika und die Gründe für die Vernichtung der Herero werden vom situationalen Kontext abgelöst und in ein allgemeines Gesetz der Geschichte eingeordnet – sowie in den Prozess der Konstruktion einer kollektiven deutschen Identität. Die Erzählperspektive setzt Frenssen, wie oben bereits gezeigt, bei einem am Feldzug teilnehmenden einfachen Soldaten eines Seebataillons an, der keinen Einblick in die (militär-)strategischen Entscheidungsprozesse hat und zunächst auch die (welt-)politische Tragweite der Ereignisse nicht überschauen kann. Die Einsicht in die allgemeine Relevanz der Ereignisse wird dann in den Ich-Erzähler des Romans selbst verlagert; der Leser wird somit dazu aufgefordert, dem Protagonisten in diesem Erkenntnisprozess Schritt für Schritt zu folgen. Der Roman teilt sich in zwei etwa gleichlange Abschnitte, wobei die erste Hälfte vom Auszug des Protagonisten als Freiwilliger eines Seebataillons nach Südwestafrika anlässlich des „Aufstandes der Eingeborenen“ erzählt. Die Motivation für den Aufbruch wird zunächst als eine ausschließlich subjektive geschildert, als ein Ausbruch aus der Enge der Schmiedewerkstatt des Vaters. Die Fahrt nach Südwest gerät Peter Moor zur
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Tortur. Die Begegnung mit der Fremde wird als für den Einzelnen verunsichernd und zerstörerisch charakterisiert, die unwirtliche Wildnis und das ungewohnte Klima zerren an der Physis, die ‚Masse der Schwarzen‘ bedroht die Existenz des vereinzelten ‚Weißen‘. Der erste Teil endet mit den Motiven Verzweiflung und Krankheit, entwirft aber zugleich auch eine Lösung: die Überwindung der Krise des Einzelnen durch sein Aufgehen im Kollektiv. Die zweite Hälfte des Romans dient zur Bestätigung der Einsicht, dass der Einzelne nur zu sich selbst finden könne, wenn er seinen Teil zur Etablierung der Volksgemeinschaft beiträgt und sich selbst als Deutscher erkennt. Die Bedrohung durch das – durchaus im Sinne Carl Schmitts (1932) – ‚existentiell‘ Andere und die daraus resultierende Überwindung oder Substitution des Klassenkampfes durch Rassenkampf ermöglichen, dass aus den Männern unterschiedlichster regionaler und sozialer Herkunft eine homogene Volksgemeinschaft hervorgeht, so die Botschaft des Romans (Brehl 2003). Dieser Mechanismus wird nicht allein als ein für den kolonialen Kontext, sondern zugleich als ein allgemeingültiges, für „die ganze Welt“ verbindliches Paradigma entworfen. Gegen Ende des Romans lässt Frenssen seinen Protagonisten sinnierend über die weiten Steppen blicken: „Ich hatte während des Feldzugs oft gedacht: ‚Was für ein Jammer! (...) Die Sache ist das gute Blut nicht wert!‘ Aber nun hörte ich ein großes Lied, das klang über ganz Südafrika und über die ganze Welt und gab mir einen Verstand von der Sache“ (Frenssen 1906: 201). Mit dieser Einsicht ist der Weg frei für die Etablierung eines homogenen Volkskörpers in Identität mit sich selbst und dem Territorium, das dieses Volk sich zum ‚Lebensraum‘ macht. Die Vernichtung des ‚existentiell Anderen‘ wird auch hier als grundsätzlich legitim, wenn nicht gar zwangsläufig und notwendig beschrieben: sie ist – wie eine oft zitierte Passage des Romans engführt – Gott-gewollt, durch Evolutionsbiologie und das Gesetz kultureller Höherentwicklung determiniert, und sie ist Ziel der Geschichte: Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient, nicht weil sie die zweihundert Farmer ermordet haben und gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben [...] Gott hat uns hier siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind [...]. Den Tüchtigeren, den Frischeren gehört die Welt. Das ist Gottes Gerechtigkeit (Frenssen 1906: 200).
Die kurze Passage verdichtet drei diskursive Stränge in ihrer Argumentation, um die Vernichtung der Herero zu rechtfertigen. Zunächst wird das Argument, die Vernichtung sei eine Vergeltungsaktion, zurückgewiesen;
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die Darstellung wird vom aktuellen, konkreten zeithistorischen Kontext abgekoppelt. An die Stelle des konkreten Ereignisbezugs tritt eine Rahmung, auf die ein Argument verweist, das dem geschichtsphilosophischen Diskurs entlehnt ist: Die „Schwarzen“, so der Text, tragen nichts zur Entwicklung der Menschheit und zum Fortschritt des Geschichtsprozesses bei. Als zweiter Diskursstrang lässt sich ein im weitesten Sinne ‚religiöser‘ feststellen, der mit Argumenten verwoben wird, die auf einen sozialbzw. kulturevolutionistischen Diskurs rekurrieren. Es ist Gottes Wille, dass die „Edleren“, „Vorwärtsstrebenden“, „Tüchtigeren“ und „Frischeren“ siegen und die Inferioren untergehen. Mittels Inversion wird eine Proposition der Bergpredigt zitiert: In der Argumentation von Frenssen, der evangelischer Landpfarrer war, bevor er von seinen literarischen Arbeiten leben konnte, ist es „Gottes Gerechtigkeit“, dass dem „Tüchtigen“, der Gewalt anwendet und den ‚inferioren Schwarzen‘ vernichtet, die Welt gehört – der Wortlaut in Matthäus 5.5 hingegen: „Selig, die keine Gewalt anwenden; / denn sie werden das Land erben.“ Mit dieser Inversion postuliert Frenssen einen modernisierenden Paradigmenwechsel zu einer historisch und zivilisatorisch notwendigen Handlungsethik, in der die Anwendung von Gewalt als Vollzug des gottgewollten Geschichtsprozesses legitim sei. Zugleich wird der postulierte Paradigmenwechsel, den er aus dem Prozess der Geschichte deduziert, mit einer sakralen Aura, der Aura des heiligen Wortes umgeben. Die Organisation dieser argumentativen Tiefenstruktur auf der Textoberfläche – das verwendete Lexikon, die Syntax und die Metaphorik – sind ebenso auffällig und bedeutsam, wie sie charakteristisch für den gesamten Roman sind. Durch eine pejorativ-distanzierende Verwendung des Demonstrativpronomens („diese Schwarzen“) werden die Herero entindividualisiert und als eine klar zu identifizierende, exemplarische Gruppe festgeschrieben. In der Argumentationsstruktur der Textstelle erscheint ihre über die Hautfarbe konnotierte ‚Rasse‘ als bestimmend für die Gruppenzugehörigkeit. Die Hautfarbe dient als paradigmatisches Distinktionsund Definitionsmerkmal. Durch die explizite Entkopplung der Vernichtung von jedem konkreten historischen Kontext wird das Geschehen entemotionalisiert, da eine persönliche Involviertheit der agierenden ‚Weißen‘ zurückgewiesen wird. Das an diese Stelle tretende kulturevolutionistische Argument wird nicht abstrakt, nicht theoretisch formuliert, sondern über ein in sich geschlossenes, ebenso allgemeines wie primordial natürlich erscheinendes Bild codiert und illustriert: sie haben „keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben.“ Dieses Bild nimmt eine frühere Passage des Romans wieder auf, in der die Fähigkeit der ‚Weißen‘, Häuser zu bauen und Brunnen zu
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graben, als unhintergehbares Differenzkriterium gegenüber den ‚Schwarzen‘ gesetzt und als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer menschlichen Gesellschaft entworfen wird (Frenssen 1906: 68). Die auffallend in die Vergangenheit zurückweisende Metaphorik (die Brunnen werden nicht gebohrt sondern gegraben) konnotiert ein unproduktives Nomadentum der ‚Schwarzen‘, das spätestens seit Herder zusammen gelesen wird mit einer spezifischen Kulturlosigkeit (vgl. Herder 1910, Teil 6: 22ff.), die im zwangsläufigen historischen Prozess des Fortschritts der Menschheit ihr Verschwinden bzw. ihre Vernichtung notwendig mache und rechtfertige. Darüber hinaus leistet das Bild einen Anschluss an die Programmatik des Siedlerkolonialismus: Die Weißen werden Häuser bauen und Brunnen graben, das Land zivilisieren und fruchtbar machen. Dieses aus der philosophischen Tradition abgeleitete kulturevolutionistische Argumentationsmuster wird im nächsten Satz des Abschnitts durch zwei weitere Argumente ergänzt: durch ein sozialdarwinistisches Muster („die Edleren“) und eine religiöse Rechtfertigung („Gott hat uns hier siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind“). Die Argumentation kulminiert in einer Proposition, die das bürgerlich-protestantische Tugendideal „Tüchtigkeit“ mit rudimentärem Sozialdarwinismus verschränkt und diese beiden Kriterien zu Legitimationsinstanzen des Kolonialismus erhebt, denn über die Form des schlichten Aussagesatzes wird die universelle Gültigkeit eines Naturgesetzes festgeschrieben: „Den Tüchtigeren, den Frischeren gehört die Welt.“ Bedeutsam ist zudem, dass Frenssen in seinem Roman diese Argumentationslinien über die Sprecherpositionen mit besonderer Autorität versieht. Es ist der kommandierende Oberleutnant, der in seiner „gelehrten, bedächtigen Weise“ (Frenssen 1906: 199) den einfachen Soldaten – durchaus auch im philosophischen Sinne des Begriffs – aufklärt. Die Abstraktion vom konkreten Kontext, die in dieser Passage vorgenommen wird, die Einordnung des Geschehens in ein allgemeines, dem teleologischen Verlauf der Geschichte inhärentes Gesetz von Rassenkampf und Zivilisationsprozess sowie die Tendenz, das Geschehen in Südwestafrika in ein für diesen allgemeinen Prozess charakteristisches Ereignis umzudeuten, sind paradigmatisch für die Gesamtstruktur des Romans (vgl. hierzu ausführlich Brehl 2007: 185ff.). So wird die Handlung nur vage geographisch und zeitlich verortet. Ortsnamen fallen eher beiläufig, die agierenden Personen bleiben bis auf wenige Ausnahmen anonym, sie werden über Dienstgrade, Berufsgruppen oder, wie Frenssen es nennt, ‚Stammeszugehörigkeit‘ charakterisiert: der General, der Oberleutnant, der Arzt, „ein Leineweber aus Oberschlesien“ (Frenssen 1906: 180), „ein Schornsteinfeger aus Berlin“ (Frenssen 1906: 180), der Schwabe, der Bayer, ein Bure. Auch die wenigen, die mit Namen genannt werden, gewinnen
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keine schärferen Konturen als ihre namenlosen Mitstreiter. Durch eine Bestimmung der Figuren nicht über Charaktereigenschaften, Emotionen oder Aussehen, sondern über soziale und regionale Zuweisungen und Typisierungen werden sie zu universell gültigen Mustern, offen für allgemeine Identifizierungen. Das Wort ‚Herero‘ findet im gesamten Text keine Verwendung. Hingegen ist durchgängig von „den Schwarzen“, „den Feinden“ oder „dem feindlichen Volk“ (vgl. etwa Frenssen 1906: 136 und 145) die Rede. Erst nach der Vernichtung der ‚schwarzen Feinde‘ hält die Kultur wirklich Einzug in das zuvor öde, finstere Afrika. In Peter Moors Fahrt nach Südwest wandelt sich die karge Steppe nach der Vernichtung der ‚Schwarzen‘ bedeutsam in einen Garten, der Boden, der zuvor „so unfruchtbar aussah“, lässt Gras sprießen und selbst der Dornbusch treibt „dunkelgrüne Blätter und schneeweiße Blüten“ (Frenssen 1906: 203). Die homogene Gemeinschaft der ‚Weißen‘, so die Logik des Textes, generiert ein weißes Territorium (vgl. hierzu auch Struck 1999: 52f.). In diesem Kontext ist auch eine andere Passage des Romans so signifikant wie programmatisch, in der geschildert wird, wie während der Verfolgung der Herero im Sandfeld eine Gruppe von „hilflos verschmachtenden“, noch lebenden, aber bereits von Fliegen bedeckten Greisen, Verwundeten, Frauen und Kindern aufgebracht wird, die als pars pro toto für ein zum Tode bestimmtes, aber nicht sterben könnendes Volk stehen. Ihnen werde nun – so Frenssen – von den deutschen ‚Schutztrupplern‘ und ihren Treibern „zum Tode verholfen“ (Frenssen 1906: 162). Was zunächst wie eine euphemistische Wendung erscheinen mag, kann als Metapher für einen, den evolutionistischen Deutungen universalhistorischer Entwürfe inhärenten Humanitätsgedanken gelesen werden, in dem das Töten der ‚Eingeborenen‘ zum philanthropischen Gnadenakt umgedeutet wird. Im Anschluss an die geschichtsphilosophischen Diskurse der Moderne wird eine Linie diskreter Unterscheidung konstruiert „zwischen dem was leben, und dem was sterben muß“ (Foucault 1999: 301), wobei diese Linie in der Logik der Texte als eine Signatur der Geschichte selbst erscheint. 4.
Schluss
Insgesamt zeigt die Analyse der kollektiven Rede über die Kolonialkriege der Jahre 1904 bis 1907, dass die Vernichtung der ‚eingeborenen‘ Bevölkerungsgruppen gemäß den Regularien der Konstruktion kolonialer Wirklichkeit gerechtfertigt und notwendig erscheinen konnte. Der Koloniallite-
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ratur kam in diesem Kontext eine wichtige Funktion zu, da hier das Geschehen nicht allein eine breitenwirksame Codierung erfahren hat, sondern die Geschehnisse im Rahmen eines allgemeinen sozio-kulturellen Wissens, im Rekurs auf um 1900 gültige wissenschaftliche Paradigmen und unter Verwendung bekannter und konventionalisierter Deutungsmuster und Erzählformen anschlussfähig formuliert wurde. Die Literatur, die als zeitgenössisches Leitmedium die Kolonialkriege thematisierte, war somit nicht ausschließlich, vielleicht nicht einmal zuvorderst ein Mittel der Propaganda, sondern der Sinndeutung. Der explizite Anschluss an ideengeschichtliche Muster, an zeitgenössisch virulente philosophische und identitätstheoretische Parameter, an Elemente der Naturwissenschaften (Evolutionstheorien, Rassenlehren, Hygiene), an militärtheoretische Aspekte (vgl. hierzu Brehl 2003: 171ff.), die Strategien der Authentifizierung des Geschilderten (Verweisstrukturen, Autorisierungen des Erzählers durch den Rekurs auf Feldzugsteilnehmer und durch Abbildungen), zudem die Anbindung der Erzählungen an etablierte literarische Formen (Entwicklungsroman aber auch Abenteuer-, Frontier- und Indianerliteratur [vgl. hierzu Brehl 2007: 179ff. und 193ff.]), ermöglichte die Integration der Geschehnisse in gültige Wirklichkeitsentwürfe, ihre Einbindung in einen akzeptierten Sinnhorizont und die Konstruktion eines sinnvollen, historisch bedeutsamen Ereignisses. Zudem zeigt die anhand der Kolonialliteratur de-konstruierte enge Anbindung, ja Einbindung der Deutungsund Legitimationsstrategien in zentrale Diskussionen um 1900, dass die Rede über die Kolonialkriege keineswegs als randständig zu beurteilen ist, sondern als grundsätzlich anschlussfähig betrachtet werden muss. Gezeigt werden konnte zudem, dass den zeitgenössisch geprägten Deutungsmustern eine erstaunliche Stabilität zuzuschreiben ist, die nicht allein auf literarische Darstellungen des Kolonialkriegs beschränkt blieb. So zeigt sich, dass das historische Wissen und das Geschichtsbild bezüglich der Kolonialkriege der Jahre 1904 bis 1907 und bezüglich der Vernichtung der Herero nur schwer zu trennen sind von den zeitgenössischen literarischen Codierungen des Geschehens, deren Wahrscheinlichkeit vor dem Hintergrund eines gültigen sozio-kulturellen Wissens und gültiger Narrative sowie durch den expliziten Rekurs auf dieses Wissen und diese Narrative erreicht werden konnte.
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Literatur Quellen
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Hiltrud Lauer Die sprachliche Vereinnahmung des afrikanischen Raums im deutschen Kolonialismus The subject of the following abstract is the discourse analysis research of ‚Raumtexten‘ in the Deutschen Kolonialzeitung between 1884 and 1887. Its main issues are how the African region is linguistically shaped with the help of the new attributions and its availability to the public. Three travelogues from the 18th and 19th centuries exemplify a large number of projections for Africa as a future colony. The new names of the regions (Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika) and the scientificgeographical localisation of the protectorates are the points of the discoursive appropriation after the virtual annexation. In addition, the analysis of words and propositions points to the linguistical formation of the region on the basis of three topological entities (soil, water, climate). The main categories of the analysis are the suitability or non-suitability for the intended German colonial project. In place of the precolonial expectations come now different evaluations with individual and at the same time contradictory-ambivalent processes of ascribing.
1.
Einleitung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Afrika kein unbekannter Kontinent mehr. Seit dem 18. Jahrhundert bereisen deutsche Forscher1 zu botanischen, geowissenschaftlichen und ethnologischen Studien das Land. Ihre Reiseberichte prägen die vielfältigen, auch phantastischen Vorstellungen vom afrikanischen Raum: das Land sei ‚herrenlos’, die Böden fruchtbar und die Vielfalt an Pflanzen und Tieren groß. Allerdings verfügten die Bewohner weder über eine entwickelte Technik noch über die Fähigkeit, ihre eigenen ‚Schätze’ zu nutzen. Erst den Europäern sei es vorbehalten, diesen Erdteil zu erobern, in ihn einzudringen und „der Erde in ihren Eingeweiden zu Leibe zu gehen […].“ (Deutsche Kolonialzeitung (DKZ) III, 20, 696).2 1 2
Nach einer Untersuchung von Essner bereisen zwischen 1850-1873 39 Personen, zwischen 1873-1900 55 Personen den afrikanischen Kontinent, häufig im Auftrag wissenschaftlicher Gesellschaften (vgl. Fiedler 2005: 93). Belegstellen der Deutschen Kolonialzeitung (DKZ) werden, wenn nicht anders angegeben, zitiert mit dem jeweiligen Jahrgang: I (1884), II (1885), III (1886), IV (1887), Heftnummer und Seitenzahl. Die in vielen Kolonialtexten zum Ausdruck kommenden unbewussten und latenten Sexual- und Gewaltphantasien sind Gegenstand von Zantops Untersuchungen von fiktionalen und nichtfiktionalen Texten zum südamerikanischen und haitianischen Lebens-
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Nach 1850 ist der afrikanische Raum jedoch nicht mehr der Gegenstand eines ausschließlich wissenschaftlichen Interesses. Vielmehr wird das Land zunehmend nun auch in seiner Eignung für eine zukünftige Kolonisation in den Blick genommen und die Bedingungen der Möglichkeiten eines deutschen Kolonialprojekts erkundet. Bis zum Beginn der deutschen Expansion nach Afrika konstituieren die Reiseschilderungen also einen Zukunftsraum, der mit phantastischen Imaginationen und irrealen Hoffnungen aufgeladen ist und an den sich hohe Erwartungen knüpfen. Der Eintritt des Deutschen Reiches in den Kreis der europäischen Kolonialstaaten und der faktische Zugriff auf Afrika sind historische Umbrüche auch im nationalen Selbstverständnis. Der Status als junger Kolonialstaat verändert die Wahrnehmungen des „zugleich entlegen(en) und doch irgendwie vertraut(en)“ (Achebe 2002: 9) afrikanischen Kontinents. Wie die englische Kulturwissenschaftlerin Pratt (2008) in Blick auf europäische Reiseberichte im Zeitraum von 1750 bis 2007 feststellt, strukturieren historische Veränderungen jedoch nicht nur die Wahrnehmungen und Erfahrungen, sondern haben auch unmittelbare Auswirkungen auf Schreibweisen und Texte: „The shifts in writing, then will tell you something about the nature of the changes“ (Pratt 2008: 4). Diese Veränderungen in den Wahrnehmungen und Textualisierungen des afrikanischen Raums sind der Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Analyse von ‚Raumtexten’, die zwischen 1884 und 1887 in der Deutschen Kolonialzeitung erscheinen. Referenzräume sind das spätere Deutsch-Ostafrika und DeutschSüdwestafrika. Das Interesse richtet sich darauf, wie der afrikanische Raum in den Blick genommen und versprachlicht und mit neuen Zuschreibungen verfügbar gemacht wird. Im ersten Abschnitt werden kurz die historischen Hintergründe der deutschen Expansion nach Afrika umrissen, mit der das Deutsche Reich seine Flächenausdehnung gegenüber dem Mutterland erheblich erweitert. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem für das deutsche Kolonialunternehmen einflussreichen Deutschen Kolonialverein3, der den kolonialen Gedanken popularisiert und propagiert. Anhand von drei Reiseberichten aus dem 18. und 19. Jahrhundert werden dann exemplarisch vorkoloniale Wahrnehmungs- und Textmuster des afrikanischen Raums dargestellt. Nach einigen Erläuterungen zur Deutschen Kolonialzeitung und der Auswahl
3
raum, deren Ergebnisse auch auf afrikanische Kolonialtexte übertragen werden können. (vgl. Zantop 1999). Zum Deutschen Kolonialverein, seiner Entwicklung und seinen Zielsetzungen siehe Schubert 2008:i.d.B.; Daten und Fakten auch bei Schnee 1920, Bd.I, 302f.
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der dort erschienenen Korpustexte folgt die Analyse von ‚Raumtexten’ zu den beiden ‚Schutzgebieten’ Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika. Methodisch folgt die Untersuchung der Referenztexte dem von Warnke/Spitzmüller konzipierten Diskursanalytischen Mehr-Ebenen-Modell (DIMEAN) (Warnke/Spitzmüller 2008: 16-34; Warnke 2008: i.d.B.), das geeignet ist, „Sprache im Diskurs de facto in den Blick (zu) nehmen“ (Warnke/Spitzmüller 2008: 16). Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der „intratextuellen“ Ebene des Modells mit der Untersuchung von Einund Mehrworteinheiten, von Satzelementen und Sätzen. 2.
Die deutschen „Erwerbungen“ in Afrika und die Legitimation der Inbesitznahme
Zwischen 1884 und 1885, also in einem Zeitraum von etwa einem Jahr, erklärt das Deutsche Reich vier afrikanische Distrikte in Ostafrika, in Westafrika und Südwestafrika zu deutschen Schutzgebieten und zu seinem Eigentum.4 Dabei handelt es sich zunächst um kleinere Regionen, die durch Zukäufe und Vertragsverhandlungen zunehmend erweitert werden. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert führt die deutsch-koloniale Expansion zu einem erheblichen Flächenzuwachs mit einem Umfang von 2.95 Millionen Quadratkilometern. Bei einer Ausdehnung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1870/71 mit 0.54 Millionen Quadratkilometern übersteigt die Flächenausdehnung der überseeischen Gebiete die des Mutterlandes um das Fünffache (vgl. Speitkamp 2005: 40). Allein die afrikanischen Schutzgebiete haben nach Angaben von Schnee einen Flächeninhalt von rund 2.7 Millionen km2 (vgl. Schnee 1920).5 Ein Flächenzuwachs dieses Ausmaßes erfordert politische und wirtschaftliche Planungen, auf die das Deutsche Reich jedoch nicht vorbereitet ist. Die Expansionspolitik sei „bald nach Nordafrika, bald nach China, bald in den nahen Osten, bald nach Zentralafrika gelenkt“ worden ohne ein erkennbares Konzept (vgl. Speitkamp 2005: 40). So sind es zunächst Privatpersonen, die die Expansion nach Afrika beginnen. Der bremische Kauf4 5
Zur deutschen Kolonialgeschichte im Einzelnen siehe Warnke: 2008:i.d.B.; van Laak 2005; Speitkamp 2005, Gründer 2004, van Laak 2004. Zur europäischen Kolonialgeschichte siehe Speitkamp 2007. Schnee gibt für Togo 87 200 (Bd. III, 497f.), für Kamerun 795 000 (Bd.II, 169f.), für Deutsch-Südwest 830 000 (Bd. I, 410f.) und für Deutsch-Ostafrika 997 000 Quadratkilometer (Bd.I, 357f.) an.
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mann Franz Adolf Eduard Lüderitz (1834-1886) erwirbt mit Duldung des Deutschen Reichs ein Stück Land an der südwestafrikanischen Küste. Der Kolonialpolitiker Carl Peters (1856-1918) schließt im ostafrikanischen Hinterland Verträge mit einigen lokalen Herrschern, „die nach tradiertem Recht dazu gar nicht befugt sein konnten“(Speitkamp 2007: 208). Als Gegenleistung bieten die Deutschen „dafür nur unzureichende, aus europäischer Sicht eher symbolisch zu verstehende Bezahlung oder einen nicht näher definierten Schutz an“ (Speitkamp 2007: 208). Mit der Inbesitznahme der afrikanischen Gebiete sind unterschiedliche Erwartungen verbunden. Man hofft auf eine schnelle und erfolgreiche Lösung der im Deutschen Reich aktuellen Probleme von Bevölkerungswachstum und Auswanderung. Man erwartet einen schnellen wirtschaftlichen Erfolg, denn nur „ein reicher Staat“, sei „ein mächtiger Staat“ (I, 7, 132), so die Überschrift eines Beitrags in der Deutschen Kolonialzeitung. Zentral ist der Wunsch, den Status als „ewiger Zweiter“ (Berman 2003) im Kreis der europäischen Staaten endgültig aufzugeben und weltpolitisch vor allem mit England gleichzuziehen. Damit verbunden ist die Erwartung, mit dem Besitz von Kolonien politisch an Einfluss zu gewinnen und die nationale Identität auszubauen und zu stabilisieren. Der Deutsche Kolonialverein beteiligt sich seit seiner Gründung im Jahr 1882 aktiv an der Vorbereitung und Popularisierung des ‚kolonialen Gedankens’. Die ab Januar 1884 erscheinende Mitgliederzeitschrift Deutsche Kolonialzeitung (DKZ) entwickelt sich im Verlauf der ersten Jahre zu einem maßgeblichen Publikationsorgan der öffentlichen Kolonialdebatte. Einflussreiche Männer aus Adel, Politik und Wirtschaft, Intellektuelle und Bildungsbürger sind die Akteure, die den Kolonialdiskurs bestimmen: der Initiator, Gründer und Vereinsvorsitzende des Deutschen Kolonialvereins Fürst Hermann zu Hohenlohe-Langenburg (1832-1913), der Oberbürgermeister von Frankfurt Johannes von Miquel (1828-1901), der Wuppertaler Bankier Karl von der Heydt (1851-1929), Missionsdirektor Friedrich Fabri, der mit seiner 1879 erschienenen Schrift Bedarf Deutschland der Colonien? die öffentliche Kolonialdebatte initiiert und argumentativ unterstützt, sowie die Inhaber der großen Handelshäuser wie der schon genannte Bremer Kaufmann Lüderitz und der Hamburger Kaufmann Adolph Woermann (1847-1911). Woermanns Firma treibt bereits seit 1849 Handel mit dem westafrikanischen Kamerun (vgl. Speitkamp 2005: 18) und unterhält eine regelmäßig verkehrende Schifffahrtslinie (Woermann-Linie) zwischen Hamburg und dem westlichen Afrika. Auch Autoren der afrikanischen Reiseliteratur gehören zu den Akteuren des Vereins, wie der Botaniker Georg Schweinfurth (1836-1925), der Mediziner Gerhard Rohlfs (1831-1896), der Mediziner Gustav Nachtigal
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(1834-1885) und Hermann von Wissmann (1853-1905), von 1889-1891 Reichskommissar für das deutsche Schutzgebiet in Ostafrika (vgl. Fiedler 2005: 95; Schnee 1920: 721). In Personalunion ist Schweinfurth sowohl auf Vereinsebene als auch mit Beiträgen in der DKZ aktiv. Einen breiten Raum nimmt in den ersten beiden Erscheinungsjahren der Zeitschrift (1884-1885) die Legitimierung des deutschen Kolonialunternehmens ein. Das Blatt begründet die Expansion und den damit verbundenen Raumgewinn mit dem erheblichen Bevölkerungszuwachs zwischen 1800 und 1900. In dieser Zeit steigt die Bevölkerungszahl im Deutschen Reich „von etwa 23 Millionen[…] über 35 Millionen 1850 auf gut 56 Millionen 1900“ (Speitkamp 2005: 14). In der Folge wandern viele Menschen aus; bevorzugtes Auswanderungsziel seien die Vereinigten Staaten (vgl.I, 24, 487). Allein im Jahr 1885 verlassen laut DKZ 107 400 Deutsche das Land (vgl.III, 5, 159). Die Auswanderung gilt als „ein Verlust an nationaler Arbeit, an nationalem Kapital“ (III, 10, 297), die wegen der restriktiven amerikanischen Zollpolitik nicht durch eine positive Handelsbilanz ausgeglichen werden könne. Problematisch sei darüber hinaus, dass „Kinder und Enkel […] zu größtem Teil auch sprachlich in der angelsächsischen Rasse der Yankees“ aufgingen, „sodaß wir zu dem Schaden auch noch die Schande haben“ (I, 3, 54). Um dem vermeintlichen Verlust der ‚Muttersprache’ entgegenzuwirken, seien „Länder zur Ansiedlung ausfindig“ zu machen, „ in denen wir uns nicht verlieren, sondern eine kompakte Masse von Germanen bilden, die mit dem Heimatlande durch den Austausch ihrer Bodenerzeugnisse in Verbindung bleiben“ (I, 7, 129). Ziel ist also die Ansiedlung in einem überseeischen „deutschen“ Besitz, in einem so genannten „Neu-Deutschland“; nur dann, so die Argumentation, könne das ‚deutsche Wesen’ und das ‚Deutschtum’ verbreitet und gepflegt werden. Zur Kolonisierung bietet sich in der Sicht des Propagandablatts vor allem „das massige Festland Afrika“ an, die „riesigen Landstriche“ seien „noch völlig in den Händen von Wilden oder von Halbbarbaren, also noch unvergebene Welt.“ Afrika sei „ein Weltteil, dreimal so groß als Europa – noch herrenloses Land“(I, 4, 78f.). Damit sind die Eckpunkte der Legitimierung des kolonialen Zugriffs benannt: Afrika erscheint als ein Kontinent, der niemandem ‚gehört’ und ‚herrenlos’ ist. Die in der Reiseliteratur vor allem des 19. Jahrhunderts (siehe den folgenden Abschnitt 3) immer wieder unterstellte „Unfähigkeit“ der Bewohner zur Nutzung ihres Landes berechtigt die Kolonisatoren in ihrer eigenen Einschätzung zu ‚ordnenden’ und erschließenden Eingriffen, mit denen das ‚Chaos’ der afrikanischen Naturerscheinungen
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in eine überschaubare Ordnung überführt werden soll (vgl. Pratt 2008: 25). Obwohl die europäischen Kolonialstaaten mit der überseeischen Expansion ihre ursprünglichen Flächenausdehnungen erweitern, sei die „Kategorie Raum“, schreibt Berman (2003), in der bisherigen postkolonialen Literatur eher vernachlässigt worden. Deren Fokus liege auf dem latenten und offenen Rassismus als einem Hauptmerkmal des Kolonialismus. Eine Untersuchung der europäischen Raum-Konzepte sei jedoch angezeigt, da im kolonialen Europa des 19. Jahrhunderts von einer „revidierte(n) Auffassung des Raums“ auszugehen sei. Es (das „europäische Kolonialunternehmen“ H.L) reduzierte die Welt auf eine homogene Geometrie, die nun offen wurde für ein beharrliches Reisen, einen rationalisierten Handel und eine militärische Strategie. Die Rekonstruktion des Raumes war die Vorbedingung der globalen Expansion und überragt in ihrer Bedeutung die Geschichte des Rassendenkens […] (Berman 2003: 27).
Die von Berman genannte „Rekonstruktion des Raumes“ als eine der Bedingungen auch der deutschen Expansion nach Afrika soll im Folgenden an drei Reiseberichten dargestellt werden. Zwischen dem Beginn des 18. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen die afrikanischen Gebiete zunehmend auch unter Kolonisationsaspekten in den Blick der Forschungsreisenden. Die Berichte von Peter Kolb 1714, Georg Schweinfurth 1874 und Gerhard Rohlfs 1874/75 zeigen eine Entwicklung von einem wissenschaftlich-ethnologischen Interesse bei Kolb hin zu Wahrnehmungs- und Textmustern bei Schweinfurth und Rohlfs, in denen sich wissenschaftliche Erkenntnisprozesse und koloniale Bewertungsprozesse verschränken.
3.
Der afrikanische Raum in der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts
In ihrer schon erwähnten Untersuchung von Reiseberichten des Zeitraums von der Mitte des 18. Jahrhundert bis zum Beginn der 21. Jahrhunderts stellt Pratt (2008) fest, mit dem Eindringen in fremde Kontinente entstehe für die Europäer „a sense of ownership, entitlement and familiarity with respect to the distant parts of the world“ (Pratt 2008: 3). Die Reisen sind wissenschaftlich motiviert mit dem Fokus auf vorwiegend ethnologischen, botanischen und geographischen Erkenntnisinteres-
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sen. Die Forscher dringen in das fremde Land ein, verpflichten Bedienstete, Träger und Karawanenführer und kommen in Kontakt mit einheimischen Herrschern, auf deren Wohlwollen sie bei der Bereitstellung von Unterkünften und Versorgung mit Nahrungsmitteln angewiesen sind. Sie entdecken und sammeln Pflanzen und Steine und befassen sich, wie Schweinfurth, mit linguistischen Studien. Mit ihren Sammlungen verfolgen sie jedoch nicht nur persönliche Ambitionen. Ihre während der Reisen angelegten Sammlungen füllen die naturkundlichen und völkerkundlichen Museen und popularisieren das Wissen zum Kontinent über den engeren Kreis der Fachleute hinaus. Mit der Vielzahl der Reiseschilderungen entstehen Eindrücke von Bekanntheit und Vertrautheit mit dem afrikanischen Kontinent, die die Schritte zur endgültigen Inbesitznahme einleiten. Vorbereitet wird die Expansion durch eine veränderte Form des Blicks, die auch schon in Bermans Konzept der „Rekonstruktion des Raums“ als zentraler Prozess des 19. Jahrhunderts anklingt. Pratt spricht in diesem Zusammenhang von den „Imperial Eyes“ (2008), die zunehmend auf „commercially exploitable resources, markets, and lands to colonize” (Pratt 2008: 30) gerichtet seien. Schon der Mathematiker und Physiker Peter Kolb (1675-1726), der zu diesem frühen Zeitpunkt kolonisierender Pläne unverdächtig ist, sieht zu Beginn des 18. Jahrhundert das von ihm erforschte Gebiet im afrikanischen Südwesten mit europäischen Augen. Im Jahr 1705 reist er im Auftrag des Preußischen Geheimrats Bernhard Friedrich von Krosigk zu astronomischen und meteorologischen Studien nach Südafrika.6 Sein Bericht über seinen Aufenthalt zwischen 1705 und 1713 mit dem Titel Caput Bonae Spei Hodiernum Das ist: Vollständige Beschreibung des Afrikanischen Vorgebuerges der Guten Hofnung7 erscheint 6 7
Siehe Einleitung zu Kolbs bearbeitetem und gekürztem Reisebericht unter dem Titel „Unter Hottentotten“, herausgegeben von Werner Jopp 1979. Der vollständige Titel des Reiseberichts lautet: Caput Bonae Spei Hodiernum Das ist: Vollständige Beschreibung des Afrikanischen Vorgebuerges der Guten Hofnung. Worinnen in dreyen Theilen abgehandelt wird/ wie es heut zu Tage/ nach seiner Situation und Eigenschaft aussiehet; ingleichen was ein Natur-Forscher in den dreyen Reichen der Natur daselbst findet und antrifft: Wie nicht weniger/ was die eigenen Einwohner die Hottentotten, vor seltsame Sitten und Gebräuche haben: Und endlich alles/ was die Europaeischen daselbst gestiftenen Colonien anbetrift. Mit angefügter genugsamer Nachricht/ wie es auf des Auctoris Hinein- und Heraus-Reise zugegangen; Auch was sich Zeit seiner langen Anwesenheit/ an diesem Vorgebuerge merckwürdiges ereignet hat. Nebst noch vielen anderen curieusen und bißhero unbekandt-gewesenen Erzehlungen/mit wahrhafter Feder ausführlich entworffen: auch mit nöthigen Kupfern gezieret/ und einem doppelten Register versehen von Peter Kolben/Rectore zu Neustadt an der Aysch. Nürnberg bey Conrad Monath 1719 (Kolb 1979: 19). Der in diesem Beitrag verwendete Bericht ist ein Auszug aus dem umfassenderen Gesamttext von Peter Kolb, der von der Lebensweise verschiedener Stämme der Khoikhoi berichtet.
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erstmals 1719 mit späteren Übersetzungen in die holländische, französische und englische Sprache. Kolb berichtet von verschiedenen „hottentottischen Nationen und wo sie anzutreffen sind“ (Kolb 1979: 48), beschreibt ihre Lebensweise, ihre Sitten und Gebräuche in der Familie und in der sozialen Gemeinschaft. Die Landschaften sind eher seltene, jedoch nicht isolierte Bestandteile seines Forschungsinteresses. Sie werden vorwiegend dargestellt als Lebensräume der dort lebenden Menschen und sind Basis ihrer sozioökonomischen Lebensbedingungen. So wird die geringe Besiedelung des von dem Volk der Sousiquas bewohnten Gebiets auf den Mangel an Wasser zurückgeführt: Nach den Kochoquas findet man weiter gen Norden die Sousiquas oder Soussaquas, die oberhalb der Saldanhabai wohnen. Auch diese sind nicht sehr zahlreich, da es in ihrem Land wenig Wasser gibt. […] Sie leben sehr zerstreut, und man findet nur wenige Krale bei ihnen. Das Land ist durchweg sehr hügelig und voller Steinhaufen. […]. In den Tälern sieht man die schönsten Blumen und andere wohlriechende Kräuter. Dorthin begibt sich auch das Wild, von dem es jedoch wegen des erwähnten Wassermangels nicht viel gibt (Kolb 1979: 49).
Obwohl Kolbs ethnologisches Interesse vorrangig den Bewohnern des Landes gilt, stellt er in einem Bericht über eine fruchtbare Gegend aufgrund des Vorkommens von Süßwasser, Wild und Salz fest, „daß dem Land eigentlich nichts fehlt als eine europäische Kultur, die den verborgenen Reichtum der Fruchtbarkeit an den Tag bringen könnte“ (Kolb 1979: 54). Kolb trifft damit Aussagen, die zentrale Bestandteile vorkolonialer und kolonialer Raumdiskurse sind: das Land hat einen „verborgenen“ Reichtum, den die Bewohner nicht zu nutzen wüssten. Nur die Europäer verfügten über die Kenntnisse, die Disziplin und die technische Ausstattung, die Schätze des Bodens zu heben und fruchtbar zu machen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereisen die beiden schon erwähnten Forscher Georg Schweinfurth und Gerhard Rohlfs das nördliche und mittlere Afrika. Zwischen 1868 und 1871 unternimmt der Botaniker und Paläontologe Georg Schweinfurth im Auftrag der Humboldt Stiftung in Berlin eine Forschungsreise Im Herzen von Afrika (1874).8 Er 8
Er ist der erste, der über das bis dahin unbekannte Volk der Monbutto berichtet und das Volk der Pygmäen entdeckt. Über seine botanischen Studien schreibt er, er habe „oft […] auch bloß im Schatten eines schönen Baumes“ gesessen, um „die Pflanzen zu zergliedern, zu beschreiben und abzuzeichnen, die mir zufällig aufgestoßen waren“ (Schweinfurth 1984: 72), oder er verbringt „meine Zeit mit Körpermessungen, linguistischen Studien, Insektensammeln, Präparieren von Schädeln“ (Schweinfurth 1984: 308).
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legt botanische und ethnographische Sammlungen an, die er schon während seiner Reise „in die ‚Speicher der Wissenschaft’“ nach Deutschland versenden lässt (vgl. Schweinfurth 1984: 72).9 Anders als bei Kolb sind Schweinfurths Landschaftsschilderungen nicht Teil eines umfassenden Lebensraums von Menschen, Tieren und Pflanzen sondern Forschungsgegenstand und ästhetisches Naturerlebnis zugleich: „Was kümmerten mich die Leute um mich herum, für mich war ich ganz allein in diesem heiligen Tempel der Natur“ (Schweinfurth 1984: 73). Seine Beschreibungen knüpfen an die abendländische Tradition des „locus amoenus“ an. Statt der „stereotypen Elemente“ (Wilpert 1989: 535) von Wiese, Blumen, Quelle und Vögeln vermitteln hier „die bezaubernden Haine der Ölpalme“, „riesige Feigenbäume“, „Farnkräuter“, „überall Wasser“, „würzige Luft“ und „kühlender Schatten“ den Eindruck eines „wahren Eden“ (Schweinfurth 1984: 174) mit paradiesischen Vorstellungsbilder von Vielfalt und Überfluss. Schweinfurth ist jedoch nicht nur ein „empfindsam“ Reisender. Mit dem Ziel, die Bewohner von der Fruchtbarkeit ihres Landes zu überzeugen, legt er einen Garten an: Die ersten Tage verwandte ich auf die Einrichtung eines großen Gemüsegartens […] Ich hatte einen Vorrat von Hacken und Spaten mitgebracht und verfügte über ein reiches Sortiment vorzüglicher Sämereien; so vermochte ich bisher noch nicht Dagewesenes zu leisten und den Eingeborenen ein Beispiel zu liefern von der beispiellosen Produktivität ihres Bodens. Mais und Tabak lieferten mir den überraschendsten Ertrag. Das erzielte Produkt stellte alles bisher im Lande Erzeugte weit in den Schatten. (Schweinfurth 1984: 72)
Scheinbar beiläufig konstituiert der Autor einen Raum vorwiegend unter Nutzungsaspekten: die Werkzeuge der Bewohner zur Bodenbearbeitung sind unzureichend, erst der Europäer erzielt mit seinen Geräten eine „beispiellose Produktivität“. Ein Sortiment europäischer Samen und die systematische Aussaat liefern „den überraschendsten Ertrag.“ Nur der Fleiß und die Sorgfalt des Europäers leisten „bisher noch nicht Dagewesenes.“ Erzielt werden nicht einfache Produkte für den alltäglichen Verbrauch 9
„Bei dieser fieberhaften Tätigkeit, welche sich bis in die Nacht erstreckte, um das täglich Wahrgenommene zu Papier zu bringen, schwollen meine Sammlungen schnell zu bedeutendem Umfang an, und Ballen häufte sich auf Ballen, alles aufs sorgfältigste in Rindshäute genäht und der weiten Reise gewärtig, die es über Wüsten und Meere hinführen sollte in die ‚Speicher der Wissenschaft’“ (Schweinfurth 1984: 72). Später fügt Schweinfurth seinen Sammlungen auch Menschenschädel zu, die ihm nach seinen Angaben von den Monbutto überlassen werden: „Die Schädel Nr. 38, 36 und 37 in der Sammlung des anatomischen Instituts zu Berlin wissen davon zu erzählen“ (Schweinfurth 1984: 286).
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sondern Bodenerzeugnisse, die „alles bisher im Lande Erzeugte weit in den Schatten“ stellen. Der kolonisierende Blick urteilt auf dem Hintergrund europäischer Maßstäbe und ignoriert die kulturelle und ökonomische Lebenssituation der Bewohner, die ihren täglichen Bedarf aus den über das Jahr wachsenden Früchten und Felderzeugnissen decken können. Zugleich enthält der Text eine Hierarchisierung, in der der Deutsche selbstverständlich in der vertikalen Skala der Kulturentwicklung den obersten Rangplatz, der afrikanische Bewohner einen unteren Rangplatz einnimmt. Der dritte hier vorgestellte Forschungsreisende Gerhard Rohlfs durchquert von 1865 bis 1867 im Auftrag und mit Finanzierung des Bremer Senats, der Stadt Bremen, der Royal Geographical Society in London und des Geographen und Karthographen August Petermann (1822-1878) als erster „die Sahara vom Mittelmeer zum Golf von Guinea“ Quer durch Afrika (1874/75) (vgl. Rohlfs 1984: 373). Seine Reiseschilderungen zeigen eine „distanzierte und um radikale Objektivität bemühte Schreibweise“ (Fiedler 2005: 153). Er nimmt den Raum vor allem als Anordnung geologischer Formationen wahr: Wir zogen in der Richtung von 225 Grad den Uadi el-Cheil entlang aufwärts und drangen mit ihm in das steinige Gebirge ein, in dem er entspringt und durch zahlreiche Täler und Schluchten aus Süden und Norden Zuflüsse erhält. Die Wände dieser Täler, aus Sandstein und Kalk bestehend, erheben sich senkrecht zur durchschnittlichen Höhe von hundert bis einhundertfünfzig Fuß (Rohlfs 1984: 52).
Schweinfurths Demonstration deutschen Fleißes wird bei Rohlfs abgelöst von einer kolonialen Haltung, die die durchquerten Distrikte auf zukünftige Ertrags- und Entwicklungspotentiale auch hinsichtlich der hier anzusiedelnden Deutschen untersucht. In seinem Bericht begegnen zum ersten Mal die drei topologischen Einheiten ‚Boden und Bodenfruchtbarkeit’, ‚Quellen und Wasser’, ‚Klima und klimatische Bedingungen’, die mit Beginn des deutsch-kolonialen Projekt von den Berichterstattern der DKZ vorwiegend in den Blick genommen und thematisiert werden. Rohlfs untersucht diese drei Raumeinheiten nicht nur anhand der vorfindlichen landwirtschaftlichen Produkte, sondern auch hinsichtlich der Erträge, die aufgrund seiner Beurteilung von Bodenbeschaffenheit und Klima in der Zukunft zu erwarten sind. Die „imperial eyes“ (Pratt 2008) des Forschers setzen gedanklich bereits die euopäische Kultivierung voraus und leiten daraus den sicheren Erfolg einer systematisierten Bodenbewirtschaftung ab.
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Der Boden sei fruchtbar, Getreide werde in der Gegend um Fesan „durchschnittlich fünfmal im Jahr geerntet“, im Winter werde „Weizen und Gerste“, in den drei anderen Jahreszeiten „die verschiedenen Hirseund Duraarten“ angebaut (Rohlfs 1984: 109). „Fast alle Gemüsearten auch die europäischen, würden in diesem Klima gedeihen, leider baut man aber nur die in der Zone gewöhnlichsten“ an, wie zum Beispiel Melonen, Gurken, Rüben und Bohnen „Viele Fruchtbäume der gemäßigten wie der heißen Zone würden ebenfalls sehr gut hier fortkommen“ (Rohlfs 1984: 110). Rohlfs berichtet von ausreichendem Wasser, wenn auch an manchen Stellen tiefere Grabungen notwendig seien. Es sei in allen diesen Einsenkungen […] unter der Erde zu finden. Das Wasser einiger Quellen oder Brunnen ist vollkommen süß, das in anderen mehr oder weniger salzig oder mit alkalischen Bestandteilen vermischt. Oft kann man schon durch Aufkratzen des Bodens Wasser gewinnen, oft aber müssen auch recht tiefe Brunnen gegraben werden (Rohlfs 1984: 108f.). Wasser, meist vorzügliches, findet sich hier in der geringen Tiefe von vier bis fünf Fuß (Rohlfs 1984: 151).
Auch das Klima sei für europäische Ansiedlungen geeignet, es sei wie in der ganzen Wüste, ein sehr regelmäßiges und deshalb […] ein durchaus gesundes, wenn man sich erst an die Trockenheit der Luft und den hohen Wärmegrad gewöhnt hat. Eben die Trockenheit der Luft bewirkt, daß die Sommerhitze hier viel leichter zu ertragen ist als am Meeresufer, wo ihr Feuchtigkeitsgehalt die Ausdünstung der Haut, also die Abkühlung derselben, verhindert (Rohlfs 1984: 109).
Rohlfs hält auch fest, welche europäischen Produkte zum Import – unter anderem Kattun, Papier, Steinschloßflinten, Salz, auch Zucker Kaffee und Tee „vorläufig nur als Luxusartikel der Reichen“ - und welche zum Export – Rinder, Esel, Schafe, Straußenfedern, Wachs, Tierfelle - geeignet sind (vgl. Rohlfs 1984: 218). Und er entwickelt Vorstellungen, wie die Entwicklung einer Infrastuktur die koloniale Erschließung Afrikas fördern würde: „Von hier aus, aus dem Herzen Afrikas, wäre dann leicht eine fahrbare Straße anzulegen, auf der Warentransporte in dreißig Tagen den Golf von Guinea erreichen würden“ (Rohlfs 1984: 218f.). In seinem Reisebericht nimmt der Autor die Raumeinheiten ‚Boden’, ‚Wasser’ und ‚Klima’ vorweg, die zu Beginn des deutschen Kolonialprojekts auf ihre Eignung oder Nichteignung für Kolonisation und Kultiviation bewertet werden. Entscheidend sind jedoch die von ihm in seinem Text erzeugten Vorstellungsbilder, die den Eindruck vermitteln, alle wichtigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ansiedlung von Europäern
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seien vorhanden: es gibt ausreichend Wasser, das Klima ist zuträglich, der Boden fruchtbar. Die zukünftigen Eingriffe der Europäer werden bei Rohlfs konjuktivisch und prospektiv imaginiert, die Distrikte in der Phantasie des Lesers zu fruchtbaren und gewinnbringenden Landschaften umgedeutet. Dabei spielt es für die Phantasie des Lesers eine geringere Rolle, ob die von den Forschungsreisenden geschilderten Gegebenheiten nur für diese Landschaften und nur für speziell diesen Raum gelten. Die in der Reiseliteratur geschilderten Eindrücke werden auf andere afrikanische Landschaften übertragen und generalisiert. Am Ende der vorkolonialen Epoche in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts sind diese Wahrnehmungs- und Textmuster des kolonialen Raums weitgehend etabliert: das in Maßen auch für Europäer zuträgliche Klima, die bisher ungenutzten Böden, die nur auf die sorgfältige Bebauung durch Europäer zu warten scheinen, der Reichtum an Pflanzen, Tieren und Bodenschätzen vor allem im bisher unzugänglichen Innern des Erdteils. Afrika wird damit zu einer „Projektionsfläche für persönliche wie kollektive Wünsche, Entwürfe und Konzeptionen“ (Kundrus 2003: 7) mit der impliziten, bei Rohlfs expliziten Aufforderung, das jungfräuliche Land zu erobern und zu nutzen. Dazu fühlen sich die Europäer als Angehörige einer in ihrer Sicht hoch entwickelten Zivilisation umso mehr berechtigt, da die Bewohner den Reichtum ihres Landes nicht zu verwenden wüssten, es fehle an Wissen und an Fertigkeiten, über die nur die Europäer verfügten. 4.
Die Deutsche Kolonialzeitung (DKZ)
Der vorliegende Beitrag untersucht einen Textkorpus von ‚Raumtexten’, die zwischen 1884 und 1887 in der Deutschen Kolonialzeitung erscheinen. Bevor das Textkorpus näher erläutert wird, sollen die Zeitschrift und ihre Ziele kurz umrissen werden. Das Publikationsorgan des Deutschen Kolonialvereins erscheint ab Januar 1884 als Mitgliederzeitschrift mit 24 Heften im Jahr10 im vereinseigenen Verlag. Das Blatt ist im Zweispaltendruck gesetzt und anspruchslos gestaltet. Die wenigen Abbildungen beziehen sich selten auf den Text und sind mehr schmückendes Beiwerk als informierende Illustration. Adressat ist 10
Die DKZ erscheint bis 1887 vierzehntägig, nach dem Zusammenschluss des Deutschen Kolonialvereins mit der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation zur Deutschen Kolonialgesellschaft ab 1888 wöchentlich im größeren Format und leserfreundlicherem Layout.
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der informierte männliche Leser mit einem umfassenden Welt- und Bildungswissen, der die kolonialpolitischen Debatten im Reichstag und im Kolonialverein interessiert verfolgt. Das Blatt berichtet über die Entwicklung des Vereins und die eigene parlamentarische Lobbyarbeit, über Eingaben an die Reichsregierung und Aktivitäten der verschiedenen lokalen Sektionen, es veröffentlicht Vorträge von Mitgliedern und Protokolle von Vereinsversammlungen. Einen größeren Raum nehmen Informationen und Kommentare zur Kolonialpolitik der anderen europäischen Kolonialstaaten ein, sie sind häufig abgrenzend-kritisch, der englischen Kolonialpolitik gegenüber kritisch-abwertend. Vier Themenkomplexen werden vorrangig behandelt: die „deutsche(n) Ansiedelungen in allen Weltteilen“, „die Ausbreitung des Deutschtums auf der ganzen Erde“, die „Hebung des Ausfuhrhandels“ und die „Wertschätzung der deutschen Industrie auf dem Weltmarkte“ (I, 1, 1-2). Die ausgeprägt wirtschaftlichen Interessen der Vereinsmitglieder zeigen sich in der regelmäßigen Veröffentlichung der Börsennotierungen von Kolonialaktien. Obwohl die DKZ in ihren editorischen Vorbemerkungen explizit ihre Neutralität gegenüber allen Parteien versichert (I, 1, 1), werden Redebeiträge abwertend kommentiert, die die deutsche Expansion aus unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Erwägungen kritisieren (vgl. Speitkamp 2005: 22f.). Die Kolonialpolitik der Reichsregierung wird grundsätzlich bejaht, allenfalls wird abwägende Unzufriedenheit mit der schleppenden Entscheidungsfindung laut. Es besteht Konsens über das deutsch-koloniale Engagement, wenn auch gerade in den ersten Jahren zwischen 1884 und 1887 die Meinungen darüber auseinander gehen, wie und mit welchen Mitteln „kolonisiert“ werden soll. In den ersten vier Jahren (1884-1887) berichtet die Zeitschrift ausführlich über und aus den vier afrikanischen Schutzgebieten. Die Gruppe der Beiträger setzt sich aus Autoren zusammen, die die Distrikte aus eigener Anschauung kennen in ihrer Tätigkeit als Missionare, Ärzte oder Kaufleute. Sie verfügen im Allgemeinen nicht über eine einschlägige Ausbildung, mit der sie die Boden-, Wasser-, und Klima-Verhältnisse kompetent beurteilen könnten. Darüber hinaus kennen sie häufig nur ein begrenztes Gebiet, verallgemeinern jedoch ihre individuellen Erfahrungen zu verbindlichem ‚Wissen über Afrika’. Zu dieser Gruppe gehören auch Berichterstatter, die von der Reichsregierung beauftragt werden, eine bestimmte Region auf ihre Eignung als Plantagenbau-, Ackerbau-, Siedlungsoder Handlungskolonie zu bewerten. Eine zweite Gruppe von Beiträgern sind Mitglieder der Redaktion und Kolonialpolitiker, die die Distrikte nicht selbst bereist haben, sondern die
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Erfahrungsberichte in den größeren propagandistisch-argumentativen Kontext der Zeitschrift stellen. Vorwiegend in den ersten beiden Jahren 1884 und 1885 sind die Texte der Berichterstatter vor Ort mit einleitenden Legenden versehen unter Nennung des Autornamens und der in Afrika ausgeübten Tätigkeit: …von einem deutschen Kaufmann, der eine lange Jahre von Jahren an der Sansibarküste […] ansässig gewesen, II, 8, 246 - Dr.XY (aus Bremen) hat Jahre lang, teils als Reisender auf der ostafrikanischen Küste gelebt II, 17, 539; - …welcher das fragliche Gebiet durch mehrjährigen Aufenthalt kennt II, 7, 215.
Aufwertende Adjektive sollen zusätzlich die Glaubwürdigkeit der Aussagen bestätigen: …der besonnene Beurteiler und treffliche Beobachter, II, 2, 41 - …der geschätzte Kongo-Meterologe, II, 7, 217 - …der als kompetenter Beurteiler Westafrikas geschätzte Forscher, II, 13, 406 - (ein Bericht), der sich durch Klarheit und nüchterne Auffassung auszeichnet, III, 13, 398
Die genannten deskriptiv-argumentativen Kollokationen können als Versuch der Redaktion gelesen werden, ein mögliches Misstrauen gegen den ‚Wahrheitsgehalt’ der Aussagen zu minimieren. In Ermangelung wissenschaftlich zuverlässiger Informationen stellt die Zeitschrift die Beiträger und Texte in einen von der Erfahrung bezeugten individuellen Kontext, betont jedoch zugleich deren wissenschaftlich-objektive Haltung. 5.
Das Textkorpus
Das Textkorpus umfasst zwischen 1884 und 1887 in der Deutschen Kolonialzeitung erschienene Beiträge über die deutsch-afrikanischen Schutzgebiete. Im Fokus des vorliegenden Beitrags stehen der ostafrikanische Raum, das spätere Deutsch-Ostafrika und heutige Tansania und der südwestafrikanische Raum, das spätere Deutsch-Südwestafrika und heutige Namibia.11 Zum Textkorpus gehören deskriptive, kommentierende und argumentative Texte wie Versammlungsprotokolle des Kolonialvereins und Reiseberichte, aber auch Beiträge, die sich mit allgemeinen Fragen zur kolonialen 11
Die Aussagen werden nicht hinsichtlich der Gebiete im Osten beziehungsweise im Südwesten Afrikas unterschieden, da der Analyseschwerpunkt auf der Wahrnehmung und sprachlichen Konstruktion des Referenzraums liegt; der reale geographische, politische, soziale und kulturelle Raum ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.
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Entwicklung und zu kolonialen Aufgaben beschäftigen, sofern sie sich auf die Kategorie Raum und die Referenzgebiete beziehen. 5.1 Der afrikanische Raum – Analysen Die sprachliche Konstruktion des afrikanischen Raums ist ein Teildiskurs des umfassenderen Kolonialdiskurses, der selbst wiederum „in einem Netz von diskurshistorischen Bedeutungsverleihungen“ (Busse 1997: 17) zu ‚verorten’ ist. Über die Äußerungsintention hinaus, spreche aus den Äußerungen eines Autors und Sprechers „eine Tradition des Denkens, ‚Fühlens’, Meinens oder Redens […]“ (Busse 1997: 18). Nicht nur der Autor sondern auch der Leser steht in dieser Tradition. Im Rezeptionsprozess nimmt er die Informationen nicht mehr nur als geographisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über ein fernes Land auf, sondern stellt alle Aussagen in das Diskursumfeld der deutsch-kolonialen Expansion. Die Texte aktivieren die explizit genannten und implizit mitgemeinten Erwartungen an wirtschaftliche Erfolge, an die Aufwertung des nationalen Selbstbildes und an die Bildung einer nationalen Identität. In diesem Kontext werden die Evaluationen als ‚kolonialpolitische Evaluationen’ gelesen, deren Befunde die nachfolgenden kollektiv-nationalen Entscheidungen und Handlungen bestimmen. Angesprochen sind jedoch nicht nur die nationalen sondern auch die individuellen Erwartungen mit Hoffnungen auf persönlichen Reichtum, auf eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation und auf beruflichen Erfolg in den Kolonien. Damit verweisen die Texte des Textkorpus auf einen Kommunikationsraum mit einer Vielfalt von individuellen und kollektiven Bewertungsund Zuschreibungsprozessen, die näher untersucht werden. In den folgenden Abschnitten wird exemplarisch dargestellt, wie im Diskursfeld der kolonialen Zeitschrift die afrikanischen ‚Schutzgebiete’ sprachlich in Besitz genommen werden: (a) (b)
(c)
der Prozess der Namengebung für die späteren Gebiete ‚Deutsch-Ostafrika’ und ‚Deutsch-Südwestafrika’, die etwa ab 1886 verwendet werden; durch sprachliche Handlungen von „Lokalisierung“ und „Platzierung“ (vgl. Löw 2004: 46) mit Angaben von Längen- und Breitenkoordinaten Informationen zu Höhenlagen Angaben zu Wegstrecken zwischen zwei Orten; Evaluierung und Versprachlichung der drei topologischen Einheiten ‚Boden/Bodenfruchtbarkeit’ ‚Quellen und Wasser’ ‚Klima’
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Die Gebietsbezeichnungen ‚Deutsch-Ostafrika’ und ‚Deutsch-Südwestafrika’ Als Carl Peters (1856-1918) zwischen November und Dezember 1884 (vgl. Scherpe 2004: 80) im Auftrag der von ihm gegründeten Gesellschaft für deutsche Kolonisation ein Gebiet im Umfang von 900 Quadratkilometern auf dem ostafrikanischen Festland erwirbt, widmet die Deutsche Kolonialzeitung dem ‚Ereignis’ unter der Überschrift Das neue Deutsche Schutzgebiet in Ostafrika (II, 7, 213-217) einen längeren Beitrag. Schon im Titel erscheint das Proprial ‚Deutsch’ in zwei Funktionen: Zunächst dient es als vorläufiger Name mit Hinweis auf diesen Distrikt. Zugleich wird unmissverständlich deutlich, dass es sich um ein ‚deutsches’ Schutzgebiet handelt und vom Deutschen Reich in Besitz genommen wurde. Im weiteren Text wird die vorläufige Bezeichnung nicht noch einmal aufgenommen sondern durch andere sprachliche Mittel ersetzt. Zu einer ersten Identifikation des Gebiets wird der vormalige Besitzer genannt: „das Gebiet des Königs von Sansibar“. Referenzidentität wird hergestellt mit den Lokaladverbien „hier“ und „dort“ und mit allgemeinen Bezeichnungen wie „umfangreiche Gebiete“ oder „das fragliche Gebiet“, auch in Verbindung mit dem Demonstrativ „diese“. Spezifischer sind die Ausdrücke, die auf die geographische Lage „in dem Teile Ostafrikas“ oder auf das Gebiet und seine Bewohner verweisen: „hier im Gebiet der Useguha“, wobei im Verlauf des Textes diese Zuschreibung zur Bezeichnung wird: „die Landschaft Useguha“. Der Prozess der sprachlichen Vereinnahmung zeigt sich weiter in Mehrworteinheiten wie der folgenden: „Das damit deutscherseits rechtskräftig erworbene Gebiet“. Durch Hinzufügung des Zeitpunkts („jetzt“), des neuen Besitzers („deutscherseits“) und des Verwaltungsakts („rechtskräftig erworbene Gebiet“) versucht die Bezeichnung den Erwerb und seine Begleitumstände sprachlich genauer zu erfassen. Die folgende Übersicht zeigt in einer Auswahl die referentiellen Ausdrücke in der Stellung ihres Auftretens im Text: das neue Deutsche Schutzgebiet - ein deutsches Schutzgebiet im Hinterland von Sansibar - hier im Gebiet der Nguro - die Landschaften Useguha etc. - Das damit deutscherseits rechtskräftig erworbene Gebiet - gewisse Küstengebiete - in jenem Teile Afrikas - das fragliche Gebiet - das erworbene Land - in dem von der Gesellschaft erworbenen Gebiet - hier - in Ostafrika - in diesem jetzt deutschen Berglande von Usagara etc - das jetzt deutsche Land - in dem Gebiete der Gesellschaft (DOAG) - dort - in dem Teile Ostafrikas - in dem deutschen Lande - in dem deutschen Gebiete - daselbst - II, 7, 213-217.
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Bis 1887 spricht die DKZ weiterhin von „unseren ostafrikanischen Gebieten“. Mit Referenz auf alle afrikanischen Schutzgebiete im Osten, Westen und Südwesten Afrikas werden bis 1886 auch Bezeichnungen wie „Tropisch-Afrika“ (III, 2o, 699) oder auch „Deutsch-Afrika“ (I, 17, 333) verwendet. Der spätere Ländername Deutsch-Ostafrika zeigt im Determinatum „Ostafrika“ die geographische Lage an, im Determinans „deutsch“ die politische und juristische Zugehörigkeit (vgl. Back 1996: 1354) und wird damit auch sprachlich endgültig zu deutschem Eigentum. Für die spätere Gebietsbezeichnung Deutsch-Südwestafrika gestaltet sich der Prozess der Namengebung etwas anders. Das von Lüderitz 1882 erworbene Teilstück im Südwesten Afrikas wird bereits seit seiner Eroberung 1486 durch den portugiesischen Seefahrer Bartolomeo Dias Angra Pequeña genannt wird, „im Hinblick auf die ziemlich enge Einfahrt in die Bucht“ (Schnee 1920, I.Bd: 53). Nach dem Erwerb erhält das kleine Gebiet nach seinem Käufer den Namen Lüderitzbucht. Die von Lüderitz im Zeitraum zwischen 1882 und 1884 zusätzlich erworbenen Gebiete im südwestafrikanischen Hinterland will die DKZ „nach einem Vorschlag der Kölnischen Zeitung fortan Lüderitzland“ nennen (I, 18, 357). Obwohl Lüderitz bereits 1885 seinen Besitz wieder verkauft, benutzt die DKZ im hier untersuchten Referenzzeitraum zwischen 1884 und 1887 sowohl die frühere Gebietsbezeichnung Angra Pequeña als auch die Bezeichnung Lüderitzbucht nebeneinander. Hier scheint der Name des Besitzers auszureichen, um das Gebiet eindeutig als deutschen Besitz erkennbar zu machen. Analog dem Ländernamen Deutsch-Ostafrika wird der Ländername dieses Gebiets gebildet: im Determinatum wird die geographische Lage, im Determinans der Eigentümer genannt, Deutsch-Südwestafrika. Gebietsbezeichnungen haben über ihre Adressierungsfunktion hinaus, „a cognitive, emotive, and an ideological dimension as well“ (Vögele 2004: 26). Mit der Einführung der deutschen Gebietsbezeichnung wird das Gebiet dem ‚emotionalen’ und ‚kognitiven’ Besitz der dort lebenden Einwohner entzogen und in den Besitz und das Verfügungsrecht der deutschen Kolonisatoren übergeführt.12 Die deutsche Bezeichnung ignoriert die gewachsenen politischen Formationen, die kulturellen Entwicklungen und die nationalen Rechtsverhältnisse und unterstellt das Gebiet
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Nach Speitkamp „gab (es) in Afrika weder einer Vorstellung von Souveränität, die deutschen Begriffen entsprochen hätte, noch ein veräußerbares Bodeneigentum im römischrechtlichen Sinn. Die rechtliche Kraft der Schutzverträge und Veräußerungsverträge war insofern aus afrikanischer Sicht äußerst zweifelhaft, es ging eher um symbolische Akte, die aber höchst reale Wirkungen entfalteten“ (Speitkamp 2005: 29f.).
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der europäischen Raumideologie von Grenzen und Grenzziehungen, langfristigem Grundbesitz und räumlichen Zu- und Anordnungen. 5.3
Lokalisierung und Platzierung − Lagen, Strecken und Entfernungen „Um überhaupt Räume in Wahrnehmung, Vorstellung oder Erinnerung verknüpfen zu können, bedarf es einer Platzierungs- und Lokalisierungspraxis“ (Löw 2004: 46). Sie bedürfen zu ihrer Identifizierung einer Verortung entweder in eigener Anschauung, als kognitive Karte, als aktualisierte Vorstellung oder als reproduzierende Erinnerung aus dem Gedächtnisspeicher. Die von Löw genannte „Praxis“ ist also eine individuelle Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Gedächtnisleistung abhängig von der kommunikativen Situation und dem Sprecherstandort. Lokalisierungen nach Breiten- und Längengraden sind dagegen wissenschaftlich nachprüfbare, feststehende Daten. Sie werden unabhängig von einem Sprecher kommuniziert, sie können auf einer geographischen Karte überprüft werden und beanspruchen einen hohen Grad von Objektivität und Authentizität. Im kolonialen Kontext kann mit diesen Angaben der reale Besitz und seine geographischen Grenzen ‚behauptet’ werden. Offizielle Berichte von nach Afrika entsandten Berichterstattern verorten denn auch das jeweilige untersuchte Gebiet nach Breiten- und Längengraden. So beginnt der Bericht des Kaiserlichen Schutzkommissars für das Südwestafrikanische Schutzgebiet mit Angaben zur Gebietslage: „Damaraland (Teilgebiet des deutschen Schutzgebiets, H.L.), das Gebiet zwischen dem 18. Grad südlicher Breite im Norden, dem 22. Grad südlicher Breite im Süden, dem 20. Grad östlicher Länge im Osten und dem atlantischen Ozean im Westen“ (III, 13, 398). Auch die Hinweise zu den Ausdehnungen der erworbenen Flächen erfüllen das Leserbedürfnis nach eindeutigen und nachprüfbaren Angaben. Flächen werden in englischen beziehungsweise deutschen Quadratmeilen oder auch in deutschen Quadratkilometern angegeben, abhängig von den bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Vermessungen oder dem vorigen Besitzer: Nun haben aber unsere dortigen Besitzungen einen Flächeninhalt von ca. 5000 deutschen Quadratmeilen, welche sich in einer Breite von ca. 150 Meilen vom Cunenefluß bis zum Oranjefluß erstrecken. Das Angra Pequena-Territorium aber nimmt hiervon etwa 740 Quadratmeilen ein […]. (III, 2, 54)
Zum Vergleich und zur anschaulichen Vergegenwärtigung des kolonialen Flächenumfangs werden Angaben zu Ausdehnungen europäischer Gebie-
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te herangezogen. So fügt zum Beispiel die Redaktion der DKZ der Nachricht über den Erwerb des ostafrikanischen Gebiets hinzu: „ein Areal im Gesamtumfange von Württemberg, Baden und Elsaß-Lothringen“ (I, 12, 234). Lage und Flächenausdehnungen sind jedoch nicht nur von objektiv wissenschaftlichem Wert. Da der koloniale Raumgewinn ein wesentliches Moment des nationalen und kolonisatorischen Selbstgefühls ist, sind Informationen zur Größe der neu erworbenen Gebiete von emotionaler Bedeutung. Jede Gebietserweiterung macht daher diese Angaben in Verbindung mit der Schilderung der näheren Umstände des Erwerbs. Entfernungen werden nicht nach Meilen oder Kilometern gemessen. Vielmehr werden die Strecken zwischen einem Ausgangs- und einem Zielort in Stundeneinheiten errechnet beziehungsweise geschätzt: Im Durchschnitt legt man 2- 2 ½ engl. Meilen pro Stunde zurück, wobei auf je 3-4 Stunden Fahrt im Allgemeinen ca. 2 Stunden Rast kommt. […]. Bis Guos braucht man […] 2 Tage und 1 Nacht, von dort bis Tsirub einen Tag und eine Nacht (II, 5, 128f.).
Aussagen zu Lagen, Strecken und Entfernungen erzeugen im Kontext des kolonialen Diskursumfeldes spezifische Konnotationen; sie sprechen indirekt von der dringend aufzuholenden ‚Rückständigkeit’ der Distrikte und der dort lebenden Menschen; sie thematisieren implizit den technischen Sachverstand, der aufgewendet werden muss, um das Land an das fortschrittliche Europa anzuschließen. Darüber hinaus verweisen die sprachlichen Einheiten auf die mit der Fortbewegung verbundenen Anstrengungen und Entbehrungen, die die Inbesitznahme noch immer mit einem Hauch von Abenteuer umgeben. Zur „Lokalisierungs- und Platzierungspraxis“ (Löw 2004: 46) gehören auch Angaben zu Höhenlagen bezogen auf das Meeresspiegelniveau. Für auswanderungsinteressierte Leser sind diese Informationen von Wert, da Europäer in ihrer eigenen Sicht aufgrund ihrer unzureichenden Anpassungsfähigkeit an die klimatischen Bedingungen in den Tropen nur leichte Arbeit verrichten können und sich nur in höheren Lagen ansiedeln sollten, wenn sie langfristig gesund bleiben wollen: Meist ist hierbei vergessen worden, daß die Bodenerhebungen unter den Tropen schon sehr beträchtlich sein müssen, keinesfalls wohl unter 1 500 m, wenn sie irgendwelche Gewähr guter klimatischer Verhältnisse bieten sollen. (II, 17, 537)
Auch diese Aussagen enthalten implizite Urteile über den Erfolg von Ansiedlungen und liefern Argumente für weitere Raumplanungsentscheidun-
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gen mit erheblichen Folgen für die afrikanischen Einwohner. Um sich aus den ‚krankheitsfördernden’ Ebenen auf die klimatisch günstigeren Höhenlagen zurückziehen zu können, führen die deutschen Kolonisatoren in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Enteignungen durch mit Zwangsumsiedlungen der Bewohner von ihren angestammten Wohnsitzen in entfernte Gegenden.13 5.4
Topologische Einheiten: Boden/Bodenfruchtbarkeit, Quellen und Wasservorkommen, Klima und klimatische Anpassung Wie an drei Reiseberichten gezeigt, kommen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend topologische Einheiten in den Blick. Dabei richtet sich das Interesse schon vor der deutsch-kolonialen Expansion nach Afrika auf Evaluationen des afrikanischen Raums, wobei die Untersuchungen beiläufig und unsystematisch durchgeführt werden. Rohlfs konkrete Vorstellungen zur Kultivierung und technischen Erschließung des Landes und Schweinfurths effektive Bebauung eines kleinen Stücks Land sind in dieser vorkolonialen Phase noch vorläufige Konstruktionen eines afrikanischen Raums, der sich zur kommerziellen Ausbeutung anbietet und nur noch der faktischen Aneignung bedarf. Mit der deutsch-kolonialen Expansion und dem Zugriff auf Afrika gehen jedoch Veränderungen in Wahrnehmung und Textualisierung einher, die Pratt als regelhafte Folge von historischen Veränderungen sieht (vgl. Pratt 2008: 4). In ihren Beiträgen in der DKZ konstruieren die Berichterstatter nun einen Raum, der die von den vorkolonialen Forschungsreisenden geschilderte größere Anzahl von Raumeindrücken isolierend in den Blick nimmt. Die Raumuntersuchungen beschränken sich nun auf wenige Fragen: Ist der Boden geeignet oder ungeeignet zur Bebauung? Stehen Kosten und Nutzen der Erschließung in einem vertretbaren Verhältnis? Sind ausreichende Quellen und Wasser vorhanden, die einen dauerhaften Erfolg garantieren? Ist in Anbetracht der klimatischen Verhältnisse eine langfristige Ansiedlung von Deutschen möglich? Die Kriterien von Eignung oder Nicht-Eignung geben nun den Ausschlag für kultivierende Planungen. Gerade in der Bewertung des Raums und der Einschätzung der Aussichten für das deutsch-koloniale Projekt werden die Vorannahmen und Vorurteile, die Hoffnungen und Phantasien der Berichterstatter und Kommentatoren besonders deutlich. 13
Siehe zu diesem Thema der Enteignungen und Zwangsumsiedlungen Otremba (2008:i.d.B.) und ihre Untersuchung der Kameruner Petitionsbewegung gegen die Kolonialherrschaft der Deutschen zu Beginn des 20.Jahrhunderts.
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Inhaltlich kommen die Berichterstatter zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen. Einige Autoren halten den afrikanischen Raum für jede Art von Kolonisierung für ungeeignet und haben allenfalls Vorstellungen von regen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den afrikanischen Schutzgebieten. Andere bewerten den Raum als geeignet für alle Arten der Kolonisierung und sind überzeugt, die auftretenden Probleme mit dem Einsatz von technischen Mitteln lösen zu können. In den untersuchten Texten werden die erheblichen Widersprüche auf intratextueller Ebene deutlich. Sie lassen sich als Oppositionen zwischen vehementer Ablehnung der kolonialen Raumerschließung und zuversichtlicher Zustimmung abbilden. Über das Textkorpus hinweg sind folgende Oppositionslinien erkennbar: 1. 2. 3.
Der Boden ist fruchtbar und zur Kultivation geeignet vs. Der Boden ist zur Kultivation nicht geeignet. Quellen und Wasser sind ausreichend vorhanden vs. Quellen und Wasser sind nicht ausreichend vorhanden. Die klimatischen Verhältnisse sind für den Europäer als gesund zu bezeichnen vs. Das Klima ist für den Europäer als ungesund zu bezeichnen.
Im Folgenden sollen die drei topologischen Einheiten, jeweils getrennt nach den Polen von ‚geeignet’ beziehungsweise ‚ungeeignet’ wort- und propositionsorientiert dargestellt werden (vgl. Warnke 2008: 16ff., 18-21). 5.4.1 Topologische Einheit: Boden und Bodenfruchtbarkeit Boden und Bodenfruchtbarkeit gelten als entscheidende räumliche Einheiten. Die Evaluationen vor Ort erfolgen allerdings nach dem Augenschein, der darüber entscheidet, ob der Boden als geeignet oder als nicht geeignet eingeschätzt wird. Die Texte geben keinerlei Hinweise auf systematische Untersuchungen. Vielmehr wird der Boden nach dem mangelnden oder nach dem sichtbaren Ertrag und aufgrund des „dort betriebene(n) Ackerbau(s)“ bewertet. Die Gärten der Missionsstationen werden häufig als Beispiele für die verborgene Fruchtbarkeit genannt. Ihre blühenden Gärten und fruchtbaren Felder verweisen indirekt auf die prospektiven Möglichkeiten der afrikanischen Böden hin, wenn sie mit Sorgfalt und Fleiß bearbeitet werden.14 14
Zur Bedeutung der Missionsgesellschaften für die Kolonisation bemerkt Schnee, sie seien „bis zur Aufrichtung der deutschen Herrschaft […] für dieses Land fast der alleinige Vermittler europäischer Kultur“ gewesen und hätten „der späteren deutschen Kolonisation vorgearbeitet“ (Schnee 1920: 168).
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Am zustimmenden Pol dieser Oppositionslinie sind die Aussagen zu den Bodenverhältnissen vorsichtig aufwertend, der Boden „an und für sich nicht unfruchtbar“ oder auch bestätigend, wenn vom „unverwüstlichen“ Grasreichtum gesprochen wird, der eine erfolgreiche Viehwirtschaft nahe legt. Die Aussagen im Einzelnen: Der Boden ist fruchtbar und zur Kultivation geeignet Konsul (XY) äußert sich […] sehr günstig über die Fruchtbarkeit der erworbenen Landstriche. Schon Stanley habe sich außer anderen Reisenden […] über den Wert dieser Gebiete für Plantagenwirtschaft in farbenreicher Schilderung ausgesprochen.II, 7, 214 - Doch ist der Boden an und für sich nicht unfruchtbar, II, 5, 128 - Der Boden ist auch hier an und für sich nicht unfruchtbar, das beweist der dort betriebene Ackerbau […] II, 5, 130 - Das Getreide steht vorzüglich besser oder doch mindestens ebenso gut als auf dem besten deutschen Boden.II, 5, 133 - Der Boden der meisten Flußbetten ist fruchtbares Land […], sodaß im demselben Roggen, Weizen, Hafer, Mais und alle anderen Gartengewächse gedeihen.III, 13, 399 - Der Grasreichtum des Damaralandes erscheint in einzelnen Distrikten […] geradezu unverwüstlich.III, 13, 400.
Während in den vorstehenden Mehrworteinheiten die guten Erträge betont werden – manche Aussagen bleiben sehr allgemein – betonen die folgenden sprachlichen Einheiten die mangelnde Eignung, da die landschaftlichen Verhältnisse eine Bebauung nicht zulassen. Am ablehnenden Pol der Opposition stehen Aussagen, die sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet beziehen sondern auf die Bodenverhältnisse in allen Schutzgebieten. Der Boden ist unfruchtbar und zur Kultivation nicht geeignet […]kann aber wie überhaupt kein Gebiet im tropischen Afrika, als Ackerbaukolonie Verwendung finden II, 7, 215 - […]diesen Verhältnissen entsprechend ist die Vegetation äußerst spärlich, daß man die Ungeeignetheit der afrikanischen Gebiete innerhalb der Wendekreise für Ackerbaukolonien scharf betont. II, 2, 41 - …so ist auch der ‚jungfräuliche Boden’ oft lange nicht so ergiebig, wie man es aus der Ferne meint. II, 17, 539 - Das Bergland ist wohl noch schwerer kultivierbar als die Ebene, denn die Formationen sind sehr steil, steinig und mit Urwald bedeckt.III, 17, 519 - Für Ackerbaukolonie eignen sich die Länder hier nicht, da die allererste Bedingung für dieselben, die, daß der Kolonist den Boden selbst bearbeitet, fehlt.III, 2, 63 - Ziehen wir aus dem bisher Gesagten einen Schluß, so müssen wir uns sagen, daß in der That nur ein kleiner Teil des Deutschen Gebietes ohne Schwierigkeiten angebaut werden kann, und dieser Teil ist von den Eingeborenen so ziemlich besetzt. III, 17, 520.
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5.4.2 Topologische Einheit: Quellen und Wasser Die zweite, von den Berichterstattern untersuchte topologische Einheit ist das Vorkommen von Quellen und Wasser und die Regelmäßigkeit von Niederschlägen. Sie sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bodenwirtschaft; ihr Vorhandensein gilt als prospektiv notwendig, ihr Fehlen als ein erhebliches Problem für kolonialpolitische Planungen. Am zustimmenden Pol dieser Oppositionslinie ist Wasser sowohl für den persönlichen Gebrauch als auch zur landwirtschaftlichen Nutzung ausreichend vorhanden. Zugleich enthalten einige der Aussagen irritierende Informationen, die auf andere Städte verweisen, die ebenfalls keinen ortsnahen Zugang zu Trinkwasser haben. Auffallend ist auch die Aussage, das Wasser könne ohne Bedenken ungereinigt getrunken werden. Die Aussagen im Einzelnen: Quellen und Wasser sind ausreichend vorhanden Die Flüsse enthalten nur zeitweise Wasser; in der dürren Zeit findet man es in größerer Tiefe, wenn man in den Flußbetten nachgräbt. I, 16, 300 - Daß an der Küste nur wenig Trinkwasser vorhanden ist, hat nichts zu sagen, dasselbe ist z.B. in Aden und Suakin der Fall. I, 16, 302 - Wasser ist mit Ausnahme einiger Gegenden […] überall gut und reichlich; filtrieren oder kochen ist vor dem Genusse durchaus nicht notwendig. III, 2, 64 – […] mit einem wenigstens im Damaraland nicht unbedeutenden Flußnetz. III, 13, 398 - An Wasser sei kein Mangel [… ] II, 7, 214 – […] und führt in manchen Distrikten das ganze Jahr hindurch Wasser. II, 7, 215 - Sämtliche Missionsstationen des Damara- und GroßNamaqualandes […] liegen an Quellen, die vollauf Trinkwasser für Menschen und Vieh liefern, auch zur Berieselung kleiner Gärten benutzt werden können. III, 13, 399.
Am ablehnenden Pol der Oppositionslinie ist der Mangel an Wasser so groß, dass an landwirtschaftlichen Betrieb nicht zu denken ist, da die geringen Regenmengen für den kontinuierlichen Bedarf in keinem Fall ausreichen Quellen und Wasser sind nicht ausreichend vorhanden Es ist dieser Küstenstrich fast vollkommen wasserlos; I, 12, 233 - „koloniale Streusandbüchse“ I, 14, 280 - Ein vergebliches Bemühen ist es aber, bei Angra Pequena nach Wasser zu suchen, da ein Regenfluß dort nicht existiert und der wenige Regen, der vielleicht einmal in Jahren fällt, nicht hinreicht, eine Quelle zu bilden, sondern schnell verdunstet. III, 13, 398 - Die Unregelmäßigkeit der jährlichen Regenmengen bietet ein großes Hindernis für den Ackerbau. II, 7, 215 So ist doch diese Menge der Feuchtigkeit […] durchaus nicht hinreichend für eine rationelle Bebauung des Landes. II, 5, 130 - Das Land ist meterologisch in bezug auf die Regenverteilung so ungünstig als möglich gelegen; II, 13, 47.
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Zur Behebung des Mangels werden unrealistische Vorschläge gemacht, wie zum Beispiel der Bau von artesischen Brunnen, ohne dass die Gesteinsformationen des in Frage stehenden Gebiets auf entsprechende Voraussetzungen untersucht wurden. Das Anlegen von Wasserreservoiren erscheint absurd vor dem Hintergrund des beschriebenen Mangels. Auch der Vorschlag der Heranschaffung des Wassers vom weit entfernten Kapstadt her erscheint kaum geeignet zur Lösung des Problems. 5.4.3 Topologische Einheiten: Klima und klimatische Anpassung Eine dritte, in den Texten des Korpus diskutierte topologische Einheit ist das Klima und die fraglichen Aussichten auf eine Anpassung des Europäers an die klimatischen Bedingungen der Tropen. Die starke Sonneneinwirkung und unvermittelt auftretende Fieber werden als erhebliche Einschränkungen eines auf Dauer angelegten Aufenthalts eingeschätzt. Auch die Angaben über die Zuträglichkeit des Klimas sind widersprüchlich. So werden die von Peters 1884 erworbenen Gebiete in Ostafrika von einem Gewährsmann hinsichtlich ihres Klimas als „für Europäer erträglich“ eingestuft, „in den Morgen- und späteren Nachmittagsstunden“ könne „Feldarbeit“ verrichtet werden. Diesen Aussagen widerspricht die DKZ (II, 7, 216) mit Verweis auf die Erkrankungen, an denen sowohl Peters selbst als auch die anderen Expeditionsmitglieder bei ihrer Rückkehr leiden.15 Am zustimmenden Pol der Oppositionslinie wird die Eignung des Klimas für europäische Ansiedlungen vorsichtig bejaht: Das Klima sei „durchweg günstig“, die geringe Luftfeuchtigkeit mache den Aufenthalt auch bei starker Sonneneinwirkung „nicht unerträglich“, auch müsse der Europäer nicht mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung rechnen. Die Aussagen im Einzelnen: Das Klima ist gesund Das Klima ist ein gutes zu nennen […]. Der Temperaturwechsel ist nur ein geringer. I, 13, 271 - Was das Klima des Landes anbelangt, so ist es durchweg günstig für Europäer. II, 5, 131 - Bei der äußerst geringen Luftfeuchtigkeit ist 15
„Gegen diese optimistische Anschauung in Bezug auf das Klima“ spreche „nun aber der Umstand“, bemerkt die Redaktion der DKZ, „daß die Expedition […] unter den klimatischen Einflüssen zu leiden hatte.“ Von den drei Mitgliedern sei einer der Männer auf dem Rückweg aus dem Hinterland gestorben, ein weiterer sei nach wenigen Tagen schwer erkrankt und Peters selbst habe sich, „da er die Füße verbrannt hatte, in einer Hängematte an die Küste tragen lassen“ (II, 7, 216) Wie bedeutsam das Thema für die DKZ ist, zeigt ein „Spezialheft“ anlässlich der 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1886 in Berlin, das sich ausschließlich mit dem Klima und der klimatischen Anpassung des Menschen in allen Kontinenten beschäftigt. (III, 19)
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selbst eine Hitze von 30-34 R. für den Europäer nicht unerträglich.III, 13, 400 Der Europäer kann dort ohne Gefahr leben, wie in seiner Heimat. Es darf daher behauptet werden, daß in Bezug auf Klima (immer die nördlichen Gegenden ausgenommen) Damaraland und Namaqualand zu Niederlassungen wohl geeignet sind. III, 13, 400 - In bezug auf das Klima hat Ostafrika einen entschiedenen Vorzug vor der Westküste, indem die Malaria nicht in dem Grade verheerend ist, wie dort. III, 2, 63.
Am negativen Pol der Oppositionslinie sind die Aussagen entschieden ablehnend, in manchen Äußerungen geradezu abschreckend zu nennen. Die langfristige Ansiedlung von Europäern sei „wahrscheinlich für immer“ „unmöglich gemacht“, mit der Einschränkung „jedenfalls aber für die nächste Zeit.“ Ein besonderes Gewicht hat die Aussage von Rudolf Virchow (1821-1902) der eine Ansiedlung des Europäers „etwa bis zur dritten Generation“ für möglich hält. Andere Aussagen halten es für notwendig, dass der Europäer alle drei Jahre seinen Aufenthalt unterbricht, um sich in einem „gesünderen“ Klima zu erholen. Die Aussagen im Einzelnen: Das Klima ist ungesund Die Geschichte der deutschen Afrikaforschung weiß ja auch […] von den lebensgefährlichen Einwirkungen des Klimas in jenem Teil Afrikas zu berichten. II, 7, 215 - …Er (Virchow H.L.) erwähnt […], daß Europäer […] bloß etwa bis zur dritten Generation dort gedeihen könnten. II, 13, 409 - […]ein für den Europäer mehr oder minder ungesundes Klima […] II, 17, 537 – […]das tropische Klima an und für sich, welches die dauernde Niederlassung von Weißen wahrscheinlich für immer, jedenfalls aber für die nächste Zeit unmöglich macht […] II, 21, 670 - Das Klima in Ostafrika schließt unbedingt jede von Weißen selbst zu betreibende Landwirtschaft aus. II, 8, 248 - Anderseits ist das Klima ein derartiges, daß ein längerer als 3jähriger Aufenthalt nicht möglich ist, wenn sich der Weiße nicht zeitweise wenigstens nach einem gesünderen Lande begibt. III, 2, 63 - Daß der Europäer selbst arbeitet, d.h. angestrengt arbeitet, ist ganz undenkbar, wer das Gegentheil behauptet, kennt eben nicht die Gewalt der afrikanischen Sonne und den Einfluß des erschlaffenden Klimas. III, 17, 520.
Die Diskussion zur Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit des Klimas hat im Unterschied zu den beiden anderen topologischen Einheiten in entscheidendem Maß Auswirkungen auf den Umgang mit den afrikanischen Bewohnern. Da wegen des unzuträglichen Klimas und der beschränkten Fähigkeit zur klimatischen Anpassung dem Europäer die Arbeit im Freien
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nicht zugemutet werden könne, müssten die Bewohner die Arbeit der Europäer verrichten (siehe Waßmuth 2008: i.d.B.).16 Linguistisch zeigen sich in den vorangestellten Aussagen wiederkehrende sprachliche Einheiten in Form von einstelligen und mehrstelligen Partikeln wie die Intensitätspartikeln sehr, äußerst und durchaus, die Gradpartikeln an und für sich (im Sinn von eigentlich) und wenigstens/ mindestens und die Negationspartikel nicht. Intensitätspartikeln. „spezifizieren das mit einem Adjektiv oder Adverb zum Ausdruck Gebrachte vor dem Hintergrund einer mit dem Bezugsausdruck gegebenen Norm, die über- oder unterschritten werden kann“ (Zifonun et al. 1997: 56). Beispiele für eine Überschreitung einer gegebenen Norm sind äußerte sich sehr günstig (II, 7, 214), die Vegetation ist äußerst spärlich (II, 2, 41), filtrieren oder kochen […] ist durchaus nicht notwendig (III, 2, 64) Bei den Gradpartikeln wenigstens und mindestens handelt es sich um „gradierende Quantifikationsmodifikationen“, mit denen „eindeutig eine untere Grenze bestimmt“ (Zifonun et al.1997: 887) wird. So bezieht sich die „untere Grenze“ des Beispiels mit einem wenigstens in Damaraland nicht unbedeutenden Flußnetz (III, 13, 338) auf diesen bestimmten geographischen Raum, gilt aber nicht für andere geographische Räume im weiteren Umkreis. Auffällig ist die Verwendung von Negationspartikeln wie lange nicht so ergiebig (II, 17, 539) und ein Regenfluß dort nicht existiert (III, 13, 398). Häufiger werden auch doppelte Verneinungen verwendet in Kookkurenz mit Gradpartikeln wie im folgenden Beispiel: Der Boden ist an und für sich nicht unfruchtbar (II, 5, 128). Das prädikative Adjektiv fruchtbar wird durch das Präfix un- und die Negationspartikel nicht verneint und mit der mehrstelligen Gradpartikel an und für sich relativiert. Den hier in den Oppositionslinien erscheinenden Evaluationen von ‚Eignung’ und ‚Zustimmung’ einerseits, von ‚Nichteignung’ und ‚Ablehnung’ andererseits liegen mehrere Skalen zugrunde, die sich überlappen und ergänzen. Der Maßstab der ersten Skala ist das deutsch-koloniale Projekt und seine Ziele von Erschließung, Nutzung und Ausbeutung. Mit der Bewertung des Raums als ‚geeignet’ bejahen die Autoren indirekt die kolonialpolitischen Ziele des Deutschen Reichs und alle Maßnahmen zur Durchsetzung der deutsch-kolonialen Interessen. Naheliegend ist bei dieser Skala 16
Waßmuth (2008: i.d.B.) zeigt in einer Frameanalyse des Afrikanerbildes in einer Kolonialzeitschrift des frühen 20. Jahrhunderts die Bewertungsprozesse und stereotypisierenden Urteile auch in Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit der Afrikaner.
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auch der Gedanke, dass hier vor allem nationale Wünsche und Hoffnungen von Autoren zum Tragen kommen, die das deutsch-koloniale Projekt vor allem in Hinblick auf die Etablierung und den Ausbau der nationalen Identität vorantreiben wollen. Eine zweite Skala vergleicht die vorfindlichen afrikanischen Raumqualitäten mit denen in Deutschland. Hier ist der Maßstab der deutsche Raum, seine Fruchtbarkeit, sein Wasserreichtum und sein Klima. Die Aussagen beinhalten nicht von vorneherein Ablehnung oder Zustimmung, sondern erfassen zunächst beschreibend die Situation. Eine dritte Skala zeigt sich in der sprachlich vehementen Ablehnung beziehungsweise Zustimmung zum afrikanischen Raum als Siedlungs- und Handlungsraum. Diese Skala spiegelt die Haltung der Autoren, die sich in ihren Erwartungen an den Reichtum und die zu erschließenden Wirtschaftspotentiale bestätigt beziehungsweise getäuscht sehen. Sie verweist auf die Imaginationen, die in der vorkolonialen Phase entstehen und die deutsche Expansion bewusst und unbewusst motivieren. Zusammenfassend verweisen die Ergebnisse der wort- und propositionsorientierten Analyse von ‚Raumtexten’ der Deutschen Kolonialzeitung auf Brüche und Ambivalenzen des kolonialen Diskurses, die in inhaltlicher und zeitlicher Diskrepanz stehen zur faktischen Inbesitznahme von zunächst kleineren afrikanischen Regionen. Die sprachliche Vereinnahmung ist eine zeitlich verzögerte Aneignung, die hinsichtlich der Verwendung der deutschen Ländernamen Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika bis zum Ende des untersuchten Zeitraums zwischen 1884 und 1887 nicht abgeschlossen ist, obwohl die Gebietsbezeichnung Deutsch-Ostafrika bereits 1886 in einem Buchtitel erscheint. Die DKZ verwendet weiterhin Mehrworteinheiten oder greift mit Bezug auf das südwestafrikanische Gebiet auf die früheren Namen Angra Pequeña und Lüderitzland zurück. Ein geographisch-wissenschaftlicher Anspruch wird deutlich in der sprachlichen Aneignung des Raums als deutscher Besitz mit den Angaben zu Raumlagen und Ausdehnungen, die betrachterunabhängig mit Längenund Breitengraden beziehungsweise in Flächenausdehnungen nach Quadratkilometern ‚verortet’ werden. Der afrikanische Raum wird mit Beginn des deutschen Kolonialismus nicht mehr mit seiner Vielzahl von Raumeindrücken wahrgenommen. Vielmehr konstruiert der koloniale Blick einen Raum, in dem isolierte räumliche Einheiten hinsichtlich ihrer ‚Eignung’ oder ‚Nicht-Eignung’ für zukünftige kolonialwirtschaftliche Maßnahmen bewertet werden. Die mit der deutsch-kolonialen Expansion nach Afrika einhergehenden Ambivalenzen bilden sich als Oppositionen ab zwischen den Polen
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von Zustimmung einerseits und Ablehnung anderseits mit Bezug auf die prospektive Nutzung und Verwertung. Sie zeigen in der Textoberfläche die erheblichen Widersprüche der deutsch-kolonialen Inbesitznahme mit der häufigen Verwendung von Grad- und Intensitätspartikeln, doppelten Verneinungen und Relativierungen. Die widersprüchlichen Aussagen verweisen einerseits auf die mit den vorkolonialen Reisebeschreibungen geweckten Raumimaginationen, Projektionen und Wünsche, andererseits auf die enttäuschten Hoffnungen in der Konfrontation mit dem afrikanischen Raum. 6.
Fazit
An die deutsche Expansion nach Afrika im ausgehenden 19. Jahrhundert knüpfen sich unterschiedliche Wünsche und Erwartungen, die prototypisch in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts angelegt sind. Die Inbesitznahme von vier Gebieten im afrikanischen Osten und Westen aktiviert diese Hoffnungen auf paradiesische Landschaften, vielfältige Ressourcen und wirtschaftliche Erfolge. Der koloniale Zugriff erfüllt jedoch keineswegs die hochgespannten Erwartungen. Im ‚Zusammenprall’ zwischen Imaginationsraum und Realraum entstehen Prozesse von Ernüchterung und Ambivalenzen, die den hier untersuchten Teildiskurs weitgehend bestimmen. In den Texten scheinen sich die vorkolonialen phantastischen Zuschreibungen in ihr Gegenteil zu verkehren. An die Stelle der Imaginationen treten nüchterne Evaluationen, die einen Raum mit den drei Einheiten Boden, Wasser und Klima konstruieren. Die unterschiedlichen Bewertungen dieser Raumeinheiten verweisen auf individuelle Zuschreibungsprozesse, die sich in dieser Anfangsphase des deutschen Kolonialismus noch nicht zu Stereotypen verfestigt haben. Trotz aller Ernüchterung hält die koloniale Zeitschrift jedoch an ihrem Projekt ‚Kolonialstaat Deutschland’ fest. Nachdem kolonialwirtschaftliche Erfolge kurzfristig nicht zu erwarten sind, entwirft die DKZ den kolonialen Raum als nationalen Zukunftsraum für nachwachsende Generationen. Diese Zukunftsorientierung ist für Busse ein wesentliches Merkmal des nationalen Gefühls des Jahrhunderts: „Der Begriff der Nation bezeichnet daher in Deutschland im 19. Jahrhundert immer noch etwas Zukünftiges, etwas, auf das sich die Hoffnungen richteten und das erst herzustellen sei – es war ein Sollensbegriff, kein Seinsbegriff“ (Busse 1993: 14).
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7. 7.1
231
Literatur Quellen
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7.2
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232 7.3
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Die sprachliche Vereinnahmung des afrikanischen Raums
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Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart, 77–85. Schnee, Heinrich (Hg) (1920): Deutsches Koloniallexikon. 3 Bde. Leipzig. Speitkamp, Winfried (2005): Deutsche Kolonialgeschichte. Stuttgart. Speitkamp, Winfried (2007): Kleine Geschichte Afrikas. Stuttgart. van Laak, Dirk (2004): Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960. Paderborn. van Laak, Dirk (2005): Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München. Vögele, Jörg-Thomas (2004): Spatial Information Retrieval with Place Names. Online verfügbar unter http://www.elib.suub.uni-bremen.de/diss/docs/E-diss978_ voegele.pdf. Zuletzt geprüft am 16.03.2008. Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen (Hg.) (2008): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge. Berlin/New York. Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen (Hg.) (2008): Methoden und Methodologie der Diskurslinguistik. Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen. In: Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen (Hg.) (2008): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge. Berlin/New York, 3-54 Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno/Ballweg, Joachim (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin.
Katrin Otremba Stimmen der Auflehnung Antikoloniale Haltungen in afrikanischen Petitionen an das Deutsche Reich That the colonized people should not be regarded only as victims that stood defenseless against the conquest of the so called “civilized world” could be justified by the numerous resistances initiated by the indigenous people in the colonies. With the analysis of the petitions that had been sent at the end of the 20th century and the beginning of 21st century from Cameroon to Germany this article focuses one of this resistances. The aim is to discover how the indigens see the German colonialism, and how they shared the roles of the participants in their specific discourse. As we will see, the anticolonialism in the petitions does not refer to Germany in general but rather the authors of the documents trust in the objects of the German government and blame only the German functionaries in Cameroon for the abuse of their power. To understand the Cameroonian perspective it is imperative to familiar oneself with the situation from 1884. On the 12th of June the German sub-agents and the Kings of Cameroon signed a contract in which both parties entered into various commitments. Whereas the indigenous people fulfilled their part of the contract the German functionaries broke with their obligations consistently. This was the basis of the argument in the Cameroonian petitions sent to the German government. The authors often refer to this document in theirs claims. This document is fundamentally important to the understanding of the roles in this particular discourse. For this reason the contract could be regarded as the “Prototext” that influences completely the following discourse.
0.
Vorbemerkung
Das folgende Zitat stammt aus einem Brief, den King Akwa 1904 aus Kamerun an seinen Sohn Mpundo in Deutschland schreibt und verdeutlicht, dass die kolonialisierten Völker der deutschen Schutzmacht nicht ausschließlich als wehrlose Opfer gegenüber stehen: Ich setze Dich, lieber Sohn, hierdurch in Kenntnis, dass das Gewitter mein Haus bedenklich ins Schwanken bringt. Wenn Gott, der Allmächtige, nicht hilft, so weiß ich nicht, was aus dem Hause werden wird. Das Land ist jetzt in sehr starker Gärung wegen der schlechten Regierung und der Quälerei des Gouverneurs von Puttkamer [...]. Puttkamer vermehrt nur noch die schlechte Behandlung, welche das Land sicher in Aufstand bringen kann, mit jedem Gottestag. Fürwahr, mein Sohn, das ganze Land hat jetzt nur noch den Wunsch: lieber den Tod. Denn die schlechten Behandlungen sind übermäßig [...]. Das Land verlangt
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Katrin Otremba jetzt, dass wir wegen der übermäßig schlechten Behandlung von Seiten des Puttkamers, und selbst wenn wir ausgerottet werden sollten, das Gouvernement bekriegen (zitiert nach Eckert 1991: 146).
Diese Tatsache bleibt jedoch lange auf Grund einer eurozentristischen Sicht auf die Geschichte der Schutzgebiete unberücksichtigt. Ein Perspektivenwechsel der Forschung beginnt nach Speitkamp zunächst unter dem Einfluss der Neueren Kulturgeschichte, der Historischen Anthropologie sowie der Postcolonial Studies, die ihre Aufmerksamkeit auf den Protest der Kolonisierten richten. Dabei ist jedoch immer auch die Rückwirkung kolonialen Widerstands auf „die deutsche Geschichte und Erinnerungskultur” ein Forschungsanliegen, so dass sich der Fokus wieder auf die Belastung der deutschen Geschichte [richtete], auf die Kontinuitäten des Rassismus und die Vorbereitung des ‚Dritten Reichs’. Vorerst kamen nur in geringerem Maß die Nachwirkungen der deutschen Kolonialherrschaft in Politik und Erinnerungskultur der ehemaligen Kolonien in den Blick, und nur ansatzweise wurde die globale Vernetzung kolonialer Beziehungen betrachtet (Speitkamp 2005: 11).
Im Folgenden soll daher der Blick auf den Kolonialimus in den Schutzgebieten gerichtet und die Zeit unter deutscher Schutzherrschaft aus Sicht der indigenen Bevölkerung beschrieben werden. Denn ihre Stimmen sind ein Teil des Kolonialdiskurses, ihr Protest wird über die Grenzen hinweg bis ins Deutsche Reich getragen. In diesem Zusammenhang bieten zahlreiche Beschwerdeschriften, die von Vertretern der Kolonialbevölkerung an das deutsche Parlament gesendet werden, Anlass, die koloniale Verwaltung in den Schutzgebieten zu verurteilen. In einer Reichstagsrede kritisiert August Bebel anlässlich einer Beschwerdeschrift vom 19. Juni 1905, die ebenfalls Gegenstand meiner Analyse ist, das Verhalten der deutschen Beamten in den Überseegebieten: Es ist vor allen Dingen das Gefühl der Selbstherrlichkeit, das Gefühl vollständiger Unverantwortlichkeit, das diese Zustände herbeiführt. Es ist aber auch im besonderen Maße die außerordentliche Geringschätzung, die der Europäer gegen den Eingeborenen besitzt, in welchem er nicht den gleichberechtigten, den gleichwertigen Menschen sieht, die ihn veranlasst, die Brutalitäten zu verüben, deren wir so viele hier haben erwähnen müssen. Es ist ferner die Gewinnsucht, die Goldsucht, die Profitgier, die dazu anreizen, eine Reihe der bösesten Missstände in den Kolonien herbeizuführen (zitiert nach Rüger 1968: 209f.).
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Für eine diskurslinguistische Analyse kolonialen Widerstands eignet sich der Protest der Duala1 besonders. Dieser Volksstamm besiedelt die Küstenregion Kameruns und führt seine Auflehnung über viele Jahre in Form einer Petitionsbewegung. Rüger betont in seiner Studie über die historischen Ursprünge des afrikanischen Antikolonialismus die bedeutende Rolle dieser Küstenbewohner: Sie wohnten am wichtigsten Eingangstor zu dieser Kolonie, sie standen als Zwischenhändler und später auch als Kolonialuntertanen am längsten und am engsten in Kontakt mit europäischen Sklavenhändlern und Kaufleuten, mit deutschen Kolonialeroberern und Kolonialherren, wodurch ihre Sitten und Gewohnheiten, ihr Fühlen und Denken stark beeinflusst wurde, und ihre Lebensinteressen gerieten zunehmend in Gegensatz zur Politik der Kolonialmacht, die sie in ökonomischer, sozialer und politische Hinsicht herausforderte“ (Rüger 1986: 183).
Mein Interesse besteht insbesondere in der Frage nach der Wahrnehmung kolonialer Wirklichkeit seitens der Duala. Zu bedenken ist, dass im Rahmen der Analyse des Dualaprotestes lediglich diese Diskursgemeinschaft2 der deutschen Überseebesitzungen in den Blick genommen wird. Darüber hinaus sind die Petitionen der Duala ein Ausschnitt der antikolonialen Diskursformation bzw. eine Teilmenge des Kolonialdiskurses. Nach der Definition des Diskurses als virtuellem Korpus (Busse/Teubert 1994: 14) existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Texte, die einer linguistischen Analyse zugrunde gelegt werden können. 1.
Die Petition als Mittel politischer Partizipation
Die Tradition, dass sich der Untertan mit einem Gesuch an seinen Herrscher wendet, reicht bis in die römische Kaiserzeit zurück. Damals findet allerdings noch nicht der Betriff der Petition Anwendung, stattdessen 1
2
Die Separation des Duala-Volkes in verschiedene Fraktionen (vgl. Abschnitt 2) wird im Folgenden aus forschungspraktischen Gründen außer Acht gelassen. Diese Vereinheitlichung rechtfertigt sich damit, dass das Ziel der Arbeit in der Rekonstruktion einer gesamtkolonialen Wirklichkeit besteht. In diesem Sinne werden die Beteiligten der Petitionsbewegung über ihren Status als Angehöriger der kolonialisierten Bevölkerung definiert. Warnke/Spitzmüller führen den Begriff der Diskursgemeinschaft „zur Bezeichnung verschiedener Gruppierungen, die innerhalb des Diskurses mehr oder weniger ähnlichen diskursiven Praktiken verpflichtet sind bzw. sich als Kollektiv zu erkennen geben“ ein (Warnke/Spitzmüller 2008: 26).
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verwendet man den Begriff der Supplikation, der „abgeleitet von dem lateinischen Verb supplicare, ‚flehentlich bitten’, ‚vor jemanden auf die Knie fallen’, ‚sich demütigen’“ bedeutet (Schick 1996: 11). Bis hin zum Mittelalter entwickelt sich die Supplikation zu einem Rechtsgut, das standesunabhängig in Anspruch genommen wird. „Vor allem die Erforschung des bäuerlichen Widerstands im Zeitalter des Feudalismus hat gezeigt, dass noch den geringsten Untertanen ein oftmals sehr klares Bewusstsein über das Recht der Beschwerde […] eigen war“ (Tenfelde/Trischler 1986: 11). In der Aufklärung wird die Bezeichnung Supplikation dann durch den Begriff der Petition ersetzt, der sich wiederum in Bitt- und Beschwerdeschriften differenzieren lässt. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie „eine Rüge tatsächlichen oder vermeintlichen staatlichen Fehlverhaltens enthalten muss, die mit einem Änderungsbegehren verbunden ist“ (Schick 1996: 61). Mit § 156 II 20 des Allgemeinen Preußischen Landesrechts von 1794 werden zum ersten Mal Richtlinien für das Einreichen von Bittschriften rechtlich fixiert (Schick 1996: 17). Die Paulskirchenverfassung von 1848/1849 sieht ein Petitionsrecht vor, das jedem Deutschen garantiert „sich mit Bitten und Beschwerden schriftlich an die Behörden, Volksvertretungen und an den Reichstag wenden“ zu können (Terbille 1980: 46). In der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 ist das Recht auf Beschwerde nur noch implizit enthalten, da Artikel 23 lediglich das Überweisungsrecht des Reichstags betont, der an ihn gerichtete Petitionen an den Bundesrat bzw. Reichskanzler übergeben kann (Schick 1996: 18). Der verfassungsrechtliche Status der Petition ist im Deutschen Reich somit keineswegs klar definiert. 2.
Der Vertragsschluss zwischen den Duala und dem Deutschen Reich
Die Gesellschaftsstruktur der Duala ist im 19. Jahrhundert von vielfältigen Konflikten geprägt, die den sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft aufzulösen drohen. Vor diesem Hintergrund haben die Küstenbewohner bereits mehrfach die englische Königin um Hilfe gebeten, da sie befürchten, Ruhe und Ordnung in der Region nicht ohne europäische Hilfe aufrecht erhalten zu können. Dass man sich dabei mit seinem Gesuch an England wendet, erscheint nicht verwunderlich. Die Briten haben im Rahmen des Kolonialenwettstreits und im Interesse imperialer Machtausdehnung bereits Präsenz in Kamerun gezeigt. Im Jahre 1879 geht im Foreign Office ein Brief ein, dem folgender Textausschnitt entnommen ist:
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Dearest Madame, We your servants have joined together and thoughts its better to write you a nice loving letter which will tell you about all our whishes. We wish to have your laws in out town. We want to have every fashion altered, also we will do according to your consuls word. Plenty wars here in our country. Plenty murder and plenty Idol worshippers. (zitiert nach Eckert 1991: 45)
Die Konfliktlinien durchziehen die Gesellschaft sowohl horizontal als auch vertikal, was bedeutet, dass sich die Gemeinschaft in verschiedene Fraktionen separiert, innerhalb derer wiederum die Konflikte zwischen den einzelnen Klassen zunehmen. Das Auseinanderbrechen auf horizontaler Ebene beginnt 1814 als „der junge Sango a Bonambela, Ngand’a Kwa, sich gleichberechtigt als ‘King Akwa’ neben ‘King’ Bell […] stellt” (Eckert 1991: 74). King Bell vertritt bis zu diesem Zeitpunkt die Duala einheitlich nach außen und betreibt Handel mit den Europäern. Nachdem 1814 die Teilung in zwei konträre Lager erfolgt, spalten sich abermals mit den Bonabele unter Mbape (Lock Priso) sowie den Bonaebele unter Eyum Ebele (Charley Dido) zwei Gruppierungen von diesen Fraktionen ab. Zwar gelingt es Priso und Dido nicht, sich als gleichberechtigte Herrscher neben King Akwa und King Bell zu stellen, dennoch bilden alle zusammen „eine kleine politische und ökonomische Elite, die ihre Vormachtsstellung wesentlich dem wirtschaftlichen Kontakt mit den Europäern verdankte” (Eckert 1991: 77). Während die Duala-Gesellschaft zum einen von der Rivalität zwischen den vier Fraktionen geprägt ist, werden diese Gruppenverbände im Inneren wiederum von sozialen Gegensätzen erschüttert. Die Stammesbevölkerung rebelliert gegen die „HäuptlingsHändler-Oligarchie“ und die Sklaven fordern ihre Gleichstellung (Rüger 1968: 185). Diese sozialen Verhältnisse kommen den deutschen Handelsvertretern beim Abschluss des Schutzvertrages durchaus zu gute. Denn die Bereitschaft unter deutschen Schutz zu treten, erfolgt auf Seiten der Kameruner Herrscher unter anderem aus der Überlegung heraus, dass sie mit dem Vertragsabschluss ihre politische Macht festigen können. Somit dient der Schutzvertrag vor allem ihrer Anerkennung als Herrscher und damit einhergehend der Positionierung den eigenen Untergebenen gegenüber. Die Unterschrift der Kings erfolgt damit nicht aus einem Akt der Unterwürfigkeit heraus, sondern zeugt vielmehr von ihrem politischen Kalkül. Die Vertragsunterzeichnung manifestiert jedoch nicht nur die Herrschaft innerhalb der Duala-Gesellschaft. Denn durch die Unterschriften aller Beteiligten werden die Kings ebenfalls von den Kaufleuten und später auch vom Deutschen Reich als Verhandlungspartner anerkannt und offiziell in ihrer Souveränität bestätigt. Die Problematik dieser Situation
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besteht darin, dass man auf deutscher Seite „Verträge [abschließt] mit Personen, die man völkerrechtlich als Vertragspartner eigentlich nicht akzeptierte” (Speitkamp 2005: 28). Für den Schutzvertrag bzw. dessen Inhalt, der die Richtlinien enthält, unter denen die Etablierung der deutschen Schutzherrschaft erfolgen soll, hat das zur Folge, dass er für die Vertreter des deutschen Reichs rechtlich nicht bindend ist. Im Gegensatz dazu messen die Kameruner Herrscher diesem Dokument bindenden Charakter bei. Doch der Schutzvertrag stellt in der Folgezeit nicht die einzige Problematik dar. Denn bereits vor der Vertragunterzeichnung verfassen die Duala ein Schriftstück, in dem sie einige Bedingungen für die zukünftige Schutzmacht als richtungsweisend festlegen. Der deutsche Konsul Emil Schulze unterzeichnet dieses Dokument und stimmt damit den Wünschen der Kings zu. Diese schützen mit dem Dokument unter anderem ihr Zwischenhandelsmonopol und verlangen von den Kolonisatoren, dass sie nicht mit den Bewohnern des Landesinneren in wirtschaftliche Verhandlungen treten (Buchner 1914: 70). Als den Duala mit der Zeit bewusst wird, dass die Beamten des Gouvernements in Kamerun weder dem Schutzvertrag noch der von Konsul Schulze unterzeichneten Vereinbarung Bedeutung beimessen und sich zunehmend über die vereinbarten Richtlinien hinwegsetzen, beginnt ihr Protest in Form der Petitionsbewegung. 3.
Das Korpus
Das Korpus besteht aus neun Eingaben unterschiedlichen Umfangs, die in der Expansions- und Krisenphase (1890-1906) sowie in der Zeit der Kolonialreform (1906-1914) verfasst werden (Warnke i.d.B.: 50). Die erste ist von Häuptlingen der Akwa-Fraktion unterzeichnet und erreicht den deutschen Reichstag am 19. Juni 1905 (P190605). Am 30. Januar 1906 verfasst Mpundo Akwa, Sohn des King Akwa, drei weitere Petitionen. Er sendet sie an den deutschen Kaiser (P300106K) und den Reichskanzler (P300106RK) sowie einen Adressaten, der sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr erkennen lässt (P300106). Am 29. Oktober 1906 verfasst King Akwa eine Eingabe, die noch vor Beendigung während einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt wird (P291006). Dem Inhalt lässt sich jedoch entnehmen, dass sie an den Reichstag gerichtet war. Eine fünfte Petition wird von dem Häuptling der Malimba, Mukoko Manganga, entworfen (P000006). Sie wird ebenfalls von den Behörden beschlagnahmt. Der Adressat lässt sich in diesem Fall allerdings mehr nicht erkennen. Manga
Stimm men der Auflehn nung
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Abb. 1: Der Scchutzvertrag vo A on 1884. Mit ihm m behalten sich h die Duala dass Recht a ihrem Grun an nd und Boden vor (Punkt 3) und schützen n ihre landestyp pischen B Bräuche vor Eingriffen E der deutschen d Schuutzmacht (Punkkt 5). Der Wideerstand d Duala nach der h der Jahrhundeertwende bezieh ht sich unter an nderem auf diese zwei P Punkte.
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Bell verfasst am 8. März (P080312) und am 21. November 1912 (P211112) eine Eingabe, die er jeweils an den deutschen Reichstag bzw. den Gouverneur in Kamerun sendet. Darüber hinaus erreicht das kaiserliche Gouvernement in Buea erneut eine Beschwerdeschrift am 20. Februar 1913 (P200213). Eingabe der Akwa Häuptlinge vom 19. Juni 1905 (P190605). Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar an den Kaiser (P300106K) Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar 1906 an den Reichskanzler (P300106RK). Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar 1906 ohne Adressierung (P300106). Eingabe King Akwas an den Reichstag vom 29. Oktober 1906 (P291006). Eingabe Mukoko Mangangas ohne Datum und Adressierung (P000006). Eingabe Eingabe King Bells vom 8. März 1912 an den Reichstag (P080312). Eingabe King Bells vom 21. November 1912 an das kaiserliche Gouvernement (P211112). Eingabe King Bells vom 20. Februar 1913 an das kaiserliche Gouvernement (P200213).
Alle im Korpus enthaltene Texte zeichnen sich durch eine argumentative Themenentfaltung aus, d.h. dass der jeweiligen Bitte oder Beschwerde Gründe zur Seite gestellt werden, die den Adressaten zum Handeln veranlassen sollen. Petitionen, die keine argumentative Themenentfaltung enthalten, werden nicht mit in das Korpus aufgenommen3. Auf diese Weise wird die Einheitlichkeit des Textmaterials auf makrostruktureller Textebene gewährleistet. Die Petitionen stehen in einem thematischen Zusammenhang, da die Verfasser mit ihnen generell gegen die Politikführung innerhalb der Kolonien protestieren. Sie setzen dabei verschiedene thematische Schwerpunkte. In den Jahren 1905/1906 protestieren die Petenten vor allem gegen willkürliche und menschenverachtende Handlungen der Reichsbeamten. Darüber hinaus bilden verschiedene Verordnungen, die zum Beispiel das Jagdrecht und die Gerichtsbarkeit betreffen, einen weiteren Themenschwerpunkt. In den Jahren 1912 und 1913 erheben die Duala dann gegen das Enteignungsverfahren und die damit verbundene Zwangsumsiedlung Einspruch. Den Bitten der einzelnen Eingaben, die bestehenden Verhältnisse zu verändern, verleihen die Petenten auf verschiedene Art und Weise Ausdruck. Mpundo Akwa formuliert z.B. sein Gesuch in der Petition an 3
Das betrifft die Bittschrift, die King Bell 1902 während seines Besuchs im Deutschen Reich verfasst sowie eine Eingabe Mpundo Akwas vom 29. August 1906. Aus Gründen der Einheitlichkeit ist darüber hinaus die Petition vom 29. Oktober 1892, da sie auf Englisch verfasst wird und die Petition vom 27. Mai 1899 vom Korpus ausgeschlossen. Letztere wird von A. Sylvester Williams als Vertreter der African Association in London für die Bewohner Kameruns geschrieben und wird somit nicht, wie die restlichen Dokumente, von Kolonialisierten innerhalb des Schutzgebietes Kamerun verfasst.
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den Reichskanzler allgemein, da er bittet „[die] Beschwerde geneigtest zu erledigen oder der zuständigen Stelle zur Erledigung zu überweisen“ (P300106RK). Im Gegensatz dazu benennen beispielsweise die Häuptlinge in der Petition vom 19. Juni 1905 ihr Anliegen konkret und fordern den Reichstag dazu auf, „sämmtliche jetzige Gouvernementsbeamte des Schutzgebietes ‚Kamerun’ [...] fort räumen zu wollen“ und „uns Consulat statt Assessorismus senden zu wollen“ (P190605). Neben dem thematischen Zusammenhang wird die Einheitlichkeit des Korpus dadurch gewährleistet, dass die Petitionen in einem intertextuellen Zusammenhang stehen. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass die einzelnen Petitionen Bezug aufeinander nehmen4. In der Beschwerdeschrift vom 20. Februar 1913 protestieren die Duala gegen die Enteignung und verweisen zur Stützung ihrer Argumentation auf Gründe, die sie bereits in einer Schrift vom 8. März 1912 sowie dem 21. November 1912 formulieren: Würde man gegen den Enteignungsbeschluss selbst etwas vorzubringen haben, so könnte man unter Hinweis auf die in Abschrift dem Gouvernement vorliegende Petition an den deutschen Reichstag vom 8. März 1912 und auf die an den Herrn Gouverneur persönlich gerichtete Eingabe vom 21.11.12, aus denen eine Reihe stichhaltigere Gründe geschöpft werden wolle, Folgendes beanstanden [...] (P200213).
Die Adressaten, an die sich die Eingaben jeweils richten, werden entweder explizit benannt oder lassen sich anhand des Kontextes bzw. historischen Zusammenhangs rekonstruieren. Mit dem Gouvernement in Kamerun, dem deutschen Kaiser, dem Reichskanzler und dem Reichstag sind die Petitionen sämtlich an Repräsentanten des Deutschen Reichs gerichtet. Allerdings werden die Beschwerden durch die Veröffentlichungen und Kommentierung in verschiedenen Zeitungen innerhalb des Reichs einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Beispielsweise wird die Eingabe vom 19. Juni 1905 am 10. Februar 1906 in der Leipziger Volkszeitung in vollem Wortlaut abgedruckt. Die Reichspresse reagiert in unterschiedlicher Art und Weise auf die Enthüllung des Fehlverhaltens ihrer Reichsbeamten in den Schutzgebieten, wie Rüger (1968) darstellt. Die regierungstreuen und einige der bürgerlichen Blätter verurteilen in ihren Veröffentlichungen die Beschwerdeführer. Die Hamburger Nachrichten fordern, „daß ... den Duala mit voller Deutlichkeit zum Bewusstsein gebracht wird, daß jede Regung des Widerstands und Aufhetzung gegen die Regierung unnachsichtlich 4
Mit der thematischen Einheitlichkeit, der Intertextualität sowie der Beschränkung auf eine argumentative Themenentfaltung innerhalb der Textsorte Petition wurden die inhaltlichen Kriterien der Korpusbildung nach Busse/Teubert 1994 berücksichtigt.
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und schleunigst bestraft wird“. Dem schließt sich die Deutsche Tageszeitung an und befürwortet darüber hinaus, auch die Kollaborateure auf deutscher Seite zu bestrafen. Das Blatt fordert „eine empfindliche Zurechtweisung ... (des) arbeitsscheuen und übermütigen Negerstammes und seiner weißen Helfer“. Die Unterstützer des kameruner Widerstandes finden sich im sozialdemokratischen Lager. Im Vorwärts veröffentlichen sie unter anderem zahlreiche Artikel, in denen die Politik Jesko von Puttkamers (18551917)5 verurteilt wird. Bezüglich der Enteignung der Duala bezieht der Vorwärts folgende Stellung: Der ganze Witz bei der Sache ist eben der, dass man die Duala loswerden, dass man sie die Unterjocherfaust einmal fühlen lassen will ... Die weiße Rasse soll nun einmal die Herrenrasse sein. Millionen von Eingeborenen lassen sich eben nur dann durch eine winzige Minderheit von Weißen beherrschen und nach allen Regeln der Kunst ausbeuten, wenn die Weißen als die Herrenrasse bedingungslos gefürchtet und angestaunt werden ... und deshalb muss auf räumliche Trennung gesehen werden (zitiert nach Rüger 1968: 239f., kursiv im Orig.).
Die Debatten in Presse und Parlament bestärken die Duala darin, die deutsche Öffentlichkeit für die Umsetzung ihrer Anliegen zu nutzen: „Auf geheimen Zusammenkünften [...] besprachen sie die von Mpundu Akwa aus Deutschland übermittelten Nachrichten über die Reichstagsdebatten und die Haltung der Presse und berieten, was weiter zu tun sei“ (Rüger 1968: 210). Gegen Ende der Kolonialzeit, vor dem Hintergrund der Enteignung, setzen die Petenten die deutsche Presse dann gezielt als Mittel der Meinungsbeeinflussung ein. Im Dezember 1913 sendet Rudolf Manga Bell folgende Zeilen an den Berliner Journalisten Hellmut von Gerlach: jetzt [...] dürfte es zweckmäßig sein, wieder einige Notizen in die Zeitungen zu bringen, denn die Sache, wie sie hier behandelt wird, ist unhaltbar. Wenn nicht die öffentliche Meinung in Deutschland eingreift, desgleichen der Reichstag, so sind wir verloren und um zu retten, was zu retten ist, wird man wohl Ferne suchen müssen [...] (zitiert nach Rüger 1968: 234).
4.
Die Koloniale Petition als Textmuster
Dass sich die Kolonialisierten der Petition als Mittel der politischen Einflussnahme bedienen, zeugt zum einen von der Kenntnis über die politische Kultur der Schutzmacht, innerhalb derer die Bitt- und Beschwerde5
Von 1895 bis 1907 Gouverneur in Kamerun.
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schriften ein tradiertes und legitimes Mittel politischer Partizipation darstellen. Darüber hinaus belegt die Analyse der Beschwerdeschriften ebenfalls Wissen um die Textsorte Petition, wie gezeigt werden kann. Die kolonialen Eingaben können als Textmuster definiert werden, die in Anlehnung an die konventionalisierten Merkmale der Textsorte Petition entstehen, aber im Rahmen der Kommunikationssituation eine Veränderung erfahren6. Dies ist möglich, da es innerhalb einzelner Textsorten zwar „konstitutive Elemente [gibt], die jedoch nicht in jedem Fall obligatorisch sind“ (Sandig 2006: 497). Die Petitionen aus Kamerun weisen in diesem Zusammenhang mit der salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und conclusio die für die Textsorte Petition charakteristischen inhaltlichen Elemente auf. Diese variieren jedoch teilweise in Anordnung und Ausgestaltung. In einigen der Beschwerdeschriften sind auch nicht alle charakteristischen Textelemente realisiert. Der Begriff der salutatio steht für die Anrede zu Beginn. In der captatio benevolentiae nennt der Verfasser den Zweck seines Schreibens und versucht den Adressaten für sein Anliegen zu gewinnen. Die Begründung der Bitte wird innerhalb der narratio geleistet, während das eigentliche Gesuch in der petitio formuliert wird. Die conclusio beinhaltet eine abschließende Formulierung sowie die Unterschrift des Bittstellers (vgl. Karweick 1989). Die für das Textmuster koloniale Petition umfassendste Kategorie ist die narratio. Sie schildert diejenigen Umstände, die die Notlage der Verfasser verursachen und begründet damit die vorgetragene Bitte. Diese Funktion wird unter anderem durch die Beschreibung der in den Schutzgebieten herrschenden Verhältnisse bzw. durch die Schilderung der Verhaltensweisen deutscher Reichsbeamter in Kamerun realisiert. Aus diesem Grund bildet die narratio das zentrale Textelement der Analyse, da hier die Schilderung der kolonialen Wirklichkeit, wie sie die indigene Bevölkerung erlebt, stattfindet. Hier erfolgt die Implementierung derjenigen Sachverhalte, die das Eingreifen der Schutzmacht erfordern. Die Konstruktion der einzelnen Sachverhalte erfolgt dabei durch die Anwendung von Schlussregeln. Unter Rückgriff auf das Toulmin-Schema können die Strukturen solcher Schlussverfahren verdeutlicht werden. Eine Argumentation besteht demnach aus bereichsunabhängigen Elementen, die unabhängig vom Inhalt in jedem Schlussverfahren zu finden sind. Das ist zum einen die Konklusion (C), also die strittige Behauptung, deren Wahrheitsgehalt be6
Der Textmusterbegriff geht auf Sandig zurück. Ein Textmuster ergibt sich aus „dem Zusammenhang von (nicht-sprachlichem) Handlungstyp und (sprachlicher) Textsorte“, womit der Einfluss des sozialen Kontextes auf den Produktionsprozess betont wird (vgl. Sandig: 2006).
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wiesen werden soll. Ihre Glaubwürdigkeit wird mit Hilfe von Tatsachen (D) bewiesen. Die Schlussregel (W) setzt die angeführten Daten und die Konklusion in Beziehung und kann damit als das Bindeglied dieser beiden Elemente bezeichnet werden. Ihre Gültigkeit kann auf die Stützung (B) zurückgeführt werden. Die Stützung besteht aus „weitere[n] Versicherungen, ohne die die Schlussregel[] selbst weder zulässig noch geläufig wäre[]“ (Berk 1975: 94). Anhand der folgenden Textstelle soll die Anwendung des ToulminSchemas auf argumentative Texte verdeutlicht werden. In der Petition vom 20. Februar 1913 begründen die Duala mit diesem Argument die Aufforderung, den Enteignungsbeschluss vom 15. Januar selbigen Jahres zurückzunehmen: Dadurch, dass die Regierung sich zur Enteignung des Grund und Bodens der Duala-Eingeborenen entschlossen hat, hat sie sich der Verletzung der Bestimmungen des mit den Vertretern der Firma C. Woermann und Jantzen & Thormählen abgeschlossenen politischen Vertrages vom 12. Juni 1884, dessen Verpflichtungen später ausdrücklich von dem deutschen Reiche übernommen worden sind, also sich des Vertragsbruchs schuldig gemacht. Denn nach diesem Vertrag sind den dem deutschen Reiche abgetretenen Hoheitsrechten gewisse 7 Schranken gesetzt worden (P200213).
Stellt man die Textstelle mit dem Toulmin-Schema dar, ergibt sich folgende Illustration:
C Die Regierung macht sich mit dem Enteignungsbeschluss des Vertragsbruchs schuldig
W Wenn den deutschen Hoheitsrechten Schranken gesetzt sind, macht sich die Regierung mit dem Enteignungsbeschluss des Vertragsbruchs schuldig
D Dem deutschen Reich abgetretene Hoheitsrechte sind Schranken gesetzt
B Der Vertrag von 1884
Abb. 2: Die Struktur von Argumentationen nach Toulmin. 7
In den Zitaten werden Wortlaut und Zeichensetzung der Petitionen beibehalten.
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In der Argumentation stellen die Petenten die Behauptung auf, das sich die Deutsche Regierung mit dem Enteignungsbeschluss des Vertragsbruchs schuldig mache. Dieser Behauptung kommt im Toulmin-Schema die Funktion der Konklusion (C) zu. Ihren Wahrheitsgehalt belegen die Petenten mit der Tatsache, dass sie den Hoheitsrechten, die sie vor dem Hintergrund des Vertragsschlusses an das Deutsche Reich abtreten, Schranken setzen (D). Der Übergang von diesem Argument zur Konklusion wird durch eine quasi logische Folgerung in Form der Schlussregel (W) ermöglicht: Wenn den deutschen Hoheitsrechten Schranken gesetzt sind, macht sich die Regierung mit dem Enteignungsbeschluss des Vertragsbruch schuldig. Die Gültigkeit der Schlussregel wird wiederum durch die Stützung (B) garantiert. In diesem Fall ist es der Schutzvertrag von 1884, in dem sich die Duala ausdrücklich das Recht über ihren Grund und Boden vorbehalten (vgl. Punkt 3 des Vertrages). Für die Analyse größerer Textkorpora beinhaltet die Nutzung dieses Schemas jedoch zwei prinzipielle Probleme. Das eine besteht zunächst in der Tatsache, dass solche expliziten Argumentationen „stark kontext- und einzeltextspezifisch [sind] und daher prinzipiell in unendlicher Zahl vorhanden“ sein können (Wengeler 2003: 278). Die zweite Problematik ergibt sich durch die Tatsache, dass in Argumentationsverläufen auf Schlussregeln nur implizit Bezug genommen werden kann, was zur Folge hat, dass sie in Argumentationen nicht mehr explizit genannt, sondern als bekannt vorausgesetzt werden (vgl. Berk 1975). Daher ist es notwendig, eine Methode anzuwenden, mit deren Hilfe auch die in Texten implizit enthaltenen Schlussverfahren bzw. Schlussregeln aufgedeckt werden können. Die Analyse so genannter Topoi bietet hier einen geeigneten Ansatz. 5.
Koloniale Petitionen und Argumentations-Topoi
In Anlehnung an Kienpointer (1992) kann unter einem Topos eine argumentative Schlussregel verstanden werden, die einen Bestandteil des kollektiven Wissens darstellt und auf deren Basis Sprecher Sachverhalte herstellen (Wengeler 2003: 262). Kienpointer kategorisiert sechzig formale, d.h. kontextabstrakte Topoi, die „in Argumentationen als Schlussregeln funktionalisiert werden“ (Kienpointer 1992: 232). Diese plausiblen Muster der Alltagsargumentation definiert er über semantisch-inhaltliche Beziehungen, wie zum Beispiel Kausalrelationen der Ursache-Wirkung, der Grund-Folge oder des Mittels und Zwecks. Das Auffinden einer kausalen Schlussfolgerung innerhalb eines argumentativen Verlaufs gibt jedoch keinen Einblick in die thematischen Inhalte der konkreten Argumentation.
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Deshalb ist es notwendig, dass der abstrakte Toposbegriff Kienpointers im Rahmen einer linguistischen Diskursanalyse modifiziert bzw. konkretisiert wird. Wengeler (2003) operationalisiert den Toposbegriff dahingehend, „dass er Aufschlüsse über kollektives, gesellschaftliches Wissen gibt, welches im Rahmen thematisch bestimmter öffentlicher Diskurse entweder explizit zur Sprache kommt oder in sprachlichen Äußerungen in Texten als verstehensrelevantes Hintergrundwissen zugrunde gelegt und evoziert wird“ (Wengeler 2007: 165). Das Resultat sind Topoi mittleren Abstraktionsniveaus, „also für einen thematischen Bereich […] inhaltlich bereits angereicherte Muster“, die auf Grund ihrer Abstraktivität sowohl befürwortend als auch ablehnend für eine infrage stehende Position verwendet werden können (Wengeler 2003: 279)8. Da die kontextspezifischen Argumentationsmuster9 im Sinne Wengelers Bestandteile des sozialen Wissens sind, ermöglicht ihre Analyse die Rekonstruktion gruppenspezifischer Wahrnehmungen bzw. Denkweisen über gesellschaftlich relevante Themen. Die Schlussregel des oben angeführten Textausschnitts (Abb. 1.2.) Wenn den deutschen Hoheitsrechten Schranken gesetzt sind, macht sich die Regierung mit dem Enteignungsbeschluss des Vertragsbruchs schuldig, basiert vor diesem Hintergrund auf einem allgemeineren Argumentationsmuster, weshalb sie sich abstrahieren und in den kontextspezifischen GESETZTES-TOPOS überführen lässt: „WEIL EIN GESETZ ODER EINE ANDERWEITIG KODIFIZIERTE NORM ODER EINE GERICHTLICHE ENTSCHEIDUNG EINE BESTIMMTE HANDLUNG VORSCHREIBT BZW. NAHE LEGT / VERBIETET, SOLLTE DIESE AUSGEFÜHRT / NICHT AUSGEFÜHRT WERDEN“ (Wengeler 2003: 309).
8 9
9
Zur Bezeichnung von Topoi greift Wengeler mit dem Begriff des Potentialitätsmerkmals auf die Terminologie Bornscheuers zurück (vgl. Wengeler 2007). Die Schlussverfahren, die innerhalb einzelner Argumentationen zur Anwendung kommen, werden im Rahmen der Toposanalyse nicht nach dem Kriterium der Wahrheit beurteilt und können deshalb auch nicht aus wissenschaftlicher Perspektive als formallogisch bezeichnet werden. Wengeler definiert sie in Anlehnung an Aristoteles vielmehr als rhetorische Syllogismen, die auf Plausibilität abzielen (Wengeler 2007: 167). Als Topoi werden dabei solche Argumentationsmuster gewertet, die in mindestens drei Petitionen aufzufinden sind. Dabei werden nur die Argumentationen berücksichtigt, die von Petenten entfaltet werden. Diese werden teilweise unter Rückgriff auf die Bestätigung durch Autoritäten bekräftigt. Da dieses Verfahren dem eigentlichen Sachverhalt aber keine neuen Details hinzufügt, werden solche Aussagen in der Auszählung der Topoi nicht berücksichtigt.
Stimmen der Auflehnung
6.
249
Die Topoi der kolonialen Petitionen
Im Folgenden möchte ich nach dieser Verfahrensweise belegte Topoi der kolonialen Eingaben darstellen. Die Reihenfolge ihrer Darstellung resultiert aus der Häufigkeit ihres Erscheinens. Von insgesamt sieben dokumentierten Argumentationsmustern, die sich durch eine regelmäßige Verwendung auszeichnen, gehen der NUTZEN-TOPOS, der RECHTS-TOPOS, der TOPOS DER WIDERSPRUCHSFREIHEIT sowie der TOPOS DER POLITISCHEN ZIELE auf Wengeler zurück (vgl. Wengeler 2003: 300ff.). Der WILLKÜR-TOPOS, der LOYALITÄTS-TOPOS und der TOPOS DER VERSCHLEIERTEN ZIELE resultieren aus der Analyse der Petitionen. (a) Der Willkür-Topos Dieses Argumentationsmuster ergibt sich aus der spezifischen Analyse der kolonialen Eingaben. Es findet ausschließlich in der ersten Phase der schriftlichen Protestbewegung Anwendung. In der Eingabe vom 19. Juni 1905 sowie einer Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar 1906 wird die Argumentation ausschließlich unter Rückgriff auf dieses Muster geführt. Im Rahmen des WILLKÜR-TOPOS beschreiben die Petenten eine Realität, in der die Reichsbeamten vor Ort Willkür, Härte und Menschenverachtung als Mittel ihrer Politik einsetzen. Die Darstellung dieser Wirklichkeit erfordert wiederum das Einschreiten der Schutzmacht und legitimiert das Gesuch nach Hilfe. Weil Menschen willkürliche Handlungen (nicht) begehen bzw. gegen die Menschenrechte (nicht) verstoßen, sollten Maßnahmen ergriffen werden, die zur Unterlassung dieser Handlungen führen.
Die Argumentation qua WILLKÜR-TOPOS erfolgt über das Anführen von Beispielen, in deren Zentrum vor allem die Personen von Puttkamer und von Brauchitsch stehen. Das Unberechenbare ihrer Regierungsweise findet unter anderem Ausdruck in der Verurteilung Unschuldiger und der Verhängung von Sippenhaft. In der Petition vom 19. Juni 1905 heißt es hierzu: Steuerzwang. Am 7. Januar 1905 lud Herr Regierungs-Rath v. Brauchitsch sämmtliche Häuptlinge und Familien-Oberhäupter vor, wir erschienen, und er sperrte von den Häuptlingen und Familien-Oberhäuptern 60 Personen 8 Tage lang ein, darum, weil die Familien-Mitglieder dieser Häuptlinge und der Familien-Oberhäupter ihre Steuer nach der Schilderung auf (Seite 5) Nro. 4 nicht bezahlt haben. Die verhafteten Häuptlinge und Familien-Oberhäupter haben 8
250
Katrin Otremba Tage lang unter Zwangsarbeit zur Verbüßung der schuldigen Steuerbeträge ihrer Untergebenen im Gefängnis gebrummt (P190605).
Außerdem werfen die Petenten in dieser Beschwerdeschrift Regierungsrat von Brauchitsch „schändliche[n] Gebrauch der Amtsgewalt“ vor (P190605). Mpundo Akwa schließt sich dieser Beschuldigung an. In der Petition vom 30. Januar 1906 klagt er Regierungsrat Brauchitsch an, dass dieser seine Position ausnutze, um über ihn, den Sohn des King Akwa, falsche Auskünfte zu erteilen. Darüber hinaus verurteilen die Duala die „Niederträchtige Vernichtung fremder Güter” (P190605) sowie die Zerstörung ihrer Häuser, der keine Entschädigung folgt (P300106RK), auf der Grundlage dieses Argumentationsmusters. Der WILLKÜR-TOPOS belegt ebenfalls den inhumanen Umgang der Kolonisatoren mit dem Volk der Duala. Der King von Malimba verurteilt in seiner Beschwerdeschrift z.B. die Behandlung seines Stammes durch die deutschen Reichsbeamten: Unser Bezirksamtmann von Soden achtet uns nicht als Menschen, sobald 2 Malimba-Leute einen Prozess, es mag sein in Zivil oder Strafsache vorbringen, so lässt er stets zunächst den Angeschuldigten über das Faß spannen und demselben mittels einer Seekuhpeitsche 25 Hiebe überziehen, bevor er die Untersuchung des Prozeßes vornimmt (P000006).
(b) Der Nutzen-Topos Er wird auch als pragmatisches Argument bezeichnet, da mit ihm für oder gegen die Ausführung von Handlungen oder Entscheidungen auf der Grundlage der zu erwartenden Folgen argumentiert wird: Weil eine Handlung einen / keinen Nutzen bzw. Schaden erbringt, sollte sie ausgeführt / nicht ausgeführt werden.
Innerhalb der Petitionen findet diese Schlussregel auf unterschiedliche Bereiche Anwendung, wobei sich die von den Petenten prognostizierten Folgen auf wirtschaftliche, gesundheitliche sowie kulturelle Schäden beziehen. In der Petition, die Mpundo Akwa 1906 an den Reichskanzler sendet, lässt sich der NUTZEN-TOPOS zum ersten Mal belegen. Aus einer pragmatischen Perspektive heraus wird in diesem Schriftstück gegen die Beschränkung des Jagdrechts und die Verdrängung King Akwas aus der Gerichtsbarkeit und damit einhergehend gegen die Veränderung gültigen Rechts protestiert. Das Argumentationsmuster basiert auf einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise und vor diesem Hintergrund ist es zunächst
Stimmen der Auflehnung
251
King Akwa, der unter den Folgen der kolonialen Politikführung zu leiden hat. Während der NUTZEN-TOPOS in den Jahren 1905 und 1906 lediglich in dieser Eingabe belegt werden kann, ist er das wesentliche Argumentationsmuster in den Petitionen der Jahre 1912 bzw. 1913, deren Gegenstand die Enteignung bzw. die damit verbundene Zwangsumsiedlung der Duala bildet. Die durch die politischen Maßnahmen Geschädigten sind jetzt die Eingeborenen bzw. das Duala-Volk. Das Argumentationsmuster umfasst zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur wirtschaftliche Nutzenaspekte, sondern ebenfalls kulturelle und solche, die bei Wengeler unter den TOPOS VOM MENSCHLICHEN NUTZEN fallen. Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass die einzelnen Geltungsbereiche dabei teilweise in einander übergehen und sich zum Beispiel wirtschaftliche und menschliche Nutzenaspekte innerhalb der Argumentation nicht mehr trennen lassen. Wie schon wiederholt dargetan, ist die geplante Enteignung eine Lebensfrage für die Eingeborenen, weil ihre Existenzfähigkeit für alle Zukunft, die ausschliesslich auf dem Fischfang und Farmbau liegen wird, von dem Ausfall der Enteignung abhängt. Die Eingeborene brauchen unbedingt ihre bisherige Bade- und Kanu-Anlegestellen am Kamerunfluss, um ihre grossen Fischerei und sonstigen Kanufahrten regelmäsig unternehmen zu können. Dies ist umso notwendiger als ein grosser Teil der Eingeborenen ausschließlich durch Fischfang und Farmbau ihre Nahrung zu verdienen gezwungen ist, drängt man die Eingeborenen aber von dem Strand so weit zurück, dass ihnen der Verkehr zwischen den Wohnplätzen und dem Fluss ganz gesperrt wird, so bedeutet die Enteignung weiter nichts, als wirtschaftlichen Sturz und bildet für die Eingeborenen die ernste Gefahr, dass ihre Existenzmöglichkeit für alle Zukunft ganz in Frage steht (P211112).
Neben der Argumentation contra Enteignung, wird das pragmatische Argument ebenfalls verwendet, um für den Verbleib der Duala an ihren bisherigen Wohnplätzen bzw. für die Rückgängigmachung des Enteignungsbeschlusses zu argumentieren. (c) Der Rechts-Topos Im Rahmen der Petitionen wird dieses Argumentationsmuster verwendet, um gegen Handlungen bzw. erlassene Verordnungen der deutschen Schutzmacht auf rechtlicher Grundlage zu argumentieren. Er beinhaltet sowohl Argumentationsmuster die explizit auf eine gesetzliche Kodifizierung verwiesen, als auch solche, die dies nicht tun und wird damit in einer vereinfachten Art und Weise angeführt (vgl. Faulstich 2002: 22).
252
Katrin Otremba Weil ein Gesetz, das kodifizierte Recht oder eine gerichtliche Entscheidung eine bestimme Handlung oder Entscheidung nahe legt oder verbietet, ist eine Handlung / Entscheidung zu befürworten / abzulehnen.
Der RECHTS-TOPOS lässt sich in drei Petitionen der Jahre 1905 und 1906 belegen und richtet sich dort gegen unterschiedliche Maßnahmen. In der Eingabe vom 19. Juni 1905 wird dieses Argumentationsmuster zunächst verwendet, um die Handlungen der Reichsbeamten in Kamerun als Vertragsbruch zu verurteilen. Darüber hinaus wird gegen das Handelsverbot im Edea-Gebiet, sowie gegen die bereits erwähnte Beschränkung des Jagdrechts und das Verbot der Versteuerung auf juristischer Grundlage argumentiert. In den Petitionen am Ende der Kolonialzeit lässt sich der RECHTS-TOPOS nur in der Eingabe vom 20. Februar 1913 belegen, dort ist er allerdings das dominierende Argumentationsmuster. Auf der Basis des Schutzvertrags von 1884 wird die Enteignung als Vertragsbruch deklariert (siehe Abb. 1.2.). Des Weiteren dient das Dokument auch dazu, die Behauptung der Okkupation des Dualagebietes und die damit einhergehende Übertragung des Verfügungsrechts über Grund und Boden an die Deutschen, zu entkräften: Aus diesem Grunde kann die Ansicht des Oberregierungsrates Gerstmeyer in seiner Anmerkung 1 zum § 1 des Schutzgebietsgesetztes (S. 12) durchaus nicht voll und ganz zugestimmt werden, dass die Schutzgebiete nicht etwa Protektorate im völkerrechtlichen Sinne seien, weil das deutsche Reich durch Okkupation die volle Souveränität über sie erworben habe und ferner dass „die Abmachung (also die Verträge) nach welchen den Häuptlingen einzelne Hoheitsrechte belassen wurden, inzwischen grösstenteils, wie z.B. in Kamerun infolge Zeitablaufs bedeutungslos” geworden sein. Dass diese Ansicht rechtsirrig ist, hat selbst der Herr Gouverneur und der Herr Bezirksamtmann mehrere Male schriftlich und mündlich bestätigt, und von denselben [ist] die Vertragsbestimmung, wonach der Grund und Boden in Eigentum der Eingeborenen bleibt, sodass den letzteren allein das Verordnungs- und Verfügungsrecht darüber zusteht, anerkannt worden. […]. Die Okkupation nach res nullius cedit occupanti besteht also nicht (P200213).
Während die Petenten den Schutzvertrag in einigen Belegstellen explizit als argumentative Stützung benennen, lässt er sich auch an Stellen, an denen nicht ausdrücklich auf ihn referiert wird, als Legitimationsbasis der Schlussregel erkennen. Mpundo Akwa argumentiert etwa in seiner Eingabe an den Reichskanzler gegen die Beschränkung des Jagdrechts mit dem Verweis, dass diese Gepflogenheit seit Menschengedenken bestehe (P300106RK). Damit wird die Jagd aus einer gewohnheitsrechtlichen Perspektive beschrieben und ist somit in den Bräuchen der Kameruner Be-
Stimmen der Auflehnung
253
völkerung verankert. Im Vertrag von 1884 verpflichteten sich jedoch die deutschen Vertreter und damit später ebenfalls das Deutsche Reich die Traditionen der indigenen Bevölkerung zu respektieren. (d) Der Loyalitäts-Topos Ebenso wie der WILLKÜR-TOPOS resultiert der LOYALITÄTS-TOPOS aus der Analyse des Petitionskorpus. Er kommt in insgesamt vier Petitionen der Jahre 1906, 1912 und 1913 vor und ist in der Eingabe, die am 29. Oktober 1906 im Rahmen einer Hausdurchsuchung bei King Akwa beschlagnahmt wird, das dominierende Argumentationsmuster. Weil sich eine Person / Gruppe von Personen immer loyal zu einer anderen Person / Gruppe von Personen verhält bzw. verhalten hat, sollte sich letztere in gleicher Weise zu ersterer verhalten.
In der Petition vom 29. Oktober 1906 beschreibt King Akwa wie er und seine Häuptlinge die „Etablisierung der deutschen Herrschaft in Fried’ und Freude einstimming auf(nahmen)“, seinen Wunsch, „dass das ganze Kamerun-Gebiet unter den Schutz unseres großmächtigen Kaiser des deutschen Reichs“ trete und wie er aus diesem Grund gegen die Wangamba-Leute kämpfte, „bis sie sich der Oberherrschaft unseres großmächtigen Kaisers in Frieden ergaben“ (P291006). Mpundo Akwa beschreibt seinen Vater in der Petition, die er 1906 an den Kaiser sendet, ebenfalls als loyalen Untertan, der die Ruhe und Ordnung aufrechterhält. In der Tat darf sich King Akwa zu den treusten Untertanen Ew. Majestät rechnen. Ew. Majestät wird nicht unbekannt sein, dass auch in Kamerun unter den Eingebornen hier und da Strömungen entstanden sind, die sich gegen das Deutsche Reich zu richten scheinen. King Akwa hat aber stets mit energischer Hand jeden Versuch, ihn in eine solche Störung hineinzuziehen, von sich gewiesen, er hat ihnen sogar entgegen gearbeitet und darf mit Stolz behaupten, dass es ihm bisher gelungen ist, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, soweit sein Ansehen reicht. Er denkt nicht daran diesen Standpunkt zu verlassen. Vielleicht ist es aber auch nicht unbescheiden, wenn King Akwa deshalb erwartet, von der deutschen Regierung mit Wohlwollen behandelt zu werden (P300106K).
Während in den Jahren 1905/1906 King Akwa im Zentrum dieses Argumentationsmusters steht, definiert er in den letzten beiden Beschwerdeschriften die Eingeborenen als treue Untertanen. In der Eingabe vom 20. Februar 1913 heißt es in Bezug auf das Enteignungsverfahren: Die Eingeborenen dagegen halten es mir ihrem Vertrauen sowie mit ihrer Liebe unvereinbart, die Regierung im Unklaren zu lassen, vielmehr sehen sie ihre
254
Katrin Otremba Pflicht darin, der Wahrheit die Ehre zu geben, auch da, wo sie vielleicht einen bitteren Beigeschmack hat. Dabei bitten die Eingeborenen flehentlichste um Verzeihung, wo sie der Regierung zu nahe getreten sein sollten und treten werden. Es geschah und kann nur geschehen sein ohne jede Absicht der Kränkung der Regierung, jedoch im Interesse des Weitverbleibens in ihren bisherigen Wohnplätzen (P200213).
(e) Der Topos der Widerspruchsfreiheit10 Mit diesem Argumentationsmuster wird die widersprüchliche Politikführung der Reichsbeamten in Kamerun thematisiert. Weil eine Gruppe oder Person in der Vergangenheit eine bestimmte Position vertreten hat / in bestimmter Wiese gehandelt oder weil sie bestimmte Zusagen getätigt hat, sollten in der Gegenwart, die den Positionen bzw. Zusagen entsprechenden Handlungen ausgeführt werden.
Die Argumentation gegen das widersprüchliche Verhalten der Reichsbeamten ist ein Hinweis auf ihre willkürliche Regierungsweise, da die Kolonisatoren sich über getroffene Vereinbarungen hinwegsetzen. Dieser Topos lässt sich zunächst nur einmal, in der Petition vom 29. Oktober 1906, in Bezug auf ein Handelsverbot belegen. In den Jahren 1912/1913 ist dieses Argumentationsmuster dann aber ein Bestandteil aller Beschwerdeschriften und wird argumentativ gegen das Enteignungsverfahren eingesetzt. Es steht in direktem Widerspruch mit den wiederholten Erklärungen und Äusserungen des früheren Gouverneurs Exzellenz Dr. Gleim, des früheren Medizinalreferenten Herrn Professor Dr. Ziemann sowie neuerdings des derzeitigen Gouverneurs Exzellenz Dr. Ebermaier in denen die Genannten die Zusicherung abgaben, dass diejenigen Eingeborenen, die im Besitze von den hygienischen Bedingungen entsprechenden Wohnhäusern sind, von der evtl. Trennung von ‚Europäer-Viertel’ ausgeschlossen würden. Die einzige ihnen aufzuerlegende Bedingung ist ständige Chininprophilaxe (P200213).
(f) Der Topos der politischen Ziele11 Er bezieht sich ausschließlich auf die Politik der Schutzmacht. Weil ein politisches Ziel eine bestimmte Handlung vorschreibt bzw. nahe legt / verbietet, sollte diese ausgeführt werden / nicht ausgeführt werden. 10 11
Bei Wengeler DER TOPOS AUS DER WIDERSPRUCHSFREIHEIT (Wengeler 2003: 320). Bei Wengeler DER TOPOS AUS DEN POLITISCHEN ZIELEN (Wengeler 2003: 325).
Stimmen der Auflehnung
255
Dieses Argumentationsmuster wird in sämtlichen Petitionen der Jahre 1912/1913 verwendet. Es ist mit vier Textstellen quantitativ zwar wenig vertreten, zeichnet sich aber besonders durch ein strategisches Moment aus, da die Petenten die politischen Ziele des Deutschen Reichs anführen, um für die Durchsetzung ihrer eigenen Anliegen zu argumentieren. Dieses Argumentationsmuster beinhaltet die Aussage, dass die Kolonialmacht mit ihrer Politikführung nicht nur den Interessen der Duala, sondern auch ihren eigenen schade. In diesem Sinn wird unter anderem die Enteignung als kontraproduktiv in Bezug auf die von den Reichsbeamten verfolgte Steuerpolitik beschrieben. Letztere wird von den Duala bereits in der Petition vom 19. Juni 1905 wegen der Armut des Volkes abgelehnt. Da für sie die Enteignung einem „wirtschaftlichen Sturz” gleichkommt (siehe NUTZEN-TOPOS), ist die Maßnahme mit finanziellen Verlusten verbunden, die sie daran hindern werden, ihrer Steuerpflicht nachzukommen. Und ob es richtig ist, auf die Durchführung der Enteignung zu bestehen, kann stark bezweifelt werden, denn durch diese werden die Eingeborenen in ihrer Erwerbskraft und der damit verbundenen Zahlungsfähigkeit ihrer Steuer eingeschränkt (P211112).
(g) Der Topos der verschleierten Ziele Dieses Argumentationsmuster resultiert wie der WILLKÜR- bzw. der LOYALITÄTS-TOPOS aus der Analyse der Petitionen. Im Rahmen des TOPOS DER VERSCHLEIERTEN ZIELE wird der Vorwurf erhoben, dass ein politisch handelndes Subjekt die eigentlichen Beweggründe seiner Handlung zu verschleiern sucht. Diese werden jedoch durch die Differenz der propagierten Ziele zu den in der Realität wahrnehmbaren Folgen offenbart. Weil aus einer politischen Handlung andere als die propagierten Ziele folgen, jene aber billigend in Kauf genommen werden, ist daraus zu schließen, dass der politischen Handlung andere als die propagierten Ziele zugrunde liegen müssen.
In den kolonialen Petitionen lässt sich der TOPOS DER VERSCHLEIERTEN ZIELE ausschließlich für die Jahren 1912 bzw. 1913 belegen. Damit wird dieses Argumentationsmuster vor dem Hintergrund des Enteignungsverfahrens angewendet. Seine zentrale Aussage besteht im Vorwurf, dass die Regierung die Enteignung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen durchzuführen versuche und dass das Ziel dieser Maßnahme nicht, wie vereinzelt angegeben, in gesundheitspolitischen Beweggründen zu suchen ist. Diese Annahme rechtfertigen die Petenten dadurch, dass die Schädigung des Duala-Volkes billigend in Kauf genommen werde und dass deshalb
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Katrin Otremba
vermutet werden könne, „dass die Gefahr der wirtschaftlichen Ruinierung, der Unterernährung und der Hemmung der kulturellen Entwicklung des Dualastammes sehr nahe liegt” (P080312). Im Rahmen dieses Argumentationsmusters benennen die Petenten ebenfalls die Ziele, die sie auf deutscher Seite als Motiv der Enteignung vermuten. Die Vorkommnisse der letzten Wochen berechtigen zu der Annahme, dass es etwa nicht eine Frage von hoher idealer und volkswirtschaftlicher Bedeutung zu sein scheint, die die Gedanken der Enteignung geboren hat, vielmehr wird doch wohl der Beweggrund für die Enteignung in dem damit verbundenen finanziellen Erfolg zu suchen sein. Auf die vor Enteignung stehenden Grundstücke die gegen Miete von einigen Eingeborenen-Besitzern an die Togogesellschaft zu überlassen waren wird hingewiesen. Hierauf lässt es schliessen, dass der Fiskus in der Enteignung eine erschlossene Einnahme-Quelle erblickt (P211112).
7.
Die quantitative Verteilung der Topoi
Die im Korpus enthaltenen Texte können zwei Phasen des Kolonialismus zugerechnet werden. Daher ist es sinnvoll, die Verwendung der einzelnen Topoi innerhalb der Jahre 1905/1906 bzw. 1912/1913 zunächst getrennt zu betrachten. In der Abbildung 1.3 sind sie nach der Häufigkeit ihres Auftretens dargestellt. In der Phase vor den Kolonialreformen ist das dominierende Argumentationsmuster mit 37 Belegstellen der WILLKÜR-TOPOS. Der Kolonialismus wird damit vor allem aus einer moralischen Perspektive heraus wahrgenommen und beurteilt. Der LOYALITÄTS-TOPOS, der in neun Textstellen nachgewiesen werden kann, ist in dieser Zeit zwar bedeutend weniger vorhanden, argumentiert aber ebenfalls aus einer moralischen Sichtweise heraus. Dass die Petenten die Kolonialpolitik bereits 1905/1906 auf einer juristischen Grundlage infrage stellen, wird durch die Verwendung des RECHTS-TOPOS deutlich. Der NUTZEN-TOPOS zählt mit fünf Belegstellen zu diesem Zeitpunkt zu den weniger stark vertretenen Argumentationsmustern. Der Vorwurf der widersprüchlichen Politikführung in Form des TOPOS DER WIDERSPRUCHSFREIHEIT erscheint in dieser ersten Phase lediglich einmal. In den Jahren 1912/1913 ist dann ein thematischer Wandel in der Argumentation festzustellen. Der WILLKÜR-TOPOS lässt sich für diese Jahre nicht mehr belegen und auch der LOYALITÄTS-TOPOS ist nur noch in drei Textstellen auffindbar, womit ein starker Rückgang der moralischen Sichtweise auf die koloniale Politikführung verbunden ist. Im Gegenzug
257
Stimmen der Auflehnung
wird der NUTZEN-TOPOS mit dreizehn Belegstellen zum signifikanten Argumentationsmuster der Petenten, wodurch die Schutzmachtpolitik als Bedrohung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Duala definiert wird. Der RECHTS-TOPOS bildet ebenfalls einen wichtigen argumentativen Bestandteil der Jahre 1912/1913. Er kann in acht Textstellen nachgewiesen werden und zeichnet sich damit durch Kontinuität seines Gebrauchs aus, da er in beiden Phasen des Kolonialismus etwa gleich stark vertreten ist. Einen weiteren wichtigen argumentativen Bezugspunkt bildet in dieser Zeit generell die Politik, denn DER TOPOS DER WIDERSPRUCHSFREIHEIT, DER POLITISCHEN sowie DER VERSCHLEIERTEN ZIELE lassen sich sämtlich unter dieses thematische Feld subsumieren. Die genannten Argumentationsmuster sind alle in etwa gleich stark vertreten. In diesem Zusammenhang wird die Schutzmachtpolitik als eine äußerst widersprüchliche und willkürliche gekennzeichnet. Unter den Widersprüchlichkeiten hat dabei nicht nur die indigene Bevölkerung zu leiden, vielmehr verhält sich aus Sicht der Petenten die politische Führung in Bezug auf ihre eigenen Richtlinien kontraproduktiv. Darüber hinaus werden unter Rückgriff auf den TOPOS DER VERSCHLEIERTEN ZIELE die politischen Maßnahmen der Schutzmacht als trügerische Täuschungen definiert, da mit diesen andere, als die der kolonialisierten Bevölkerung gegenüber propagierten Ziele, verfolgt würden. 1905/06
1912/13
Willkür-Topos
37
Nutzen-Topos
13
5
Rechts-Topos Loyalitäts-Topos Topos Widerspruchsfreiheit
8
7 9
3
5
1
Topos politische Ziele
4
Topos verschleierte Ziele
4
Abb. 3: Die quantitative Verteilung der Topoi differenziert nach den Jahren 1905/06 und 1912/13.
258 8.
Katrin Otremba
Die Analyseergebnisse
Die Analyse der Topoi ergibt, dass sich die antikoloniale Haltung der Petenten nicht gegen die deutsche Schutzmacht an sich, sondern gegen die Reichsbeamten in Kamerun richtet, die als Verursacher allen Übels innerhalb der Schutzgebiete gekennzeichnet werden. Im argumentativen Verlauf der Petitionen erfolgt die Konstruktion eines Verwaltungsapparats, dessen konstitutive Merkmale eine auf Schädigung der indigenen Bevölkerung abzielende Politik sowie Menschenverachtung und Willkür sind. In den Jahren 1905/1906 geschieht dies, wie bereits erwähnt, in erster Linie unter moralischen bzw. humanen Gesichtspunkten. Das unberechenbare Handeln der Beamten kann nicht nur mit dem WILLKÜR-TOPOS belegt werden sondern zeigt sich ebenfalls in den juristischen Argumentationsmustern, innerhalb derer die Kolonialverwaltung als eine sich über rechtliche Grundlagen hinwegsetzende Macht beschreiben wird. Darüber hinaus werden ebenfalls die Änderungen in der Gesetzgebung, aus denen wirtschaftliche Schäden resultieren, unter denen letztendlich ganz Bonambelaland zu leiden hat, auf die Initiative der Administration in Kamerun zurückgeführt. Ihren Ausdruck findet diese Argumentationsweise im NUTZEN-TOPOS. Zu Beginn kreist die Argumentation unter diesem Gesichtspunkt zwar noch vorwiegend um die Personen von Brauchitsch und Puttkamer, jedoch wird in ihrem Verlauf unter einer umfassenderen Sichtweise die gesamte Kolonialverwaltung zum Bezugsobjekt und damit zum Träger genannter Merkmale. Dass die Beamten über die Art ihrer Politikführung eigenmächtig entscheiden und nicht etwa auf Anweisung des Deutschen Reichs handeln, wird dabei nicht erkennbar angezweifelt. Diese Perspektive ändert sich auch nicht in den Jahren 1912/1913. Zwar erfolgt in dieser Zeit ein thematischer Wechsel von moralischen Denkkategorien zum vorwiegend gebrauchten pragmatischen Argumentationsmuster, dennoch bleibt es die Regierung in Kamerun, die die indigene Bevölkerung mit ihren politischen Maßnahmen schädigt. Des Weiteren wird die Politikführung der Reichsbeamten in dieser Zeit als widersprüchlich und betrügerisch beschrieben, die sich darüber hinaus auf die eigenen Zielsetzungen der deutschen Kolonisatoren kontraproduktiv auswirkt. Der machtmissbrauchenden politischen Führungsebene der Schutzgebiete wird innerhalb dieser Diskursformation der ‚gute Eingeborene‘ gegenübergestellt. Im Rahmen des LOYALITÄTS-TOPOS sind es in den Jahren 1905/1906 zunächst die kameruner Oberhäupter, die als hinter der deutschen Herrschaft stehend definiert werden und die trotz allem Unrecht vor allem an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert sind. Dieses Argumentationsmuster wird in den Jahren 1912/1913
Stimmen der Auflehnung
259
zwar bedeutend weniger angeführt. Es lassen sich aber Belege finden, in denen die Eingeborenen ihr eigenes Verhalten gegenüber den Deutschen Kolonisatoren als positiv hervorheben. Mit der Thematisierung des Verhaltens der Reichsbeamten und der Duala werden in den Petitionen explizit zwei zentrale Akteure des Kolonialismus benannt. Darüber hinaus lässt sich den Petitionen ein dritter Akteur entnehmen, der jedoch nie zum Thema argumentativer Prozesse wird. Mit dem deutschen Kaiser, dem Reichskanzler sowie dem Reichstag, kann dieser Akteur unter dem Hyperonym der eigentlichen Schutzmacht in Form des Deutschen Reichs zusammengefasst werden. Da das Kaiserreich in den Eingaben der Petenten jedoch nicht zum Ziel der Kritik wird, ist davon auszugehen, dass die Duala die Schutzmacht prinzipiell auf ihrer Seite vermuten. Aus diesem Grund richtet sich ihre antikoloniale Haltung gegen die Kolonialverwaltung in Kamerun, da die Duala vom eigenmächtigen Handeln der Reichsbeamten auszugehen scheinen. Diese Annahme wird bereits durch die bloße Existenz der Petitionen gestützt. Von insgesamt neun Beschwerdeschriften in den Jahren 1905/1906 bzw. 1912/1913 werden sechs direkt an das Deutsche Reich gerichtet. Dieses hat sich durch die Anerkennung der Schutzherrschaft über Kamerun zur Übernahme der vertraglichen Bedingungen, die im Juli 1884 ausgehandelt werden, verpflichtet. Aus diesem Grund besteht für die Petenten kein Anlass davon ausgehen, dass sich die Schutzmacht erst vertraglich bindet, um sich dann über die verhandelten Richtlinien hinwegzusetzen. Die Wahrnehmung des Kolonialismus aus dieser Perspektive verdeutlicht die prägende Kraft der Ausgangssituation von 1884. Auf Basis des Schutzvertrags wird eine Kommunikationssituation konstruiert, die die eben beschriebene Rollenzuweisung ermöglicht. Auf Grund des Schriftstücks müssen es die Kolonisierten als sinnvoll und legitim erachten, sich an das Deutsche Reich zu wenden. Denn dieses hat sich durch die Annerkennung des Schutzmachtstatus zur Verantwortlichkeit verpflichtet. Die Verantwortungslosigkeit der Reichsbeamten vor Ort kann deshalb nur aus einem eigenmächtigen Handeln resultieren. Die positive Selbstdarstellung der Petenten rechtfertigt sich durch die Respektierung des Vertrags von 1884. Die Duala entscheiden sich für das Kaiserreich als zukünftige Schutzmacht, übergeben - wie im Vertrag vereinbart - die Hoheitsrechte betreffend der Justiz und Verwaltung, fügen sich im Folgenden den Anweisungen der Reichsbeamten vor Ort und haben damit ihren Teil des Vertrags erfüllt. In der Terminologie von Hermanns (1995: 88) kann dieses Dokument als Prototext des Diskurses bezeichnet werden, „der ein Thema aufbringt […] und die Leitgedanken eines sich entwickelnden Diskurses vorprägt
260
Katrin Otremba
[…]“. Das spiegelt sich nicht nur in der Determination der Kommunikationssituation, sondern ist ebenfalls innerhalb der textlichen Ausführungen der Petitionen zu finden. In diesem Sinne können die Eingaben als ‚Antwort oder Echo‘ des Vertrags definiert werden, indem sie direkt oder indirekt immer wieder auf diesen referieren. Am deutlichsten wird dieser Bezug in der Verwendung des RECHTS-TOPOS, der sich wie ein roter Faden durch die Petitionsbewegung zieht und der auf den Vertrag als Legitimationsbasis explizit und implizit verweist. Ihrer Enttäuschung über die politischen Entwicklungen unter deutscher Schutzherrschaft verleihen die Petenten in der letzten Petition vom 20. Februar 1913 Ausdruck. In diesem Dokument schildern sie, wie sie von den deutschen Kaufleuten mit dem Versprechen der Einführung demokratischer Werte zur Unterzeichnung des Schutzvertrages überzeugt werden. Damit wird aus Sicht der Duala der Glaube an die Freiheit und Gleichheit eines Jeden zum Fundament des deutsch-kameruner Verhältnisses. Dieses wird im Laufe der Zeit jedoch durch das Verhalten der deutschen Reichsbeamten vor Ort immer weiter untergraben. Die damaligen Kaufleute erzählten uns von der deutschen wirtschaftlichen Ueberlegenheit, welcher sich die politische geselle, die dazu benutzt werden würde, um die Volkswirtschaft der Eingeborenen zu fördern. Ferner wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass die deutsche Regierung eine sehr geschickte Hand bei der Beseitigung der politischen Vorteile der Stände im Mutterland gezeigt hat, und die Anerkennung der persönlichen Freiheit und der Gleichheit aller Menschen herbeiführe und dann die völlige bürgerliche Emanzipation durch den Staat erfolge: „aus Untertanen werden Staatsbürger“. Nach der Anerkennung der persönlichen Freiheit werde die sozialethische Entwicklung des Gemeinsinnes einen bedeutsamen Einfluss ausüben, dessen schönste Blüte in den Schutzbestrebungen für den wirtschaftlich Schwächeren zu finden sei. Hiermit hing auch ohne Frage das Erwachen des staatsbürgerlichen Bewusstseins im Duala-Volk zusammen (P200213).
9. 9.1
Literatur Quellen, zugänglich im Bundesarchiv in Berlin
R 175 F, Film-Nr. 81960 / Schutzvertrag von 1884 R 1001 Bd. 4425 – Bd. 4430, Film-Nr. 414 / Eingabe King Bells vom 20. Februar 1913 an das kaiserliche Gouvernement (P200213). R 1001 Bd. 4431 – Bd. 4445, Film-Nr. 415 / Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar an den Kaiser (P300106K)
Stimmen der Auflehnung
261
R 1001 Bd. 4431 – Bd. 4445, Film-Nr. 415 / Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar ohne Adressierung (P300106). RKA Nr. 4427, Bl. 82 ff / Eingabe Eingabe King Bells vom 8. März 1912 an den Reichstag (P080312). RKA Nr. 4427, Bl. 142 ff / Eingabe King Bells vom 21. November 1912 an das kaiserliche Gouvernement (P211112). RKA Nr. 4435, Bl. 47 ff / Eingabe Mpundo Akwas vom 30. Januar 1906 an den Reichskanzler (P300106RK). RKA Nr. 4436, Bl. 26 ff / Eingabe der Akwa Häuptlinge vom 19. Juni 1905 (P190605). RKA Nr. 4437, Bl. 117 ff / Eingabe King Akwas an den Reichstag vom 29.10.06 (P291006). RKA Nr. 4437, Bl. 133f. / Eingabe Mukoko Mangangas ohne Datum und Adressierung (P000006).
9.2
Forschungsliteratur
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IV. Sprachliche Verfremdungen des Anderen
Michael Schubert Kolonialpropaganda als Kolonialdiskurs Die Disponibilität des ‚Negerbildes‘ in der Deutschen Kolonialzeitung 1884-1914 The article deals with the German colonial propaganda in the principle body of the German colonial movement, the Deutsche Kolonialzeitung (German colonial newspaper), from the start of colonial rule in Africa in 1884 until the end of the colonial war in German-South-West Africa in 1907. Racist forms of identity, which were through the use of specific images reproduced and ascribed to Africans, are at the centre point of the article. The constructive and disposable character of the image of the ‘Other’ is pointed out. The article starts by discussing the extent to which colonial propaganda can be understood as a colonial discourse in the sense of Foucault. The discourse concept is separated from the ideological concept, the latter of which has dominated the historical analysis both of the colonial propaganda and of the colonial politics of the German Kaiser Reich from the late 1960s in part up until the present day. In the empirical section of the article the argumentative basics of the colonial discourse, the key elements of which are ‘culture’, ‘progress’ and ‘history’, are in first place researched. Afterwards the discursive legitimation of colonial rule in the ‘model colony’ of Togo and in the colonies of German-South-West Africa and German-East Africa which were between 1904 and 1907 shaped by colonial wars is analysed.
Das in der Encyklopädie der Naturwissenschaften 1880–1900 erschienene achtbändige Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie formuliert unter dem Stichwort „Neger“ das Wissen der Zeit: Nach einer weit ausgeführten Darstellung des Physischen, die die biologische Rückständigkeit der Schwarzafrikaner im Rahmen der Evolutionstheorie darlegt, wird konstatiert, dass „die Neger, was Arbeitsleistung anbelangt, eine starke Race [sind] und [...] im heissen Klima darin auch den Weißen“ übertreffen. Wenig später heißt es: „Der Neger lebt gedankenlos in den Tag hinein, am liebsten im Nichtsthun unter Tändeleien und sinnlosem Geschwätz; nur Hunger und Geschlechtslust wecken ihn aus seiner Ruhe“. Ferner werden ihm „Eitelkeit“, „Stolz“, „Gutmüthigkeit“ und „religiöser Fanatismus“, der ihn zu „raffinierter Grausamkeit“ gegen den Feind verleitet, sowie wenig „selbständiges Denken“ zugesprochen. Insgesamt sei sein Charakter von „steten Gegensätzen“ geprägt (Handwörterbuch 1888: 612ff.). Der Text fügt sich nahtlos in den zeitgenössischen Diskurs, der verallgemeinernd Eigenschaften von Rassen aufführt und sich damit theoretisch zugleich noch auf die eurozentrischen Kulturstufenschemata des
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18. Jahrhunderts und auf neuere zum Teil schon sozialdarwinistisch argumentierende Ergebnisse der Rassenanthropologie bezieht.1 Obwohl sich in Deutschland in den späten 1870er Jahren eine sozial-, wirtschafts- und nationalpolitisch motivierte Kolonialpropaganda entwickelt hatte und Deutschland 1884 zur Kolonialmacht wurde, kann der Lexikonartikel nicht als politischer Text (d.h. als Kolonialpropaganda) verstanden werden. Auch der Hinweis, dass „der Neger [...] sich zwar abrichten, aber nur selten wirklich erziehen“ (Handwörterbuch 1888: 614) ließe, nimmt Stellung zum Erziehungsparadigma des aufgeklärten Kulturmodells und kann nicht als direkte Anweisung zu den Modalitäten der Errichtung kolonialer Herrschaft in Afrika verstanden werden. Doch gleichzeitig ist die verallgemeinernd-objektivierende Redeweise über ‚den Neger‘, die ‚ihn‘ biologisch, kulturell und damit charakterlich eindeutig identifiziert, nur als sprachliche Repression, gewissermaßen als rhetorische Kolonisation zu bezeichnen. Der Text umfasst all die rassistischen Argumentationen, die in der Kolonialpropaganda von den 1870er Jahren bis zum ersten Weltkrieg als Legitimationen kolonialer Herrschaft herangezogen wurden. 1.
Kolonialdiskurs, Kolonialpropaganda und die Disponibilität des Fremdbildes
Die Anschlussfähigkeit der kolonialpolitischen an die anthropologische bzw. ethnologische2 Argumentation ist zunächst einmal gegeben, weil sich beide im Bezugsrahmen eines eurozentrisch-rassistischen Diskurses bewegen, der den Sinn des ‚Weißseins‘ durch die höhere Stellung des ‚Weißen‘ in der Hierarchie der Menschheit ausdrückt. Die überwiegend auf der Diskurstheorie Foucaults (Foucault 1997 u. 1998) und im weiteren auf einer kulturwissenschaftlichen Forschung (‚cultural studies‘; ‚postcolonial studies‘) gründende Kulturgeschichte des Kolonialdiskurses zeigt inzwischen auch bezogen auf das deutsche Beispiel deutlich auf, dass die Zuschreibungen für Afrika und die Afrikaner für die Zeitgenossen des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts plausibel sind, weil die sprachlichen Regeln und Grenzen des Kolonialdiskurses nicht durchbro-
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Zum Kulturstufenmodell der Aufklärung siehe insbesondere: Martin 1993; zur historischen Entwicklung des Rassismus in Deutschland und Europa überblickend: Mosse 1990, Zur Mühlen 1977; hinsichtlich der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion wird eine Differenzierung des Rassismus vorgenommen bei: Schubert 2003. In der zeitgenössischen Unterscheidung bezieht sich die Anthropologie auf die Biologie und die Ethnologie auf die Kultur von ‚Rassen‘.
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chen werden.3 Der ‚dunkle Kontinent‘ und seine Bewohner sind ein Konstrukt, ein Produkt eurozentrischer Wahrnehmung der Welt. Der Kolonialdiskurs konstruiert den ‚Anderen‘ als Voraussetzung kolonialer Herrschaft. Der ‚Andere‘ ist demnach keine andere Person, sondern als ‚Fremder‘ ein Bild eigener Identifikationen, ein „Teil der europäischen Identität“ (Reinhard 1995: 132). Der Diskurs kann dabei als ein Denk- und Sprachmuster verstanden werden, als ein „Repräsentationssystem“, in dessen Zentrum eine ganz spezifische Redeweise steht: „In rassistischen Diskursen funktionieren körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz“ (Hall 1994: 139–141; ders. 1989: 913). Dabei wird Differenz als Gegensatzkonstruktion gesehen. ‚Kulturelle‘ und ‚rassische‘ ‚Identität‘ benötigt unbedingt ihren Widerpart in der ‚kulturellen‘ und ‚rassischen‘ ‚Alterität‘. Die rassistischen Argumentationsmuster konstruieren Grenzen zwischen entgegengesetzten Begrifflichkeiten. Das bedeutet, dass sich die Zuordnungen der Differenzwahrnehmungen in binären Komplementärkategorien von ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘ finden – ‚Identität‘ ist als der Kehrwert von ‚Alterität‘ zu betrachten. Die Fremdwahrnehmung ist abhängig von der Selbstzuschreibung. Positiv gewertete Vorstellungen von der eigenen ‚Identität‘ werden in der „verkehrten Welt“ (Kramer 1977) zu Negativbeschreibungen der ‚Alterität‘, zumeist binär geordnet in Metaphern von Bewusstsein/Unbewusstheit, Licht /Dunkelheit, Männlichkeit/Weiblichkeit.4 Es bleibt nun zu klären, inwieweit Kolonialpropaganda, die spezifisch durch politische, für den Kolonialerwerb und die koloniale Durchdringung werbende Texte charakterisiert ist, in dieses Verständnis vom Kolonialdiskurs einzuordnen ist. Der Begriff der Kolonialpropaganda wird 3
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Zur Konzeption einer Diskursgeschichte von geschichtswissenschaftlicher Seite aus betrachtet: Schöttler 1986, 1988 u. 1989; von linguistischer Seite: Hermanns 1995; übersehen wird vielfach, dass die deutsche Geschichtswissenschaft bereits mit dem Konzept der Begriffsgeschichte sprachwissenschaftlichen Elementen ihren Einfluss zubilligte: Brunner et al. 1972–1997; von soziologischer Seite wird der Zusammenhang zwischen Ideologiekritik und Diskursanalyse komprimiert dargestellt von: Demirovic 1992; zum Konzept der ‚postcolonial studies‘ innerhalb der ‚cultural studies‘ siehe: Said 1981 u. 1994, Hall 1989 u. 1994, Bhabha 2000; überblickend: Ashcroft et al. 1995 u. 1998; als Studien zum deutschen Kolonialdiskurs im weitesten Sinne sind insbesondere zu nennen: Zantop 1997, Berman 1998, Friedrichsmeyer et al. 1999, Grosse 2000, Schubert 2003,. Brehl 2007. Sehr deutlich dazu auch: Horatschek 1998; Todorov ordnet die Oppositionspaare hinsichtlich der ‚Entdeckung‘ Südamerikas: Indianer/Spanier = Kinder (Sohn)/Erwachsene (Vater) = Frauen (Ehefrau)/Männer (Ehemann) = Tiere (Affen)/Menschen = Wildheit/Sanftmut = Maßlosigkeit/Mäßigung = Materie/Form = Körper/Seele = Begierde/Vernunft = böse/gut; Todorov 1985: 185.
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insbesondere in sozialhistorischen Forschungen zur Kolonialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs verwendet, die vom Ende der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre hinein ideologiekritisch argumentierten. So hat Wehler mit seiner Untersuchung der Kolonialpolitik und Kolonialpropaganda des Deutschen Kaiserreichs in der Bismarckzeit in der ersten Auflage bereits 1969 eine imperialismustheoretische Grundlage geschaffen, die den deutschen Imperialismus, sozialökonomisch und sozialpsychologisch begründet, als Wirtschafts- und Sozialimperialismus begreift (Wehler 1984). Mit der Interpretation eines „ideologischen Konsensus“ unter den Argumenten der Führungseliten der 1870er und 1880er Jahre erklärt Wehler das Zusammenwirken von objektiv ökonomischen und sozialen Faktoren und subjektiven wirtschaftlichen und sozialen Erwartungen an eine Kolonialexpansion Deutschlands zur innenpolitischen Begründung des deutschen Imperialismus. Der „ideologische Konsensus“, der „zeitgenössische Auffassungen pointiert“ hervorheben will, „um einen Zugang zu dem Verständnis, das die Zeit von sich selber besaß, zu gewinnen“, erkennt somit die argumentative Grundlage des deutschen Imperialismus in der Gesamtheit der analysierten zeitgenössischen Sicht der sozioökonomischen Problemlagen nach der Reichsgründung (Wehler 1984: 114). Demnach sah sich das Kaiserreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer komplexen Krisensituation gegenüber, die sich durch bevölkerungs-, wirtschafts- und sozialhistorische Zugänge erschließen lässt: Die Problemlagen kennzeichneten die Phase des Übergangs vom Agrar- zum Industriestaat. Die zeitgenössische Sicht des komplexen Problems – in der Spannungslage zwischen Bevölkerungsexplosion, Krisenerscheinungen in Landwirtschaft und Industrie und der damit zusammenhängenden noch offenen ‚sozialen Frage‘ – bildete den Hintergrund der Ende der 1870er Jahre einsetzenden Kolonialpropaganda.5 Auf die Ergebnisse Wehlers aufbauend und zugleich darüber hinausgehend wird der Zusammenhang zwischen dieser Krisenlage und der daraus schöpfenden Kolonialpropaganda von Bade (1975) dargestellt. Zum einen kann Bade unter Hinzufügung einer Analyse des Auswanderungsargumentes der Kolonialpropaganda eine Vertiefung aber auch historische Relativierung der sozialimperialistischen Interpretation Wehlers schaffen. Zum anderen verdeutlicht er erstmals eingehend die kulturmissionarischen Inhalte der Kolonialpropaganda, die nationalistisch verstärkt und ergänzt wurden durch den internationalen Konkurrenzdruck des ‚Scramble for 5
Dabei soll nicht übersehen werden, dass auch schon vorher bedingt von Kolonialpropaganda zu sprechen ist: zur Diskussion imperialistischer Argumentationen vor der Zeit des sog. Hochimperialismus in Deutschland besonders zwischen 1840 und 1849 siehe: Fenske 1991.
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Africa‘: Die zentralen unter dem Primat der Innenpolitik stehenden sozioökonomischen Argumentationsmuster der Kolonialpropaganda seien nicht nur von nationalistischen sondern auch von sozialdarwinistischen und kulturmissionarischen Vorstellungen gestützt. Er qualifiziert diese Vorstellungen zwar noch als Argumentationshilfen und ideologische Versatzstücke, macht allerdings anschaulich, dass den rassistischen Argumentationen eine Bedeutung als Legitimation der kolonialen Expansion innerhalb der Kolonialpropaganda zukommt. Angesichts der kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre ist unstrittig, dass sich der Ideologiebegriff, der hier zumindest implizit hinter der Spezifizierung von Kolonialpropaganda steht, als wenig hilfreich für die Interpretation kolonialer und rassistischer Redeweisen erweist.6 Es ist gerade nicht von einem ‚falschen Bewusstsein‘ der Kolonialpropagandisten, die es hätten besser wissen können, sondern von der Konsensfähigkeit und sprachlichen Anschlussfähigkeit ihrer Aussagen auszugehen: Propaganda „ist von den verwurzelten Einstellungen und Vorurteilen der Menschen abhängig und kann diese allenfalls kanalisieren, zuspitzen und funktionalisieren“ (Vondung 1980: 16). Das im Kolonialdiskurs transportierte rassistische Fremdbild ist dabei in zweierlei Hinsicht disponibel: zum einen, weil die Kolonialpropaganda aus einem reichen Fundus „verwurzelter Einstellungen“ schöpfen kann; zum anderen, weil dieser reiche Fundus zudem aus gegensätzlichen, zum Teil sogar widersprüchlichen Bildern besteht. Von „steten Gegensätzen“ sei der Charakter und das Leben der Schwarzafrikaner geprägt; er überträfe den ‚Weißen‘ im Klima Afrikas an körperlicher Arbeitsleistung, sei aber eigentlich ‚faul‘ sowie ‚gutmütig‘ und ‚grausam‘ zugleich (Handwörterbuch 1888: 612ff.). Die zum Teil gegensätzlichen Bilder sind im Kolonialdiskurs kaleidoskopartig jeweils so angeordnet, dass erstens die Hierarchie zwischen ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ immer erhalten bleibt. Zweitens dient diese Disponibilität des Fremdbildes dazu, aus dem Kolonialdiskurs einen spezifisch nationalen Diskurs zu formen: Die Kolonialpropaganda in Deutschland zeichnet sich deutlich aus als Legitimation kolonialer Herrschaft bei gleichzeitiger und hiermit verschränkter Artikulation von Zielen einer ‚nationalen Integration‘, die nur durch die Erfüllung der spezifisch ‚nationalen Aufgabe‘ der ‚Erziehung des Negers zur Arbeit und zur Kultur‘ zu erreichen sei (Schubert 2003). Dies verdeutlicht die elementare Verzahnung rassistischer Topoi innerhalb des Kolonialdiskurses mit national-, 6
Siehe zur Diskussion der Begriffe Kolonialdiskurs und Kolonialideologie auch: Brehl (2007: 47–72).
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sozial- und wirtschaftspolitischen Argumentationen. Die in der Kolonialpropaganda als politisch, gesellschaftlich und ökonomisch notwendig gepriesene überseeische Expansion erscheint als geradezu ‚humanitäre Tat‘, die von der ‚stärksten Nation‘ Europas am besten zu vollbringen sei. Koloniale Erfolge sowie koloniale Misserfolge können demnach im Diskursrahmen plausibel ausgedrückt werden: durch die geglückte oder eben missglückte ‚Erziehung des Negers‘, dessen Fremdzuschreibung damit immer abhängig von der kolonialen Selbstzuschreibung der Deutschen bleibt. In diesem Sinne kann Kolonialpropaganda als Kolonialdiskurs im maßgeblichen Organ der deutschen Kolonialbewegung, der Deutschen Kolonialzeitung (DKZ), analysiert werden. 2.
Die Deutsche Kolonialzeitung als maßgebliches Organ der Kolonialpropaganda
Die DKZ wurde von 1884–1887 vom Deutschen Kolonialverein (DKV) und danach bis 1922 von seiner Nachfolgeorganisation, der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG), herausgegeben. Als „Vater der deutschen Kolonialbewegung“ (Bade 1982: 19) kann der Barmer Missionsinspektor Friedrich Fabri gelten. Fabri sammelte 1879 in seiner in Massenauflage verbreiteten Schrift Bedarf Deutschland der Colonien? mit dem Untertitel Eine politischökonomische Betrachtung eine Reihe von Argumenten für den deutschen Kolonialerwerb und löste weitere kolonialpublizistische Werke aus. Fabris Schrift ist durch den Glauben an ein allgemein gültiges bevölkerungsgeschichtliches Gesetz gekennzeichnet, das in der Tradition der 1798 von Thomas Robert Malthus entwickelten Bevölkerungstheorie (Principle of Population) stand, nach der der Nahrungsspielraum dramatisch abnehme, weil sich die Bevölkerung in geometrischer Progression vermehre, die Subsistenzmittel aber nur in arithmetischer Folge anwüchsen. Fabri sah in der Kolonialpolitik letztendlich einen Teil der Sozialpolitik (Fabri 1879; Bade 1975: 80). Überseeische Expansion sollte auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der als Überproduktions-/Absatz- und Überbevölkerungskrise interpretierten ‚Großen Depression‘ 1873–1896 (Rosenberg 1967, Wehler 1995) antworten und als allumfassende Krisentherapie wirken. Der Übergang zur industriellen Bevölkerungsweise war durch eine anhaltend hohe Geburtenrate bei sinkender Sterbekurve gekennzeichnet, was zu einer kurzzeitige Bevölkerungsexplosion führte (Mommsen 1977: 31). Der Übergangsprozess vom Agrarstaat mit ausgeprägter Industrie zum Industriestaat mit noch starker agrarischer Ausprägung führte letzt-
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endlich zu Krisenerscheinungen in Industrie und Landwirtschaft (Mommsen 1977: 32; Bade 1982: 14f.). In sozialgeschichtlicher Hinsicht sah sich das Kaiserreich einem Auseinanderklaffen der sozialen Stellung von großagrarischen Führungseliten und Bürgertum auf der einen Seite und dem besitzlosen vierten Stand auf der anderen Seite gegenüber – das Proletariat wurde zunehmend als Gefahr betrachtet (Bade 1982: 15f.). Aus dieser von Krisenmanie und Revolutionsfurcht geprägten Spannungslage heraus entwickelte die Kolonialpropaganda um Friedrich Fabri ihre sozial- und wirtschaftsimperialistischen Argumente, deren nationalistische Stoßrichtung nicht zu übersehen war: „Ackerbau-Colonien“ würden den für Deutschland „völlig unproduktiven Kräfte-Abfluß“ der Auswanderungsbewegungen aufnehmen, den Export in eigene Kolonien fließen lassen, somit wirtschaftlich nützlich werden und die drohende Revolution abwenden; tropische „Handels-Colonien“ würden als Absatz- und Ertragsgebiete „zu einer höchst fruchtbringenden Quelle nationalen Wohlstandes werden“ (Fabri 1879: 16, 18, 39). Politik, Handel und Kapital sollten durch die Kolonialpropaganda, die in organisierter Form vor allem im Deutschen Kolonialverein bzw. der Deutschen Kolonialgesellschaft überlebte, zur Kolonialexpansion Deutschlands gedrängt werden.7 An der Spitze des am 6. Dezember 1882 in Frankfurt am Main konstituierten DKV fanden sich, neben Fürst Hermann zu HohenloheLangenburg, Friedrich Fabri und dem Kolonialpublizisten Wilhelm Hübbe-Schleiden, der Frankfurter Oberbürgermeister Johannes von Miquel, der mecklenburgische Freiherr Hermann von Maltzan, die Frankfurter und Offenbacher Handelskammerpräsidenten de Neufville und Wecker, der Nationalökonom Wilhelm Roscher, der Geograph Friedrich Ratzel sowie weitere bedeutende Mitglieder aus nationalliberaler und konservativer Politik, Wirtschaft (Industrielle und Bankiers) und Wissenschaft. Insgesamt rekrutierte sich der Mitgliederbestand des Deutschen Kolonialvereins aus der mittleren Unternehmer- und Kaufmannsschicht und dem Bildungsbürgertum. Der untere Mittelstand fehlte im DKV gänzlich (Bade 1975: 290). Der DKV warb unter dem von Hohenlohe-Langenburg vorgegebenen Motto „Erst wäg`s, dann wag`s“ (DKZ 1884: 377) mit Vortragsveranstaltungen und seit 1884 mit der Deutschen Kolonialzeitung für die koloniale Aufgabe. Am 1. Januar 1888 konstituierte sich offiziell die Deutsche Kolonialgesellschaft, in der der Kolonialverein und die Gesellschaft für deutsche Kolonisation 7
Daneben existierten als typische Kolonialverbände: als Zweigverein des Centralvereins für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland seit 1881 der Westdeutsche Verein für Colonisation und Export und bis zur Vereinigung mit dem DKV in der DKG 1888 seit 1884 die Gesellschaft für deutsche Kolonisation unter Carl Peters.
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vollständig aufgingen. In den Zielen der DKG, wie sie in §2 der Satzung formuliert sind, zeigt sich deutlich die nationalistische Stoßrichtung des Verbandes: „1. Die nationale Arbeit der deutschen Kolonisation zuzuwenden und die Erkenntnis der Notwendigkeit derselben in immer weitere Kreise zu tragen; 2. die praktische Lösung kolonialer Fragen zu fördern; 3. deutsch-nationale Kolonisationsunternehmungen anzuregen und zu unterstützen; 4. auf die geeignete Lösung der mit der deutschen Auswanderung zusammenhängenden Fragen hinzuwirken; 5. den wirtschaftlichen und geistigen Zusammenhang der Deutschen im Auslande mit dem Vaterlande zu erhalten und zu kräftigen; 6. für alle auf diese Ziele gerichteten, in unserem Vaterlande getrennt auftretenden Bestrebungen einen Mittelpunkt zu bilden“ (Hartwig 1983: 726). Im Vorstand der DKG zeigte sich eine Gruppe von bedeutenden Personen aus Industrie, Handel, Kapital und Politik, während die Basis durch den gehobenen und mittleren Mittelstand repräsentiert war. Insgesamt waren Kaufleute, Fabrikanten und Gewerbetreibende mit etwa 40 Prozent deutlich überrepräsentiert. Hohenlohe-Langenburg wurde erster und Carl Peters zweiter Präsident. Die seit 1884 vom DKV herausgegebene Deutsche Kolonialzeitung wurde nun wöchentlich und in neuem Format von der DKG weitergeführt. In ihr schrieben von Beginn an Kolonialpublizisten, Kaufleute, Forschungsreisende, Kolonialabenteurer, Ärzte, Sprachforscher, Juristen, Schutztruppenoffiziere und Missionare. 3.
Die Kolonialpropaganda der Deutschen Kolonialzeitung
Im Bezugsrahmen des Kolonialdiskurses boten sich zwei Möglichkeiten für die Kolonialpropaganda, die nationale Aufgabe der kolonialen Durchdringung Afrikas zu legitimieren: Zum einen konnten kulturelle Fortschritte auf dem ‚dunklen Kontinent‘ als Erziehungs- und damit Kolonisationserfolg gepriesen werden. Vermeintliche Kulturentfaltungen in der ‚Musterkolonie‘ Togo dienen im folgenden als Beispiel dafür. Koloniale Misserfolge wurden am Ausmaß afrikanischen Widerstands gemessen, dem die Kolonisatoren mit repressiver Gewalt begegneten. Der ‚aufständische Fremde‘ zeigte als ‚Feind‘ im Kolonialkrieg durch ‚Grausamkeit‘ seine noch nicht vollzogene ‚Erziehung‘, wie am Beispiel der Kolonialkriege in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika verdeutlicht wird. Doch zunächst sollen die Grundlinien des Kolonialdiskurses innerhalb der Propaganda der DKZ nachvollzogen werden.
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3.1 Grundlinien des Kolonialdiskurses 3.1.1 Der ‚faule Neger‘ Die Kolonialpropaganda der späten 1870er und frühen 1880er Jahre reproduziert den spätestens im 18. Jahrhundert entwickelten Topos vom ‚faulen Neger‘ innerhalb einer ökonomischen Theorie. Die zuerst vom Hamburger Kolonialpublizisten Wilhelm Hübbe-Schleiden propagierte „Theorie der Produktivität der Kulturkräfte“ (Hübbe-Schleiden 1879) wurde ein wichtiger Bestandteil der Kolonialpropaganda. Im Vordergrund der Argumentation steht die ökonomisch ertragreiche Zusammenarbeit des zu besonders hoher Geistestätigkeit fähigen ‚Kulturvolks‘ der Deutschen mit den prinzipiell zu hoher Arbeitsleistung fähigen ‚Wilden‘: „Negerarbeit, grosses Capital und gutes Management sind meiner Ansicht nach die Mittel, welche vereint die Cultur Afrikas verwirklichen werden“, fasst Hübbe-Schleiden seine Modellierung zusammen (Hübbe-Schleiden 1879: 336). Dabei unterscheidet er die materiellen Mittel „Arbeit“ und „Capital“, die mit dem ideellen Faktor „Management“ vereinigt, zu „Produktion“ und „Reichthum“ führen sowie den zivilisatorischen Nutzen „Cultur“ erbringen sollen: „Den grössten Erfolg aber in der Colonisation des Landes und den meisten Vortheil von der Zukunft Afrikas wird nur dasjenige Volk ziehen, welches es am besten verstehen wird, den Neger arbeiten zu machen“ (Hübbe-Schleiden 1879: 336, 375). Die positiv gewertete Ausbeutung („Utilisation“) solle die Kolonisatoren zu „Reichthum“ bringen, der nur über die Arbeitskraft des ‚Negers‘ zu erreichen sei. Über die Arbeit solle er zur „Cultur“ gebracht werden („Civilisation“). Diese Theorie sah den „Nutzen“ auf beiden Seiten: Die ‚Zivilisierten‘ würden reich, der ‚faule Neger‘ ‚arbeitsam‘ und dadurch ‚zivilisiert‘ (Hübbe-Schleiden 1879: 336). Im Zusammenhang dieser Ökonomisierung der kolonialen Aufgabe unterscheidet Friedrich Fabri die Ackerbaukolonie mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte von der Handelskolonie mit ihrer einheimischen „Massenpopulation“ – diese „Massenpopulation“ bezeichnet Fabri als „mehr oder minder schlaff, sorglos und träge“ (Fabri 1879: 37). Doch der ‚Neger‘ könne und solle von den deutschen Kolonisatoren zur Arbeit und damit zur Kultur erzogen werden. In der Propaganda der Deutschen Kolonialzeitung werden keine Zweifel daran geäußert, dass in den deutschen Kolonien in Afrika ein ‚Kulturvolk‘ auf ‚Wilde‘ träfe, die „ganz und gar von jeder Kultur unbeleckt“ (DKZ 1886: 502) seien. Insbesondere die ersten vier Jahrgänge der DKZ, herausgegeben von dem noch bestehenden Deutschen Kolonialverein, stehen gänzlich unter dem Zeichen des Sammelns von Beweisen der ‚Kulturlosigkeit‘ der afrikanischen Bevölkerung. Ethnographische Schilderungen
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über „Land und Leute an der Sklavenküste“ (DKZ 1884: 420–423) – wobei der Ort der Handlung beliebig austauschbar ist8 – halten sich an die Regeln des Kolonialdiskurses und reproduzieren fortwährend Bilder des ‚faulen Negers‘ bei dessen ‚Erziehung zur Kultur‘ unbedingt der Deutsche gefordert sei. Der Begriff Kultur wird dabei letztendlich verstanden als ökonomisch zurechtgestutzte Fähigkeit der Kolonisierten, den wirtschaftlichen Anforderungen der Arbeit für die Kolonisatoren gerecht zu werden: „Zu harter Arbeit treibt den Neger nur der Hunger“ (DKZ 1885: 248), wobei die „angeborene und klimatisch begünstigte Trägheit“ (DKZ 1885: 49) die Ursache sei. Die einzelnen Aufsätze der DKZ in ihren ersten Jahrgängen, die die deutschen Kolonien in Afrika zum Inhalt haben, sind hinsichtlich dieser Argumentation austauschbar: „Zeit [spielt] gar keine Rolle“ (DKZ 1884: 418), denn „Prinzip und hohes Ziel des Negers [sei]: ‚lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot‘“ (DKZ 1885: 52). Die Afrikaner werden als Bevölkerung dargestellt, die nur für die Subsistenz wirtschafte, mithin kein Mehrprodukt erarbeite. Nur die Erwirtschaftung eines Mehrprodukts aber verstehen die Kolonisatoren als gesellschaftlich nützliche Arbeitsleistung. Doch der „Neger“ trüge dank seiner körperlichen Kraft mit der Unterstützung der Intelligenz des deutschen Kolonisatoren, die Möglichkeit der „Erziehung zur Arbeit“ und damit die „Erziehung zur Kultur“ in sich (DKZ 1884: 61–63). In der Deutschen Kolonialzeitung entbrennt 1886/87 ein Streit über die Freiheit, die dem Kolonisierten in der kolonialen ‚Erziehung‘ zuteil werden solle. Paul Reichard, der sich als Forschungsreisender in Ostafrika aufhielt, bei diversen Expeditionen durch seine ausgeprägte „Negerfeindschaft“ in die Kritik geriet (DKZ 1890: 73) und letztendlich keinen Reichsschutz für seine kolonialen Erwerbungen erhielt, mißt dem Charakter des „Negers [alle] nur denkbar schlechten Eigenschaften“ (DKZ 1886: 60) bei. Reichard sieht alle ostafrikanischen Völker gleichermaßen auf „einer Stufe mit hochstehenden Tieren“ (DKZ 1886: 60): „Zur Arbeit kann er [der Neger] nur durch Zwang gebracht werden [...], wenn man ihm nicht immer zeigt, daß er unendlich tiefer steht [, dann neigt er zu] unglaubliche[r] Selbstüberhebung“ (DKZ 1886: 63). Damit steht Reichard der eingangs erwähnten enzyklopädischen Vorstellung nahe, der „Neger“ ließe sich „zwar abrichten, aber nur selten wirklich erziehen“ (Handwörterbuch 1888: 614). Keine Freiheit sollen die Kolonisierten auch in der Sicht Hübbe-Schleidens erhalten. Er greift durch seine Erklärung der 8
Siehe ähnlich: Land und Leute in Kamerun: DKZ 184: 417–420; Land und Leute in Ostafrika: DKZ 1886: 57–60; Südwestafrikanische Verhältnisse: DKZ 1885: 567–569; Unsere ost-afrikanischen Erwerbungen: DKZ 1885: 246–249.
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‚Rassenentwicklung‘ auf die tradierte Sicht der linearen Geschichtsentwicklung vom Kindes- zum Mannesalter zurück, in dem er die „eingeborene Bevölkerung“ Afrikas als „fast noch neugeborene Kinder“ im Gegensatz zu den Völkern Europas, die „ziemlich ausgewachsen“ seien, mißt (DKZ 1887: 459): „Der eigene Instinkt war und ist dort zu schwach, sich selbst zu helfen. Die Naturumgebung machte dort den Menschen die Aneignung und Bethätigung der allerniedrigsten Kulturstufe so leicht, daß dabei keine Kraft sich entwickeln konnte, die sie über diese Stufe hinausgeführt hätte“ (DKZ 1887: 460). Im Gegensatz dazu argumentiert Alexander Merensky, Missionar der Berliner Missionsgesellschaft, dass eine „gewisse Freiheit“ bei der „Erziehung“ nicht schaden könne (DKZ 1887: 325). Doch das angebliche Zugeständnis wird sofort relativiert, da die bisher gewährte „Freiheit [...] schädlich für den Neger“ sei (DKZ 1887: 325). Nur ein „Steuersystem“, verbunden mit der „gewissen Freiheit“ bringe „den Neger doch zur Arbeit“ (DKZ 1887: 325). Der evangelische Missionar gewann mit der Idee, ein Steuersystem einzuführen, das die afrikanische Bevölkerung zur Arbeit nötigen sollte, eine von der Deutsch Ostafrikanischen Gesellschaft 1885 gestellte Preisaufgabe mit dem Thema „Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagen-Arbeit?“. Merensky schlug dabei vor, dass die Bewohner von Gegenden, wo die Kolonialregierung die Oberhoheit ausübt, Abgaben in Form einer „Hüttensteuer“ zu entrichten hätten. Unter den 64 Beiträgen zu dieser Preisaufgabe befanden sich auch Aufsätze von Reichard und dem Afrikaforscher Georg Schweinfurth, der in der afrikanischen Bevölkerung „friedliche Wilde“ und „unverdorbene Naturmenschen“ erblickte (DKZ 1886: 698). Merensky hatte mit seinen von ökonomischen Strategien durchwobenen kulturmissionarischen Überlegungen, die unter dem Motto aus dem Struwwelpeter „Was kann denn dieser Mohr dafür, daß er so weiß nicht ist wie ihr?“ erschienen, den Nerv des Kolonialdiskurses am besten getroffen.9 Insbesondere auch die „faulen Zwischenhändler“ (DKZ 1887: 431), die an ein „frisches und gesundes Arbeitsleben“ (DKZ 1887: 586) gewöhnt werden sollen, stehen im Zentrum der Kolonialpropaganda. Die besonders „feigen“ und „selbstbewußten, wohlgenährten Kameruner“ (DKZ 1884: 418f.; DKZ 1885: 676) hatten das Handelsmonopol an der Kamerunküste inne, was die deutschen Kaufleute, vor allen Dingen den Hamburger Kaufmann und Reeder Adolph Woermann, gegen sie aufbrachte (Hücking/Launer 1986; Bade 1975: 259f.; Hausen 1970: 11, 91): „Der demoralisierende Einfluss der Europäer ist allein in diesem Umstan9
Zu Merensky siehe auch: van der Heyden 1993, Markmiller 1995.
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de zu suchen; denn niemals haben Europäer den Neger zum sesshaften Arbeiten angehalten [...] Anstatt den Boden zu bebauen, erntet der Neger mühelos die für den Export-Handel fast fertigen Produkte und verkauft sie dem weissen Händler an der Küste [...] eine leichte, oder viel mehr gar keine Arbeit; denn Schwatzen und Lügen, wodurch der Neger seine Geschäfte abzuschließen sucht, ist zugleich seine Lieblingsbeschäftigung“ (Woermann 1879: 66). Direkte Handelsverbindungen ins Landesinnere wurden von den Duala beschnitten, was ihnen angeblich ein reiches Leben mit „Frauen und Sklaven“ (DKZ 1884: 417) bescherte. Adolph Woermann, der am lautesten nach Kulturmission verlangte, sollte erhört werden: Nachdem der Sonderbeauftragte Reichskommissar Dr. Nachtigal in einem Wettlauf mit dem englischen Konsul Hewett am 14. Juli 1884 die ‚Schutzherrschaft‘ über das Gebiet am Kamerun erklären konnte, begannen deutsche Kanonenboote die Dörfer der britisch orientierten „faulen Zwischenhändler“ zu bombardieren und das Zwischenhandelsmonopol zu brechen.10 3.1.2 ‚Fetischismus‘ und ‚Aberglaube‘ ‚Fetischismus‘ ist ein weiterer Topos des Kolonialdiskurses, der im begrifflichen Bezugsrahmen der ‚Erziehung des Negers‘ häufig zur Sprache kommt und als ‚Aberglaube‘ der kulturellen Hebung entgegenstünde. „Wahre Civilisation“ sei „nur auf dem Grunde des Christentums möglich“ (Merensky 1886: 35), begründet Merensky die Aufgabe der Mission in Afrika. Auch Friedrich Fabri betont, dass es der Auftrag der Mission sei, „die innere Stabilisierung des aufoktroyierten Lernprozesses zu sichern“ (DKZ 1885: 545f.). Die Kolonialpropaganda der DKZ stellte die Bilder bereit, die die nationale Aufgabe darlegten, an der sich auch die Mission beteiligen sollte. In ethnographischer Manier werden Glaubensinhalte der Schwarzafrikaner aufgelistet, um die Möglichkeit einer Zivilisierung über die Missionierung zu verdeutlichen. „Viel friedfertiger, als man von afrikanischen Wilden denkt [... und] nicht so unverständig und unbrauchbar“ (DKZ 1884: 300, 302) seien die Afrikaner, erklärt der Missionar Büttner und macht dabei auf die „Leistung der Missionare“ aufmerksam, „Übel einzuschränken“ (DKZ 1884: 301f.). Doch gleichzeitig spricht er auch von „Giftmischern“, „Fetischanbetern“ und „kriegswütigen Kaffern“, die doch alle „missioniert werden“ könnten (DKZ 1884: 62). Bei der Propagierung der „Kulturarbeit der Heidenmission“ macht Büttner darauf aufmerksam, dass zwar „manche Barbarei [...] über die Missionen [rauscht]“, aber „selbst 10
Zu den Duala insbesondere auch: Eckert 1992.
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Kamaherero, der jetzige Oberhäuptling der Herero, [...] ein regelmäßiger Kirchgänger“ sei (DKZ 1884: 180, 405). Sollten vergangene Leistungen der Mission gewürdigt werden, so bot der Kolonialdiskurs die Möglichkeit, den ‚Neger‘ als durch die Mission ‚brauchbar geworden‘ darzustellen; sollten zukünftige Missionsleistungen propagiert werden, so war der ‚Neger‘ eigentlich ‚kriegswütig‘, konnte aber zum ‚Kirchgänger‘ avancieren. „Langjährige Missionsbestrebungen haben die barbarischen und rohen Sitten eingegrenzt [, so] liefert auch der Neger den Beweis, daß das Gesetz Gottes dem Heiden ins Herz geschrieben ist“ (DKZ 1885: 50). So geht die Kolonialpropaganda auf die Suche nach zur Mission tauglichen Ansätzen in der „Negerpsyche“ und wird fündig: Das „abergläubische Volk [...] glaubt an Geister“, aber dennoch an „eine Gottheit“ (DKZ 1884: 421). Besonderes Interesse weckt der „Fetischismus“, der einerseits den „Verkehr zwischen Gott und Menschen“ regele, andererseits aber nur materiellen Interessen der „Fetischmänner“ diene: Verordnet wird vom „Teufelspriester“ die Sühne angeblich durch Geld oder Materialien, die demselben „in die Taschen“ flössen (DKZ 1885: 50f.; DKZ 1886: 629-631); sogar „von Unwahrheit überschattete“ (DKZ 1885: 50) christliche Dogmen werden von Paul Steiner, Missionar der Basler Mission in Kamerun, ‚entdeckt‘, so dass die nationale Aufgabe der Heidenmission möglich erschien. 3.1.3 Ästhetische Beurteilungen, Sitte, Moral, Geistestätigkeit, Sprache und Schriftlosigkeit „Ich habe sogar einige mit echt klassischem Profil gesehen“ (DKZ 1885: 299) schreibt der Kolonialabenteurer Diesterweg über die „Kaffer“ in Südafrika. Winckelmanns „Klassisches Schönheitsideal“ war noch präsent. Tatsächlich tauchen sehr wenige differenzierende ästhetische Beobachtungen in der DKZ auf. Vielmehr wird in der anthropologischen und ethnographischen Berichterstattung über „Land und Leute“ eine überwiegend ‚hässliche‘ Bevölkerung konstruiert. Unter diesem Aspekt rücken die „Weiber“, die „keinen Anspruch auf Schönheit“ (DKZ 1886: 500) hätten, zunehmend in das Blickfeld des männlichen Deutschen. Doch der männliche ‚Neger‘ mit seinem „verschmitzten Gesichtsausdruck“ (DKZ 1886: 382) und einer „abstoßend freche[n] Physiognomie“ (DKZ 1886: 58) wird vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner körperlichen Stärke betrachtet. Von „gut gewachsene[n] braune[n] Neger[n]“ (DKZ 1886: 501) im Hinterland von Westafrika wird berichtet, der „schöne und regelmäßige Wuchs“ (DKZ 1885: 49) der Neger an der „Goldküste“ gepriesen, im Gegensatz zu den „Tuanikaffern“ am Ngamisee, die „klein und schwächlich“ (DKZ 1886: 492) erscheinen.
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Die Kolonialpropaganda befindet sich mit der Konstruktion eines physisch kräftigen – und deshalb durchaus zu harten Arbeiten zu gebrauchenden – aber moralisch und geistig verkommenen ‚Neger‘ im Zentrum des Kolonialdiskurses: Der „verschmitzte Gesichtsausdruck“ wird als „Hinterlistigkeit“ (DKZ 1886: 382) interpretiert und selbst die würdevolle Angelegenheit einer Beerdigung ginge in Afrika „lärmend“ (DKZ 1884: 422) vor sich. Tänze, die das „Hauptvergnügen“ (DKZ 1886: 61) für die „schlaue, aber lügnerische, spitzbübische und feige“ (DKZ 1884: 422) afrikanische Bevölkerung darstellten, seien „ohne jede Grazie“ (DKZ 1884: 422), sondern „sehr obscöner Natur“ (DKZ 1886: 61). Insgesamt sei es „charakteristisch für die Neger, daß je größer der Lärm, je wohler sie sich fühlen“, was sich auch dadurch bestätige, dass „alle auf einmal“ sprächen (DKZ 1884: 423). Doch auch die „klein und schwächlich“ erscheinenden Menschen seien nicht nur „physisch“, sondern „auch moralisch [...] sehr verkommen“ (DKZ 1886: 492). Der Begriff „Kultur“, der im Kolonialdiskurs synonym für „Fortschritt“, dem die Schwarzafrikaner „unmoralisch [...] abgeneigt“ seien, verwendet wird, formuliert den zum einzig bedeutungsvollen Inhalt geronnenen Sinn der Existenz der deutschen Kolonisatoren (DKZ 1885: 132). Er wird zum Beurteilungsmaßstab für „Zivilisation“ schlechthin und somit zur kulturmissionarischen Aufgabe. Der Kolonialdiskurs hält mit seinen Modernisierungs- und Fortschrittssemantiken zeitgenössisch sehr schnell begreifbare Bilder bereit: Die „Buschleute stehen auf niedrigerer Kulturstufe“, als die „Hottentotten [...] da [sie] keine Kraale“ hätten (DKZ 1885: 132); bemerkenswert im Kolonialdiskurs erscheint sogar die Beobachtung, dass der „Neger [ein] Mensch“ sei, „der noch nicht den Gebrauch von Messer und Gabel kennt“ (DKZ 1885: 300). Die nationale Erziehungsaufgabe wird in der DKZ ebenfalls durch die „mehr mechanische als denkende Natur“ (DKZ 1885: 50) des Kolonisierten begründet. Die angeblich rein „materielle Kultur“ (DKZ 1887: 460) der Schwarzafrikaner zeige sich durch das Fehlen von „abstrakten Begriffen“ (DKZ 1885: 60) und Worten „für die schwierigsten Themata des geistigen Lebens“ (DKZ 1884: 62). Dagegen betont die Propaganda das „große technische Geschick“ der schwarzafrikanischen Bevölkerung bei der „Nachahmung“ von Arbeitsvorgängen (DKZ 1885: 50). Das Selbstverständnis der Deutschen als Volk mit Geschichte findet im Kolonisierten darüber hinaus den schriftlosen ‚Fremden‘ (DKZ 1884: 423; DKZ 1887: 32). Durch Adolf Bastians Unterscheidung von Geschichte als Wissenschaft von den ‚Schriftvölkern‘ im Gegensatz zur Ethnologie als Wissenschaft von den ‚schriftlosen Völkern‘ (Fiedermutz-Laun 1990: 122f.; Kramer 1977: 74–81) wird der koloniale Diskursrahmen um
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die Begriffe ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘ durch das Wort ‚Geschichte‘ ergänzt. Bei aller Schriftlosigkeit der Kolonisierten legt die Kolonialpropaganda doch besonderen Wert darauf, festzustellen, dass der Schwarzafrikaner „Geschriebenes [...] von jeher als etwas heiliges, unheimliches, das eine gewisse Macht über ihn auszuüben im Stande wäre, falls er sich dagegen versündige“, respektiere (DKZ 1886: 174f.). Zu diesen heiligen Schriften zählen selbstverständlich auch „Verträge“, deren „moralischer Wert“ für den „Neger“ gar nicht hoch genug einzuschätzen sei (DKZ 1886: 174f.) – für den Kolonialerwerb notwendige Schutzverträge eingeschlossen. 3.2 ‚Kulturentfaltungen‘: Die Ewe in der ‚Musterkolonie‘ Togo Togo, dessen Küstengebiet von 1885 an unter direkte Reichsverwaltung gestellt war, unterschied sich insofern von den anderen afrikanischen Kolonien Kamerun, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika, als dass die autochthone Bevölkerung der Küstengebiete der kolonialen Herrschaft kaum Widerstand entgegensetzte. Lediglich die ‚Befriedung‘ der nördlichen Landesteile stellte sich für die Deutschen als schwieriger dar, so dass diese Gebiete seit den 1890er Jahren durch das Verwaltungssystem des ‚indirect rule‘ zusammengehalten wurden (Erbar 1991; Knoll 1978; Sebald 1977, 1988 u. 1989). Bereits 1847 begann die zunächst in Hamburg und später in Bremen ansässige Norddeutsche Mission ihre Tätigkeit bei den Ewe an der Goldküste (Knoll 1982). Die Arbeit der Norddeutschen Mission zeichnete sich durch äußerst integrierende Methoden aus und plante die Gründung einer eigenständigen, von Deutschen und Ewe gemeinsam geleiteten EweKirche. In ständiger Zusammenarbeit mit dem Bremer Handelshauses Vietor und einem Kampf gegen Branntweinhandel und übermäßige Steuerbelastung der Einheimischen baute die Norddeutsche Mission ein Vertrauensverhältnis zu den Ewe auf. Darüber hinaus waren die Ewe an europäische Händler gewöhnt. Auch die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie ließ sich weitaus günstiger an als in den anderen deutschen Kolonien Afrikas: Togo war 1899 als einzige Kolonie unabhängig von Reichszuschüssen, was unter anderem durch geringe Verwaltungsausgaben bedingt wurde – insgesamt haben sich in Togo nie mehr als dreihundertfünfzig Europäer aufgehalten. Die Händler blieben vornehmlich im Küstengebiet und tauschten europäische Waren gegen einheimische Produkte ein, die aus dem Hinterland her transportiert wurden; erst die versuchte ‚Inwertsetzung‘ der Kolonie ab 1897 durch Einrichtung eines Plantagengebietes im Bezirk Misahöhe, kombiniert mit der Anforderung der Kolonialverwaltung, Steuerarbeit zu
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leisten oder aber direkt Geld in die Regierungskasse zu zahlen, was letztendlich beides auf erzwungene Arbeit hinauslief, führte zu Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Plantagengesellschaften. Seit 1902 löste die Landfrage, die somit auch zur Frage der Behandlung der Einheimischen wurde, auch eine Diskussion in einer breiteren Öffentlichkeit aus. Togo erhielt in Deutschland durch kriegerische Auseinandersetzungen in den anderen Kolonien, seine Eigenfinanzierung, Ruhe und Ordnung den Ruf einer ‚Musterkolonie‘, so dass die Kölnische Zeitung 1906 konstatierte: „Die Einwohner Togos sind keineswegs ‚Wilde‘, denn es gibt unter ihnen Schlosser, Schmiede, Küfer, Tischler, Goldarbeiter, Weber usw.“ (Sebald 1988: 245). Texte zu Togo sind in der DKZ 1884–1890 sehr selten. Nach 1890 werden die ‚Kulturentfaltungen‘ unter den Ewe in Togo der positiven Wirkung deutscher Kolonialherrschaft zugeschrieben. „Zwei Jahre bei dem Ewevolke“ (DKZ 1891: 128–131, 147f.), so lautet der Titel des ersten Berichtes über das Küstengebiet Togos nach 1890. Geboten wird eine Rückschau auf die „um viele Jahrhunderte in bezug auf Zivilisation gegen die Kulturvölker“ retardierten Ewe in ihrem „Negernest“ (DKZ 1891: 129). Doch sie seien „wohl kulturfähig“ (DKZ 1891: 131), besonders im Vergleich zur Bevölkerung Nordtogos, die sich durch „bloßes Rauben und Plündern“ auszeichneten (DKZ 1895: 60). Die Kolonialpropaganda der DKZ beschreibt die Ewe mit ihrem „ausgezeichneten Gedächtnis“, ihrer „lebhaften Phantasie“, „Schlauheit“ und „Beobachtungsschärfe“ (DKZ 1895: 282f.) fortan als von der deutschen Kolonialmacht ‚erzogene‘ Afrikaner. Sie gelten, nachdem Schlegel (1857) seinen „Schlüssel zur Ewesprache“ verfasst hat, sogar als Schriftvolk, was sie in der kolonialen Redeweise paternalistisch als „Federfuchser“ (DKZ 1884: 423) ausweist. Sogar ihr „historisches Werden“ (DKZ 1895: 283) ist damit beschreibbar. „Handwerkliche Fähigkeiten“ (DKZ 1900: 148), „Fleiß“ und „Intelligenz“ (DKZ 1901: 43) werden den Ewe zugeschrieben. „Von ihnen ist überhaupt viel Gutes zu berichten“, so dass ihnen manchmal nur „der Aberglauben einen Streich“ spiele (DKZ 1900: 148). Auch Schulund Missionsberichte finden sich in der DKZ, die ein Zeugnis von den Lerneffekten bei den Ewe ablegen und somit das Bild der ‚Musterkolonie‘ mit ihrer „hoffnungsvollen afrikanischen Schuljugend“ (DKZ 1901: 267; DKZ 1899: 484f.) unterstützen und die deutsche Nation ehren. Dieses kolonialdiskursive Bild der Ewe begleitet auch die Petition des zu den Ewe gehörenden „Hostamms“ gegen die ‚Inwertsetzung‘ der Kolonie durch die Deutsche Togo-Gesellschaft mittels Plantagen und der damit verbundenen Steuer- und Zwangsarbeitslast für die Afrikaner im Bezirk Misahöhe. Die Propaganda der DKZ erkennt im deutschen Vorgehen kulturmissionarische Arbeit und erklärt, dass der „Hostamm“
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schon „bei der Grenzregulierung 1891 [...] gerne die deutsche Flagge für die englische“ angenommen habe: „Jetzt“ könnten die „schwarzen deutschen Brüder“ besonders dankbar sein, da die Deutschen die „Kulturarbeiten [...] aufnehmen“ (DKZ 1901: 13). Weihnachten 1901 nach dem Versuch afrikanischen Widerstands gegen die Kolonialherrschaft gestaltet sich für den „Hostamm“ besonders schön. Schon die Vorfreude auf das Fest äußere sich in der Frage der Missionsschüler: „‚Du, wieviele Tage noch bis Weihnachten?‘„. Als es dann soweit ist, „lauschten“ die Schüler der Weihnachtsgeschichte, singen „deutsche Weihnachtslieder in Landessprache“ und erhalten Geschenke „als Beweis für christliche Liebe“ (DKZ 1901: 509f.). Dass Togo eine Ausnahme unter den deutschen Kolonien in Afrika darstellte, zeigte sich in den seit 1903 überall sonst ausbrechenden großen Aufstandsbewegungen, von denen der Maji-Maji Aufstand in DeutschOstafrika und der Herero- und Namakrieg in Deutsch-Südwestafrika durch die Kolonialpropaganda der DKZ diskursiv begleitet wurde. 3.3 Die ‚Nicht-Erziehbaren‘ 3.3.1 Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika Der Aufstand der Herero 1904–1907, dem sich die Nama im Oktober 1904 anschlossen, stellt das wohl bekannteste Kapitel der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika dar. Es ist gleichzeitig die am meisten, auch postkolonial verklärte Lektion (Bley 1968; Spraul 1988; Scheulen 1998; Krüger 1999; Zimmerer 2001; ders./Zeller 2003; Gründer 2004; Brehl 2007). Das als Siedlungs- und Ackerbaukolonie gedachte DeutschSüdwestafrika erfüllte zunächst weder wirtschaftlich, noch politisch die kolonialen Anforderungen. Das karge Wüstenland kam nicht für eine sinnvolle Landwirtschaft in Betracht und auch die erhofften Mineralfunde blieben aus. Die Nama lehnten den Abschluss von ‚Schutzverträgen‘ überwiegend ab, da sie sich durch das deutsche Landfriedensgebot in ihrer Existensgrundlage, die durch kriegerischen Viehdiebstahl gesichert schien, bedroht sahen; die Ovambo konnten erst 1908 zum Abschluss genötigt werden und die Herero kündigten die Verträge 1888, um sie von Samuel Mahaherero, dem Sohn Kamahereros, nach dessen Tod aus eigenen machtpolitischen Gründen wieder aufnehmen zu lassen. DeutschSüdwestafrika konnte somit, auch wenn die Grenzregelungen mit Portugal 1886 und England 1890 getroffen waren, hernach nicht als geschlossenes Kolonialgebiet gelten. Reichskanzler Caprivi legte sich entgegen der vorherigen Politik, das ‚Schutzgebiet‘ als wertlos aufzugeben, durch den
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Druck der Kolonialbewegung auf den kolonialen Besitz fest. Major Leutwein wurde 1894 als Landeshauptmann, später als Gouverneur, mit der Aufgabe betraut, die fortschwelenden Kämpfe zwischen Nama und Herero zu schlichten und die wacklige Herrschaft der Deutschen auszubauen. Leutweins Herrschaftssystem, das von Caprivi angeordnet, ausdrücklich auf ‚unblutige Weise‘ durchgreifen sollte, zeichnete sich durch die Strategie des ‚divide et impera‘ aus und ging letztendlich als ‚System Leutwein‘ in die Geschichte ein. Durch diplomatische und militärische Mittel suchte der Major die Herrschaft der Häuptlinge vorerst zu stärken, um sie an die deutsche Oberherrschaft zu gewöhnen und sie als bedeutendsten Beweis der Loyalität, wenn nötig, Heeresfolge leisten zu lassen.11 Leutwein sah seine Hauptaufgabe darin, den 1892 begonnenen Krieg gegen die Nama Henrik Witboois zu beenden. Als sich Witbooi 1894 der deutschen Militärmacht geschlagen geben musste, war er zu bedingter Unterwerfung bereit. Leutwein entschied sich gegen den Widerstand von Siedlern und Kolonialbewegung für eine politische Lösung und nicht für die Hinrichtung Witboois und die Auflösung des Volkes – selbst die Waffen der Witboois wurden nicht konfisziert. Sie leisteten fortan die gewünschte Heeresfolge, nahmen an verschiedenen ‚Strafexpeditionen‘ teil und trugen noch bis in die Anfänge des Hereroaufstands zur Machtetablierung der Deutschen bei. Doch die Hochachtung und das Vertrauen Hendrik Witboois vor den Europäern war seit dem Präventivschlag gegen die Nama am 12. April 1893 durch Kurt von Francois (Landeshauptmann vor Leutwein) gebrochen: „Ich kann nicht verstehen, dass das Sünde und Schuld ist, wenn ein Mensch sein Eigentum und Gut nicht hergeben will, wenn ein anderer Mensch danach verlangt“ (Witbooi 1982: 177). Die Rheinische Mission, ehedem deutlicher Verfechter der direkten Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika, wies als erste auf die nach der ‚Befriedung‘ einsetzende Auflösung und Resignation der Völker hin. Die Herero waren davon besonders betroffen: Die halbnomadischen Herero, politisch und kulturell von der Rinderzucht abhängig, erfuhren durch die Rinderpest von 1897 einen evidenten Einbruch in ihrer Kultur. Leutwein, der unverkäuflichen Boden und das Prestigeobjekt Rind zugunsten der viehzüchtenden Siedler reduzieren wollte, verkannte die sozialen und ökonomischen Folgen dieser Katastrophe (Bley 1968: 164f.). Die Rinderpest griff von Südafrika auf Südwestafrika über und vernichtete bis zu 95 Prozent der Viehbestände, was eine deutliche Verarmung der Herero zur 11
Leutwein versuchte den Namakapitän Hendrik Witbooi in einer Korrespondenz von der Legitimation der deutschen Herrschaft zu überzeugen: Witbooi 1982; in der Zusammenfassung die Geschichte Deutsch-Südwestafrikas bei: Gründer 2004: 111–127.
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Folge hatte. Die Herero, in der DKZ 1896 noch als „unerzogenes, oft ungezogenes Kind“ bezeichnet, gleichzeitig „hochmütige Gesellen“ (DKZ 1896: 84, 155), suchten zum ersten Mal freiwillig um Lohnarbeit nach, wandten sich dem Gartenbau zu oder waren auf das Betteln angewiesen, während die ebenfalls stark betroffene europäische Farmwirtschaft zum ersten Mal die Chance zu einer rentablen Viehzucht sah. Die DKZ schwankt 1897 in ihren Einschätzungen zwischen der Hoffnung, aus einem „gefährlichen Nachbarn [...] einen brauchbaren Arbeiter“ (DKZ 1897: 223) entstehen zu sehen und der Furcht, die Rinderpest könne das Gewaltpotential der Herero wecken, so wie es bei den „Kaffern“ in Südafrika geschehen sei (DKZ 1897: 337f.). Doch „trotz leichter Arbeit, arbeitet der Neger nicht [, sondern] flüchtet lieber und räubert“ (DKZ 1899: 41). Dieses Fremdbild eines trotz aller Not ‚nicht erziehbaren‘ Herero wurde zu einer Grundlage der kolonialen Beschreibungen des Hereroaufstands. Tod und Verarmung durch Rinderpest und die sie begleitende Malariaepidemie, folgender Heuschreckeneinfall sowie Dürre führten zu wirtschaftlicher Abhängigkeit der Herero von den Kolonialherren und der Zerstörung der Häuptlingsmacht. Parallel zur wachsenden Abhängigkeit der Herero nahmen rassistische Aggressionen der Siedler zu, die sich durch Missachtung des Rechts und Misshandlungen der einheimischen Bevölkerung äußerten (Zimmerer 2003a). Doch genau diese Faktoren führten in der zweiten Januarwoche 1904 zum Hereroaufstand. Über hundert deutsche Männer, Siedler und Stationsbesatzungen, wurden getötet, Telegraphenverbindungen und Eisenbahnstrecken zerstört (Nuhn 1989: 54–76). Die DKZ zeigt sich empört über die ‚Undankbarkeit‘: Die „stets freundlich behandelten“ Herero zeigten „Rohheit und Grausamkeit“ (DKZ 1904: 22f.). Da sie nur einem „festen Willen gegenüber unterwürfig“ seien, sei der Aufstand durch den Charakter der Herero, die aus materiellen Interessen sogar „Giftmorde unter nahen Verwandten“ ausführten (DKZ 1904: 22f.), zu erklären. Das „Hinmorden unschuldiger Frauen und Kinder“ (DKZ 1904: 466) durch die „Horden“ (DKZ 1904: 62), „grausamen Rebellen“ (DKZ 1904: 177) und „blutgierigen Eingeborenen“ (DKZ 1904: 63) steht im Zentrum des Kolonialdiskurses. Während die Herero in der Kolonialpropaganda noch blutgierig durch das Land ziehen, waren sie durch die Strategie Leutweins längst am Waterberg festgesetzt. Doch Leutwein musste als Kommandeur Generalleutnant von Trotha weichen. Leutweins fortwährende Verhandlungsbereitschaft und die vielen Teilniederlagen der Schutztruppe bei den überfallartigen Einzelaktionen der Herero führten zu diesem Schritt, der nicht zuletzt durch das Einschalten des Generalstabs der Armee in diese politische
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Frage vollzogen wurde (Bley 1968: 193–203). Die Personalentscheidung und das Anwachsen der nach Deutsch-Südwestafrika entsandten Truppen auf die Kriegsstärke einer Brigade zog eine extreme Verlagerung der Kriegsverhältnisse nach sich. Der blutige Befreiungskampf der Herero fand am 11. August 1904 seine Entscheidung. Trotha vernichtete einen großen Teil der am Waterberg versammelten Herero direkt und zwang den in der Kesselschlacht ausbrechenden Teil in die wasserarme Omaheke – die „blutgierigen Eingeborenen“ fanden durch das „Groot Rohr“ oder Verdursten den Tod. Doch das Vorhaben des „großen Generals des mächtigen deutschen Kaisers“, wie Trotha sich selber nannte (in seinem Schießbefehl; Spraul 728f.; Warnke i.d.B.), nämlich die Vernichtung der Herero (Bley 1968; Zimmerer 2003b; Brehl 2007) scheiterte hier insofern noch, als halb verdurstete Herero wieder den Weg zurück in ihre Heimat suchten. Trotha antwortete mit einem Schießbefehl, der in jedem Fall eine Gefangennahme der männlichen Herero ausschloss. Spätestens als sich nach der Waterbergschlacht die „verschlagenen Hottentotten“ (DKZ 1904: 434) im Oktober 1904 unter der Führung von Hendrik Witbooi dem Aufstand anschlossen, da die Deutschen drohten, mit allen „Negern“ wie mit den Herero zu verfahren, macht sich auch in der DKZ Angst vor einer „allgemeinen Erhebung der schwarzen Rasse“ (DKZ 1904: 294) breit. „Daß die Neger sich emanzipieren wollen von der weißen Rasse“ und „die schwarze Rasse [...] sich in ganz Südafrika [regt]“, wird hysterisch beobachtet (DKZ 1904: 234). Der Krieg zog sich bis in den März 1908. Im März 1907 wurde der Kriegszustand in Südwestafrika zwar aufgehoben, doch die FranzmannNama gingen vom englischen Gebiet aus weiter gegen die deutsche Kolonialherrschaft vor. Bereits am 25. Oktober 1905 fiel Witbooi. Er hatte die Nama, die „nach 1893/94 nur noch Gesindel“ (DKZ 1904: 434) gewesen seien, im Krieg gegen die Deutschen geeint. Der Misserfolg in der kolonialen Aufgabe der Erziehung manifestiert sich besonders durch die Verwendung des sozialdarwinistischen Begriffs der „Degeneration“: „Im allgemeinen will man ein Degenerieren der Rasse entdeckt haben“; der „Neger“ sei weiterhin „arbeitsscheu, indolent und eingebildet“ (DKZ 1904: 466). Die blutige ‚Befriedung‘ der Aufstände in Südwestafrika kostete die Deutschen mehr als 2.000 Tote und etwa 585 Millionen Mark an Kolonialanleihen. Für Afrika ist die Bilanz schwierig zu erstellen. Am wahrscheinlichsten erscheinen die Daten der Volkszählung von 1911: Von den geschätzten 80.000 Herero lebten noch 15.130, von den etwa 20.000 Nama wurden noch 9.781 gezählt (Spraul 1989: 725f.). Die Seuche vor dem Aufstand, ein Abfall der Geburtenraten unter dem Druck der Fremdherr-
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schaft (Bade 1982: 27) und letztendlich die brutale Unterwerfung der „verschlagenen Hottentotten“ und „blutgierigen Herero“ hatten die afrikanische Bevölkerung extrem dezimiert. 3.3.2 Der Maji-Maji Aufstand in Deutsch-Ostafrika War in Südwestafrika der Hereroaufstand gewaltsam niedergeschlagen worden und waren die Nama noch zu ‚befrieden‘12, so standen die politisch, kulturell und religiös weitaus zersplitteteren Bevölkerungsteile in Deutsch-Ostafrika noch vor ihrem verhängnisvollen Aufbegehren gegen die Fremdherrschaft (Becker/Beez 2005). Am 20. Juli 1905 begannen eine Frau und zwei Männer im Matumbiland Baumwollpflanzen einer Plantage aus dem Boden zu reißen (Seeberg 1989: 23). Nachdem der Akide13 des Verwaltungsbezirkes gegen diese kolonialfeindliche Tat eingeschritten war, löste der folgende Krieg der Matumbi eine Kettenreaktion von Aufstandsbewegungen der Ngindo, Pogoro, Kichi, Zaramo, Luguru, Vidunda, Mbunga und letztendlich auch der Ngoni und Pangwa aus, so dass sich im August 1905 nahezu das gesamte südliche Deutsch-Ostafrika im Krieg gegen die Fremdherrschaft befand (Seeberg 1989: 23f.). Die Fremdherrschaft war für die Afrikaner in Deutsch-Ostafrika nicht nur durch Kolonialverwaltung, Schutztruppe und Missionare gekennzeichnet, sondern auch durch indische, arabische und afrikanische Händler und Geldverleiher, so dass der antikolonialen Befreiungsbewegung ein sozialrevolutionärer Charakter zukam (Bade 1982: 31). Geeint werden konnte der Widerstand durch den Maji-Maji-Kultus Kinjikitile Ngwales: Die „Hetzereien eines Zauberers“ (DKZ 1905: 375) ließen die Afrikaner hoffen, unverwundbar gegen die feindlichen Waffen zu sein (Seeberg 1989: 30–33). War schon die Verwaltung der einzelnen Bezirke durch die ortsfremden Akiden und kolaborationsbereiten Ortsvorsteher (Jumbe) und die 1897 eingeführte Hüttensteuer ein erheblicher Eingriff in die einheimischen Strukturen, so entwickelte die Errichtung von sogenannten Dorfschamben (1902) zum gemeinsamen Anbau von Baumwolle in dafür geeigneten Dörfern und die Erhöhung des Arbeitszwanges durch die seit dem 22. März 1905 verlangte Kopfsteuer die Befreiungs- und Widerstandsbereitschaft in Deutsch-Ostafrika (Bald 1970: 64–70). Weitere Beschränkungen der Freiheit, wie die Jagd- und Waldschutzverordnung von 1903, die die traditionellen Formen der Jagd beschnitt, und die Pombesteuer, die den Konsum des afrikanischen Bieres 12 13
Auch in Kamerun kam es von 1904–1907 zu größeren Aufstandsbewegungen: Gründer 2004: 142. Die Akiden wurden als Verwaltungsbeamte von der deutschen Kolonialmacht eingesetzt und waren oftmals ortsfremde Araber.
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einschränken sollte, sowie Lohnbetrug trugen zur vollständigen Bevormundung durch die Kolonialmacht bei.14 In der Propaganda der DKZ gegen die „Räuberbanden“ und die „Bande Aufständischer“ (DKZ 1905: 375, 478) erscheinen die Afrikaner als grausame, unerzogene Kinder. Über die „nicht leicht zu behandelnde Gesellschaft“ im Dondeland wird berichtet: Dabei gäben die Wandonde den „weniger zivilisierten Zustand“ vor der Kolonisation nicht zu, wenn sie gefragt würden, da „jeder Neger ein überaus eitles Geschöpf“ sei (DKZ 1905: 370f.). Paternalistische Verzweiflung mischt sich mit einem zähen Festhalten an der Selbstzuschreibung, ‚kulturbringende Nation‘ zu sein. Die „Räuberbanden“ seien zwar ehedem „als Diebe und Säufer bekannt“ gewesen (DKZ 1905: 375), gleichzeitig sei aber der „Schwarze von vor fünf Jahren in dem heutigen nicht mehr wiederzuerkennen“ (DKZ 1905: 458). Damit zielt auch in Deutsch-Ostafrika die Kolonialpropaganda darauf ab, ein ‚Degenerieren‘ zu beobachten und somit die ‚NichtErziehbarkeit‘ der Kolonisierten zu postulieren. In der Konsequenz sei die nationale Aufgabe der Kolonisation nur mit härteren Mitteln durchzuführen, denn: „Diesem auf einer niederen Kulturstufe stehenden kindischen Menschengebilde sind durch gewisse Verordnungen Waffen gegen die Weißen in die Hand gegeben, die er ausnutzt“ und „Verordnungen [...] gelten beim Eingeborenen als Schwäche“ (DKZ 1905: 458). Dieses gilt als „Beruhigendes und Aufklärendes zur Aufstandsfrage“ (DKZ 1905: 457f.). Der Befreiungskrieg der „Räuberbanden“ mündete in ihrer Vernichtung. Die Schutztruppe ging nach dem Prinzip der ‚verbrannten Erde‘ vor, vernichtete Dörfer und Felder, verbrannte oder beschlagnahmte die Ernte, schüttete Brunnen zu, tötete oder konfiszierte das Vieh, machte eine weitere Bodennutzung unmöglich (Seeberg 1989: 80). Während in den Gefechten auf deutscher Seite 15 Europäer, 73 Askaris und 316 sogenannte Hilfskrieger starben, lag die Anzahl der getöteten Aufständischen nach offiziellen Angaben bei 75.000; die anschließende Hungersnot tat ihr übriges, so dass Schätzungen von 250.000 bis 300.000 Toten ausgehen (Seeberg 1989: 80, 88). Diese Form der Kolonialpropaganda, die den ‚aufständischen Fremden‘ als nicht erzogenen und grausamen Feind im Kolonialkrieg darstellt, taucht in der DKZ zum letzten Mal in Bezugnahme auf den Maji-MajiAufstand auf. Zu Beginn der ‚Ära Dernburg‘ der deutschen Kolonialpolitik 1906/07–1910, in der, angeleitet durch den Staatssekretär des neu geschaffenen Reichskolonialamtes, Berhard Dernburg, die ‚Inwertsetzung‘ 14
Lohn wurde oftmals erst nach dem Verkauf der Ware gezahlt und der erzielte Erlös floss nur teilweise ins Dorf zurück: Bald 1976: 30, Seeberg 1989: 51.
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der Kolonien durch eine neu organisierte ‚wissenschaftliche‘ und ‚rationale‘Eingeborenenpolitik‘ angestrebt wurde, steht der ‚Neger‘ in seiner vollkommenen ‚Hässlichkeit‘ da. 4. 4.1
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1.
Zur Formierung der rassistischen ‚Rasse‘
Jedes Sehen des menschlichen Körpers hat eine soziale Dimension, schreibt Douglas, und gäbe es nicht das Verlangen, soziale Hierarchien und Grenzen herzustellen, so gäbe es auch nicht das Interesse, körperliche Grenzen zu erfinden. (Douglas 1970: 170) Eine der für die Geschichte der Menschheit zentralsten symbolischen Grenzziehungen am Körper ist die Erfindung menschlicher ‚Hautfarben‘.
1
Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines bereits 2006 in Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur veröffentlichten Artikels und folgt partiell Grundthesen der Einleitung zum Buch Afrika und die deutsche Sprache (Arndt/Hornscheidt 2004).
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Freilich scheint es evident, dass menschliche Haut in ganz unterschiedlichen Farbtönen in Erscheinung tritt. Doch zum einen sei vermerkt, dass ebenso wie kein Mensch (äußerlich) dem anderen gleicht, es auch keine zwei Menschen gibt, die die gleiche Farbe von Haut haben. Zudem: noch mehr als die Farbe des Haares ist die Farbe der Haut individuell tagtäglichen Schwankungen unterworfen, in Abhängigkeit innerer Erregungszustände, Erkrankungen, Sonneneinwirkungen etc. Und weil etwa die Haut von Weißen alle möglichen Nuancierungen zwischen rosa, oliv und braun zeigen kann, bedarf es doch eines hohen Abstraktionsvermögens, Menschen als Weiße zu beschreiben und sie von etwa ‚Gelben‘, ‚Schwarzen‘ oder ‚Roten‘ abzusetzen. „It is common knowledge,“ schreibt Seshadri-Crooks, „that some ‚black‘ people can be very white, and some ‚whites’ can be very dark.“ (Seshadri-Crooks 2000: 2) Zum anderen ist zwar die Pigmentierung der Haut ein genetisch übertragbares Merkmal, das sich durchaus in der Ontogenese in Abhängigkeit von klimatischen Differenzen entwickelt haben mag, doch ist es nichts als Ideologie, wenn man versucht, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Pigmentierung, anderen körperlichen Konstitutionen und kulturellen und religiösen Merkmalen herzustellen. Und eben dies ist der Ansatz, der die Erfindung von ‚Menschenrassen‘ ausmacht. Bis ins 17. Jahrhundert hinein ist der Begriff ‚Rasse‘ allein gebräuchlich zur Klassifizierung von Tier- und Pflanzenarten. Dabei bezeichnet er Gruppen, die sich von anderen derselben Art durch konstante und vererbbare Merkmale unterscheiden. ‚Rasse‘ wird dabei als so genannte reinerbige Teilpopulation einer Art verstanden. 1684 wird dieses Prinzip von dem französischen Arzt und Reisenden François Bernier erstmals auf Menschen übertragen. Diese Klassifizierung von Menschen nach ‚Rassen‘ vollzieht sich von Beginn an wertend, wobei es Theoreme aktiviert, die bis in die Antike zurückzuverfolgen sind. Dazu zählen etwa die ‚Klimatheorie‚‘ und die Physiognomie und das Postulat ‚reiner Abstammung‘, determiniert durch Blut und/oder Boden, wobei Konstruktionen von körperlichen Unterschieden eine wichtige Rolle spielten und bei Platon und Aristoteles sogar ein Denken auftaucht, das mit dem modernen Begriff der Eugenik zu erfassen wäre (vgl. Arndt 2008). „Rassen sind Resultat, nicht Voraussetzung rassistischer Argumentation“ (Hund 1999: 10), schlussfolgert der deutsche Soziologe Hund. Von Beginn an folgen (proto)rassistische Herstellungen des ‚Anderen‘ der Legitimation von Aus- und Abgrenzungsprozessen und, darauf aufbauend, der ‚eigenen‘ Herrschaft und imperialen Expansion. So ist es dann auch kein Zufall, dass sich moderne ‚Rassen‘theorien in dem Moment zu formieren beginnen, in dem Europa seine imperialen Eroberungszüge (die
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machtverleugnend noch immer gern ‚Entdeckungen‘ der ‚Neuen Welt‘ genannt werden) und auch den Transatlantischen Handel mit Menschen zu legitimieren suchte. Bedingt durch den offensichtlichen Widerspruch zwischen Gleichheits- und Freiheitsanspruch der Aufklärung und der dem Kolonialismus immanenten Ungleichheitspolitik, Freiheitsverweigerung und Gewalt erfahren diese ‚Rassen‘theorien im 19. und 20. Jahrhundert dann eine weiterführende folgenschwere Popularisierung. Europa bemerkt nicht, oder will es auch nicht merken, wie es mehr und mehr einem ‚Rassenwahn‘ verfällt, der zunächst in einem blutigen Kolonialrausch und später im nationalsozialistischen ‚Rassen‘wahn mündet. Angesichts seiner Wirkmacht mutet das Verfahren erschreckend simpel an: Aus einer Vielzahl von zumeist visuell sichtbaren körperlichen Merkmalen haben weiße Natur- und Geisteswissenschaftler einzelne (wie etwa die ‚Hautfarbe‘) selektiert, dichotomisiert und zu einem ‚natürlich gegebenen‘ und relevanten Kriterium der Unterscheidung erklärt. Dazu werden zunächst Körperteile wie etwa Schädel, aber auch Sexualorgane vermessen. Noch heute lagern Tausende von Schädeln als Relikte dieser biologistischen Forschungen in ethnologischen Museen und einigen deutschen Krankenhäusern, wie etwa der Berliner Charité. Diese Vermessungsmethode ist bis weit ins 19. Jahrhundert hinein anerkannt. Letztlich führt aber die Vermessung des sichtbaren Körpers nicht dazu, dass feststehende ‚Rassenmerkmale‘ gefunden werden konnten. Jene Versuchsreihen, die diesbezüglich zu bejahenden Erkenntnissen gelangten, weisen methodisch vielerlei Schwächen auf. So begründet der Anatom Camper seine Skala der ‚Rassen‘ etwa mit lediglich sieben Köpfen und weist dieser Reihe zudem eine Fälschung zu. „Bei der geometrischen Ermittlung des Schädelvolumens der griechischen Apollbüste in frontaler Ansicht“, die als Repräsentant der weißen Norm fungiert, addiert Camper, wie Becker als erstem auffiel, „schlichtweg einige Zentimeter, die wohl eher der Haarpracht Apolls als der Schädelgröße zuzuschreiben waren.“ (Becker 2005: 41) Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zweifel an dem Verfahren wachsen, ‚Rassen‘ über Vermessungen des sichtbaren Körpers nachweisen zu können, setzt ein wichtiger Paradigmenwechsel innerhalb der ‚Rassen‘theorien ein. Zunehmend konzentrieren sich die Beobachtungstechniken auf die unsichtbare Determination durch innere Vererbungsdispositionen anhand von Untersuchungen des Blutes (Becker 2005: 10-11). Man hofft, ‚Rassen‘ genetisch nachweisen zu können. Mit der Hinwendung zur Vererbung innerer Dispositionen kommt es zu einer exponentialen Steigerung der identifizierten ‚Rassen‘. „War man noch zu Beginn des
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19. Jahrhunderts von etwa fünf Rasen ausgegangen, so sprach man an der Wende zum 20. Jahrhundert von mehr als 100 Rassen.“ (Becker 2005: 11) Mit Memmi ist nachzuvollziehen, wie den vermeintlich gegebenen, statischen und objektiven ‚Rassenmerkmalen‘ dabei von Beginn an bestimmte soziale, kulturelle und religiöse Eigenschaften und Verhaltensmuster zugeschrieben und die so hergestellten Unterschiede verallgemeinert, verabsolutiert und gewertet werden (Memmi 1987: 164-178). Die vielen ‚Rassen‘theorien mögen – abhängig von den jeweiligen Interessen in Europa und einzelner Autoren – uneinig darüber sein, wie viele ‚Rassen‘ nun zu klassifizieren oder wie sie im Einzelnen zu bewerten seien. Doch im Kern tragen die vielen Abhandlungen, Vorträge, populären Schriften und literarischen Texte allesamt die gleiche Botschaft: »Die weiße ‚Rasse‘ ist eine ‚natur‘gegebene Norm und allen anderen ‚Rassen‘ überlegen.« Ausgehend von einer solchen Normsetzung des ‚Eigenen‘ (von Weißsein) wird das ‚Andere‘ – oder werden die ‚Anderen‘ – erfunden und passfähig gemacht. Damit ist der geistesgeschichtliche Kontext knapp umrissen, in dem Europa sein kolonialistisches Afrikabild entwarf. Maßgeblich baut diese Mentalität auf zwei Strategien auf: Zum einen wird Afrika als homogenes Ganzes konstruiert; zum anderen als grundsätzlicher Gegenpol zu Europa. Die Konstruktion von Afrika als dem ‚Anderen‘ geht mit Exotisierung und Dämonisierung einher und stellt Afrika als Negation dessen her, was sich West-Europa zu sein vorstellt bzw. wünscht. Diese Dichotomisierung von Europa und Afrika, die sich parallel zur rassistischen Erfindung von Schwarzen und Weißen formierte, ist am ehesten in Anlehnung an die von Fanon und JanMohamed entworfene manichäische Allegorie der kolonialistischen Mentalität zu erfassen: Hier stehen sich Weiß und Schwarz gegenüber, gut und böse, Heil und Verdammnis, Zivilisation und Barbarei, Überlegenheit und Unterlegenheit, Intelligenz und Emotion, das Selbst und das Andere, Subjekt und Objekt, Natur und Kultur (Fanon 1981: 34; JanMohamed 1983: 3-4). In Anlehnung an Saids Begriff des Orientalismus klassifiziert Morrison diese Mentalität als ‚Afrikanismus‘ (vgl. Morrison 1992: 27). 2.
Die deutsche Afrikaterminologie als Medium kolonialistischer Wissensformation
Sprache ist von Anfang an ein wichtiges Medium, um die kolonialen Erfindungen festzuschreiben, Kolonialismus zu legitimieren und weiße My-
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then zu vermitteln – zum einen, es gebe ‚Menschenrassen‘ und zum anderen (darauf basierend), Afrika sei das homogene und unterlegene ‚Andere‘ und bedürfe daher der ‚Zivilisierung‘ durch Europa. Dieser Ansatz schlägt sich in der kolonialen Benennungspraxis nieder, der in einem Machtraum weißer Hegemonie erfolgt. In einem symbolischen Akt der Negierung afrikanischer Sichtweisen und Stimmen sind afrikanische Eigenbezeichnungen ignoriert worden. Doch es kam auch nicht zu einer Übertragung der für europäische Gesellschaften derzeit gültigen Begriffe. Schließlich hätte dies ja der Konstruktion von Afrika als Gegenpol zu Europa entgegen gestanden. Vielmehr wurde eine spezifische Terminologie für den kolonialen Raum im Allgemeinen und Afrika im Besonderen entwickelt. Dabei dominierten vor allem zwei Strategien: 1) Neologismus und die 2) Übertragung bereits existierender, aber abwertender (z.T. historisierender) Begriffe. Dieser lexikalische Formationsprozess vollzog sich in verschiedenen europäischen Sprachen in weitgehender Übereinstimmung. Im Folgenden werde ich mich auf eine Betrachtung der deutschen Afrikaterminologie konzentrieren. Bekannte Beispiele für neologistische Konstruktionen sind die Bezeichnungen ‚Buschmänner‘ und ‚Hottentotten‘. Beides sind Sammelbegriffe, die kulturell, politisch und linguistisch jeder Grundlage entbehren. Als ‚Buschmänner‘ wurden alle Völker bezeichnet, die in den von Weißen schwerer zu kontrollierenden Gegenden jenseits der Küstenregionen im südlichen Afrika lebten. Als ‚Hottentotten‘ wurden alle Gesellschaften des südlichen Afrika bezeichnet, wie etwa die Xhosa, in deren Sprachen implosive Konsonanten, so genannte ‚Schnalzlaute‘ oder Clicks, vorkommen. In eurozentristischer Manier glaubten Weiße, mit ‚Hottentotten‘ (durchaus mit Anspielung auf Hufgeräusche von Pferden) diese Clicks nachzuahmen (vgl. Göttel 2003: 147-153). Ein anderes beredtes Beispiel für kolonialistische Neologismen ist die Erfindung des Begriffes ‚Häuptling‘, der sich (nicht zuletzt durch anthropologische Forschungen) als generelle Ersetzung für die Vielzahl von Selbstbezeichnungen für HerrscherInnen in afrikanischen Gesellschaften sowie anderen kolonisierten Räumen etablierte. Der Begriff setzt sich aus dem Wortstamm ‚Haupt-‘ und dem Suffix ‚-ling‘ zusammen. Die in einem Grundwort beschriebene Tätigkeit oder Eigenschaft bzw. die damit bezeichnete Person erhält durch das Suffix ‚-ling‘ in einigen Fällen einen diminutiven (d.h. verkleinernden) Bedeutungsinhalt [wie im Fall von ‚Prüfling‘ (zu ‚Prüfer‘) und ‚Lehrling‘ (zu ‚Lehrer‘)]. Zumeist wird aber mit dem Suffix ‚-ling‘ abgewertet, wie etwa in ‚Feigling', ‚Wüstling‘, ‚Schönling' und ‚Emporkömmling‘. Tatsächlich vereint der Begriff ‚Häuptling‘ beide
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Ansätze. Fungiert er doch als Markierung eines Herrschers, der aus westlicher Sicht nicht ernst zu nehmen, weniger bedeutsam und keineswegs gleichberechtigt mit westlichen Machthabern ist.2 Darin drückt sich eben nicht nur eine Diminution aus, sondern auch eine Abwertung. Wurde in anderen Kontexten doch auf bereits bestehende deutsche Begriffe zurückgegriffen, so handelt es sich ausschließlich um solche, die im europäischen Kontext abwertend benutzt wurden und im Rahmen der Übertragung auf Afrika eine Bedeutungsverschiebung oder -erweiterung erfuhren. Zum einen handelt es sich dabei um Begriffe, die ausgehend von dem Postulat menschlicher ‚Rassen‘ aus der Tierwelt zur Bezeichnung von Schwarzen und People of Colour sowie ihrer Kulturen adaptiert wurden. Dazu gehören etwa Begriffe wie ‚Mulatte‘ (von mulo: Maulesel), ‚Mischling‘ und ‚Bastard‘, mit denen auch Konnotationen von ‚Illegitimität‘ und ‚Unfruchtbarkeit‘ transportiert wurden. Zum anderen wurde auf Begriffe zurückgegriffen, die für Europa rein historisierend gebraucht werden und die im aktuellen europäischen Sprachgebrauch Konnotationen von ‚Primitivität‘ und ‚Barbarei‘ tragen. So bezeichneten Weiße etwa in Anlehnung an die historisierende Benennung ‚germanische oder keltische Stämme‘ Organisationsformen in Afrika pauschal als ‚Stämme‘. Damit wird nicht nur die Vielfalt von gesellschaftlichen Strukturen in Afrika negiert. Zudem wird suggeriert, dass diese zudem, wenn überhaupt, maximal mit einer früheren Epoche europäischer Geschichte vergleichbar seien. Auf diese Weise konnten diskriminierende Perspektiven und Konstruktionen von Afrika als ‚das Andere‘ sowie unterlegen, ‚rückschrittlich‘ und veraltet hergestellt und transportiert werden. Sowohl für die Neologismen als auch die Bedeutungserweiterungen lassen sich zwei zentrale Strategeme beschreiben. Zum einen bauen viele dieser Termini, das habe ich oben bereits angesprochen, auf der Annahme auf, dass es ‚Menschenrassen’ gäbe. Das zeigt sich etwa an Neologismen wie dem ‚N-Wort‘, ‚Mohr‘, ‚Farbiger‘, ,Kaffer‘, ‚Hamite‘, ‚Schwarzafrika‘ und ‚Schwarzer Kontinent‘ oder Bedeutungserweiterungen wie im Fall von ‚Bastard‘, ‚Mulatte‘ usw. Zum anderen basieren diese kolonialistischen Termini auf einer binären Fantasie, die Europa als Norm verortet, von der Nicht-Weiße abweichen. Teil dieses Herstellungsverfahrens ist es, Europa als Schauplatz von Kultur mit Afrika als Natur zu kontrastieren. Das äußert sich etwa in Begriffen wie ‚Naturvolk‘, ‚Naturreligion‘, ‚Buschmänner‘ und ‚Bananenrepublik‘ und darin, dass ihre europäischen Pendants schlichtweg als Völker, Religionen, Männer bzw. Menschen und Republi2
Nur in Polemiken werden westliche Machthaber und Machthaberinnen mit einem kritischen Impetus gelegentlich als ‚Häuptlinge‘ bezeichnet.
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ken bezeichnet werden. Dabei wird also in einem asymmetrischen Verfahren einem Hyponym das Hyperonym gegenübergestellt. Diese binäre Fantasie schließt zudem ein, Schwarze als Bindeglied zwischen Mensch und Tier zu verorten. Dabei ist das Entlehnen von Begriffen aus der Tierwelt (vgl. etwa ‚Bastard‘ und ‚Mulatte‘) ein gängiges Verfahren. Hier zeigt sich exemplarisch, wie Sprache die kolonialistische Ideologie stützte: Ausgehend von der evolutionistischen Dichotomie ‚Natur‘ versus ‚Kultur‘ wird in diesem Zusammenhang auf der Annahme aufgebaut, dass ‚Natur‘, und alles, was gedanklich damit verbunden wird, (von der ‚Kultur‘) kontrolliert, beherrscht und unterworfen werden sollte. Und weil die so genannten ‚Naturvölker‘ keine ‚Kultur‘ und Geschichte haben, bedürfen sie auch der zivilisatorischen Mission der ‚überlegenen Rasse‘. Hier ist die (Wirk-)Macht von Sprache angesprochen, auf die ich in meinem dritten Punkt weiter eingehen möchte. 3.
(Wirk-)Macht von Sprache und gesellschaftliche Immunisierungsversuche
In Bezug auf die Sprache des Nationalsozialismus hat Klemperer die (Wirk-)Macht von Sprache in folgende Formel gebracht: „Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (Klemperer 1987: 21) Rassistische Begriffe wirken stereotypisierend und normierend und tragen damit maßgeblich zur Sozialisierung und Positionierung von Menschen als Weiße und Schwarze bei. Zudem besitzen sie ein Gewaltpotenzial, das Schwarzen wichtige resistenzbildende Energien abverlangt. Auch wird durch Sprache und Sprechen der Boden bereitet wird für andere Formen weißer Gewalt, sowie das Potenzial zur Festschreibung von weißen Mythen, Hierarchien und Machtverhältnissen. Andersherum betrachtet, manifestieren sich globale und nationale Machtund Herrschaftsverhältnisse gerade darin, wer die Macht zur Benennung hat, welche Benennungen eine weite Verbreitung finden und sich im gesellschaftlichen Diskurs durchsetzen. Je machtvoller der Sprachgebrauch ist, umso größer ist seine Verbreitung. Durch ständige Wiederholungen bestimmter Wörter, Phrasen und Ausdrucksweisen aus einer Machtposition heraus schleifen sich im Gebrauch damit vertretene Konzepte in das Denken ein. Dass diese nicht neutral und objektiv sind, nicht unausweichlich, nicht die einzig mögliche Sichtweise und Benennung, wird so immer schwieriger zu durchschauen.
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Die Beispiele des Feminismus oder die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zeigen, dass gesellschaftliche Aufarbeitungsprozesse oft auch mit einer Sensibilisierung und Transformierung von Sprache einhergehen. In Bezug auf Versklavung und Deportation afrikanischer Menschen sowie Kolonialismus ist die gesellschaftliche Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit in Europa, und insbesondere in Deutschland, noch immer defizitär und rudimentär. Öffentliche Debatten und Mahnmale fehlen gänzlich, vielmehr werden Exponenten der kolonialen Regime noch immer mit Straßennamen geehrt. Nur folgerichtig fehlt eine gesellschaftliche Sensibilisierung für kolonialistisch und rassistisch geprägtes Sprechen nahezu völlig. Das zeigt sich symptomatisch daran, dass Weiße tendenziell mit vergleichsweise großem emotionalen Engagement an rassistisch konnotierten Begriffen festhalten. Zur Verteidigung der vertrauten rassistischen Begriffe werden in der Regel nicht Argumente bemüht, die konkret die Notwendigkeit belegen sollen oder können, dass dieses oder jenes Wort gebraucht werden müsse oder kann. Vielmehr wird auf einer ganz allgemeinen Ebene versucht, die Notwendigkeit einer solchen Kritik und Reflektionsarbeit an sich in Frage zu stellen. Ein erstes gängiges Argumentationsmuster ist, dass Begriffe wie etwa ‚Mohr‘ eben ‚historische Zeugnisse‘ seien und deswegen auch ihren Platz in der deutschen Sprache behalten sollten. Wie das Beispiel ‚Mohr‘ etwa zeigt, werden diese Begriffe keineswegs allein nur in historischer Perspektive verwendet, sondern auch aktuell zur Bezeichnung von Personen, aber auch von Straßen, Apotheken usw. Für mich stellt sich hier die Frage, warum der europäischen Kolonialgeschichte dadurch ein terminologisches Denkmal gesetzt werden sollte, dass man an Begriffen wie ‚Mohr‘ festhält. Erinnerungspolitisch sinnvoller erscheint es wohl, öffentlichkeitswirksam und symbolträchtig, eben auch begriffsgeschichtlich, mit diesen Zeugnissen des Kolonialismus zu brechen. Schließlich werden mit ‚Mohr‘, ebenso wie mit Begriffen wie etwa ‚Neger‘ oder ‚Mischling‘, längst widerlegte biologistische Rasseneinteilungen transportiert (vgl. CavalliSforza 1994; Olson 2002) sowie auch ihnen anhaftende rassistische Konnotationen reproduziert (etwa die Dienerfunktion derer, die mit dem ‚MWort‘ bezeichnet werden etc.). Eine andere gängige Argumentationslinie von Weißen ist, dass Wörter „nicht so wichtig“ seien. So wird Sprache oft dem Handeln bzw. einem Sprechen über (wirkliche) Inhalte gegenüber gestellt und diese so implizit als ‚Nicht-Handlung‘ bzw. ‚inhaltsleer‘ hingestellt. Sprache wird auf diese Weise zum neutralen Medium stilisiert, als würde sie einfach nur Informationen transportieren und die Wirklichkeit beschreiben sowie ‚unschuldig‘ sein. So werden Sichtweisen und Kategorisierungen als ‚gegeben‘ und
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‚normal‘ dargestellt und unreflektiert hin- und angenommen. Dadurch wird negiert, dass Sprache machtvolles Handeln darstellt. Damit kann auch die eigene Verantwortung für das Sprechen und die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem sowie dem eigenen sprachlichen Handeln verleugnet werden. Zu der Auffassung, Sprache sei nicht so wichtig und ‚neutral‘, gesellt sich oft das Argument, dass manche einfach zu überempfindlich seien oder dass die Forderung nach dem Verzicht auf bestimmte Wörter ‚haarspalterische political correctness‘ sei und eine künstliche Sprache erzwinge. Schließlich gebe es ja (leider) keine anderen Begriffe – gemeint sind dann oft dem eigenen Sprachgefühl vertraute Wörter –, man/frau müsse sich ja schließlich irgendwie ausdrücken. Dabei stellt sich aber die Frage, auf welcher Grundlage etwas als überempfindlich oder politisch übertrieben klassifiziert wird, was hier zur Norm erhoben wird, und auch, warum die terminologische Bandbreite der deutschen Sprache nicht ausgeschöpft werden sollte. Das Vermeiden rassistischer Begriffe führt in keiner Weise zwangsläufig zu terminologischen Leerstellen. Ein weiteres Argument ist, dass ein Insistieren auf dem Vermeiden rassistischer Wörter auch deswegen unsinnig sei, weil sich dadurch ohnehin nichts ändere bzw. dass sich zunächst die Wirklichkeit ändern müsse, Sprache sich dann schon automatisch an eine veränderte Wirklichkeit anpassen würde. Reker hält überzeugend dagegen: „Gesellschaftliche Veränderung also vor sprachlicher? [...] Niemand in Deutschland, der reflektiert mit Sprache umgeht, würde wohl behaupten, erst müsse der Antisemitismus in der Gesellschaft überwunden werden, bevor man sich daran stören könne, wenn Juden als ‚artfremd’ diffamiert werden.“3 Ebenfalls gängig ist das Argument, man oder frau kenne eine/n Schwarze/n, die/der nichts gegen das Wort habe oder aber, Schwarze würden sich doch selbst so bezeichnen. Tatsächlich präsentiert sich, wie Fanon bereits in Peau Noire, Masque Blancs diskutiert, weiße Macht gerade auch darin, dass Rassismus und seine Manifestationen von denjenigen, die durch Rassismus diskriminiert werden, verinnerlicht und perpetuiert werden. (vgl. Fanon 1980; vgl. Ngugi wa Thiong’o 1986) Eine andere Frage ist es, wenn sich Schwarze Gruppen bestimmte Benennungen wieder aneignen, wie zum Beispiel im Stil der ‚Kannak-Attack‘ oder der Schwarzen Rapper, die versuchen, rassistische Begriffe ironisierend aufzubrechen. Dies ist ein politischer Emanzipationsprozess, der durchaus ambivalent ist und keineswegs auf andere Bereiche übertragen werden kann. Ein ent3
Reker, Judith: Der ‚Bastard‘ bleibt im Gespräch. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,310978,00.html, am 29.07.2004
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scheidender Unterschied ist es ohnehin, ob Gruppen von Schwarzen eine Bezeichnung für sich verwenden und sich ihn dabei aneignen und kontextualisieren, ironisieren oder letztlich zurückweisen oder aber ob der Begriff als Fremdbezeichnung gebraucht wird. Zuweilen wird auch entgegnet, man/frau hätte nicht gewusst, dass das Wort abwertend sei. Schließlich sagten es doch alle (wer auch immer dabei gemeint sein mag) und schon immer so, früher jedenfalls sei das Wort nicht diskriminierend gewesen oder eben auch: man/frau würde das Wort ja nicht rassistisch meinen. Da Sprache durch historische, gesellschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenhänge geprägt ist, kann es nicht zum Kriterium erhoben werden, wie man oder frau ein Wort individuell und persönlich meint oder ob es alle benutzen oder schon immer benutzt haben. Wenn ein Wort etwa rassistisch konzipiert wurde, bedarf es zumindest einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung sowie eines offensiven Bruchs mit dieser Konnotation, bevor es auf neue Weise benutzt werden kann. 4.
Rassistische Terminologie in Wörterbüchern
Nicht selten wird eine Person, die darauf angesprochen wird, dass ein von ihr verwendeter Begriff eine rassistische Konnotation habe, ein Wörterbuch zu Rate ziehen. Wörterbücher sind nicht nur ein Wegweiser und Konservator von Sprache, sondern besitzen auch das Potenzial, als Korrektive alltäglichen Sprechens zu wirken. Doch in Bezug auf rassistische Begriffe werden sie dieser Herausforderung nicht gerecht. Selbst in aktuellen Ausgaben großer deutscher Wörterbücher werden Begriffe wie etwa ‚Buschmänner‘, ‚Hottentotten‘, ‚Schwarzafrika‘, ‚Schwarzer Kontinent‘ ‚Eingeborene‘, ‚Farbige‘, ‚Stamm‘, ‚Häuptling‘, ‚Primitive‘, ‚Kannibale‘, ‚Naturvölker‘, ‚Pygmäe‘, ‚Rasse‘ etc. noch immer als vermeintlich wertneutral (und damit das so Bezeichnete als existent) dargestellt. Bezüglich anderer Wörter findet eine Reflektionsarbeit und Distanzierung zwar statt – aber nur zögerlich und inkonsequent. Nehmen wir zunächst einmal den Begriff ‚Rasse‘4. In der aktuellen Ausgabe des Deutschen Wörterbuchs der Brockhaus Enzylopädie heißt es: „Rasse, die ...3. (Anthrop.) Menschentypus: niemand darf wegen seiner R. benachteiligt werden; Der Markt ist überdies ziemlich indifferent. Er bewertet 4
Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Termini und deren Tradierung in Wörterbüchern vgl. Arndt, Susan/Hornscheidt, Antje: Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster 2004.
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nicht nach Hautfarbe oder R. (Wirtschaftswoche 10.6.99, 4) (veraltet die weiße, gelbe, schwarze R.)“ (Brockhaus 1999: 3102)
Hier wird das Verständnis von ‚Rasse‘ als „(Anthrop.) Menschentypus“ tradiert. Zwar wird (wie auch im Grundgesetz)5 postuliert, dass „niemand ... wegen seiner R. benachteiligt werden darf“. (Brockhaus 1995: 2699) Doch zum einen scheint dies nur ein Quellensatz zu sein, erscheint er doch zumindest nicht eindeutig als Kommentar der Redaktion. Zum anderen wird hier (wie auch im Zitat aus der Wirtschaftswoche und im Grundgesetz) nicht in Frage gestellt, dass es ‚Rassen‘ gibt. Als Kritik an Rassismus gemeint, bejaht diese Aussage doch, dass es menschliche ‚Rassen‘ gibt. Hier findet sich ein durchaus lösbarer Widerspruch zwischen einer Abwendung vom Rassismus und einer Tradierung seines ideologischen Fundamentes, der durch eine Formulierung wie etwa „Niemand darf rassistisch diskriminiert werden“, leicht zu umgehen wäre. Wird in der Ausgabe des Brockhaus-Wörterbuches von 1995 unter dem Lemma „Menschenrasse“ (analog zu dem dortigen Eintrag „Rasse“) noch unumwunden definiert: „größere, zusammenhängende Gruppe von Menschen mit bestimmten gleichen od. ähnlichen Erbfaktoren (‚Hautfarbe‘, Haar, Kopfform)“ (Brockhaus 1999: 2242), wird in der aktuellen Ausgabe unter dem Eintrag „Rasse“ immerhin – und zwar ergänzend zur vorherigen Auflage, wenn auch in Klammern – vermerkt, dass das Reden von der „weiße[n], gelbe[n], schwarze[n] Rasse“, „veraltet“ sei (Brockhaus 1999: 3102). Dabei fällt freilich die Situierung als „veraltet“ vergleichsweise unbestimmt aus, denn etwas, das veraltet ist, kann letztlich durchaus ‚wertneutral‘ verwendet und als ‚nicht diskriminierend‘ eingeordnet werden. Doch immerhin hat sich die Redaktion des Brockhaus zur Infragestellung des Begriffes ‚Rasse‘ positioniert. Auch im Duden, der als wichtigster Repräsentant eines anderen Wörterbuchtypes zu werten ist, wird die Idee von ‚Rasse‘-Begriff fortgeschrieben. Allerdings hat hier ein Umformulierungsprozess eingesetzt, der demonstriert, wie Strategien des ‚Entnennens‘ und Ersatzdiskurse zu Platzhaltern rassistischer Grundannahmen werden. In der 21. Auflage von 1996 ist unter dem Stichwort „Rasse“ noch zu lesen: „Rasse, die; -, -n (franz.); die weiße, gelbe, schwarze, rote -; Rassehund“ (Duden 1996: 605). In den darauffolgenden Ausgaben von 2001 und 2006 wird die Möglich5
Hier heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3, Absatz 3)
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keit, dass Menschen nach ‚Rassen‘ unterteilt werden können, im Lemma „Rasse“ selbst ausgespart. So heißt es nur noch: „Rasse, die; -, -n (franz.); Rassehund“ (Duden 2001: 792; Duden 2006: 830-831).6 Doch wie wenig hier die Grundannahme, dass Menschen nach ‚Rassen‘ unterteilt werden können, erschüttert wird, zeigt sich schon allein daran, dass sich wenige Zeilen später Einträge finden, die das Konzept der Existenz von ‚Menschenrassen‘ bejahen. Dazu zählt etwa das Lemma „Rassenmerkmal (Biol.)“, gefolgt von Klassikern der westlichen Rassismusterminologie wie „Rassenproblem“ und „Rassenunruhen“, (Duden 2001: 792) wo ‚Rasse‘ klar auf Menschen und zwar asymmetrisch auf jene, die als ‚Nicht-Weiße‘ konstruiert sind, rekurriert. Die 6., überarbeitete und erweiterte Auflage des ausführlicheren Duden. Deutsches Universalwörterbuch von 2007 stellt sich der Frage, ob es menschliche ‚Rassen‘ gäbe, offensiv und kritisch. Zunächst wird erklärt, dass ‚Rasse‘ in der Fachsprache für eine „Bevölkerungsgruppe mit bestimmten gemeinsamen biologischen Merkmalen“ (Duden 2007: 1355) verwendet wird. Dieser Ansatz wird aber zugleich auch durch Kommentare der Redaktion gebrochen. Zum einen wird markiert, dass das Sprechen von einer „weißen, gelben und schwarzen R.“ als „veraltet“ zu werten ist (Duden 2007: 1355). Noch klarer positioniert sich ein eingerahmter Kommentar (ein für die Duden-Redaktion eher ungebräuchliches, doch zur Markierung rassistischer Begriffe häufiger verwendetes Format), in dem es heißt: „Ob der biologische Begriff Rasse auch auf Menschen anzuwenden ist, ist inzwischen wissenschaftlich höchst umstritten.“ So strikt die Formulierung „ist höchst umstritten“ auch zu sein scheint, eine Festlegung, dass es keine menschlichen ‚Rassen‘ gibt, bleibt aus. Dieser Restzweifel der Redaktion schlägt sich dann etwa auch in einer argumentativen Inkonsequenz nieder. So heißt es dann eben in dem Kommentarkasten weiter: „Wenn auf entsprechende Unterschiede Bezug genommen werden muss, sollten deshalb Ausweichformen wie Menschen anderer Hautfarbe gewählt werden.“ (Duden 2007: 1355) Die erwähnten „entsprechenden Unterschiede“ können hier nichts anderes meinen, als Unterschiede, die sich aus Theoremen von ‚Rasse‘ ergeben. Konkret wird ja dann auch ‚Hautfarbe‘ benannt, welche seit der Antike zu einer der zentralsten Kategorien des Rassismus heranreifte. In der Formulierung „Menschen anderer Hautfarbe“ wird Weißsein implizit zur Norm erhoben und als unsichtbarer Markierer verortet, von dem aus gesehen alle Nicht-Weißen als ‚anders‘ hergestellt werden. Wenn hier die Möglichkeit einer Grenzziehung entlang 6
Das Lemma „Menschenrasse“ verschwindet in diesen Auflagen im Gegensatz zu der von 1996 (Duden 1996: 487) ebenfalls.
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von ‚Hautfarben‘ bejaht wird, so ist ihr konnotativ die Idee von ‚Rasse‘ eingeschrieben.7 Wie nicht zuletzt der Eintrag ‚Hautfarbe‘ im Duden. Universalwörterbuch 2007 zeigt, funktioniert das Konstrukt ‚Hautfarbe‘ nur auf der Grundlage der Idee menschlicher ‚Rassen‘: „Hautfarbe, die Farbton der menschlichen Haut (der oft als Merkmal für die Klassifizierung von Menschen verwendet wird): eine dunkle, helle, gesunde H., sie wurden wegen ihrer (schwarzen) H. diskriminiert.“ (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2007: 773). Wenn also von der Duden-Redaktion vorgeschlagen wird, die durch den Verzicht auf ‚Rasse‘ entstehende lexikalische Leerstelle mit dem Wort ‚Hautfarbe‘ zu füllen, wird ein Ersatzbegriff für ‚Rasse‘ stark gemacht, der von jeher seine semantischen Inhalte und rassistischen Mythen teilte. Hier sind wir mit einem Beispiel konfrontiert, wie im aktuellen Umgang mit rassistischen Begriffen Ersatzdiskurse und -begriffe geschaffen werden, die letztlich tradiertes weißes Wissen umschichten und damit weiter archivieren, statt es grundlegend zu erschüttern.8 Alles, was sich ändert, ist die Sichtbarkeit der rassistischen Grundanlage der Einträge. Doch wenn die rassistische Grundanlage der Begriffseinträge weniger offensichtlich wird, so ist das kein Vorteil, sondern erschwert im Gegenteil die kritische Reflexion von rassistischen Strukturen in Wörterbüchern – wie auch im alltäglichen Sprechen der deutschen Gesellschaft. Analog zu dieser fortwährenden Tradierung der Idee von ‚Rasse‘ wird in deutschen Wörterbüchern auch mit kollektivierenden Personenbezeichnungen koloniales Wissen tradiert. Stellvertretend für viele steht der völlig unkommentierte Eintrag in der aktuellen Brockhaus-Enzyklopädie für „Mulatte“: „(männlicher) Nachkomme eines negriden u. eines europiden Elternteils (heute oft als abwertend empfunden).“ (Brockhaus 1999: 2652) Hier wird nicht nur von der Fiktion einer ‚Rassen‘mischung ausgegangen, sondern mit „negrid“ sogar das Vokabular längst überholter Rassentheorien revitalisiert. Daran ändert auch die unzureichende Klassifizierung „oft als abwertend empfunden“, die einzige Neuerung gegenüber der Ausgabe von 1991, wenig. Diese Klassifikation als „abwertend“, die etwa auch bei ‚Bananenrepublik‘ (Brockhaus 1999: 203)9 auftaucht, unterscheidet sich von der Schärfe des Wortes „diskriminierend“. 7
8
9
Gleiches gilt, wie oben bereits ausgeführt, für den auch hier noch angeführten StandardBeispielsatz der Duden-Redaktion: „niemand darf wegen seiner R. benachteiligt werden“ (Duden 2007: 1355), der direkt an die als fachsprachlich verortete Erklärung des Begriffes ‚Rasse‘ anschließt. Für eine ausführliche Darlegung der konnotativen Verschränkung von ‚Rasse‘ und ‚Hautfarbe‘ in genealogischer Perspektive, vgl.: Arndt, Susan; „Hautfarbe“, in: Susan Arndt, Sera Choi, Antje Hornscheidt und Adibeli Nduka-Agwu: Rassismus und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, i.E. Hervorhebung der Autorin
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Taucht dieses Attribut bei Einträgen wie „Neger“ oder „Asylant“ auf, so oft in der Konstellation „als diskriminierend empfunden“. (Brockhaus 1999: 180, 684)10 Wenn aber postuliert wird, dass etwas als abwertend oder diskriminierend empfunden wird, so wird suggeriert, bei einem Gebrauch des betreffenden Begriffs könne zwischen einer ‚eigentlichen‘ und ‚reinen‘ Bedeutung einerseits sowie den Empfindungen einiger, das Wort sei diskriminierend, andererseits differenziert werden. So wird der Eindruck geweckt, die Diskriminierung stecke nicht im Wort, sondern sei von einer individuellen Empfindung abhängig zu machen, die auch nicht generalisiert werden könne. Somit werden auch die oben schon erwähnten Abwehrstrategien unterstützt, etwa dass jemand vielleicht einfach nur „überempfindlich“ sei oder dass es ausreichen würde, das Wort nicht rassistisch zu meinen. Noch vager wird die oben schon aufgetauchte Einstufung als „veraltet“ oder gar „veraltend“. So wird im aktuellen Duden „Mohr“ als „veralteter“ Begriff für einen „dunkelhäutigen Afrikaner“ (Duden. Die deutsche Rechtschreibung 2006: 1160) bzw., in Vermeidung der Hautfarbenkonnotation, für einen „Schwarzen“ verortet (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2007: 1160). Über die Formulierungen „veraltet“/„veraltend“ bleibt der diskriminierende Charakter dieser Wörter nicht nur ausgeblendet. Im Wortlaut der Erklärungen wird er zudem noch verstärkt, wobei eben auch das Konstrukt ‚Hautfarbe‘ aufgerufen wird – auch im Duden. Deutsches Universalwörterbuch, wo es parallel zur Rechtschreibung dann eben auch heißt: „Mohr … dunkelhäutiger Bewohner von Mauretanien … der Kleine kam schwarz wie ein M. (fam.; sehr schmutzig) nach Hause … sie kehrte schwarz wie ein M. (fam., tief gebräunt) aus Tunesien zurück“ (Duden 2007: 1160). Diese unkritische Tradierung rassistischen Sehens findet schließlich auch ihren Niederschlag im Begriffseintrag „Weißsein“. Im Duden von 2001 wird es synonym zu „Weiße“ gesetzt und Weiße werden hier, wie auch in den aktuellen Ausgaben von 2006 (Rechtschreibung) und 2007 (Deutsches Universalwörterbuch), wo das Lemma „Weißsein“ fehlt, wiederum in der Tradition abendländischen Denkens erklärt als „Mensch mit heller Hautfarbe“. (Duden 2001: 1065; Duden 2006: 1111; Duden 2007 1910) Auf den Duden nimmt dann wiederum die ILTIS-Datenbank für Bibliotheken bezug. In der Rubrik „benutzt für“ steht unter „Weiße“ dann „Weiße Rasse“ und „Weißer“. Als „Verwandter Begriff“ wird allein „Europide“ angeführt.11 10 11
Hervorhebung der Autorin Schlagwort (4132038-4). Iltis-Datenbank der ddb besucht am: 06.12.2004. Als Ländercode wird „XQ“ angegeben, welcher Teil des Codes für „länderübergreifende Staatengruppen“ bzw. „Sonstiges“ ist und für „Gesamte Welt, Übrige Welt“ steht (Listen der Ländercodes,
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Gerade durch ihren selbst zugesprochenen und gesellschaftlich angenommenen Status, sowohl „Bestandsaufnahme als auch Wegweiser“ (Duden 2001: Vorwort, ohne Seitenangabe) zur deutschen Sprache zu sein, besitzen Wörterbücher eine hohe multiplikatorische Funktion und Wirkmacht. Dabei bleibt aber verschleiert, dass hier tradiertes weißes Mittelklasse-Wissen und -Sprechen archiviert wird. Wird in diesen Publikationen darauf verzichtet, den rassistischen Werdegang eines Wortes zu markieren, so schleicht sich aufgrund der Autorität der Wörterbücher schnell der Irrglaube ein, diese Begriffe seien wertneutral – im Duden. Deutsches Universalwörterbuch heißt es, dass „[n]ormalsprachliche Wörter nicht besonders gekennzeichnet“ werden (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2007: 18) – und könnten unbedenklich benutzt werden sowie, dass der einzelne keine Verantwortung für den Sprachgebrauch trage. (vgl. Arndt/Hornscheidt 2004: 33-44) Zwar räumt die Redaktion des Duden. Deutsches Universalwörterbuch ein, das „Angaben zu Sprachstil, zur Sprachebene … immer wertend und damit oft subjektiv“ sind, doch erhebt sie zugleich ihr Universalwörterbuch über diese Subjektivität, wenn es heißt, dass es sich „auf eine Fülle statistisch ausgewerteten Materials berufen kann und so mit empirisch abgesicherten Daten die Ebene der rein subjektiven Bewertung hinter sich lässt“ (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2007: 18). In dieser Perspektive steht dann etwa die subjektive Betrachtung, dass das ‚N-Wort' als „stark diskriminierend gilt“ (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2007: 1200), der vermeintlich statistisch abgesicherten Beobachtung gegenüber, dass der Begriff „Farbiger“ – der unkommentiert als „jmd., der farbig ist“, d.h. „eine braune oder schwarze [od. rote od. gelbe] Hautfarbe habend“ (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2007: 553) definiert wird – als „normalsprachlich“ (Deutsches Universalwörterbuch 2007: 18) und damit nicht-rassistisch einzuschätzen ist. Vor diesem Hintergrund ist es dringend notwendig, dass in Deutschland begonnen wird, das Medium Wörterbuch als weißes Wissensarchiv herauszufordern und etwa Begriffe wie ‚Hautfarbe’, ‚Rasse‘, ‚M-Wort‘ und ‚Farbige‘ als Konstrukte des Rassismus und Begriffe wie Schwarze und Weiße als historisch hergestellte Positionen und kritische Wissenskategorien zu rearchivieren – und zwar eingebettet in intensive Auseinandersetzungen mit den S. 8 (Anwenderdefinierte Codes nach DIN EN ISO 3166-1)) – eine Kategorie, die besagt, dass sich die geographische Verortung der Gruppe nicht mit den vorausgehenden Ländercodes bezeichnen lässt. Für eine weiterführende kritische Auseinandersetzung mit Schlagwortkatalogen vgl.: Witte, Ben: Kritische Analyse von Begriffen und Benennungen in deutschsprachigen Schlagwortkatalogen, Klassifikationen und Thesauri. Magisterarbeit am Institut Bibliothekswissenschaften und Dokumentationswissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin 2005.
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dahinter stehenden gesellschaftlichen und politischen Prozessen und Ideologien. 5.
Strategien der kritischen Reflektion
Auch wenn jede Gesellschaft sprachliche Standards und Normen (z.B. durch Wörterbücher, Rechtschreibeleitfäden etc.) vorgibt, die dominierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse repräsentieren und reproduzieren, ist und bleibt Sprachgebrauch ein dynamischer Prozess und Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die individueller Initiativen bedürfen. Der bewusste Umgang mit Sprache ist eine wichtige politische Strategie und Handlungsweise, die in der Auseinandersetzung mit Rassismus, wie auch immer langwierig und kraftintensiv sie ist, weitreichende Effekte haben kann. Ein erster wichtiger Schritt eines emanzipativen Umgangs mit Sprache ist, sich ihre Wirkungsmacht bewusst zu machen. Dazu gehört, anzuerkennen, dass Sprache nicht neutral ist, mit dem Gebrauch von Sprache immer auch gehandelt und (unbewusst) ein bestimmtes Bild von Wirklichkeit entworfen und tradiert wird. Durch Sprache werden mentale Konzepte hergestellt oder wachgerufen. Zudem geht es darum, sich und anderen einzugestehen, dass durch Sprachgebrauch (unbewusst) eine bestimmte Meinung vertreten und Gewalt ausgeübt wird, Sprache also nicht ‚unschuldig‘ gebraucht werden kann und durchaus individuelle Verhandlungsspielräume bietet. In Bezug auf die deutsche Afrikaterminologie heißt das etwa, sich deren Verwurzelung in Kolonialismus und kolonialistischer Mentalität sowie ihre historische wie auch aktuelle Wechselwirkung mit Rassismus zu vergegenwärtigen. In einem zweiten Schritt kann begonnen werden, die Konzeptualisierungen, die durch den Gebrauch bestimmter Begriffe tradiert werden, zu reflektieren. Im Rahmen dieser kritischen Reflektion kann es aufschlussreich sein, sich die Etymologie eines Wortes bewusst zu machen und zu fragen: Wie und wann ist der Begriff entstanden? Was bzw. wer wurde damit bezeichnet? Wer hat ihn benutzt und mit welchen Wertungen versehen? Dazu möchte ich an meine Ausführungen etwa zu ‚Hottentotten‘ oder ‚Buschmänner‘ zu Beginn des Artikels erinnern. Zudem ist es in der Regel aufschlussreich, sich die Pragmatik, das heißt den (aktuellen) Gebrauchsgehalt eines Begriffs zu vergegenwärtigen und sich zu fragen: Welche der ursprünglichen Bedeutungsteile sind erhalten, werden heute immer noch reproduziert und schwingen in der Verwendung mit? Aber auch: Welche neuen oder zusätzlichen Konnotationen hat das Wort? Der
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Begriff ‚Farbige‘ etwa konstruiert eine Hautfarbendichotomie zwischen Weißen und Farbigen, wobei er von dem Postulat ausgeht, dass es ‚Rassen‘ gäbe. Dabei impliziert er etwa, dass Weiße keine Haut-Farbe hätten und setzt Weißsein damit als ‚Norm‘. Im Umkehrschluss werden ‚Farbige‘ rassialisierend markiert und zum Anderen gemacht. Auch wenn man/frau einer anderen semantischen Interpretationsweise folgt, nämlich jener, wonach ‚farbig‘ ‚bunt‘ impliziert, wird die ‚weiße Haut‘ als ‚nicht-bunt‘ hergestellt und damit ebenfalls implizit zur Norm erhoben. Ganz im Gegensatz dazu steht der deutsche Begriff ‚hautfarben‘, der auf ‚die Hautfarbe‘ des Konstruktes ‚weiße Europäer/innen‘ rekurriert und sie damit als Norm setzt. (vgl. Bauer/Petrow 2004: 128-131) Zudem kann es beim Versuch, rassistische Konnotationen eines Wortes aufzuspüren, aufschlussreich sein, sich anzuschauen, in welchen Wortkombinationen und -zusammensetzungen, Phrasen, Redensarten und Redewendungen der Begriff vorkommt. Durch diese Perspektive können zum einen abwertende Konnotationen eines Wortes bewusst gemacht werden. Zum anderen kann so gezeigt werden, wie in angeblich wertneutralen Formulierungen (wie etwa ‚Mohreneisbecher‘) diskriminierende Wörter unreflektiert reproduziert werden. In den Umgangsphrase „Ich bin doch nicht dein Neger“ oder dem zum Volksmund ausgereiften Schillerzitat „Der Mohr hat seine Schuldigkeit (bei Schiller: Arbeit) getan, der Mohr kann gehen“ wird beispielsweise die Vorstellung transportiert und verfestigt, dass dieser ein ‚Mensch zweiter Klasse‘ sei, der Hilfsdienste gegenüber anderen, Weißen, zu leisten habe. Und wenn schlechter Kaffee als ‚Negerschweiß‘ bezeichnet wird, liegt auf der Hand, dass dem ‚N-Wort‘ eine negative Bedeutung anhängt. Zudem zeigt sich an diesen Beispielen, wie solche Begriffe unter der Maßgabe einer vermeintlichen Wertneutralität in ganz verschiedenen Kontexten allgegenwärtig sind. Hilfreich ist es aber oftmals auch, sich selbst und andere nach Assoziationen zu bestimmten Wörtern und Sätzen zu befragen und sich somit bewusst zu machen, was spontan mit einem Begriff verbunden wird. Schließt man/frau etwa die Augen und stellt sich einen ‚Häuptling‘ vor, was ist dann zu sehen? Und wie wird das von einem/einer selbst bewertet? Zudem lohnt die Überlegung, ob das Wort auch auf den deutschen/europäischen Kontext bzw. Weiße übertragen werden könnte. Es könnte also beispielsweise getestet werden, wie weiße Deutsche den Begriff bezogen auf sich selbst empfinden würden. Warum werden beispielsweise Sorben, Elsässer oder Schotten nicht als ‚Stämme‘ oder ‚Eingeborene‘ bezeichnet, warum ein Schwarzer Deutscher, nicht aber ein Kind aus einer
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weißen französisch-deutschen Beziehung als ‚Mischling‘, warum Holzkreuze in Klassenzimmern nicht als ‚Fetisch‘? Schließlich kann gefragt werden, ob es sich jeweils um symmetrische oder asymmetrische Begriffsverwendungen handelt. Gerade bei Benennungen, die aus zwei Wörtern bestehen und in denen der erste Bestandteil den zweiten näher spezifiziert, kann überprüft werden, ob es ein Pendant dazu gibt oder ob es sich um eine einseitige Spezifizierung handelt, so dass eine Normvorstellung unbenannt bleibt. Warum wird beispielsweise von ‚Bananenrepublik‘ geredet, nicht aber von ‚Kartoffelrepublik‘? Getragen von kritischen Reflexionen, die von diesen Kriterien konturiert sind, kann es schließlich zum Verzicht auf kolonialistisch geprägte und rassistisch wirkende Begriffe kommen und statt dessen auf alternative Begriffe zurückgegriffen werden. In bestimmten Kontexten ist es sinnvoll, Wörter zu verwenden, die auch für den Kontext aktueller weißer westlicher Gesellschaften gängig sind. Etwa kann von Gesellschaften, Kulturen oder auch Völkern gesprochen werden, statt von ‚Stämmen‘; oder von HerrscherInnen, MachthaberInnen, PolitikerInnen oder, wenn es passt, KönigInnen statt von ‚Häuptlingen‘. Allerdings ist dieser Rückgriff auf westliche Konzepte nicht immer möglich oder sinnvoll. So ist es in anderen Zusammenhängen eher angebracht, auf Selbstbenennungen der Bezeichneten zurückzugreifen. Ist etwa nicht von Repräsentant/innen von Macht in Afrika im Allgemeinen die Rede, sondern geht es um eine konkrete afrikanische Gesellschaft, kann auf die Bezeichnung der jeweiligen Sprache zurückgegriffen werden – etwa auf eze für den Kontext der Igbo Gesellschaft als Alternative zu ‚Häuptling‘. Neben dem sich hier manifestierenden Zurückgreifen auf bereits existierende Begriffe gibt es aber auch Selbstbezeichnungen, die im Prozess politischer Emanzipationsbewegungen konzipiert worden sind – meist um auf Rassismus aufmerksam zu machen und sich als gesellschaftliche Gruppe zu konstituieren und zu markieren. So wäre es etwa im emanzipatorischen Sinne fatal, wenn gemeinhin als ‚Mischlinge‘ oder ‚Mulatten‘ bezeichnete Schwarze Deutsche nunmehr einfach als Deutsche klassifiziert werden würden. Natürlich müssen diese Begriffe wegen ihres rassistischen Charakters überwunden werden. Gleichzeitig ist es aber wichtig, sprachlich darauf zu reagieren, dass Schwarze Menschen in Deutschland Rassismus ausgesetzt sind und rassistisch geprägte Sozialisierungsmuster Weiße und Schwarze kulturelle Identitäten und Positionen nachhaltig geprägt haben und noch immer prägen. Dass sich in Anlehnung an Debatten in Nordamerika, Frankreich und Großbritannien zunächst ‚Afrodeutsche‘ und später dann ‚Schwarze Deutsche‘ sowie auch (binnendifferenzierend) ‚Schwarze‘ und ‚People of
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Color‘ als Selbstbezeichnungen etabliert haben, ist ein Beispiel für diese sprachliche Ambivalenz von Markierung und Emanzipation von Rassismus. Diese Selbstbenennungen ersetzen rassistische Begriffe und machen Schwarze als politische Gruppe sichtbar, wodurch sie sich kollektiv politisch verorten, ihre Erfahrungen benennen und ihren Widerstand artikulieren können. Dies zeigt, dass die Repräsentation durch und mit Sprache ebenfalls ein wichtiger Schritt im Kontext gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse ist. Allerdings wäre es, wie ich zum Schluss kommend unterstreichen möchte, ein Irrglaube anzunehmen, dass der Verzicht auf rassistische Begriffe automatisch im Verschwinden der Auffassungen, die diese Begriffe produziert haben bzw. produzieren, resultieren würde. Erst wenn sich das Vermeiden von Begrifflichkeiten im Kontext einer intensiven Auseinandersetzung mit den dahinter stehenden gesellschaftlichen und politischen Prozessen und Ideologien vollzieht, kann es zu relevanten Erschütterungen kommen. Dies schließt auch eine öffentliche Debatte über den Zusammenhang von Ideologie, Wissensformation und Sprache ein. So werden nicht nur Argumente offeriert, mit deren Hilfe dann interveniert werden kann, wenn diese Wörter unreflektiert verwendet werden. Zudem werden auf diese Weise historische Prägungen, rassistische Strukturen und Machtkonstellationen der Gesellschaft zur Sprache gebracht, was eine prinzipielle Sensibilisierung für Sprechen und andere rassistische Begriffe, auch künftig entstehende, zur Folge haben kann. Erst eine genaue und kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Konnotationen eines Wortes garantiert eine sprachliche Weiterentwicklung, die dann auch verhindert, dass man/frau auf Neologismen oder andere alternative Begriffe zurückgreift, die einfach nur in neuem sprachlichen Gewand gewohnte diskriminierende Muster transportieren. Dass es nicht sinnvoll ist, auf bestimmte Wörter einfach nur zu verzichten und sie durch andere zu ersetzen, die sich vielleicht erst einmal ‚politisch korrekter‘ anhören, die aber eigentlich genau die selben Inhalte transportieren, zeigt das Beispiel ‚Ethnie‘. Wer heute nicht mehr auf ‚Stamm‘ und ‚Rasse‘ zur Bezeichnung (biologistisch konstruierter) gesellschaftlicher Gruppen zurückgreifen will, weil er/sie um den rassistischen Gehalt dieser Wörter weiß, spricht oft von ‚Ethnie‘. Es ist richtig, dass ‚Ethnie‘ der rassistischen Begriffsgeschichte von ‚Stamm‘ und ‚Rasse‘ entbehrt. Letztlich transportiert der Begriff aber analoge Inhalte, und zwar gerade auch, weil die begriffliche Ersetzung nicht mit einer kritischen Reflexion der Inhalte von ‚Stamm‘ und ‚Rasse‘ einhergeht. Zu diesen inhaltlichen Kontinuitäten zählt etwa, dass im Allgemeinen nur ‚Nicht-Weiße‘ Kulturen als ‚Ethnien‘ bezeichnet werden. Zudem sind
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die Kriterien, auf denen sich Zuordnungen zu ‚Ethnie‘ vollziehen, ungenau. So wird einer Homogenisierung Vorschub geleistet. Aber gerade weil ‚Ethnie‘ gemeinhin als ‚neutrale‘ Ersetzung gilt, können eben diese rassistischen Denk- und Konzeptualisierungsmuster fort- und festgeschrieben werden – und zwar potenziert dadurch, dass sich das bei ‚Ethnie‘ unsichtbar, das heißt getarnt durch eine allgemeine Akzeptanz, vollzieht. (vgl. Arndt/Hornscheidt 2004: 124-126)12 6.
Rassistisches Sprechen jenseits diskriminierender Begriffe
In der Auseinandersetzung mit rassistisch geprägten Wörtern darf freilich nicht aus den Augen geraten, dass sich rassistisches Sprechen auch unabhängig von der konkreten Präsenz dieser kolonialistisch geprägten Termini manifestiert. Eine häufig anzutreffende Strategie wäre, dass Weißsein als ‚normal‘, neutral and universal präsentiert wird. (vgl. Arndt 2005) Exemplarisch manifestiert sich dies in der folgenden Schlagzeile aus der B.Z. (Illustration): ERSTER AFFE ALS MENSCHLEIN GEBOREN! Was macht den Affen zu einem Menschen? Dass er ‚rosafarbene Haut‘ hat? Hier wird suggeriert, dass Menschen eben eine helle Haut haben (müssen). Schwarzen wird ihr Menschsein damit implizit abgesprochen, zumindest werden sie in Tiernähe verortet. Diskursiv ähnlich gelagert ist das folgende Beispiel von einem Kalenderblatt aus dem Duden-Abreißkalender von 2003. Hier heißt es: „Das Okapi ist eines der wenigen Großtiere, die bis ins 20. Jahrhundert unentdeckt blieben. Erst 1901 stieß man in den Regenwäldern des Kongo auf das erste Exemplar des etwa pferdegroßen Tieres.“ ‚Man‘ wird hier synonym für ‚Weiße‘ verwendet, wobei diese Normsetzung von Weißsein und die damit verbundene Entnennung von Schwarzen verschleiert bleibt. Analog dazu werden Schwarze ignoriert, wenn etwa „von der Entdeckung der Neuen Welt“ gesprochen wird – ein Euphemismus, der kolonialistische Eroberungen verharmlost und komplett ausblendet, dass es schon vor den EuropäerInnen Menschen gab, die diese Erdteile bewohnten. Dieses Denkmuster findet seine Klimax im Begriff ‚Indianer‘ – einem auf einem historischen Irrtum beruhenden Begriff, der wie kein anderer als 12
Letztlich bietet das Verwenden von ‚Ethnie‘ als Strategie einer bloßen ‚Ersetzung‘ die Möglichkeit, an diesem Punkt nicht weiter über Rassismus nachdenken zu müssen und dringend notwendige öffentliche Debatten (auch über Sprache und Kolonialismus) zu vermeiden. Diese anzuregen, steht in der Macht jeder und jedes Einzelnen und ist ein wichtiger Meilenstein in der Erschütterung ‚weißer Wissensarchive‘.
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Synekdoche für eurozentristisch verteidigtes Nicht-Wissen im Kontext kolonialer Eroberungen gelesen werden kann. Die vielfältigen diskursiven Manifestationen kolonialistisch geprägten Sprechens mögen sich zwar weitgehend unbemerkt vollziehen, deswegen präsentieren sie sich aber keineswegs als weniger macht- und wirkungsvoll. Vielmehr besteht gerade in der Sichtbarmachung dieser sprachlichen Präsenz von Kolonialismus und Rassismus ein wichtiger Meilenstein der Erinnerungspolitik, die die deutsche und europäische Kolonialgeschichte zu resituieren vermag.
7.
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Inken Gesine Waßmuth Afrikaner als Produkt kolonisatorischen Sprechens in Kolonie und Heimat The question of how colonial discourse is used to create reality is in the focus of this article. The analysis of central discursive concepts in three volumes of the journal Kolonie und Heimat -- published from 1907-1918 -- allow access to collective knowledge systems. This approach is based on the assumption that in public discourses texts are means for the constitution, manifestation and distribution of knowledge. If context data are systematically analysed, interpretations of central discursive concepts are possible, which enable us to draw conclusions about the creation or reality by language. Methodologically this plan can be realized with a linguistic-semantic frame analysis focusing on the linguistic patterns which describe the African colonized population. Those patterns reveal the strategies used by colonizers to present indigenous peoples as deficient in relation to a German norm.
1.
Vorbemerkung
Der vorliegende Beitrag ist in der kulturwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft angesiedelt. Sozial- und kulturhistorisch motiviert, liegt die Intention der Untersuchung im Aufzeigen von sprachlich manifestiertem gesellschaftlichem Wissen während des deutschen Kolonialismus in Afrika. Das Interesse besteht in der Analyse sprachlicher Gebrauchsmuster in der deutsch-afrikanischen Auseinandersetzung mit Fokus auf dem Afrikanerbild1. Sprache wird hierbei nach Warnke (i.d.B.: 32) nicht als Medium der Übermittlung von Inhalten verstanden, sondern als Bedingung für die Bildung von Vorstellungen. Im kolonialen Kommunikationsraum spielt die Sprache, konkret das Sprechen über die Kolonien, eine zentrale Rolle für die Bildung einer kolonisatorischen Identität. Eine auffällige Diskrepanz von Realität und Imagination durch das Sprechen über das koloniale Geschehen weist auf einen zweidimensionalen Kolonialismus hin. Während die kolonialen Praktiken der Landnahme, Vertreibung, Ausbeutung und Beherrschung von Ha (2006) als primärer Kolonialismus bezeichnet 1
Der Ausdruck ‚Afrikanerbild’ subsumiert die Vorstellungen der Deutschen von schwarzen Afrikanern.
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Inken Waßmuth
werden, umfasst der sekundäre Kolonialismus eine „gesellschaftliche Dynamik der Wissensproduktion“ (Ha 2006), ein „Netz von Wünschen, Imaginationen, Vorstellungen und Erfahrungen“ (Warnke i.d.B.: 28). Sprachliche Spuren von konzeptgebundenem Wissen2 im Prozess der gesellschaftlichen Aushandlung von Bedeutungen werden unter Zuhilfenahme einer linguistisch-semantischen Frame-Analyse in der Zeitschrift Kolonie und Heimat ermittelt. Auffallende sprachliche Mechanismen, die im Textkorpus das Bild des Afrikaners3 konstituieren, verweisen auf das latente Ziel der eigenen Aufwertung durch eine affirmative Selbstdarstellung der Kolonisatoren4 im Kontrast zur pejorativen Fremddarstellung. 2.
Das Bild des Afrikaners
Bereits vor den ersten persönlichen Begegnungen mit ‚schwarzen Menschen’ in Europa ist das Sprechen über sie präsent. Seit der Antike sind Menschen dunkler Hautfarbe Gegenstand reger Auseinandersetzung unterschiedlichster Art. Schon die Griechen führen eine ambivalente Diskussion über ihre ‚kulturellen Vorfahren’5: Einerseits erscheinen sie ihnen als rohe, unzivilisierte Barbaren, andererseits idealisieren sie die Äthiopier als den menschlichen Vertreter reinen Urzustandes (Wiener 1990: 25f.). Je nach Zeitgeist und Zusammenhang ist das Sprechen über Farbige unterschiedlich geprägt. Symptomatisch für die euro-afrikanische Beziehung 2
3
4
5
Zu den Grundbausteinen der Wissensrepräsentation gehören Konzepte. Unter dem Begriff ‚sprachliches Konzept’ wird eine Sammlung von Bedeutungssegmenten gefasst, die nicht trennscharf von anderen Konzepten isoliert sein müssen. Es sind die Vorstellungen, die sprachlich durch unterschiedliche Ausdrücke realisiert werden, sich aber auf ein und dieselbe außersprachliche Einheit beziehen. Somit besteht ein Konzept aus diversen sprachlichen Äußerungen, die diese Einheit benennen, beschreiben und von anderen Konzepten abgrenzen. Die verwendeten Begriffe ‚Afrikaner’, ‚Neger’, ‚Schwarzer’ etc. haben keinen wertenden und erst recht keinen pejorativen Charakter, sondern dienen ausschließlich der Benennung. Obgleich manche Bezeichnungen subtil diskriminierend erscheinen, verwende ich bewusst nur partiell Ersatzterminologie, da durch die übliche Bezeichnung jener Zeit die zeitgenössischen Vorstellungen am ehesten vermittelt werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Kürze wird darauf verzichtet, stets die männliche und die weibliche Form aufzuführen. Stattdessen wird bei generischer Referenz die grammatisch männliche Form verwendet, gemeint sind aber in allen Fällen Frauen und Männer. Martin Bernal formuliert in seinem viel diskutierten dreibändige Werk Black Athena (1987, 1991, 2006) die These, die griechische Zivilisation stamme aus dem semitischen Osten und dem hamitischen Süden. Er kritisiert damit das bestehende ‚antike Modell’, welches durch massive Fälschung der Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert den Einfluss der ägyptischen Hochkultur auf das antike Griechenland aus dem kulturellen Gedächtnis eliminiert habe (vgl. auch Assmann 1992).
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und außerordentlich ausgeprägt während des deutschen Kolonialismus ist jedoch der Blick auf Afrika als Abgrenzung zu Europa. Die wesentlichen Etappen der Formierung des europäischen Afrikanerbildes6 werden durch epochentypische Kontexte gebildet. Ist zunächst das christliche Verständnis und die christliche Farbensymbolik7 ausschlaggebend für den Vergleich des afrikanischen Wesens mit dem ‚Teufel’ (Martin 2001: 20ff.), dominiert später das Motiv des ‚kindlich-naiven Negers’ während der Aufklärung im Kontrast zum ‚animalischen Wilden’. Mit dem aufklärerischen Gedankengut weicht die ‚göttliche Ordnung’ der ‚natürlichen Ordnung’, ohne am Status der Minderwertigkeit des ‚Anderen’ etwas zu ändern (El-Tayeb 2001: 13). Letztlich wird der ‚Schwarze’ nur noch unter den Gesichtspunkten der Anatomie und Physiognomie gesehen, von seinem ästhetischen Äußeren wird auf das moralische Innere geschlossen. In der Diskussion der Differenzierung von Mensch und Tier stellt der Afrikaner das Bindeglied dieser beiden Spezies dar. Die Deutung der darwinistischen Schriften hin zum Sozialdarwinismus, einer „pseudowissenschaftliche[n] religionsähnliche[n] Argumentation, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse aufgrund vermeintlicher biologischer Differenzen zwischen Menschengruppen als ‚naturgegeben’ legitimierte“ (Schubert 2003: 59), zeigt deutliche Wirkung während der deutschen Machtergreifung in Afrika. Der „Konkurrenzkampf der Nationen“ (Speitkamp 2005: 19) erhält die Legitimation der ‚natürlichen Auslese’ und des ‚Überlebens des Stärkeren’, wodurch der ‚Neger’ offen unterdrückt - sogar vernichtet werden konnte (Schubert 2003: 64). 3.
Der koloniale Kommunikationsraum
Hulme (1986: 2) liefert einen Vorschlag zur Bestimmung des kolonialen Diskurses, der allgemein als Definition gehandelt wird: […] colonial discourse [is] the ensemble of linguistic based practices unified by their common deployment in the management of colonial relationships, an ensemble that could combine the most formulaic and bureaucratic of official documents with the most non-functional and unprepossessing of romantic novels. Underlying the idea of colonial discourse, in other words, is the presumption 6 7
Einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung des europäischen Afrikanerbildes liefert Martin (2001); Darstellungen mit dem Schwerpunkt auf den deutschen Kolonialdiskurs bieten Scheulen (1998), Schubert (2003) und Sobich (2006). Den Farben Weiß und Schwarz wurden von alters her die Antonyme Licht und Finsternis, Schönheit und Hässlichkeit, Unschuld und Sünde, Güte und Bosheit sowie Gott und Teufel zugeordnet (vgl. Klauser 1969, Stichwort: Farbe).
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Inken Waßmuth that during the colonial period large parts of the non-European world were produced for Europe through a discourse that imbricated sets of questions and assumptions, methods of procedure and analysis.
Hulme formuliert hier zwei wesentliche Kennzeichen kolonialer Gesprächspraktiken: Unabhängig von der Kolonialmacht wird der Diskurs erstens immer von den Kolonisierenden produziert, indem sie eine koloniale Wirklichkeit mit eigenen Motiven durch Sprache herstellen. Sein Verweis spielt auf die Aktanten-Rolle in Diskursen und die damit einhergehenden Machtstrukturen8 an. Zweitens werden während des Kolonialismus zuvor unbekannte Teile der nicht-europäischen Welt für Europa mittels Sprache produziert. Im Zentrum stehen dabei die Praktiken und Regeln, die diese Sprache und die ihr zugrunde liegende „methodischen Denkansätze“ (Mills 2007: 116) erst produzieren. Die erstgenannte Machtanalyse findet besondere Aufmerksamkeit in Arbeiten der kritischen Diskursanalyse. Sie wird an dieser Stelle auf Grund der deskriptiv diskursanalytischen Ausrichtung der Untersuchung nicht weitergeführt9, kann aber als Perspektive mitgedacht werden. Mein Interesse gilt der Wirklichkeitskonstruktionen im Kommunikationsraum mit dem Ziel an Hand von sprachlichen Mustern dominante Denkmuster herauszufinden (Teubert 2006: 59). Erfolgreich haben sich für diesen Zweck korpusorientierte Untersuchungsverfahren erwiesen, die die Extraktion von kognitiven Schemata aus sprachlichen Äußerungen ermöglichen. Angesichts der Vielfalt der Textthemen und Textsorten des kolonialen Gesprächsraums liegt es nahe, eine populäre Kolonialzeitschrift zu analysieren, die in sich ein breites Spektrum von offiziellen Ankündigungen, über Unterhaltungsliteratur bis zu Berichten über das Leben in den Kolonien vereint und die kolonialen Themen gebündelt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Im Wechselspiel zwischen passiver Repräsentation und aktiver Mitgestaltung des Gesellschaftsgesprächs ist eine solche Zeitschrift Teil des massenmedialen Diskurses.
8
9
Durch Diskursivierung des Aktantenmodells werden gewünschte Machtverhältnisse über Riten und Texte inszeniert, aufrechterhalten und institutionalisiert. Dabei kann nur die Instanz Macht ausüben, die über die Fähigkeit der Diskursivierung und deren Medialisierung verfügt. Die germanistische Diskurslinguistik hat nach Warnke (2008: 13) zwei Ausrichtungen: die Kritische und die linguistische Diskursanalyse. Beide Richtungen beschreiben Machtstrukturen, wenn sie den Diskurs im Sinne Foucaults betrachten. Sie unterscheiden sich aber darin, dass die Kritische Diskursanalyse wertend, die linguistische Diskursanalyse deskriptiv arbeitet.
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4.
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Die Zeitschrift Kolonie und Heimat
Das Korpus der Untersuchung bilden drei Jahrgänge (1908-1911) der Kolonialzeitschrift Kolonie und Heimat10. Die reich bebilderte Zeitschrift zählt zu den beliebtesten und einflussreichsten Medien der Kolonialzeit (Kundrus 2003: 12). In der ersten Ausgabe vom 1. Oktober 1907 wird die Intention des Blattes wie folgt formuliert: Dieses Blatt soll der sichtbare geistige Mittelpunkt der Frauen draussen und in der Heimat sein, wird Ratschläge erteilen und entgegennehmen und durch Wort und Bild den kolonialen Gedanken in den deutschen Frauenherzen weiter pflegen. (I. 1: 13)
Mittels Berichten über das Leben in den deutschen Kolonien, ethnographischen Darstellungen über die indigene Bevölkerung sowie soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Mitteilungen wird das Bestreben der Zeitschrift, „ein Bindeglied zu werden zur Pflege der geistigen und materiellen Beziehungen zwischen Mutterland und Kolonie“ (III. 26: 1) realisiert. Neben der Berichterstattung, dem Austausch von Ratschlägen und der medialen Verbundenheit, hat die Zeitschrift noch einen weiteren Auftrag: Kolonie und Heimat hat sich zum Ziel gesetzt über die Kolonien zu berichten, um das ‚Deutschtum’ in den Kolonien zu etablieren. Die Auswanderinnen haben den Auftrag neben der deutschen Sprache auch die deutsche Kultur, Sitte und Religion in die Kolonien tragen und das ‚Deutschtum’ in den Familien „kulturell und biologisch [zu] reproduzieren“ (Walgenbach 2005: 197). Damit sollen sie den so genannten ‚Mischehen’11 zuvorkommen und stabilisieren durch die Betonung der deutschen Eigenart gleichzeitig die eigene Identität (Kundrus 2003: 10) sowie die koloniale Herrschaftskultur (Grosse 2001: 157). Dieses Bestreben wird wie folgt formuliert: Die deutsche Natur ist an sich schon sehr aufnahmefähig für Fremdkörper; deshalb dringen Fremdes und Fremdartiges in der Ferne sehr leicht und sehr nachhaltig in deutsches Wesen ein. Hier wird in Südwest noch viel gesündigt. 10
11
Die Belegstellen der Zeitschrift Kolonie und Heimat werden jeweils mit dem Jahrgang, Ausgabennummer und nach dem Doppelpunkt der Seitenzahl in runden Klammern gekennzeichnet: (III. 13: 5). Belegstellen, die der Nachrichtenbeilage entnommen sind, sind durch die römische Zahl der Seitenangabe gekennzeichnet: (III. 13:I.). Leider lagen der Analyse nicht alle Nachrichtenbeilagen vor. Jegliche Hervorhebungen in Zitaten aus Kolonie und Heimat stammen von der Autorin Unter Mischehen verstand man im kolonialen Kontext eine „eheliche Verbindung zwischen Angehörigen der weißen Rasse einer- und denen der farbigen Rasse andererseits“ (Schnee 1920, Stichwort: Mischehen).
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Inken Waßmuth Selbst die, denen die Bildung als Schutz ihres deutschen Wesens zur Seite steht, sie vergehen sich doch fast ausnahmslos beim Gebrauch ihrer Muttersprache, die sie mit allen möglichen und unmöglichen Brocken aus der Sprache der sonst doch keineswegs gleichwertig erachteten Hottentotten und Hereros und Buren verunzieren. Es ist schmerzlich und peinlich zugleich, eine so verschimpfte Muttersprache mit anhören und bemerken zu müssen, dass das würdelose eines solchen Gebarens selbst von den Gebildeten noch nicht allgemein empfunden wird. Hier mag die deutsche Frau, hier mag die Mutter der Muttersprache wieder zu der stolzen Stellung verhelfen, die ihr gebührt, und ohne die das ferne Land kein deutsches Heimatland wird. (III. 08: 8)
Am Gebrauch der Muttersprache lässt sich diesen Worten nach die Eigenart des „deutschen Wesens“ erkennen. Hier wird eine enge Verknüpfung von deutscher Eigenart und der Muttersprache hergestellt, indem das Wesen mit der deutschen Sprache fast gleichgesetzt wird. Der Sprache wird eine außerordentliche Bedeutung im kolonialen Kontext beigemessen, da, wie es heißt, „ohne die [Muttersprache] das Ferne Land kein deutsches Heimatland wird“. Es sei daher Aufgabe der „deutschen Frau“ der „Muttersprache wieder zu ihrer stolzen Stellung zu verhelfen“, um dem Wunsch nach einem neuen deutschen Heimatland in der Ferne gerecht zu werden. Die Sprache und damit auch die Kultur und Sitte scheinen demnach sinnstiftend für die Gründung einer neuen Heimat. Kolonie und Heimat prägt den kolonialen Kommunikationsraum durch die weite Verbreitung wie auch intensive Rezeption12. Als zentrales Organ des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft13 berichtet die Zeitschrift über Vorträge und Feste zur Akquisition neuer Mitglieder und unterstützt damit die koloniale Propaganda (Walgenbach 2005: 99). Da die Bürger des Deutschen Kaiserreichs die ‚schwarzen Menschen’ im Regelfall nicht kennen (vgl. Speitkamp 2005: 148f.; Sobich 2006: 129), basiert ihr Wissen primär auf der Rezeption von Medien. Zwar inszenieren die Berliner Kolonialausstellung 1896 sowie diverse Völkerschauen Begegnungen mit Menschen afrikanischer Herkunft, jedoch werden sie in „nachgebauten Hütten […], vermeintlich authentische[r] Kleidung und Lebensweise“ (Speitkamp 2005: 149) in stereotypen Darstellungen vielmehr „zurschaugestellt“ (Gieseke 2006: 281). So kann sich der Großteil der Bevölkerung kein eigenes, unverfälschtes Bild von den Menschen afrikanischer Herkunft, deren Lebensweisen und Kultur machen. 12
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Nach eignen Angaben bestand ein fester Leserkreis von 100 000 Abonnenten. Erschien die Zeitschrift von 1907-1911 noch 14-tägig, wechselte der Modus mit dem 4. Jahrgang zur wöchentlichen Publikation. Aus der Verdopplung der jährlichen Herausgabe lässt sich eine eindeutige Aufwärtsbewegung der Zeitschrift ablesen. Einen ausführlichen Überblick über Ziele und Motive des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft bieten Wildenthal (2003: 206-216) und Walgenbach (2005: 83-108).
Afrikaner als Produkt kolonisatorischen Sprechens
5.
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Analyseergebnisse
Mit dem Ziel, die „Baustein[e] einer Architektur von Wissen“ (Warnke 2007: 17) zu erfassen, werden im Folgenden Denk- und Sprachstrukturen einer Sprechergemeinschaft diskursanalytisch untersucht. Dabei liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Frage, wie ‚der Afrikaner’ im Textkorpus sprachlich konstruiert und welches Wissen über ihn vermittelt wird. In Anknüpfung an die Frameanalyse nach Konerding (1993)14, basierend auf Matrixframes15 kann das Korpus auf sprachlich fixiertes Wissen untersucht werden. Die konsequente Bearbeitung der Texte nach dieser Methode16 führt zu einem systematischen Überblick über Prädikationen zu Konzepten und damit zu usuellen Benennungskontexten. Die Befunde geben ein Bild darüber ab, wie das Konzept ‚Afrikaner’ in den Texten behandelt wird und rekonstruiert damit dessen semantische Bildung an Hand des vom Printmedium transportierten Wissens. 5.1 Diskurssemantische Grundfigur Das Sprechen über die Kolonien und das Sprechen über die Kolonisierten zeigt eine Grundhaltung, die bei genauer Betrachtung die Texte latent durchzieht und sich konstitutiv auf das Afrikanerbild auswirkt. Zur Bestimmung solcher Haltungen schlägt Busse (u. a. 2000) das Konzept der diskurssemantischen Grundfigur vor, um Grundtendenzen von Texten eines Gesprächsraums zu beschreiben:
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Ein Verfahren zur Erschließung und Darstellung von Wissen auf der Grundlage von Frames für die Anwendung in der Lexikographie. Konerding (1993) hat eine Methode entwickelt, die einen systematischen Zugang zu sprachlich fixiertem Wissen erlaubt und dieses mit Hilfe von Matrixframes aufzeigt. Konerding hat in seiner Arbeit die Erschließung des vollständigen SubstantivWortschatzes des Deutschen ermöglicht, indem er durch maximale Abstrahierungen Matrixframes erstellt hat, in der jede lexikalische Einheit verortet werden kann. Als Systematisierungsgrundlage dient ihm eine Typologie der Substantive, die er aus Hyperonymtypen-Reduktionen in Wörterbüchern ableitet: Hyperonyme einzelner Wörter wurden im Wörterbuch so lange verfolgt, bis kein weiteres Hyperonym mehr ausfindig gemacht werden konnte. Die konsequente Durchführung Hyperonym-Reduktion brachte im Ergebnis zwölf Substantivtypen. Relevante Prädikatorenschemata, die zu Fragen transformiert, thematisch gruppiert und zusammengefasst wurden und damit einen spezifischen Fragenkatalog darstellen, bilden das Matrixframe zu jedem Substantivtyp. Aus Gründen der Praktikabilität und im Hinblick auf die Fragestellung ist die Einschränkung auf ausgewählte Matrixframes unabdingbar. Außerdem bedurfte es Umformungen, um das Verfahren für das spezielle Korpus anwendbar zu machen. Konerdings Frageraster musste daher geöffnet und zu einem Themenraster umgeformt werden, woraus letztendlich ein minimales Kondensat des Fragenkatalogs als Basis der Analyse entstand.
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Inken Waßmuth Diskursive Grundfiguren ordnen textinhaltliche Elemente, steuern u. U. ihr Auftreten an bestimmten Punkten des Diskurses, bestimmen eine innere Struktur des Diskurses, die nicht mit der thematischen Struktur der Texte, in denen sie auftauchen, identisch sein muß, und bilden ein Raster, das selbst wieder als Grundstruktur diskursübergreifender epistemischer Zusammenhänge wirksam werden kann (Busse 1997: 20).
Die semantische Grundfigur des ‚Eigenen und Fremden’ (Busse 1997), weist wesentliche Parallelen zum kolonialen Sprachhabitus auf. Dabei wird die Existenz von kulturell vermittelten und sprachlich transportierten Schemata der Fremdabgrenzung betont. Das ‚Eigene’ gewinnt nur mit Hilfe des ‚Fremden’ Konturen, so dass es für sich ohne den Gegenpart gar nicht existent wäre. Das Verhältnis vom ‚Ich’ zum ‚Anderen’ beschreibt Busse (1997: 31) als ein „negatives Abziehbild“. Der ‚Andere’ steht dem individuellen ‚Ich’ als ‚generalisierter Anderer’ gegenüber. Seine Erscheinungsform ist wiederum diskursiv verhandelt und hervorgebracht und wird laut Busse (1997: 26) unter Umständen im Interesse politischer oder materieller Ziele eingesetzt. Mit ähnlicher Intention wird im kolonialen Diskurs explizit das Fremdenbild des ‚Afrikaners’ entworfen, implizit jedoch das Selbstbild konzeptualisiert. In Anwendung des Konzepts der diskurssemantischen Grundfigur auf das untersuchte Textkorpus werden sprachliche Wendungen eruiert, die eine grundsätzliche Überlegenheit der Kolonisierenden über die Kolonisierten suggerieren. Mit gleichzeitiger Distanzierung und Diffamierung manifestieren sie sich vorwiegend auf der intratextuellen Ebene, namentlich durch Ein-Wort- und Mehr-Wort-Einheiten sowie in der textuellen Mikro- und Mesostruktur17. 5.1.1 Partikeln Konkret manifestiert sich die semantische Grundfigur des ‚Eigenen und Fremden’ u. a. durch auffällige Kumulierungen von Relativierungen mit der Funktion der Abwertung und Abgrenzung auf Wort- und Satzebene. Es handelt sich dabei um abschwächende Partikeln sowie Formulierungen, die beabsichtigte Vagheit und vorsichtige Infragestellung zum Ausdruck bringen. Mit gleicher Wirkung werden Mehr-Wort-Einheiten verwendet, die fast konsequent die Fähigkeiten und Qualitäten der autochthonen Bevölkerung infrage stellen, mit der Folge einer weitgehend negativen Charakterisierung respektive mangelnden Anerkennung der afrikanischen Population. 17
Entsprechend der Einteilung nach der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) von Warnke/Spitzmüller (2008).
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Partikeln erfüllen vielfältige Aufgaben, sie liefern u.a. Angaben zu Grad oder Intensität einer Aussage, dienen der Hervorhebung und drücken Einstellungen des Sprechers aus.18 An der Verwendung von Gradpartikeln und Intensitätspartikeln wird der Mechanismus der Abwertung im kolonialen Diskurs verdeutlicht. Gradpartikeln – auch ‚Fokuspartikeln’ genannt – dienen der Einstufung des Gesagten bzw. bestimmter hervorgehobener Aspekte des Gesagten auf Skalen. Die genuine Gradpartikel ‚sogar’ hat ausschließlich den Zweck der Diktumsgradierung. Mit dem semantischen Aspekt der Gradierung werden hierbei Erwartungs- und Einschätzungshintergründe, zu denen das Basisdiktum ins Verhältnis gesetzt wird, berücksichtigt. Ereignisse können mehr oder weniger den Erwartungen entsprechen. Diktumsgradierungen erlauben, die Überraschung, Beunruhigung, Enttäuschung oder Verärgerung, die sich dabei einstellen kann, zum Ausdruck zu bringen, indem sie dem festgestellten oder auch nur antizipierten Sachverhalt auf einer Skala einstufen. Mit ‚sogar’ etwa wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Skala von Eintretenswahrscheinlichkeiten gemeint ist und dass dem in Frage stehenden Ereignis vorgängig ein geringer Wert auf dieser Skala zuerkannt wird, weshalb sein Eintreten als außergewöhnlich zu gelten hat. Das Korpus liefert eine Reihe solcher Aussagen. So wird durch ‚sogar’ in der Phrase (1) Wer in fremden, noch unkultivierten Ländern geweilt hat, wird wohl auch die Beobachtung gemacht haben, dass sogar die Eingeborenen bereits über ein System verfügten, welches es ihnen ermöglichte, wichtige Nachrichten in kürzester Zeit an den Bestimmungsort gelangen zu lassen. (III. 17: 3)
angezeigt, dass die Beobachtung, dass ‚die Eingeborenen über ein Nachrichtensystem verfügen’, relativ unerwartet ist, dass es also auf der Skala der Eintretenserwartung entsprechender Beobachtungen zunächst verhältnismäßig niedrig, folglich unwahrscheinlich ist. ‚Sogar’ lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Teil des Satzes mit dem höchsten Mitteilungswert, folglich den Informationskern der Aussage, dass ‚die Eingeborenen über ein Nachrichtensystem verfügen’. Gleichzeitig signalisiert die Partikel Überraschung über den beschriebenen Tatbestand, mit der Folge der Hervorhebung des Unerwarteten. Ähnlich verhält es sich mit folgenden Aussagen:
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Die funktionalgrammatischen Erläuterungen der Abschnitte 6.1.1 bis 6.1.5 bedienen sich der Terminologie der Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun et al. 1997).
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Inken Waßmuth (2) Die Ovambo sind Ackerbauern, die ihr Feld verhältnismässig sorgfältig bebauen. Die Felder werden sogar gedüngt und von Unkraut befreit. ( IV. 30:5) (3) Bei den Ewenegern, die das südliche Drittel der Kolonie bewohnen, bilden die musikbegabten Leute sogar Vereine, in denen gemeinsam geübt wird - ganz wie bei uns. (IV. 4: 5)
Die Aussage (2) unterstreicht die Tatsache, dass ‚die Felder gedüngt und von Unkraut befreit sind’ und hebt gleichzeitig hervor, dass dieser Zustand auf der Erwartungsskala sehr weit unten angesiedelt ist, ergo nicht erwartet wurde. In Satz (3) bezieht sich die Erwartungshaltung auf die Organisationsform in Vereinen. Den Ewenegern wird diesem Satz nach nicht zugetraut, sich in Vereinen zu organisieren um miteinander zu musizieren. Die Gradpartikel ‚sogar’ ist ein Indiz für die europäische Erwartungshaltung. In mit ‚sogar’ angeschlossenen Äußerungseinheiten werden kontrafaktische Erwartungshaltungen im kolonialen Kontext deutlich, die dazu dienen, antizipierte Erwartungen des Rezipienten als nicht erfüllt zu kennzeichnen. Die sprachliche Äußerung (4) An die schwarzen Leute habe ich mich schnell gewöhnt; manche sind sogar hübsch unter ihnen. (III. 5: 8)
impliziert erstens, dass ‚man sich an schwarze Leute gewöhnen muss’ und zweitens weist die Schlussfolgerung, wenn ‚manche sogar hübsch sind’, darauf hin, dass ‚schwarze Leute’ generell hässlich sind. Es wird damit das Gegensätzliche angenommen, weshalb das Gesagte betont werden muss. Der Rückschluss ist ergo das Bestehen von Vorannahmen, die in den Aussagen nicht bestätigt, sondern mit Erstaunen dementiert werden. Intensitätspartikeln – auch als ‚Steigerungspartikel’ bezeichnet – spezifizieren das mit einem Adjektiv oder Adverb zum Ausdruck Gebrachte vor dem Hintergrund einer mit dem Bezugsausdruck gegebenen Norm, die über- oder unterschritten werden kann. Intensitätspartikeln lassen sich grob als intensivierend-steigernd bzw. abschwächend-abstufend charakterisieren. Das untersuchte Korpus weist eine bereite Streuung und auffällig frequente Verwendung der abschwächend-abstufenden Intensitätspartikel ‚recht’ auf. In diversen Verwendungskontexten dominiert die abschwächend-abstufende Funktion mit dem Resultat der Diffamierung der afrikanischen Kolonisierten.
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(6) Viele von ihnen sind recht lernbegierig und suchen sich einen gewissen Grad von Kultur zu erwerben, wobei allerdings nur rein materielle Gesichtspunkte mitsprechen. (IV. 8: 4) (7) Von Charakter sind die Boys im allgemeinen recht gut, ja man kann ihnen nachsagen, sie sind vielfach auch treu und anhänglich. (IV. 38: 6) (8) Unter den jungen Mädchen findet man recht anziehende Gestalten. (IV. 13: 2)
In den Auszügen (6), (7) und (8) werden jeweils Adjektive, die eine positive Eigenschaft ausdrücken – lernbegierig, gut und anziehend - mit der Intensitätspartikel herabgesetzt. Die Beispiele verdeutlichen wie persönliche Eigenschaften, sowohl in Bezug auf Äußeres als auch Charakterzüge, mit dem Gebrauch der Intensitätspartikel abgeschwächt werden. Das Sprechen über die Kolonisierten bekundet, dass das Beschriebene die europäische Norm unterschreitet, also, dass das zum Ausdruck Gebrachte in den Augen der Kolonisatoren mangelhaft ist. 5.1.2 Nebensätze Neben der Verwendung von Partikeln zeigen sich weitere auffällige Strukturen auf den Ebenen Satz und Text, die sich konsequent modellierend auf das Afrikanerbild auswirken. Auf der Ebene der Sätze gilt ein sehr ähnliches Prinzip der Abwertung wie eben beschrieben, allerdings werden hier häufig zunächst wohlwollende Aussagen getroffen, die dann, meist mit einer adversativen Konjunktion, die eine Einschränkung oder einen Gegensatz ausdrückt, im Folgesatz unmittelbar negiert werden. Zum Teil werden die syntaktischen Verknüpfungen der Teilsätze durch Mehr-WortVerbindungen realisiert, die ebenso die inhaltliche Beziehung des Gegensatzes ausdrücken. Am Beispiel der adversativen Konjunktionen ‚aber’ und ‚doch’ wird das Prinzip der Relativierungen auf der Satzebene veranschaulicht. Die Standardanalyse für ‚aber’ besagt, dass mittels ‚aber’ zwei Konjunkte kontrastiert werden, so dass das zweite Konjunkt einen Gegensatz zu dem bildet, was das erste Konjunkt erwarten lässt. (1) Er ist anstellig und hält bei richtiger Anleitung auf Reinlichkeit, verrichtet seine Arbeit peinlich und gründlich, aber mit grosser Langsamkeit (II. 15: 2).
Aus Satz (1) lässt die Geltung des Hauptsatzes, dass ‚er anstellig ist und gründlich arbeitet’ nicht die Proposition des mit ‚aber’ eingeleiteten Nebensatzes „aber mit großer Langsamkeit“ erwarten, tatsächlich gilt jedoch
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die im Nebensatz ausgedrückte Proposition. Die Langsamkeit überwiegt demnach die zuvor genannten Tugenden. Die Konjunktoren ‚aber’ und ‚doch’ dienen zudem der Fokusumlenkung: Was mit dem zweiten Konjunkt gesagt wird, ist mit der aktuellen Orientierung aufgrund des ersten Konjunkts bzw. Implikationen oder überhaupt dessen, was an spezifischen Hörer-/Leser-Erwartungen unterstellt werden kann, nicht bruchlos ins Wissen zu integrieren. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht der Gebrauch von ‚aber’, dass der Sprecher den faktischen oder möglichen Wissens-Kontrast kennt und das ‚aber’Konjunkt gleichfalls für epistemisch integrierbar hält. (2) Der Neger kann ein guter, ja ein sehr guter Arbeiter werden, aber nur unter kompetenter Leitung und Aufsicht (III. 5:II).
Dass der Neger laut (2) ‚nur unter kompetenter Leitung und Aufsicht ein guter Arbeiter ist’, schließt demnach im kolonialen Kontext an vorausgesetztes Wissen der Rezipienten an bzw. dem Hörer oder Leser wird dieses Wissen unterstellt. Die mit der Phrase zum Ausdruck gebrachte Aussage ist trotz möglicher Divergenz für den Rezipienten in sein Vorverständnis integrierbar, da sie an Wissensbestände der Sprechergemeinschaft anschließt, die bekannt bzw. als bekannt vorausgesetzt sind und in der Regel angesichts von Erfahrungen verstanden werden. Durch die Fokusumlenkung auf das im zweiten Konjunkt Gesagte erhält dieses ein besonderes Gewicht; es ist das, was der Sprecher primär und nachdrücklich assertieren will, auf das sich der Adressat vorrangig einlassen soll, bis hin zur Korrektur eigener Äußerungen oder Einstellungen. (3) Den Klippkaffern oder Bergdamara […] werden im allgemeinen die besten Dienereigenschaften nachgerühmt, doch ist dies ebenfalls mit recht grosser Vorsicht aufzunehmen (II. 15: 2).
Das besondere Gewicht liegt folglich in (3) nicht der im Hauptsatz getroffenen Aussage, dass ‚den Klippkaffern oder Bergdamara die besten Dienereigenschaften nachgerühmt werden’. Der Schwerpunkt liegt auf dem von ‚doch’ eingeleiteten Nebensatz, welcher besagt, dass ‚dies mit Vorsicht aufzunehmen ist’. Damit wird ein Sachverhaltselement in den Vordergrund gerückt, welches das Gesamturteil dominiert. Im Extrem wird mittels der adversativen Konjunktion ‚doch’ die bestehende Einstellung gegenüber der Dienerschaft korrigiert, demgemäß Vorsicht oder Misstrauen beim Rezipienten geweckt.
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5.1.3 Textstrukturen Das Prinzip der Gegenüberstellung von Aussagen mit relativierendem Effekt ist ebenfalls auf der Ebene der textuellen Mesostruktur beobachtbar. Sich semantisch widersprechende Textabschnitte werden nach diesem Anordnungsschema gegeneinander gestellt. Gemäß der Beschreibungskonvention wird eine wohlgemeinte Aussage im selben Text durch eine komplementäre Aussage in Relation gesetzt. Dem Neuling, der zum ersten Male ostafrikanischen Boden betritt, fällt meist sofort angenehm die vorzügliche Bedienung auf durch den ‚Boy’, wie man auch in deutschen Kolonien nach englischem Muster leider den farbigen Diener nennt. Ruhig und gemessen, ja würdevoll versieht er sein Amt. Mit dem Geschick eines erfahrenen Barkeepers serviert er die verschiedensten Getränke, vom Whiskey und Soda bis zum Champagner. Er kennt alle Bier-, Wein- und Likörsorten, ja er weiss sogar was eine kalte Ente, Ananasbowle und dergleichen ist. Bei der Tafel bedient er mit Grazie des Oberkellners, und ich glaube, es passiert ihm weit seltener, wie seinem europäischen Kollegen, dass er Bratensauce verschüttet. Er weiss die schneeige Reinheit der Kleidung des Gastes zu würdigen, ist er doch selbst vom Kopf bis zu den Füssen in fleckenlose Gewänder gehüllt.
Der Auftakt des Artikels „Der Boy. Dienstbotennot und Dienstbotenfreuden in Ostafrika“ (IV. 38: 6-7) schildert einen perfekten Dienstboten, der nichts zu wünschen übrig lässt und alle Vorurteile dem Afrikaner gegenüber widerlegt. In Kontrast zu der einleitenden Darstellung positioniert der Folgetext einen Gegenpol zum Anfang. Denn nur [w]o eine starke Hand, männlich oder weiblich, im Haus waltet, kann der Boy den verwöhntesten Ansprüchen genügen. Aber wehe, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Seine schlechte Natur kommt dann sehr bald zum Vorschein.
Ohne die „väterliche Züchtigung“, könne der eingangs präsentierte Idealzustand des Boys nicht erreicht werden, seine „schlechte Natur“, namentlich die sich noch „im Zustand der Entwicklung“ befindlichen „Reinigungsbegriffe“, die „ewige Pumperei“ und die Tatsache, dass „weder Kleiderschränke noch die Getränke und Speisen [vor ihm] sicher“ seien verhindern einen positiven Blick. Dem entsprechen komplementäre Aussagen in Schilderungen zur „Kindheit des Negers“ (II. 5: 10). Zunächst wird eine idyllische Szene in der „mütterlichen Hütte“ gezeigt, in der die Mutter liebevoll das Neugeborene umsorgt. In der mütterlichen Hütte ist das kleine Negerkind, das noch gar nicht schwarz, sondern ebenso rosig aussieht wie unsere Neugeborenen, zur Welt gekommen.
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Inken Waßmuth […] Säuberlich wird das Baby gewaschen und in ein Stück neuen Rindenstoffs gewickelt. Dabei salbt man seine Ohren mit Oel, damit es hören soll; das Bändchen unter der Zunge aber löst man mit dem landesüblichen Rasiermesser, damit es sprechen lerne.
Die geschilderte Sorgfalt erfährt einen Bruch durch den Wechsel zum Gegensätzlichen. Den Kontrast zum anfangs beschriebenen wohl behüteten Kind bildet im folgenden Text ein „Klümpchen Unglück“, da sich das Kind, wie der Text ausdrücklich ausführt, in „schauderhafte[n] Zustände[n]“ der absoluten Verwahrlosung befindet: […] kein Wechsel der Wäsche bei Mutter und Kind, denn es ist kein Ersatz vorhanden; kein Trockenlegen, kein Einpudern, keine Windel, kein regelmässiges Baden von den Tagen des Wochenbettes ab, keine Hygiene des Mundes. Dafür wundgefressene Körperstellen bei fast jedem Kinde, besonders in den Gelenkbeugen und anderen Stellen; verheilende Schorfe, wo trotz der Vernachlässigung des Körpers die Natur den Sieg davonträgt; ziemlich allgemein tränende, trübe Augen infolge der ewigen Fliegenattacken; vereinzelt schließlich Schwämme und Pilze in so furchtbarem Masse, dass sie den Unglückswürmern direkt aus der Nase und Munde herausquellen!
Die Beispiele belegen die Kontrastierung von Extremen mit einer fast durchgängigen Relativierung von guten Erfahrungen und Sachverhalten. Wörter meliorativer Bedeutung stehen im Kontrast zu semantisch pejorativ konnotierten Lexemen: Dem perfekten Boy wird der stehlende und bettelnde Bursche, dem behüteten Nachwuchs das verwahrloste Kind gegenübergestellt. 5.1.4 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Unter dem Aspekt der affirmativen Selbst- und pejorativen Fremddarstellung kann eine markante Eigenschaft, die nicht direkt personengebunden ist, Aufschluss auf die semantische Grundfigur geben. Eine Betrachtung des Verhältnisses von auf- und abwertenden Zuschreibungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweist auf Parallelen zur vermeintlichen Dichotomie des ‚guten Weißen’ und des ‚schlechten Schwarzen’. Schilderungen des Zustands in der Vergangenheit signalisieren stets afrikanische Fehlentwicklungen, während zukunftsbezogene Darstellungen, wegen des darin vermeintlich zum Ausdruck kommenden positiven Einflusses der Europäer, als begrüßenswerte Entwicklungen deklariert werden. Vor-, Gleich- oder Nachzeitigkeit kennzeichnende Temporaladverbien, die im Zusammenspiel mit Tempora zur temporalen Interpretation von Sätzen und Sequenzen beitragen, scheinen Marker für gewertete
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Zuschreibungen zu sein. Indiz für die positiv konnotierten Darstellungen sind im kolonialen Teildiskurs Temporaladverbien wie ‚jetzt’, ‚heute’ und ‚nun’, während Zeitangaben, die die Vergangenheit markieren, vorwiegend mangelhafte Verhältnisse anzeigen. Demnach besteht ein Zusammenhang zwischen positiv bzw. negativ konnotierten Schilderungen und deren Situierung in der Zeit. (1) Besonders primitiv waren früher die Wegeverhältnisse im dichten und sumpfigen Urwaldgebiet. […] Der Europäer wird sie, wenn erst Eisenbahnen das Land durchziehen, wenn die Schiffahrtstrassen verbessert und die Hauptwege verbreitert und modernisiert sind, immer seltener betreten müssen. (III. 17: 4)
Im Textausschnitt (1) bilden die Adjektive „primitiv“, „dicht“ und „sumpfig“ – jeweils im gegebenen Kontext Lexeme mit negativer Konnotation – den Ko-Text des Adverbs „früher“, während der Zukunft – verbal signalisiert durch den Tempusgebrauch – die Partizipien „verbessert“, „verbreitert“ und „modernisiert“ gegenübergestellt werden. Den primitiven Wegeverhältnissen im dichten, sumpfigen Urwaldgebiet, steht die Vision von verbesserten Schifffahrtsstraßen und breiten, modernisierten Hauptwege gegenüber. Der Kontext suggeriert dem Rezipienten eine einfache, gar mangelhafte afrikanische Vergangenheit im Kontrast zu einer fortschrittlichen europäischen Zukunftsperspektive. (2) […]die Unsitte [Kindermord] ist jetzt so gut wie ausgerottet. […] Jedenfalls gibt es in Usambara schon viele Hunderte und Tausende von Kindern, die früher hätten sterben müssen. (II: 25: 13)
Der Textteil (2) situiert eine so genannte „Unsitte“, den Kindermord, in der Vergangenheit – hier ebenfalls indiziert durch das Zeitadverb „früher“. Die Bezeichnung Unsitte hat eine stark negative deontische Bedeutung, die die Notwendigkeit der Veränderung oder gar der Eliminierung implizit unterstellt. Im Text wird dies selbst explizit mittels des Partizips „ausgerottet“ repräsentiert. Auf morphologischer Ebene konstituiert das bedeutungstragende Wortbildungsmorphem ‚Un’- die negative semantischen Bedeutung des Lexems Unsitte. Im direkten Umfeld des Vergangenheit anzeigenden Temporaladverbs „früher“ steht ein weiteres kulturell meist negativ beladenes Wort, das Verb „sterben“. Hingegen sei gegenwärtig – angekündigt mit dem Gegenwart anzeigendes Adverb „jetzt“ mit dem gleichzeitigen Hinweis auf das Wirken der Kolonisatoren – also Dank des kolonisatorischen Eingriffs, der Ritus ausgerottet.
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Inken Waßmuth (3) In alten Zeiten, d. h. bevor die Herrschaft des Europäers Sicherheit für Leben und Eigentum gewährleistet, ging der Neger selten allein aus seiner Landschaft, oder aus seinem Dorf in fremde Gegenden. (III. 2: 6)
In Textauszug (3) ist das Hochwertwort „Sicherheit“ im direkten Zusammenhang mit der derzeitigen Herrschaft des Europäers gestellt. Damit wird der vergangene Zustand – hier ausgedrückt durch den Subjunktor „bevor“, dessen nachgeleitete Temporalsätze Nachzeitigkeit anzeigt – mit Unsicherheit in Verbindung gebracht. Erneut wird das positiv Konnotierte in der Gegenwart in Verbindung mit den Europäern gebracht, während ein negativ konnotierter Zustand in der Vergangenheit angedeutet wird. Es kommt zu einer expliziten Polarisierung der Zustände in Vergangenheit und Gegenwart und implizit zu Zuschreibungen an die Europäer bzw. Afrikaner. 5.1.5 Personalpronomina Die semantische Grundfigur des ‚Eigenen und Fremden’, bzw. die Abgrenzung zum ‚Anderen’ zeigt sich desgleichen in der Verwendung von Personalpronomina. Im Deutschen unterteilen sich die Formen der Personendeixis erstens in eine Sprecher- oder Sprechergruppendeixis – realisiert mit den Personalpronomina ‚ich’ oder ‚wir’ –, die für den Verweis auf den je aktuellen Sprecher bzw. die zugehörige Personengruppe verwendet wird. Zweitens in eine Hörer- bzw. Hörergruppendeixis – realisiert mittels der Personalpronomina ‚du’ oder ‚ihr’ –, mit der auf aktuelle Rezipientenoder Rezipientengruppen verwiesen wird. Solche deiktischen Ausdrücke liefern relevante Personmerkmale, u.a. die kommunikativen Rollen wie Adressant und Adressat. Wer außer dem Sprecher oder Hörer zur Gruppe gehört, ergibt sich jeweils aus dem Diskurszusammenhang, muss also gewusst oder erschlossen werden. An diesem Punkt findet im folgenden Text ein Bruch statt. Die 1. Person Singular ‚ich’ im Gegensatz zur 1. Person Plural ‚wir’ suggeriert im folgenden Beispiel das Alleinsein, das, wie der Text gegen Ende selbst preisgeben wird, gar nicht real ist. Das Protokoll Marsch ins Innere von Süd-Kamerun (IV. 48: 6-8) eines jungen Kaufmanns weist bewusste oder unbewusste Funktionalisierungen des Personalpronomens ‚ich’ als Abgrenzungsmechanismus auf. Mit der Ankunft an einem Etappenziel in Begleitung eines Reisegefährten (1) Wir langten heute hier um die Mittagszeit an.
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wird der Text eröffnet. Am Folgetag beschreitet der Reisende laut eigenen Angaben allein. (2) Mein Reisegefährte ist heute früh den Weg nach Ebolowa südöstlich gewandert und es war der erste Tag, den ich allein marschiert bin. (3) Entsetzlich heiss, mir lief der Schweiss an allen Gliedern herunter. Auf Kilometer 77 traf ich eine kleine Niederlassung der katholischen Mission, auf der Pater Max Schule abhielt. Ich machte eine einstündige Rast und der Pater bewirtete mich mit Kaffee und Früchten. Später traf ich noch einen Regierungsarzt, der auf dem Marsch zu Küste war. […] Heute hatte ich einen beschwerlichen Marsch, es ging fast immer über Berg und Tal, das war natürlich ein saures Stück Arbeit für mich.
Vor den Augen des Lesers entsteht das Bild, dass der Mann sich allein mit all seinem Gepäck durch die Hitze schlägt. Diese Vorstellung entsteht offensichtlich durch die Aussage (2) und wird im folgenden Text (3) durch die Verwendung der 1. Person Singular ‚ich’ unterstützt. Tatsächlich ist diese Vorstellung jedoch ein Zerrbild der Wirklichkeit, denn die Passage (4) … er warnte mich, mit meinen Trägern diesen Weg einzuschlagen.
weist auf Begleitpersonen bzw. einen Trupp von Trägern hin, die zuvor konsequent nicht erwähnt wurden. Bemerkenswert ist ebenfalls die Lexemkette „mit meinen Trägern“ an Stelle des Personalpronomens ‚uns’. Der Sprecher signalisiert damit eine Distanz zu den ‚Anderen’, obwohl er sie in diesem Fall (4) im Gegensatz zu (2) und (3) nicht verleugnet. Die 1. Person Plural ‚wir’ hätte die Zusammengehörigkeit der Träger zum ‚Ich’ beinhaltet, wie es in (1) das ‚wir’ als Referenz für den europäischen Reisegefährten und das ‚Ich’ zuvor getan hat. Während der europäische Reisegefährte und der Verfasser eine ‚Gemeinschaft’ bilden und damit eine Ebenbürtigkeit impliziert wird, findet durch die Alternative „mit meinen Trägern“ eine verbale Distanzierung, eine Abgrenzung des ‚Ichs’ von den ‚Anderen’ statt. Während die eine Abwertung durch das nicht benennen – im Sinne von ‚nicht der Rede wert sein’ – nur spekulativ ist, belegt das Beispiel dennoch die Abgrenzung des europäischen ‚Ich’ zu den afrikanischen ‚Anderen’ und negiert die Zugehörigkeit zu ein und derselben Gruppe. Im Rahmen der Postcolonial Studies stellt Fabian (1983)19 ebenfalls eine Distanzierung durch die Verwendung von Personalpronomina fest. In 19
Johannes Fabians Werk Time and the Other. How Anthropology makes its Object (1983) gehört zu den meistzitierten Büchern der kritischen Anthropologie der letzten zwei Jahrzehnte.
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seiner Arbeit formuliert Fabian u.a. eine zentrale rhetorische Figur in Texten über das Fremde: die unterdrückte autobiographische Stimme. Er zeigt, wie eine Kommunikation zwischen Autor und Rezipient entsteht, während das anthropologische Objekt aus diesem Dialog ausgeklammert wird. Distanzierende und objektivierende Darstellungsformen des scheinbar unberührten ‚Anderen’ betonen den Objektcharakter des Beschriebenen, womit die Kolonisierten implizit vom Geltungsbereich der Menschlichkeit abgegrenzt werden (Mills 2007: 123). Zusammen mit dem unterdrückten autobiographischen Ich weist Fabian auf einen auffälligen Gebrauch der 3. Person Singular in Bezug auf die Einwohner des kolonisierten Landes hin, die die Kolonisierten wiederum perspektivisch homogenisieren, womit generische Aussagen über sie getroffen werden. Hieran anknüpfend ist eine weitere koloniale Beschreibungsstrategie mit ähnlicher Funktion zu nennen. Es handelt sich dabei um einen Mechanismus zur Deindividualisiserung. Mittels perspektivischer Homogenisierung werden die Kolonisierten meist als Gruppen und selten als Individuen beschrieben. 5.2 Der generalisierte ‚Andere’ Generische Aussagen treten im kolonialen Raum häufig im Zusammenhang mit Charakterisierungen afrikanischer Volksgruppen auf. Eine Auswahl von Belegstellen verdeutlicht den generischen Umgang mit Eigenschaftszuweisungen, indem die Attribute sich wiederholt auf eine ganze ‚Gattung’ respektive ethnische Gruppe beziehen, statt auf einzelne Elemente bzw. Mitglieder. Ihre Generizität erhalten die Aussagen durch den Gebrauch von Prädikativa. Das Kopula Verb ‚sein’ mit schwacher Eigenbedeutung hat die Funktion, das Subjekt mit dem Prädikativum in Beziehung zu setzten. (1) Die Herero sind grosse schlanke Gestalten von ebenmässigem Wuchs, und wenn ihre Gesichtszüge nicht roh geschnitten wären, so könnten sie schlechthin als schön gelten. (IV. 30: 4) (2) Die Ovambo […] sind grosse kräftige Gestalten von dunkelbrauner Hautfarbe und ziemlich groben, rohen Gesichtszügen. (IV. 30: 4)
Es ist eine historische Analyse der grundlegenden Funktionen des Zeitbegriffs in der angloamerikanischen und französischen Anthropologie. Das kritische Projekt bewegt sich auf konzeptioneller Ebene, die die Funktion und Verwendung von Zeit als Kategorie selbst in Frage stellt (Vgl. Bunzl 1998).
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(3) Die Hottentotten sind keine Neger, […] Gesichtsbildung, Körperbau, Hautfarbe usw. weichen völlig vom Negertypus ab und deuten mehr auf eine mongolische Herkunft der Hottentotten hin. (IV. 30: 4)
In den Sätzen (1) und (2) wird das Subjekt x wird mit der Adjektivphrase y gleichgesetzt. Satz (3) setzt x ungleich der Substantivphrase. x=y
bzw.
x≠y
Das Subjekt x steht in den Beispielsätzen repräsentativ für eine ethnische Gruppe, die aus mehreren Mitgliedern z besteht. Wenn die Proposition des Satzes alle x = y ist, dann ist x Allquantor, der im Gegensatz zum Existenzquantor (es gibt mindestens ein z in x, für das y gilt) die Annahme ausdrückt für alle z in x gilt y. Die Aussagen formulieren infolgedessen eine Allgemeingültigkeit für alle Elemente aus x, so dass sie generisch sind. Das hieße, dass alle Herero ohne Ausnahme große, schlanke Gestalten, alle Ovambo große, kräftige Gestalten und alle Hottentotten keine Neger sind. Pauschalisierende Aussagen über Kulturen liefern, indem sie Gemeinschaften von Individuen zu einer ununterscheidbaren Masse entfremden, das Potenzial für die Bildung von Vorurteilen mit festen Vorstellungsklischees, ergo Stereotypen. Unabhängig von der Generizität ist die Kategorisierung der Volksgruppen nach Körperbau und Gesichtszügen auffallend. Anatomische und physiognomische Charakteristika dienen offensichtlich den Europäern, die Fremden einzuteilen und für sich erfassbar zu machen. Gleichzeitig erfüllt die Zuschreibung von repräsentativer Körperlichkeit den Zweck der Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden (Carl 2006: 215). 5.2.1 Pauschalisierte Äußerlichkeit Die äußerlichen Charakteristika Körper, Kleidung und Schmuck spielen in der Wahrnehmung des Eingeborenen eine bedeutende Rolle. Im Textkorpus findet eine auffällig intensive Auseinandersatzung mit dem äußerlichen Erscheinungsbild statt. An konkreten sprachlichen Ausdrücken lässt sich, abgesehen von der Quantität auch inhaltlich eine Tendenz im Sprechen über das äußere Erscheinungsbild der Eingeborenen feststellen: Es werden in Relation mehr negativ als positiv konnotierte Lexeme eingesetzt. Ein Textauszug eines Berichts über „Die eingeborene Bevölkerung in Deutsch-Südwest“ (IV. 30: 4-5) demonstriert den stark abwertenden Charakter der Eingeborenendarstellung.
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Inken Waßmuth (1) Während der Neger manchmal auch nach unserem Empfinden körperliche Schönheiten aufweist, ist der Hottentott ein ausgesprochen hässlicher Geselle. (2) Schmutziggelbe Farbe, faltige lederartige Haut, Schlitzaugen, eine breite grosslöcherige Nase fast ohne Nasenbein und schnauzenartiges Hervortreten der Mundpartie geben dem Gesicht des Hottentotten sein abstossendes Gepräge. (3) Der Haarwuchs ist sehr spärlich und verstärkt nur den kümmerlichen Eindruck, den der bis heute meist schlecht genährte Hottentott hervorruft. (IV. 30: 5)
Von vornherein wird der Hottentotte in (1) pauschal als ausgesprochen hässlich abgewertet. Die nachfolgende detaillierte Beschreibung seines externen Charakters (2) fokussiert die somatischen Eigenschaften des Gesichtes mit dem Schluss, dass der Hottentotte ein abstoßendes Gepräge habe. Die Darstellung der wesentlichen Merkmale der Physiognomie, Augen, Nase und Mund sowie Hautfarbe und Haar, sind mit stigmatisierten Lexemen besetzt: schmutziggelbe und lederartige Haut, Schlitzaugen, großlöchrige Nase und schnauzenartig hervorgehobene Mundpartie. Neben dem Gesicht wird auch die Beschaffenheit des Haares charakterisiert (3), indem der Haarwuchs als spärlich bezeichnet wird. Im Ganzen mache der schlecht genährte Hottentotte einen kümmerlichen Eindruck. Ähnlich pointiert und abwertend sind Beschreibungen anderer afrikanischer Volksgruppen. Dem Hererovolk wird gehäuft die Eigenschaft nachgesagt, es sei „stolz“ (IV. 30: 5) und „hochmütig“ (II. 15: 2), den Buschmännern, dass sie primitiv seien (IV. 30: 5). Wertneutraler, aber ebenso symptomatisch für das koloniale Denken, sind die Stereotype für die Watussi und die Ovambo. Beide Volksgruppen werden nach anatomischen Merkmalen typisiert und normiert. Mitglieder der Watussi sind in den Texten meist „schlanke Gestalten“ (III. 8:I), während Ovambos stets als „kräftige muskulöse Gestalten“ (IV. 38: 8) oder „kräftige[r] Volksstamm“ (IV. 30: 5) bezeichnet werden. Das überlieferte Gesamtbild des Afrikaners ist signifikant durch pauschalisierende Aussagen über einzelne Volksgruppen und stigmatisierte Lexeme negativ geprägt. 5.2.2 Der ‚Andere’ als Masse Wie bereits erwähnt erscheinen die Kolonisierten implizit durch den Beschreibungsmechanismus der Generalisierungen im Kollektiv, so dass das Individuum hinter der Gruppe verschwindet. Explizit kommen im Korpus ebenfalls regelmäßig Bezeichnungen vor, die das Auftreten der Eingeborenen in einer Einheit ausdrücken.
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(1) Unter schallendem Gelächter schob die ganze Bande, […] im Laufschritt von dannen. (III. 1: 11) (2) Als wir nun über die letzte Felsplatte steigend vor ihnen auftauchten, schwand ihnen schon wieder der Mut, und wie die Hasen lief die ganze Horde bergan […]. (IV. 45: 4) (3) In Massen verschwanden sie sodann und rückten nach ihrer Heimat ab. (III. 12: 5)
Weiterhin wird häufig die große Masse betont, indem der Fokus auf der Anzahl der Gruppenmitglieder liegt. Die Kolonisierten erscheinen in den Texten oft zu Hunderten oder zu Tausenden. (4) Dem Wildfrevel im Linjantibecken ist nun durch die Anwesenheit einiger deutscher Regierungsorgane wohl einigermassen gesteuert, während der westliche Caprivizipfel, völlig der Willkür der Bantaujanajäger aus dem Ngamiland preisgegeben ist, die hier mit Wagen und hunderten Eingeborenen meist ziel- und planlos der Jagd obliegen und den Wildstand schwer schädigen. (III. 5: 6) (5) Aber es ging allmählich und schließlich ging es, so gut, dass Tausende selbst zur Küste zogen, um von dort Lasten zum Telegraphenbau zu holen. (IV. 38: 8)
Die Darstellungsform der ‚großen Einheit’ weist auf zwei mögliche Beweggründe hin: Zum einen erlaubt die Zusammenfassung der den Europäern gegenüberstehenden Gruppe zu einer ‚Masse’ einen leichteren unpersönlichen Umgang mit den unterdrückten Untertanen. Der Ausdruck charakterisiert die afrikanische Bevölkerung als eine unorganisierte chaotische Einheit, die es zu ordnen und zu disziplinieren gilt. Zum anderen lässt die Wahrnehmung des ‚Anderen’ als undefinierte Masse oder metaphorisch als „eine dichte lebendige Mauer von Grossen und Kleinen“ (III. 10: 7) eine eigene nicht ausdrücklich benannte Beunruhigung erkennen. Die Gleichsetzung des ‚Anderen’ mit einer ‚Horde’, ‚Masse’ oder ‚Bande’ macht den Afrikaner damit zu einer „entpersonalisierte[n] ‚schwarze[n] Masse’“ (Carl 2006: 222) und damit potentiell bedrohlich. Beide Schlussfolgerungen verweisen auf die Abstraktion der afrikanischen Bevölkerung zu einer großen undifferenzierten Einheit. Sowohl die ‚bedrohliche Masse’ als auch die ‚ungeordnete Horde’ fordern nach kolonisatorischem Verständnis, unterstützt durch die negative deontische Bedeutung der Lexeme ‚Masse’, ‚Bande’ und ‚Horde’, zu einer Unterdrückung des ‚Anderen’ auf.
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5.2.3 Hosennigger Nach der Vorstellung der Kolonialherren ist ein erster Schritt der ‚Kultivierung’ der Eingeborenen die Ausstattung mit „gesitteter Kleidung“ (II. 15: 2). Eigneten sich die Afrikaner jedoch neben der europäischen Kleidung auch ihr Verhalten an, widerstrebten sie damit dem kolonialen Gedanken und wurden mit dem Schimpfwort ‚Hosennigger‘20 belegt. Reich bebildert erscheint in Kolonie und Heimat (V. 22: 2-3) ein doppelseitiger Artikel mit dem Titel „Der ‚Hosennigger’“ in dem es heißt: Der „gebildete Neger“ […] möchte freilich nun auch äusserlich den Kulturmenschen markieren. „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das hat er ihm gründlich abgeguckt“, Hose, Bratenrock, Zylinder hat er sich angeschafft, aber er versteht nicht, sich in ihnen zu bewegen, und sieht im „totschick“ gearbeiteten Gehrock genauso komisch oder dummdreist aus, wie in abgelegten Uniformen oder sonstigem Trödel. (V. 22: 3)
Die vermeintlich unangepassten Afrikaner werden in der Zeitschrift als eine „Abart des Negers“ (IV. 17: 14) bezeichnet, die sich mit „unerträgliche[m] Dünkel“ (II. 22: 2) „dem Weissen gleich oder gar überlegen fühlt, sucht sich ganz dessen Lebensart und Manier anzueignen, was […] häufig stark vorbeigelingt“ (IV. 15: 7). Hier ist der Afrikaner über den Kultivierungswunsch der Europäer hinausgegangen, indem er sich des europäischen Statussymbols bedient, sich somit auf die ‚Stufe’21 der Kolonisatoren stellt, um ihnen ebenbürtig zu sein. Der zynische Ton, sowie die Polemisierung des Wortes ‚Hosennigger’, verdeutlicht den Zwiespalt der 20
21
Der ‚Hosennigger’ tritt bereits 1897 in Schriften des Ethnologen Felix von Luschan auf. Er erkennt diese vermeintliche ‚Abart des Negers’ in seinem Probanden Bismarck Bell, den er in Zusammenhang mit der Kolonialausstellung 1896 ‚vermessen’ will. Der sonst sehr nüchtern beschreibende Wissenschaftler tritt bei dieser Formulierung auffällig aus seinem wissenschaftlichen Stil heraus. Wenig später im Jahr 1898 verwendet auch Rittmeister von Stetten den Ausdruck ‚Hosenneger’ und assoziierte damit die „Frechheit, Selbstüberhebung und Unverschämtheit“ (1898: 107) der ‚Schwarzen’, „die im Grunde von der Überlegenheit des Weissen vollkommen überzeugt [waren],“ während Major Boshart im selben Sammelband von seiner Erfahrung berichtet, „dass jeder Neger, der europäische Hosen trägt […] ein ausgemachter Schuft ist, zu nichts mehr zu gebrauchen, am allerwenigsten zur Arbeit“ (1898: 44). Dem europäisch-kolonisatorischen Denken ist das Einteilen der Welt in „Kulturzone[n]“ (IV. 25: 2) und der Menschen in hierarchische Klassen durch den Einfluss des sozialdarwinistischen Rassedenkens geläufig. Daher wurde der ‚Afrikaner’ mit Selbstverständlichkeit in das bestehende System von „Kulturstufen“ (III. 20: 6) eingeordnet und ihm darin sein Platz zugewiesen. Nach europäischem Verständnis gehörte der ‚Afrikaner’ der niedersten Rasse an. „Der schwarze Zeitgenosse ist eben in ethischer Hinsicht Jahrtausende zurück und unter diesem Gesichtspunkt muss er beurteilt werden“ (IV. 38: 8). Die Afrikaner werden demnach unter Einfluss sprachlich konstruierter, vermeintlich ontischer Klassen behandelt.
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Kolonisierenden. Die Kolonialpolitik bewegt sich zwischen gewollter Europäisierung einerseits – mit dem Ziel die Menschen in ihrer Umgebung erträglich und nutzbar zu machen – und der Bewahrung der Distanz andererseits, um die Kolonisierten nicht ebenbürtig werden zu lassen. Zwar wurde die Karikatur der „Schwarzen Europäer“ (IV. 17: 13) belächelt, aber auch gefürchtet (Kühr 2006: 139). Mit dem generierten Bild des ‚Hosenniggers’ werden nämlich zwei zentrale, aber auch fragile Momente des deutsch-afrikanischen Abhängigkeitsverhältnisses zugleich thematisiert: Erstens das Konstrukt der kulturellen Überlegenheit der Weißen, das für den Status- und Machterhalt im kolonisierten Afrika erforderlich ist und nur durch Abgrenzung und Abwertung des ‚Anderen’ gesichert werden kann. Zweitens sind die Deutschen von den afrikanischen Arbeitern abhängig, ohne die sie die Umsetzung der kolonialen Projekte nicht verwirklichen können. Ein aufkommendes ‚Hosenniggertum’ hätte den Verlust elementarer Säulen des deutschen Kolonialismus bedeutet. Die Gefahr für den kolonialen Machterhaltungs- und Unterdrückungsmechanismus wird in einem Wort zusammengefasst und in Verachtung und Hohn handhabbar gemacht. Gerade das pointierte Lexem, das die gesamte publizistische Kolonialdiskussion durchzieht (Schubert 2003: 129), erlaubt eine unkomplizierte Operationalisierung der multiplen Problematik in der kolonialen Kommunikation. Somit wird mittels Sprache eine Vorstellung erzeugt, die als gesellschaftlich vermittelte Gegebenheit in das Selbstverständnis der Sprecher übergeht und gleichzeitig Handlungsakte prägt. Die negative deontische Konnotation des Schimpfwortes fordert förmlich zur Unterdrückung der Rebellierenden auf. Unterstützt wurde der Handlungs-Appell in Kolonie und Heimat durch die konkrete Aufforderung: „Fort mit dem Hosennigger!?“ (V. 22: 2). 5.3 Das ‚Nicht-Gesagte’ Nach Foucault (1977) wirken im Diskurs Mechanismen der Reglementierung, die Aussagen zulassen oder ausgrenzen. Derartige „Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung“ (Foucault 1977: 17) als Modalitäten der Wissensorganisation, die das ‚Sagbare’ vom ‚Nicht-Sagbaren’ trennen, manifestieren sich ebenso im Diskurs wie interne Prozeduren. Sie begründen Geltungsansprüche, legen fest, was in einer Gesellschaft als legitimes Wissen zu gelten hat, und trennen damit anerkannte, autorisierte Diskurse von solchen, die keinerlei Gültigkeit besitzen. Im gesellschaftlichen Gespräch nicht etablierte Themen sind unterdrückt. Obwohl sie in der Kommunikationsgemeinschaft nicht konstituiert sind, sind sie dennoch diskursprägend. Texte verweisen demnach zugleich auf ‚Nicht-Texte’, auf
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Positionen, die keine Okkurenz besitzen, die durch die diskursiven Kontrollmechanismen gefallen sind (vgl. Warnke 2002). Daraus entsteht neben der Archäologie des Wissens (Foucault 1973) die „Archäologie des Schweigens“ (Foucault 1996: 8). Übertragen auf den kolonialen Diskurs kann das ‚Nicht-Sagbare’ am Beispiel der Interpretation der ‚Negerseele’22 verdeutlicht werden. Passim erscheint diese Debatte in einer Ausgabe von Kolonie und Heimat (IV. 5: 7) des untersuchten Zeitraums. Anlass bietet ein Bericht über den Deutschen Kolonialkongress im Oktober 1910. In einer zusammenfassenden Darstellung wird auch von „den ernsthaften Erörterungen über die ‚Negerseele’“ berichtet, denen allerdings „mehr vergnügliches Interesse“ entgegengebracht wird. Dass die Diskussion über die ‚Negerseele’ als Fürsprache für die ‚Kulturfähigkeit des Negers’ keine singuläre Erscheinung ist, erweist neben der Tatsache, dass der Vortrag anlässlich des Kolonialkongresses gehalten wird, unter anderem die Veröffentlichung von Alexander Lion (1908). Die geringe Wertschätzung und allgemeine Ablehnung zu dieser ‚negerfreundlichen’ Anschauung wird schon durch das „vergnügliche Interesse“ der Zuhörer bekundet. Dem Referenten, der mit „wissenschaftlichem Material“ argumentiert, wird fehlende Objektivität vorgeworfen. Der Artikel kommentiert die Debatte: Aber solche Erörterungen sind eben unnötig, denn ganz von selbst bildet sich allmählich aus dem kolonialen Leben die Stellung für den Schwarzen heraus, die ihm in Zukunft eine menschenwürdige, seinen Fähigkeiten entsprechende Existenz gewährleistet, soweit er es versteht, sich unserer Kolonialarbeit als nützliches Mitglied einzufügen. (IV. 5: 7)
Die Negation der ‚Kulturfähigkeit’ wird mit diesen Worten betont. Der Afrikaner könne nur eine menschenwürdige Position in der kolonialen Gesellschaft einnehmen, wenn er sich den Gesetzen der Kolonisierenden unterordnet. Aus eigenem Antrieb sei der Afrikaner nicht in der Lage, sich die technischen, wissenschaftlichen und sozialen Errungenschaften kulturell höher stehender Rassen anzueignen (vgl. auch Oetker 1907). Das 22
Die ‚Negerseele’ wird an dieser Stelle im Sinne von Alexander Lion verstanden, der in seinem Werk Die Kulturfähigkeit des Negers und die Erziehungsaufgabe der Kulturnation (1908) in Reaktion auf die Ausführungen von Karl Oetkers Die Neger-Seele und die Deutschen in Afrika (1907) eine Gegendarstellung zu Oetkers Thesen verfasste in der er die ‚Kulturfähigkeit des Negers’ bejahte. Laut Oetker sei nur die ‚weiße Rasse’ zur „Weiterentwicklung“ fähig und müsse daher im „Wettbewerb um Besitz und Macht auf dieser Erde“ mit „Negern und Mongolen“ siegreich hervorgehen (Oetker 1907: 6). Lion (1908: 8) teilte zwar die Meinung, das es „schwere Fehler des Negercharakters“ gäbe, hielt den ‚schwarzen Menschen’ aber für „kulturfähig“ (Lion 1908: 19). Weitere Ausführungen vgl. Booker Sadji (1985: 124-131) und Sobich 2006: 350ff.).
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Thema ‚Kultur’ und ‚Erziehung zur Kultur’ nimmt in der Zeitschrift viel Raum ein. Das Zugeständnis an die Afrikaner, selber in der Lage zu sein sich dafür zu entscheiden, sich einer Kultur anzupassen, wird ebenso wenig diskutiert wie die Anerkennung des bestehenden Zustands der afrikanischen Lebensform als Kultur. Die Minderwertigkeit der afrikanischen Realität wird als selbstverständliche und nicht hinterfragte Tatsache dargestellt. Mittels der diskursiven Ausschließungssysteme wird diese Vorstellung getragen und als Wissen etabliert. Im Kontext der Erörterung zum ‚Negereid’ finden sich auch Aussagen zur ‚Negerseele’. In der Nachrichtenbeilage zu Kolonie und Heimat (II. 21:I) wird die Idee kurz angerissen und sofort als nichtig abgetan: „Die Idee des Negereids [hat] die Versammlung nicht sonderlich zu überzeugen vermocht“. Der Erläuterung, dass „nicht einmal der christliche Neger moralisch reif zum Eid [ist]“, vermittelt das implizite Menschenbild. Die Diskussion, ob ‚der Neger’ eidesfähig sei oder nicht, wird bereits im Keim erstickt, da eine derartige Annahme nicht anschlussfähig an das für wahr anerkannte Wissen ist. In Hinblick auf die quantitativen und qualitativen Relation des Gesagten zum ‚Negereid’ und des Gesagten zur Gegenposition kann konstatiert werden, dass diese Problematik allein erwähnt wurde, um die ‚negerfeindliche’ Position zu pointieren. Beide Beispiele verweisen auf tabuisierte Themen im kolonialen Gesprächsraum. ‚Negerfreundliche’ Debatten werden in Kolonie und Heimat, abgesehen von Randnotizen, ausgeklammert. Gemäß der diskursdominierenden Denkfigur finden sich im Korpus an keiner Stelle Aussagen, die den Afrikaner als dem Europäer gleichwertigen Menschen betrachten. Alle seine Eigenschaften werden mit europäischen Maßstäben gesehen, gedeutet und bewertet. 6.
Fazit
Die Sprache der Kolonialzeitschrift Kolonie und Heimat lässt eine klare Geste der Abneigung und Abgrenzung der Europäer gegenüber den Afrikanern erkennen. Die diskurssemantische Grundfigur des ‚Eigenen und Fremden’ fixiert sprachlich-realisierte Verfahren, die Differenz und Distanz zwischen den Kolonisatoren und den Bewohnern des kolonisierten Gebietes herstellen bzw. aufrecht halten. Obgleich wenige polemische Äußerungen über die Kolonisierten zu belegen sind, bewirkt die systematische Relativierung von positiven Darstellungen implizit eine latente Diffamierung. Auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen zeigt sich unabhängig von Inhalten ein grundsätzliches Beschreibungsmuster.
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Wie eine Vereinfachung des Umgangs mit der autochthonen Bevölkerung erreicht wird, zeigen die Generalisierungen des ‚Fremden’ zu einem Einheitsgebilde. Mit der Beschränkung auf das äußere Erscheinungsbild und den jeweiligen charakterlichen Ableitungen wird sprachlich ein generalisierter ‚Anderer’ konstruiert. Dass kolonisierte Völker weniger als eine Gemeinschaft von Individuen, sondern vielmehr als eine ununterscheidbare Masse erscheinen, stellt auch Said (1987: 119f.) fest. Er entdeckt in kolonialen Texten Generalisierungen, die Kolonisierten regelrecht dehumanisieren. Unter den Bereich des ‚Nicht-Gesagten’ fallen Themen, die im Diskurs zwar angesprochen durch Regulierungsmodalitäten jedoch aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen werden. Es konnte gezeigt werden, welche Aspekte von Wissen über die kolonisierte Bevölkerung thematisiert, welche komplexen Vorstellungen von Sprechern im kolonialen Kommunikationskontext über das Konzepte ‚Afrikaner’ realisiert werden und damit gemeinschaftliches Wissen durch Verfestigung von Gebrauchsvarianten konstituiert wird. Die vermeintlich deskriptive Darstellung der afrikanischen Kultur erhält durch semantisch negativ konnotierte Lexeme einen pejorativen Charakter. Mithilfe abwertender Beschreibungen der Eingeborenen im Vergleich zum bürgerlichen Selbstverständnis des ‚normalen’ Europäers werden sie zu mangelhaften ‚Anderen’ gemacht. Gängige Darstellungsformen, die durch diskursive Formate strukturiert werden, entwickeln – verstärkt durch Wiederholung, Gewohnheit und Vertrautheit – einen Wahrheitsstatus. Scheinbar objektive Berichte mit offensichtlich wertendem, gar verunglimpfendem Charakter kursieren im kolonialen Kontext daher als Fakten (Said 1978: 20ff.). Damit kann eine Grundaussage Saids (1978)23, dass Beschreibungen im kolonialen Kontext eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung und Bekräftigung kolonialer Herrschaft einnehmen, auch für den deutschen Kolonialdiskurs bestätigt werden.
23
Edward Saids Werk Orientalism (1987) gilt als Gründungsdokument der angloamerikanischen und angelsächsischen Postcolonial Studies (Bachmann-Medick 2007: 188). Im Zentrum seiner Arbeit steht die Frage nach den Mitteln und dem Zweck mit dem der Westen im Verlauf der Geschichte das Konzept des Orients konstruiert. Die Untersuchung diverser westlicher Texte ergab, dass der Orient homogenisierend als das ‚Andere’ beschrieben wird und somit dem Westen als eine „negative Folie zu dessen Selbstverständnisses und Identitätsbildung beiträgt und in hegemonialer Weise kontrollierbar wird“ (Antor 2002: 119). Die Texte weisen Beschreibungskonventionen auf, die ein System von Dichotomien von Orient und Okzident etablieren. Für Said (1987: 3) ist Orientalismus daher „a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient”.
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Das Korpus zeigt eine Reihe von Themen auf, die im Kontext des Sprechens über die Kolonisierten derart häufig erscheinen, dass sie nicht als rein individuelle Ansichten des Verfassers gelten können, sondern als „Reflexe umfassender Systeme von Überzeugungen, die durch diskursive Rahmen strukturiert werden und denen durch die imperialistischen Machtbeziehungen Glaubwürdigkeit und Kraft zukommen“ (Mills 2007: 115). Mit der Beschränkung der Berichte auf Körperbau, Kleidung und auf die Nützlichkeit des afrikanischen Arbeiters, prägt sich ein einseitiges und stereotypes Bild vom ‚Afrikaner’ ein. Fern von der Realität, gründet es allein auf konsensuellen Kategorisierungsmustern und Attributtierungsschemata. Der Wissensrahmen des Konzepts ‚Afrikaner’ beschränkt sich auf wenige Kategorien: seine Arbeitsformen, sein Nutzen für die Kolonien, Anatomie, Physiognomie, Kleidung und Schmuck sowie kollektive Charakteristika. Eine korpusübergreifende Existenz dieser Kategorien wird auf Grund von Überschneidungen mit Arbeiten zur Konstruktion des Afrikanerbildes am Beispiel von Sammelbildern (Leucht/Menne 2006), afrikanischen Völkerschauen in Köln (Gieseke 2006) und rassistischen Stereotypen (Klein 1998) bestätigt. Generell werden die Eingeborenen aus zwei Perspektiven wahrgenommen: Erstens als Mitglied einer sozialen Gruppe, eingebunden in Kultur und Tradition, losgelöst vom kolonialen Kontext. Zweitens als funktionalisiertes Element im System der diktierten kolonialen Gesellschaft. Der Afrikaner als Mensch mit eigener Geschichte und Kultur wird als eine abstrakte isolierte Existenz aus einer Beobachterposition oberflächlich dargestellt. Aus der Observationsperspektive werden ausschließlich ostensive Kennzeichen registriert, die unreflektiert bewertet werden. Kommentierungen reduzierten sich auf Beurteilung, klammern Ursprung und Hintergrund der Ereignisse und Verhaltensweisen aus und formen mit generalisierten Aussagen ein Zerrbild der Wirklichkeit. Der Afrikaner als Eingeborenenarbeiter hingegen, integriert in das vorherrschende System, wird in seiner Arbeitsfähigkeit ausschließlich unter europäischer Perspektive bewertet. Unter dem Anspruch der Kultivierung versuchen die Kolonisierenden, die indigene Bevölkerung zu ‚erziehen’ und damit ‚nützlich’ für die Kolonien zu machen. Resultat ist die Degradierung des Afrikaners zu einem minderwertigen Menschen. Grundsätzlich wird aus deutscher Perspektive mit dem vorherrschenden Selbstverständnis berichtet: Die Sicht der Eingeborenen, ihre Werte und Wertvorstellungen sind nachrangig und zu vernachlässigen. Ebenso wenig werden Versuche unternommen, die Eingeborenen, ihre Geschichte, ihre Sitten und Gebräuche, ihre räumlichen und klimatischen Lebensbedingungen zu verstehen. Kulturell bedingte Abweichungen von den im deutschen Kollektiv gesetzten
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Normen veranlassten die Kolonisierenden, die Afrikaner einer niedrigeren Menschenklasse zuzuordnen. Die bipolare Aufteilung des kolonialen Denkens suggeriert eine Welt von Gegensätzen, in der das Begriffspaar ‚Deutscher’ versus ‚Afrikaner’ allgemein mit dem Gegensatzpaar gut versus schlecht in Relation gesetzt wird. In komplementärer Verwendung wurden so alle positiven Eigenschaften den Europäern, hingegen alle negativen den Afrikanern zugeschrieben. Die afrikanischen Kolonisierten werden in Beziehung zu den kolonisierenden Europäern gesetzt und im Hinblick auf ihre Unterschiede zu den westlichen Normen beschrieben. Verunglimpfend werden sie als ‚Andere’ dargestellt, um auf diese Weise ein positives Bild der kolonisatorischen Gesellschaft zu übermitteln. Aufbauend auf dem Negativbild des ‚Anderen’, entwickeln die Deutschen ein affirmatives Selbstbild und erzielen damit die Aufwertung ihrer fragilen kolonisatorischen Identität. Demgemäß ist das Reden über den ‚Anderen’ immer auch ein Reden über sich selbst. 7. 7.1
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7.2
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V. Jenseits der Sprache Ein Exkurs
Wolfgang Fuhrmann Propaganda und Unterhaltung Kolonialismus im frühen Kino The essay discusses early cinema’s role in German colonial discourse by analyzing the historical reception of colonial films at the intersection of early film aesthetics and colonial ideology. The article starts with a brief overview on the history of German colonial cinematography until WWI. It emphasizes the significant role of amateur footage from the colonies and the distribution network of the German Colonial Society (Deutsche Kolonialgesellschaft). In the following the article discusses the exhibition context of colonial films. Analyzing the local and the national exhibition of the films it argues that colonial films did not exclusively trigger patriotic feelings but also addressed the viewers as armchair travelers or participants in a unique cultural event. On the background of early film aesthetics, the cinema of attractions and the aesthetic of the view, the essay concludes with a close reading of the early colonial travelogue LEBEN UND TREIBEN IN TANGA [Hustle and Bustle in Tanga]. The film shows that a significant feature of colonial films was the visual transformation of the African colony into a mirror image of Germany. Travelogues were mainly focusing on kinetic events that were aimed at depicting the colonies as the modern extension of the German metropolis.
Das zunehmende Forschungsinteresse für die deutsche Kolonialgeschichte im Rahmen einer sich etablierenden deutschsprachigen Kolonial/Postkolonialen- und Weißseins-Forschung umfasst neben der Aufarbeitung schriftlicher Quellen im zunehmenden Masse auch die Analyse der verschiedenen visuellen Medien. Untersuchungen zu Illustration, Fotografie, Ansichtskarte oder Reklamebild fragen, in welcher Weise diese Medien Kolonialismus abbildeten, Teil der kolonialen Ideologie waren und diese aktiv mitgestalteten (Bechhaus-Gerst/Gieseke 2007, Walgenbach 2005, Jäger 2006, Ciarlo 2003). Die Einbeziehung dieser bisher unbeachteten, aber zu ihrer Zeit ungemein populären Medien scheint insbesondere fruchtbar im Zusammenspiel mit der literaturwissenschaftlichen Analyse kolonialer Literatur, denn erst im Medienverbund wird man Kolonialismus als Kultur gerecht (vgl. Honold/Simons: 2002). Bedenkt man, dass in der imperialen Hochphase um 1900 der Anteil kolonialer Territorien von 67% der Erdoberfläche in 1884 auf 84,4% im Jahre 1914 anstieg (Shohat/Stam 2005: 16), stammten Bilder aus fernen Ländern fast ausnahmslos aus kolonialen Territorien. Mit ihnen wurden hegemoniale Diskurse stabilisiert, die vor allem die Sicht der Kolonial-
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mächte repräsentierten, die, mit Ausnahme Deutschlands, auch zu den größten Filmproduktionsländern zählten. Illustrationen, Fotografien und der Film sollten die Überlegenheit der kolonialen Mächte in allen Bereichen des Lebens zeigen: sei es als Beleg für eine vermeintlich wissenschaftlich fundierte ‚Rassenlehre’ oder die Techniküberlegenheit des Kolonisierenden gegenüber technisch ‚unterentwickelter’ ethnischer Gruppen und Völker. Im Denken der kolonisierenden Nationen wurde Kolonisation nicht als Ausbeutung und Unterdrückung verstanden, sondern als eine kulturmissionarische, erzieherische Tat, die es dem Anderen ermöglichen sollte, eine höhere Entwicklungsstufe zu erreichen. Die exponierte Bedeutung des Films als das populärste Medium in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist im Kontext des Kolonialismus und der kolonialen Ideologie weitgehend unbekannt, obwohl sich die deutsche Kolonialherrschaft (1885-1914) zwei Drittel ihrer Geschichte mit dem frühen Kino teilt (1896-1914) (Fuhrmann 2003). Ein wesentlicher Grund für die Vernachlässigung des Films in der Analyse der Bildmedien des 19. Jahrhunderts ist die verbreitete Annahme, dass nicht-fiktionale Filme wie Aktualitäten, Reisebilder oder Naturaufnahmen aus der Frühzeit der Kinematographie in ihrer Machart primitiv und auf Grund ihres offensichtlichen illustrativen Charakters wenig aussagekräftig sind. Eine Annäherung an die historische Rezeption kolonialer Filme erfordert die genaue Kenntnis der Aufführungskontexte der Filme sowie deren Ästhetik. Indem das frühe Kino den Zuschauer in direkter Weise adressiert und in das Filmgeschehen miteinbezieht, unterscheidet es sich grundlegend von dem heutigen konventionalisierten Filmsehen. Es ist diese unvermittelte Direktheit, mit der sich der frühe Film an sein Publikum wendet, die Aufschluss über das Verhältnis zwischen Kolonialismus und dem historischen Zuschauer gibt. Folgt man Speitkamp (2005: 14), war der imperiale Kolonialismus Ausdruck einer Krise, „die Selbstverständnis und Lebenswelt der Menschen des 19. Jahrhunderts erschütterte“. Der zunehmenden Verdichtung der Welt durch Industrialisierung und Vernetzung und der damit verbundenen gesellschaftspolitischen Koordinaten begegnete man mit einem wachsenden Bedürfnis nach Orientierung und Ordnung in dem vermeintlich ungeordneten Weltgefüge. Systematisierung und das Bedürfnis nach Erklärungsmuster forderten, so Speitkamp, den kolonialen Zugriff geradezu heraus (Speitkamp 2005: 15). Verdichtung und Orientierung kennzeichnen auch das Kino der Frühzeit. Die Erfolgsgeschichte des neuen Mediums Film ist undenkbar ohne eine durch den kolonialen Imperialismus geebnete Infrastruktur, die es den ersten Kameramännern ermöglichte, Aufnahmen aus der ganzen Welt
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an ihre Produktionsfirmen zu senden. Film wurde zum Reise-Ersatz und die Kamera als eine Erweiterung des menschlichen Sehvermögens aufgefasst. Die Kamera war ein modernes Auge, das in der Lage war, um die Erdoberfläche herum zu sehen (vgl. Melcher 1909). Die Vielzahl der Sujets, mit der der Film den Zuschauer in die Kinos lockte, boten ein nahezu enzyklopädisches visuelles Wissen, in dem nicht das Ereignis selbst, sondern erst sein Abbild zum eigentlichen Ereignis wurde. Bevor am Beispiel eines Kolonialfilms auf die besondere Ästhetik des frühen Kinos und ihre mögliche Lesart im Kontexts des Kolonialismus eingegangen wird, soll zunächst ein kurzer Überblick über den Umfang der deutschen Kolonialkinematographie gegeben werden. 1.
Anmerkungen zur Geschichte kolonialer Filme
Genaue Angaben zum Umfang der deutschen Filmproduktionen, die in den Kolonien oder über die deutschen Kolonien gedreht wurden, existieren nicht. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass neben professionellen Filmproduktionsgesellschaften ebenso Filmamateure die Kolonien bereisten, um ihre Aufnahmen daheim zur Aufführung zu bringen. Folgt man der Fachpresse so belief sich die Zahl deutscher Produktionen, die auf einen kolonialen Inhalt und Kontext schließen lassen, auf nicht mehr als ca. 50-60 Filme bis zum Ende des ersten Weltkriegs.1 Müller (1994) weist darauf hin, dass die Kinematographie in Deutschland im Varietégewerbe begann. Es überrascht daher nicht, dass der Verkauf der ersten Filmaufnahmen aus den Kolonien in den Branchenblättern des Varietés zu finden ist. Ausschlaggebend war der Aufstand des Herero Volkes im Januar 1904, der die deutsche Politik und Öffentlichkeit unerwartet traf und nach einer sofortigen Berichterstattung verlangte. Bereits im April 1904 warb die Internationale Kinematographen-Gesellschaft G.m.b.H aus Berlin mit zwei „interessanten“ Natur-Aufnahmen à 20 Meter aus der deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (Der Artist 1904).2 Weitere „Natur-Aufnahmen aus Deutsch-Südwestafrika (Herero-Aufstände)“ sollten in „ganz kurzer Zeit“ folgen. Das Ausbleiben von weiteren Anzeigen, die die Ankunft der neuen Filme ankündigten, blieb jedoch aus. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Filme entweder nie eingetroffen sind 1
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Als Grundlage der Recherchen gelten die Angaben in: Herbert Birett, Das Filmangebot in Deutschland 1895-1911 München, Filmbuchverlag Winterberg, 1991 sowie die eigene Durchsicht der zeitgenössischen Filmzeitschriften Die Lichtbild-Bühne (1908-1919), Der Kinematograph (1907-1919) und Der Film (1916-1919). 20 Meter entsprachen etwa einer Projektionszeit von 1 Minute.
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oder qualitativ so unzureichend waren, dass ein Verkauf nicht in Betracht gezogen wurde. Filme über die Kolonien waren mehrheitlich nichtfiktional und berichteten überwiegend über die afrikanischen Kolonien: Aktualitäten, Reisebilder, ethnographische Studien, Natur- und Jagdaufnahmen sowie Darstellung von industriellen und handwerklichen Produktionsprozessen bestimmten die Themenpalette. Spielfilme wurden nachweislich 1913 in der Kolonie Togo von dem Afrikareisenden Hans Schomburgk und in Ostafrika von dem passionierten Jäger Robert Schumann gedreht (Fuhrmann 2002a). Obwohl verschiedene Spielfilme koloniale Abenteuer als Gegenstand ihrer Handlung wählten, gab es keinen kolonialen Filmklassiker, der mit Gustav Frenssens Kolonialklassiker Peter Moors Fahrt nach Südwest aus dem Jahre 1906 vergleichbar wäre. Filme aus den Kolonien zu sehen, bedeutete aber nicht ausschließlich deutsche Produktionen zu sehen. Der frühe deutsche Filmmarkt war international organisiert und maßgeblich durch französische Filmproduktionen geprägt Neben Produktion wie DIE SIGIFÄLLE IN DEUTSCHOSTAFRIKA (Deutsche Bioscope, 1907), LAND UND LEUTE IN DEUTSCHSÜDWEST-AFRIKA (Deutsche Mutoskope und Biograph, 1907) MIT DEM NORDDEUTSCHEN LLYOD NACH NEU-GUINEA (Internationale Kinematograph- und Lichtbild-Gesellschaft, 1907), die in der Folgezeit in den Kinos zu sehen waren, gab es eine Reihe ausländischer Produktionen, die die deutschen Kolonien im Film präsentierten. Der Film DIE FORTSCHRITTE IN DER ZIVILISATION IN DEUTSCH OSTAFRIKA. EINE STAATLICHE FACHSCHULE IN TANGA/ Á TANGA, ÉCOLE PROFESSIONNELLE GOUVERNEMENTALE der französischen Produktionsfirma Pathé Frères aus dem Jahre 1911 ist einer der noch wenigen existierenden Filme aus der deutschen Kolonialzeit, der einen Einblick in das Ausbildungs- und Schulwesen in der ostafrikanischen Kolonie gewährt. Darüber hinaus muss man im Kolonialfilmrepertoire des deutschen Zuschauers jene Film berücksichtigen, die aus Territorien anderer europäischer Kolonialmächte stammten, aber dennoch das koloniale Selbstverständnis des deutschen Zuschauers prägten. Der Film DIE VIKTORIAFÄLLE (Raleigh/Roberts, 1907) wurde offensichtlich nicht in einer deutschen Kolonie gedreht, sondern in Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Dennoch erhält der Film seine deutschkoloniale Lesart, indem die Werbeanzeige betont, das der Film ein Beispiel sei, wie sich die deutsche Industrie „in allernächster Zeit dieser enormen Wasserkräfte bemächtigt, um Elektrizität im Innersten Afrikas zu erzeugen.“ (Der Kinematograph 1907)
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Auch wenn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 die Versorgung mit aktuellen Filmbildern aus den Kolonien ein vorzeitiges Ende fand, bedeutete dies kein Ende der Kolonialfilmproduktion. Die Deutsche Kolonialfilmgesellschaft (DEUKO), die sich 1917 gründete, produzierte bis zum Ende des Krieges verschiedene koloniale Spielfilme wie DER VERRÄTER (1917), FARMER BORCHARDT (1918) oder DER GEFANGENE VON DAHOMEY (1918) (Fuhrmann 2008b). Trotz der Namensähnlichkeit mit der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) war die DEUKO weder finanziell noch personell mit der Kolonialgesellschaft verbunden. Unterstützt wurde sie lediglich ideell von der DKG durch Empfehlungen und Berichterstattung in der Deutschen Kolonialzeitung, der Vereinszeitung der DKG. Die Filme der DEUKO sind die letzten kolonialen Filmaktivitäten während der deutschen Kolonialzeit. Der Umfang von Amateuraufnahmen aus den Kolonien ist im Gegensatz zu den Filmen der offiziellen Produktionsgesellschaften nicht zu beziffern; es ist jedoch genau dieser Bereich der Filmproduktion, der maßgeblich für die Verbreitung der ‚kolonialen Idee’ durch das Medium Film verantwortlich war. Darüber hinaus verweist der Amateurfilm auf einen Aufführungskontext, der bisher in der Filmgeschichtsschreibung nur selten Beachtung gefunden hat. Aufführungsorte der Amateurfilme waren nicht etwa das öffentliche Kino, sondern Vereine und Gesellschaften, die der Koloniallobby nahe standen (Fuhrmann 2002). Der wichtigste und kolonialpolitisch einflussreichste Verein dieser Art war die DKG. In den Schriften des Ausschusses der DKG findet sich bereits 1898 ein Antrag des Regierungsrats Dr. Stuhlmann, der die Gesellschaft um eine finanzielle Unterstützung bittet, um „Projektionsbilder aus den Kolonien zur Vorführung mit dem Kinematographen aufzunehmen, um das Leben und Treiben daselbst zu veranschaulichen“ (Deutsche Kolonialgesellschaft 1898: 6).3 Die DKG, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, für den Kolonialbesitz und die Popularisierung der kolonialen Idee in der deutschen Öffentlichkeit zu werben, entschied sich zu diesem Zeitpunkt aus finanziellen Gründen noch gegen ein solches Vorhaben und verwies auf ausreichende Werbung durch Lichtbildervorträge der Gesellschaft. Mit der wachsenden Popularität des Kinos und dem immer größer werdenden Unmut der Mitglieder über mittlerweile langweilig gewordene Lichtbildervorführungen öffnete sich die Kolonialgesellschaft jedoch um 1905 auch dem neuen Medium Film (Fuhrmann 1999).
3
Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um Dr. Franz Ludwig Stuhlmann (1863-1928), Zoologe und Afrikaforscher.
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Von dem Einsatz des Films erhoffte sich die DKG, die kritische Haltung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber dem Kolonialbesitz in einen erneuten Kolonialpatriotismus umzukehren. Der anfängliche Kolonialenthusiasmus war um 1900 einer tiefen Ernüchterung gewichen und resultierte für die DKG in einem dramatischen Einbruch in der Mitgliederzahl. Revolten und Kriege, Vettern- und Misswirtschaft, Berichte über sadistische Exzesse an der einheimischen Bevölkerung und Willkürherrschaft prägten das Bild der Kolonien in der Öffentlichkeit um die Jahrhundertwende. Im Reichstag sprach man offen von der Kolonialmüdigkeit des Volkes, und Wilhelm Liebknecht brachte die Ergebnisse deutscher Kolonialpolitik auf die kurze Formel: Mord, Raub, Totschlag, Syphilis und Schnaps (Noske 1914: 78). Der Film sollte der Berichterstattung über die Kolonien eine neue Qualität verleihen, wie es bis zu diesem Zeitpunkt kein anderes Medium zu leisten im Stande war. Die vermeintliche Objektivität des kinematographischen Aufnahmeapparates, mit der es erstmalig möglich war, Bewegung in natürlicher Weise wiederzugeben, sollte die Aktivität, die Leistungsfähigkeit und damit das ‚Funktionieren’ der Kolonien beweisen. Um ihre Propaganda neu auszurichten bzw. den Ansprüchen des Publikums zu entsprechen, wurde die DKG nicht selbst als Produzent aktiv, sondern engagierte in den folgenden Jahren den Altenburger Gastwirt und Brauereibesitzer Carl Friedrich Müller (1896-1935), der zu dieser Zeit einer der wenigen Filmamateure war, der über brauchbares Filmmaterial aus den Kolonien verfügte (Fuhrmann 2008b). Im Herbst/Winter 1904/05 hatte Müller die afrikanischen Kolonien Deutsch-Ostafrika und Deutsch- Südwestafrika bereist, um dort Film aufzunehmen und Filme aus Deutschland der deutschen wie der afrikanischen Bevölkerung vorzuführen. Nach der erfolgreichen Vorführung seiner Filme vor führenden Mitgliedern der Kolonialgesellschaft im April 1905 in Berlin, tourte Müller bis 1907 durch Deutschland, um in zahlreichen lokalen Abteilungen der DKG seine Filme in den Dienst der Kolonialpropaganda zu stellen. Müller ergänzte sein Filmrepertoire durch eine zweite Reise in die Kolonien Togo, Kamerun und erneut Deutsch-Südwestafrika im Winter 1905. Im Dezember 1906 erwarb die DKG Müllers Filme und engagierte nach seinem Ausscheiden die Deutsche Bioscope G.m.b.H. im Sommer 1907 als offiziellen Vorführer für ihre Kolonialfilmprogramme in den Abteilungen. Die wachsende Konkurrenz mit Wanderkinos und ortsfesten Lichtspielhäusern und das ungelöste Problem einer kontinuierlichen Versorgung mit Filmen aus den Kolonien, die unter der Leitung der DKG entstehen sollten, beendete bereits Ende 1908 die Filmpropagandapläne der DKG, die zunächst hoffnungsvoll und erfolgreich mit einer Kinema-
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tographenkampagne den Film als Werbemittel in ihre Propagandatätigkeit integrierte. 2.
Filmaufführung als Adressierung des Publikums
Studiert man die Filmaufführungen Carl Müllers genauer, so lassen sich verschiedene Aufführungskontexte erkennen, die jeweils ein unterschiedliches Publikum adressieren. Bei den Veranstaltungen in seiner Heimatstadt Altenburg bemühte sich Müller, möglichst viele Bürger mit seinen Vorführungen anzusprechen. Neben einem kolonialen Teil, in dem Müller ausführlich auf das Leben und die Maßnahmen einging, die nötig wären, um die Kolonien produktiv zu machen, gab es einen weiteren, unterhaltenden Filmteil im Programm. Durch Filme wie KRÖNUNG KÖNIG EDUARDS VON ENGLAND, FESTZUG IN INDIEN oder FAHRT EINES AUTOMOBILS AUF DEN MONT BLANC gingen Müllers Filmprogramm in Altenburg weit über eine reine kolonialpatriotische Veranstaltung hinaus. (Altenburger Zeitung für Stadt und Land 1905). Mit dem Programm konnte der Zuschauer zugleich durch die Welt reisen und an internationalen gesellschaftlichen Ereignissen teilhaben. Lichtbilderaufnahmen von ehemaligen Altenburger Bürgern, die in der Ostafrikanischen Kolonie lebten, hatten sowohl kolonialpatriotischen Charakter als auch eine lokale Bedeutung im Sinne einer Einladung an das Publikum, Neuigkeiten von ehemaligen Nachbarn zu erfahren. Ähnlich verhält es sich mit einer KinderNachmittagveranstaltung, in der die Märchenserie Ritter Blaubart zu sehen war. In diesem Fall scheint es naheliegend, dass Müller versuchte ein Programm anzubieten, dass die ganze Familie an seine Veranstaltung bindet. Der Programmablauf, den Müller für seine Vorführungen wählte, war zweifellos von der Attraktion der Aufnahmen aus den Kolonien geprägt, nicht weniger attraktiv scheint aber die Zusammenstellung des Programms gewesen zu sein, das nicht nur das Altenburger Publikum einlud, Müllers Reise im Film mitzuerleben, sondern auch einem qualitativ hochwertigen und ausgewogenen Filmprogramm beizuwohnen. Diesem ‚Heimspiel’ stehen die lokalen Veranstaltungen in den Abteilungen der DKG gegenüber, die in sehr viel stärkerem Maße kolonialpatriotischen Charakter trugen. Filmveranstaltungen anlässlich des SächsischThüringischen Gauverbandes der DKG im Juni 1905 oder des Niederrheinisch-Westfälischen Gauverbandes im September 1906 in Wuppertal standen ganz im Zeichen der kolonialen Idee. Die kolonialpatriotische Bedeutung von Müllers Filmaufführungen belegt die Teilnahme der königlichen Familie in Stuttgart im September 1905 oder hochrangiger Ver-
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treter aus Politik und Gesellschaft anlässlich Müllers Filmpremieren nach seinen Filmreisen im April 1905 und im Juni 1906 im Berliner Kolonialmuseum. Inwiefern Müllers Vorführungen ebenso genutzt werden konnten, um ein großstädtisches Kulturangebot in einer Kleinstadt anzubieten, belegt eine Werbeanzeige der Abteilung Pirna im Dezember 1905. Mit dem Hinweis, dass Müllers Filmvorführungen bereits in Berlin, Hamburg und Elberfeld den größten Beifall gefunden und die Aufnahmen einen Kostenaufwand von 11000 Mark verursacht haben, bemühte sich die Abteilung Pirna offensichtlich, Müller Filmveranstaltung als ein einmaliges Ereignis in der Stadt anzupreisen, das dem Pirnaer Publikum die Gelegenheit geben sollte, einen Teil des Kulturangebots der Hauptstadt wahrzunehmen (Pirnaer Anzeiger 1905). Die Aufführungsbeispiele, lokal und national, zeigen, dass Filme aus den Kolonien auf sehr unterschiedliche Art und Weise den Zuschauer ansprachen und Kolonialpatriotismus Hand in Hand entweder mit einem virtuellen Reiseversprechen wie in Altenburg oder einem kulturellen Ereignis wie im Beispiel aus Pirna einherging. Mit dem Ende von Filmvorführungen in der DKG auf Grund der wachsenden Konkurrenz mit ortsfesten Kinos und der ungelösten Frage einer kontinuierlichen Versorgung mit aktuellen Filmen aus den deutschen Kolonien, wurde das Kino zum bevorzugten Aufführungsort kolonialer Filmproduktionen.
3.
Koloniale Filmästhetik
In der zeitgenössischen Filmpresse wurde wiederholt auf die geringe Anzahl deutscher Kolonialfilme in den Lichtspielhäusern hingewiesen, doch gab es bis zur Gründung der DEUKO keine Bestrebungen seitens der Regierung, die Kolonialfilmproduktion aktiv zu unterstützen.4 Auf Regierungsseite fürchtete man viel eher, dass eine allzu große Nähe zu einem Unterhaltungsmedium den kolonialpolitischen Bestrebungen schaden könnte. Das Fehlen einer eigenen nationalen Kolonialfilmproduktion nahm im November 1909 die Deutsche -Bioscop Gesellschaft m.b.H zum Anlass, um auf einer ganzseitigen Anzeige im Fachblatt Der Kinematograph auf ihre neue
4
Eine offizielle Stellungnahme des Reichskolonialamts (RKA) zur Kolonialfilmproduktion findet sich nicht in den Akten des RKA im Bundesarchiv- Lichterfelde. Hinweise, die auf eine Zurückhaltung schließen lassen, finden sich jedoch in verschiedenen Schriftstücken in den Akten des RKAs.
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Filmp produktion LEBEN UND D TREIBEN IN TANGA A (DEUTSCH H-OSTAFRIK KA) aufmerkssam zu mach hen. (Der Kin nematograph 1909).
s detaillierrte Beschreib bung des Fillms, die im folgenden geenauer Die sehr analyssiert werden soll, wird vo on einem eye-catcher eröffn net, der den Theaterbessitzer darauff hinweist, daass es sich um u einen „deeutschen Kollonialfilm“ handelt, der, so am En nde der Film mbeschreibun ng, auf Grun nd des
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Fehlens eines deutschen Kolonialfilms „ein Schlager für jedes Theater“ sei:5 Diese interessante Aufnahme zeigt in durchweg hervorragender Photographie, unterstützt durch verschiedenfarbige, wirksame Viragen unter anderem das Eingeborenen-Viertel mit den malerischen, eigenartigen Lehmhäusern, eine Strasse des Eingeborenen-Viertels mit dem lebhaften Hin und Her von Negern, Mohamedanern (sic!), Indiern, etc., die Ankunft eines Zuges auf dem kleinen, aber sauberen Bahnhof, den interessanten Verkehr auf der Hauptstrasse mit Trolleys, Rikshas, Kinderwagen, vornehmen Europäern, schwarzen Gassenjungen etc. Ja, sogar die Musik kommt (die Schülerkapelle der deutschen Schule), freudig umringt von Gross und Klein, ganz wie in Deutschland, ein Kinderfest auf dem Bismarck-Platz mit dem schönen Bismarckdenkmal, Europäer am Kaffeetisch, belustigt von einem äusserst drolligen Schimpansen, eine Turnschule der deutschen Schule mit Reigenübungen, Bockspringen etc., Exerzitien der eingeborenen Schutztruppe der Askaris, welche an Strammheit und Schneidigkeit denen der deutschen Kameraden kaum etwas nachgeben (Der Kinematograoh Nr. 150, 10.11.1909.)
LEBEN UND TREIBEN IN TANGA gilt als nicht überliefert. Die Filmbeschreibung zeigt aber, dass der Film in seinem Aufbau einem typischen Reisebild entspricht, das die geläufigste Filmform im frühen Kino war, um ferne Länder, Kontinente und deren Bewohner abzubilden (Peterson 1999). Der Film verweist auf zwei charakteristische ästhetische Eigenschaften des frühen Kinos, ohne deren genauere Kenntnis die Analyse des Films kaum Aufschluss über seinen Beitrag am kolonialen Diskurs, der im Folgenden unter den Aspekten des kolonialen, weißen Selbstverständnisses, der wirtschaftlichen Propaganda und der kulturmissionarischen Berufung diskutiert werden soll, geben kann. Kennzeichnend für das Reisebild LEBEN UND TREIBEN IN TANGA ist das Kino der Attraktionen sowie die Ästhetik der Ansicht (Gunning 1990, 1997). Attraktionen wie Ansicht unterscheiden sich deutlich von einem Erzählkino, das sich erst in den Zehner Jahren zu etablieren beginnt oder einer Dokumentarfilmrhetorik, wie sich in den zwanziger Jahren durchsetzt. Der amerikanische Filmwissenschaftler Tom Gunning definiert das Kino der Attraktionen in der Frühzeit der Kinematographie als ein Kino des Zeigens, „its ability to show something“ (Gunning 1990: 57). Nicht Narrativität, sondern bewusste Zurschaustellung kennzeichnet die Attraktion. Sie verweist auf den Inszenierungscharakter der Aufnahme und die 5
Im Unterschied zu der heutigen Verleihpraxis im Kino wurden Filme in der Frühzeit der Kinematographie verkauft. Werbeanzeige richteten sich daher nicht an den Zuschauer, sondern an den Kinobesitzer, der mit dem Ankauf und den genauen Angaben über den Film das Filmprogramm seines Filmtheaters für die laufende Woche zusammenstellte.
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Befriedigung der Schaulust des Zuschauers. Sei es in Form eines inszenierten Tricks oder der gefilmten Akrobatik, richtet sich das Kino der Attraktionen direkt an den Zuschauer und erregt dessen visuelle Neugier. Die Attraktion ist die Inszenierung eines einzigartigen Ereignisses, ob fiktional oder dokumentarisch, das durch sich selbst von Interesse ist (Gunning 1990: 57). Kennzeichnend für das Attraktionskino ist z.B. der Blick in die Kamera, die bewusste Adressierung und Anerkennung eines zuschauenden Publikums wie es in gefilmten Gags oder Bühnentricks in der Frühzeit des Kinos besteht.6 Die Ästhetik der Ansicht ist Teil des Kinos der Attraktionen. Sie gilt als Urform des frühen nicht- fiktionalen Films, doch liegt ihr Reiz nicht in der bewussten Adressierung und damit auf der Seite des Produzenten bzw. Darstellers, sondern in der Eigenschaft der Kamera, als Forscher, Tourist oder Betrachter aufzutreten (Gunning 1997: 15) Gunning betont selbst, dass der Unterschied zwischen Arrangement und einfacher Wirklichkeitswiedergabe nur schwer festzustellen ist, die Ansicht kennzeichnet jedoch die Aufnahme eines Ereignisses in der Natur oder der Gesellschaft, das auch ohne die Teilnahme der Kamera stattgefunden hätte (Gunning 1997: 14). Das Repertoire von Ansichten umfasst z.B. Sportereignisse, Zeremonien aller Art oder Naturschauspiele wie Wasserfälle, Tieraufnahmen oder Vulkanausbrüche. Die von Gunning bemerkte Schwierigkeit, die Grenze zwischen Attraktion und Ansicht klar zu trennen, findet im Produktionskontext des Films eine bemerkenswerte Ergänzung. Wie eine kurze Notiz in der Usambara Post belegt, wurden die Dreharbeiten zu LEBEN UND TREIBEN IN TANGA sehr sorgfältig und mit Unterstützung der Einwohner Tangas arrangiert und einstudiert. (Usambara Post 1909). Tanga als koloniale Inszenierung oder das Leben und Treiben, wie es sich tatsächlich dargestellt hat? Unzweifelhaft ist die Funktion des Films, als Reisefilm den Zuschauer nach Tanga einzuladen und ihm die Möglichkeit zu geben, einen Querschnitt aus dem Leben in Tanga zu erleben, das wie zufällig aufgenommen erscheint. Dabei geht es im Film nur zum Teil um das Exotische der Kolonie, sondern vielmehr um einen Eindruck eines vergnüglichen, abwechslungsreichen koloniales Lebens in der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Das Leben in der Kolonie bedeutet nicht, Opfer zu bringen oder liebgewon6
Das Vermeiden des Blicks in die Kamera ist eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des diegetischen Raums im klassischen Erzählkino wie z.B. im klassischen Hollywoodfilm.
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nene Traditionen aufzugeben. Im Gegensatz zu dem kolonialen Leben, das gerade in kultureller Hinsicht von vielen Kolonialdeutschen als langweilig und öde empfunden wurde7, ist der Film eine Aneinanderreihung verschiedener ‚drolliger’ und unterhaltender Momente, die jeden Tag zu einem Ereignis machen: Platzkonzert, ein Kinderfest und ein gut gedeckter Kaffeetisch erinnern nicht an neue, exotische Gewohnheiten, sondern an sehr typische, deutsche Sonntagsaktivitäten. Mit der Bemerkung, dass das Gezeigte „ganz wie in Deutschland“ sei, nimmt der Film ein wesentliches Merkmal der deutschen Kolonialideologie auf, die die Kolonialrhetorik in allen Medien dieser Zeit kennzeichnet: die Transformierung der afrikanischen Kolonien in ein Spiegelbild der deutschen Heimat (Fuhrmann 2008a). Eine genaue Analyse der nichtfiktionalen Filme über die Kolonien sowie Rezensionen der Filme zeigt, dass Filme die Kolonien nicht als einen dem deutschen Zuschauer völlig fremden, exotischen Ort darstellten, sondern als die moderne Erweiterung der Metropole. Nicht von Unterschieden, sondern von den Gemeinsamkeiten zwischen Kolonien und der deutschen Heimat berichteten Kolonialfilme. (vgl. Fuhrmann 2008a) Beispielhaft sind die zahlreichen Vergleiche in dem ersten Reiseführer über die Ostafrikanische Kolonie zu nennen: die Pugu Berge erinnern an Thüringen (Karstedt 1914: 227), die Region um Amani an ein tropisches Vogesenbild und Daressalaam an ein afrikanisches Potsdam (Karstedt 1914: 217). Das gefilmte gesellschaftliche Ereignis auf dem Bismarckplatz in LEBEN UND TREIBEN IN TANGA lässt keinen Zweifel aufkommen, dass, auch wenn der Schauplatz Afrika, das Leben deutsch ist. Mit der Darstellung der Kolonien als Erweiterung des deutschen Bodens referierte der Film auf ein weiteres Merkmal der kolonialen Rhetorik, das der ‚aktiven‘ Kolonie. Der Film konzentriert sich in der Zusammenstellung der verschiedenen filmischen Szenen auf Bewegungsbilder. Der vermittelte Eindruck einer Kolonie in Bewegung entsprach dem Ziel der Kolonialpropaganda, ein neues, positives Kolonialbild zu entwerfen, das durch die Darstellung des wirtschaftlichen und sozialen ‚Funktionierens‘ der Kolonien anschaulich vor Augen geführt werden konnte. Aufnahmen von Zügen, Schiffen, dem Be-und Entladen von Gütern und kolonialen Produktionsprozessen finden sich immer wieder in den zeitgenössischen Filmbesprechungen von Carl Müllers Filmaufnahmen. Aufnahmen wie diese standen für den technischen Fortschritt und die koloniale Mobilität, 7
So beschreibt ein Journalist die Ankündigung eines Variete-Theaters im Juli 1905 als eine willkommene Abwechslung zu der „palmöden Tropentretmühle“. DeutschOstafrikanische Zeitung, 08.07.1905.
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die den unaufhaltsamen Fortschritt deutscher Kolonisationsarbeit für den Zuschauer ins Bild setzten. LEBEN UND TREIBEN IN TANGA nimmt die Idee der Mobilität in besonderer Weise auf, indem er sie um eine gesellschaftliche Seite erweitert. Das Hin und Her der kolonialen Bevölkerung, die Ankunft eines Zuges, Trolleys, Rikshas, Kinderwagen, herbeikommende Musikgruppe, Tieraufnahmen, Turn- und Exzerzierübungen zeigen anschaulich das pulsierende Leben in einer kolonialen Stadt, in der mit der Aufnahme eines Kinderwagens auch auf die Tatsache verwiesen wird, das die Kolonie neues ‚deutsches’ Leben hervorbringt und ein auf die Zukunft ausgerichtetes Projekt ist. Ergänzen sich die zuvor genannten Lesarten des Films zu einem Bild, das Tanga bzw. Deutsch-Ostafrika als eine aktive Kolonie und Erweiterung des deutschen Reiches darstellen, soll im letzten Abschnitt auf ein Merkmal des Films hingewiesen werden, das die Ambivalenz des kolonialen Diskurses verdeutlicht. Kolonialfilme, deren Sujets sich vollständig auf das Leben der kolonisierten Bevölkerung konzentrierten, gab es, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Umfang. Die Rollenverteilung im Kolonialfilm war stets klar definiert -- es ging um den Kolonisten und seine geschaffene koloniale Lebenswelt, die der Zuschauer betrachten sollte. Liest man aufmerksam die Filmdarstellung, so erfüllt auch LEBEN UND TREIBEN IN TANGA diese Aufgabe. Der Film bewegt sich vom „Eingeborenen-Viertel“ zum deutschen Teil der Stadt und konzentriert sich im Folgenden ganz auf das Leben des Kolonisierenden. Mit dieser Gegenüberstellung erfüllt der Film einerseits die Genrekonventionen des Reisebildes, dessen Bilder stets zwischen Exotik und Vertrautheit, Verlangen und Abwehr pendeln müssen (vgl. Peterson 1997), zugleich verweist diese formale Spannung auf die Ambivalenz des kolonialen Stereotyps. Bhabha zufolge besteht ein wichtiges Merkmal des kolonialen Diskurses „in seiner Abhängigkeit vom Konzept der ‚Festgestelltheit’ in der ideologischen Konstruktion des Andersseins“ (Bhabha 2000: 97). Die Festgestelltheit ist jedoch ein paradoxe Form der Repräsentation im kolonialen Diskurs, die „Starre und unwandelbare Ordnung“ bezeichnet, „zugleich aber auch Unordnung, Degeneriertheit und dämonische Wiederholung“ (Bhabha 2000: 97). Die Ambivalenz wird bereits in der Beschreibung der Architektur deutlich, indem die Lehmhäuser des Eingeborenen-Viertels sowohl als malerisch als auch als eigenartig beschrieben werden und das Viertel im Kontrast zu dem deutschen Teil der Stadt, der durch einen sauberen Bahnhof und einer Hauptstrasse, auf der vornehme Europäer anzutreffen sind, steht. Ähnlich verhält es sich in der Darstellung des Kolonisierten, in dem der Film den
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Kolonisierten zugleich seine Gleichwertigkeit wie Ungleichwertigkeit betont. (vgl. Bhabha 2000: 104). Die deutsche Kolonialideologie verstand Kolonisierung als eine kulturmissionarische Pflicht, in der die ‚Zivilisierung’ und ‚Erziehung’ des Kolonisierten im Vordergrund stand. Bilder aus dem Schul- und Ausbildungswesen, wie in DIE FORTSCHRITTE DER ZIVILISATION IN DEUTSCHOST-AFRIKA oder EINE KOLONIALSCHULE IN DER DEUTSCHOSTAFRIKANISCHEN PROVINZ USAMBARA (Pathé Frères/Germania Film 1912) schienen besonders geeignet zu sein, sich der Erfolge der deutschen Kulturmission zu versichern. In diesem Sinne können die militärischen Übungen der Askari am Ende von LEBEN UND TREIBEN IN TANGA als Ergebnis einer erfolgreichen Kulturmission verstanden werden. War zuvor der Kolonisierte durch sein „Hin und Her“ im Eingeborenenviertel oder als „Gassenjunge“, der sich deutlich von dem „vornehmen Europäer“ unterscheidet, charakterisiert, spricht die Darstellung der militärischen Übungen der Askari, die an „Strammheit und Schneidigkeit“ den deutschen Kameraden kaum nachstehen, für den den Erfolg der deutschen Kolonisierung und die . Wenn Bhabha betont, dass „Andersheit“ zugleich Begehren wie Belustigung darstellt (Bhabha 2000: 99), dann lassen sich die nahezu perfekten Übungen der Askari nicht nur als Möglichkeit der Belustigung für den deutschen Zuschauer verstehen, sondern auch als Form der kolonialen Mimikry (Bhabha 2000: 125ff.). Bhabha versteht darunter eine weitere Ambivalenz im kolonialen Diskurs, in dem die Aneignung von Repräsentationsformen des Kolonisierenden nicht die koloniale Ordnung bestätigt, sondern auch als Form des Widerstandes verstanden werden kann. Die Ähnlichkeit zwischen Askari und den deutschen Soldaten in der Ausübung militärischer Exerzitien wäre demnach nicht unbedingt ein Zeichen des Erfolges deutscher Kolonisierung; die Imitierung der Übung deutet auch auf die Möglichkeit hin, dass koloniale Herrschaft parodiert und unterwandert wird. Was würde geschehen, wenn der Kolonisierte nicht mehr unterscheidbar wäre? „Kolonialistische Filme dem Kolonialismus zuzuordnen“, ist, so der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier, so überflüssig wie alle Tautologien (Kreimeier 1997: 47). Vielmehr sollte man fragen „wie der Film unter den Bedingungen der kolonialen Aggression Blicke und Blickrichtungen organisiert hat.“ (Kreimeier 1997: 47) Das Beispiel von LEBEN UND TREIBEN IN TANGA zeigt, dass er alles andere als ein primitiver Film ist. Durch die spezifische Ästhetik des frühen Kinos von Attraktion und Ansicht lassen sich Blick und Blickrichtungen im kolonialen Diskurs verorten. Als Inszenierung der Kolonie als erweiterter deutscher Lebensraum
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voller Spektakel ist LEBEN UND TREIBEN IN TANGA ein typischer (deutscher) Kolonialfilm, der das Ende der kolonialen Herrschaft schon immer mit abgebildet hat.
4.
Literaturverzeichnis
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Autorinnen und Autoren Susan Arndt Susan Arndt, Dr. phil., Anglistische und afrikawissenschaftliche Literatur- und Kulturwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt/M. und HumboldtUniversität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: englische Literatur des 16.- 18. Jahrhunderts, west- und südafrikanische Literaturen und Oraturen, afrikanische Frauenliteraturen und Feminismus in Afrika, koloniale Afrikadiskurse, Rassismusforschung/Kritische Weißseinsforschung, Migration und Diaspora: Theorieansätze und Literarische Prozesse. Ausgewählte Publikationen: • (1998): African Women's Literature. Orature and Intertextuality. Bayreuth. • (2001) (Hg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster. • (1998): The Dynamics of African Feminism. Defining and Classifying African Feminist Literatures. Trenton, Asmara. • (2004) (Mithg. ): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster. • (2005) (Mithg.): Kreatives Afrika. SchriftstellerInnen über Literatur, Politik und Gesellschaft; • (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. • (2006, Mithrsg.) Africa, Europe and (Post-)Colonialism. Racism, Migration and Diasporas in African Literatures. Bayreuth. • (2007) (Mithg.): Exophonie. Anderssprachigkeit (in) der Literatur. Berlin. • (2007) (Mithg.): Worlds and Words. African Writers on Literature, Theatre und Society. Asmara; Trenton, NJ. • (2007) (Mithg.): Popular Cultures and Performance. Orature, Theatre and New Media in Africa. Bayreuth.
Medardus Brehl Dr., Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Genozidforschung, Diskurstheorie, Verhältnis von Literatur und Geschichte, allgemein zum Verhältnis von Textualität und Historizität, zum Themenkomplex „Gewalt und Sprache“, Kriegsdichtung (insbes. Literatur des Ersten Weltkriegs), Kolonialliteratur. Ausgewählte Publikationen: • (2000): „Das Wort schon stockt mir vor Grauen.“ Krieg, Gewalt und Sprache im Werk August Stramms. In: M. Dabag et al. (Hg.): Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, 242-265. • (2002): Krieg der Codes. In: K. Platt (Hg.): Reden von Gewalt. München, 196-226. • (2003): (Ein)Geborene Feinde. Zur Konstruktion existenzieller Feindschaft im Kolonialdiskurs. In: M. Brehl et al. (Hg.): Feindschaft. München, 157-177. • (2004): „Ich denke die haben ihnen zum Tode verholfen“. Koloniale Gewalt in kollektiver Rede. In: M. Dabag et al. (Hg.): Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid. • (2005): Strategies of Exclusion: The Genocide of the Herero in German Colonial Discourse. In: G. C. Kinloch (Hg.): Genocide: Approaches, Case Studies and Responses. New York, 143-162. • (2007): Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. München. • (2007): Bellizistische Belletristik. Inszenie-
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Autorinnen und Autoren rung und Nachwirkung einer Literatur im Kriegseinsatz 1813/14. In: K. MeyerDrawe et al. (Hg.): Wissenschaft im Einsatz. München, 135-162.
Katja Faulstich Dr., zur Zeit Studienreferendarin in Kassel. Forschungsschwerpunkte: Sprachgeschichte des Deutschen, Text- und Diskurslinguistik, Sprache und Identität. Ausgewählte Publikationen: • (im Druck): Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskus im 18. Jahrhundert. • (2007): Die deutsche Sprachnation. In: I. Warnke (Hg.): Diskurslinguistik. Methoden - Gegenstände - Grenzen. Berlin/New York, 247-272.
Wolfgang Fuhrmann Dr., Seminar für Filmwissenschaft Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Frühe Filmgeschichte, Deutsche Filmgeschichte, World Cinema. Ausgewählte Publikationen: • (1997): Hieroglyphische non-fiction. In: Jan Berg et al. (Hg.): Authentizität als Darstellung. Hildesheim, 175-184.• (2002): Locating Early Film Audiences: voluntary associations and colonial film. In: Historical Journal of Film, Radio and Television, vol. 22, no. 3, 2002: 291-304. • (2005): Der Kinematograph in Afrika: Filme aus den deutschen Kolonien. In: Uli Jung, Martin Loiperdinger (Hg.): Geschichte und Ästhetik des dokumentarischen Films 18951945, vol. I, 1895-1918; Stuttgart, 149-160. • (2008) Early ethnographic film and the museum. In: Richard Abel et al. (eds.): Early Cinema and the „National“. London, 285-292.
Mathilde Hennig Dr., Germanistische Linguistik Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Grammatik der gesprochenen Sprache, Syntax des Neuhochdeutschen, historische Mündlichkeit, Satzanalyse, Grammatikbenutzung. Projekte: 1. DFGProjekt „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“. 2. Von der Dudenredaktion gefördertes Projekt „Grammatikbenutzungsforschung“. 3. Von der Robert-Bosch-Stiftung gefördertes Denkwerkprojekt „Wie normal ist die Norm?“ Ausgewählte Publikationen: • (2000): Tempus und Temporalität in geschriebenen und gesprochenen Texten. Tübingen. • (2006): Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel. • (2006) mit Vilmos Ágel: Grammatik aus Nähe und Distanz. Tübingen.
Hiltud Lauer Diplom-Psychologin, Studium der Psychologie in Bonn und Heidelberg. Tätigkeit in Diagnostik, Therapie und Erwachsenenbildung. Seit 2004 Magisterstudium Germanistik und Kunstwissenschaft Universität Kassel. Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Deutsche Sprache und Kolonialismus“ (Prof Dr. Ingo H. Warnke,
Autorinnen und Autoren
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Göttingen), Mitarbeit im DFG-Projekt „Explizite und elliptische Junktion des Neuhochdeutschen“ (Prof. Dr. Vilmos Ágel, Dr. Mathilde Hennig, Kassel).
Susanne Mühleisen Prof. Dr., Englische Philologie – Englische Sprachwissenschaft Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Soziolinguistik, Kreolistik, Interkulturelle Pragmatik, Englische Wortbildung, Übersetzungswissenschaft. Ausgewählte Publikationen: • (2002) Creole Discourse. Exploring Prestige Formation and Change across Caribbean English-lexicon Creoles. Amsterdam/Philadelphia. • (2005) (Hg.): Creole Languages in Creole Literatures. Journal of Pidgin and Creole Languages (Special Issue) 20 (1). • (erscheint 2008): From Humboldt to Bickerton: discourses on language and hybridity. In: Sünne Juterczenka und Gesa Mackenthun (Hg.) The Fuzzy Logic of Encounter. New Perspectives on Cultural Contact. Münster/New York. • (erscheint 2009): American adaptations. Language ideology and the language divide in cross-Atlantic translations. In: Michael Steppat (Hg.) Americanisms. Discourses of Exception, Exclusion, Exchange. Heidelberg.
Katrin Mareike Otremba Magistra Artium. 2002-2008 Studium der Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft in Kassel. Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Deutsche Sprache und Kolonialismus” (Prof Dr. Ingo H. Warnke, Göttingen). Derzeit Mitarbeit in Adalucía Acoge, Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, Sevilla.
Uta Schaffers Dr. habil., Deutsche Literatur und Literaturwissenschaft Universität Gent (Belgien). Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Germanistik und Reiseliteratur. Ausgewählte Publikationen: • (1997): Auf überlebtes Elend blick ich nieder: Anna Louisa Karsch in Selbst- und Fremdzeugnissen. Göttingen. • (2003): Fremde – Literatur – Verstehen? Fragestellungen einer interkulturellen Hermeneutik. In: F. Jannidis et al. (Hg.): Regeln der Bedeutung. Berlin/New York, 349-379. • (2006): Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan. Berlin/New York. • (2007): „Geschehnisse, die für alle Zeiten der Menschheit verborgen bleiben sollten“ – und wie davon erzählt wird. In: M. Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg, 21-45. • (2008) (Hg.): inside out. Textorientierte Erkundungen des Werks von Annemarie Schwarzenbach. Bielefeld.
Michael Schubert Dr. phil., M.A., Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neueste Geschichte/IMIS, Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Kolonialgeschichte, Europäische Migrationsgeschichte, Geschichte von rassistischen Diskursen und
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Autorinnen und Autoren Fremdbildern. Ausgewählte Publikationen: • (2003): Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion von den 1870er bis in die 1930er Jahre, Stuttgart. • (2004): Der dunkle Kontinent. Rassenbegriffe und Kolonialpolitik im Deutschen Kaiserreich. In: Becker, Frank (Hg.): Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart, 42–53. • (2005) zus. m. Jochen Oltmer: Migration und Integration in Europa seit der Frühen Neuzeit: Eine Bibliographie, Osnabrück. • (2007): Französische, belgische, britische und US-amerikanische Besatzungstruppen in West- und Südwestdeutschland 1918–1930, in: Bade, Klaus J. u.a. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München/Paderborn, 591–594.
Ingo H. Warnke Prof. Dr., Deutsche Philologie – Germanistische Linguistik Georg-August Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Text- und Diskurslinguistik, Sprachgeschichte des Deutschen, Funktionale Varietäten, Sprache und Raumkonzeptualisierung. Ausgewählte Publikationen: • (1999): Wege zur Kultursprache. Die Polyfunktionalisierung des Deutschen im juridischen Diskurs (1200– 1800). Berlin/New York. • (2002): Schweigen und Stille im öffentlichen Raum. In: Inge Pohl (Hg.): Semantische Aspekte öffentlicher Kommunikation. Frankfurt/M. u.a., 43–54. • (2004): Diskurslinguistik als Kulturwissenschaft. In: Walther Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar, 308–324. • (2007): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York. • (2008) mit Jürgen Spitzmüller: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin/New York.
Inken Gesine Waßmuth 2002 - 2008 Studium der Germanistik, Romanistik/Französisch, Sport und Sportwissenschaft sowie Erziehungswissenschaft an der Universität Kassel; Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Deutsche Sprache und Kolonialismus“, (Prof. Dr. Ingo H. Warnke, Göttingen); Mitarbeit im BMBF-Projekt „Kunst - Sprache Öffentlichkeit“ (Prof. Dr. Andreas Gardt, Kassel und Prof. Dr. Ingo H. Warnke, Göttingen).
Sach- und Personenregister
In das Register sind weder Verweise auf Sprache noch auf Kolonie und Kolonialismus aufgenommen, da der gesamte Band die damit verbundenen Konzepte zum Gegenstand hat. Mit einem Stern versehen sind Einträge, deren Ausdrucksform zeittypische Bindungen hat bzw. die aus heutiger Sicht als sprachliche Formen kolonisatorischen Sprechens beurteilt werden können.
Afrika 8-21, 43, 52-55, 65-70, 82-84, 98-104, 112, 114, 145, 151, 157-162, 170, 176, 181, 188f., 195, 203-230, 266, 273f., 276, 278, 281, 284, 296298, 302, 310, 315, 317, 337, 360 Afrika-Diskurs 31, 54, 145, 159 Afrikafantasien 293, 296f. afrikanischer Raum 54, 203-230 Afrikaterminologie 55, 296f., 308 Akteure 13, 15, 35, 37f., 42-45, 50, 53, 121f., 206, 259 Akwa, Mpundo 235, 239f., 242, 244, 249-253 Alldeutscher Verband 20 Allgemeiner Deutscher Verband 20 Alterität 46, 48, 145, 148, 149, 154, 267 Amateuraufnahmen 176, 353 Ammon, Otto 156 Andersheit 145, 147f., 154, 362 Angra Pequeña 16f., 219f., 225, 229 Argumentationsmuster 182-184, 194, 248-258, 267, 269, 300 Arndt, Ernst Moritz 161 Basic Variety 113 Baumann, Adalbert 97, 101, 105f., 108, 110 Bayer, Maximilian 174, 186 Beatus von Liébana 152
Bebel, August 183, 236 Becker, Karl Ferdinand 126 Bell, Rudolf Manga (King Bell) 239, 242, 244 Berliner Gewerbeausstellung 35 Bernstein, Eduard 184 Bickertons, Derek 113 Bismarck, Otto von 7, 14, 16, 19, 52, 83, 268 Bonaebele 239 Bourdieu, Pierre 39, 168 Brauchitsch, Walther von 249, 250, 258 Bülow, Bernhard von 22, 82 Büttner, Carl Gotthilf 47, 276 *Buschmänner 297f., 302, 308, 334 Camper, Pieter 295 Caprivi, Leo von 19, 102, 281f. China 21-24, 36, 205 Clausewitz, Carl von 23 Colonial Studies 30, 45, 122 Conrad, Joseph 158 Dahn, Felix 98 Dernburg, Berhard 7, 52, 286 Derrida, Jaques 41, 155 Deutsche Kolonialfilmgesellschaft 353 Deutsche Kolonialgesellschaft 19, 43, 100, 214, 270f., 320, 349, 353
370 Deutsche Kolonialzeitung 54f., 203f., 206, 214-218, 229, 265, 270-274, 353 Deutscher Kolonialverein 14, 19, 83, 204, 206, 214, 270f., 273 Deutsches Reich 11-13, 16-18, 22-25, 36, 46, 54, 204-207, 218, 235f., 238f., 242, 246f., 252f. Deutsch-Ostafrika 14, 16, 25, 47, 55, 68, 105, 173, 203-207, 216-219, 229, 272, 279, 285f., 354, 359, 361 Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft 14, 17, 360 Deutsch-Samoa 22 Deutsch-Südwestafrika 4f., 8, 16f., 24f., 47, 55, 68, 81, 84, 97, 101-103, 116, 145, 160, 173, 177, 180, 185-191, 194, 203-206, 216-220, 229, 272, 274, 279, 281f., 284f., 351, 354 DIMEAN 37f., 205, 322 Diskurs 7, 19f., 31, 37, 41f., 54f., 67f., 70, 86, 120, 145-162, 170-172, 177, 184-186, 193, 205, 265-267, 299, 318, 322f., 337f., 340, 358, 361f. diskurssemantische Grundfigur 321f., 328, 330, 339 Drascher, Wahrhold 69 Dryander, Johann 9 Duala 55, 237-260, 276 Erinnerungspolitik 300, 313 Erster Weltkrieg 15, 17, 19, 25-27, 46, 52, 69, 83, 86, 100, 116, 187, 266, 351, 353 Erstorff, Ludwig von 24 *Ethnie 311f. Ethnozentrismus 161 Exotismus 8, 50, 156-159, 161 Eyum Ebele (Charley Dido) 239 Fabri, Friedrich 13, 20, 206, 270-276 Flächenzuwachs 205 Förster, Bernhard 19 Förster-Nietzsche, Elisabeth 19 Foucault, Michel 13, 15, 31, 41f., 44, 54, 67, 168f., 173, 195, 265f., 318, 337f.
Sach− und Personenregister Fremde 6, 10f., 31, 46, 49f., 54, 84, 98, 145-163, 181, 192, 272, 332 Fremdstellung 54, 147, 151, 154, 160, 162f. Frenssen, Gustav 145, 151, 167, 180, 187-195, 352 Freud, Sigmund 153 Friedrich Wilhelm I. 10f. Gastarbeiterdeutsch 97, 101, 113f. Gebietsbezeichnung 54, 218f., 229 Geißler, Max 187 Genette, Gérard 189 Gerlach, Hellmut von 244 Germanistische Linguistik 30, 32, 122 Gesellschaft für Deutsche Kolonisation 14, 17, 19, 214, 218, 271 Gesellschaftsgespräch 13, 26, 47, 318 Globalisierung 7f., 27, 36 Gottsched, Johann Christoph 75 Grammatik 53, 109, 111, 119-141 Groeben, Otto Friedrich von der 10 Groß-Friedrichsburg 10 Gümpell, Jean 174f., 180 Handlungsmuster 42, 50f., 122, 180 Hansemann, Adolph von 18 Hauptmann, Gerhart 187 *Hautfarbe 146, 154f., 193, 293, 295, 303-309, 316, 332-334 Hegel, Georg W. F. 182 Herder, Johann Gottfried von 182, 194 Herero 4f., 17, 24, 47, 68, 70, 103f., 145, 160, 167-196, 277, 281-285, 332f., 351 *Hereroaufstand 24f., 54, 167-196, 282f., 285 Hewett, Edward 276 Heydt, Karl von der 17, 206 Heyse, Paul 187 Hier-Jetzt-Ich-System 4 Hohenlohe-Langenburg, Fürst Hermann zu 14, 206, 271f. Holm, Orla 104, 174, 181, 186
Sach- und Personenregister *Hottentotten 334 Hübbe-Schleiden, Wilhelm 13, 271, 273f. Humboldt, Wilhelm von 99 Identität 5-8, 11, 16, 21, 25-29, 32-44, 48-56, 66, 71, 87, 119f., 140, 148, 154, 161, 182, 191f., 206, 217, 229, 267, 315, 319, 342 Imagination 7, 20, 26f., 36, 51, 158f., 315 Imperialismus 8, 12, 14, 18, 36, 80, 152, 157f., 268, 350 Inszenierung des Fremden 151 Irle, Hedwig 183-185 Jahn, Ludwig 161 Kamaherero 277 Kamerun 16f., 25, 34, 55, 104, 205f., 235, 238, 240, 242-245, 252-254, 258f., 274, 276f., 279, 285, 330, 354 Kant, Immanuel 182 Karolinen 22 Kiautschou 21f. Kinematographie 56, 350-353, 356, 358 King Akwa 235, 239-244, 249-253 King Bell 239, 242, 244, 336 Kino 349-363 Kino der Attraktionen 358f. Koch, Henny 186 Kolb, Peter 208-211 kollektive Identität 161, 182 kollektives Gedächtnis 146, 149 Kolonialagitation 8, 13, 26, 45, 53 Kolonialbegeisterung 8, 11f., 23, 28, 43 Kolonialdeutsch 53, 97-116 Kolonialdiskurs 4, 13, 29, 40, 45f. 48, 56, 66, 90, 169-171, 181, 191, 206, 217, 236f., 265-287, 317, 340 Koloniale Reichsarbeitsgemeinschaft 27 Kolonialideologie 170, 269, 360, 362 Kolonialkinematographie 351 Kolonialliteratur 171f., 180f., 186, 189, 196
371 Kolonialpropaganda 55, 265-287, 354, 360 Kolonialsprache 39, 85, 100, 119-141 Kolonisatorische Identität 7f, 10, 11, 16, 21, 25, 26, 27, 29, 31, 33f., 37, 39f., 44, 48-50, 52, 119f., 140 Kolonisierung 18, 47, 54, 68, 207, 223, 362 Kommunikation 3, 6f., 13, 24, 26-29, 31-42, 81, 101-107, 111, 115, 120, 332, 337 Kongokonferenz 16 Kontaktvarietät 97, 101, 113-115 kontrafaktischer Kolonialismus 14, 28, 36, 324 Korpus 40-52, 54, 214, 216f., 223, 226, 237, 240, 242f., 256, 316, 319, 321f., 323f., 333f., 339, 341 Kraze, Friede H. 174 Kristeva, Julia 153 Krosigk, Bernhard Friedrich von 209 Küchendeutsch 97, 100-102, 114f. künstliche Sprache 101, 301 Kultur 37, 39, 47, 49, 66, 147, 150f., 153, 155, 157, 159, 161, 168, 182, 184f., 195, 210, 269, 273f., 278f., 282, 296, 298f., 319f., 339-341, 349 Kulturgeschichte 19, 31, 37, 50, 74, 79, 87, 236, 266 Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg 10 Lavigerie, Charles Martial Allemand 51 Leben und Treiben in Tanga 349-363 Lettow-Vorbeck, Paul von 15, 25, 27 Leutwein, Theodor 4, 282f. Lévinas, Emmanuel 149 Liliencron, Adda von 174f., 180 Linné, Carl von 44 List, Friedrich 12 Literaturwissenschaft 31, 65, 71, 149, 177 Lüderitz, Franz Adolf Eduard 17, 206, 219
372 Lüderitzbucht 16, 219 Luschan, Felix von 336 Machtkompensation 18 Mahaherero, Samuel 281 Malimba, King von 240, 250 Malthus, Thomas Robert 270 Maltzan, Freiherr Hermann von 271 Mann, Thomas 188 Mbape (Lock Priso) 239 Meinhof, Carl 119-141 Meister, Friedrich 174, 180, 186 Melanesien 18 Merensky, Alexander 185f., 275f. Merleau-Ponty, Maurice 155 mikronesische Marshall-Inseln 18 Mimikry 362 Miquel, Johannes von 206, 271 Mischlich, Adam 119-141 Mission 47f., 111, 184f., 276f., 279, 282, 299, 331 *Mohr 146, 275, 298, 300, 306, 309 Müller, Carl Friedrich 354f., 356 Mukoko Manganga (Häuptling der Malimba) 240, 242 *Mulatte 55, 298f., 305, 310 Nachtigal, Gustav 17, 206, 276 nationale Identität 28, 161, 206 Nationalismus 5, 83, 87, 151, 161 Nationalsozialismus 25, 27, 30, 70, 7577, 82, 84, 88-90 Navalismus 21 *Neger 155, 162, 265-287, 300, 306, 309, 316f., 326, 330, 333f., 336, 338f. Ngwale, Kinjikitile 285 Ostafrika 12, 14, 44, 98, 141, 205, 207, 218f., 226f., 274, 281, 327, 352 Ostasien 21f. People of Colour 298, 310 Performanz 32 Petermann, August 212
Sach− und Personenregister Peters, Carl 14f., 17, 20, 29, 35, 206, 218, 226, 271f. Petition 235-260, 280 Pidgin-Deutsch 100, 104, 107, 113, 116 Platz an der Sonne 22 Plessner, Helmuth 5, 155 Projektion 25, 51, 152, 157-159, 214, 230 Propaganda 26, 50f., 196, 269, 272f., 278, 280, 286, 320, 349-363 Puttkamer, Jesko von 235, 249, 258 Raddatz, Hugo 119-141 *Rasse 19, 28, 154, 156, 193, 207, 244, 284, 293-296, 299, 302-307, 311, 319, 336, 338 *Rassentheorie 12 Rassismus 20, 36, 81, 159, 162, 178, 208, 236, 266, 301, 303-305, 307f., 310-313 Ratzel, Friedrich 271 Raule, Benjamin 10 Raum 4, 18, 21, 43, 49, 54f., 65, 82, 86, 139, 151, 153, 155, 158, 173, 203230, 297, 332 Reichsgründung 12, 80f., 268 Reisebild 358 Reise-Ersatz 351 Reiseführer 360 Rohlfs, Gerhard 206, 208, 210, 212214, 222 Roscher, Wilhelm 12, 271 Said, Edward 30, 45, 267, 340 Sarrazin, Otto 82 Saussure, Ferdinand de 72 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 179 *Schlacht am Waterberg 24, 179, 181, 283f. Schlegel, Johann Bernhard 280 Schmitz, Hermann 155 Schulze, Emil 185, 240 *Schutzgebiet 18, 21, 173, 179, 207, 218, 220, 281
Sach- und Personenregister Schwabe, Kurd 174, 186 Schweinfurth, Georg 206-211, 275 Schwörer, Emil 97-116 sekundäre Existenz 28 sekundärer Kolonialismus 26-28, 39, 316 Seminar für orientalische Sprachen 28, 47 Simplifizierungsmerkmale 101 Sozialgeschichte 29, 76-81, 83, 86f., 271 sozio-kulturelles Wissen 54, 169 Spracharbeit 28 Sprachgeschichtsschreibung 29f., 49, 53, 65-91 Sprachideologie 97 Sprachplanung 53, 97 Sprachpolitik 31, 34, 53, 65, 98, 100, 114 Staden, Hans 9 Subaltern Studies 40 Südwestafrika 24f., 47, 68, 81, 84, 100103, 116, 173, 185f., 188, 191, 194, 204f., 281f., 284f. Symbolgestalt 42, 48, 122 Textsorten 38, 175, 178, 243, 245 Themen 6, 27, 32, 37f., 40, 42, 45-48, 50-52, 67, 79, 85, 122, 178, 181, 187, 248, 318, 337, 339-341 Tirpitz, Alfred von 21 Togo 16f., 25, 121, 205, 265, 272, 279281, 352, 354 Topoi 20, 38, 55, 247-258, 273, 276 Trotha, Lothar von 4f., 15, 24, 182, 283f. Unserdeutsch 97, 101, 113f. Unterhaltung 49, 51, 349-363 Velten, Carl 119-141 Vereinswesen 14, 45 Verkehrssprache 97-116 verspätete Nation 5 Virchow, Rudolf 162, 227
373 Vossler, Karl 66 Weber, Max 20f., Weisgerber, Leo 72 *Weißsein 296, 304, 306, 309, 312 Weltdeutsch 100, 105f., 108, 110 Weltpolitik 6, 20, 23, 28, 31 Westermann, Diedrich 119-141 *Wettlauf um Afrika 16f., 19, 54, 98, 276 Wilhelm II. 15, 23 Winckelmann, Johann Joachim 277 Wissmann, Hermann von 17, 207 Witbooi, Hendrik 24, 282, 284 Woermann, Adolph 17, 206, 246, 275f. Wörterbücher 293-313 Xenophobie 156f., 161f.