Anita sieht ihren mexikanischen Brieffreund Manuel in einem so romantischen Licht, daß sie ihren Freund Gordon unheimlic...
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Anita sieht ihren mexikanischen Brieffreund Manuel in einem so romantischen Licht, daß sie ihren Freund Gordon unheimlich verletzt...
1984 by CORA Verlag
Band 23 (231) 1984
Scanned & corrected by SPACY Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt -1-
Dawn Kinsbury
Der Brieffreund aus Mexiko Anita scheint endlich am Ziel all ihrer Träume zu sein, als ihr neuer mexikanischer Brieffreund Manuel Garcia sie mit einer sagenhaft glühenden Liebeserklärung überrascht. Nichts außer Manuel und die aufregende Zukunft in dem fernen unbekannten Land Mexiko, die Anita sich jetzt in den prächtigsten Farben ausmalt, ist plötzlich mehr wichtig. Weder für ihre allerbeste Freundin Ruth noch für ihren Kumpel Gordon hat Anita ein echtes Interesse mehr – ganz abgesehen davon, daß sie sich ganz gern hin und wieder die Zeit bis zum nächsten Brief Manuels von ihnen vertreiben läßt. Wie sehr sie damit aber deren Gefühle verletzt und sich selbst schadet, erkenn Anita erst, als Manuel selbst ihr Luftschloß zerstört...
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1. KAPITEL Anita Seagraves kam an diesem Morgen als erste in das Klassenzimmer, in dem der Spanischunterricht stattfand, und knallte ihre Bücher mit Schwung auf den Tisch. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie sich stirnrunzelnd in dem nüchternen Raum um. Wie öde und langweilig war es doch hier. In all den Jahren waren ihr die kahlen grauen Wände noch nie so unangenehm aufgefallen. „Mit ein paar hübschen Postern oder bunten Kalendern könnte alles gleich viel freundlicher aussehen", meinte sie zu sich selbst. Wenn sie aus dem Fenster sah, dann hatte sie nur den verhangenen Himmel Portlands über sich. Wie immer im Herbst war die Landschaft grau in grau und von einem monotonen Nieselregen verschleiert. Das Wetter war also auch nicht dazu angetan, sie aufzuheitern. Letzte Nacht hatte sie von Mexiko geträumt. Obwohl sie noch nie dort gewesen war, wußte sie genau, wie es da aussehen mußte. Sie stellte sich ein weites, sonniges Land mit dunkelhäutigen Menschen vor. Die Luft war erfüllt vom Duft der Blumen, und über allem spannte sich ein türkis-blauer Himmel. Wie groß war ihre Enttäuschung gewesen, als sie beim Aufwachen wieder nichts als Regen gesehen hatte. Am liebsten hätte sie sich noch in ihr Bett gekuschelt, aber der Wecker hatte unbarmherzig geschrillt. Es half nichts, sie mußte aufstehen. Nun stand sie hier, und während sie sich überlegte, wie man das Klassenzimmer ein bißchen aufmöbeln könnte, marschierte Gordy Thompson herein. Er konnte einfach nicht anders, aus seinem Erscheinen wurde jedesmal ein großer Auftritt.
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„Oh, wen sehe ich denn da? Cha-cha-cha!" begrüßte er Anita. Er kam zu ihr und zog sie an ihrem langen geflochtenen Pferdeschwanz. „Olé! Wie eine kleine Señorita siehst du heute aus." „Laß das!" fauchte sie ihn an und machte ungeduldig einen Schritt zur Seite, wobei sie ihren grünen Rock glattstrich. „Brauchst ja nicht hinzusehen, wenn's dir nicht gefällt." "Oh, wie schön ist Mexiko-o", trällerte Gordy unbeeindruckt. Anitas Vorliebe für Mexiko war allgemein bekannt, und Gordy zog sie häufig damit auf. „Blah - blah!" machte Anita nur und drehte sich um. Im selben Moment rauschte ihre Freundin Ruth herein, und auch für sie hatte Gordy gleich den passenden Spruch parat. „Hoch lebe England!" empfing er sie und verbeugte sich theatralisch vor ihr, wobei er seinen Kaugummi Blasen schlagen ließ. Ruth Barrow sah wie immer superschick aus. Die hautengen Designer-Jeans brachten ihre langen, schlanken Beine besonders gut zur Geltung. „Ach, sei still, Gordy! Du kannst einem wirklich auf den Wecker gehen", fauchte sie ihn an und ließ sich auf den Stuhl neben Anita fallen. „Och, seu stüll!" äffte Gordy ihren auffälligen britischen Akzent nach. Ruth warf ihm einen giftigen Blick zu, aber er drehte sich nur lachend um und suchte sich ein neues Opfer. „So ein blöder Esel", schimpfe Ruth. Dann fragte sie Anita: „Wie sieht's mit deinem Gedicht aus? Hast du es fertig?" "Ich habe mir soviel Mühe gegeben, aber es ist trotzdem nicht besonders." In ihrer Freizeit schrieb Anita Gedichte, manchmal in Reimen, manchmal reihte sie nur Gedanken aneinander. Doch sie stellte immer sehr hohe Ansprüche an sich selbst und war selten zufrieden. Morgens fand sie manches völlig unmöglich, was ihr am Abend vorher noch so gut gefallen hatte. Dann zerriß sie das Gedicht, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie mußte streng mit sich sein, glaubte sie, denn sie träumte davon, eines Tages eine berühmte Dichterin zu werden.
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Ruth blätterte in ihrem Ringbuch und förderte ein zusammengefaltetes Blatt zutage. „Ich hab's diesmal auch nur so grad geschafft." Sie lehnte sich zurück und las ihren Kommentar noch einmal sorgfältig durch. Ruth war zwar in London geboren, lebte aber schon eine Weile in Oregon, wo ihr Vater an der Universität von Portland unterrichtete. Sie und Anita lieferten regelmäßig Beiträge für die wöchentlich erscheinende Schulzeitung. Während Ruth ihre politischen Beiträge sehr selbstbewußt einreichte, zögerte die zurückhaltende Anita jedesmal, ihr Gedicht wirklich abzugeben. Norbert Tandy, der Herausgeber der Zeitung, redete immer etwas geschwollen, wenn sie kam: „Tausend Dank, Anita! Was sollten wir bloß ohne deine Gedichte machen? Sie sind lieblich wie Milch und Honig in dieser rauhen Zeit." Anita war sich nie sicher, ob er sie nicht auf den Arm nahm. Doch was machte das schon? Er druckte ihre Gedichte, und das war alles, was zählte. Verstohlen blickte Anita zu Ruth hinüber, die sich gerade auf dem Stuhl rekelte und sich mit den Händen durch die dunkelrote Mähne fuhr. Wie aufregend Ruth doch aussieht, dachte sie. Man würde ihr die Gedichte viel eher zutrauen als mir. Wenn sie selbst doch etwas interessanter wirken würde! Mit ihren braunen Haaren kam sie sich neben Ruth regelrecht langweilig vor. Der Regen prasselte erneut heftig gegen die Fensterscheiben und weckte Anita mit einem Ruck auf. „Das ist Oregon im Oktober", seufzte sie. "Ich wollte, es wäre Mai, und ich wäre in Mexiko." Ruth war noch ganz in ihren Artikel vertieft und hatte Anita nur halb verstanden. Nicht übermäßig interessiert fragte sie: „Hat dir dieser Typ aus Mexiko eigentlich geschrieben?" „Manuel? Nein." Ein Briefwechsel mit ihm war nie zustandegekommen. Im vergangenen Februar hatte einer ihrer Lehrer angeboten, ihnen Brieffreunde zu vermitteln, und alle waren von der Idee begeistert gewesen. Anita hatte sich einen sechzehnjährigen Jungen aus Mexiko als Briefpartner -5-
gewünscht. Und tatsächlich waren ihr wenige Wochen später Manuels Name und Adresse mitgeteilt worden. Einen ganzen Nachmittag hatte sie an ihrem ersten Brief an Manuel herumgefeilt, bis sie endlich zufrieden gewesen war. Ihr Text war freundlich und leicht zu verstehen. Gespannt und voller Erwartung hatte sie den Brief abgeschickt. Aber eine Antwort hatte sie nicht bekommen. Der Sommer war vergangen, Anita hatte ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert und den Führerschein gemacht. Noch immer kein Brief. Sie hatte sich sogar mexikanische Folklorekleider genäht, doch auch das war kein Trost dafür, daß er nicht schrieb. „Wahrscheinlich will er einfach nichts von mir wissen", antwortete Anita bekümmert. „Vielleicht hat er deinen Brief nur nie bekommen", gab Ruth zu bedenken, ohne von ihrem Blatt aufzusehen. „Könnte natürlich sein." Arme Ruth! Wahrscheinlich kann sie mein Gejammer nicht mehr hören. Mindestens einmal die Woche liege ich ihr damit in den Ohren. Doch es gab etwas, was sie auch Ruth noch nicht anvertraut hatte: Vor drei Wochen hatte sie sich ein Herz gefaßt und Manuel einen zweiten Brief geschrieben. Was machte es schon, wenn sie noch einen Versuch unternahm? „Für den Fall, daß du meinen ersten Brief nicht erhalten hast", hatte sie geschrieben und ihm etwas über sich selbst, ihr Elternhaus und die Schule erzählt. Schließlich hatte sie sogar den Mut aufgebracht, ein Bild von sich beizulegen. Wenn er doch dieses Mal schreiben würde! Allein der Gedanke daran machte sie irgendwie glücklich. Kein Tag verging, ohne daß sie sich mit Manuel beschäftigte, und sie hatte sich bereits genau ausgemalt, wie er aussah: Tolle Figur, blauschwarzes Haar zu olivbrauner Haut, ein strahlendes Lächeln, bei dem seine weißen Zähne blitzen. Ob ich wohl sein Typ bin? überlegte sie dann. Mit meinem hellen Teint sehe ich
In den USA darf man schon mit sechzehn den Führerschein machen. -6-
bestimmt ganz anders aus als alle Mädchen, die er kennt. Dumme Gans! rief sie sich aber immer wieder zur Ordnung. Erst mal abwarten, ob er überhaupt antwortet. „Warum hast du dir ausgerechnet einen Mexikaner ausgesucht?" wurde sie oft gefragt. "Bei dem vielen Regen hier in Portland macht es eben Spaß, von einem sonnigen Land zu träumen", erklärte Anita dann leichthin. Weshalb sie sich aber so magisch von Mexiko angezogen fühlte, hätte sie selbst nicht sagen können. Sie liebte die Trauer und Schönheit der Gitarrenmusik, den feurigen Rhythmus der Tänze und scharf gewürztes mexikanisches Essen. An dem hübschen Silberschmuck, den sie oft in Bildbänden bewunderte, konnte sie sich gar nicht sattsehen. Vielleicht würde Manuel ihr eines Tages diese neue, aufregende Welt zeigen. Doch das waren ihre geheimsten Gedanken, und die behielt sie natürlich für sich. „Hey, wach auf, Anita." Gordy stieß sie mit dem Ellenbogen an. „Weißt du nicht, daß man keinen weißen BH unter durchsichtigen Blusen anzieht?" Anita fiel prompt darauf herein. „Die Bluse ist gar nicht... Ach, laß mich mit deinen blöden Sprüchen in Ruhe!" rief sie ärgerlich, und Gordy verzog sich grinsend. Verwundert über sich selbst, schüttelte Anita den Kopf. „Ich frage mich wirklich, warum ich manchmal mit diesem albernen Kerl ausgehe." „Bist du etwa richtig mit ihm verabredet?" wollte Ruth wissen. Die Lehrerin, Mrs. Mason, hatte inzwischen den Raum betreten, und die beiden mußten sich flüsternd unterhalten. „Mit Gordy doch nicht! Er kam nur neulich vorbei und fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm ein wenig rumzufahren. Wir sind dann im Auto den Sandy Boulevard auf- und abkutschiert." Komisch, Gordy benahm sich total anders, wenn sie allein waren. Man konnte dann ganz vernünftig mit ihm reden. Nur vor anderen Leuten spielte er den Clown. Aber was soll's, dachte Anita. Aus uns wird sowieso kein Liebespaar. Ich kenne ihn schon viel zu lange, und er hat schließlich noch nicht einmal versucht, mich zu küssen. -7-
Genausowenig hatte sie ihm je die Gedichte gezeigt, die ihr am meisten bedeuteten. Sie sehnte sich zwar sehr danach, ihre Verse mit einem Freund zu teilen, Gordy kam dafür aber einfach nicht in Frage. Und sie konnte sich nur in einen Jungen verlieben, der ihre Gedichte verstand. Vorsichtig öffnete sie ihr Ringbuch und warf einen verstohlenen Blick auf ihren neuesten Entwurf, mit dem sie noch nicht recht weitergekommen war, der aber natürlich wieder von ihrem Lieblingsthema Mexiko handelte: In Deinem sonnenheißen Land, Wollen wir beide Hand in Hand Über die grünen Hügel wandern, Hinter denen die rote Sonne versinkt. „Señorita Seagraves?" Verwirrt sprang Anita auf: „Hier." Mrs. Mason seufzte. „Guten Morgen, Anita! Ausgeschlafen? Ich rufe nicht die Namen auf, sondern ich hatte dich gebeten, die Hausaufgaben an die Tafel zu schreiben." Peinlich, peinlich! Verlegen nahm Anita ihr Heft und eilte nach vorn. Gordy klopfte den Rhythmus ihrer Schritte auf dem Schreibtisch nach und pfiff leise einen bekannten Schlager dazu. „Affe", zischte Anita wütend. Die Klasse kicherte vergnügt, und sogar Mrs. Mason lächelte amüsiert. Also blieb Anita nichts anderes übrig, als mitzulachen. Das war wieder typisch Gordy. Einfälle hatte er, das mußte sie ihm lassen! Bei Schulschluß am frühen Nachmittag traf sich Anita wie immer mit ihrer Mutter auf dem Parkplatz. Jean Seagraves war Lehrerin an derselben Schule. „Tag, Mami", begrüßte Anita sie und knallte die Autotür hinter sich zu. „Hallo, Liebes", erwiderte ihre Mutter. Sie stammte aus Mississippi, und obwohl sie schon seit vierzehn -8-
Jahren in Portland lebte, sprach sie immer noch in dem leichten Singsangton der Südstaatler. „Ist das wieder ein scheußliches Wetter heute." „Ach, so schlimm ist es doch gar nicht." Anita war zwar morgens selbst noch über den ewigen Regen muffig gewesen, aber da man ohnehin nichts daran ändern konnte, mußte man eben das Beste daraus machen. „Heute finde ich den Nieselregen sogar richtig beruhigend." „Du spinnst wohl!" rief ihr Bruder Ralph, der hinten im Auto saß. Er war gerade zwölf, und sobald er den Mund öffnete, blitzten Zahnspangen auf. Entgeistert sah er seine Schwester an. „Wenn es nicht regnen würde, könnten wir nach draußen auf den Sportplatz gehen. Das ist das einzig Wahre für Jungs." „Gib nicht so an", frotzelte seine Schwester. „Dieses Herumspringen in der Halle macht überhaupt keinen Spaß. Und dann noch die blöden Volkstänze..." „Na, wenigstens ist es schön warm und trocken in der Halle", seufzte seine Mutter. „Manchmal verstehe ich gar nicht, wie Daddy es bei diesem Wetter draußen aushält." „Jedenfalls ist ihm diese Waschküche lieber als die Hitze bei euch zu Hause in Biloxi", versicherte Anita schnell. Ihr Vater arbeitete bei der Hafenaufsicht und hatte meistens im Freien zu tun. „Ich hab Hunger. Was gibt's denn zum Abendessen?" „O je, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht." Jean Seagraves seufzte erneut. Sie unterrichtete in der dritten Klasse und ging ganz in ihrem Beruf auf. „Die Kinder haben mich heute ziemlich genervt." „Dann koche ich eben", bot Anita an. „Bloß nicht'" protestierte Ralph. „Mama, wenn sie kocht, eß ich 'n Sandwich." „Sei nicht so ungerecht, Ralph. Anita macht das sehr gut, außer wenn sie das höllisch scharfe mexikanische Zeug kocht. Du weißt, Liebes, dein Vater mag keine stark gewürzten Gerichte." „Mexikanische Speisen müssen gar nicht unbedingt scharf sein..." -9-
„Mach doch ,Würstchen im Schlafrock', Mama", unterbrach Ralph seine Schwester grob. „Das ist eine prima Idee. Und es geht schnell", überlegte Jean. „Vielleicht gibt's noch eine Tomatensuppe aus der Dose dazu, dann haben wir schon ein richtiges Menü." Anita drehte währenddessen am Autoradio von Sender zu Sender. „Mami, was meist du, würden mir rote Haare stehen?" fragte sie plötzlich. Ihre Mutter blickte sie erstaunt an. „Nita, deine Hautfarbe ist rosig, dazu würde rotes Haar gar nicht passen." „Ich meine ja nicht richtig färben. Vielleicht nur mal eine Spülung mit Henna." „Laß die Finger davon, Liebes. Ich habe schon mal gehört, daß die Haare dann bei Neonlicht grün aussehen." "Nita mit grünen Haaren! Ha-ha-ha!" Ralph schlug sich vor Vergnügen auf die Oberschenkel. "Du wärst der Hit der ganzen Schule..." Anita streckte ihm die Zunge heraus, doch dann mußte sie selbst lachen. Sie konnte ihm einfach nicht böse sein. Er war witzig und ständig zu Späßen aufgelegt. Seitdem sie Auto fuhr, hatte er sie dazu auserkoren, ihn zu allen möglichen Sportveranstaltungen zu chauffieren, und dabei waren sie sich näher gekommen als je zuvor. Denn nachdem sie vor einigen Jahren auf die High School übergewechselt war, hatte sie ihren kleinen Bruder kaum noch beachtet. Außer altklugen Redensarten, die ihn oft nur bockig machten, hatte sie ihm nichts zu sagen gewußt. Doch nun stellte sie auf einmal fest, daß sie beide eine Menge verband. Sie mochten dieselben Schlager und konnten sich sogar richtig gut unterhalten. Vielleicht hatte sie sich vorher zu sehr als ältere Schwester aufgespielt. Jedenfalls wollte sie nun einiges wiedergutmachen. Jean Seagraves bog inzwischen in die Auffahrt zu ihrem Haus ein und hielt vor dem Vordach an. Die drei rannten durch den strömenden Regen so schnell wie möglich zur Haustür. Jean beklagte sich gelegentlich über das alte Haus. Ihr war es zu wenig komfortabel, und es hatte nicht einmal einen überdachten Zugang zur Garage. Aber Anita liebte ihr - 10 -
Zuhause. Ihr eigenes kleines Reich lag direkt unter dem spitzen Dach und hatte sogar einen hübschen Alkoven, der das Zimmer unheimlich gemütlich machte. Dorthin verkroch sie sich jeden Nachmittag, um hingerissen der sentimentalen mexikanischen Gitarrenmusik zu lauschen. „Ich könnte einen Kaffee vertragen", hörte sie ihrer Mutter sagen. „Wie steht's mit dir, Nita?" "Setz dich nur, ich mach uns einen. Die ,Waltons' fangen gleich an.“ Ihre Mutter ließ keine Folge dieser Fernsehserie aus. Vielleicht ist das ihre Traumwelt, dachte Anita, so wie Mexiko die meine ist. Ob wohl jeder so ein Phantasieland braucht? Eine Zuflucht vor der rauhen Wirklichkeit? Ob auch ihr Bruder und ihr Vater an sowas dachten? Sie stellte ihrer Mutter den Kaffee hin. „Ich gehe jetzt in mein Zimmer, okay?" „Ja, gut." Jean war darauf bedacht, keine Sekunde auf dem Bildschirm zu verpassen. „Ach, Nita, könntest du noch nach der Post sehen?" Anita schlüpfte aus der Haustür, nahm die Briefe aus dem Kasten und zog sich fröstelnd ins Haus zurück. Aus reiner Gewohnheit blätterte sie den Stapel durch - wie üblich Rechnungen, Reklame, Kontoauszüge, Briefe für ihre Mutter... Plötzlich schien ihr Herzschlag auszusetzen. Ruckartig blieb sie stehen und starrte auf die ausländischen Marken und das ,Luftpost'-Zeichen. Der Brief war an sie adressiert und trug den Absender: Manuel Garcia Jalisco 904 Norte Col. Nuevo Repueblo Monterrey, N.L. Mexiko
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2. KAPITEL Reiß dich zusammen, Anita, ermahnte sie sich. Laß bloß Mami nichts merken. Und die anzüglichen Bemerkungen ihres Bruders konnte sie jetzt schon gar nicht ertragen. Irgendwie schaffte sie es, ihrer Mutter die Post in die Hand zu drücken und in ihr Zimmer zu verschwinden. Mit zitternden Fingern schob sie den Riegel vor, lehnte sich gegen die Tür und atmete erst einmal tief durch. Ungläubig las sie nochmals ihren Namen auf dem Umschlag. Nein, sie träumte nicht. Manuel hatte wirklich geschrieben. Endlich holte sie eine Nagelfeile und öffnete den Brief. Schade, ein Bild lag nicht bei. Es war nur ein einzelnes, ordentlich beschriebenes Blatt. Aufgeregt überflog sie die wenigen Zeilen. Mit einem Seufzer der Erleichterung warf sich Anita auf ihr Bett und las den Brief noch einmal von vorn. Vor lauter Nervosität hatte sie beim ersten Mal gar nicht alles verstanden. Liebe Anita, ich hofe, Dir und Deine Familie geht gut, wenn Du diese Brief erhältst. Er hatte bestimmt sehr viel Zeit gebraucht, sich diesen Brief auszudenken und dann zu übersetzen. Sicher wollte er besonders höflich sein. Keinem amerikanischen Jungen würde es einfallen, sich gleich zu Anfang nach der Familie zu erkundigen. Ach, Manuel, das finde Ich ganz süß. Ich glaube fast, ich könnte mich in dich verlieben. Was wohl Ruth zu diesem Brief sagen wird? Anita konnte es kaum erwarten, mit ihr zu reden. Ich bin sehr froh, weil ich Deine Brief bekomme. Ich bin - 12 -
16 Jahre, 1,75m groß, mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Groß, dunkelhaarig, dunkler Teint. So hatte sie ihn sich ja auch vorgestellt. Wenn er doch bloß ein Foto mitgeschickt hätte! Dann wüßte sie jetzt, ob er in Wirklichkeit genauso toll aussah wie in ihrer Phantasie. Ich bin elf Jahre auf der Schule - zweites Jahr auf einer Privatschule - und kann wenig Englisch. Die Schule macht Spaß, und ich habe diese Fächer: Englisch, Physik, Chemie, Mathematik, Verhaltensforschung, Naturlehre, Geschichte, Literatur und Zeichnen. Brrh! Wie konnte man nur gleichzeitig so viele Unterrichtsfächer haben? Unter einigen konnte Anita sich nicht einmal etwas vorstellen, und dumm war sie doch schließlich auch nicht. Wahrscheinlich war es ihm sehr dürftig vorgekommen, als sie ihm stolz ihre mickrigen fünf Fächer aufgezählt hatte: Literatur, Geschichte, Spanisch, Maschinenschreiben und Turnen. Alles in allem ziemlich lächerlich im Vergleich zu seinen Fächern. Was machst Du im Sport? Ich spiele Basketball, Volleyball, Schlagball, Tennis und schwimme, aber besonders liebe ich Fußball. Ich bin im Klub. Sportlich war er also auch noch! Na, zum Glück hatte sie wenigstens Turnen angegeben. Daß es Pflichtfach war, hatte sie ihm natürlich nicht erzählt. Sollte er ruhig glauben, daß sie eine Sportskanone war. Ich habe mich gefreut über Dein Bild. Ich kann keines schicken, weil ich kein frisches habe. Es kommt bald. Du bist sehr hübsch. Entschuldigung für die Fehler, ich mache - 13 -
viele. Ich schreibe mit dem Wörterbuch nebenan, bitte lach nicht. Du bist sehr klug, ich bin ganz sicher. Jedesmal, wenn sie diese Worte las, glühte ihr Gesicht vor Freude. Das hatte ihr noch keiner gesagt. Hier meckerten sie statt dessen meistens an ihr herum. Ach, Manuel, wie lieb von dir! Und jetzt kam die Stelle, die sie am tollsten fand. In ihrem Brief hatte sie ihm erzählt, daß sie Klavier spiele. Das stimmte schon, wenn es auch reichlich übertrieben war, denn sie hatte nur zwei Jahre Unterricht gehabt. Ich kann nicht Klavier spielen, aber ich lasse die Herzen klingen. Das macht auch viel Spaß und kein Geräusch. „Und du versuchst schon, mit mir zu flirten", kicherte Anita vor sich hin. „Ich glaube, du hast es faustdick hinter den Ohren, mein Lieber! Doch es gefällt mir, sehr sogar." Schreib bald zurück. Schluß für heute. Dein neuer Freund Manuel Garcia Anita hatte den Brief inzwischen so oft gelesen, daß sie ihn auswendig kannte. Jetzt brannte sie darauf, ihn jemandem zu zeigen. Ruth war beim Zahnarzt, also blieb nur Mami. Anita war sich nicht sicher, was ihre Mutter sagen würde, aber sie konnte die Neuigkeit nicht mehr länger für sich behalten. Absichtlich laut klapperte sie die Treppenstufen herunter und ging in die Küche, wo ihre Mutter lustlos vor dem geöffneten Kühlschrank stand.
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„Sieh mal, Mami, was ich hier habe. Post von meinem neuen Brieffreund aus Mexiko." Erfreut drehte sich Jean um. „Das ist aber eine Überraschung, Liebes. Was schreibt er denn?" „Wenn du willst, kannst du den Brief selbst lesen." Anita tat so, als suche sie im Schrank nach einer Dose Würstchen, aber heimlich beobachtete sie ihre Mutter aus den Augenwinkeln. Sie machte sich doch hoffentlich nicht lustig über Manuels Ausdrucksweise! Doch Jean lächelte sie nur freundlich an. „Du, das klingt richtig nett. Trotzdem ist mir noch immer nicht klar, warum es ausgerechnet ein mexikanischer Junge sein muß." „Ach, ich dachte, ich könnte damit mein Spanisch verbessern. Außer- dem interessiere ich mich eben für das Land." Es hörte sich nicht gerade überzeugend an, und Jean zwinkerte ihr zu. „Dazu brauchst du natürlich unbedingt einen Jungen in deinem Alter als Brieffreund." „Mensch, Mami, kannst du denn nicht verstehen, daß es langweilig ist, sich mit einem Mädchen zu schreiben?" verteidigte sich Anita. Ärgerlich stellte sie fest, daß sie rot geworden war. „Was für ein Foto hast du ihm denn geschickt?" fragte ihre Mutter ablenkend. „Das, was Daddy letzten Sommer im Garten gemacht hat." „Oh, das ist besonders hübsch, finde ich." Anita hatte den Eindruck, daß ihre Mutter noch etwas sagen wollte. Und richtig! Zögernd begann Jean: „Liebes, ich fürchte, daß du dir zu romantische Vorstellungen von diesem Jungen und seinem Land machst. Er ist wahrscheinlich sehr streng erzogen worden und hat vermutlich noch ziemlich altmodische Ansichten über Mädchen. Von allzu vielen Freiheiten für junge Damen hält man dort nichts." „Ich weiß, ich weiß." Anita fühlte sich plötzlich ernüchtert. Ja, ihre Mutter hatte es immer schon verstanden, einen ganz schnell wieder auf die Erde zurückzuholen. Anita wehrte sich dagegen, daß ihre glückliche Stimmung verging, und - 15 -
versuchte, noch etwas von ihren Träumen zu retten. "Aber ein bißchen an ihn denken darf ich doch, oder?" Die Sachlichkeit und Skepsis ihrer Mutter ärgerte sie, und sie fuhr ein wenig spitz fort: "Nicht wahr, Mami, du glaubst nicht so recht daran, daß Manuel mir noch öfter schreibt?" "Ach, Kind, was soll das Ganze für einen Sinn haben? Du wirst ihn doch nie kennen lernen. Dazu ist Mexiko viel zu weit weg." "Wir könnten ja unsere nächsten Ferien dort verbringen", trumpfte Anita auf. Diese Idee war ihr gerade erst gekommen, und sie war hell entzückt davon. "Also weißt du..." Jean sah sie zweifelnd an. Ob Anita diesen Vorschlag wohl ernst gemeint hatte? "Stell dir vor, Mexiko! Und auf dem Hinweg könnten wir in Biloxi Station machen und den Rest der Familie heimsuchen." Vielleicht würde der zarte Hinweis auf die liebe Verwandtschaft ziehen. Immerhin hatte ihre Mutter sie lange nicht gesehen. Aber im Grunde glaubte Anita selbst nicht daran, daß diese Reise jemals Wirklichkeit werden würde. "Sprich mit Daddy darüber", schlug ihre Mutter ausweichend vor. Das war ziemlich zwecklos, seine Antwort kannte Anita schon im voraus. Es wäre ja auch zu schön gewesen! Zum Trost beschloß sie, sich weiterhin auszumalen. daß sie eine gemeinsame Reise nach Mexiko planten. Nach Mexiko und zu Manuel. "Kommt Zeit, kommt Rat", murmelte ihre Mutter prophetisch vor sich hin. Anitas Herz machte einen kleinen Freudensprung. Das hörte sich ja auf einmal gar nicht mehr so aussichtslos an. War Mexiko etwa doch noch drin? Vor sich hinträllernd, half Anita ihrer Mutter beim Tischdecken. Nach dem Essen würde sie eine ruhige Minute abwarten, Ruth anrufen und ihr die Neuigkeit des Tages zu erzählen, Es war Wirklichkeit geworden, sie hatte den Brieffreund ihrer Träume gefunden.
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Die Tür ging auf, und Anitas Vater kam händereibend herein. "Brrr.., ist das ungemütlich draußen. N' Abend, Liebling", begrüßte er Jean. Anita brachte ihm schnell eine Tasse Kaffee zum Aufwärmen, "Hallo, Daddy." "Danke, mein Schatz. Wie geht's denn? Was macht die Schule?" "Ach, nichts Besonderes. Alles in Ordnung." Sie hütete sich, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ihr Vater hatte manchmal seltsam altmodische Ansichten und konnte ungehalten reagieren, wenn sie für seinen Geschmack zu selbständig handelte. Vielleicht war er gar nicht damit einverstanden, daß sie einem Jungen schrieb, den sie überhaupt nicht kannte. Sie mußte also den richtigen Moment abpassen und so harmlos wie möglich von ihrem Briefwechsel erzählen. "Wo ist der Junior?" wollte ihr Vater wissen. "Vorm Fernseher, wie üblich", erklärte Anita. "William, du bist ja total durchgefroren. Willst du nicht raufgehen und dir trockene Sachen anziehen?" Jean rannte planlos in der Küche herum, rührte mal in der Suppe, rollte Würstchen in Blätterteig ein und machte einen etwas genervten Eindruck. Sie war wirklich nicht die geborene Hausfrau. "Die Kinder waren ganz wild auf ,Würstchen im Schlafrock'. Dazu gibt's Salat und vorher Suppe..." William klopfte ihr liebevoll auf die Schulter. "Klingt doch gar nicht schlecht. Also bis gleich, ich gehe schnell duschen." "In zehn Minuten können wir essen", rief Jean ihm nach. Bei Tisch ging es lebhaft zu, wie immer, wenn Ralph da war. Er redete pausenlos über die Schule, seine Klassenkameraden und die Lehrer, so daß Anitas Schweigen nicht weiter auffiel. Sie dachte nämlich krampfhaft darüber nach, wie sie die Sprache am unauffälligsten auf Manuel bringen konnte. "Übrigens, Daddy, ich habe heute Post bekommen", begann sie schließlich mutig. Endlich! Es war raus und hatte eigentlich völlig normal geklungen,
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Ihr Vater schmunzelte. "So, von wem denn? Hast du einen heimlichen Verehrer?" Anita wurde rot. O Daddy, dachte sie, wenn du doch nur recht hättest! Aber sie winkte lässig ab. "Ach, nein, nur von meinem Brieffreund in Mexiko." Ihr Vater sagte erst einmal gar nichts. Scheinbar völlig ruhig aß er weiter. Endlich, als Anita schon das Gefühl hatte, auf einem Nadelkissen zu sitzen, schaute er sie fragend an: "Was für ein Brieffreund? Von dem weiß ich ja gar nichts." "Er ist so alt wie ich und wohnt in Monterrey. Du glaubst ja nicht, wieviel die Schüler dort lernen müssen. Er geht auf eine Privatschule und hat sage und schreibe neun Fächer. Stell dir das mal vor." "Wie heißt er denn?" Kam Ralph gleich zur Sache. "Manuel Garcia." Unruhig rutschte Anita auf dem Stuhl herum. Warum sagte Daddy denn nichts? "Wenn ich dich richtig verstehe, dann kennst du diesen Jungen gar nicht?" fragte ihr Vater schließlich. Bumm, er hatte den Nagel mitten auf den Kopf getroffen! "Daddy, die ganze Klasse hat Brieffreunde, die sie nicht kennt. Einer der Lehrer hat unsere Namen an einen Briefklub geschickt, und von dort haben wir die Adressen bekommen." Er brauchte ja nicht unbedingt zu wissen, daß Anita sich nur für einen gleichaltrigen Mexikaner interessiert hatte. "Hmm", machte ihr Vater bloß. "Jetzt träumt Anita natürlich davon, ihn in Mexiko zu besuchen", erklärte ihre Mutter. Toll, Mami, das war großartig von dir. Anita schaute dankbar zu ihrer Mutter hin. "Nita, das ist doch wohl nicht dein Ernst?" "Warum denn nicht, Daddy? Ich meine ja nur eine Ferienreise. Wäre das nicht toll?" "Es ist dort noch heißer als in Biloxi. Ich glaube kaum, daß dir das gefallen würde." Doch nicht in den Bergen, wo Manuel wohnt, dachte Anita, aber sie hielt den Mund. Hauptsache, Daddy hatte ihre Idee - 18 -
nicht glattweg abgelehnt. So konnte sie am Ball bleiben und ihren Vater weiter bearbeiten. Sie hatte ihm schließlich schon manches abgeluchst, und nicht umsonst nannte er sie "meine kleine Schmeichelkatze". William stand auf. "Also gut, Nita, ich habe nichts dagegen, daß du diesem Manuel Soundso schreibst, wenn du dadurch vielleicht dein Spanisch verbessern kannst. Aber vergiß nicht, daß es auch hier bei uns nette Jungen gibt", sagte er mit Nachdruck. "Diesen Gordon Thompson zum Beispiel." Ausgerechnet der Idiot, ein anderer Typ ist ihm wohl nicht eingefallen, dachte Anita. Sie erwiderte jedoch artig: "Ja, natürlich, Daddy." "Darf ich aufstehen?" fragte Ralph wohlerzogen. Sein Vater nickte. "Aber mach die Hausaufgaben, bevor du fernsiehst." In Windeseile half Anita ihrer Mutter beim Abräumen und Spülen. Dann nahm sie Manuels Brief und verschwand im Flur, um ihre Freundin anzurufen. Hoffentlich war Ruth zu Hause. Ihre Eltern jagten Anita noch immer etwas Angst ein, obwohl sie sie schon so lange kannte. Sie waren so schrecklich kühl und unpersönlich. Bitte, bitte, Ruth, geh du ran, flehte Anita. Zu ihrer großen Erleichterung war es wirklich Ruth. "Störe ich dich beim Abendessen?" erkundigte sich Anita schnell. "An Essen ist gar nicht zu denken", stöhnte Ruth. "Der Zahnarzt hat mir zwei Backenzähne plombiert, unter Betäubung. Ich sehe aus, als hätte ich Mumps." Ruths sonst so klare Aussprache hatte schwer gelitten. Es hörte sich an, als hätte sie eine heiße Kartoffel im Mund. "Was gibt's denn?" "Ach, ich wollte dir nur sagen, daß ich heute Post von Manuel bekommen habe." Anita hielt sich mächtig zurück. "Manuel? Welcher Manuel? Doch nicht der Typ aus Mexiko? Echt? Das ist ja Spitze! Leg schon los, mach's nicht so spannend." "Er schreibt irgendwie unheimlich süß. Mein Bild gefällt ihm auch." "Ich dachte, du hättest gar kein Bild mitgeschickt." - 19 -
"Ja, im ersten Brief nicht. Aber ich habe ihm doch vor ein paar Wochen nochmal geschrieben. Ich hab mich nur nicht getraut, es dir zu erzählen", gestand Anita kleinlaut. "Na dann, herzlichen Glückwunsch! Wie sieht er denn aus?" "Das weiß ich ja eben nicht. Im nächsten Brief will er auch ein Foto mitschicken. Ich bin schon so schrecklich gespannt. Auf jeden Fall ist er 1,75 m groß, schwarzhaarig und sechzehn Jahre alt. Stell dir vor, genu wie ich mir den Typ gewünscht habe." "Du bist wirklich zu beneiden", seufzte Ruth. "Was schreibt er denn sonst noch?" "Er geht auf eine Privatschule und muß unheimlich viel büffeln. Du glaubst nicht, wie viele Fächer er belegt hat. Zum Teil ganz komisches Zeug. Du mußt den Brief unbedingt lesen. Manuel hat einen irren Stil. Und die Fehler müßtest du sehen!" "Du, ich muß jetzt Schluß machen, meine Eltern rufen nach mir. Bring den Brief doch morgen mit in die Schule, ja? Ich bin schon wahnsinnig neugierig." Als ob ich den vergessen würde! dachte Anita und lief in ihr Zimmer hoch. Jetzt wurde es aber Zeit für die Hausaufgaben. Den Brief legte sie in Reichweite, setzte sich an den Schreibtisch und begann mit den Spanischübungen. Dabei fiel ihr ein, daß sie unbedingt neues Briefpapier und einen superdünnen Filzschreiber brauchte. Sie würde den Antwortbrief genauso sorgfältig schreiben wie Manuel. Doch erst morgen, denn heute war sie noch viel zu aufgeregt dazu.
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3. KAPITEL In Deinem sonnenheißen Land, Wollen wir beide Hande in Hand Über die grünen Hügel wandern, Hinter denen die rote Sonne versinkt. Von ferne erklingen traurig die Gitarren. . . Niedergeschlagen warf Anita den Bleistift auf den Tisch. Dem Gedicht fehlte der persönliche Stil, die Originalität, das merkte sie genau; aber es wollte ihr einfach nichts Besseres einfallen. Ähnlich war es ihr mit dem Brief an Manuel ergangen. Drei Tage hatte sie überlegt, geändert, gestrichen, bis sie endlich mit dem Entwurf zufrieden war. Jetzt mußte sie ihn nur noch ins reine schreiben. Mit ihrem Gedicht war sie in der Zeit keinen Schritt weitergekommen. Himmel, in vier Tagen war es fällig, fein säuberlich getippt. Und für die Geschichtsarbeit am Montag mußte sie auch noch pauken. Doch das hatte noch etwas Zeit, zuerst kam das Gedicht. Anita legte ihre Lieblingsplatte mit mexikanischer Gitarrenmusik auf und hoffte, dadurch in die richtige Stimmung zu kommen. Grüne Hügel, Sonnenuntergänge, lauer Nachtwind - vielleicht fehlte noch ein Hauch Traurigkeit... "Anita!" Die Stimme ihres Vaters riß sie unsanft aus ihren Träumen. "Gordy ist hier." "Komme schon." Nanu, was will der denn? Er hätte wenigstens vorher anrufen können, statt hier so einfach reinzuplatzen, dachte Anita ungnädig. Bevor sie runterging, warf sie noch rasch einen Blick in den Spiegel: Jeans und Flanellhemd. Na ja, für Gordy war's gut genug. Für ihn brauchte sie nicht mal Lipgloss. - 21 -
Anita traute ihren Augen nicht, als sie ins Wohnzimmer kam. Gordy unterhielt sich höflich mit ihren Eltern und stand sogar auf, um Anita zu begrüßen. "Hallo, Anita." "N'Abend, Gordy". Du Angeber! Hier machst du auf wohlerzogen, und in der Schule blödelst du nur rum. Was Mami und Daddy wohl sagen würden, wenn sie dich dort sähen? "Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, noch irgendwo eine Cola zu trinken?" fragte er formvollendet. "Cola bei dem Wetter?" Anita kam ihm keinen Zentimeter entgegen. "Du hast recht. Wie wär's mit heißer Schokolade?" bot er gutmütig an. Wollte er sich über sie lustig machen? Sie sah mißtrauisch zu ihm auf, doch Gordy lächelte sie nur harmlos an. "Aber Liebes, so kalt ist es nun auch wieder nicht", meinten ihre Eltern und zwinkerten sich in schönstem Einvernehmen zu. "Zieh eine Jacke an, und dann raus mit euch. Und kommt nicht zu spät zurück." "Bestimmt nicht, Mr. Seagraves", versicherte Gordy schnell. Als sie draußen waren, machte sich Anita darüber lustig, wie artig sich Gordy bei ihren Eltern benommen hatte. "In der Schule bist du das genaue Gegenteil von einem Musterknaben." "Abends laufe ich eben zur Hochform auf", erklärte Gordy. "Wo soll's denn hingehen?" "Weiß nicht. Laß mal überlegen." Anita kuschelte sich in den Autositz und fand es auf einmal gar nicht mehr so schlecht, daß Gordy sie abgeholt hatte. Zumindest war es in seiner Gesellschaft nicht langweilig. Immer noch besser, mit ihm spazierenzufahren, als am Freitagabend mit Mami und Daddy gelangweilt vorm Fernseher zu hocken. "Was hältst du vom Lloyd-Center?" Gordy war sofort begeistert. "Prima. Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis sie dort schließen."
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Das Lloyd-Center war ein riesiges, überdachtes Einkaufszentrum, in dem es sogar eine Eisbahn gab. "Wollen wir Schlittschuh laufen?" schlug Gordy vor. "Keine zehn Pferde bringen mich aufs Eis", wehrte Anita entsetzt ab. "Du Feigling!" grinste er. "Okay, ich bin also feige. Na und?" "Immerhin bist du mutig genug, deine Gedichte in der Schulzeitung drucken zu lassen." Anita warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Was sollte das denn heißen? "Friß mich nicht gleich auf, Anita. Ich finde sie nicht schlecht, eigentlich gefallen mir die meisten sogar ganz gut. Ich hab nur gemeint, daß man Mut braucht, um anderen seine Gedichte zu zeigen. Das ist doch so ähnlich, als würdest du jemanden dein Tagebuch lesen lassen." Er sah ungewöhnlich ernst aus, und Anita wunderte sich über diesen neuen Gordy. "Na ja, alle Gedichte würde ich Norbert Tandy auch nicht geben", gestand sie zögernd. "Einige sind doch zu persönlich. Aber bei den anderen macht es mir nichts aus, wenn die ganze Schule sie liest." Gordy hatte sich noch nie so eingehend nach ihrer Schreiberei erkundigt, sie nicht einmal damit aufgezogen. Wieso interessierte er sich jetzt dafür? Plötzlich kam ihr eine Idee. "Gordy, schreibst du etwa selbst Gedichte?" "Bist du verrückt?" rief er entsetzt. "Ich kriege kaum einen zusammenhängenden Satz auf die Reihe, geschweige denn einen Reim." Das war wieder ganz der alte, oberflächliche Gordy, den sie nicht leiden konnte. "Gedichte müssen sich gar nicht immer reimen", erklärte sie ziemlich altklug. "Womöglich sollen sie auch noch einen bestimmten Rhythmus haben. ,An dem Strand von Acapulco..." deklamierte Gordy. "So einen Blödsinn schreibe ich gar nicht", rief Anita aufgebracht. Sie hatte es doch gewußt! Mit ihm konnte sie nicht ernsthaft darüber reden. Immer mußte er seine Witze machen. "Du bist schon ein komischer Typ." - 23 -
Gordy verzog sein Gesicht zu einer wilden Grimasse und rollte mit den Augen. Er sah so umwerfend komisch aus, daß Anita losprustete. "Hör auf, Gordy! Stell dir vor, wenn dein Gesicht so stehenbliebe." Sie waren inzwischen in das Lloyd-Center hineingegangen und sahen vom zweiten Stock aus zu, wie die Eisläufer herumflitzten und mehr oder weniger gekonnte Pirouetten drehten. "Als Kind hab ich mal Pfennige von hier oben aufs Eis fallen lassen. Das gab ein ganz schönes Theater, und die Aufsicht hat mich achtkantig rausgeworfen", erzählte Gordy lachend. "Das paßt zu dir." "Besten Dank." Er verbeugte sich spöttisch. "Und was machen wir nun? Essen?" "Ich würde schrecklich gern erst etwas rumlaufen." Ein Schaufensterbummel gehörte zu Anitas Lieblingsbeschäftigungen. Wenn sie besonders gut gelaunt war, ging sie sogar gelegentlich in eine Boutique und probierte teure Klamotten an, die sie sich nie und nimmer leisten konnte. Aber es war so ein schönes Gefühl, sie einmal für fünf Minuten getragen zu haben. Wie meistens am Freitagabend waren die Gänge und Rolltreppen gedrängt voll. Die in hübschen Herbstfarben dekorierten Schaufenster lockten bei diesem Wetter eine Menge Leute an. Obwohl es erst Ende Oktober war, gab es sogar hier und da bereits Hinweise auf Weihnachten. "Hey, kann ich mal schnell hier reingucken?" Anita war vor einem Geschäft stehengeblieben, das Spezialitäten aus Oregon anbot. "Das Zeug kennst du doch schon alles", protestierte Gordy, aber Anita zog ihn hinter sich her in den Laden. Ganz plötzlich war ihr die Idee gekommen, nach einem Weihnachtsgeschenk für Manuel zu suchen. Ob er sich wohl für einen gestrickten - 24 -
Wollpullover begeistern könnte? Naja, vielleicht nicht ganz das richtige für Mexiko. Oder würde ihm dieses herzförmige Kästchen aus Myrtenholz gefallen? Zögernd fragte sie Gordy: "Würdest du dich über so etwas freuen?" "Um Gottes willen, nein. Wieso?" "Und wenn du es von jemanden bekämst, den du magst?" "Auch dann nicht, es ist zu scheußlich. Warum willst du das überhaupt wissen?" "Ach, ich dachte an ein Weihnachtsgeschenk für jemanden." "Komm jetzt." Gordy wurde ungeduldig. "Ich falle um, wenn ich nicht bald was zu essen kriege." Mit Cola und Keksen machten sie es sich auf einer Bank im oberen Stockwerk bequem und beobachteten die Leute. Anita ließ ihre Blicke über die Läden in ihrer Nähe schweifen und stand plötzlich auf. Sie hatte ein Schreibwarengeschäft entdeckt, und dabei war ihr wieder eingefallen, daß sie sich neues Briefpapier kaufen wollte. Wie gut, daß sie ihr Taschengeld schon heute bekommen hatte. "Bist du fertig?" fragte sie und zerknüllte die Serviette. "Sei doch nicht so hektisch", maulte Gordy. "Nun mach schon. Ich möchte noch schnell zu Hallmark's." "Willst du etwa jetzt schon Weihnachtskarten kaufen?" "Nein, nein, ich brauche nur neues Briefpapier." Anita drängte sich durch die engen Regalgänge, während Gordy mißmutig hinterhertrottete. Sie wußte genau, was sie wollte: Schlichtes feines Papier in einer Pastellfarbe, nichts Aufdringliches... Gordy hatte sie die ganze Zeit argwöhnisch fixiert. Plötzlich griff er nach einer Packung und hielt sie Anita unter die Nase. "Da, das ist doch bestimmt nach seinem Geschmack:" Auf dem Briefbogen stand ringsherum "Ich liebe dich". Wütend riß Anita ihm die Box aus der Hand. "Was weißt du denn; für wen ich das Papier will", fuhr sie ihn an. "Hältst du mich für doof? Für deinen Mexikaner natürlich. Seit drei Tagen redest du ja ununterbrochen von ihm."
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"So? Na und?" Sie drehte die Schultern und blickte Gordy verstohlen an. Er sah zornig und ein bißchen unglücklich aus. War er etwa eifersüchtig? "Okay, himmele ihn doch an, diesen Superboy. Nur finde ich es reichlich geschmacklos von dir, ausgerechnet dann für ihn Briefpapier auszusuchen, wenn du mit mir verabredet bist." Das war zuviel für Anita. "Ich mit dir verabredet? Da lachen ja die Hühner! Eine Verabredung macht man vorher aus. Du kommst vorbei, wie es dir gerade paßt und holst mich ab wie... wie eine zurückgelegte Ware", rief sie wütend. "Und die Kekse habe ich auch noch selbst bezahlt." Gordy sah sie entgeistert an. "Jetzt hör aber auf. Ich habe dafür schließlich die Colas gekauft. Außerdem finde ich diese Aufrechnerei kindisch. Verabredet oder nicht, was macht das überhaupt für einen Unterschied." Anita schossen Tränen in die Augen. Gleichzeitig bemerkte sie beschämt, wie die Umstehenden sie beide amüsiert beobachteten. Typischer Streit eines Liebespärchens, schienen sie zu denken. Das brachte Anita erst recht auf die Palme. "Wir gehen besser raus, bevor wir uns hier völlig lächerlich machen." Gordy schob sie am Ellenbogen durch das Gedränge auf eine Bank zu. "Laß mich los", zischte Anita ihn an. Unbeeindruckt hielt Gordy sie fest, bis sie neben ihm saß. "Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, Nita. Du kennst diesen Typen doch gar nicht." "Das geht dich nichts an." "Glaubst du, er ist in dich verknallt, nur weil du ihm einen einzigen lausigen Brief geschrieben hast? Ich hatte dich für etwas intelligenter gehalten! Oder muß man ein feuriger Südländer sein, um bei dir zu landen?" Gordy hörte sich ausnahmsweise recht vernünftig an. Wenn sie ehrlich war, verstand sie ihr Verhalten selbst nicht recht. Aber das ausgerechnet vor Gordy zugeben? Niemals! "Er hat mir einen sehr netten Brief geschrieben, und ich werde ihm antworten, ob dir das paßt oder nicht. Sonst noch was?"
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Der Ärger war Gordy deutlich anzumerken, aber zu Anitas Verblüffung lenkte er plötzlich ein. "Du hast recht, das ist dein Bier." Er stand auf. "Komm, es wird Zeit, daß du dein Briefpapier kaufst. Sie schließen gleich." Anita sah ihn verwundert an. Was war los? Es war doch sonst nicht seine Art, so kampflos nachzugeben. "Heute nicht mehr, mir ist die Lust vergangen", antwortete sie patzig. "Es tut mir leid, wirklich, Anita. Jetzt komm schon, sei nicht so zickig. Sonst mußt du morgen bei diesem Wetter nochmal los." Das Argument zog. Sie fuhr nicht gern auf den rutschigen Straßen, und da sie die Antwort endlich am Wochenende abschicken wollte, brauchte sie das Papier. Während Gordy etwas abseits geduldig wartete - ohne Kommentar diesmal - entschied sie sich für ein lichtgrünes Büttenpapier. Hin und wieder beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Mit seiner Lästerzunge wurde sie im allgemeinen ganz gut fertig, aber so, wie er sich heute benahm, kam er ihr doch sonderbar vor. Wieso stellte er plötzlich Besitzansprüche an sie? Sie waren Schulkameraden, nicht mehr! Wenn er meinte, er müsse eifersüchtig reagieren, weil sie einen Brieffreund hatte, dann war das sein Problem, nicht ihr's! Anita kaufte noch einen dunkelgrünen Filzschreiber, klemmte sich die Schätze unter den Arm und verließ zufrieden den Laden. Einen Moment lang war sie bestürzt gewesen, wie sehr ihr Taschengeld zusammengeschmolzen war. Für das Luxus-Papier hatte sie sogar einen Teil des Geldes verbraucht, das sie für das Mittagessen in der Schule bekam. "Für meine Verhältnisse war das viel zu teuer", gestand sie Gordy draußen. "Das kann ich nur beim Mittagessen wieder einsparen." "Schadet dir nichts", meinte Gordy ungerührt. "Du bist sowieso zu dick." Charmant, charmant! So langsam scheint er wieder normal zu werden, dachte Anita. Nur der Ton stimmte noch nicht ganz, und sein verschlossenes Gesicht paßte nicht zu seinen frechen Scherzen. Sonst lachte Gordy selbst über seine Witze, und es blitzte in seinen Augen vor Übermut. Aber heute starrte er - 27 -
düster vor sich hin. Er rannte so schnell zum Auto, daß Anita Mühe hatte mitzukommen. Während der ganzen Rückfahrt sagte keiner ein Wort. Gordy hatte gleich das Radio eingeschaltet. Er wollte offensichtlich nicht mit Anita reden. Der Weg von der Innenstadt bis zu ihrem Wohnviertel war ihr noch nie so lang vorgekommen, und sie war froh, als sie es endlich geschafft hatten. "Du kannst gleich weiterfahren", sagte sie kühl und sprang aus dem Wagen. Doch Gordy war schneller als sie und stand bereits neben ihr. "Klar bringe ich dich noch zur Tür. Meinst du, ich will schuld sein, wenn jemand hinter den Büschen lauert und dich raubt?" witzelte er. Anita fiel nichts Passendes ein, was sie erwidern konnte. Ihr Gehirn schien völlig eingetrocknet. Irgend etwas mußte sie doch sagen. "Also - danke für die Cola", brachte sie schließlich heraus. "Danke für die Kekse." "Dann bis Montag." "Wiedersehn, Nita." Gerade, als sie sich umdrehen wollte, um die Haustür zu öffnen, nahm Gordy sie in die Arme und gab ihr einen festen Kuß auf den Mund. Dann verschwand er blitzartig. Anita sah ihm völlig verwirrt nach. Sie schlüpfte ins Haus und blieb erst einmal im dunklen Flur stehen, um sich von dieser Überraschung zu erholen. Doch ihre Eltern hatten sie bereits gehört. "Bist du's, Anita?" "Ja." Sie nahm sich zusammen und ging hinüber ins Arbeitszimmer, wo ihre Eltern vor dem Fernseher saßen. "Nanu, ganz allein?" fragte ihr Vater überrascht. "Hmm." "Warum hast du Gordy denn nicht mehr hereingebeten?" erkundigte sich ihre Mutter, und es klang fast vorwurfsvoll.
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"Er wollte gleich nach Hause, und ich bin auch hundemüde. Morgen erzähle ich euch, wo wir waren. Gute Nacht, schlaft gut." Froh, ihnen so schnell entwischt zu sein, ging Anita in ihr Zimmer. Sie betrachtete ihr heißes Gesicht im Spiegel und fuhr sich nochmal rasch mit der Zungenspitze über die Lippen. Sie sah irgendwie verändert aus. Ihre Augen glänzten, und ihr Herz klopfte doppelt so schnell wie normalerweise. "Gordy Thompson, was fällt dir eigentlich ein?" schimpfte Anita laut. Es war nun wirklich nicht ihr erster Kuß gewesen, aber sie konnte ihn noch immer spüren. So hatte sie noch keiner geküßt, und widerwillig mußte sie sich eingestehen, daß es ein angenehm prickelndes Gefühl war. Wenn es doch nur Manuel gewesen wäre, sie hätte den Kuß bestimmt erwidert. Warum ausgerechnet Gordy, der sie mit seinen albernen Späßen manchmal zur Weißglut brachte? Außerdem war er so romantisch wie ein Stockfisch. O nein, sie würde sich nicht noch einmal so von ihm überrumpeln lassen. Sollte er doch küssen, wen er wollte, aber bei ihr brauchte er es nicht wieder zu versuchen.
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4. KAPITEL "Du hast ihm wirklich geschrieben, daß du jeden Tag Sport treibst? Das ist doch wohl leicht übertrieben, Anita," Es war Montagmittag, Ruth und Anita waren wie immer gemeinsam zum Lunch in den Speisesaal der Schule gegangen. "Warum gibst du so an?" fuhr Ruth hartnäckig fort. Sie zählte ständig die Kalorien und schob deshalb ihr Tablett standhaft an den warmen Speisen vorbei zu den Salaten, "Ich übertreibe gar nicht", gab Anita beleidigt zurück, Warum behandelte Ruth sie stets so von oben herab? "Schließlich haben wir ja jeden Tag Turnen." "So wie du es aber geschrieben hast, muß er denken, daß du einsame Spitze bist," "Dann soll er es doch ruhig denken," Gut, sie hatte wohl ein bißchen übertrieben, aber war das nicht verständlich? Von den vielen Schulfächern, die Manuel ihr aufgezählt hatte, und seinen zahlreichen Sportarten war sie so überwältigt, daß sie das Gefühl hatte, ihre eigenen Fähigkeiten etwas aufpolieren zu müssen. Das Mittagessen duftete heute so verlockend, daß Anita das Wasser im Mund zusammenlief. Etwas Warmes war jedoch diese Woche wegen des teuren Briefpapiers nicht drin. Eine Packung Schokoerdnüsse und für die Gesundheit eine fettarme Milch, das mußte reichen. "Ich habe ihm das nur geschrieben", gestand Anita, als sie endlich am Tisch saßen, "damit es so aussieht, als hätten wir sehr viele gemeinsame Interessen. Der Briefwechsel wird damit für uns beide leichter." Ruth machte eine ungeduldige Handbewegung, "Erzähl ihm doch nichts von deinem täglichen Kleinkram. Das interessiert keinen Jungen. Flirte mit ihm! Darauf spricht er an, wollen wir wetten?" - 30 -
"Versuch du das mal im Brief." "Er kann's offenbar. Nimm dir doch ein Beispiel an ihm." Ruth spielte wohl auf das "Herzen klingen lassen" an. Merkwürdig, jedesmal, wenn Anita diese Zeilen las - und das tat sie mehrmals täglich - überkam sie wieder dieses seltsam süße Gefühl, dieses Prickeln auf der Haut, als habe Manuel sie gestreichelt. Er war so anders als die amerikanischen Jungen, die sie kannte. Für ihn war sie kein Kumpel, sondern ein ganz besonderes Mädchen. "Sei doch nicht so langweilig", nörgelte Ruth weiter. "Du bist ganz anders als die Mädchen in seinem Land. Du hast viel mehr Freiheiten, das muß ihn einfach faszinieren. Warum setzt du nicht alles daran, daß er sich in dich verliebt?" "Und wie soll ich das anfangen, bitte?" "Versuch, ein bißchen geheimnisvoll zu sein. Schreib ihm, daß du schon zweimal von ihm geträumt hast. Aber sag ihm bloß nicht, was. Er soll sich mit dir beschäftigen, immerzu. Paß auf, nach kurzer Zeit zappelt er wie ein Fisch an der Leine." Kluge Ruth! Wenn du alles so genau weißt, warum hat dann bei dir noch keiner angebissen? "Dafür ist es jetzt sowieso zu spät. Mein Vater hat den Brief heute morgen für mich aufgegeben." "Viel zu früh. In ein bis zwei Wochen hätte Manuel wahrscheinlich gedacht, du schreibst ihm überhaupt nicht wieder. Was meinst du, wie er sich dann auf deinen Brief gestürzt hätte." "Wie kannst du nur so berechnend sein!" protestierte Anita. "Es dauert ohnehin eine Woche, bis er die Antwort kriegt. Wenn ich daran denke, wie sehnsüchtig ich auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet habe..." "Du bist und bleibst ein einfältiges Schaf', erklärte Ruth grob. "Hast du ihm in Spanisch geschrieben?" Anita kicherte. "Ja. Ich habe sogar absichtlich einige Fehler hineingemogelt, mehr als er gemacht hat. Dann fühlt er sich sicherer." Ruth nickte endlich mal beifällig. "Okay, das war nicht schlecht. Aber beim nächsten mal mußt du ihn länger zappeln lassen, Nita." - 31 -
"Guten Tag, ihr zwei Süßen", hörten sie Gordy Thompson schon von weitem. "Darf ich euch mit meiner Gegenwart beehren?" "Ach Gott, Gordy! Uns bleibt auch nichts erspart", seufzte Ruth vor sich hin. "Die Sonne geht auf, wenn ich euch nur sehe. Ihr laßt mich dieses Jammertal vergessen." Die Hand theatralisch aufs Herz gelegt, machte er eine komische, ritterliche Verbeugung und angelte sich gleichzeitig einen Stuhl heran. Dies ist der echte Gordy Thompson. Dieser alberne Kerl! Beschämt dachte Anita daran, wie sehr sein Kuß sie neulich verwirrt hatte. Gut, daß sie Ruth nichts davon erzählt hatte. Die hätte wahrscheinlich nur überlegen gelächelt und den Kopf geschüttelt. Auch vor der besten Freundin sollte man gelegentlich ein paar kleine Geheimnisse haben. Gordy hatte sich inzwischen recht breit neben Anita niedergelassen und starrte sie ziemlich herausfordernd an. "Entzückend, ganz entzückend, diese Haarpracht!" näselte er und wickelte sich eine Locke um den Finger. Unwillig warf Anita den Kopf zur Seite. "Laß das!" fauchte sie. Wenn er wüßte, wie er ihr manchmal auf die Nerven ging. Aber so leicht ließ sich Gordy nicht entmutigen. "Ach, wie wäre es so fein, jetzt bei dir in Mexiko zu sein..." sang er unbeeindruckt mit großem Schmelz. "Nun reicht's aber", warnte Ruth. Anita wurde rot vor Ärger. Sie würde Gordy in der Schule ertragen müssen, aber privat würde nichts mehr laufen. Er sollte es nur noch mal wagen, bei ihr vorbeizukommen! Die Woche schien kein Ende nehmen zu wollen. Jeden Nachmittag stürzte Anita als erstes zum Briefkasten, um festzustellen, daß Manuel noch immer nicht geschrieben hatte. Er kann ja eben erst meinen Brief bekommen haben, machte sie sich dann rasch klar, wenn die Enttäuschung an ihr nagte. Ihre Gedanken kreisten fast ständig um Manuel, und es kam ihr so vor, als würde sie schon eine Ewigkeit auf Antwort - 32 -
warten. Während sie den Brief geschrieben hatte, war sie so zuversichtlich gewesen, aber mit jedem Tag wurde sie unsicherer. Wahrscheinlich fand er ihre Antwort kindisch, und vielleicht schrieb er überhaupt nicht mehr zurück. Am Samstag war sie nur noch ein Nervenbündel. Nachdem Anita am Morgen lustlos verschiedenes angefangen, aber nichts zu Ende gebracht hatte, rollte sie sich nachmittags schließlich in dem großen Ohrensessel zusammen und träumte mit offenen Augen von Manuel. Dabei fiel ihr ein mexikanisches Plätzchenrezept ein, das sie neulich in der Bücherei abgeschrieben hatte. Backen, das war die Idee! Erleichtert sprang sie auf und suchte voller Eifer die Zutaten zusammen. Wenn die Kekse in der Familie auf keine Gegenliebe stießen, würde sie sie am Montag im Spanischunterricht verteilen. Nachdem sie zehn Minuten lang Orangeade in winzige Stückchen gehackt hatte, ließ ihre Begeisterung bereits wieder nach. Das halbe Rezept reichte eigentlich auch. Schließlich wollte sie es ja nur mal ausprobieren. Sie massierte sich gerade ihren schmerzenden Arm, als es an der hinteren Küchentür, die zur Veranda führte, klopfte. Anita schob den Vorhang zur Seite und starrte in eine weiße Fratze mit aufgerissenem Mund und rollenden Augen. Sie wollte schon aufschreien, doch plötzlich wußte sie Bescheid. "Komm rein, Gordy", rief sie betont gleichgültig. Er hatte sie tatsächlich wieder überrumpelt. Und das, obwohl sie sich geschworen hatte, ihn nicht noch mal ins Haus zu lassen. Aber sie konnte sich schließlich nicht verleugnen lassen, wenn er sie munter in der Küche herumrennen sah. Gordy zog sich die Maske vom Kopf. "Wie hast du bloß erraten, daß ich es bin, Küchenfee?" Anita blickte ihn scheinbar überrascht an. "Ach, du hattest eine Maske auf? Das hatte ich gar nicht bemerkt." Er grinste sie an. "Dein Punkt, Nita. Das war echt gut." Er zeigte auf die Orangeadeschnipsel. "Was wird das übrigens, wenn es fertig ist?" "Kekse."
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"Kauft, ihr Leute, kauft! Tante Anitas original OregonPlätzchen." "Ha-ha-ha!" Widerwillig mußte Anita nun doch lachen. Manchmal hatte Gordy wirklich lustige Einfälle. Herausfordernd schaute sie ihn von unten herauf an. "Pech gehabt. Original mexikanische Kekse." "Das hätte ich mir auch denken können. Hat er dir das Rezept geschickt? Es überrascht mich nicht, wenn dieser Wunderknabe auch noch backen kann." Die Bemerkung hatte ganz ruhig und gar nicht bissig geklungen. Es gab also keinen Grund für Anita, ihm eine freche Antwort zu geben. Sie schüttelte den Kopf. "Ich hab's aus der Bücherei. Orangensandgebäck." Gordy hatte sich ganz selbstverständlich eine Cola aus dem Kühlschrank geholt und schlürfte sie genüßlich aus. "Ach, nimm dir doch eine Cola", bemerkte Anita spitz. "Danke, danke, hab mich schon bedient. Ich dachte mir, daß du mir eine anbieten würdest." Er zog sich einen Stuhl heran und schwang sich rittlings darauf. Interessiert beobachtete er, wie Anita geschickt Mehl abwog, Puderzucker siebte und die ganze Masse heftig knetete. Hier war sie in ihrem Element, und sie genoß Gordys bewundernde Blicke. Mein wahrer Platz ist vielleicht doch in der Küche, dachte sie voll Selbstironie. "Die holde Weiblichkeit scheint sich in der Küche am wohlsten zu fühlen", bemerkte er lässig. Er konnte offenbar ihre Gedanken erraten. "Wenn du dich da nur nicht irrst!" Anita setzte kleine Teighäufchen aufs Backblech und schob es in den Ofen. "Du müßtest mal sehen, wie sanft du jetzt aussiehst. So habe ich dich noch nie erlebt." Wollte er sie etwa auf den Arm nehmen? Anita blickte ihn herausfordernd an. "Glaub ja nicht, daß ich nur darauf warte, ein ,Heimchen am Herd' zu werden. Ich will Dichterin werden, und das ist harte Arbeit, wenn du das noch nicht wissen solltest." "Klar. Über dem letzten Gedicht hast du bestimmt wochenlang gebrütet", meinte er ironisch.
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Einen Moment lang verschlug es Anita die Sprache. Hätte er gewitzelt, es hätte ihr nichts ausgemacht, weil sie trotzdem den Eindruck hatte, daß ihre Gedichte ihm gefielen. Aber dies hier war offensichtlich ernst gemeint. "Du... du Miesmacher!" schleuderte sie ihm entgegen. "Das Gedicht ist Spitze." Sie nahm einen Klumpen Teig und warf ihn Gordy an den Kopf. Gelassen wischte er sich das klebrige Zeug wieder ab. "Das ist es eben nicht. Du hast lediglich Wörter aneinandergereiht. Das Ganze ist viel zu langatmig. Und dann dieser Schmus über die Gitarrenmusik. Du hockst wohl nur noch vor dem Plattenspieler und träumst von Guadalajara, oder wo immer dieser Typ sitzt." "Monterrey." Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Jetzt hatte sie sich auch noch verraten. Dieses Ekel Gordy! Er hatte mitten ins Schwarze getroffen mit seiner Beschreibung, denn genauso war es gewesen. Wenn sie ehrlich war, mußte sie sich eingestehen, daß sie selbst kein gutes Gefühl gehabt hatte, als sie das Gedicht am Dienstag ablieferte. Aber das würde sie natürlich niemals vor Gordy zugeben, auf keinen Fall. Eine schlagfertige Antwort fiel ihr aber leider im Moment auch nicht ein. Mit erhobener Nase drehte sie sich deshalb um und begann aufzuräumen. Wenig später kamen ihre Eltern und Ralph in die Küche, vom Duft der Plätzchen angelockt. Der Kurzzeitwecker schrillte, und Anita zog das Blech aus dem Ofen. Ihre Hände zitterten dabei vor unterdrückter Wut. Während sie die Kekse sorgfältig ablöste und auf ein Gitter legte, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Wie ungerecht das Leben doch manchmal war. Manuel, der Junge ihrer Träume, war über tausend Meilen weit weg. Sie sehnte sich danach, mit ihm zusammenzusein. Statt dessen hatte sie einen dämlichen Schulkameraden auf dem Hals, aus dem sie sich nicht das Geringste machte. Dieser blöde Kerl hockte in ihrer Küche, trank ihre Cola und besaß noch die Frechheit, ihre Verse auseinanderzunehmen. Wutentbrannt drehte sie zu ihm herum. - 35 -
"Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Was gibt dir das Recht, meine Gedichte zu kritisieren, du... du nüchterner Stockfisch?" Gordy hatte sich gerade ein Plätzchen in den Mund geschoben. "Bißchen trocken für meinen Geschmack", verkündete er. "Sei nicht so eingebildet, Anita. Schließlich gehe ich in dieselbe Schule wie du und weiß, was ein gutes Gedicht ist und was nicht. Deins ist Mist." Anita wurde rot vor Zorn. "Mach, daß du rauskommst. Das ist doch wohl das letzte. Kommst hereingeschneit, wenn es dir gerade in den Kram paßt und meckerst an allem rum." "Ich habe gar nicht gemeckert, ich wollte dir nur ein paar Tips geben für dein Gedicht..." "Darauf kann ich bestens verzichten." "Und außerdem sind die Kekse wirklich zu trocken. Man braucht ja einen Liter Cola, um sie herunterzuspülen." "Sandgebäck muß trocken sein." "Mir schmecken sie jedenfalls nicht. Schick sie doch deinem Mexikaner. Der ist sicher ganz wild auf alles, was von dir kommt." Gordy ging zur Tür und knallte sie hinter sich zu. Im nächsten Moment steckte er nochmal den Kopf herein und sagte: "Entschuldigung, Mrs. Seagraves. Sir." Dann verschwand er endgültig. Wie erstarrt blickte Anita hinter ihm her, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Bloß nicht heulen, hämmerte es in ihrem Kopf, das ist dieser widerliche Typ gar nicht wert. "Anita?" Williams Stimme klang gereizt, und er sah sie durchdringend an. "Was war hier los?“ "Überhaupt nichts. Was weiß ich, worüber er sich geärgert hat. Er spielt sich reichlich auf." Aber so leicht konnte sie sich nicht herausreden. "Habt ihr euch wegen des mexikanischen Jungen gestritten?" Daddy läßt auf Gordy einfach nichts kommen, dachte Anita erbost. Gordy kann machen, was er will, und mir hält Daddy noch eine Strafpredigt. "Du weißt, daß ich von dieser Brieffreundschaft nicht allzu begeistert bin, Anita", meinte William verärgert. "Ich habe sie dir nur unter der Bedingung erlaubt, daß du deine Freunde hier nicht vernachlässigst. Aber - 36 -
dein einziges Gesprächsthema scheint Manuel und Mexiko zu sein. Kein Wunder, wenn Gordon sauer reagiert." "Aber Daddy, mit ihm kann man kein vernünftiges Wort reden. Entweder macht er sich lustig, oder er meckert an mir herum." "Ich finde, Gordy ist ein netter Bursche, und du könntest ruhig etwas freundlicher mit ihm umgehen. Passiert so was wie heute nochmal, dann ist es aus mit der Briefschreiberei", drohte er und marschierte aus der Küche. Anita blickte sich hilfesuchend nach ihrer Mutter um, die gerade das zweite Blech aus dem Ofen gezogen hatte. Ärgerlich schüttete sie die angebrannten Kekse in den Abfalleimer. Von dieser Seite war heute wohl auch kein Mitgefühl zu erwarten. "Die Kinder tun gerade so, als ob die Lebensmittel überhaupt kein Geld kosten würden", schimpfte Jean. "Du mußt noch viel lernen, Anita. Man darf nicht bei jeder Kritik gleich in die Luft gehen. Die Meinung anderer kann manchmal sehr hilfreich sein. Im übrigen habe ich mich für dein Benehmen einem Gast gegenüber geschämt. Haben wir dich so schlecht erzogen? So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben." Aufschluchzend rannte Anita hinauf in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Sie suchte Manuels Brief unter dem Kopfkissen hervor und umklammerte ihn wie einen Rettungsring. Ihre Eltern waren einfach nicht fair. Warum setzten sie sich mehr für Gordy ein als für ihre eigene Tochter? Dabei kannten sie ihn kaum und hatten doch miterlebt, wie er sie runtergeputzt hatte. Jetzt blieb ihr nur noch Manuel. Sie mußte mit allen Mitteln verhindern, daß ihr Vater ihr den Briefwechsel verbot. Kurz kam ihr der Gedanke, ihre Post über Ruth laufen zu lassen. Doch das war wohl keine gute Idee, denn dann konnte sie auch gleich ihren Traum begraben, Manuel in absehbarer Zeit in seinem Heimatland zu besuchen. Lieber wollte sie sich bemühen, Daddy nicht sauer zu machen. Dann hatte sie vielleicht doch noch eine echte Chance, ihr Ziel zu erreichen. Ihrem Vater zuliebe würde sie auch versuchen, sich mit Gordy - 37 -
wieder zu vertragen, denn daran lag ihm offensichtlich sehr viel. Aber sie würde Gordy bestimmt nicht zu nah an sich herankommen lassen. Einigermaßen getröstet von dieser Vorstellung stand sie auf, zündete Kerzen an, legte ihre Gitarren-Platte auf und löschte das Licht. Dann kuschelte sie sich auf ihrem Bett zusammen und umklammerte erneut ManueIs Brief, bis ihr endlich vor Müdigkeit die Augen zufielen. Anita hatte sich zwar sehr hübsch zurechtgelegt, welche Komödie sie ihren Eltern vorspielen würde, wenn Gordy kam, aber er machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Er ließ sich nämlich einfach nicht mehr bei ihr zu Hause blicken. Auf die Fragen ihres Vaters erzählte Anita langatmig, was sie am Vormittag alles mit Gordy erlebt hatte. Sie dachte sich eine lustige Story nach der anderen aus, und während ihre Mutter sie gelegentlich prüfend ansah, schien ihr Vater alles zu glauben. In der Schule lief alles wie immer. Schon gleich am Montag zog Gordy sie auf wie eh und je, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen. Anita war froh darüber, denn inzwischen hatte sie genug Zeit gehabt, um einzusehen, daß sie superempfindlich reagiert hatte. Am besten, sie vergaßen beide die ganze Sache. Voller Hoffnung stürzte sie jeden Tag zuerst zum Briefkasten, blätterte mit fliegenden Händen die Post durch und legte sie enttäuscht zur Seite, wenn ihr sehnlichst erwarteter Brief nicht dabei war. Zuerst beruhigte sie sich damit, daß Manuel ihre Post noch gar nicht erhalten haben konnte, denn sie brauchte sechs Tage von Portland nach Monterrey. Soviel hatte sie mittlerweile herausgefunden. Aber nun mußte er den Brief doch schon bekommen haben - vor drei Tagen, vor fünf Tagen. Seine Antwort würde nun wirklich jeden Tag eintreffen. Wenn, ja wenn er sich sofort hingesetzt und geschrieben hatte.
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Sie wurde immer unglücklicher. Wahrscheinlich hatte sie sich nur eingebildet, daß Manuel sie mochte. Vermutlich lag ihm überhaupt nichts an ihr, denn sonst hätte er doch sofort geschrieben. Eine Woche später war es dann aber doch soweit. Mit klopfendem Herzen stand Anita neben dem Briefkasten und starrte auf ihren Namen, den Manuel wieder in sorgfältigen Druckbuchstaben auf den Umschlag gemalt hatte. Es goß in Strömen, und Ralph, der hinter ihr stand und ins Haus wollte, wurde langsam ungeduldig. "Laß mich endlich durch, Anita, mir ist kalt'“, maulte er und schob sie zur Seite. Wie im Traum stolperte Anita in den Flur. Er hat mir geantwortet, jubelte es in ihr, und außerdem so schnell. Alle Sorgen, die sie sich seinetwegen gemacht hatte, waren vergessen. Sie bedeutete ihm doch etwas, und er wollte die Brieffreundschaft fortsetzen. O Manuel wie dumm bin ich gewesen, an dir zu zweifeln, dachte sie. Mit zitternden Fingern riß sie den Umschlag auf. Liebe Anita, ich hoffe, Dir und Deiner Familie geht es gut. Ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut. Donnerwetter, bis jetzt hatte er noch keinen Fehler gemacht! Letzte Woche hatte ich Geburtstag und habe eine Party gehabt. Es gab einen großen Schokoladenkuchen. Ich war traurig, daß Du nicht da bist, aber ich bekam Deinen Brief denselben Tag. Das hätte ich wissen sollen. Ich hätte ihm so gern ein hübsches, kleines Geschenk geschickt. Aber zum Glück steht ja Weihnachten vor der Tür. Meine Freundin Rose gab mir zwei Bücher. Eins über Albert Einstein und einen Gedichtband. Rose ist in meiner Klasse.
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Nanu, was sollte denn das? Fast ohne es zu wollen, sah sie dieses Mädchen vor sich. Sie war zierlicher als sie selbst und hatte schon einen hübschen Busen, der bei ihr selbst noch sehr zu wünschen übrig ließ. Ihre schwarzen Locken trug diese Rose über eine Schulter gekämmt, und wenn sie lachte, blitzte es verführerisch in ihren dunklen Augen. Neben ihr wirke ich sicher wie eine unerfahrene Gans, schoß es Anita durch den Kopf. Und intelligent ist sie offensichtlich auch noch, da sie dieselben Fächer hat wie er. Ernüchtert las Anita weiter. Gestern (Sonntag) haben wir ein Picknick. Meine Freunde und ich spielten Fußball. Rose hat den Lunch mitgebracht. Sie ist sehr gut und eine schöne Freundin. Das kann ich mir vorstellen! dachte Anita zornig. Was will er eigentlich damit? Mich eifersüchtig machen? Sie sitzt gerade neben mir und sagt der ,Norteamericana' herzliche Grüße. Das ist alles für heute, Anita. Schreib mir so bald wie möglich. Dein Freund Manuel P. S. Im nächsten Brief kommt das Bild. Versprochen! Das Bild kannst du dir an den Hut stecken, du Schuft! Ich verzichte darauf. Wütend rannte Anita die Treppe hoch in ihr Zimmer. Hätte sie ihm bloß nicht wieder geschrieben, dann brauchte sie sich jetzt nicht so zu ärgern. Aber es war mehr als Ärger, ihre Traumwelt war zusammengebrochen. Ja, sie hatte genau verstanden, was er ihr durch die Blume sagen wollte. Rose war seine Freundin, sie gingen zusammen, während Anita lediglich seine Briefpartnerin sein sollte. Er war bereits in festen Händen, und sie sollte sich davor hüten, sich irgendwelche Illusionen zu machen. Er behandelt mich wie eine Zehnjährige, dieser arrogante Kerl. Als ob ich ihm nachliefe! Vor Scham und Enttäuschung heulte sie los. Sie stellte sich vor, wie Manuel und Rose gemeinsam ihre Briefe lasen und über ihre lächerlichen Schulfächer lästerten. Er war bestimmt - 40 -
der beliebteste Typ in der ganzen Schule. In ihrer Phantasie begleitete Rose Manuel treu zu allen seinen Fußballspielen, und anschließend gingen sie Hand in Hand im Sonnenschein spazieren... Mit einem Ruck kehrte Anita in die Wirklichkeit zurück. Du bist ein Idiot, schimpfte sie sich aus. Soll er doch mit seiner Rose herumziehen. Ich werde hier nicht Däumchen drehen und auf ihn warten. Aber das war leichter gesagt als getan. Es wäre alles soviel einfacher, wenn sie einen festen Freund hätte. Oder doch wenigstens einen, mit dem sie gelegentlich ausgehen könnte. Irgendeinen netten Typen. Gordy fiel ihr plötzlich ein. Klar, den könnte sie anrufen. Und zwar jetzt gleich. Sie sprang vom Bett hoch und sauste die Treppe hinunter zum Telefon. Sie fing an zu wählen, doch dann legte sie den Hörer schnell wieder auf. Was sollte sie Gordy eigentlich als Grund für ihren Anruf nennen? Sie konnte ihm ja schlecht sagen: "Hey, Gordy, Manuel hat schon eine Freundin. Wie wär's, willst du nicht mal wieder vorbeikommen?" Nein, das war einfach unter ihrer Würde. Fiel ihr denn nichts Besseres ein? Ihn vielleicht um die Hausaufgaben bitten? Das war's. Die Spanischaufgaben mußten als Ausrede herhalten. "Hausaufgaben in Spanisch?" fragte Gordy gedehnt. "Du weißt doch ganz genau, daß wir keine aufhaben, meine Süße. Denn du hast mir selbst gesagt, du könntest die Zeit gut gebrauchen, um dein Gedicht zu Ende zu bringen." "Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder", erwiderte Anita lahm. Das hatte sie ja äußerst geschickt angefangen! Wie der letzte Trottel hatte sie sich angestellt. Was er nun wohl von ihr dachte? "Los, gib's schon zu. Du wolltest nur meine liebliche Stimme hören." Gordy klang fröhlich, aber Anita hatte nicht den Eindruck, daß er sich über sie lustig machte. "Vielleicht", meinte sie verlegen. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte sehr höflich: "Ich störe dich doch nicht, oder?" - 41 -
"Du störst mich nie, Darling. Was ist los? Ist dir ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen, oder wolltest du nur einen meiner irrsinnigen Witze hören?" "Hast du denn was Gutes auf Lager?" Gordy schien zu merken, daß Anita Kummer hatte und bombardierte sie mit soviel Blödsinn, daß sie vor Lachen Seitenstiche kriegte. "Hör auf, ich habe keine Luft mehr", japste sie. Sie hatte sich lange nicht mehr so gut amüsiert. Erstaunt stellte sie fest, daß Gordy sein Bestes getan hatte, um sie wirklich aufzumuntern. Er hatte zum ersten mal nicht versucht, sie zu ärgern. "Ach, noch was! Du magst doch Horrorfilme, oder?" erkundigte er sich so harmlos wie möglich, "Wenn das Blut nicht gerade in Strömen fließt", antwortete sie vorsichtig. "Hast du Lust, den neuen anzusehen? Ich hab den Titel vergessen, der, den alle so toll finden." "Gerne." "Freitag?" "Okay." "Alles andere können wir dann in der Schule besprechen," "Hmm." "Dir ist hoffentlich klar, Nita, daß das eine echte Verabredung ist. Ich habe dich vorher gefragt. Darauf legst du ja anscheinend so großen Wert" Anita kicherte, als sie sich an ihren Streit im Schreibwarengeschäft erinnerte, "Ich hab's gemerkt, Gordy, ehrlich." Nachdem sie aufgelegt hatte, lächelte sie vergnügt vor sich hin. Plötzlich war die Welt wieder in Ordnung. Manuel kann ruhig mit seiner Rose flirten, ich gehe mit Gordy aus immerhin.
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5. KAPITEL Anita fand, daß sie schon umwerfendere Filme gesehen hatte. Trotzdem fühlte sie sich so wohl wie lange nicht. Wie selbstverständlich hatte Gordy lässig seinen Arm um ihre Stuhllehne gelegt, und Anita kam sich ungemein geborgen vor. Die letzten Tage waren der reinste Streß gewesen - zwei Arbeiten und Unmengen von Hausaufgaben - und deshalb genoß Anita den ersten freien Abend dieser Woche umso mehr. Zum Glück war nächsten Donnerstag Erntedankfest. Sie konnte eine kleine Verschnaufpause wirklich gut gebrauchen. Manuels Brief hatte sie doch tiefer getroffen, als sie sich zuerst eingestehen wollte. Ihr Idol, der Junge, dem sie sogar Gedichte gewidmet hatte, betrachtete sie nur als netten kleinen Zeitvertreib. Mit ihr beschäftigte er sich bloß, wenn Rose und die Schule es zuließen. Aber sie war ja selbst schuld. Sie hatte sich zu idiotisch benommen. Gut, der erste Brief von ihm war nett und freundlich gewesen, aber mehr auch nicht. Sie allein hatte sich in ihren Träumen ihr Kartenhaus daraus gebastelt. Und nun war es zusammengefallen. Geschah ihr ganz recht! Sie schämte sich so sehr, daß sie den Brief nicht einmal Ruth gezeigt hatte. "Ach, er hat nur über seinen Geburtstag geschrieben", hatte sie ausweichend erzählt. Und Ruth hatte sich damit zufriedengegeben. Gordy stieß sie plötzlich in die Seite. "Paß auf, jetzt wird's spannend", flüsterte er. Anita schreckte für einen Moment aus ihren Gedanken auf und starrte auf die Leinwand. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht für diesen Film begeistern. Plötzlich sah sie wieder Ruths Gesicht vor sich, als Gordy heute morgen gerufen hatte: "Also, Nita, um sieben?" Ruth
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hatte sie völlig entgeistert angesehen, und Anita mußte in der Erinnerung daran kichern. "Was gibt's denn da zu lachen?" zischte Gordy. "Siehst du nicht, daß die drei gen Hölle fahren?" Vielleicht sollte sie wirklich besser aufpassen. Wenn Gordy merkte, daß sie nur vor sich hinträumte, würde er sie womöglich nicht wieder einladen. Nach dem Kino gingen sie noch in eine Pizzeria, die nicht gerade vor Sauberkeit strahlte, wo sie aber nach Gordys Meinung die besten Pizzas der Stadt machten. Sie gaben an der Bar ihre Bestellung auf und zwängten sich dann in eine Nische, die so weit wie möglich von den Video-Spielautomaten entfernt war. Gordy redete ununterbrochen begeistert über den Film, und es fiel ihm daher zunächst gar nicht auf, wie wenig Anita dazu sagte. Aber plötzlich stutzte er. "Sag mal, hat dir der Film nicht gefallen?" "Doch, doch", antwortete sie schnell. "Ich fand ihn ganz Klasse." Gordy sah sie aufmerksam und mit sichtlichem Interesse an. "Hast du eigentlich was mit deinem Haar gemacht?" "Was soll ich denn gemacht haben? Gewaschen, gekämmt... Wie kommst du überhaupt darauf?" reagierte sie irritiert. "Ich dachte nur, weil es so schön golden glänzt und einfach toll aussieht." "Hmm - danke." Verlegen drehte Anita ihr Colaglas hin und her. Ein ernstgemeintes Kompliment hätte sie von Gordy nicht erwartet. "Und deine Bluse ist echt Spitze. Neu?" Anita verschluckte sich fast. Sie konnte nur mühsam nicken. Was war denn mit Gordy los? Sie war es nicht gewohnt, solche Töne von ihm zu hören, aber es gefiel ihr. Unter den Augenlidern warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Er sah auch gar nicht übel aus. Heute hatte er endlich mal eine witzige Frisur, und das hellblaue Sweatshirt war einfach super. Sie freute sich, daß er sich für sie soviel Mühe gegeben hatte. "Du siehst auch gut aus, Gordy." - 44 -
Er winkte lässig ab. "Ist dein Gedicht für nächste Woche eigentlich schon fertig?" Mußte er unbedingt davon anfangen? Anita schüttelte den Kopf. "Keine Spur. Ich weiß aber in etwa, worüber ich schreiben will." "Ja? Worüber denn?" Ist doch klar, daß es um Manuel geht - nur wird es diesmal ein Abschiedsgedicht, dachte sie wehmütig. Doch dir erzähle ich das natürlich nicht. "Kannst du dir das nicht denken?" antwortete sie ausweichend. Gordy verzog das Gesicht. "Ich hab's doch geahnt." Ärger stieg in Anita hoch. Warum verdarb er immer alles? Bei demselben Thema waren sie sich doch bereits neulich so sehr in die Haare geraten. Erinnerte er sich denn nicht mehr daran? "Ich weiß, was du von meinen Gedichten hältst und habe keine Lust, jetzt wieder darüber zu reden. Wenn dir nichts Besseres einfällt, gehe ich lieber." Gordy hob beruhigend die Hände. "Reg dich ab, Anita. Es war nicht böse gemeint. Die beiden letzten haben mir nämlich ganz gut gefallen." "Ach ja?" Besänftigt lehnte sie sich zurück. Das wollte sie schon lange wissen, doch sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als ihn danach zu fragen. "Nur finde ich, daß du dich allmählich wiederholst", fuhr er fort. "Fällt dir denn überhaupt nichts anderes mehr ein als ewig Mexiko?" "Soll ich dir zuliebe vielleicht über den Nordpol schreiben?" rief Anita aufgebracht. Gordy blieb erstaunlich ruhig. "Wie wär's denn mit Portland?" "Was gibt's über Portland schon zu sagen? Grauer Himmel und Regen, Regen, Regen. Findest du das etwa romantisch?" "Das nicht gerade, aber es läßt sich auch daraus was machen. Du kennst die Stadt wie deine Westentasche. Und ist das nicht für Schriftsteller die wichtigste Regel, über das zu schreiben, was man kennt? Alles, was du über Mexiko weißt, hast du bloß aus Büchern."
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"Gedichte kann man auch über etwas schreiben, was man nie gesehen hat, aber dazu braucht man eben Phantasie", bemerkte Anita spitz. "Okay, okay", lenkte Gordy ein. Glücklicherweise kam im selben Moment die Pizza. Heißhungrig stürzten sie sich darauf, als hätten sie seit Tagen nichts mehr zu essen gekriegt. Für eine Weile war Anita mit ihren Gedanken allein. Möglicherweise hatte sie sich wirklich zu sehr in das Mexiko- Thema verbissen. Ob die anderen in der Schule genauso dachten wie Gordy und hinter ihrem Rücken über sie tuschelten? Auf jeden Fall hatte Gordy sie auf eine gute Idee gebracht. Zur Abwechslung würde ihr nächstes Gedicht vom Nieselregen und den Nebelschleiern in Portland handeln. "Weißt du schon das Neueste von Audrey und Steve?" erkundigte sich Gordy zwischen zwei Bissen Pizza. Audrey Bell und Steve McKenzie waren Klassenkameraden von ihnen. Die beiden kannten sich bereits aus dem Kindergarten und gingen seit Jahren fest zusammen. Das heißt, wenn sie nicht gerade mal wieder Schluß gemacht hatten, was ungefähr einmal im Monat vorkam. Darauf schworen sie sich erneut ewige Liebe - bis zum nächsten Krach. Die ganze Schule witzelte über sie. Anita sah ihn fragend an. "Es ist aus zwischen ihnen." "Was soll daran neu sein?" erwiderte sie gelangweilt. "Wie kann man nur so blöd sein wie die beiden? Entweder sind sie irrsinnig verknallt oder sauer aufeinander. Seit Jahren kleben sie zusammen wie die Kletten, anstatt auch mal mit anderen auszugehen." "Wenn's ihnen gefällt, laß sie doch." "Es ist aber nicht richtig. Weshalb verkrachen sie sich denn dauernd? Nur weil jeder den anderen so haben möchte, wie er sich das vorstellt. Aber man kann doch kein Idealbild aus einem anderen Menschen machen, eine Person ohne den kleinsten Fehler." Anita sah ihn mißtrauisch an. War das alles etwa auf sie gemünzt? Ihr war es mit Manuel schließlich ebenso gegangen. Er war in Wirklichkeit ganz anders, als sie es sich erträumt hatte, und nun war sie enttäuscht. Doch das waren ihre - 46 -
geheimsten Gedanken, und Gordy konnte sie unmöglich erraten haben. "Je mehr Jungen und Mädchen man kennenlernt", fuhr er fort, "desto leichter fällt es einem, sie zu akzeptieren, wie sie wirklich sind. Findest du nicht, Anita?" Den Kopf zur Seite gelegt, blickte Gordy sie unschuldig an, aber in seinen blauen Augen blitzte es ironisch auf. Verflixt, dachte Anita und spürte, wie sie rot wurde, kann der Mensch Gedanken lesen? Das hat er ja geschickt eingefädelt. Plappert irgendwas über Audrey und Steve und meint die ganze Zeit mich. "Was ich denke, geht dich gar nichts an, hörst du!" Sie warf die Serviette auf den Teller, griff nach ihrer Umhängetasche und wollte aufstehen. Gordy langte über den Tisch und hielt sie fest. "Was ist los? Willst du nach Hause laufen?" "Es gibt ja auch noch Taxis." "Setz dich gefälligst hin, Anita, und hör mir zu." So hatte Gordy noch nie zu ihr gesprochen. Sichtlich überrascht ließ Anita sich tatsächlich wieder auf den Stuhl fallen. Gordy war offenbar selbst etwas verblüfft, denn er mußte sich erst einmal räuspern, bevor er weitersprach. "Ich mag dich wirklich gern, Nita, und ich möchte mich öfter mit dir verabreden. Aber du kannst dir vielleicht vorstellen, daß es mir keinen Spaß macht, dauernd im Schatten von diesem südländischen Casanova zu stehen, oder?" "Doch, dazu reicht meine Vorstellungskraft gerade noch aus", erwiderte Anita gedehnt. "Und was meinst du dazu?" Wenn sie das bloß wüßte. Sie kannten sich schon so lange, und bisher hatte ihre Bekanntschaft lediglich aus Witzeleien und handfesten Wortgefechten bestanden. Als einen Jungen, mit dem ein Mädchen gern ausgehen wollte, hatte sie ihn eigentlich nie gesehen. Aber offensichtlich mochte er sie und wollte sich regelmäßig mit ihr treffen. Das hatte ihr bisher noch keiner gesagt, und sie freute sich echt darüber.
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"Woher willst du denn überhaupt wissen, daß ich dauernd an Manuel denke?" wich sie einer direkten Antwort erst einmal aus. "Ich erwähne ihn doch kaum." "Wenn man dich ein bißchen beobachtet, ist das nicht schwer zu erraten", gab Gordy ungehalten zurück. "Die letzten vier Gedichte handeln von ihm, und dein Gedicht im Spanischunterricht spricht Bände. Als würdest du dich direkt mit ihm unterhalten statt mit uns. Außerdem ist dein ganzes Heft mit seinem Namen verziert. Glaubst du vielleicht, ich sehe das nicht? Und seine Briefe versteckst du in deinem Kugelschreiber-Etui", trumpfte er auf. Anita war sprachlos. Er war wirklich ein guter Beobachter, das mußte sie ihm lassen. Wahrscheinlich konnte er deshalb seine witzigen und ironischen Pfeile so geschickt und zielsicher abschießen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, daß er das alles wußte. Dabei war sie sich so schlau und vorsichtig vorgekommen. Verlegen rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. "Ich werde darüber nachdenken", versprach sie zögernd. "Und was das Ausgehen betrifft: Warum nicht? Wir könnten es ja noch mal versuchen." Gordy grinste sie herausfordernd an. "Du meinst also wirklich, ich hätte eine Chance, diesen öligen Emiliano ein bißchen aus deinem Kopf zu verdrängen?" "Manuel, Gordy, er heißt Manuel. Wie kannst du das vergessen?" "Sein Name ist mir völlig schnuppe." Gordy nahm plötzlich ihre Hand und hielt sie fest. Ein angenehmes Prickeln durchrieselte Anita. Wer weiß, dachte sie, möglicherweise lohnt es sich wirklich, Gordy näher kennenzulernen. Ein Versuch war es immerhin wert. "Und wieso hast du so urplötzlich deine Meinung geändert?" wollte Ruth am nächsten Tag wissen. "Du hast doch bis vor kurzem nicht im Traum daran gedacht, mit dem NervTyp Gordy auszugehen."
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Sie war bereits fertig umgezogen für die Turnstunde, während Anita gerade ihre Kleider in den Umkleideschrank stopfte und in einen Gymnastikanzug schlüpfte. "Nein?" "Jetzt tu aber nicht so. Du hast mich für verrückt erklärt, als ich dir vorgeschlagen habe, mit ihm zu gehen." "Das war doch nie dein Ernst. Du wolltest dich immer bloß über ihn lustig machen." Es ist außerdem ganz allein meine Sache, mit wem ich mich treffe, dachte Anita ziemlich sauer. Sie soll sich nur nicht einbilden, daß sie mir irgendwelche Vorschriften machen kann. Anita hatte ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, damit es ihr beim Volleyballspielen nicht ständig in die Augen fiel. Sie streifte sich ein elastisches Stirnband über und erklärte lässig: "Gordy kann sehr nett sein, wenn man mit ihm allein ist. Völlig anders als in der Schule." "Sprecht ihr etwa von Gordy Thompson?" erkundigte sich ein Mädchen aus ihrer Klasse. "Dieser Witzbold geht mir ziemlich auf die Nerven." "Da hast du recht", rief jemand anders. "Ob der wohl immerzu so rumblödelt?" "Da mußt du Anita fragen", sagte Ruth spitz. "Die geht nämlich mit ihm aus." "Mein herzliches Beileid." "Wie hältst du das nur aus?" "Bringt der überhaupt ein vernünftiges Wort raus?" "Na ja, wenigstens hat er Geld." Von allen Seiten prasselten mehr oder weniger mitleidige bis bissige Bemerkungen über Gordy auf Anita herein. Sie tat, als sei sie mit ihren Schuhbändern beschäftigt und gab keine Antwort. Nach und nach verließen die Mädchen die Umkleidekabine, bis Ruth und sie allein waren. "Tut mir leid", entschuldigte sich Ruth. "Ich wollte es eigentlich nicht an die große Glocke hängen." Anita zuckte gleichmütig die Schultern. "Das ist mir egal. Ich brauche mich mit Gordy nicht zu verstecken. Von mir aus können es alle wissen. Ich verstehe nur nicht, warum sie sich dermaßen darüber aufregen."
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"Du bist eben die erste, mit der er sich regelmäßig verabredet." Anita mußte lachen. "Dann passen wir ja prima zusammen. Ich bin bisher auch nie mehr als einmal mit demselben Jungen ausgegangen." Während sie nach Mrs. Phelps Kommando hin- und hersprangen, ließ Anita ihre Gedanken schweifen. Alle waren über Gordy hergefallen und hatten ihn mies gemacht, und sie selbst hatte lediglich Mitleid geerntet. Dabei wußten sie gar nicht, wie gut man sich manchmal mit ihm unterhalten konnte. Außerdem taten sie gerade so, als sei sie bereits seine feste Freundin. Aber da hatten sie sich gründlich geirrt. Sie würde zwar ab und zu mit Gordy ausgehen, doch ihr Herz gehörte noch immer Manuel. Bei jeder Bewegung knisterte sein Brief - der erste natürlich - in der Tasche ihres Gymnastikanzuges. Ihre Wut über Rose hatte sich gelegt, heute nacht hatte sie sogar von Manuel geträumt. In diesem Traum war Rose zum Glück nicht aufgetaucht, und sie selbst hatte wieder die Hauptrolle gespielt. Ob ich dieses Mädchen zu ernst genommen habe? hatte Anita beim Aufwachen gedacht. Vielleicht ist sie wirklich nur eine nette Klassenkameradin. Plötzlich hatte sie wieder einen Hoffnungsschimmer gesehen und das Abschiedsgedicht spontan zerrissen. Gordy war okay, aber an Manuel reichte er eben doch nicht heran. Einige Tage später war Erntedankfest, und Anita hatte sich noch immer nicht aufraffen können, Manuel zu schreiben. Eigentlich war der Brief längst fällig, aber ihr fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. Wie jedes Jahr herrschte an diesem Tag eine fast hektische Atmosphäre in der Küche. Jean Seagraves holte gerade einen riesigen Truthahn aus dem Backofen. "Sieht er nicht wunderbar aus?" fragte sie voller Hausfrauenstolz. "Wie weit bist du mit dem Kartoffelpüree; Anita? Nein, Ralph. nimm heute die Stoffservietten. Sie liegen in der obersten Schublade."
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Ralph war zum Tischdecken abkommandiert worden und machte sich nicht gerade begeistert an diese Aufgabe. Stoffservietten! Das war ja schlimmer als zu Weihnachten. "Mami, wer soll bloß diese Riesenmengen essen?" stöhnte Anita. "Kartoffelpüree und süße Kartoffeln, Salate, Nußtorte und Apfeltorte. Wir sind doch keine Großfamilie. Und in der nächsten Woche gibt's dann wieder nur Reste." Ihre Mutter hörte einen Moment auf, die Salatsoße zu rühren und blickte gedankenverloren vor sich hin. "Ach, weißt du, das bin ich einfach von zu Hause so gewöhnt. Zwei Tage lang wurde gekocht und gebacken, denn wir waren oft viele Personen. Da war erst einmal unsere Familie, und dann kamen noch etliche Vettern und Cousinen dazu. An den Feiertagen hat man sich gern getroffen. Es wurde viel erzählt und dabei noch mehr gegessen. In den Südstaaten legt man auf Geselligkeit bedeutend mehr Wert als hier im Norden." "Kein Wunder, daß so viele Amerikaner richtig fett sind", meinte Anita ungerührt. "Schau mich an. Ich muß auch dringend abnehmen." "Aber, Liebes, du hast eine ganz süße Figur. Ihr jungen Mädchen macht euch gegenseitig verrückt." William kam schnuppernd in die Küche. "Hmm, das riecht sehr verlockend. Wie weit seid ihr denn?" "In einer Viertelstunde ist alles fertig." Jean schob sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht. "Was Betty und Joe wohl heute machen?" Betty war ihre Schwester, und wohnte noch in ihrem Elternhaus in Biloxi. "Essen. Überall in Amerika ist das an diesem Tag die Hauptsache." William zupfte ein Stück knusprige Haut vom Braten ab. "Na, hast du vielleicht ein bißchen Heimweh nach dem sonnigen Süden? Du würdest Betty gern mal wiedersehen, nicht?" "Ach ja, das wäre wirklich schön." Jeans Augen leuchteten auf. Anita witterte sofort eine unerwartete Chance, ihr Lieblingsthema anzuschneiden. "Wir könnten sie diesen Sommer besuchen, Mami. Wenn wir sowieso nach Mexiko fahren, machen wir eben einen kleinen Umweg über Biloxi." - 51 -
Aber William kannte natürlich seine Tochter. "Du läßt nicht locker, Anita, hm?" bemerkte er trocken. "Kleiner Umweg. Du bist gut. Sieh dir mal die Landkarte an. Dann wirst du feststellen, daß Biloxi sehr viel weiter östlich liegt." "Immerhin auch am Golf von Mexiko." "Die Golfküste ist ziemlich lang, mein Schatz. Nein, nein, schlag dir das aus dem Kopf, daraus wird nichts." Besser, nichts mehr zu sagen und die Sache jetzt lieber ruhen zu lassen. Es würde sich bestimmt wieder mal eine Gelegenheit bieten. Vielleicht konnte sie ihren Vater eines Tages sogar so weit bringen, daß er glaubte, es sei seine Idee gewesen, nach Mexiko zu fahren. Nachdem sie fast eine Stunde gegessen hatten, half Anita ihrer Mutter, die Küche aufzuräumen. Dann nahm sie sich noch ein Stück Nußtorte - sie schmeckte einfach zu köstlich - und zog sich in ihr Zimmer zurück, um endlich an Manuel zu schreiben. Sie hatte sich bereits in großen Zügen überlegt, was sie ihm antworten wollte. Auf seine Geburtstagsparty und das Picknick würde sie zwar eingehen - alles ganz cool und lässig - aber seine schöne Freundin Rose würde sie mit keinem Wort erwähnen. Er soll nur gleich kapieren, daß sie für mich völlig unwichtig ist. Nein, Manuel, du wirst nie ahnen, daß ich deinetwegen bereits geheult habe. "An welchem Tag hattest du eigentlich Geburtstag, Manuel?" schrieb sie. "Mein Freund Gordon Thompson hat nämlich in derselben Woche Geburtstag." Das war zwar glatt gelogen, aber irgendwie mußte sie die Sprache ja auf Gordy bringen. "Statt einer Party hat er mich ins Kino eingeladen. Es gab einen Horrorfilm, aber bei Gordon fühlte ich mich so geborgen, daß ich mich überhaupt nicht gefürchtet habe." Jetzt hast du auch was zum Nachdenken, mein Lieber! Du siehst, ich bin keine graue Maus, es gibt noch andere Jungen in meinem Leben. Auch wenn es bloß Gordy ist.
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Sie überlegte, ob sie Grüße von ihrem "guten Freund Gordon" ausrichten sollte. Nein, besser nicht, das wäre doch zu übertrieben und würde Manuel unnötig verärgern. Eine kleine Bosheit hatte sie sich jedoch noch ausgedacht. "Dein Englisch war große Klasse im letzten Brief, viel besser als mein Spanisch. Wenn ich heute zu viele Fehler gemacht habe, dann ist das Gordons Schuld. Er hat mich dauernd abgelenkt." Gut, daß ihr das eingefallen war. Anita rieb sich vor Vergnügen die Hände. Es hörte sich so an, als habe Gordy ungeduldig gewartet, bis sie endlich mit dem Brief fertig war und Zeit für ihn hatte. Sorgfältig übertrug sie den Entwurf auf ein Blatt ihres neuen Briefpapiers. Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Schule, warf sie den Brief in den Kasten. Zwei Wochen später kam die Antwort. "Nicht knicken Fotos", stand in großen Buchstaben auf dem Umschlag. Mit klopfendem Herzen riß Anita ihn auf und zerrte den Briefbogen heraus. Dabei flatterte ein Farbfoto zu Boden. Anita bückte sich, um es aufzuheben, und starrte hingerissen auf die Fotografie. In Jeans und Sweatshirt kniete Manuel vor einem Fußballtor, einen Ball in seinen langen schmalen Händen. Schwarzes Haar, allerdings Locken, schwarze Augen, ein Siegerlachen, all das paßte zu ihrer Vorstellung von ihm, aber irgendwie sah er in Wirklichkeit geradezu umwerfend toll aus. Er war kräftiger, als sie gedacht hatte, und unwillkürlich malte sie sich aus, wie es sein würde, wenn er sie in seine Arme nahm. Bitte, Daddy, laß uns im Sommer hinfahren. Ich muß Manuel unbedingt kennenlernen. Denn soviel stand fest: Seit sie sein Bild gesehen hatte, war sie es, die an seiner Leine zappelte.
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6. KAPITEL „O Nita, der sieht einfach Spitze aus", rief Ruth begeistert, als sie Manuels Bild sah. "Sowas gibt's in ganz Oregon nicht." Ruth übernachtete bei Anita, und die beiden Mädchen hatten es sich auf dem Bett gemütlich gemacht, Manuels Briefe zwischen sich. Bevor sie Ruth das Foto gezeigt hatte, war Anita mit dem beschämenden zweiten Brief herausgerückt, und Ruth war natürlich sofort auf ihrer Seite. "Jetzt laß mich schnell lesen, was er diesmal schreibt", bettelte Ruth. "Wieder schöne Grüße von Rose?" Anita strahlte sie an und schüttelte den Kopf. "Kein Sterbenswörtchen über die Dame." Ruth überflog die wenigen Zeilen, während Anita in Gedanken mitlas. Liebe Anita, ich hoffe, Dir und Deiner Familie geht es gut. Danke für Deinen Brief. Du wartest lange auf mein Foto, heute schicke ich es. Ich habe am 4. November Geburtstag. Anita, darf ich etwas fragen: Bist Du vielleicht böse mit mir? Ich schaue immer Dein Bild an und träume auch von dir. Ich denke: Anita ist ein sehr hübsches Mädchen. Wann wir uns sehen? Ich kann nicht nach Portland kommen, aber mein Haus ist offen für Dich und Deine Familie. Besuchst Du mich in Monterrey? Das ist alles heute. Der Brief ist kurz, entschuldige bitte. Dein Freund Manuel P.S. Das Bild wurde nach einem Fußballspiel gemacht.
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"Hmm, das klingt schon anders", meinte Ruth. "Aber wieso glaubt er, daß du sauer auf ihn bist?" "Ha! Ich habe ihm ausführlich von meinem lieben, netten Freund Gordon Thompson berichtet." Ruth blickte sie erst fassungslos an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. "Hast ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen, Anita, das ist echt stark." Nur mühsam beruhigte sie sich wieder. "Aber es hat gewirkt. Ganz schön biestig von dir, meine Liebe." "Ich hab mich bloß gewehrt", erwiderte Anita mit Unschuldsmiene, doch in ihren Augen blitzte es übermütig auf. "Eigentlich sollte ich dir ja böse sein, daß du mir nichts von dieser Rose erzählt hast." "Entschuldige", bat Anita zerknirscht. "Zuerst war ich richtig geschockt, und dann habe ich mich geschämt. Ich kam mir ganz schön blöd vor mit meinen verrückten Träumen." "Wer weiß, ob er diese Rose überhaupt näher kennt. Ich glaube, er wollte dich nur eifersüchtig machen." "Ja, das habe ich auch schon gedacht. Ich wollte ihn jedenfalls mit Gordy ganz bestimmt eifersüchtig machen!" Anita war stolz, daß ihr das so gut gelungen war. "Weshalb bist du übrigens zu Norbert Tandy gegangen?" erkundigte sie sich dann. „Ach, dieser eingebildete Typ! Meinen letzten Aufsatz hat er derartig zusammengestrichen, daß ich ihn fast nicht wiedererkannt habe. So kann dieser Besserwisser mich nicht behandeln." "Von meinen Gedichten soll er nur hübsch die Finger lassen, sonst muß er die nächsten selber schreiben." "Habe ich ihm auch gesagt. Ändert er nochmal was, streike ich." "Im Moment sieht's bei mir ohnehin trübe aus", stöhnte Anita. "Wenn ich ihm Dienstag was abliefern soll, brauch ich noch einen kräftigen Geistesblitz. Irgendwie fällt mir einfach nichts ein." Hilfesuchend blickte sie Manuels Foto an, als käme von ihm die rettende Inspiration.
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"Du hast doch noch genügend Gedichte vom letzten Jahr in Reserve. Warum gibst du ihm nicht eins davon?" schlug Ruth vor. "Unmöglich! Die sind viel zu persönlich." "Zeig mal her." Nur zögernd nahm Anita das Ringbuch, in dem ihre Gedichte standen, aus der Schublade und reichte es ihrer Freundin. Neugierig blätterte Ruth darin herum. Hin und wieder schien ihr etwas zu gefallen, und dann lächelte sie beifällig. Über anderes ging sie kopfschüttelnd hinweg. In der Zwischenzeit sortierte Anita Manuels Briefe wieder ein, das Bild ließ sie jedoch draußen. Das würde sie in die Sichthülle ihres Portemonnaies stecken. So konnte sie es immer schnell anschauen, wenn sie sich nach Manuels Anblick sehnte. "Hier, Nita, diese zwei kannst du Norbert problemlos geben", empfahl Ruth. "Ich hab die Seiten eingeknickt." Damit schob sie Anita das Heft hin. "Mal sehen, ich werd's mir überlegen." Ziemlich gesäuert strich Anita die Eselsohren wieder glatt. Wie kommt sie dazu, mein Heft so grob zu behandeln? Mit ihren eigenen Sachen ist sie immer schrecklich pingelig. Im übrigen hatte Anita nicht die leiseste Absicht, auch nur eins von diesen sehr intimen Gedichten veröffentlichen zu lassen. Sie wollte sich schließlich nicht zum Gespött der Schule machen. Vor allem Gordy sollte die Verse auf keinen Fall sehen. Inzwischen war Ruth jedoch auf eine andere Idee gekommen. "Du, Anita, warum schickst du sie nicht an Manuel? Zu Weihnachten? Das wär doch ein irres Geschenk." Da hatte Ruth sich ja wieder was Tolles ausgedacht. Anita kannte Manuel kaum und sollte ihm ihre geheimsten Empfindungen anvertrauen? Aber seltsamerweise ließ der Gedanke sie nicht mehr los. Manuel schien Gedichte zu mögen, immerhin hatte Rose - Rose! - ihm einen Gedichtband geschenkt. Wenn Anita ihm nun ihre eigenen Werke schicken würde, käme sie dann nicht ganz groß raus? Damit würde sie Rose sicher in den Schatten stellen.
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"Vielleicht", meinte sie jedoch nur unbestimmt. "Weiß er, daß du Gedichte schreibst?" "Ich hab's im ersten Brief kurz erwähnt." "Und? Was sagt er dazu?" "Nichts, gar nichts. Du hast doch seine Briefe selbst gelesen." "Möglicherweise hast du ihn damit ein bißchen eingeschüchtert. Gedichte zu schreiben ist schließlich ein ziemlich anspruchsvolles Hobby, Anita!" Sie stand auf und streckte sich gründlich, denn vom langen Sitzen mit untergeschlagenen Beinen war sie recht steif geworden. "Übrigens, meinst du nicht, daß du dir langsam einen Freund zulegen solltest?" bemerkte sie betont affektiert. "Jede Dichterin braucht ein Liebesleben, es beflügelt. Gerade für dich mit deinen romantischen Träumen wäre es wichtig. Immerhin bist du schon sechzehn. Schade, daß Manuel nicht hier wohnt." "Wozu habe ich denn Gordy?" fragte Anita bedächtig, und dann prusteten sie vor Lachen los. "Na klar, wie konnte ich den bloß vergessen", stieß Ruth endlich, noch immer kichernd, hervor. "Ihn schickt der Himmel. Und küssen wird er wohl schon können." Mit einem Schlag wurde Anita ernst. Das ist denn doch nicht fair Gordy gegenüber, dachte sie beschämt. "Und ob er das kann", verteidigte sie ihn. "Im Ernst? Ihr habt euch bereits geküßt?" "Hmm. Was dagegen einzuwenden?" Sie war mittlerweile schon einige Male mit Gordy ausgegangen, und immer hatte er sie zum Abschied geküßt. Doch seine Küsse hatten nie wieder dieses tolle Gefühl in ihr geweckt wie beim erstenmal. Gordy behandelte sie zwar höflich und nett, aber nicht mehr wie etwas Besonderes. Nicht mal ihrer Freundin vertraute Anita jetzt an, wie enttäuscht sie darüber war. Ruth starrte sie ungläubig an. "Dir scheint das auch noch zu gefallen! Nita, mir kommt der fürchterliche Verdacht, daß du Gordy ehrlich leiden magst." "Ja. Es macht Spaß, mit ihm auszugehen. Meistens ist er gutgelaunt und lustig und überhaupt nicht albern." - 57 -
"Du mußt es ja wissen." Ruth studierte konzentriert ihre Fingernägel. "Aber ich würde es mir zweimal überlegen, bevor ich mich mit so einem unbeliebten Jungen sehen ließe." "Und wieso sollte mir das schaden?" "Wenn erst mal durchsickert, daß du dich öfters mit Gordy, dem Klassen-Clown, triffst, bist du bei den andern Jungs total unten durch. Du warst doch immer scharf darauf, von diesen Superboys Ken Nixon oder Stephen High eingeladen zu werden. Glaub bloß nicht, daß die dich dann noch ansehen." "Was du nicht sagst! Für die bin ich doch sowieso Luft, mit oder ohne Gordy. Wenn sie nur einen Funken Interesse an mir hätten, wäre wirklich massig Zeit gewesen, mir das zu zeigen", rief Anita aufgebracht. Diese Meckerziege Ruth! Immer wußte sie alles besser. Im Moment fand Anita ihre Freundin ausgesprochen blöd. Zum Glück rief Jean sie im nächsten Augenblick zum Abendessen. "Kommt runter, ihr beiden. Sonst werden die Hamburger kalt." "Ich hab's nicht so gemeint." Ruth klopfte Anita freundschaftlich auf die Schulter. Ihr war die Sache äußerst unangenehm, denn sie war kein Mädchen, das sich leicht entschuldigte. "Alles wieder okay, Partner?" "Alles okay", erwiderte Anita betont munter, aber es klang etwas gequält. Sie hatte geahnt, daß Ruth so reagieren würde, und deshalb hatte sie ihr auch bisher nicht erzählt, daß sie tatsächlich anfing, Gordy gernzuhaben. Gerade hatte sie ihn sogar spontan vor Ruths Angriffen verteidigt, und das bestätigte ihr, daß sie ihn wirklich mochte. Alle schienen in ihm nur den albernen Clown zu sehen. Sie hatten keine Ahnung, daß er auch ein interessanter und sogar irgendwie verführerischer Typ sein konnte - wenn er wollte. Und das war der springende Punkt. In der nächsten Woche schickte Anita Manuel tatsächlich die Gedichte. Das ganze Wochenende hatte sie über Ruths Vorschlag nachgedacht und sich dann am Sonntagabend - 58 -
endlich hingesetzt und drei Gedichte auf die zartgrünen Briefbogen übertragen - zwei neue über Mexiko und eins von den romantischen, das Ruth so gut gefallen hatte. Sie fand das Geschenk sehr persönlich und überhaupt nicht angeberisch, denn es konnte ja sein, daß Manuel ihr nichts schenken wollte. Damit würde sie ihn auf jeden Fall nicht in eine peinliche Situation bringen. Anita war in so übermütiger Stimmung, daß sie kurzentschlossen die romantischen Verse auch bei Norbert Tandy ablieferte. Sollte Gordy es wirklich wagen, darüber zu lästern, würde sie ihm die Augen auskratzen. Anita konnte es kaum erwarten, bis die nächste Schulzeitung erschien - am letzten Tag vor den Weihnachtsferien. Ängstlich gespannt fragte sie sich, wie das Gedicht wohl bei den Mitschülern ankommen würde. Es war natürlich klar, daß sie dabei vor allem an Gordys Meinung interessiert war. Anita war die erste an diesem Morgen. Kurze Zeit später kam Gordy herein, ein Exemplar der Zeitung unter den Arm geklemmt. Wunderbar, dachte Anita ungeduldig. Wollte er das Gedicht etwa direkt vor ihrer Nase lesen? Ausgerechnet dieses Gedicht? Hoffentlich wurde sie nicht rot! Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. "Morgen, Nita. Was hast du denn heute für eine komische Frisur? Trägst du jetzt den Oma-Look?" "Wieso?" "Na ja, mit deinem merkwürdigen kleinen Dutt siehst du aus wie meine Großmutter." "Das ist topmodisch", klärte Anita ihn gelassen auf. "Du hast nur keine Ahnung." "Hauptsache, du weißt Bescheid." Lässig hockte er sich auf ihren Tisch und schlug die Zeitung auf. Er überflog suchend die Spalten, bis er ihr Gedicht entdeckt hatte. "Mal sehen, wohin die Reise diesmal geht. Vielleicht nach Mexiko?" "Sehr witzig! Brauchst es ja nicht zu lesen." Betont gelangweilt zog Anita einen Spiegel aus ihrer Tasche und tupfte etwas Lipgloss auf. Ganz nebenbei warf sie einen Blick auf ihre Frisur. Oma-Look! Das war eine glatte Unverschämtheit. Anita hatte die Haare hochgekämmt und zu - 59 -
einem kleinen Knoten zusammengedreht, der frech seitlich hinten am Kopf saß. Sie fand, daß sie süß damit aussah, egal, was Gordy davon hielt. Scheinbar uninteressiert sah sie sich im Klassenzimmer um. Außer ihnen war noch niemand da. Warum sagte Gordy denn nichts? Er hätte das Gedicht schon zweimal lesen können, so viel Zeit war inzwischen vergangen. Nervös wartete Anita auf eine von Gordys spöttischen Bemerkungen. Doch er schaute sie nur ehrlich verblüfft an. "Du, das ist echt Klasse. Es gefällt mir." Das Blut schoß Anita in die Wangen, wenn auch diesmal vor Freude. "Wirklich?" "Ja. Es klingt so anders. Es ist zwar auch sehr gefühlsbetont, aber es klingt nicht kitschig. Hast du es jemandem gewidmet?" fragte er augenzwinkernd. Anita mußte lachen und zwinkerte zurück. "Daneben getroffen, Gordy. Es ist ein Oldie vom letzten Jahr." Ich habe es nicht für Manuel geschrieben, mein Lieber, aber für dich genauso wenig, dachte sie. "Gehst du eigentlich auch zu Cheryls Party heute abend?" wollte Gordy plötzlich wissen. Anitas Herz schlug auf einmal schneller. "Ich weiß noch nicht, wahrscheinlich ja." Das war mächtig untertrieben. Seit zwei Wochen freute sie sich auf diese Party. Sie hatte ihrem Vater sogar neue Klamotten dafür abgeschmeichelt, denn sie war im stillen fest davon überzeugt gewesen, daß sie mit Gordy zusammen hingehen würde. Als er sich dann jedoch nicht rührte, um sie dazu einzuladen wurde sie mit jedem Tag wütender und enttäuschter. "Okay, ich hole dich ab. Halb acht?" Er schien gar nicht auf die Idee zu kommen, daß sie sein Angebot ablehnen könnte. "Danke", erwiderte Anita kurz und kühl. Hoffentlich merkte er ihr die Erleichterung nicht an. Denn eigentlich war es eine Frechheit, wie selbstverständlich er mal wieder über sie verfügte.
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Es war ein schweigsames Trio, das an diesem Tag nach Hause fuhr. Ralph blickte mürrisch in den feucht-kalten Dezembernachmittag, nachdem er verkündet hatte, daß er in der Mathearbeit von letzter Woche eine Fünf bekommen hatte. Warum mußte die Arbeit auch ausgerechnet heute noch zurükgegeben werden? Ob Mami wohl schweigen konnte bis nach Weihnachten? In den unteren Klassen hatten sie fast den ganzen Tag nur gefeiert, und Jean war völlig fertig. Es hatte sie besonders viel Kraft gekostet, die Kleinen im Griff zu behalten, denn sie waren so kurz vor dem Weihnachtsfest fast nicht mehr zu bremsen gewesen. Auch Anita merkte plötzlich, wie müde sie war. Die vielen Arbeiten im vergangenen Monat hatten sie ziemlich geschafft. Zum Glück waren die Noten wenigstens zum Teil recht anständig ausgefallen, und sie hatte das Gefühl, sich die Ferien ehrlich verdient zu haben. Nur mit Mühe konnte sie ein Gähnen unterdrücken. Sie mußte sich unbedingt gleich etwas ausruhen, sonst würde sie womöglich auf der Party einschlafen. Inzwischen waren sie zu Hause angekommen, und wie üblich rannten sie die paar Schritte vom Auto zum Haus, um nicht allzu naß zu werden. Ralph riß die äußere Windfangtür auf und wäre fast über ein großes braunes Paket gestolpert, das mitten im Weg stand. Enttäuscht stellte er fest, daß es an Anita adressiert war. "Für dich, Anita." Es war von Manuel. Anitas Herz machte einen Freudensprung. Sie war eigentlich immer überzeugt gewesen, daß Manuel ihr etwas schenken würde. Was es wohl sein mochte? Sie hob das Paket vorsichtig auf und trug es wie einen Schatz vor sich her ins Haus. Gut, daß sie auf Ruth gehört und ihm die Gedichte geschickt hatte. Wie blöd würde sie sich sonst jetzt fühlen! "Von Manuel?" fragte ihre Mutter. "Das ist aber nett." "Los, mach schon auf', drängte Ralph, der fast neugieriger war als sie selbst. Anita setzte sich im Wohnzimmer auf den Fußboden und wickelte mit zitternden Händen das Paket aus. Es kam eine Schachtel zum Vorschein, die leuchtend rot verpackt und mit einer dicken Schleife geschmückt war. - 61 -
Behutsam schälte Anita den Karton aus dem Papier. Sie hielt einen Moment den Atem an, dann öffnete sie die Schachtel. Darin lag ein Pandabär aus grau-weißem Plüsch mit dunklen Knopfaugen und einer niedlichen schwarzen Nase. Ralph, der Anita über die Schulter hing, um nur ja nichts zu verpassen, blickte ungläubig zwischen dem Geschenk und Anita hin und her. Brüllend vor Vergnügen ließ er sich dann nach hinten fallen und wälzte sich auf dem Boden. "Das ist stark! Ein Stofftier für meine große Schwester. Ha-ha-ha. Hält er dich etwa für sechs, Nita?" "Sei ruhig, Ralph", ermahnte ihn Jean. "So ein entzückender Bär, Liebes. Schreibt Manuel was dazu?" Völlig benommen hob Anita die Karte auf, die in der Schachtel lag. Fröhliche Weihnachten, Anita. von Deinem Freund Manuel Bitte antworte bald Sie las die Karte noch einmal und gab sie dann ihrer Mutter. Jean spürte genau, daß ihre Tochter moralische Unterstützung von ihr erwartete, aber im Moment fehlten ihr einfach die passenden Worte. "Das ist wirklich reizend von Manuel", wiederholte sie lahm. Anitas Wangen glühten vor Verlegenheit. "Mexikanische Jungen haben ganz andere Vorstellungen von Mädchen", verteidigte sie Manuel schnell. "Wenn sie ihren Freundinnen so etwas schenken, dann hat das wahrscheinlich eine besondere Bedeutung," "Ja, das denke ich mir auch, Liebling", versicherte ihre Mutter. "Manuel hat das Geschenk bestimmt sehr sorgfältig ausgesucht. Das sieht man an der hübschen Verpackung." Ralph hatte sich inzwischen wieder beruhigt, aber die Erklärungen der beiden hatten ihn keineswegs überzeugt. Er fand die Idee, ein Stofftier zu verschenken, absolut kindisch, und Manuel war damit in seiner Achtung mächtig gesunken.
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Noch immer grinsend sammelte er seine Schulbücher vom Boden auf und verließ das Wohnzimmer. Anita hätte ihm den Bären am liebsten nachgeworfen, denn er war an ihrer Blamage schuld. Hätte Manuel denn nicht etwas Witzigeres schicken können, mehr meinem Alter entsprechend? dachte sie ärgerlich. Es gab tolle bestickte Tücher in Mexiko. Darüber hätte sie sich riesig gefreut, und ihre Klassenkameradinnen hätten sie sicherlich darum beneidet. Warum mußte es ausgerechnet ein Stofftier sein? Doch von einer Sekunde zur anderen verschwand ihr Ärger, und sie schämte sich wegen ihrer häßlichen Gedanken. Manuel hatte ihr eine Freude machen wollen und offensichtlich nicht gewußt, was ihr gefallen würde. War sie nicht ähnlich im Zweifel gewesen mit ihrem Geschenk? Ach, Manuel, ich finde es wahnsinnig süß, daß du mir überhaupt etwas geschickt hast. Was er für Rose ausgesucht hatte, daran mochte sie im Moment lieber nicht denken. "Gehst du nicht heute abend zu dieser Party, Anita?" Jean erhob sich vom Fußboden, "Dann mache ich mich am besten gleich ans Abendessen, damit du dich nicht abhetzen mußt." "Ich helfe dir. Es ist Zeit genug, Gordy holt mich erst um halb acht ab." "Ach, fahrt ihr nun doch zusammen hin?" erkundigte sich ihre Mutter augenzwinkernd, "Du siehst müde aus, Liebes. Willst du dich nicht vorher noch etwas hinlegen?" "Danke, Mami, ich glaube, das könnte ich wirklich vertragen. Ich bin total geschafft." Anita stopfte den Pandabär zurück in den Karton und trug beides nach oben in ihr Zimmer. Dort blickte sie sich unschlüssig um. Eigentlich verdiente ein Geschenk von Manuel einen Ehrenplatz. Aber wo konnte sie einen finden? Nirgendwo schien der Bär richtig hinzupassen. Weil ihr nichts Besseres einfiel, setzte sie ihn schließlich auf ihre Wäschekommode. Leider trug er gar nicht dazu bei, die mexikanische Atmosphäre zu unterstreichen, die sie so gern in ihrem Zimmer schaffen wollte.
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Nachdem Anita eine Weile bei Gitarrenmusik vor sich hingeträumt und danach hastig einige Bissen Abendbrot heruntergeschlungen hatte, wurde es Zeit, daß sie sich für die Party fertig machte. Sie schminkte sich sehr sorgfältig und versuchte, ihre Lockenpracht mit einer roten Schleife zu bändigen. Ob es Gordy wohl auffällt, wie sorgfältig ich mich für diese Party zurechtmache? fragte sich Anita, als sie stolz in ihre neuen Sachen schlüpfte. Die rot-grün karierte Taftbluse mit den modisch weiten Ärmeln sah superschick aus zu den knallengen schwarzen Cordjeans. Mami hatte ihr zwar unbedingt eine rote oder grüne Hose einreden wollen - "Du bist noch zu jung für schwarz, Anita" - aber sie hatte auf diesen Jeans bestanden. Gott sei Dank, dachte sie, während sie sich rundherum zufrieden im Spiegel betrachtete. Als besonderen Gag steckte sie sich zum Schluß eine kleine schwarze Lackfliege an. Gordy nickte zwar anerkennend, als sie die Treppe herunterkam, sagte aber nichts. Höfliche Worte hatte er nur für ihre Eltern übrig. Immer hübsch bescheiden sein, ermahnte sich Anita spöttisch. Er hat die neuen Klamotten auf jeden Fall bemerkt, ob er nun dazu was sagt oder nicht. Sie fuhren los, und Anita lehnte sich entspannt im Sitz zurück. Versonnen ließ sie die Lichterketten der weihnachtlich geschmückten Stadt an sich vorbeifliegen. "Hoffentlich wird das kein großer Klassentreff heute abend", schreckte Gordy sie plötzlich auf. "Wieso?" "Das würde doch furchtbar langweilig. Es gibt nichts, worüber wir nicht schon in der Schule geredet haben. Oder sollen wir etwa Partyspiele machen?" Es klang nicht übermäßig begeistert. "Bloß das nicht. Wenn uns überhaupt nichts mehr einfällt, können wir noch immer über die Lehrer herziehen", versuchte sie, sich selbst Mut zu machen, doch sie wurde nun auch zusehends nervöser. Gordy hatte sie mit seinen Zweifeln angesteckt. "Was ist denn los mit dir? Willst du mir mit deiner schlechten Laune den Abend verderben?" fuhr sie ihn an und hielt dann erschrocken inne. Großartig, warf sie sich vor. Jetzt - 64 -
ist er wahrscheinlich sauer auf mich, und dann haben wir beide nichts von dem Abend. Warum halte ich nie rechtzeitig die Klappe? "Danke für die Standpauke", lachte Gordy jedoch unerwarteterweise. "Du hast recht. Man sollte nicht mit einer vorgefaßten Meinung bei Cheryl anmarschieren. Wenn es zu schrecklich wird, können wir ja notfalls früher gehen." "Du sagst es." "Hallo, herein mit euch", begrüßte Cheryl sie fröhlich, als sie ihnen die Tür öffnete. "Die anderen sind im Wohnzimmer." Sie lief ihnen voraus und rief: "Alle kurz herhören. Hier sind Anita und Gordy." "Prinz Charles und Lady Di erweisen ihnen die Ehre ihres Besuches", flüsterte Gordy Anita ins Ohr, und sie mußte lachen. Damit war das Eis gebrochen. Anita fühlte sich auf einmal ganz locker und gelöst, und es störte sie wenig, daß einige Jungen und Mädchen sie und Gordy neugierig anstarrten oder sich vielsagende Blicke zuwarfen. Schaut nur ruhig her, mit wem ich hier antanze, hätte sie ihnen am liebsten zugerufen. Mit Gordy an ihrer Seite brachte sie sogar den Mut auf, ein paar älteren Schülern fröhlich zuzuwinken, die in bestimmten Cliquen den Ton angaben und vor denen sie normalerweise einen Heidenrespekt hatte. Dann entdeckten sie Ruth, die sich mit Jeffrey Craig, einem nüchternen Mathegenie, unterhielt. "Hier muß sich jeder selbst bedienen", erklärte Ruth. "Da drüben steht der Punsch. Aber unter uns gesagt, er schmeckt scheußlich." "Besten Dank für die Warnung. Ich trinke Cola", gab Anita zurück und sah sich suchend um. "Gibt's kein Bier?" wollte Gordy wissen. "Bist du verrückt?" Jeffrey verzog das Gesicht. "Bier im Hause eines strengen Schulmeisters? Das ist wohl nicht dein Ernst!" Gordy zwinkerte ihm verständnisinnig zu und machte sich auf die Suche nach Colas. "Hübsche Bluse", meinte Ruth ziemlich arrogant und zupfte an Anitas Lackschleife herum. "Neu?" - 65 -
"Hmm." "Hast du die etwa extra für Gordy gekauft?" erkundigte sich Ruth anzüglich. "Nein, für mich ganz allein. Ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk", erwiderte Anita zahm. Sie hatte keine Lust, mit Ruth einen Streit anzufangen. Nach einer kleinen Pause platzte sie heraus: "Manuel hat mir übrigens ein Päckchen geschickt" Irgendwann mußte sie Ruth die Neuigkeit sowieso mitteilen. Warum dann nicht gleich, solange Gordy fort war? Ruth schluckte zweimal, bevor sie etwas antworten konnte. "Soo?" fragte sie gedehnt. "Wie aufregend. Was hat er dir denn geschenkt?" Anita zögerte nur einen Moment, bevor sie strahlend antwortete: "Einen süßen kleinen Plüsch-Pandabären." Sie gab Ruth keine Gelegenheit, eine ihrer spitzen Bemerkungen loszuwerden, sondern fuhr betont munter fort: "Er sitzt auf meinem Kopfkissen und erinnert mich jedesmal an Manuel, wenn ich schlafen gehe." Das war ihr zwar gerade erst eingefallen, aber es hörte sich ziemlich glaubwürdig an, fand Anita. "Ja, wahrscheinlich hat er sich sowas auch dabei gedacht", stimmte ihr Ruth zu. "Wenn das nur nicht mehr zu bedeuten hat", orakelte sie. "Wer weiß", murmelte Anita nachdenklich. Glücklicherweise tauchte in dem Moment Gordy wieder auf, zwei Cola-Dosen mit Gläsern obendrauf vor sich her balancierend. Lächelnd nahm Anita ihm eine Dose ab. "Du, Anita, komm doch mal her." Cheryl und zwei Mädchen, die Anita nicht näher kannte, winkten ihr zu. Sie war neugierig, was sie wohl von ihr wollten und bahnte sich einen Weg durch die Grüppchen zu den dreien herüber. Sie bemerkte zu ihrem Ärger, daß Gordy bei Ruth stehenblieb. Erstaunlicherweise schien sie sich glänzend mit ihm zu unterhalten, denn sie lachte laut über seine Witze. "Anita, das ist Kim", stellte Cheryl eines der Mädchen vor. "Sie möchte etwas von deinem Brieffreund erfahren, diesem Manuel soundso." - 66 -
"Manuel Garcia", ergänzte Anita den Namen und war nun doch froh, daß Gordy bei Ruth geblieben war. "Schreibt er oft?" "Was erzählt man eigentlich einem Jungen, den man gar nicht kennt?" "Wie alt ist er?" wurde Anita von ihnen bestürmt. Geduldig gab sie Auskunft. "Hast du ein Bild von ihm?" wollte Kim wissen. "Klar." Anita genoß es ungemein, daß sich die anderen Mädchen so sichtlich für Manuel interessierten. "Ich habe es draußen im Flur." "Hol's mal her", baten die drei. "Wir sind irre gespannt, wie dein Freund aussieht." Anita nahm das Foto aus ihrer Geldbörse und schaute es kurz an. Sie hatte das Gefühl, Manuel würde nur sie anlächeln. Er schien ihr etwas mitteilen zu wollen. Was er wohl gerade macht? fragte sich Anita. Ob er vielleicht genauso an mich denkt wie ich an ihn? Manuel, warum bist du nur so schrecklich weit von mir entfernt? Sie steckte das Bild in ihre Hosentasche und ging zurück ins Wohnzimmer. Dabei fiel ihr Blick auf Gordy, der noch immer neben Ruth stand. Hoffentlich dreht er sich nicht ausgerechnet jetzt um, schickte Anita ein Stoßgebet zum Himmel. Sie hatte nämlich plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie In Gordys Gegenwart mit Manuel angab. Wenn Gordy es merkt, ist er sicherlich eingeschnappt, und das mit gutem Recht, dachte sie. Anita behielt Gordy genau im Auge, während ihre Schulkameradinnen in begeisterte ,Ahs' und ,Ohs' ausbrachen. "Der sieht ja wahnsinnig toll aus", schwärmte Kim. "Ist er groß?" „1,75m." "Nicht schlecht. Und er hat so aufregende schwarze Augen. Brennst du nicht darauf, ihn kennenzulernen?" „Hmm-hmm", antwortete Anita einsilbig, denn sie wurde allmählich unruhig. Sie wollte ihr Bild zurückhaben und das Thema beenden, bevor Gordy aufmerksam wurde. Mit einem Seufzer der Erleichterung nahm sie das Foto endlich wieder an sich.
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"Hey, was habt ihr denn da? Zeigt mal her!" meldete sich in diesem Augenblick Dolores Jamison, deren schrille Stimme alle aufhorchen ließ. Anita erstarrte vor Schreck, sah hoch und schaute Gordy direkt in die Augen. Sein Blick wanderte zu dem Bild in ihrer Hand und zu ihrem Gesicht zurück. Sicherlich ahnte er, um wen es ging. Verlegen lächelte Anita ihn an, und er grinste zu ihr herüber, aber seine Augen lachten nicht mit. Sie hätte sich ohrfeigen können, daß sie so blöd und eitel gewesen war, das Foto herumzuzeigen. Nun war der ganze Abend verdorben. Gordy sorgte zwar weiterhin ständig für Nachschub an Colas und Keksen, aber ansonsten schien er sich in Ruths Gesellschaft wesentlich wohler zu fühlen als in Anitas. Und Ruth, dieses Biest, die doch bisher noch nie ein nettes Wort über Gordy verloren hatte, kicherte bei seinen Scherzen die Tonleitern rauf und runter. Anita hätte gern mitgelacht, aber sie war andauernd von Mädchen belagert, die alles haargenau über Manuel wissen wollten. Sie war heilfroh, als Gordy sie endlich fragte, ob sie nach Hause fahren könnten. Die Rückfahrt verging rasch. Anfangs rechnete Anita noch ängstlich damit, daß Gordy ihr Vorwürfe machen würde. Aber er war unerwartet lustig und tat so, als sei nichts passiert. Allmählich taute auch Anita wieder auf. Vor ihrem Elternhaus kramte Gordy verlegen ein flaches Päckchen unter seinem Sitz hervor, das rührend ungeschickt eingewickelt war. "Ich wünsche dir fröhliche Weihnachten, Anita." Sie wurde knallrot. „O Gordy, danke... wie lieb von dir", stotterte sie. Und ich habe gar nichts für dich, schoß es ihr durch den Kopf. "Du darfst es aber erst Weihnachten auspacken, okay?" "Ach, wie schade. Ich bin doch immer so schrecklich neugierig." "So etwas Besonderes ist es nun auch wieder nicht", spöttelte er. "Darauf kannst du ruhig noch drei Tage warten." "Gut, ich warte bis Weihnachten - großes Ehrenwort." Es war Anita peinlich, daß sie kein Geschenk für Gordy hatte, - 68 -
aber sie nahm sich fest vor, ihn zu Neujahr mit einer hübschen Kleinigkeit zu überraschen. "Kommst du noch auf eine Cola mit rein?" bot Anita ihm an, als sie vor der Haustür standen. "Mami und ich haben Unmengen von Plätzchen gebacken. Sie warten nur darauf, gegessen zu werden." "Danke, heute nicht mehr. Mein Bedarf an Keksen ist gedeckt, und außerdem ist es ziemlich spät. Also dann, mach's gut und ein schönes Fest, Anita." Wie immer küßte er sie leicht auf den Mund und rannte dann zu seinem Auto zurück. Er winkte kurz, als er anfuhr und war im nächsten Augenblick verschwunden. Komisch, von Gordy hatte sie ein Weihnachtsgeschenk am allerwenigsten erwartet. Schon gar nicht, nachdem er sie während des Abends reichlich wenig beachtet hatte. Aber jetzt schien alles wieder in Ordnung zu sein. Verwirrt schüttelte Anita den Kopf, Jungen waren manchmal schwer zu verstehen. Sie schlüpfte ins Haus und legte das Päckchen zu den anderen unter den Weihnachtsbaum, der bereits seit Tagen festlich geschmückt im Wohnzimmer stand. Offensichtlich handelte es sich um ein Buch. Soviel hatte Anita durch Tasten und Drücken herausgefunden. Vermutlich waren es "Die hundert besten Witze des Jahres" oder so etwas Ähnliches. Das wäre typisch für Gordy. Auf jeden Fall würde Manuels Pandabär daneben ganz groß rauskommen. Am Weihnachtsmorgen ging es bei den Seagraves munter und fröhlich zu. Ralph hatte keine Ruhe gegeben, bis seine Eltern erlaubt hatten, daß er und Anita die Geschenke bereits vor dem Frühstück auspacken durften. Jean und William schlürften genüßlich ihre Tasse Kaffee und beobachteten lächelnd ihre Kinder, die in einem Wust von Papier saßen und mit glänzenden Augen die Päckchen öffneten. Ralph brach in wahre Begeisterungsstürme über ein neues Videospiel aus, das er sich brennend gewünscht hatte. Während der Rest der Familie mit Feuereifer das Spiel ausprobierte, angelte sich Anita Gordys Geschenk. Sie entfernte das zerknitterte Papier, und es kam ein Album mit - 69 -
Goldschnitt und einem Einband aus veilchenblauer Seide mit Streublümchen zum Vorschein. Es war sehr hübsch und sah direkt kostbar aus. Beschämt erinnerte sich Anita, was für einen schlechten Geschmack sie Gordy zugetraut hatte. "Für deine Gedichte", stand auf der beiliegenden Karte, sonst nichts.
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7. KAPITEL Kurz nach Weihnachten setzte sich Anita hin und schrieb Gordy einen kleinen Dankesbrief. Aber es kam keine Antwort. Gordy rief auch nicht an oder schaute bei Anita vorbei. Wenn er doch wegen Manuels Foto sauer auf mich ist, wieso schenkt er mir dann solch ein hübsches Album? rätselte sie. Und wenn er nicht böse ist, warum meldet er sich dann nicht? Sie konnte sich sein Schweigen einfach nicht erklären und wurde immer gereizter. Auch wenn sie es sich eingestehen wollte, sie vermißte Gordy. Darüber konnten ihr nicht einmal Manuelas Briefe ganz hinweghelfen. Um sich abzulenken, holte Anita sie ab und zu hervor und las sie erneut, den kleinen Bären und das Foto in Sichtweite. Diese drei Sachen waren das einzige, was sie von Manuel besaß, und sie zeigten ihr, daß er wirklich existierte, denn manchmal fürchtete Anita, sie hätte sich alles nur eingebildet. Doch so sehr sie sich auch in Manuels Anblick vertiefte, immer wieder schob sich seltsamerweise Gordys Bild dazwischen. "Verflixt, warum läßt sich der Kerl nicht blicken?" schimpfte sie vor sich hin. Die regnerischen Ferientage schlichen quälend langsam dahin, und Anita sehnte den Schulanfang herbei. Wenigstens im Unterricht würde sie Gordy wiedersehen. Wenn sie das überhaupt wollte. Manchmal wußte sie überhaupt nicht mehr, was sie wollte. Etwas Sinnvolles hatte sie während der freien Tage aber doch zustande gebracht. Sie hatte nämlich sämtliche Gedichte nach und nach in das neue Album übertragen - mit Füller! Die Anfangsbuchstaben hatte sie mit romantischen Schnörkeln verziert, und das Ergebnis war einfach super.
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Endlich waren auch diese Ferien zu Ende, in zwei Tagen sollte die Schule wieder losgehen. Eingedenk der vielen guten Vorsätze, die Anita wie üblich zu Jahresbeginn gefaßt hatte, beschloß sie in einem Anfall von Arbeitswut, ihr Zimmer aufzuräumen. Eifrig rannte sie mit Staubsauger und Wischtuch herum und trällerte einen Schlager dazu. Ihre Phantasie bekam Flügel. Anita dachte an den Frühling, der aus der grauen Stadt ein buntes Blumenmeer machen würde, und sie glaubte, bereits Vogelgezwitscher zu vernehmen. Endlich würde auch die Sonne wieder scheinen... Anita war mit ihrer Arbeit fast fertig und wollte gerade den Staubsauger aus dem Zimmer schieben, als ihr Blick auf Gordy fiel, der lässig im Türrahmen lehnte und sie durch die halboffene Tür beobachtete. "Hallo, wie geht's?" grinste er. Es dauerte eine ganze Weile, bis Anita ihre Sprache wiedergefunden hatte. "Weiß meine Mutter, daß du hier oben bist?" "Klar. Sie hat nichts dagegen, solange wir die Tür offenlassen." Anita verdrehte die Augen. Als ob sie hinter verschlossenen Türen irgendwas Verbotenes täten! "Keine Jungens in Mädchenzimmern! Das ist Mamis Devise. Mich wundert, daß sie dich überhaupt raufgelassen hat." "Ich glaube, bei deiner Mutter habe ich einen Stein im Brett", erklärte er selbstgefällig. "Sie mag meinen unwiderstehlichen Charme." "Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein." Kaum war er hier, brachte er sie schon auf die Palme. Zwei Wochen hatte er keinen Ton von sich hören lassen, und dann latschte er mit größter Selbstverständlichkeit einfach so in ihr Zimmer, als sei sie bloß sein Kumpel. Das ärgerte Anita furchtbar. Warum hatte sie nur darauf gewartet, daß er vorbeikam? Jetzt würde sie ihn am liebsten hinauswerfen. "Willst du eigentlich etwas Bestimmtes?" fragte sie daher kurz angebunden. "Du hast es erfaßt", bestätigte er. "Ich wollte sehen, wie sich die Gedichte in dem neuen Album machen." Damit schlenderte er zu ihrem Schreibtisch hinüber. - 72 -
Anitas Ärger legte sich allmählich wieder. Das mußte man Gordy lassen: Nicht einmal ihre beste Freundin Ruth interessierte sich in letzter Zeit so für Anitas Gedichte wie er. Er nahm ihre Arbeit wirklich ernst. Anita war froh, daß sie sich soviel Mühe mit der kunstvollen Abschrift gegeben hatte und präsentierte ihm das Album voller Stolz. "Das Album ist wunderschön, Gordy. Hast du eigentlich meinen Brief bekommen?" "Ja." Gordy blätterte in dem Album herum und las hier und da ein paar Zeilen. Anita trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, weil Gordy sich natürlich treffsicher die besonders romantischen Verse herauspickte. Doch zu Anitas Erleichterung machte er keine Bemerkung darüber. "Sieht ehrlich gut aus", meinte er anerkennend und gab ihr das Buch zurück. Anita fühlte sich zwar geschmeichelt, wollte aber lieber nicht näher auf die Gedichte eingehen. "Wie wär's mit einer Cola?" schlug sie daher ablenkend vor. "Gute Idee." Jean war dabei, die Küchenschränke auszuwaschen, als Anita und Gordy hereinkamen. Sie lächelte Gordy freundlich zu. "Sucht ihr Colas, Liebes?" fragte sie Anita. "Sie sind in der Speisekammer. Ich habe heute neue mitgebracht. Sieh auch gleich mal nach, ob Ralph noch Kartoffelchips übriggelassen hat..." "Das ist nicht nötig, Mrs. Seagraves", versicherte Gordy höflich. "Cola reicht." Junge, Junge, mit diesem Benehmen wickelst du Mami natürlich spielend um den Finger, dachte Anita. Die hält dich jetzt bereits für den Größten. "Freust du dich auf die Schule, Gordy?" fragte Anita mäßig interessiert, nur um etwas zu sagen. "Überhaupt nicht." Jean lachte. "Aber Anita lechzt geradezu danach, nicht wahr, Liebling? Soviel Trübsal wie diesmal hast du lange nicht geblasen."
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Besten Dank, liebe Mutter! Nun glaubt er bestimmt, ich habe jede Minute zu Hause gehockt und auf seinen Anruf gewartet. "Ich war bloß ein bißchen geschafft und hab mich gründlich ausgeruht", antwortete sie muffelig. Gordy sah sie zwar skeptisch an, hielt aber den Mund. Im nächsten Augenblick kam William Seagraves in die Küche, die Arme vollgepackt mit Einkaufstüten. "Da bin ich wieder, Liebling. Hallo, Gordy. Lange nicht gesehen. Wie geht's denn?" Gordy stand auf und schüttelte William höflich die Hand. "Danke, Mr. Seagraves. Ich war in der Nähe und wollte nur schnell ,Guten Tag' sagen." "Du bist jederzeit willkommen, Gordy. Ich hoffe, das weißt du. Hier, Anita, Post für dich." Er reichte ihr einen Luftpostbrief. Fast automatisch riß Anita den Umschlag auf, doch dann hielt sie erschrocken inne. Auch wenn es ihr noch so schwer fiel, ihre Neugier zu bezähmen, sie würde Manuels Brief ganz gewiß nicht in Gordys Gegenwart öffnen. Lächelnd legte sie den Umschlag mit der Adresse nach unten auf den Tisch. "Das hat Zeit." Gordy beobachtete sie gespannt. Er wußte natürlich genau, wie ungeduldig sie darauf wartete, Manuels Brief zu lesen. Ob er sich deshalb nicht von der Stelle rührte, dieses Ekel? Zwei Wochen habe ich umsonst auf deinen Besuch gewartet, doch jetzt bist du hier nicht länger erwünscht, hätte sie ihm am liebsten entgegengeschleudert. Als habe er ihren stummen Vorwurf verstanden, verabschiedete Gordy sich wirklich. "Ich möchte Sie nicht länger stören. Außerdem muß ich noch ein paar Besorgungen für meine Mutter machen." "Komm bald wieder mal vorbei", forderte Jean ihn auf. "Anita, bringst du Gordy bitte zur Tür?" Ihr Blick sprach ganze Bände an Ermahnungen. Als wäre er der Kaiser von China, schimpfte Anita lautlos in sich hinein. Nach unserem letzten Streit ist er ja auch einfach
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über die Küchenveranda verschwunden. Doch natürlich begleitete sie ihn wohlerzogen zur Haustür. "Nochmals vielen Dank für das Buch", sagte sie steif. "Schon in Ordnung." In der Tür blieb Gordy stehen, auf einmal schien er es gar nicht mehr so eilig zu haben. "Ich hab dir noch was Passendes dazu mitgebracht, aus Vancouver. Hab's nur heute vergessen." "Vancouver?" "Ja. Dad hat Urlaub genommen, und gleich nach Weihnachten sind wir rausgefahren. Gestern abend sind wir erst zurückgekommen." "Oh." Deswegen hatte er also nicht angerufen. Verlegen erinnerte sich Anita an die häßlichen Beschuldigungen, mit denen sie Gordy in Gedanken überhäuft hatte. "Das hast du aber mit keinem Wort erwähnt." "Du hast mich ja auch nicht danach gefragt', konterte Gordy augenzwinkernd. Er lehnte sich rasch vor und küßte sie leicht auf den Mund. "Also, tschüs dann bis Montag." Ehe sie etwas erwidern konnte, war er schon draußen. Nachdenklich starrte Anita vor sich hin. Ob er ihr absichtlich nichts von der Reise erzählt hatte, um zu sehen, wie sie reagierte, wenn er eine Weile nicht erschien? Zuzutrauen wäre es ihm, überlegte sie ärgerlich. Aber immerhin hatte er ihr etwas mitgebracht und sie nach seiner Rückkehr als erste besucht. Das zeigte doch, daß er sie mochte und an sie dachte. Geküßt hatte er sie schließlich auch. Anita schüttelte den Kopf. Gordys Verhalten war einfach zu verwirrend. Legte er es nicht manchmal geradezu darauf an, daß sie das Schlechteste von ihm annahm, obwohl sich später oft das Gegenteil als richtig erwies? Trotzdem hätte ich ruhig etwas netter zu ihm sein können, hielt sie sich vor. Merkwürdigerweise fühlte sie sich trotz dieser Selbstvorwürfe auf einmal locker und happy. Langsam schloß sie die Tür.
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Erst eine ganze Weile später fiel Anita wieder Manuels Brief ein. Wie konnte sie ihn nur über Gordy vergessen haben? Sie holte ihn aus der Küche und rannte die Stufen, immer zwei auf einmal nehmend, zu ihrem Zimmer hinauf. Wie schon die vorigen, war auch dieser Brief nur wenige Zeilen lang. Nach den üblichen Anfangssätzen, in denen sich Manuel erkundigte, wie es ihr und ihren Eltern ging, fuhr er fort: Vielen Dank für die Gedichte. Sie sind wunderschön! Gerade habe ich sie gelesen, zusammen mit Deine Briefe, und Dein Foto dabei angesehen. Ich denke: Gibt es Dich wirklich, oder träume ich Dich nur? Bin ich vielleicht verrückt? Manuel, mir geht es genauso wie dir. Auch wenn ich dein Bild vor mir habe, kommt mir alles so unwirklich vor, daß ich Angst habe, ich hätte mir nur eingebildet, daß es dich gibt. Wie wunderbar, daß du auch so empfindest. Noch etwas, was uns verbindet. Ich möchte Deine Briefe sehr, und ich glaube, ich habe mich in Dich verliebt. Du schreibst sehr nette Briefe, und mir gefällt es, wie du denkst. Können wir die besten Freunde sein, Anita? Schreib mir bald, was Du dazu meinst. Dies ist alles. Entschuldigung, daß es wieder so kurz ist. Dein Freund Manuel Garcia Anita war wie vom Donner gerührt. Manuel hatte ihr eine Liebeserklärung gemacht - die erste ihres Lebens. Es kam ihr so vor, als würde sie ihn schon seit ewigen Zeiten kennen, so vertraut war er ihr. Ich fühle es, daß du die Wahrheit sagst, jubelte es plötzlich in ihr. Heute weiß nur ich, daß wir uns unheimlich ähnlich sind. Aber gleich morgen werde ich dir schreiben, Manuel, und deine dummen Zweifel zerstreuen.
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Sie mußte die Neuigkeit unbedingt mit jemandem teilen. Warum nicht mit Mami? Es hatte sich bereits oft gezeigt, daß sie eine gute Freundin sein konnte. Doch auf dem Weg in die Küche überlegte sich Anita die Sache noch einmal. Wie sie ihre Mutter kannte, war diese keineswegs mit der rasanten Entwicklung der Dinge einverstanden und würde bestimmt mit William darüber reden. Seine Reaktion konnte Anita sich lebhaft ausmalen. Damit wären ihre ohnehin winzigen Chancen, nach Mexiko zu kommen, ein für alle Mal dahin. Sie schlich in ihr Zimmer zurück und ging im Geiste die Personen durch, denen sie solch ein tolles Geheimnis anvertrauen konnte. Eigentlich blieb nur Ruth übrig. Aber Anita würde sie erst nach dem Abendessen anrufen, wenn Mami und Daddy sich im Fernsehen die Nachrichten anschauten und sich nicht um ihre Tochter kümmern würden. Ruth nahm Anita jedoch schnellstens den Wind aus den Segeln. "Nach vier Briefen will er in dich verliebt sein, ohne dich je gesehen zu haben? Wenn du das glaubst, bist du naiver, als die Polizei erlaubt", erklärte sie schonungslos. Den ganzen Nachmittag hatte sich Anita selig in ihren Liebesträumen gesonnt, nun war sie mit einem Schlag ziemlich ernüchtert. "Ich kann es dir auch nicht erklären", verteidigte sie sich. "Es ist einfach so ein Gefühl, daß er es ernst meint." "Und was ist mit Rose?" stichelte Ruth. "Sie ist eine Schulfreundin, das ist alles", erwiderte Anita kühl. Daß Ruth aber auch immer gleich den wunden Punkt fand! "Manuel hat mir übrigens ein Gedicht geschickt, in Spanisch. Er hat es selbst geschrieben. Willst du es hören?" Die Verse standen auf einem Extrazettel, den Anita erst entdeckt hatte, als sie den Brief in den Umschlag zurücksteckte. Es war recht schwierig gewesen, das Gedicht zu übersetzen. Wenn du mich eines Tages so liebst, Wie ich Dich jetzt schon liebe, Dann machst du mich – So kann ich Dir beteuern – - 77 -
Zum glücklichsten Menschen Auf dieser weiten Erde. "Nicht gerade besonders originell, finde ich", lautete Ruths Kommentar. "Manuel hat es in spanisch geschrieben. Du kannst ihn schließlich nicht für meine schlechte Übersetzung verantwortlich machen", rief Anita aufgebracht. "Was ist eigentlich los mit dir? Du scheinst dich überhaupt nicht für mich zu freuen." "Doch, doch", gab Ruth zögernd zu, ihre Stimme klang jedoch äußerst skeptisch. "Aber die Sache mit dem Pandabären hat mir die Augen geöffnet." "Was soll das heißen?" "Überleg mal selbst." Ruth war die Geduld in Person. "Meinst du nicht, daß ein wunderschönes Album für deine Gedichte mehr Bedeutung hat als ein kindisches Stofftier?" "Ich hätte nie gedacht, daß du so gemein sein kannst", schluchzte Anita auf. "Bisher hatte ich immer geglaubt, daß du meine Freundin bist." "Das bin ich auch, Anita, und es war wirklich nicht böse gemeint. Ich begreife nur nicht, wie du so blind sein kannst. Gordy nimmt deine Gedichte ernst. Sie sind ihm sogar wichtig genug, daß er sich die Mühe macht, ein besonders hübsches Album dafür auszusuchen. Für Manuel dagegen bist du ganz einfach noch ein kleines Mädchen." "Dem man Liebesbriefe schreibt? Quatsch! Diese Vergleicherei von Geschenken ist absolut idiotisch. Ich finde den Panda süß, ganz gleich, was du mir einzureden versuchst." "Mach, was du willst. Doch an deiner Stelle würde ich Gordy nicht ganz fallenlassen, er ist nämlich tatsächlich gar nicht übel." So offen hat Ruth noch nie Partei für ihn ergriffen, wunderte sich Anita. Woher wehte auf einmal dieser neue Wind? "Außerdem ist er ein Junge aus Fleisch und Blut - nicht nur ein Foto", fuhr Ruth fort. "Denk dran, bald ist Valentinstag. Willst du etwa allein feiern?"
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Völlig verwirrt hängte Anita kurze Zeit später ein. Diese Gesinnungsänderung hatte sie von Ruth am wenigsten erwartet. Wo war ihre Begeisterung für Manuel geblieben? Grübelnd blieb Anita noch eine Weile neben dem Telefon stehen. Natürlich würde sie mit Gordy nicht völlig Schluß machen, schon gar nicht nach seinem heutigen Besuch. Sie hatte ihn immer für ziemlich cool gehalten, aber offensichtlich hatte er doch Sinn für Romantik. Ihre Gedichte schienen ihm gefallen zu haben und ebenso die Art, wie Anita sie eingetragen hatte. Außerdem hatte Ruth recht, man mußte auch praktisch denken. Der Valentinstag stand vor der Tür. Während die unterschiedlichsten Gedanken durch ihren Kopf schossen, kam ihr auf einmal eine grandiose Idee, und sie stürmte zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. "Mami, meinst du, ich darf eine Valentinsparty geben?" Jean war sofort einverstanden. Sie liebte Partys und hatte Anita schon oft vorgeschlagen, ein paar Freunde nach Haus einzuladen. "Ich freue mich, Nita. An wieviele Personen hattest du denn gedacht?" "Wahrscheinlich zwölf, ohne Gordy und mich. Wäre dir der Samstag vor Valentin recht?" "Das ist prima. Lade nur alle frühzeitig ein, damit sie nicht bereits etwas anderes vorhaben." Anita war Feuer und Flamme für ihren Einfall. In Sekundenschnelle überschlug sie, daß ihr Taschengeld gerade noch für einen neuen Kleiderstoff ausreichen würde. Da sie geschickt mit der Nähmaschine umgehen konnte, würde das Nähen kein Problem sein. In Gedanken fing Anita an, das Wohnzimmer umzuräumen, damit sie Platz zum Tanzen hatten. Sie stellte sich den Abend ganz romantisch vor, mit vielen Kerzen und stimmungsvoller Musik. Gordy sollte aus dem Staunen nicht herauskommen, was für eine phantastische Gastgeberin sie sein konnte. Plötzlich merkte Anita, daß sie noch immer Manuelas Brief in der Hand hielt. Was war nur in sie gefahren? Sie stand hier und zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie Gordy beeindrucken konnte. Sie wollte ihn nämlich nicht verlieren, - 79 -
soviel war ihr klar geworden, als er sich in den vergangenen zwei Wochen nicht hatte blicken lassen. Dennoch gehörte ihre ganze tiefe Zuneigung Manuel. Spielte sie vielleicht ein bißchen mit dem Feuer? Anita lud Gordy und noch sechs andere Paare ein. Jeder fand die Idee super und sagte begeistert zu. Da sie alle zusammen Spanischunterricht hatten, kam Anita der Gedanke, die Party mexikanisch aufzuziehen. Das würde der ganzen Sache einen besonders originellen Dreh geben und hoffentlich verhindern, daß ihr Fest zu einer der üblichen langweiligen und saloppen Jeans-Versammlungen abfiel. Cheryls Party neulich war auch etwas Besonderes gewesen, und was Cheryl zustande brachte, konnte sie auch. Gordy, den sie wegen der Vorbereitungen ins Vertrauen gezogen hatte, sah skeptisch aus. Anita fürchtete schon, er würde alles als ihren mexikanischen Tick miesmachen, aber er hielt eisern den Mund. Erst ihr Vorschlag, lediglich kleine verzierte Kuchen und herzförmige Lutscher als Essen anzubieten, riß ihn aus seiner Schweigsamkeit. "Mach dich bloß nicht lächerlich, Anita. Du mußt den Jungs schon was Handfestes anbieten, sonst sind sie um fünf nach acht wieder draußen." Wahrscheinlich hatte Gordy recht, auch wenn sie das nur unwillig zugab. Also verwarf sie diesen Plan wieder und bereitete zusammen mit ihrer Mutter einen Avocado-Dip vor. Die dazugehörigen Tacos - knusprige Fladen - sollte sich jeder selbst in einer speziellen Pfanne backen, was hoffentlich allen Spaß machen würde. Eins hatte sich Anita jedoch nicht nehmen lassen: Ihre kleinen Torten. Die halbe Nacht vor der Party verbrachte sie in der Küche, um die Kuchen zu backen und zu verzieren. Als letztes mußte noch das Wohnzimmer dekoriert werden. Schon vor Tagen hatte Anita Herzen aus rotem Kreppapier ausgeschnitten und alte
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Weinflaschen mit Wachsresten betropft - als urige Kerzenhalter. Die Herzen nähte Anita auf einen alten breitkrempigen Filzhut ihrer Mutter - eine Art Sombreroersatz und hängte ihn als Blickfang gegenüber der Tür auf. In einem Reisebüro hatte Anita einige traumhafte Plakate von Mexiko aufgetrieben, die sie anstelle von zwei Ölschinken ihrer Eltern an die Wände pinnte. Das Tüpfelchen auf dem i war jedoch die alte Gitarre, die William großzügig als Dekoration zur Verfügung gestellt hatte. Zufrieden mit ihrem Werk sah sich Anita um und fand, die Arbeit hatte sich gelohnt. "Die Party muß ein Erfolg werden", nahm sie sich fest vor. Einen Reinfall wollte sie sich vor Gordy einfach nicht leisten. Plötzlich verstand sie nicht mehr, wie sie den Mut aufgebracht hatte, dreizehn Leute zu sich nach Hause einzuladen. Welche Verantwortung hatte sie sich da aufgehalst? Doch nun war es zu spät. Jetzt gibt's nur noch eins, Anita, beschwor sie sich: Mach die Augen zu und stürz dich voll hinein! Bevor sie hinunterging, blickte sie etwas unsicher an sich herab und fand sich eigentlich ganz passabel in ihrer weißen Folklorebluse und dem neuen roten Rüschenrock. Ich sehe fast aus wie ein Reklamebild von Mexiko, dachte sie ironisch. Nur die braunen Haare und die helle Haut stimmen nicht. Mal sehen, ob es Gordy gefällt. Seit Schulbeginn hatten sie sich wieder regelmäßig samstags getroffen. Meistens waren sie ins Kino gegangen und anschließend in ein Pizzalokal. Es war zwar immer dasselbe, aber es wurde Anita seltsamerweise nicht langweilig. Bei ihrer ersten Verabredung hatte Gordy ihr ein zauberhaftes besticktes Lesezeichen für ihr Album mitgebracht, das Geschenk aus Vancouver. Gerade Gordy hätte sie nie zugetraut, so etwas Hübsches überhaupt zu finden. Ansonsten gab es in ihrer Freundschaft keine besonderen Höhepunkte. Gordy spielte Anita in der Schule nach wie vor Streiche, kritisierte gelegentlich ihre Gedichte, und sie beschimpfte ihn deswegen. Doch das waren alles nur Frotzeleien, keine ernsthaften Kräche. - 81 -
Ein Thema hatten sie aus ihren Gesprächen vollkommen ausgeklammert: Manuel. Gordy erwähnte ihn mit keinem Wort mehr und Anita ebenso wenig. Sie hatte gelernt, beiden einen Platz in ihren Gedanken zu geben, fein säuberlich voneinander getrennt. Manuel liebte sie, das stand fest, aber zeitweise schien er so weit entfernt und unwirklich, daß es gut war, sich an den durchaus greifbaren Gordy halten zu können. Bisher hatte sie Manuels Brief noch nicht beantwortet, obwohl sie bereits ein paarmal damit angefangen hatte. Immer, wenn sie ihm versichern wollte, daß sie ihn auch liebe, blieb sie hängen. Sie war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß sie nicht wirklich in jemanden verliebt sein konnte, dem sie noch nie persönlich begegnet war. "Anita, die ersten Gäste kommen", riß ihre Mutter sie aus ihren Gedanken. Anita stürmte nach unten. Das mußten 'Ruth und Jeffrey sein. Sie wollten früher kommen als die anderen und Platten mitbringen. Anita besaß fast nur Gitarrenmusik. Das den ganzen Abend, war vielleicht doch für einige Gäste schwer zu ertragen. Sie öffnete, und Gordy kam herein. "Hallo, Baby", begrüßte er sie lässig. Und ehe Anita sich von ihrer Überraschung erholt hatte, zauberte er eine herzförmige Pralinenschachtel hinter seinem Rücken hervor. Anita wurde rot vor Freude. "Danke, Gordy, das ist aber wirklich nett." "Das klingt ja gerade so, als hättest du das von mir am wenigsten erwartet", meinte er mit gespielter Entrüstung. "Nein, nein", versicherte Anita rasch. Hoffentlich hörte es sich überzeugend an, denn sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, daß Gordy ihr etwas mitbringen würde, noch dazu ihre Lieblingspralinen. Auch die Box mit den kleinen roten und weißen Herzen oben drauf war entzückend. "Spitze", rief Gordy begeistert aus, als er ins Wohnzimmer kam. Zu Williams heimlichem Entsetzen hatte Anita darauf bestanden, den ganzen Raum nur mit Kerzen zu beleuchten, mit Ausnahme der kleinen Eßtischlampe. Man sollte schließlich sehen, was es zu essen gab. Sicherheitshalber hielt - 82 -
William ein paar Eimer Wasser im Arbeitszimmer bereit. Für alle Fälle. "Gefällt's dir?" fragte Anita voller Stolz. "Und ob'" Gordy schaute sich um, und sein Blick blieb an ihr hängen. "Du übrigens auch, Señorita." Anita lachte und rannte zur Haustür. Ruth und Jeffrey standen draußen, mit Plattenalben bepackt. Anita zu Ehren hatte Ruth sogar einen Rock angezogen, aber man sah ihr an, daß ihr Hosen normalerweise lieber waren. "Hoffentlich weißt du dieses Opfer zu würdigen", meinte sie lachend. Schlag auf Schlag trafen die anderen Gäste ein, Audrey Bell erschien mit Steve McKenzie und Cheryl mit Keith Harmon. Plötzlich bekam Anita weiche Knie. Was war, wenn sich jetzt alle erwartungsvoll ins Wohnzimmer setzten und es ihr überließen, sie zu unterhalten? Mußte sie womöglich doch noch diese gräßlichen Partyspiele veranstalten, die sie so verabscheute? Aber ihre Sorgen waren überflüssig, alles ließ sich bestens an. Jean kam herein und brachte Colas und Eis. Sie kannte die meisten der Jungen und Mädchen wenigstens flüchtig. "Unsere letzte Stromrechnung war so hoch, daß wir jetzt sparen müssen", erklärte sie augenzwinkernd die vielen Kerzen. Dann zog sie sich vor den Fernseher zurück. Damit war die Atmosphäre gelockert. Jeder bewunderte die hübsche Dekoration und stürzte sich dann auf das Essen und die Colas. Die vierzehn herzförmigen Kuchen waren eine regelrechte Attraktion. „O, Anita, wie entzückend. Hast du die ehrlich selbst gemacht?" wollte Audrey Bell wissen. "Ja, ja, geht ganz einfach", gab Anita lässig zurück. Du brauchst ja nicht zu wissen, wie weh mir Rücken und Arme getan haben. Fünf Stunden habe ich wie eine Irre in der Küche geschuftet. Doch dieses Lob von Audrey belohnte sie für die Arbeit. Anita war eine geschickte Gastgeberin und sorgte dafür, daß ihre Gäste sich wohl fühlten. Ständig schaffte sie neue Colas und Dips heran, und was sonst noch fehlte. Sie spürte dabei, daß Gordys Blicke ihr folgten, obwohl er sich scheinbar - 83 -
angeregt mit Ruth und Jeffrey unterhielt. Alle Verkrampftheit fiel auf einmal von ihr ab und sie fühlte sich leicht wie eine Feder. Bereits nach kurzer Zeit war die Party in vollem Gange. Es wurde gelacht, Witzeleien flogen hin und her, und trotz des Gedränges wurde sogar getanzt. Ruth und Jeffrey hatten gerade ihre Lieblingsplatte von Barry Manilow aufgelegt. Wie kann man solche Schnulzen bloß toll finden? dachte Anita. Aber als Gordy sie plötzlich in die Arme nahm und sanft im Takt hin- und herwiegte, fand sie die Musik auf einmal gar nicht mehr so übel. Anita hatte zwei linke Füße, das wußte sie. Doch Gordy lag der Rhythmus offenbar im Blut, und seltsamerweise übertrug sich seine Sicherheit auch auf Anita. Wieder etwas, worin ich ihn unterschätzt habe, mußte sie zugeben. Dann wollte sie nicht weiter nachdenken, schloß einfach nur glücklich die Augen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Auch als die Musik zu Ende war, tanzten sie noch traumverloren weiter. Erst Cheryl riß sie aus ihrer Versunkenheit. "Du, Anita, was gibt's eigentlich Neues von deinem sagenhaften Mexikaner?" dröhnte sie los. "Hat er dir schon wieder geschrieben?" Anita erstarrte, während Gordy sie wütend und enttäuscht anblitzte. "Entschuldige bitte", meinte er leise und ließ sie einfach stehen. Ich muß sie schnell loswerden, dachte Anita, dann kann ich vielleicht noch etwas retten. "Nein", erwiderte sie deshalb betont langweilig. Aber sie hatte nicht mit Ruth gerechnet, die alles mit angehört hatte und nun herüberkam, um ihr Wissen zu verbreiten. "Anita, gib es doch zu, daß er geschrieben hat", widersprach sie laut. "Es war sogar ein Liebesbrief. Warum machst du so ein Geheimnis daraus?" "Einen Liebesbrief? Ich werde verrückt", schwärmte Cheryl. "Du bist wirklich ein Glückspilz, Anita. Und dieser Manuel sieht auch noch Spitze aus", berichtete sie Audrey. - 84 -
Aus allen Ecken wurde sie mit Fragen bestürmt, und während sie nur zögernd antwortete, half Ruth bereitwillig aus. "Du, Anita, heirate diesen Typen und laß dir zur Hochzeit ein Haus am Meer schenken. Wir leisten dir dann Gesellschaft", lachte Keith. Selbst die Jungen glaubten, ihren Kommentar dazu abgeben zu müssen. Gordy hatte sich mit ein paar Freunden zum Kartenspiel in eine Ecke verzogen. Obwohl er so tat, als sei er total in das Spiel vertieft, war Anita überzeugt, daß er jedes Wort mitkriegte. Sollte sie zu ihm hingehen und versuchen, ihm alles zu erklären? Eigentlich gab es ja gar nichts zu erklären. Manuel war nun mal in sie verliebt, ob es Gordy paßte oder nicht. Außerdem schien Anita für ihn jetzt nicht mehr vorhanden zu sein. Und das, nachdem der Abend so verheißungsvoll angefangen hatte. Vor lauter Verzweiflung begann Anita, leere Flaschen und Teller einzusammeln und in die Küche zu bringen. Jeder außer ihr schien sich glänzend zu amüsieren. Die Stimmung wurde immer ausgelassener, es wurde gequietscht und gelacht. Die Party war ein absoluter Hit. Hin und wieder quälte sich Anita ein Lächeln ab, aber meistens bewegte sie sich wie eine hölzerne Puppe zwischen ihren übermütigen Gästen." Kurz vor Mitternacht stand Wendy Berringer endlich als erste auf, um ihren Vater anzurufen. Sofort ließ Gordy die Karten fallen und bot Wendy an, sie mitzunehmen. Offensichtlich hatte er nur auf eine Gelegenheit gewartet, um unauffällig verschwinden zu können. "Für mich wird's auch Zeit. Habe morgen 'ne Menge zu tun." "Tolle Party, Anita", bedankte sich Wendy. "Wirklich Klasse." Gordy nickte Anita lediglich knapp zu, und schon war er draußen. Anita traten Tränen in die Augen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Sie konnte doch nicht vor allen losheulen.
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Ruth kam zu ihr auf den Flur heraus. "Hoffentlich habe ich dich nicht in die Pfanne gehauen?" erkundigte sie sich ein wenig schuldbewußt. "Vergiß es", erwiderte sie kühl. "War Gordy ehrlich sauer?" "Das ist mir egal, Ruth." Nach und nach verabschiedeten sich alle Gäste. Mitternacht war längst vorbei, und Anita war hundemüde. Sie warf einen raschen Blick auf das totale Chaos im Wohnzimmer und schloß dann schnell die Tür. "Sie sind alle gegangen, und ich bin völlig erledigt. Kann ich morgen früh aufräumen?" Anita steckte nur den Kopf ins Arbeitszimmer, wo ihre Eltern noch immer vor dem Fernseher saßen. "Natürlich. Wie war's denn? Erzähl mal", wollte Jean wissen. "Ganz phantastisch. Danke nochmals, Mami. Alles weitere beim Frühstück, okay? Gute Nacht." Damit war sie wieder draußen. Auf dem Flur entdeckte sie Gordys Pralinenschachtel und nahm sie mit. Wenigstens etwas, woran sie sich festhalten konnte. Müde stieg sie nach oben und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf. Die Schokoladenbox neben sich, setzte sie sich ins Bett. Zumindest seine Pralinen waren erstklassig, das mußte sie zugeben. Während sie eine nach der anderen in sich hineinstopfte, grübelte sie über Gordys Verhalten nach und wurde immer wütender. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, sie so mies zu behandeln? Dieser unverschämte Klotz! Immerhin war er Gast in ihrem Haus gewesen und hatte ihre leckeren Sachen gegessen - sogar die kleine Torte hatte er verschlungen! Konnte sie da nicht ein Mindestmaß an Höflichkeit von ihm erwarten? Wie konnte Gortdy nur auf jemanden eifersüchtig sein, der so weit entfernt wohnte? Alles, was sie und Manuel taten, war miteinander reden, bloß eben per Brief. Sie würden sich wahrscheinlich niemals persönlich kennenlernen, geschweige - 86 -
denn jemals küssen. Mit Gordy dagegen ging sie jeden Samstag aus. Er war ganz klar im Vorteil, doch offenbar sah er rot, wenn er nur den Namen "Manuel" hörte. Einen Moment lang erinnerte sich Anita daran, wie glücklich sie gewesen war, als sie mit Gordy getanzt hatte. Und ihm schien es auch gefallen zu haben. Wie konnte er sich nachher nur so eklig benehmen? Aber sie würde, sich nicht unterkriegen lassen, von Gordy schon gar nicht. Wenn er meinte, er könne ihr vorschreiben, mit wem sie sprach oder Briefe austauschte, dann konnte er gleich für immer verschwinden.
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8. KAPITEL Am Montag fehlte Gordy im Spanischunterricht. Hat er sich Manuels Liebeserklärung etwa derartig zu Herzen genommen?, überlegte Anita erschrocken. Mrs. Mason gab ihnen eine schriftliche Aufgabe und verließ dann den Raum, um auf dem Flur mit einem anderen Lehrer etwas zu besprechen. Ruth und Anita waren in zehn Minuten mit der Übersetzung fertig und unterhielten sich dann leise. "Vielleicht ist er immer noch so sauer auf dich, daß er lieber die Schule schwänzt, als dich zu treffen", versuchte Ruth eine Erklärung zu finden. "Er hat nicht den geringsten Grund, böse zu sein. Es ist schließlich meine Angelegenheit, wem ich schreibe." Anita war noch immer sauer. Das unaufgeräumte Wohnzimmer hatte ihre Wut von neuem geweckt. Alle hatten sich auf ihrer Party prima unterhalten und Anita auch begeistert gelobt. Doch was hatte sie von ihrem Fest schon gehabt? Nichts als Ärger. Außerdem hatte sie noch allein saubermachen müssen. Dafür war der ganze Sonntagvormittag draufgegangen. "Es war alles meine Schuld", gab Ruth kleinlaut zu. "Ehrlich gesagt wollte ich Gordy mit Manuel eifersüchtig machen. Ich dachte, er kümmert sich dann noch mehr um dich. Daß der Schuß nach hinten losging, konnte ich doch auch nicht ahnen. Es tut mir wirklich so leid, Nita." Anita seufzte erleichtert auf. Sie hatte allen Ernstes den Verdacht gehabt, daß Ruth Gordy und sie auseinanderbringen wollte. Ruth - ihre beste Freundin! Das hätte sie fast noch mehr schockiert als Gordys idiotisches Verhalten. Doch zum Glück war das Mißverständnis ja jetzt geklärt. "Ist schon gut. Gordy soll sehen, wie er damit fertig wird", meinte sie. "Ich lauf ihm nicht hinterher."
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"Sicher, du hast ja Manuel. Hast du ihm endlich geantwortet?" "Ja, gestern. Aber frag nicht, wie lange ich an dem Brief gesessen habe. Sage und schreibe drei Stunden. Irgendwie konnte ich mich nicht überwinden, ihm eine direkte Liebeserklärung zu machen. Ich hab's lieber sanft umschrieben, seinen Fleiß in der Schule bewundert, sein Gedicht und die vielen Sportarten..." "Das ist echt gut. Laß ihn ruhig über deine Gefühle nachgrübeln, umso mehr interessiert er sich für dich. Außerdem: Kannst du wirklich in einen Jungen verliebt sein, den du noch nie gesehen hast?" "Ich glaube es auch nicht. Deshalb hatte ich ja solche Schwierigkeiten mit dem Brief. Denn vor den Kopf stoßen wollte ich Manuel natürlich nicht, dazu mag ich ihn viel zu gern." Anita war froh, daß sie sich endlich aufgerafft hatte, Manuel zu schreiben. Wenn Gordy ihre Brieffreundschaft nicht akzeptieren wollte, sollte er sehen, wo er blieb. Seltsamerweise machte ihr der Unterricht jedoch heute längst nicht soviel Spaß wie sonst. Gordys witzige Kommentare fehlten ihr. Gordy erschien auch an den nächsten Tagen nicht, und allmählich fing Anita an, sich Sorgen zu machen. Ob er etwa krank war? Es fiel ihr plötzlich ein, daß er bei ihrer Party nur ein dünnes Hemd ohne Jacke getragen hatte. Vielleicht hatte er sich eine Erkältung geholt, als er durch den strömenden Regen gelaufen war. Hoffentlich war es nicht noch etwas Schlimmeres? Anita konnte sich nicht erinnern, daß Gordy jemals wegen eines Schnupfens in der Schule gefehlt hatte. Am Mittwochabend saß sie am Schreibtisch und versuchte, Verse für Norbert Tandy aufs Papier zu bringen. Aber statt sich auf ihr Gedicht zu konzentrieren, sah sie in ihrer lebhaften Phantasie, wie Gordy sich fiebernd im Bett hin- und herwälzte. "Anita", rief ihre Mutter, "Besuch für dich." Wer konnte das sein? Anita rannte die Treppe herunter.
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"Es ist Gordy", erklärte Jean. "Ich habe ihn ins Arbeitszimmer geschickt." Ausgerechnet heute habe ich natürlich meine ältesten Jeans an, schoß es Anita durch den Kopf. Ich sehe bestimmt total schlampig aus. Aber sie konnte sich doch jetzt nicht mehr umziehen, Gordy hatte sie sicher schon kommen hören. Als sie ins Zimmer kam, klopfte er Ralph gerade wie ein großer Bruder aufmunternd auf die Schulter. "Du mußt im Frühjahr unbedingt ins Fußballtraining gehen. So wie du gebaut bist, schaffst du das spielend." Ralph strahlte ihn dankbar an. Endlich jemand, mit dem man sich vernünftig unterhalten konnte! "Also dann bis später", verabschiedet Gordy ihn. "Ich habe was mit deiner Schwester zu besprechen." Doch Ralph rührte sich nicht von der Stelle, und seine Ohren schienen förmlich zu wachsen. Anita störte das jedoch offensichtlich nicht. Was Gordy ihr zu sagen hatte, konnte getrost jeder hören. "Kann ich dich vielleicht allein sprechen?" fragte Gordy leicht ungeduldig. Das mußte ja etwas Wichtiges sein! "Okay, komm mit in die Küche." Anita verteilte Colas und setzte sich an den Tisch. Gordy nahm ihr gegenüber Platz, und erst jetzt merkte sie, wie blaß er aussah. Trotz seines unmöglichen Benehmens am Samstag tat er ihr plötzlich leid. "Warst du krank?" erkundigte sie sich beiläufig und hoffte, daß es nicht zu mitfühlend klang. "Hmm. Irgendein Bazillus. Ist aber nicht mehr ansteckend. Morgen komme ich wieder in die Schule." "Solltest du dich dann nicht besser heute noch ausruhen, statt draußen herumzuspazieren?" Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Er muß ja annehmen, ich sei richtig besorgt um ihn, dachte Anita ärgerlich. "Ich habe mich rausgeschlichen, heute soll ich nämlich wirklich noch nicht aufstehen", gab Gordy zu und grinste
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schief. "Wenn Mom mich erwischt, wird sie bestimmt ein Riesen-Theater machen." Anitas Puls klopfte plötzlich schneller. Gordy hatte sich, noch etwas wacklig auf den Beinen, von zu Hause fortgestohlen, nur um sie zu besuchen... "Ich wollte mir die Spanischaufgaben holen", fuhr Gordy fort. "Schätze, daß ich einiges nacharbeiten muß." Ach, das war's, und ich dumme Gans hatte mir schon sonst was eingebildet, ärgerte sich Anita enttäuscht. Aber natürlich, was sollte ihn sonst noch an mir interessieren, nach der schrecklichen Party? "Ich habe das Heft in der Schule gelassen", antwortete sie patzig. "Du mußt jemand anderes fragen." "Warum bist du denn auf einmal so wütend?" Gordys Stimme klang ganz tief und weich, und seine Augen leuchteten ungewöhnlich warm. Anita war den Tränen nahe. "Glaubst du, ich hätte keinen Grund dafür?" flüsterte sie. "Entschuldigung, Anita. Ich weiß, daß ich mich ziemlich blöd benommen habe am Samstag, und es tut mir ehrlich leid. Vermutlich bin ich einfach durchgedreht, als Ruth das erzählte," Er sah Anita fest in die Augen. "Daß der Mexikaner in dich verliebt ist." Also ist er tatsächlich eifersüchtig! Bisher hatte Anita es nur vermutet, aber jetzt hatte sie den Beweis. Ihr wurde ganz heiß vor Aufregung. Auf die Idee, daß er sich wirklich etwas aus mir macht, wäre ich nie gekommen. "Ich kann Manuel schließlich nicht vorschreiben, welche Gefühle er haben darf und welche nicht." So leicht wollte sie es Gordy nicht machen, ein bißchen konnte sie ihn ruhig noch zappeln lassen. "Hast du ihm geschrieben, daß du auch in ihn verliebt bist?" fragte Gordy leise. Das war direkt! Merkwürdigerweise nahm Anita ihm das nicht einmal übel. Sie schüttelte den Kopf. "Nein." "Kommst du am Samstag mit ins Kino?" Anita starrte Gordy entgeistert an. "Du hinterhältiger Schuft!"
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Sie griff nach einem Topflappen und warf ihn Gordy an den Kopf. "Mich so an der Nase herumzuführen. Du hast vielleicht Nerven!" Gordy fing den Lappen geschickt auf. "Ich wollte erst mal abklären, wie es mit euch steht, bevor ich dich wieder einlade", verteidigte er sich lachend. "Wozu soll ich was in dich investieren, wenn du längst einen anderen liebst." Er lächelte sie herausfordernd an. "Nun weißt du's. Was hättest du gemacht, wenn ich Manuel mit ja geantwortet hätte?" erkundigte sie sich scheinheilig. Gordy wurde einen Moment lang ernst. "Ich wünschte, du könntest ihn vergessen." Nie und nimmer, schwor sich Anita. Ablenkend meinte sie: "Was ist nun mit den Hausaufgaben? Willst du sie haben oder nicht?" "Du hast sie doch nicht hier, denke ich", stichelte er freundschaftlich. "Ich warte übrigens noch immer auf eine Antwort wegen Samstag." "Natürlich komme ich mit, Gordy." Warum sollte sie nicht mit ihm ins Kino gehen? "Dann bist du mir also nicht mehr böse?" "Im Augenblick nicht. Aber ich wette, du schaffst es, mich bald wieder auf die Palme zu bringen", lächelte Anita zuckersüß. Gordy stand auf, irgendwie schien er erleichtert zu sein. "Okay, ich laß mir was Spezielles für dich einfallen!" Sie gab ihm einen spielerischen Stoß in die Rippen und ging vor ihm her zur Tür. "Nimm zwei Aspirin, wenn du zu Hause bist." Gordy schlug die Hacken zusammen und tippte sich salutierend an die Stirn. "Sehr wohl, Frau Doktor, ganz wie Sie befehlen." Anita mußte lachen. Das war wieder der alte Gordy. "Wann kommst du in die Schule zurück?" "Morgen wahrscheinlich." Er blickte rasch nach links und rechts, um sicher zu gehen, daß sie allein waren. Dann zog er Anita an sich und gab ihr einen langen, zärtlichen Kuß.
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Sekunden später hörte sie, wie er sein Auto anließ und losbrauste. Wie benommen ging Anita in die Küche, um die Gläser und Coladosen wegzuräumen. Gordy war einfach unberechenbar. Nach all den mehr brüderlich-freundschaftlichen Küssen der letzten Monate und dem frostigen Abschied nach ihrer Party hatte sie mit solch einem Kuß überhaupt nicht gerechnet. Er war anders als der erste, aber er hatte dieselbe Wirkung auf sie: Weiche Knie und wildes Herzklopfen. Ein Blick auf die Uhr machte Anita stutzig. Es war schon fast neun. Gordy hätte also gar keine Zeit mehr gehabt, seine Aufgaben zu machen. Als guter Schüler konnte er es sich außerdem leisten, die Hausarbeiten später nachzureichen, und zudem war Gordy nicht der Typ, der sich um so etwas übertrieben Sorgen machte. Also war er nur gekommen, um sie zu sehen. Gordy wollte sich entschuldigen und sie einladen. Plötzlich sah die Welt wieder viel freundlicher aus. Anita wartete schon ungeduldig auf das Wochenende. Sie freute sich sehr darauf, mit Gordy auszugehen. Doch den Gordy, der sie zärtlich in die Arme genommen hatte, erlebte sie nicht mehr. Auch an den folgenden Samstagen änderte sich das nicht. Manchmal unterhielten sie sich ernsthaft, manchmal alberten sie nur herum, und nicht selten endeten ihre Abende mit einem kleinen Streit. Irgendwie schien alles wie früher zu sein, und doch war es nicht dasselbe. Damals war Anita damit zufrieden gewesen, aber jetzt wußte sie, daß Gordy auch anders sein konnte. Warum sah er sie nicht mehr zärtlich an und zog sie an sich, wenn sie sich verabschiedeten, wie er es an jenem Abend nach seiner Krankheit getan hatte? Darauf wartete Anita, nicht auf seine belanglosen, flüchtigen Abschiedsküsse. Hatte sie irgend etwas falsch gemacht, ohne es zu wissen? Wahrscheinlich ist es das Beste, keine romantischen Liebeserklärungen von ihm zu erwarten, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden, schwor sie sich. - 93 -
Für ihre Träume gab es immer noch Manuel, auch wenn er sich diesmal mit seiner Antwort ziemlich lange Zeit ließ. Anita wurde immer unruhiger. Vielleicht hatte er ihr mit seiner Liebeserklärung nur schmeicheln wollen und war nun bestürzt, daß sie ihn ernst nahm. Dann, zwei Wochen später, traf der ersehnte Brief jedoch endlich ein. Mit klopfendem Herzen überflog Anita die Zeilen. Manuel hatte Prüfungen in der Schule gehabt und deshalb nicht eher schreiben können. "Ich bin sehr in dich verliebt", versicherte er und überschüttete sie mit Komplimenten. Anita war glücklich, ihre Sorgen waren überflüssig gewesen. Nur der letzte Satz jagte ihr einen Schrecken ein. "Bist Du in mich verliebt?" Manuel forderte ein klares "Ja" oder "Nein" von ihr, kein Drumherumreden. In was für eine Situation hatte sie sich da bloß gebracht? Und wie sollte ihre Freundschaft weitergehen? Ich glaube, ich bin wirklich in ihn verliebt, überlegte Anita. Kein Junge bedeutete ihr soviel wie Manuel, niemandem außer ihren Eltern fühlte sie sich enger verbunden. Sie dachte fortwährend an ihn und sehnte seine Briefe herbei. Das mußte doch Liebe sein! Es schien so, als seien sie füreinander bestimmt. Sie würde Manuel schreiben, daß sie ihn auch liebte, doch es konnte sicher nichts schaden, alles noch einmal in Ruhe zu überschlafen. Sie mußte ja nicht gleich heute antworten. Und es war gut, daß sie gewartet hatte. Einige Tage später war Ralph bereits ins Bett gegangen, als ihre Eltern sie ins Arbeitszimmer riefen. Die Gesichter der beiden sahen so sehr nach einer Standpauke aus, daß Anita sich unwillkürlich fragte, was sie wohl verbrochen haben konnte. "Wir sind es leid, uns dein Gejammer über eine Reise nach Mexiko anzuhören", begann ihr Vater ernst. "Das ist ungerecht, Daddy. Ich habe sie schon lange nicht mehr erwähnt." "Daddy macht doch nur Spaß", erklärte ihre Mutter lächelnd. "William, zieh sie nicht länger auf."
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"Also, Nita, du hast erreicht, was du wolltest", meinte William schmunzelnd. "Wir haben uns entschlossen, im Juni nach...Monterrey zu fahren. Deiner Mutter kann ein Tapetenwechsel auch nicht schaden. Am Freitag lassen wir uns im Reisebüro beraten." Fassungslos blickte Anita von einem zum anderen. Hatten sie wirklich Mexiko gesagt? Ihr Mexiko? Monterrey? Jean zwinkerte ihr zu. "Dann lernst du deinen Brieffreund doch noch kennen." Sie würde Manuel besuchen! Die Begegnung mit ihm hatte sie sich bereits hundertmal vorgestellt, aber bei dem Gedanken, daß sie Wirklichkeit werden sollte, brach Anita in Tränen aus. "Jetzt hat sie völlig den Verstand verloren", bemerkte ihr Vater rauhbeinig und ging zur Tür. Er wollte sich lieber nicht anmerken lassen, wie gerührt er über Anitas Gemütsausbruch war. "Ich weine vor Freude", stammelte Anita und warf sich in seine Arme. "Danke, Daddy, vielen Dank. Du und Mami, ihr seid einfach super." William und Jean lachten, doch gleichzeitig blickten sie sich über den Kopf ihrer Tochter hinweg stirnrunzelnd an. "Mein Gott, Kind, übertreibst du nicht ein bißchen?" fragte Jean zögernd. "Du bist ja ganz aus dem Häuschen. Beruhige dich doch." "Ich freue mich so irrsinnig", rief Anita und tanzte durchs Zimmer. Wenn ihr wüßtet, daß Manuel mir seine Liebe gestanden hat, würdet ihr die Reise bestimmt nie in Erwägung ziehen. Aber Gott sei Dank wißt ihr es ja nicht! Vielleicht würde sie später einmal ihr Geheimnis lüften, wenigstens Mami gegenüber. Anita war so aufgeregt, daß an Schlaf nicht zu denken war. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, und sie mußte versuchen, in dieses Chaos ein bißchen Klarheit zu bringen. Aber es war schwer, sich vorzustellen, daß alle ihre Träume Wirklichkeit werden sollten. Sie holte Manuels Foto aus ihrer Geldbörse und flüsterte ihm zu: "Es ist wahr, ich komme zu dir, Manuel." Sie konnte es selbst noch nicht fassen.
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Schließlich setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann, ein Gedicht zu schreiben. Wie von selbst sprudelten die Wörter aus ihr hervor, und bereits zwanzig Minuten später war sie fertig. Dann übertrug sie den Entwurf sorgfältig auf das neue Büttenpapier: Das Feuer Eurer Tänze, die Schwermut der Musik, Das alles ist mir so vertraut, Als hätte ich in Deinem Land gelebt, Bevor ich nochmals auf die Erde kam. Ich kenn Dich nicht, ich hab Dich nie gesehen Und hab' doch das Gefühl, Daß wir uns schon begegnet sind In jener früh'ren Welt. In Liebe Anita So glücklich Anita eingeschlafen war, so gerädert wachte sie am Morgen auf. Sie hatte von Manuel geträumt, doch es waren wirre und beängstigende Träume gewesen. Immer wieder hatte Manuel eine Entscheidung von ihr verlangt: "Ja" oder "nein". Auch am nächsten Tag konnte sich Anita nicht entschließen, Manuels Brief zu beantworten. Mußte sie ihm jetzt nicht schreiben, daß sie ihn liebte? Wie konnte sie sonst erwarten, daß er sie überhaupt sehen wollte? Doch es war eine Sache, Manuel in Gedanken ihre Liebe zu gestehen, und es war eine andere, die Worte zu Papier zu bringen und an ihn abzuschicken. Anita hatte das Gefühl, damit einen entscheidenden Schritt in die Zukunft zu machen, und es fehlte ihr augenblicklich einfach der Mut, sich derartig festzulegen. Kommt Zeit, kommt Rat, hielt sie sich an den alten Wahlspruch ihrer Mutter. Über zwei Monate lagen noch vor ihr, in denen sie sich entscheiden und Manuel ihren Besuch ankündigen konnte. Bis dahin würden ihr bestimmt die richtigen Worte einfallen. - 96 -
Die bevorstehende Reise beschäftigte Anita Tag und Nacht. In der Schule ertappte sie sich immer häufiger dabei, daß sie nicht aufpaßte. Glücklicherweise lagen die wichtigsten Arbeiten hinter ihr, so daß sie sich um die Zensuren keine großen Sorgen machen mußte. Auch mit ein paar Ausrutschern konnte ihr nicht mehr allzuviel passieren. Zum Glück, denn sonst würden Mami und Daddy womöglich noch aufmerksam und mißtrauisch. Nachts wachte sie manchmal schweißgebadet auf, weil sie schlecht ge- träumt hatte. Meistens war es derselbe Traum: Manuel hatte sie in ihrem Hotel in Monterrey besucht, doch er hatte nicht nur Rosen mitgebracht, sondern auch noch zwei andere schwarzhaarige Schönheiten. Das seien die Mädchen, die er bevorzuge, hatte er Anita deutlich zu verstehen gegeben. Sie könne schleunigst nach Hause zurückfahren. Alle vier hatten sich über das "Bleichgesicht" aus Portland lustig gemacht und waren unter spöttischem Gelächter wieder abgezogen. Es dauerte stets eine ganze Weile, bis Anita dann ihr wildes Herzklopfen wieder unter Kontrolle kriegte und sich klar machte, daß ihr Manuel ja ganz anders war. Mit Gordy ging sie nur noch aus reiner Gewohnheit aus, er half ihr lediglich, die Zeit bis Juni totzuschlagen. Sein Gerede interessierte sie längst nicht mehr, und sie hörte ihm kaum zu, denn sie hatte ihren Kopf voll mit wichtigeren Sachen. Was sollte sie bloß anziehen, wenn sie Manuel zum erstenmal traf? Das war im Moment ihr wichtigstes Problem. Sie wollte natürlich einen umwerfenden Eindruck auf ihn machen. Da es jedoch selbst im Sommer in Portland nicht übermäßig warm wurde, hatte Anita keine besonders große Auswahl an Sommerkleidern. Mußte sie sich einige kaufen? Vielleicht hatte ihre Mutter eine Idee? Am Abend eines unerwartet sonnigen Apriltages sah Anita die Chance gekommen, das Kleiderproblem vorsichtig anzuschneiden. Man konnte sich jetzt immerhin vorstellen, daß
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es tatsächlich wieder einmal Sommer werden würde und man entsprechende Kleidung brauchte. "Mami, was meinst du, was ich bei meinem ersten Treffen mit Manuel anziehen soll?" Während Anita Salat für das Abendessen putzte, briet ihre Mutter Schweineschnitzel. Lächelnd antwortete sie: "Du mußt dich auf jeden Fall besonders hübsch machen. Wie wär's mit deiner duftigen weißen Bluse und dem weiten roten Rock? Das ist sehr schick und richtig sommerlich." "Ja, daran hatte ich auch schon gedacht. Aber was mache ich an den übrigen Tagen? Ich kann ja nicht immer in denselben Klamotten rumlaufen." "Schatz, du weißt, daß die Reise sehr viel Geld kostet. Eine Menge neuer Sommerkleider ist einfach nicht mehr drin." Sie bemerkte Anitas geknickte Miene und nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm. "Jetzt warte erstmal ab. Ich werde noch mit Daddy reden, wenn er in der richtigen Stimmung ist", fügte sie mit Verschwörerblick hinzu. "Abgemacht?" "Abgemacht." "Hat sich Manuel übrigens gefreut, daß du ihn besuchen willst?" Anita zögerte. "Er weiß es noch gar nicht." Jean sah sie überrascht an. "Liebes, du solltest ihm aber umgehend schreiben. Stell dir vor, er und seine Familie wollen in derselben Zeit verreisen." Anita war entsetzt. An diese Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gedacht. "Ich wollte abwarten, bis wir den genauen Terminplan und den Namen des Hotels wissen", erwiderte sie ausweichend. Ihre Mutter schüttelte ungläubig den Kopf. "Die Unterlagen haben wir doch bereits letzte Woche bekommen." Am liebsten hätte Anita jetzt ihre Mutter ihr Herz ausgeschüttet. Es wäre so gut, mit jemandem über ihre geheimen Ängste zu reden, über Manuels Liebeserklärung und darüber, daß sie nicht recht wußte, was sie darauf antworten sollte. Aber sie kannte ihre Mutter. Sie würde mit William darüber sprechen, und dann hieß es: "Reise ade!"
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Anita unterdrückte einen Seufzer. "Du hast recht, Mami. Ich werde Manuel noch in dieser Woche schreiben. Wenn es doch bloß bald soweit wäre. Ich bin schon ganz genervt vor Aufregung." Nach einer Pause fügte sie hinzu: "Ruth ist übrigens überzeugt, daß Manuel und ich uns nicht verstehen werden." "Wie kommt sie denn darauf?" "Das weiß ich auch nicht. Sie hat sich überhaupt sonderbar benommen, als ich ihr von der Reise erzählte. Richtig eklig war sie, gar nicht wie eine wirkliche Freundin. Sie findet die Idee idiotisch, nur wegen Manuel da runterzufahren." Ihre Freundschaft mit Ruth hatte einen Knacks bekommen, und das schmerzte mehr, als Anita sich eingestehen wollte. "Du hast hoffentlich nicht mit unseren Urlaubsplänen angegeben, Nita?" erkundigte sich ihre Mutter besorgt. "Nein, keine Spur. Ich hab's nur so nebenbei erzählt. Dafür sind Freundinnen doch schließlich da, oder?" "Und wie hat Gordy reagiert?" "Dem habe ich es noch gar nicht gesagt", antwortete Anita seufzend. Jean warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Das verstehst du nicht, Mami", erklärte Anita hastig. "Gordy sieht in Manuel einen Rivalen, und deshalb streiten wir uns dauernd. Irgendwie bildet er sich ein, er müsse auf Manuel eifersüchtig sein. Aus welchem Grund, das wissen die Götter." "Vielleicht fühlt er sich von dir vernachlässigt und hat keine Lust mehr, die zweite Geige bei dir zuspielen", meinte ihre Mutter. "Schade, ich habe nämlich den Eindruck, daß er dich wirklich gern hat." "Gordy? Das glaub ich nicht. Dazu benimmt er sich viel zu seltsam in letzter Zeit. Stur und ausgesprochen langweilig ist er geworden. Es macht überhaupt keinen Spaß mehr, mit ihm auszugehen." Am vorigen Samstag hatte er ihr nicht einmal einen seiner üblichen Abschiedsküsse gegeben. Kurz vorher hatte sie Ruth von ihrem geplanten Mexikotrip berichtet, und Anita nahm an, daß Ruth Gordy die Neuigkeit brühwarm weitererzählt hatte. Doch Gordy hatte kein Wort darüber verlo- ren, und sie würde es auch nicht tun. - 99 -
9. KAPITEL Die Wochen schlichen nur so dahin. Es sah aus, als wollte es niemals Juni werden. Ein Tag war wie der andere, und auch die Samstage brachten keine Abwechslung in das Einerlei, denn seit zwei Wochen hatte Gordy Anita nicht mehr eingeladen. Sie redete sich ein, froh darüber zu sein, wenigstens am Wochenende seine Blödeleien nicht mehr hören zu müssen. In Wahrheit jedoch vermißte sie ihre Verabredung mit ihm sehr. Ruth zeigte ihr in der Schule die kalte Schulter. Sie redeten nur noch das Allernötigste miteinander und am Wochenende trafen sie sich überhaupt nicht mehr. Das vertraute Tuscheln, das Austauschen von Geheimnissen war vorbei. Auch heute blickte Ruth nur flüchtig auf, als sich Anita neben sie setzte. "Der Pullover ist Spitze. Neu?" versuchte Anita ein Gespräch. "Ein Geburtstagsgeschenk", erwiderte Ruth knapp. Anita schlug sich an die Stirn. "Ich Idiot! Du hast ja heute Geburtstag. Tut mir schrecklich leid, daß ich das vergessen habe, Ruth. Herzlichen Glückwunsch." "Happy birthday to you, ich schenk dir 'ne Kuh, dazu noch ein Kälbchen..." sang Gordy mit komischem Augenaufschlag seine Version die-ses Geburtstagsliedes. Anita verzog lediglich spöttisch die Mundwinkel und drehte ihm den Rücken zu. Zu ihrem größten Erstaunen schien Ruth Gordys Parodie jedoch zu gefallen, denn sie lachte hell auf. Anita tippte sie an. "Gehen wir nach Schulschluß zusammen zu Norbert Tandy?" Ruth konnte bloß noch nicken, denn Mrs. Mason betrat den Raum, und der Unterricht begann.
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Daß mir das passieren mußte, schimpfte Anita mit sich selbst. Wie konnte ich ihren Geburtstag bloß vergessen? Das wird sie mir nie verzeihen. Gordy, der von Mrs. Mason aufgerufen worden war, einen der Sätze aus dem Übungsheft in Spanisch an die Tafel zu schreiben, setzte sich gerade wieder auf seinen Platz. Flüsternd riet er Anita: "Den Satz solltest du dir merken." Sie war total in Gedanken versunken gewesen. Verwirrt sah sie auf und entzifferte mühsam Gordys Geschreibsel: "Vielen Dank, daß du mir die Stadt gezeigt hast." Anita blickte Gordy mißtrauisch an, aber er lächelte nur harmlos. Klar, er weiß Bescheid über meine Reise, dachte Anita. Deshalb lädt er mich auch nicht mehr ein. Auf dem Weg ins Pressezimmer kam Ruth gleich zur Sache. "Gehst du nicht mehr mit Gordy aus?" "Nein." "Wieso denn nicht?" Anita zuckte die Achseln. "Wir passen einfach nicht zusammen." "Ich habe ihm erzählt, daß ihr nach Mexiko fahrt." Also doch! "Wann?" "Vor ungefähr zwei Wochen." Seit der Zeit saß Anita samstags allein zu Haus. "Entschuldigung, daß ich mich da eingemischt habe; Ich war sicher gewesen, daß du mit Gordy bereits darüber gesprochen hattest. Wäre eigentlich selbstverständlich gewesen, meinst du nicht?" Tut es dir wirklich leid, oder bist du eine hinterlistige Schlange, die sich zwischen uns gedrängt hat? Anita warf Ruth einen mißtrauischen Blick zu. "Es ist doch egal, ob er es von dir oder jemand anderem erfahren hat. Ich hab's schließlich noch mehr Leuten gesagt", erwiderte sie betont gleichgültig. Ruth nickte. "Hat Manuel mal wieder geschrieben?" Anitas Gesicht strahlte plötzlich vor Freude, wie immer, wenn sie von Manuel sprach. "Ich muß erst noch seinen letzten Brief beantworten." "Gar nicht so einfach, ihm das beizubringen, nicht?" "Was?" Anita sah sie verständnislos an. - 101 -
"Na, daß du nicht in ihn verliebt bist." "Da täuschst du dich aber gewaltig", trumpfte Anita. "Ich liebe ihn nämlich." "Bist du übergeschnappt?" "Ganz und gar nicht." Einen Moment verschlug es Ruth die Sprache, doch dann legte sie los: "Wie kannst du Gordy gegenüber bloß so unaufrichtig sein? Du verdienst ihn gar nicht. Hältst ihn hin, während du in einen anderen Jungen verknallt bist, den du nicht mal kennst. So eine Unverschämtheit! Aber zum Glück hat Gordy dich endlich durchschaut. Und mich brauchst du wohl auch nur, damit du jemanden hast, der sich deine schwachsinnige Schwärmerei für diesen Manuel anhört." Hoch erhobenen Hauptes drehte sie sich um und verschwand im Pressezimmer. Ruth hat das Gespräch absichtlich auf Manuel gebracht, und ich bin so blöd gewesen, voll reinzutappen. Wütend rannte Anita in ihrem Zimmer auf und ab. Ruth hat wahrscheinlich die ganze Zeit geahnt, daß ich in Manuel verliebt bin. Und das paßt ihr nicht. Eifersüchtig ist sie auf mich. Genau! Deswegen will sie auch nicht mehr mit mir befreundet sein. Sie hat bloß einen Vorwand gebraucht, damit sie mit mir Schluß machen kann. Ruth hatte sich jetzt vollkommen auf Gordys Seite geschlagen, und das, obwohl sie früher nichts als ein abfälliges Achselzucken für ihn übrig gehabt hatte. Ob sie sich plötzlich für ihn interessiert? "Na ja, ich werde euch bestimmt nicht im Weg stehen", schimpfte Anita vor sich hin. Trotz ihres Ärgers mußte sie Ruth allerdings in einem Punkt recht geben. Sie selbst hätte Gordy von der Reise erzählen sollen. logisch, daß er sauer war, wenn er es hintenherum von ihrer Freundin erfuhr. Doch hätte er sich nicht in jedem Fall geärgert? Obwohl er von Anfang an über Manuel Bescheid gewußt hatte, fühlte sich Gordy durch die Reise irgendwie von Anita hintergegangen. Wieso eigentlich? "Ich habe ihm nie vorgemacht, daß ich verrückt nach ihm bin", rechtfertigte sich Anita.
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Doch etwas anderes ging ihr nicht aus dem Kopf. Gab es für sie wirklich nur noch Manuel als Gesprächsthema, wie Ruth behauptet hatte? Beschämt stellte Anita fest, daß sie tatsächlich fast ausschließlich über ihn sprach. Aber hatte Ruth sie nicht immer wieder dazu aufgefordert? Warum hatte sie so getan, als würde sie Anitas Begeisterung für Manuel teilen, wenn sie ihr jetzt vorwarf, sie damit geradezu genervt zu haben? Anitas kleine, geordnete Welt war aus den Fugen geraten. Mit ihrer besten Freundin war sie verkracht, und Gordy, der sich sonst immer so sehr um sie gekümmert hatte, zeigte auch kein Interesse mehr an ihr. Jetzt hatte sie nur noch einen Freund, Manuel. Er liebte sie so, wie sie war, und versuchte nicht dauernd, sie zu ändern. Entschlossen setzte sie sich hin und suchte die verschiedenen Zettel zusammen, auf denen sie sich Notizen für den Brief an Manuel gemacht hatte. Sie brachte sie in eine sinnvolle Reihenfolge und übersetzte sie ins Spanische. Zum Schluß hängte sie noch die Neuigkeit über ihren bevorstehenden Besuch an. Sorgfältig übertrug sie alles auf einen Briefbogen, wobei sie das Datum und den Namen des Hotels zweimal unterstrich. Dann fügte sie noch mutig hinzu: "Ich liebe Dich, mein Freund, und ich brauche Dich." Sie legte das Gedicht bei, das sie Manuel neulich in ihrer glücklichen Stimmung gewidmet hatte, versiegelte den Umschlag und stellte ihn neben das Telefon im Flur, damit ihr Vater ihn am nächsten Morgen für sie aufgeben konnte. Ihre Gedanken waren bei Manuel. Der Mai zog sich diesmal endlos in die Länge, aber schließlich ging auch er vorüber. Zwei Wochen noch, dann war die schreckliche Wartezeit vorbei. Die Schule machte Anita nicht mehr den geringsten Spaß, denn sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte. Zwischen Ruth und ihr herrschte Funkstille, und Gordys Scherze, mit
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denen er sie gelegentlich noch bedachte, konnte man schon fast boshaft nennen. Anita war todunglücklich. Manchmal sehnte sie sich so sehr danach, den Streit mit Ruth aus der Welt zu schaffen, daß sie sogar fast bereit gewesen wäre, sich zu entschuldigen. Aber wofür eigentlich? Daß sie nicht weiter mit Gordy ausging? Er war ja überhaupt nicht mehr daran interessiert. Oder daß sie so viel über Manuel geredet hatte? Ruth hatte sie doch geradezu ausgequetscht. Oder etwa dafür, daß sie Manuel liebte? Das würde sie nie aufgeben. Nein, eine Entschuldigung brachte die Sache auch nicht wieder ins Lot. Das Dumme war nur, daß sie seit Wochen mit niemanden über Manuel gesprochen hatte und nun unbedingt jemanden brauchte, dem sie sich anvertrauen konnte. Ob Mami wohl die richtige Person dafür war? Vielleicht ergab sich mal eine günstige Gelegenheit zu einem Gespräch. Sie kam bereits am nächsten Tag. "So ein wunderbarer Abend", seufzte Jean zufrieden. "Man fühlt direkt, daß es Sommer wird." Sie und Anita waren auf dem Weg zu einem Stoffgeschäft, denn William hatte seinen Damen großzügig einige Kleiderstoffe spendiert. Anita war mit ihren Gedanken ganz woanders und hatte nicht zugehört. "Wenn Manuel mir nun nicht rechtzeitig schreibt?" überlegte sie laut. Das war im Moment ihre größte Sorge. "Liebes, auch in Mexiko gibt es Telefonbücher. Du suchst seine Nummer raus und rufst ihn wenigstens an." Als ob das genügen würde! Sie fuhr doch nicht über tausend Meilen, nur um ihm dann am Telefon "Hallo" zu sagen. "Ich wünsche mir, daß unser erstes Treffen ganz romantisch wird", schwärmte Anita. "Ich weiß, und ich hoffe sehr, daß du nicht enttäuscht wirst. Aber rechnen mußt du auch damit, Kind. Du kennst Manuel kaum. Vielleicht schreibt er dir nur, um sein Englisch zu verbessern, während du von ganz anderen Dingen träumst." Ach, Mami, wenn du wüßtest, wie verliebt wir sind. Plötzlich konnte sie es nicht länger für sich behalten. "Du
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machst dir völlig unnötige Sorgen. Manuel hat mir schon geschrieben, daß er mich liebt." Vor Schreck hätte Jean beinahe eine rote Ampel übersehen. Mit quietschenden Bremsen kam ihr Wagen zum Stehen. "Was hat er?" schluckte sie. "Ich wollte dich wirklich nicht schockieren, Mami", lachte Anita unsicher. "Also, jetzt noch mal von vorn. Wie hat er sich ausgedrückt?" "Er ist in mich verliebt, weil ich ihm so nett schreibe", versuchte Anita ihr Geständnis abzuschwächen. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten! "Wahrscheinlich meint er das nur platonisch. Er nennt mich zwar seine Freundin, aber er hat mir auch von einem Mädchen namens Rose erzählt. Also nimmt er mich sicher nicht sehr ernst." "Hoffentlich nimmst du ihn auch nicht zu ernst!" Jean sah sie prüfend von der Seite an. "Gehst du deshalb nicht mehr mit Gordy aus?" "Hmm", gab Anita zu. "Ich habe dir ja gesagt, daß er eifersüchtig ist." "Kein Wunder! Mußtest du ihm denn unbedingt sagen, daß Manuel in dich verliebt ist?" "Hab ich ja gar nicht. Es war Ruth. Damals auf meiner Party konnte sie nicht schnell genug damit herausplatzen. Aber ich habe mich hinterher noch weiter mit Gordy getroffen. Das kann's also nicht gewesen sein." Jean grübelte vor sich hin, während Anita unruhig auf dem Sitz hin- und herrutschte. Warum hatte sie auch so drauflosquatschen müssen? Wenn ihre Mutter nun Daddy alles verriet? Hoffentlich war es zu spät, um die Reise abzusagen. Aber vielleicht behielt Mami das Geheimnis ja auch für sich. Anita blickte Jean verstohlen an. Sie war schließlich auch mal jung und verliebt gewesen und sollte für solch eine Situation Verständnis haben. Auf einmal fühlte sich Anita irgendwie erleichtert. Sie erinnerte sich daran, wie es früher oft gewesen war, wenn sie etwas ausgefressen hatte. Sobald sie es ihrer Mutter gebeichtet hatte, kam sie sich so geborgen wie unter einem großen Schutzschild vor. Etwas wirklich Schlimmes konnte ihr dann nicht mehr passieren. - 105 -
"Wahrscheinlich hatte Gordy einfach keine Lust mehr, nur noch zweite Wahl tür dich zu sein", meinte Jean plötzlich. "Wenn du bei euren Verabredungen genauso viel über Manuel gesprochen hast wie letztens zu Hause, kann ich ihn sogar gut verstehen. Was soll er mit einem Mädchen, das ihm nur von seinem Rivalen vorschwärmt?" "So war es gar nicht", beteuerte Anita. "Zumindest nicht absichtlich. Ich habe es nicht drauf angelegt, Gordy eifersüchtig zu machen, bestimmt nicht. Wir haben Manuel fast nie erwähnt." "Vielleicht hatte Gordy trotzdem das Gefühl, daß Manuel zwischen euch steht. Versuch niemals, zwei Jungen gegeneinander auszuspielen, Nita", warnte ihre Mutter. "Du tust allen beiden weh und kannst dir selbst gehörig die Fingern dabei verbrennen." Gut, daß sie sich jetzt endgültig für Manuel entschieden hatte! "Ich werde es mir merken, Mami." Damit schien die Lektion beendet zu sein. "Sagst du es Daddy weiter?" fragte Anita schnell. Jean blickte sie streng an. "Nein. Aber nur, wenn du mir versprichst, daß du wieder normal wirst und nicht wegen Manuel alle anderen Freundschaften platzen läßt." "Ich werde mir Mühe geben, Mami." Eigentlich war nicht mehr viel vorhanden, was platzen konnte! "Ich bin übrigens davon überzeugt, daß Manuel dir bald antwortet", lächelte ihre Mutter. "Er wird darauf brennen, dich endlich kennenzulernen. Vor allem, nachdem er dir schon eine Liebeserklärung gemacht hat - wegen deiner netten Art zu schreiben." Augenzwinkernd fügte sie hinzu: "Deine Briefe müssen ja wirklich umwerfend sein." "Wer hätte das bei meiner Schreibfaulheit gedacht, nicht wahr, Mami?" lachte Anita befreit. Es kam ihr vor, als sei eine Zentnerlast von ihr genommen worden. "Danke, Mami, daß ich mit dir so offen reden kann wie mit einer Freundin." Eine Kleinigkeit hatte sie jedoch auch ihrer Mutter verschwiegen, die Tatsache nämlich, daß sie ebenso in Manuel
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verliebt war wie er in sie. Denn das ging schließlich nur sie etwas an. An den nächsten Abenden war Anita vollauf damit beschäftigt, die Stoffe, die sie sich für zwei leichte Sommerkleider ausgesucht hatte, zuzuschnei- den und zusammenzunähen. Das eine wurde ein blauweiß gestreiftes Trägerkleid, das andere ein sonnengelbes mit weit schwingendem Rock. Passend zu den Stoffen gab es dünne Bänder, die Anita als Haarschmuck tragen wollte. Sie würde sich für Manuel sehr weiblich und romantisch anziehen und deshalb nur Kleider und Röcke mitnehmen. Wer weiß, vielleicht fand man lange Hosen für Mädchen in Mexiko sogar ganz schrecklich. Lediglich für die Reise wollte sie ein Paar weiße Jeans einpacken. Obwohl sie sich bereits seit Wochen den Kopf darüber zerbrochen hatte, was sie zu ihrer ersten Verabredung mit Manuel anziehen sollte, hatte sie sich noch immer nicht entscheiden können. Nur eins war klar: Sie wollte ihn so beeindrucken, daß er seine Rose für alle Zeiten vergaß. Am hübschesten sah sie zweifellos in ihrer weißen Folklorebluse und dem roten gerüschten Rock aus, aber sooft sie die Sachen aus dem Schrank holte, um sie zu begutachten, wurde sie an ihre Party erinnert. Wie zärtlich hatte sie damals mit Gordy getanzt, und wie war der Abend dann zu Ende gegangen... Vielleicht brachte diese Kombination ihr kein Glück. Dann sollte sie sich wohl lieber gleich etwas anderes aussuchen. Aber wer würde denn so abergläubisch sein? schalt sie sich. In der letzten Schulwoche kam endlich Manuels Brief an. "Ich warte euch", hatte Manuel geschrieben. "Und ich bin sehr überglücklich." In seiner Freude hatte er mehr Fehler gemacht als je zuvor, und Anita hatte manchmal Mühe, den Sinn der Sätze zu erraten. Was sie aber ohne Schwierigkeiten lesen konnte, - 107 -
waren die vielen Liebeserklärungen - sechs Stück an der Zahl die Manuel an allen unmöglichen Stellen ein- geflochten hatte. Er habe kein Telefon zu Hause, doch er werde Anita im Hotel anrufen, das sehr nah bei seiner Schule liege. Sogar einen kleinen Stadtplan hatte er gezeichnet. "Bald ist es soweit" stand in großen Buchstaben schräg über der ganzen Seite. "In genau zwei Wochen", jubelte Anita. Mit leuchtenden Augen las sie den Brief immer wieder durch. "Ich wußte, daß du mich nicht im Stich lassen würdest, mein geliebter Freund!', flüsterte sie glücklich vor sich hin. Irgendwie stand Anita die Abschlußarbeiten durch, und plötzlich war der letzte Schultag gekommen. Früher war sie an diesem Tag immer besonders ausgelassen gewesen. Sie hatte mit den anderen gesungen, ihre Freunde umarmt und sich lachend von ihnen für die Ferien verabschiedet. Heute brauchte Anita niemandem einen schönen Urlaub zu wünschen. Ruth sprach kein Wort mehr mit ihr, und Gordy interessierte sich neuerdings sehr für eine kleine blonde Mitschülerin. Nach der langen Sommerpause würden sie sich so fremd sein, als hätten sie sich nie näher gekannt. Wie konnte es nur so weit kommen? fragte sich Anita bedrückt. Auch die anfängliche Begeisterung der übrigen Klassenkameraden für Manuel war total abgeflaut. Irgend etwas muß ich wohl falsch gemacht haben, daß alle mich auf einmal meiden. Aber was? Ich kann mich doch nicht dafür entschuldigen, daß ich Manuel lieb habe. Um sich aufzumuntern, fing Anita schon eine Woche vor der Reise an zu packen. William hatte jedem Familienmitglied nur einen Koffer erlaubt, da hatten auch Anitas Betteln und ihre Schmeicheleien nicht geholfen. Deshalb mußte sie sorgfältig überlegen, wie sie alle ihre Schätze unterbringen sollte. Jeden Tag räumte sie ihren Koffer nach einem anderen Plan ein, da immer mindestens ein Teil, das sie bestimmt dringend in Mexiko brauchen würde, nicht mehr hineinpaßte. Sie hatte gehofft, vor ihrer Abreise noch ein bißchen Bräune zu bekom- men, aber die Sonne ließ sich leider nur sehr selten
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sehen. Anita tröstete sich damit, daß sie mit ihrem hellen Teint wahrscheinlich besonders reizvoll auf Manuel wirken würde. Wenn Anita nicht gerade Kleider ein- und auspackte, beschäftigte sie sich mit ihrem Haar. Sie hatte verschiedene Frisuren ausprobiert und wußte immer noch nicht, für welche sie sich entscheiden sollte. Am liebsten hätte sie einen langen Zopf gehabt, der ihr weich über die Schulter fiel und in den bunte Bänder eingeflochten waren. Doch auch nach mehreren Versuchen war sie mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden. Vielleicht würde es Manuel besser gefallen, wenn sie eine strenge Frisur mit Knoten tragen würde. Dabei fiel ihr jedoch Gordys Kommentar ein, den er zu ihrem Dutt gemacht hatte. Oma-Look! Nein, der Zopf war doch wohl hübscher. Sie mußte also weiter üben. Am Tag vor der Reise saß sie wieder mal vor dem Spiegel und mühte sich verzweifelt mit dem Zopf ab. Er wollte einfach nicht liegen, von den Bändern ganz zu schweigen. Anita mußte diese sogar mit ihren Zähnen festhalten, da die Hände für die Schleifen nicht mehr ausreichten. Es klopfte, und Anita preßte ein gequetschtes "Herein" durch die zusammengebissenen Zähne. Die Tür ging auf, und Gordy stand im Zimmer. "Deine Mutter hat mir erlaubt raufzukommen." Vor Verblüffung öffnete Anita den Mund, und die Bänder machten sich selbständig. Die ohnehin nur mühsam zusammengehaltene Frisur löste sich völlig auf. "Ja, ja, ist in Ordnung, komm rein. Was gibt's denn?" Während der letzten Wochen hatte Gordy kaum ein Wort mit ihr geredet. Was konnte er jetzt auf einmal von ihr wollen? Ärgerlich sah er eigentlich nicht aus, eher traurig. Er schielte auf Anitas gepackten Koffer. "Ihr fahrt also morgen?" Endlich schaute er Anita an. "Genau." Um irgend etwas zu tun, sammelte Anita die Bänder vom Boden auf. "Wolltest du mir eine gute Reise wünschen?" "Ja." Es klang seltsam bedrückt. "Komm gesund zurück." - 109 -
"Was ist los, Gordy? Rück schon damit raus!" Er ließ sich rittlings auf ihrem Schreibtischstuhl nieder und verschränkte die Arme auf der Lehne. "Ich konnte es einfach nicht glauben, aber es ist offensichtlich wahr", sagte er leise. "Du fährst über tausend Meilen, um diesen Typ zu sehen. Muß das eine große Liebe sein!" Er wartet nur darauf, daß du in die Luft gehst. Tu ihm den Gefallen nicht. "Erstens geht dich das gar nichts an", erwiderte sie ruhig. "Und zweitens ist das ein Familienurlaub. Wir freuen uns alle auf ein bißchen Sonne, denn seit Jahren sind wir nicht mehr aus Oregon herausgekommen." Sie tat so, als müsse sie noch packen. "Da du mir ja nun eine gute Reise gewünscht hast, kannst du wieder gehen." Doch Gordy rührte sich nicht. "Was versprichst du dir bloß davon, Anita? Glaubst du etwa, daß er sich mit dir verlobt, nachdem ihr zwei Tage lang Händchen haltend durch die Gegend gelaufen seid?" Du hast es tatsächlich geschafft, mich auf neunzig zu bringen, Gordy! "Was ich mir davon verspreche?" fauchte sie ihn an. "Ich freue mich darauf, mich mit einem Jungen zu treffen, dem wirklich etwas an mir liegt. Für ihn bin ich nämlich ein besonders liebenswertes Mädchen." Gordy funkelte sie zornig an. "Liebenswert? Daß ich nicht lache! In der letzten Zeit warst du die reinste Traumtänzerin!" "Wie bitte?" "Du warst doch völlig weggetreten, wenn wir ausgegangen sind. Meistens hast du bloß schwachsinnig vor dich hingegrinst und mir kein bißchen zugehört. ,Wie war das?' oder ,Weiß nicht' war alles, was du von dir gegeben hast. Du hast mich behandelt, als sei ich dein Chauffeur." "Und du mich wie deine kleine Schwester", tobte Anita. "Nicht mal einen Gutenachtkuß hattest du mehr für mich übrig." "Glaubst du, es macht mir Spaß, dich zu küssen, während du an diesen Mexikaner denkst? Du bist geradezu besessen von ihm." Gordy war aufgesprungen und rannte im Zimmer auf und ab. "Ich prophezeie dir, daß du mächtig auf die Nase fällst. - 110 -
Wart's nur ab. Aber dann stehst du ganz allein da, denn ich komme von selbst bestimmt nicht mehr hierher. Von mir aus kannst du mich anrufen, aber erst, wenn du wieder bei Verstand bist." Wütend knallte er die Tür hinter sich zu. "Auf den Anruf kannst du lange warten", rief Anita Gordy nach, aber er polterte bereits die Treppen herunter.
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10. KAPITEL Am nächsten Morgen fuhren die Seagraves bei Sonnenaufgang los. Ihr Weg führte sie zunächst in Richtung Westen bis zum Pazifik, dessen Küste sie nach Süden bis Los Angeles folgen wollten. Anita hatte in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan, zum Teil vor Aufregung... daß der langersehnte Augenblick endlich gekommen war, zum Teil vor Ärger über Gordy. Dir werd' ich's zeigen, du eingebildeter Affe! Kommst daher und spuckst große Töne. Aber du kennst eben Manuel gar nicht. Wir werden uns glänzend verstehen, verlaß dich drauf! Doch je weiter sie Portland hinter sich ließen, desto mehr verblaßte der Streit mit Gordy und damit der Ärger. Zum x-ten Mal kramte sie Manuels letzten Brief hervor und vertiefte sich erneut in die Zeilen, obwohl sie sie längst auswendig kannte. Ralph verdrehte nur vielsagend die Augen und tippte sich an die Stirn. Die Fahrt ging ganz flott voran, und bereits am frühen Abend hatten sie den kleinen Ort Monterrey an der kalifornischen Küste erreicht, wo sie übernachten wollten. Diese Stadt trug denselben Namen wie Manuels Heimatstadt, und Anita betrachtete das als gutes Vorzeichen. Wenn sie nur schon dort wären! Früh am Morgen ging es weiter. Von der Fahrt entlang der aufregend bizarren Felsküste Kaliforniens bekam Anita nicht ailzuviel mit. Jeder Halt an einem Aussichtspunkt, der ihre Eltern begeisterte, machte Anita nur noch ungeduldiger. Nach vielen Stunden trafen sie dann endlich in Los Angeles ein, und Anita atmete erleichtert auf. Hier wohnte ein alter Freund von William, der sie für die Nacht eingeladen hatte und sie am nächsten Morgen zum Flughafen bringen würde. - 112 -
Als Anita ins Flugzeug stieg, fing ihr Herz plötzlich wie wild an zu klopfen. Nur noch wenige Stunden trennten sie von Manuel. Wenn sie die Maschine verließ, würde sie in Mexiko sein. Für Ralph war es der erste Flug, während Anita schon einmal als kleines Kind geflogen war. Obwohl sie sich nur noch sehr schwach daran erinnern konnte, kam sie sich ziemlich erfahren vor. Ralph fand alles mächtig aufregend, er registrierte die kleinste Kursänderung und das leiseste Schaukeln. Daß es an Bord auch noch tolle Sachen zu essen und zu trinken gab, warf ihn fast um. Lediglich die Wolken dämpften seine Glücksstimmung, und er beklagte sich laut darüber. "Du wirst es überleben", meinte Anita altklug. Dabei war sie selbst genauso enttäuscht wie er. Sie hatte sich bereits ausgemalt, wie es sein würde, über die grünen Hügel von Manuels Heimat zu fliegen, die sie in ihrem Gedicht beschrieben hatte. Statt dessen schaute sie auf eine Landschaft aus weißgrauer Watte. Während sie ihre Cola trank und Erdnüsse dazu knabberte, lauschte sie angestrengt auf die Unterhaltung der vorwiegend mexikanischen Fluggäste und war begeistert, wenn sie hin und wieder etwas verstand. So verging der Flug sehr schnell. Anita war überrascht, als die Stewardeß die Passagiere bat, sich anzuschnallen, da sie in Kürze landen würden. Wenig später setzte die Maschine auf der Landebahn von Monterrey auf. Vor ihnen erhob sich der "Sattelberg", ein beliebtes Ausflugsziel der Gegend. Anita war stolz, daß sie ihn sofort erkannt hatte. Danke, Mrs. Mason! Sie hatte Anita gut auf diese Reise vorbereitet und ihr auch mehrere Bildbände zur Verfügung gestellt. "So, Große, jetzt zeig mal, was du in der Schule gelernt hast", forderte William sie schmunzelnd auf. "Wir sind auf dich als Dolmetscher angewiesen." "Bestimmt sprechen viele Leute hier englisch, am Flughafen sowieso", stotterte Anita nervös und geriet auf einmal in Panik. Wenn sie nun total versagte? Im Moment fiel ihr nicht der - 113 -
einfachste Satz ein. Doch sie durfte sich unter keinen Umständen blamieren, nicht vor ihren Eltern und erst recht nicht vor Manuel. Beim Aussteigen hatte sie sich soweit gefangen, daß sie sich bei der Stewardeß in fließendem Spanisch für den angenehmen Flug bedanken konnte. Na bitte! Es dauerte eine Weile, bis sie die Gepäckausgabe gefunden hatten. Mami und Daddy stellten sich aber auch furchtbar unbeholfen an, dachte Anita gereizt. Sie tun gerade so, als seien sie noch niemals aus Portland herausgekommen. Zum Kuckuck, uns sieht man die Hinterwäldler ja auf fünf Meilen an. Zumindest schienen sie alle einen sehr ehrlichen Eindruck zu machen, denn der Zollbeamte winkte sie durch, ohne einen Koffer zu öffnen. "Und wie kommen wir nun ins Hotel?" wollte Jean wissen. Alle blickten erwartungsvoll Anita an. "Da drüben ist ein Informationsstand", erklärte sie lässig und kam sich auf einmal sehr weltgewandt vor. "Ich gehe mal rüber." "Wir hätten gern ein Taxi zum ,Holiday Inn'", formulierte sie vorsichtig in Spanisch. Die Dame an der Auskunft lächelte freundlich und erklärte Anita in fehlerfreiem Englisch, daß jede Stunde ein Kleinbus vom Flughafen dorthin fahren würde. Anita wurde rot und bedankte sich hastig. Im Hotel fühlte sich William wieder auf sicherem Boden und übernahm das Kommando. "Ihr setzt euch hier hin und wartet, bis ich zurückkomme. Ich hole den Schlüssel. An der Rezeption werden sie ja wohl englisch spre-chen." Alle "Holiday Inns" auf der Welt scheinen gleich gebaut und eingerichtet zu sein, dachte Anita, nachdem sie sich die Halle angeschaut hatte. Trotzdem hat dieses hier eine ganz besondere Atmosphäre, völlig anders als das zu Hause in Portland.
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Ob es an den vielen Palmen und Kakteen liegt, daß es so exotisch wirkt? Sie kuschelte sich entspannt in die weichen Polster des Sofas und lächelte ihrer Mutter zu. "Bist du sicher, daß Manuel nicht schon da ist und auf dich wartet?" fragte Jean. Anita spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. An diese Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gedacht. Prüfend schaute sie die Gesichter der Hotelgäste in der Halle an und atmete erleichtert auf. Nein, Manuel war nicht dabei. Er konnte jedoch jeden Moment hereinkommen. Es war drei Uhr Ortszeit, das hieß, daß die Schule bereits aus war. Hätten sie doch bloß eine bestimmte Zeit für das Treffen ausgemacht. Aber Manuel hatte nur geschrieben, daß er sie anrufen würde, und nun saß sie hier wie auf heißen Kohlen. William kam zurück. Doch statt freudig mit dem Schlüssel zu winken, verkündete er mürrisch: "Sie haben nichts mehr frei. Jemand hat unsere Reservierung verschlampt. Einmal machen wir Urlaub im Ausland, und dann passiert gleich so etwas!" Entgeistert starrte ihn der Rest der Familie an. "Wir haben jetzt Zimmer im ,Hotel Monterrey' in der Innenstadt", fügte er hinzu. "Der Portier hat schon alles arrangiert. Ein Taxi wartet draußen." Ungeduldig nahm er seinen und Jeans Koffer und marschierte los. Jean hielt ihn zurück, als sie Anitas entsetztes Gesicht sah. Nun würde Manuel nicht mehr wissen, wo er sie finden konnte. Anita war ratlos und verzweifelt. "Beruhige dich, Schatz", besänftigte ihr Vater sie. "Ich habe dem Portier gesagt, daß wir Besuch erwarten, und er hat versprochen, dem Jungen die neue Adresse zu geben." Ein anderer Portier konnte gerade Dienst haben, wenn Manuel nach ihnen fragte. Was dann? "Außerdem kannst du Manuel doch anrufen", meinte William. "Er hat kein Telefon", flüsterte Anita verstört. "Jetzt müssen wir jedenfalls erst einmal in das andere Hotel. Ewig halten sie die Zimmer dort auch nicht für uns frei", knurrte ihr Vater ungeduldig und ging hinaus zum Taxistand.
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Anita folgte ihm in stummer Verzweiflung. Hatte sie den weiten Weg hierher umsonst gemacht? Würden sie und Manuel sich schließlich doch noch verpassen? Eine Limousine hielt eben vor dem Hotel, und zwei Männer in dunklen Straßenanzügen stiegen aus, offenbar Geschäftsleute. Sie haben natürlich ihre Zimmer, dachte Anita geknickt. Die beiden sehen nicht so aus, als könne ihnen so etwas passieren. Warum ausgerechnet uns? Nun ist Daddy auch noch sauer, und ich bin an allem Schuld, weil ich ja unbedingt hierherkommen wollte. Anita quetschte sich mit Jean und Ralph auf den Rücksitz des Taxis und starrte düster vor sich hin. "Warum besuchst du ihn nicht einfach zu Hause?" schlug ihr Bruder plötzlich unbekümmert vor, als sei dies das Natürlichste von der Welt. "Du hast vielleicht Nerven", fuhr sie ihn an. "Was meinst du, was Manuels Eltern von so einem dreisten Mädchen halten würden?" Aber wieso sollte sie ihn eigentlich nicht besuchen? Immerhin hatte sie seine Adresse. Meldete er sich heute nicht bei ihr, würde sie zu ihm fahren! "Wenn man es recht bedenkt, ist die Idee nicht mal so dumm, Kleiner", gab sie lässig zu und drückte Ralph einen Kuß auf die Wange. Auf einmal sah alles nicht mehr ganz so trostlos aus. Anita begann sogar, sich für ihre Umgebung zu interessieren. "Wenn die spanischen Straßennamen nicht wären, könnte man glauben, in einer amerikanischen Großstadt zu sein", bemerkte Jean gerade. "Hochhäuser wie bei uns... Aber sieh mal das hübsche grüne Haus dort. Könnte aus den Lehmziegeln gebaut sein, die typisch für diese Gegend sind." "Jedenfalls hat Mrs. Mason erzählt, daß es hier viel Industrie gibt", antwortete Anita abwesend. Sie hatte soeben auf der anderen Straßenseite ein großes Schulgelände entdeckt. Ob dies vielleicht Manuels Schule war? Ihr fiel die kleine Karte wieder ein, die Manuel dem letzten Brief beigelegt hatte. Darauf war der Weg vom "Holiday Inn" zum Schulgebäude eingezeichnet. Ich finde dich, Manuel, ermutigte sich Anita selbst. Notfalls werde ich mich sogar in deine Schule wagen. - 116 -
Das ,Hotel Monterrey' war ein riesiger alter Kasten aus den dreißiger Jah- ren. Alles wirkte ein bißchen verstaubt und plüschig, aber Anita fühlte sich von der ersten Minute an wohl. Endlich einmal nicht so ein nüchterner, moderner Betonklotz, sondern verspielte Romantik, das gefiel ihr. Das Zimmer mit den zwei Doppelbetten war groß und bequem eingerichtet, und vom Fenster blickte man auf die Morelos Avenue, eine breite doppelspurige Allee. Während auf der Avenue die Autos vorüberdüsten, schlenderten Fußgänger auf den Gehwegen mit südländischer Gelassenheit an hübsch dekorierten Schaufenstern vorbei oder machen eine kleine Ruhepause in einem der Straßencafes. Anita stand wie festgeklebt am Fenster und schaute dem bunten Treiben zu. Ob einer der Passanten zufällig Manuel war? Nein, keiner hatte auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Jungen auf dem Foto. Vielleicht hatte Manuel sich in der Zwischenzeit verändert. Möglicherweise erkenne ich ihn gar nicht, durchfuhr es sie. Und ich? überlegte sie weiter. Sehe ich anders aus als auf dem Bild? Bitte, Manuel, sei nicht enttäuscht von mir, ich habe mich doch so schrecklich auf dieses Treffen gefreut. William und Jean hatten sich hingelegt, um sich vor dem Abendessen ein wenig auszuruhen, und Ralph hatte sich mit einem Comic-Heft in einen Sessel verkrümelt. Aber Anita war viel zu aufgeregt, sie hätte weder schlafen noch lesen können. Schließlich begann sie, ihren Koffer auszupacken. Danach duschte sie, schminkte sich sorgfältig und zog den roten Rock und die weiße Bluse an. Vor lauter Angst, ihren Rock zu zerdrücken, wagte sie nicht, sich für eine Weile hinzusetzen. Sie mußte schließlich jeden Moment damit rechnen, daß Manuel erschien, und dann wollte sie super aussehen. Ihre Eltern, die gerade aufgewacht waren, bemerkten, daß sie so steif wie eine Schaufensterpuppe dastand, und sie zwinkerten sich amüsiert zu.
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Im Restaurant gab Anita die Bestellung für die Familie in Spanisch auf und wurde rot vor Freude, als der Kellner ihre guten Sprachkenntnisse lobte. Ihr Vater nickte ihr anerkennend zu. Wenig später wurde das Essen serviert. "Hmm, herrlich frisch! Diese Tiefseekrabben waren heute morgen bestimmt noch im Meer", brummte William zufrieden vor sich hin. Sie erinnerten ihn an seine Jugend, die er am Golf von Mexiko verbracht hatte. Nach dem mißglückten Urlaubsanfang war er jetzt mit sich und der Welt wieder versöhnt. Anita stocherte appetitlos auf ihrem Teller herum und behielt ängstlich die Tür im Auge. Auf keinen Fall wollte sie sich von Manuel überraschen lassen, sie mußte ihn unbedingt zuerst sehen. Doch sie wartete vergebens, er kam nicht. Nach dem Abendessen entschlossen sie sich, noch einen Spaziergang zu machen, um die Stadt ein bißchen kennenzulernen. Die kühle Abendluft war angenehm erfrischend nach der Hitze und Hektik des Tages. Die Straßen waren gedrängt voll, und selbst kleine Kinder rannten trotz der späten Stunde noch quietschvergnügt herum. In Portland wäre das unmöglich, dachte Anita. Aber es machte Spaß, das alles kennenzulernen. Unter den schwarzhaarigen Einheimischen fiel Ralphs weißblondes Haar schon von weitem auf, und so mancher drehte sich nach ihm um. Anita blühte unter den bewundernden Blicken der Jungen förmlich auf, und ihr Selbstvertrauen, das durch den Streit mit Ruth und Gordy einen ziemlichen Knacks erlitten hatte, wuchs beträchtlich. Fröhlich und locker machte sie ihre Eltern auf verschiedene Sehenswürdigkeiten aufmerksam, die sie aus ihren Büchern kannte, und Jean und William waren stolz auf ihre hübsche und intelligente Tochter. Als sie ins Hotel zurückkamen, konnte es sich Anita trotz der spöttischen Blicke ihres Bruders nicht verkneifen, rasch beim Portier nachzufragen, ob jemand eine Nachricht für sie hinterlassen hatte. Die enttäuschende Antwort lautete: Nein. Lange nachdem ihre Eltern und Ralph eingeschlafen waren, lag Anita noch wach und zerbrach sich den Kopf darüber, - 118 -
warum Manuel sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Freute er sich denn nicht, daß sie kam, oder hatte er vielleicht im "Holiday Inn" angerufen und erfahren, daß dort keine Familie Seagraves wohnte? Dann mußte er sie für eine Lügnerin und Angeberin halten. Wie mache ich es nur richtig? grübelte sie. Wenn ich Manuel zu Hause oder in der Schule besuche, bringe ich ihn wahrscheinlich in größte Verlegenheit. Womöglich wird er mir das nie verzeihen. Aber soll ich denn abreisen, ohne alles versucht zu haben, um ihn zu finden? Das würde ich mir nie verzeihen. Ihr mußte eine Lösung einfallen. Auch am folgenden Vormittag rief Manuel nicht an. Anita hatte sich vorgenommen, noch bis zum Mittag zu warten, bevor sie losziehen wollte, um Manuel zu besuchen. Mit Stadtkarte und Busfahrplan bewaffnet, machten sich Vater und Tochter am frühen Nachmittag trotz größter Hitze auf den Weg. Manuel wohnte am anderen Ende der Stadt, und nachdem sie eine halbe Stunde die Busverbindungen studiert hatten, wußten sie ungefähr, wie sie dorthin kommen konnten. Auf jeden Fall war klar, daß sie mehrere Male umsteigen mußten. Doch sie stiegen noch erheblich öfter um, als sie gedacht hatten. Es war wie verhext, dauernd erwischten sie den falschen Bus. Anita verließ langsam der Mut, nachdem sie zum drittenmal hintereinander in die verkehrte Richtung gefahren waren. Ihrem Vater dagegen schien das nicht einmal etwas auszumachen. "Ist doch nicht schlimm, mein Schatz", beruhigte er sie. "Ich habe so viel Kleingeld, daß wir uns ruhig zwanzigmal verfahren können. Dabei sehen wir wenigstens etwas von der Stadt." "Wenn es bloß nicht so heiß wäre", stöhnte Anita. Ihr leichtes gelbes Sommerkleid klebte an ihrem Körper, und sie fühlte sich alles andere als appetitlich frisch. Das war die wunderbare mexikanische Sonne, nach der sich Anita den - 119 -
ganzen Winter gesehnt hatte. Jetzt würde sie sich am liebsten in ihr klimatisiertes Hotelzimmer verkriechen. Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht, der Busfahrer machte ihnen ein Zeichen, daß sie aussteigen mußten. Sie standen an einer menschenleeren Straßenecke und versuchten, sich zu orientieren. Ja, richtig, Jalisco Norte hieß die eine der beiden Straßen, und sie waren nur noch wenige Hausnummern von Manuels Adresse entfernt. Anita fühlte sich wie ausgedörrt und wurde immer nervöser. "Welche Nummer ist es genau?" erkundigte sich William. "904." "Dann haben wir es geschafft, da drüben ist es." Er zeigte auf ein grün gestrichenes Haus auf der anderen Straßenseite. Ein älterer Mann saß vor der Tür und trank Bier. Er beobachtete sie interessiert und rief dann etwas nach hinten ins Haus. Von einer Minute zur anderen kam Leben in die Straße, die kurz vorher noch völlig verlassen dagelegen hatte. Überall tauchten neugierige Gesichter an den Fenstern auf. Die Leute warteten gespannt, was nun wohl passieren würde. Eine kleine ältere Frau kam aus dem Haus und ging Anita bis zum Gartenzaun entgegen. Sie hatte ihre Haare ganz straff zu einem winzigen Knoten im Nacken zusammengedreht, wodurch sie schrecklich streng aussah. Aus ihren schwarzen Knopfaugen sah sie Anita ausdruckslos an. "Guten Tag", begrüßte Anita sie schüchtern in Spanisch. "Mrs. Garcia?" Manuels Mutter nickte. Anita stellte sich und ihren Vater vor, worauf Mrs. Garcia einen Wortschwall auf sie loßließ, von dem Anita nicht das geringste verstand. "Ich möchte Manuel besuchen", versuchte sie ihr Glück. Mrs. Garcia schüttelte den Kopf. "Ist nicht da." Anita bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Auf der anderen Seite empfand sie auch so etwas wie Erleichterung. Wie hätte sie sich hier mit Manuel unterhalten sollen, in Gegenwart seiner stocksteifen Mutter, die sie sicher keine Sekunde aus den Augen lassen würde? Nein, ihre erste Begegnung mit ihm hatte sie sich ganz anders vorgestellt! - 120 -
"Er ist nicht zu Hause." Anita schaute ihren Vater ratlos an, der gerade dem Mann an der Haustür lachend einen Gruß zuwinkte. Erst jetzt bemerkte Anita die Ähnlichkeit zwischen ihm und ihrem Foto von Manuel. Das mußte sein Vater sein. Scheu lächelte sie ihn an, und er lächelte freundlich zurück. "Wann kommt Manuel nach Hause?" wandte sie sich wieder an seine Mutter. Mrs. Garcia antwortete erneut sehr schnell mit ihrer harten Stimme, und Anita hatte das Gefühl, daß die Wörter wie Hagelkörner auf sie einprasselten. Lediglich "Fußball" glaubte sie vage verstanden zu haben. "Er spielt offenbar Fußball", erklärte sie ihrem Vater. Und Manuel tut das ausgerechnet jetzt, obwohl er doch wissen muß, daß ich da bin. Ist sein Sport denn so furchtbar wichtig für ihn, daß er nicht einmal einen Nachmittag darauf verzichten kann? fragte sich Anita geknickt. Inzwischen waren sie und ihr Vater von einer ganzen Kinderschar umringt, die sie neugierig und erwartungsvoll anstarrte. Und immer mehr Nachbarn schauten aus den Fenstern, sie waren darauf bedacht, keine Sekunde von diesem interessanten Schauspiel zu versäumen. William wurde allmählich ungeduldig. "Sag ihr, wo wir wohnen, und dann laß uns endlich gehen." Anita dolmetschte, und als sie sagte, sie freue sich darauf, Manuel zu sehen, erschien zum erstenmal die Andeutung eines Lächelns auf Mrs. Garcias Gesicht. "Er freut sich auch." Anita fühlte sich plötzlich erleichtert, und sie verabschiedete sich dankbar. Ein kleines Mädchen zupfte sie am Ärmel und sagte in Englisch: "Auf Wiedersehen." Und plötzlich hörten sie von allen Seiten ein fröhliches "Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen", rief Anita glücklich und winkte ihnen lachend zu. Sobald sie außer Sichtweite waren, blieben Anita und William erst einmal stehen. "Puh", stöhnte Anita, "Gott sei Dank ist es überstanden. Ich war noch nie so aufgeregt wie vorhin." "Das war eine Feuerprobe, mein Schatz", schmunzelte William und zog Anita liebevoll in die Arme. "Ich glaube, so
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langsam wirst du erwachsen. Was meinst du, war der Mann Manuels Vater?" "Vermutlich ja. Jedenfalls sah er ihm sehr ähnlich." "Er hat sich über eure Unterhaltung köstlich amüsiert." "Hoffentlich hat Manuels Mutter keinen schlechten Eindruck von mir gekriegt", seufzte Anita besorgt. "Was meinst du, Daddy?" "Ich habe zwar nichts verstanden, aber alles, was du gesagt hast, hörte sich sehr höflich an." "Besonders freundlich war seine Mutter ja gerade nicht. Richtig angestarrt hat sie mich. Ob sie mich nicht leiden kann?" "Mach dir darüber keine unnötigen Sorgen, Anita. Den Nachbarn hast du dafür umso besser gefallen." Er winkte ein Taxi heran. "Das haben wir uns redlich verdient. Ich bin die Busfahrerei für heute leid." Während Anita duschte und frische Klamotten anzog, erzählte sie ihrer Mutter ausführlich von ihrem Treffen mit Mrs. Garcia. "Das hätte ich zu gerne miterlebt", seufzte Jean lachend. "Wäre ich bloß mitgekommen." "Ach, Mami, das hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Daddy und ich waren schon eine Sensation. Zu viert hätten wir wahrscheinlich wie ein Überfallkommando gewirkt." "Jetzt beruhige dich doch, Anita", tröstete William sie. "Du hast dich absolut richtig verhalten." "Bei uns hätte sich bestimmt niemand etwas bei einem solchen Besuch gedacht, aber hier sind die Mädchen viel zurückhaltender, Daddy. Hoffentlich ist Manuel nicht so sauer, daß er überhaupt nicht mehr auftaucht." Um halb sieben war Anita fertig und wartete wieder auf Manuel. Sie trug ihren roten Rock und die weiße Bluse, war hübsch geschminkt, und ihr Haar fiel in weichen Locken auf ihre Schultern. Die Zopffrisur hatte sie gar nicht erst versucht, denn mit ihren vor Aufregung zitternden Händen wäre ohnehin nichts Gescheites dabei herausgekommen. - 122 -
Ihre Eltern gingen mit Ralph hinunter in den Speisesaal, aber Anita be- harrte darauf, im Zimmer zu bleiben, für den Fall, daß Manuel anrief. Vor- sichtig ließ sie sich in einem Sessel in Reichweite des Telefons nieder und blätterte unruhig in Ralphs Comic-Heft herum, ohne einen einzigen Satz zu verstehen. Eineinhalb Stunden später kamen ihre Eltern zurück und fanden nur noch ein Häufchen Elend vor. "Anita, du mußt etwas essen", versuchte Jean sie zu überzeugen. "Ralph wird dir Gesellschaft leisten." "Ich habe keinen Hunger", widersprach Anita leise. Als ob ihr Kummer durchs Essen kleiner würde! "Dann warte in der Halle auf ihn. Du kannst unmöglich die ganze Zeit hier neben dem Telefon hocken." "Dort käme ich mir erst recht vor wie bestellt und nicht abgeholt", schluchzte Anita. Ihre Eltern gaben sich alle erdenkltche Mühe, um sie aufzuheitern, aber ohne Erfolg. Um halb zehn war Manuel noch immer nicht da, und Anita war plötzlich überzeugt, daß er nicht mehr kommen würde. "Bitte geh jetzt runter, Anita", bat ihre Mutter. "Der Speisesaal wird gleich geschlossen." "Essen hält Leib und Seele zusammen", scherzte William, erntete für den blöden Spruch aber nur einen weidwunden Blick von Anita. Obwohl sie sicher war, keinen Bissen runterzubringen, tat Anita ihren Eltern den Gefallen und ging mit Ralph nach unten. Viel länger hätte sie die betonte Munterkeit der beiden ohnehin nicht ertragen. Lustlos bestellte sie Tacos und Limonade. "Er kommt nicht. Ich weiß, daß er nicht kommt", flüsterte sie immer wieder. "Du hattest doch den Eindruck, daß seine Mutter dich nicht mag", überlegte Ralph. "Wenn sie ihn nun nicht gehen läßt?" "Wahrscheinlich paßt sie auf ihn auf wie ein Schießhund", nickte Anita unglücklich. "Vielleicht kann er sich morgen heimlich von zu Hause fortschleichen."
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Auf einmal hörten sie die Stimme ihrer Mutter, die sich laut und offenbar sehr angeregt mit jemanden unterhielt. Anita hob den Kopf und sah, wie Jean gerade durch die Tür in den Speisesaal kam. Neben ihr ging ein junger Mann, der zu allem, was sie sagte, höflich nickte und lächelte. Es war Manuel.
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11. KAPITEL Anita hätte Manuel unter Tausenden erkannt, so gründlich hatte sie sich sein Foto angesehen. Die breiten Schultern und das krause Haar, das ihm in die Stirn fiel, stimmten genau, er war nur nicht ganz so groß, wie sie es sich vorgestellt hatte. Daß er viel Sport trieb, sah Anita mit einem Blick. Unter dem weißen Polohemd, das er zu einer dunkelbraunen Hose trug, zeichneten sich seine muskulösen Arme ab. Wie gebannt blickte er Anita an, sagte aber kein Wort. Jean redete wie ein Wasserfall, um das Schweigen der beiden zu überbrücken, aber keiner hörte auf das, was sie erzählte. "Es ist schön, daß ich dich endlich kennenlerne, Manuel", brachte Anita schließlich heraus. Manuel lächelte sie an. "Ich freue mich, daß du da bist", antwortete er stockend. Er hatte eine tiefe melodische Stimme, ganz anders als die seiner Mutter. Sieh mal an, er ist ja noch schüchterner als ich, dachte Anita erleichtert. Sie schwiegen erneut und sahen sich nur an. Die Welt um sie herum schien versunken zu sein. Sie bemerkten nicht einmal, daß Ralph aufstand und sich grußlos verzog. Er fand ihr Benehmen einfach lächerlich. Langsam kehrte Anita dann auf die Erde zurück, und ihr wurde bewußt, wo sie waren. "Möchtest du etwas essen, Manuel, oder was trinken? Limonade?" fragte sie höflich. "Nein, nein... ich habe schon gegessen. Danke." "Hast du das Fußballspiel heute nachmittag gewonnen?" Manuel schien sie nicht verstanden zu haben, denn er schlang unruhig die Finger ineinander und schaute Anita fragend an. "Wie bitte? Gewonnen?" wiederholte er zögernd. Wie soll ich ihm das nur erklären, überlegte Anita. Zu dumm von mir, daß ich das Wörterbuch oben im Zimmer - 125 -
gelassen habe. Dann ballte sie die Hände zu Fäusten und hob sie in Siegerpose über den Kopf. "Gewonnen?" Diese Geste kannte Manuel, und er nickte ihr strahlend zu. "Ja." Mit diesem Lachen hatte er sie total erobert, und ihr Herz klopfte wild. Wenn doch Mami endlich ginge, flehte sie im stillen. Ich möchte so gern mit Manuel allein sein. Merkt sie das denn gar nicht? Aber Jean blickte nur fröhlich von einem zum anderen. "Sollen wir uns eine Weile in die Halle setzen?" schlug Anita vor. "Ich glaube, der Speisesaal wird gleich geschlossen." Manuel nickte höflich, allzu begeistert war er jedoch offensichtlich nicht. "Kommst du mit spazieren?" fragte er statt dessen. Das wird Mami mir nie erlauben, dachte Anita traurig. Doch sie hatte sich getäuscht. Jean lächelte Manuel freundlich an. "Nicht zu weit und nicht zu lange", stimmte sie zu. "Punkt zwölf seid ihr wieder da. Versprochen?" "Mami, du bist die Allergrößte", jubelte Anita und umarmte ihre Mutter stürmisch. Zum Glück war Daddy nicht hier. Der wäre eher mitgegangen, als sie mit einem Jungen allein zu lassen, den sie gerade erst kennengelernt hatte. Es wehte eine leichte Sommerbrise, und über ihnen funkelten Mond und Sterne von einem wolkenlosen Himmel. Mit wenigen Schritten waren Anita und Manuel an der Zaragoza Plaza, einem großen Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte und vielen bunten Blumenbeeten. Keiner von ihnen hatte bisher ein Wort gesagt. Manuel kämpfte offenbar immer noch gegen seine Schüchternheit an, und alles, was Anita einfiel, kam ihr zu blöd und lächerlich vor, um es laut zu sagen. Doch sie verstanden sich auch ohne Worte. Deshalb lächelten sie sich nur an, als sie sich auf dem Rand des Brunnens niederließen. "Deine Mutter ist sehr hübsch", bemerkte Manuel nach einer Weile. "Danke. Ich habe deine Mutter auch schon kennengelernt. Hat sie es dir erzählt?" Vielleicht würde sie nun - 126 -
erfahren, was für einen Einduck sie auf Mrs. Garcia gemacht hatte. "Ja, natürlich. Sie sagt, du siehst aus wie kleiner gelber Vogel wegen deinem..." Hilflos lächelnd brach er ab und zeigte auf ihren Rock. "Wegen des gelben KleidIs", half ihm Anita und freute sich, daß seiner Mutter ihr hübsches Kleid aufgefallen war. Ob Mrs. Garcia in Wirklichkeit gar nicht so streng und unnahbar war, wie sie auf Anita gewirkt hatte? "Kleid, ja", wiederholte Manuel. "Sie fragt, warum du nicht ins Haus gekommen?" Lieber Himmel! dachte Anita entsetzt. Jetzt habe ich seine Mutter auch noch vor den Kopf gestoßen. "Sie hat mich hereingebeten? Das habe ich nicht verstanden. Bitte, Manuel, sag ihr das. Ich wollte bestimmt nicht unhöflich sein." "Sie weiß", versicherte er. "Alles in Ordnung." Darauf schwieg er wieder und schaute auf seine Hände. Anita betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Er sah wirklich überwältigend gut aus. Die stolze gerade Nase und die sanften schwarzen Augen hatten es ihr besonders angetan. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und Manuel gestreichelt. Manuel mußte ihren Blick gespürt haben, denn er wandte den Kopf und sah Anita lächelnd in die Augen. "Hast du im ,Holyday Inn' nach uns gefragt?" erkundigte sie sich schnell. Hatte er womöglich ihre Gedanken gelesen? "Ja. Sie sagen, sie haben keine Familie Seagraves. Was ist passiert?" "Sie haben unsere Buchung nicht erhalten. Keiner weiß, warum." "Ah." "Hast du geglaubt, ich komme nicht?" Manuel schüttelte ernst den Kopf. "Nein, Anita, ich habe großes Vertrauen auf dich", versicherte er eindringlich. Sie errötete vor Freude, und plötzlich streichelte Manuel sanft ihre Wange. "Gehen wir weiter?" Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Wohin du willst, seufzte Anita unhörbar. Von mir
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aus bis ans Ende der Welt. Wie selbstverständlich legte sie ihre Hand in seine. Von Manuels zärtlicher Berührung war ihr ganz heiß, und ihr Herz klopfte wild. Langsam wanderten sie durch die. Straßen und an Plätzen vorbei, die auch um diese Nachtzeit noch sehr belebt waren. Voller Stolz zeigte ihr Manuel seine Heimatstadt. Beide hatten ihre Schüchternheit überwunden und radebrechten lachend mal in Englisch und mal in Spanisch. Anita behielt kein Wort von dem, was sie redeten, doch das war auch nicht wichtig. Das einzige, was zählte, war Manuels Lächeln und der Druck seiner warmen Hand. Es war ihr, als würde sie ihn schon ihr Leben lang kennen. Anita hatte jedes Gefühl für Zeit verloren und war überrascht, als Manuel plötzlich stehenblieb und auf seine Uhr schaute. Es war zehn Minuten vor zwölf. "Wir müssen pünktlich sein, oder deine Mutter schimpft mich." Anitas Herz wurde schwer. Wie soll es jetzt weitergehen? Wir können uns nicht so einfach trennen, wir müssen uns wiedersehen, denn dies war doch erst der Anfang. "Anita, ich möchte dich fragen." Manuel drehte sie zu sich um und blickte ihr in die Augen. "Darf ich dich küssen?" Sie nickte wortlos, und Manuel gab ihr einen langen zärtlichen Kuß. Anita war so glücklich. Sie zitterte und dachte, ihr Herz müsse zerspringen, und Manuel schien es genauso zu gehen. Hand in Hand schlenderten Anita und Manuel zum Hotel zurück, es war gerade zwölf Uhr. Kaum hatten sie die Halle betreten, als Anita überrascht stehenblieb. Auf einem der Sofas, den Eingang direkt im Auge, saß William, scheinbar in ein Taschenbuch vertieft, von dem er jedoch jede zweite Sekunde aufblickte. Er entdeckte Anita und stand auf. Manuel scheint überhaupt nicht erstaunt zu sein, daß mein Vater auf uns wartet, stellte Anita beruhigt fest, nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte. Vielleicht ist das in Mexiko so üblich, und Manuel hat damit gerechnet. - 128 -
Zu Hause wäre es ihr entsetzlich peinlich gewesen, von William in Emp- fang genommen zu werden, aber hier machte es möglicherweise sogar einen guten Eindruck auf Manuel. "Daddy, das ist Manuel Garcia", stellte sie vor. "Guten Abend, Mr. Seagraves", sagte Manuel. "Guten Abend, Manuel. Nett, sie kennenzulernen", meinte William. Dann nahm er seine Tochter in den Arm. "Na, Anita, war's schön?" "Ja, Daddy, danke", strahlte sie und kuschelte sich an ihren Vater. Ob sie jetzt wohl mit ihren Schmeicheleien landen konnte? "Es war ganz lieb von euch, mich mit Manuel spazierengehen zu lassen." Sie fragte sich, was ihre Mutter wohl erzählt haben konnte, und welchen Eindruck ihr Vater von Manuel hatte. "Daddy, wir fahren doch morgen zur Chipinque Mesa hinauf, nicht?" fragte sie einschmeichelnd. William schaute sie einen Moment lang prüfend an, bevor er sich schmunzelnd an Manuel wandte. "Wollen Sie vielleicht mitkommen?" Verständnislos starrte Manuel ihn an. "Wie bitte?" Anita war selig, ihr Vater hatte sofort kapiert, worauf sie hinauswollte. Sie drückte ihm rasch einen Kuß auf die Wange und fragte Manuel strahlend: "Möchtest du uns mörgen zur Chipinque Mesa begleiten?" "Ach so, natürlich. Vielen Dank, Sir", strahlte Manuel. "Also dann bis um zehn Uhr." "Gute Nacht, Sir. Ich bin pünktlich hier." "Gute Nacht, Manuel", hauchte Anita ihm in Spanisch zu, bevor sie ihrem Vater zum Aufzug folgte. Anita konnte lange nicht einschlafen. Nachdem sie in ihr Zimmer gekommen war, hatte sie ihre Mutter als erstes darüber ausgequetscht, wie Manuel sich gemeldet hatte. "Ach, Liebes, alles war so furchtbar einfach. Er rief von der Halle aus an und sagte: ,Ich bin Manuel. Ich bin hier.' Ich bin dann zu ihm heruntergegangen und habe mich einen Moment mit ihm unterhalten. Dann sind wir in den Speisesaal gekommen." - 129 -
"Und deine Mutter war so aufgeregt, als sei Manuel ihr Brieffreund und nicht deiner", kommentierte William lachend. "Hat Manuel etwas von seiner Familie erzählt?" wollte Jean wissen. "Nein, aber seine Mutter hat gemeint, ich sähe wie ein kleiner gelber Vogel aus, wegen des gelben Kleides", erzählte Anita lachend. Dann fiel ihr noch etwas ein: "Übrigens, Daddy, stell dir vor, sie hat uns ins Haus gebeten, und ich habe es gar nicht verstanden. Doch sie ist nicht böse, sagt Manuel." "Manuel kommt also morgen mit uns?" erkundigte sich Jean. "Ja." Anita konnte ihr Glück kaum fassen. Fast eine ganzen Tag sollte sie mit Manuel verbringen. "Er ist so wunderbar", seufzte sie selig. "Er scheint wirklich ein netter Junge zu sein", gab ihr Vater zu. "Aber bei Tageslicht kann alles ganz anders aussehen." Manuel enttäuschte Anita auch am nächsten Tag nicht. Er erschien auf die Minute pünktlich im Hotel und hatte nur Augen für sie. Anita sah auch wirklich sehr hübsch aus in ihrem blauweiß gestreiften Sommerkleid. Ihre EItern begrüßte Manuel ziemlich flüchtig, gerade noch aufmerksam genug, daß es nicht unhöflich wirkte. Der Bus wartete bereits draußen, und zusammen mit einer Menge anderer Touristen quetschten sie sich hinein. Die meisten Reisenden waren Amerikaner, die sich laut und manchmal fast etwas geringschätzig darüber ausließen, wie rückständig vieles hier noch sei. Anita ärgerte sich furchtbar darüber und hoffte inständig, daß Manuel nicht allzuviel von dem taktlosen Geplapper ihrer Landsleute mitkriegte. Unterwegs bombardierten ihre Eltern sie mit Fragen über das Land und die Gegend, durch die sie gerade fuhren, und Anita gab alles gehorsam an Manuel weiter. Doch sooft sie ihn anschaute und in seine Augen blickte, war sie so verwirrt, daß sie Mühe hatte, sich an irgendwelche Vokabeln oder gar Grammatik zu erinnern, die sie in der Schule gelernt hatte. Ohne Wörterbuch wäre sie vollkommen hilflos gewesen. - 130 -
Als der Bus schließlich nach einer Dreiviertelstunde die gewundene Straße zur Hochebene, der Chipinque Mesa, hochkroch, ließen ihre Eltern sie endlich in Ruhe. Sie lehnten sich zufrieden in ihre Sitze zurück und genossen den herrlichen Rundblick in die Ebene und zu den Bergen hinauf. Anita sah scheinbar genauso interessiert aus dem Fenster wie alle anderen, aber heimlich studierte sie aus den Augenwinkeln Manuels Gesicht. Sie wollte sich jede auch noch so winzige Linie einprägen. So kannte sie schon die ganz kleine Falte, die sich jedesmal zwischen seinen Augenbrauen bildete, wenn Manuel etwas nicht sofort verstand. Ihre Hand lag zwischen ihnen auf dem Sitz, und Anita sehnte sich danach, daß Manuel sie wieder festhielt. Als habe er ihre Gedanken erraten, lächelte Manuel Anita an und schloß seine Hand leicht um ihre Finger. Schade, daß sie nicht allein waren, seufzte Anita im stillen. Wie nah waren sie sich gestern abend gewesen! Aber hier, mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder im Schlepptau, konnte ja keine romantische und zärtliche Stimmung aufkommen. Am liebsten hätte Anita sie alle zum Teufel geschickt, damit sie Manuel endlich für sich allein hatte. Auf dem großen Busparkplatz oben auf der Hochebene stiegen sie aus und marschierten mit all den anderen Touristen zu einem kleinen Aussichtsturm. Unter ihnen im Tal lag Monterrey, und Manuel erklärte ihnen eifrig, wo sich interessante Gebäude, große Sportanlagen oder andere Sehenswürdigkeiten befanden. "Sehr hübsch ist es hier bei Nacht", versicherte er. "Die vielen Lichter sind wie... Steine für Schmuck." "Meinst du Diamanten?" fragte Anita fasziniert. "Ja, ja", nickte er. Anita seufzte. Abends hier mit Manuel allein zu stehen und auf das Lichtermeer der Stadt herunterzublicken, das mußte wunderschön sein. Was für ein romantisches Gedicht könnte sie darüber schreiben! Solange sie draußen herumliefen, fiel ihnen noch nicht auf, wie viele Menschen mit Bussen hier heraufgekarrt worden
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waren, doch zur Lunchzeit drängten plötzlich alle auf einmal ins Restaurant. Es war ein totales Chaos, und nur mit Mühe ergatterte William einen Tisch für sie. Während des Essens herrschte am Tisch verlegenes Schweigen. Ralph tat sich keinen Zwang an und starrte Manuel ungeniert an, als sei er ein Ausstellungsstück, und William blickte sie beide gelegentlich prüfend über seine Brillengläser hinweg an. Lediglich Jean machte einige klägliche Versuche, die spannungsgeladene Atmosphäre ein bißchen aufzulockern, aber sie gab bald resigniert auf. Anita war so nervös, daß sie das Gefühl hatte, ihr Magen sei wie zugeschnürt. Um ihren Vater nicht zu verärgern, würgte sie ein paar Früchte herunter, während sie darüber nachgrübelte, ob sie mehr Angst hatte, daß ihre Familie Manuel nicht gefallen könnte oder er der Familie nicht. Nach dem Lunch mußten sie noch eine Stunde warten, bevor der Bus wieder zurückfuhr. Eigentlich gab es nichts Besonderes mehr anzusehen, und sie waren etwas ratlos, wie sie die Zeit totschlagen sollten. Und ich habe heute noch kein einziges Wort mit Manuel allein gesprochen, dachte Anita traurig. Dabei hatte ich mich so auf den Ausflug gefreut. Sie warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. Jean verstand sofort, was Anita von ihr wollte. "William, von dort drüben soll man eine ganz phantastische Aussicht haben", meinte sie plötzlich. "Laß uns doch mal rübergehen. Ralph, komm du auch mit!" forderte sie ihren Sohn unmißverständlich auf. Knurrend trottete Ralph hinter ihnen her. Große Klasse! frohlockte Anita. Du bist doch eine Supermutter! Anita und Manuel gingen ein Stück in die entgegengesetzte Richtung und fanden ganz in der Nähe einen hübschen Platz, wo sie wenigstens nicht jeder gleich sehen konnte. Dort ließen - 132 -
sie sich auf einem Felsbrocken nieder. Anita strahlte Manuel an, aber er lächelte nur schwach zurück. Irgendwie schienen ihn die letzten Stunden mit ihrer Familie genervt zu haben, denn er wirkte ziemlich geschafft. Anita überlegte krampfhaft, wie sie ihn aus seiner trüben Stimmung reißen könnte. "Wir sind eine ganz schön anstrengende Familie, findest du nicht?" begann sie scherzhaft In Spanisch. "Machen wir dich sehr nervös?" "Nein, nein", versicherte Manuel schnell, etwas zu schnell, um ehrlich zu klingen. "Doch, ein bißchen vielleicht", fügte er dann schuldbewußt hinzu, "aber sie sind nett." "Das sind sie wirklich", betonte Anita. "Aber alle zusammen sind sie manchmal..." "Schwer zu ertragen" hatte sie sagen wollen, aber das kam ihr doch zu ungerecht vor. Dazu hatte sie ihre Familie nämlich zu lieb, auch wenn ihre Mutter manchmal schrecklich viel redete und ihr Vater ziemlich ungemütlich werden konnte. Anita fiel kein passendes Wort ein, und sie zuckte nur die Schultern. Manuel nahm ihre Hand und streichelte sie zärtlich. "Ich verstehe." In seinen dunklen Augen konnte sie lesen, was er meinte: "Meine Mutter hat es dir gestern sicher nicht ganz leicht gemacht, dafür halte ich's heute mit deiner Familie aus." Anita seufzte erleichtert. Ja, wirklich, ihre Unterhaltung mit Mrs. Garcia hatte sie total fertiggemacht. Aber wahrscheinlich ging es allen Jungen und Mädchen so, wenn sie die Eltern ihrer Freunde kennenlernten. "Letzte Nacht träumte ich von dir", gestand Manuel leise. Zärtlich sah sie ihn an, und Manuel strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Du bist sehr hübsch", sagte er bewundernd. Anitas Puls schlug plötzlich schneller. "Danke." "Für mich bist du ,una diosa"', flüsterte er ihr zu. "Was heißt das, Manuel?" Er nahm ihr das Wörterbuch ab und blätterte darin herum. Anita sah sich währenddessen die Gegend an. Auf einmal hörte sie Stimmen hinter sich und rutschte hastig einige Zentimeter von Manuel weg. Ein Ehepaar mit zwei größeren Söhnen kam - 133 -
direkt auf sie zu. Zu blöd, daß wir nicht einmal hier fünf Minuten ungestört sein können, schimpfte Anita vor sich hin. Müssen die denn ausgerechnet bei uns vorbei latschen? Doch dann erstarrte sie. Der eine der beiden Jungen sieht genauso aus wie Gordy, durchfuhr es sie. Er war etwa so alt wie Gordy, stellte sie fest, und er hatte eine ebenso gedrungene Nase und dieselben blitzenden Augen, mit denen er streitlustig um sich blickte. Nur sein Mund war etwas anders geschnitten, irgendwie weicher und schwächer. Gordys gefällt mir besser, dachte sie unwillkürlich. Plötzlich tat Anitas Herz vor Heimweh nach Gordy so weh, daß sie einen Moment lang kaum noch atmen konnte. Wie war das bloß möglich? Sie saß doch hier mit ihrem Manuel, wie sie es sich daheim in Portland so oft vorgestellt hatte, und nun sehnte sie sich nach Gordy. "Anita?" Schuldbewußt drehte sie sich um Und sah, daß Manuel den fremden Jungen sehr genau beobachtete. "Du kennst ihn?" fragte Manuel. "Nein, nein, er sieht nur einem Freund von zu Hause ähnlich." Manuel lächelte leicht, aber Anita hatte das Gefühl, daß er sie mißtrauisch ansah. "Dieser Gordon Thompson?" Erschrocken schaute Anita ihn an. Konnte er etwa Gedanken lesen? Doch dann fiel ihr ein, daß Gordy der einzige Junge war, den sie Manuel gegenüber erwähnt hatte. Klar, daß er den Namen genauso gut behalten hatte wie Anita den von Rose. "Ja", entgegnete sie leise, "er sieht aus wie Gordy." Manuel sah dem Jungen nach, bis er verschwunden war, dann schaute er Anita mit zusammengezogenen Augenbrauen an. "Gordy ist ein sehr guter Freund?" wollte er wissen. "So ungefähr", meinte sie dehalb ausweichend. "Was heißt das, Anita?" "Man kann sagen, daß er ein guter Freund ist."
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Manuel nickte ernst, und Anita fühlte sich langsam etwas ungemütlich unter seinen mißtrauischen Blicken. Wie konnte sie ihn nur von diesem Thema abbringen? Aber Manuel fuhr bereits fort: "Schreibst du ein Gedicht für ihn?" "Nein", versicherte sie verblüfft. Ein Gedicht für Gordy? Sie hätte gar nicht gewußt, was sie da schreiben sollte. Etwas besänftigt griff Manuel in die Brusttasche seines Hemdes und holte einen zerknitterten Briefbogen heraus, der Anita sehr bekannt vorkam. Es war hellgrünes Büttenpapier. "Ich habe das immer bei mir", gestand Manuel ihr. Zögernd nahm Anita ihm den Bogen aus der Hand und las das Gedicht, das sie vor fast drei Monaten voller Begeisterung für Manuel geschrieben hatte, als ihre Eltern ihr die Neuigkeit von der Reise mitgeteilt hatten. Das Feuer Eurer Tänze, die Schwermut der Musik, Das altes ist mir so vertraut, Als hätte ich in Deinem Land gelebt, Bevor ich nochmals auf die Erde kam. Ich kenn Dich nicht, ich hab Dich nie gesehen Und hab doch das Gefühl, Daß wir uns schon begegnet sind in jener früh'ren Welt. In Liebe Anita Damals war sie überzeugt gewesen, ein tolles kleines Kunstwerk zustandegebracht zu haben, aber heute schämte sie sich für den Blödsinn, den sie zusammengereimt hatte. Außerdem hörte es sich irgendwie unecht an, fand Anita. Ein paar Stunden früher hätte sie wahrscheinlich noch ganz anders darüber gedacht, aber seit sie Gordys Doppelgänger gesehen hatte, sehnte sie sich plötzlich nach Hause. Sie sah Manuel an und wunderte sich über das seltsame Glitzern in seinen Augen, als er sagte: "Ich bin sehr stolz auf dieses Gedicht, Anita. Du schreibst es für mich, für mich ganz allein."
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"Anita", rief ihr Vater plötzlich. Sie drehte sich um und sah, daß William nicht weit entfernt stand. "Ich glaube, wir fahren eher ab als geplant. Jedenfalls steigen schon alle Leute ein. Kommt bitte auch." Ganz selbstverständlich nahm Manuel Anitas Hand, während sie William zum Bus folgten. Anita wäre eigentlich lieber allein gegangen, weil ihr Manuels zärtliche Geste vor ihrem Vater etwas peinlich war. Wieso ist Manuel auf einmal so besitzergreifend? dachte sie. Sie hatte sich immer so sehr gewünscht, Hand in Hand mit ihm spazierenzugehen. Warum war es ihr plötzlich unangenehm, daß ihre Eltern sie so sahen? Was war nur los mit ihr? Dieses war der Manuel, nach dem sie sich in Portland ein halbes Jahr lang gesehnt hatte. Dem sie geschrieben hatte, daß sie ihn liebte. Das konnte sich doch unmöglich alles geändert haben! Allmählich beruhigte sich Anita wieder und umschlang Manuels Finger fester. Sie wollte schließlich nicht umsonst hierhergefahren sein. Im Bus fiel ihr das Wort ein, das Manuel ihr zugeflüstert hatte. Beiläufig blätterte sie in dem Wörterbuch herum, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Das Wort bedeutete "Göttin". Vor Freude bekam Anita ein ganz heißes Gesicht. So sah er sie also an. Nun, ihr sollte es recht sein. Daheim in Portland käme niemand auf die Idee, sie wie eine Statue auf einen Sockel zu stellen und zu bewundern. Auf einmal schämte sie sich, daß sie vorhin derartig gereizt gewesen war. Aber immerhin war in den letzten Tagen auch einiges los gewesen. Erst die lange Reise, dann das Treffen mit Manuels Mutter und schließlich die langersehnte Begegnung mit Manuel selbst. Das alles konnte sie wirklich nicht so schnell verkraften. Kein Wunder, daß sie zwischendurch kalte Füße bekommen hatte.
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12. KAPITEL Anita genoß den Nachmittag unwahrscheinlich. Nachdem sie sich erst einmal klar gemacht hatte, daß ihre Reaktion durchaus normal gewesen war, hatte sie sich vollkommen entspannt. Manuel hatte sie alle zur Hidalgo Plaza geführt, wo jeden Tag ein großer Markt stattfand, auf dem sich Einheimische und Touristen drängten. Manuel hatte mit Anitas Eltern sicherheitshalber einen Treffpunkt ausgemacht, falls sie sich aus den Augen verlieren würden. In stillem EinverIständnis sorgten Anita und Manuel dann ganz schnell dafür, daß sie ihren lästigen Anhang los wurden. Anita blieb immer wieder begeistert stehen und brach in Entzückensrufe über irgendeine Kleinigkeit aus. Sofort lief Manuel hin und kaufte sie. "Nein, Manuel, laß das bitte", bat sie ihn jedesmal, denn die Sachen waren zwar hübsch, aber Anita war sich nicht einmal sicher, ob sie sie wirklich haben wollte. Sie gefielen ihr im ersten Moment, doch wenn sie darüber nachdachte, konnte sie eigentlich gar nichts damit anfangen. Manuel lachte nur uber Ihre Proteste, und es schien ihm große Freude zu machen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Schließlich blieb Anita nichts anderes mehr übrig, als die Sachen stumm zu bewundern, denn Manuel hatte bereits eine ganze Menge hübscher verrückter Dinge gekauft: Irdenes Puppengeschirr, einen kleinen Plüschhund auf einer Stange und eine winzige Puppe. Schade, Manuel hatte ihr mit seiner ständigen Kauferei ein bißchen die Freude an dem Marktbesuch genommen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, daß er soviel Geld für sie ausgab. Eine Stunde später trafen sie sich mit Anitas Eltern am vereinbarten Treffpunkt und gingen zusammen zum Abendessen in einen Hähnchen- 137 -
Grill. "Ich esse Hähnchen sehr gern", versicherte Manuel, dann nagte er jedoch nur lustlos an seinem Hühnerbein herum. Anita brachte ebenfalls kaum einen Bissen herunter. Offensichtlich stimmt das Sprichwort, daß man von Luft und Liebe leben kann, stellte sie verträumt fest. Leicht verärgert bemerkte William, daß die beiden fast nichts von ihrem Essen angerührt hatten, und er setzte gerade zu einer Strafpredigt an, als Jean ihm warnend die Hand auf den Arm legte. Mami ist wirklich Spitzenklasse! dachte Anita. Sie hat während dieser Reise schon so manche Situation gerettet. "Darf Anita wieder mit mir gehen?" fragte Manuel ihren Vater, nachdem sie zum Hotel zurückgekommen waren. Anita konnte William deutlich ansehen, daß er davon nichts hielt. Er räusperte sich und erwiderte zögernd: "Das war ein langer Tag heute. Wahrscheinlich ist Anita zu müde dazu." "Bin ich überhaupt nicht", rief Anita sofort, obwohl sie ihrem Vater recht geben mußte. Sie hatte Füße wie Blei, doch sie würde sich auf keinen Fall die Chance entgehen lassen, mit Manuel allein zu sein. "Ein Weilchen könnten sie schon noch rumlaufen, William, meinst du nicht auch?" mischte sich Jean sein. "Es ist ja noch früh am Abend." "Also gut, aber nicht zu lange", gab Anitas Vater sich geschlagen. Anita lud die Schätze, die Manuel ihr geschenkt hatte, bei Ralph ab und ermahnte ihn, sie sorgfältig zu behandeln. Dann schlenderte sie mit Manuel in Richtung Zaragoza Plaza davon. Manuel blickte nachdenklich vor sich hin. Wo war sein strahlendes Lächeln von gestern geblieben? "Morgen ist die Rückfahrt?" fragte er plötzlich. "Ja, wir fahren morgen früh. Aber bitte, Manuel sprich jetzt nicht schon davon." Sie wollte einfach nicht daran denken. "Nicht traurig sein! Wir haben noch den ganzen Abend vor uns. Komm!" Sie faßte seine Hand und rannte, Manuel hinter sich herziehend, lachend los.
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Dieses sollte der schönste Abend ihres Lebens werden, auch wenn er der Abschiedsabend von Manuel war. Die Erinnerung daran würde sie mit nach Hause nehmen. Sie liefen über die ganze Plaza, und Anita riß mit ihrem Temperament Manuel aus seiner düsteren Stimmung. Lachend und nach Luft schnappend, ließen sie sich auf eine Bank fallen. Nach einer Weile wanderten sie Hand in Hand weiter zu einem kleineren Platz, der Anita gestern besonders gut gefallen hatte. Ein Straßenfotograf hatte dort seine Kamera aufgebaut und auf einem wackeligen Tischchen einige Fotos als Reklame ausgestellt, die zumeist junge, verliebte Pärchen zeigten. "Du möchtest ein Foto?" fragte Manuel. "Wahnsinnig gern. Daddy hat nämlich seinen Fotoapparat zu Hause vergessen." Nun würde sie also doch zu einem neuen Foto von Manuel kommen, dazu noch zu einem, auf dem sie beide drauf waren. Hand in Hand stellten sie sich auf den Platz, den der Fotograf ihnen zeigte. Aus reiner Gewohnheit strich sich Anita die Haare aus dem Gesicht hinter die Ohren, wie ihre Mutter es ihr bereits hundertmal gepredigt hatte. "Nein, nicht", protestierte Manuel und legte ihr eine Locke über jede Schulter. "So ist es viel besser. Du mußt nicht diese schönen Haare verstecken." Der Fotograf rief ihnen etwas zu, und Manuel gab das Kommando an Anita weiter: "Lächeln!" Sie umklammerte seine Hand und lächelte strahlend. Manuel bezahlte das Foto und kam zu Anita zurück. "In zwei Wochen ist es fertig. Ich schicke es." Er entdeckte einen Stand, an dem es Getränke gab. "Es ist heiß. Wir wollen etwas trinken. Limonade?" Anita nickte dankbar, und Manuel kaufte zwei Flaschen Orangensprudel. Langsam schlenderten sie weiter, bis sie zu einer Bank kamen. Ach, ist das Leben schön, dachte Anita glücklich. Wenn es doch immer so bleiben könnte. Sie drehte sich zu Manuel um und war überrascht, wie traurig er wieder aussah. "Hey." Sie stieß ihn liebevoll mit dem Ellbogen in die Rippen, und er schaute auf. - 139 -
"Ich möchte nicht, daß du abfährst", bat er leise. "Bitte, Manuel, rede nicht davon." Er nahm ihr das Wörterbuch aus der Hand und suchte nervös darin herum. Dann blickte er Anita eindringlich an. "Ich vermisse dich." "Ja, Manuel, ich werde dich auch vermissen." "Anita, ich liebe dich", gestand er ihr plötzlich. Vor Aufregung wurde Anita ganz blaß. Ich liebe dich auch, Manuel, dachte sie. Warum konnte sie diesen Satz nur nicht über ihre Lippen bringen? Manuel wartete auf ihre Antwort und sah Anita gespannt an. "Liebst du mich auch, Anita?" fragte er schließlich beunruhigt. Anita rutschte nervös hin und her. Es war ihr schon nicht leicht gefallen, Manuel per Brief eine Liebeserklärung zu machen. Aber ihm jetzt direkt zu sagen, daß sie ihn liebte - nein, das war ganz unmöglich. "Wir sind beide noch schrecklich jung", versuchte sie, ihn etwas abzulenken. "In fünf Jahren arbeite ich und verdiene Geld", erklärte ihr Manuel eifrig. "Dann bin ich Ingenieur. Ich bekomme hier sicher einen guten Job, denn es gibt viel Industrie in Monterrey." "Du bist gut dran, Manuel. Du hast eine sichere Karriere vor dir", ging Anita auf das Thema ein. Vielleicht konnte sie so die gefährliche Klippe umschiffen. "Ich wünschte, ich könnte das auch von meinem Beruf sagen." "Dein Beruf?" erkundigte sich Manuel erstaunt. "Ja, ich will Dichterin werden." Manuel starrte sie verständnislos an, und Anita begann, ihm von ihren Plänen zu erzählen. "Ich muß aufs College gehen und Literatur studieren. Das ist harte Arbeit, glaub mir. Und eine Garantie, daß ich auch wirklich Erfolg habe, kriege ich dort noch lange nicht. Eine gehörige Portion Glück gehört auch dazu." Anita war so froh, mit Manuel über ihren zukünftigen Beruf reden zu können, daß sie gar nicht verstand, wieso er sie plötzlich stirnrunzelnd und fast empört ansah. "Du willst nicht heiraten?" fragte er heftig. "Und Kinder haben?" Anita zuckte beim scharfen Klang seiner Stimme - 140 -
zusammen, und ein unangenehm kaltes Gefühl kroch über ihren Rücken. "Natürlich will ich das", erwiderte sie betont ruhig. "Doch was spricht dagegen, daß ich auch berufstätig bin?" "In meiner Heimat heiraten Frauen und haben Kinder", preßte Manuel durch die zusammengebissenen Zähne. "So ist es auch bei uns", versicherte ihm Anita. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. "Aber trotzdem gehen bei uns die Mädchen aufs College. Und wenn sie gut genug sind und Lust dazu haben, machen sie auch eine tolle berufliche Karriere." Manuel schüttelte fassungslos den Kopf und schaute Anita ungläubig, ja beinahe feindselig an. "Du willst nicht zu Hause bleiben? Das ist nicht genug für dich?" Er wirkte derartig überheblich, daß Anita allmählich wütend wurde. "Nein, das ist mir nicht genug", rief sie. "Ich bin genauso intelligent wie du. Warum soll ich nur zu Hause rumsitzen und Kinder hüten, wenn ich gleichzeitig auch noch einen Beruf haben kann, der mir Spaß macht? In meinem Heimatland ist das selbstverständlich. Dort sieht man überhaupt alles ein bißchen großzügiger", fügte sie noch hinzu, obwohl er diese Spitze vielleicht gar nicht verstand. In ihrer Wut hatte Anita sehr schnell gesprochen, und daher hatte Manuel sicher nicht jedes Wort begriffen. Aber was er gehört hatte, reichte für ihn aus, um sie zornig anzufunkeln. "Dann willst du mich also nicht heiraten?" "Nicht, wenn ich dafür meinen Beruf opfern muß", schrie sie. "Such dir eine andere, der du deine Pandabärenschenken kannst." "Das war's dann wohl", sagte sie zu sich selbst. "Diese Freundschaft hast du gerade in tausend Stücke zerschlagen." Aber was machte das schon? Auf den Manuel, den sie eben kennengelernt hatte, konnte sie getrost verzichten. Die Art, wie er die Lippen zusammenpreßte und die beleidigte Eitelkeit spielte, brachte sie erneut in Wut. Von mir aus kannst du solange eingeschnappt sein, bist du schwarz wirst, dachte sie zornig. Diese Masche zieht vielleicht bei
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euren Mädchen hier, aber mich beeindruckt das nicht im gerinsten. "Ich möchte ins Hotel zurück", fuhr sie Manuel an. Sofort stand er auf, streckte den Arm aus und deutete ihr mit einer spöttischen Verbeugung an, vor ihm herzugehen. Anita warf den Kopf in den Nacken und schaute ihn über die Schulter noch einmal verächtlich an, bevor sie losstolzierte. Sie hatte nur den einen Wunsch, von hier wegzukommen, denn einige Pärchen in der Nähe amüsierten sich bereits köstlich über dieses Gratisschauspiel. Natürlich kam Manuel sofort hinter ihr her. Er war zu streng erzogen worden, um ein Mädchen nachts allein durch die Straßen laufen zu lassen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, marschierte er schweigend und mit düsterer Miene neben ihr her. Während sie zum Hotel zurückliefen, verrauchte Anitas Wut allmählich, und sie fühlte sich nur noch verwirrt und fast krank vor Enttäuschung über diesen Streit. Sie hatte so viel Porzellan zerschlagen, daß von ihrer Freundschaft mit Manuel nur noch ein großer Scherbenhaufen übrig war. Wie hatte das passieren können? Mit wieviel Begeisterung für Manuel und sein Land war sie hergekommen? War das wirklich erste wenige Tage her? Aber er hatte ihr eine Seite seines Wesens gezeigt, mit der sie nicht gerechnet hatte. Dunkel erinnerte sie sich, daß Jean ihr gesagt hatte, daß die Jungen hier ganz andere Vorstellungen von Mädchen hätten als in Amerika. Aber sie hatte die Warnung ihrer Mutter nicht ernst genommen. Nun hatte sie die schmerzhafte Erfahrung selbst gemacht. Manchmal war es vielleicht doch ganz gut, auf die Ratschläge der Eltern zu hören, das ersparte einem unnötigen Kummer. Ihre Träume hatte sie ein halbes Jahr lang gehegt und gepflegt. Nun hatten sie sich in Luft aufgelöst, und sie stand mit leeren Händen da, doch sie war entschlossen, Manuel nichts davon merken zu lassen. "Gute Nacht", grüßte sie knapp und ging auf die Tür des Hotels zu. Er hielt ihren Arm fest. - 142 -
"Anita" bat er. "Sehen wir uns morgen. Erregt schüttelte sie seine Hand ab. "Ich werde meine Meinung nicht ändern, für den Fall, daß du das glauben solltest." "Bitte. Gehen wir um acht Uhr?" Manuel blickte sie so flehentlich an, daß Anita unsicher wurde. Ob morgen alles ganz anders aussah? Vielleicht. Außerdem konnte ihre Beziehung doch nicht mit einem so fürchterlichen Streit enden. "Okay", meinte sie kurz und ließ Manuel einfach stehen. Bevor Anita das Zimmer betrat, lehnte sie sich einen Moment an die Wand und atmete einige Male tief durch. In den nächsten Minuten würde sie sich gewaltig zusammenreißen müssen, damit ihre Eltern ihr nichts anmerkten. Denn sie durften auf keinen Fall die Wahrheit erfahren. Ihr Vater würde sie ziemlich sicher ausschimpfen, daß sie sich überhaupt in so etwas eingelassen hätte, und Ralph würde vielsagend grinsen. Lediglich Mami würde sie vielleicht verstehen, gewarnt hatte sie sie ja schon im voraus. Lächelnd ging Anita hinein und erzählte ausführlich von ihrem Spaziergang. Nach einer Weile gähnte sie derartig auffällig, daß jeder Verständnis dafür hatte, daß sie ins Bett wollte. "Du mußt hundemüde sein, Liebes", sagte Jean mitfühlend. "Schlaf dich schön aus." Als ob sie ein Auge zumachen könnte! Ununterbrochen mußte sie an den Krach mit Manuel denken. Sie begriff einfach nicht, wie ein Junge von heute noch so unmöglich altmodische Ansichten habeh konnte. Die Mädchen hier waren direkt zu bedauern, wenn sie noch immer wie zu Großmutters Zeiten auf "Hausmütterchen" getrimmt wurden. Bisher hatte sie es gar nicht richtig zu schätzen gewußt, in einem modernen und freizügigen Land aufgewachsen zu sein. Vor lauter Erschöpfung schlief Anita schließlich ein. Um halb acht wachte sie auf und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster. Die Sonne schien hell und warm durch den Spalt in den Vorhängen. - 143 -
Der Streit gestern abend konnte nur ein Mißverständnis gewesen sein, überlegte Anita. Sicher sah Manuel heute morgen ein, wie engstirnig seine Einstellung war. Er hatte sie doch gern, da würde er bestimmt nachgeben und versuchen, sie zu verstehen. Voller Hoffnung, daß alles wieder in Ordnung kommen würde, duschte sie rasch und zog ein blaues T-Shirt und absichtlich Blue jeans an, das Markenzeichen für ihr Heimatland. Damit er gleich sieht, daß ich keinen Schritt nachgebe! dachte Anita und machte sich auf den Weg. Obwohl Anita fünfzehn Minuten zu früh kam, wartete Manuel bereits in der Hotelhalle auf sie. Er sah ihr düster entgegen, als sie auf ihn zukam, und Anita war froh, daß er nicht versuchte, ihre Hand zu halten. "Schliefst du gut?'. fragte er sie. "Danke, prima", log Anita. Sie konnte ihm ansehen, daß er ebenfalls eine unruhige Nacht hinter sich hatte. Sie gingen hinaus in den strahlenden Sonnenschein und wanderten ziellos umher. Plötzlich befanden sie sich an der Hidalgo Plaza, wo der Wochenmarkt schon in vollem Gange war. Schweigend liefen sie zwischen den Ständen herum, die eine Reihe hinauf, die andere herunter. Warum sagt er nur nichts? dachte Anita. Hat sich denn seit gestern gar nicht verändert? Ihr wurde ganz schwindlig. Vielleicht war es die ungewohnte Hitze oder einfach Hunger. Immerhin war sie ohne Frühstück aus dem Hotel geschlichen. Plötzlich faßte Manuel ihren Arm und bat sie stehenzubleiben. Dann verschwand er in der Menge. Gleichgültig betrachtete Anita die Auslagen mit herrlichen exotischen Früchten. Nichts hätte sie im Augenblick reizen können. Kurze Zeit später kam Manuel mit einem kleinen Strauß roter Rosen zu- rück und gab ihn Anita ohne ein Wort.
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Sie merkte, wie ihre Knie weich wurden und Tränen in ihr aufstiegen. "Danke", flüsterte sie und drehte sich rasch um, damit Manuel ihre Tränen nicht sehen konnte. "Anita, du weinst?" fragte er leise. "Nein!" rief sie ärgerlich und wischte sich schnell über die Augen. Ihr Hals tat so weh, als habe sie einen dicken Kloß verschluckt, und sie konnte kaum sprechen. "Komm." Sanft zog Manuel sie zu einer Bank in der Nähe. Anita drängte die Tränen gewaltsam zurück. Und wenn ich daran ersticke, schwor sie sich, er soll nicht sehen, daß ich weine. "Anita, ich habe dich lieb." Langsam wandte sie den Kopf und sah Manuel an. Und plötzlich hatte sie genug von ihm. "Nein, das hast du nicht. Du sträubst dich dagegen, daß ich Dichterin werden möchte, obwohl du jetzt weißt, daß mir das unheimlich wichtig ist. Du willst überhaupt nicht, daß ich auf eigenen Füßen stehe. Wie kannst du da sagen, daß du mich lieb hast?" Manuel antwortete nicht, er starrte nur mit zusammengezogenen Augenbraunen vor sich hin. Anita brauchte ihn bloß anzusehen, um zu wissen, daß er sie niemals verstehen würde. Sie war einer trügerischen Hoffnung nachgejagt. "Anita..." Manuel sah sie bittend an. "Du mußt verstehen. Ich mag eine Frau, die es gemütlich macht, wenn ich komme, und die Kinder hat." Du brauchst eine Frau, die dich von morgens bis abends bewundert, mein Lieber. Dafür bin ich leider nicht der richtige Typ. Nein, Manuel würde sich nicht ändern, aber sie sich auch nicht. Es hatte keinen Zweck mit ihnen. Sie kamen aus zwei völlig verschiedenen Welten und paßten einfach nicht zusammen. "Ich muß ins Hotel zurück," Anita nahm ihre Umhängetasche und die Rosen und stand auf. Manuel sprang ebenfalls auf und legte die Hände auf Anitas Schultern. "Anita, du schreibst mir? Wir bleiben Freunde?" Einen Moment lang wurde Anita weich. - 145 -
Warum sollten sie die Brieffreundschaft eigentlich nicht weiter fortsetzen? Doch dann dachte sie an ihre Berufspläne. Ihr ganzes Herz hing daran. Und es gab einen Jungen zu Hause, der diese Pläne ernst nahm: Gordy. Sie war wirklich die ganze Zeit mit Blindheit geschlagen gewesen, daß sie das nicht gemerkt hatte. "Nein", erwiderte sie bestimmt. "Wenn du mich nicht so akzeptierst, wie ich bin, möchte ich auch nicht länger mit dir befreundet sein." Er ließ die Hände von ihren Schultern fallen und sah unsagbar traurig aus. Es tut mir leid, Manuel, flüsterte Anita unhörbar, aber du willst es nicht anders. "Komm", sagte Manuel. "Du darfst nicht zu spät dasein." Wieder stiegen Anita Tränen in die Augen, und sie setzte schnell ihre Sonnenbrille auf, weil einige Leute sie bereits neugierig anstarrten. Natürlich wußte Manuel auch, daß sie weinte, aber es war ihr jetzt egal. Er war ein Fremder, sollte er doch denken, was er wollte. Jean und Ralph warteten schon in der Hotelhalle auf sie. William hatte ge- rade die Rechnung bezahlt und eilte auf sie zu. "Beinahe wären wir ohne dich abgefahren, Anita. Wo hast du nur gesteckt?" polterte er los. Dann sah er ihre verweinten Augen und blickte Manuel stirnrunzelnd an. "Ich habe deine Sachen einfach in den Koffer geworfen, Anita, mehr Zeit hatte ich leider nicht", fuhr Jean dazwischen, ehe William eine Standpauke loslassen konnte. "Du mußt sie heute abend in Los Angeles selbst sortieren." "Danke, Mami", nickte Anita gequält. Manuel sagte nichts. Neugierig schaute Ralph von einem zum anderen. Irgend etwas schien passiert zu sein, denn die ewige Strahlerei der beiden war vorbei. Manuel sieht ja aus, als sei ihm Frankenstein persönlich begegnet, dachte Ralph. "Hat der Portier ein Taxi für uns bestellt, William?" wollte Jean wissen. "Ich glaube, ja." Endlich hatte Manuel die Sprache wiedergefunden. "Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit gestern", sagte er höflich zu Anitas Eltern. "Ich freue mich, Sie zu kennen."
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William atmete erleichtert auf. Offenbar war nichts Schlimmes zwischen den beiden vorgefallen. "Es war nett, Sie kennenzulernen, wir haben uns wirklich gefreut", antwortete er herzlich. "Und vielen Dank, daß Sie uns die Stadt gezeigt haben und sich so reizend um Anita gekümmert haben." "Besuchen Sie uns mal in Portland, Manuel", lud ihn Jean ein. Ach, Mami, er wird niemals kommen, es ist alles aus. Anitas Tränen flossen jetzt in Strömen, während sich Manuel lächelnd bedankte. "Vielleicht einmal. Danke." Das Taxi war vorgefahren, und Manuel half William, die Koffer zu ver- stauen. Danach herrschte betretenes Schweigen. "Auf Wiedersehen, Anita", verabschiedete sich Manuel schließlich. Wie durch einen Schleier blickte Anita ihn zum letztenmal an. "Adieu, Manuel", flüsterte sie und kletterte auf den Rücksitz. "Wiedersehen", riefen Jean, William und Ralph und stiegen ebenfalls ein. Das Taxi brauste los und fädelte sich in den dichten Verkehr auf der Morelos Avenue ein. Anita heulte bis zum Flughafen still vor sich hin. Sie konnte einfach nicht mehr aufhören. Doch dann gab sie sich einen energischen Ruck. So konnte es nicht weitergehen. Schließlich wollte sie sich ja nicht zum Gespött der Leute machen! Sie hatte sich wieder einigermaßen im Griff, als sie ins Flugzeug stieg, und sie konnte der Stewardess sogar freundlich zulächeln. Aufatmend ließ sich Anita neben Ralph auf den Sitz fallen und blinzelte ihm mit schwesterlicher Zuneigung zu. Wie gut, daß sie eine so großartige Familie hatte. Die würde ihr immer ein Gefühl der Geborgenheit geben. Auf der Rückfahrt übernachteten die Seagraves in einem Motel in Los Angeles. Sobald sie angekommen waren, gingen sie zum Essen, denn William wollte sich hinterher noch mit - 147 -
seinem Freund treffen und gleichzeitig das Auto abholen. Der Rest der Familie entschied sich einstimmig für einen gemütlichen Abend im Motel. Die letzten Tage waren derartig anstrengend gewesen, daß jeder froh war, sich ein bißchen ausruhen zu können. Anita hatte ausgiebig gebadet und ihre von der Hitze verklebten Haare gewaschen. Jetzt fühlte sie sich wieder wesentlich wohler. Sie zog ihren Bademantel an und ging auf den Balkon, um die Haare im warmen Wind trocknen zu lassen. Eine Weile saß sie ganz still da. Sie vermißte Manuel schrecklich. Nicht den Manuel, der sie so enttäuscht hatte, aber den Jungen, mit dem sie am ersten Abend glücklich Hand in Hand durch die Straßen von Monterrey gelaufen war und der sie zärtlich geküßt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie seinen ersten Brief bekommen hatte, an jenem regnerischen Tag im Oktober. Da- mals hatte sie fest geglaubt, daß Manuel der Junge ihrer Träume war. Mit wieviel Freude hatte sie die Gedichte über Mexiko geschrieben, zu denen er sie inspiriert hatte - einfach dadurch, daß es ihn gab. Dann fiel ihr der Brief ein, in dem er ihr gestand, daß er in sie verliebt sei. Was für ein wun- derbares Gefühl war es gewesen, eine Liebesklärung zu bekommen, und jeder hatte sie um Manuel beneidet. Und vor der Reise hatte sie geglaubt, der glücklichste Mensch auf der Welt zu sein. Und nun war alles vorbei. Sie hatte das Gefühl, als ob sie Manuel nie gekannt hätte, als ob er nur in ihren Träumen existiert hatte. Anita rutschte unruhig und gequält auf ihrem Stuhl herum, weil ihr bei diesen Erinnerungen das Herz so weh tat, daß es ihr fast die Luft abschnürte. Fünf Briefe, ein Foto und ein Plüsch-Pandabär - war das alles, was ihr von ihrer Freundschaft mit Manuel blieb? Nein, vielleicht war da doch noch mehr. Sie war zwar jetzt schrecklich traurig, aber hatte Manuel ihr in diesem halben Jahr nicht auch sehr viel Freude geschenkt? Das zählte schließlich auch.
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Über ihren Schmerz hinwegtrösten konnte sie das allerdings nicht. Sie wollte Manuel so haben, wie sie ihn sich erträumt hatte, nicht, wie er in Wirklichkeit war. Aber ihr Traum-Boy existierte leider nicht. Bedeutete es, langsam erwachsen zu werden, wenn man mit solchen Situationen fertig wurde? Die Schiebetür ging auf, und ihre Mutter kam heraus. Um den Kopf hatte sie ein Handtuch gewickelt. "Nanu, allein hier im Dunkeln?" "Ich lasse meine Haare trocknen." "Gute Idee. Hast du was dagegen, wenn ich auch hierbleibe?" Anita schüttelte den Kopf, und Jean setzte sich auf den anderen Stuhl, ihrer Tochter gegenüber. Was mochte Mami wohl ahnen? fragte sich Anita. Irgendwann würde sie ihr bestimmt alles anvertrauen, aber im Moment tat es noch zu weh. Während sie ihr Haar frottierte, erkundigte sich Jean mitfühlend: "Fehlt dir Manuel?" Anita konnte nur nicken, denn ihr stiegen erneut Tränen in die Augen. "Wirst du ihm nicht mehr schreiben?" fragte ihre Mutter sanft. Anita schluckte schwer und schüttelte den Kopf. "Möchtest du vielleicht darüber reden?" schlug Jean leise vor. "Jetzt nicht, später." Anita war froh, daß ihre Mutter sie in Ruhe ließ, denn sonst hätte sie wahrscheinlich völlig die Fassung verloren. Nach einer Weile meinte Jean beiläufig: "Warum rufst du nicht mal bei Gordy Thompson an?" Anita sah sie erstaunt an. "Du hast ihm nicht einmal eine Postkarte geschickt. Er freut sich sicher, wenn er was von dir hört." "Ich weiß aber seine Nummer nicht auswendig", erwiderte Anita lahm. "Dafür gibt's schließlich die Auskunft", lachte ihre Mutter. "Ruf einfach beim Portier an und laß dich verbinden. Sie sollen es bei uns auf die Rechnung setzen." Sie ging wieder ins Zimmer und ließ Anita ziemlich verwirrt zurück.
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Gordy. Der gute alte Gordy. Er war doch vor ihrer Reise so sauer auf sie gewesen. Bestimmt würde er glauben, sie sei übergeschnappt, wenn sie von hier aus anrief. Aber das machte nichts. Um seine Stimme zu hören, würde sie sogar ein paar von seinen spitzen Bemerkungen verkraften. Anita stand auf und wollte gerade ins Zimmer gehen, als ihr etwas einfiel. Gordy hatte ihr ja sogar selbst gesagt, daß sie ihn anrufen sollte. Natürlich, bei ihrem letzten Streit. "Ruf mich an, aber erst, wenn du wieder bei Verstand bist." Okay, Gordy, dachte sie. Ich komme also auf den Knien gekrochen. Wehe, du bist nicht zu Hause! Sie ließ sich die Nummer geben und sich verbinden. Vergnügt blinzelte sie ihrer Mutter zu, die sich mit Ralph auf den Balkon verzog. Während Anita darauf lauschte, wie das Telefon bei den Thompsons läutete, bekam sie auf einmal feuchte Hände. "Hallo?" meldete sich eine männliche Stimme. "Ich möchte bitte Gordy sprechen." "Am Apparat." Sie hätte seine Stimme nicht erkannt, sie klang plötzlich so erwachsen. "Hallo, hier ist Anita." "Anita?" Was mache ich nur, wenn er nicht mit mir reden will? dachte Anita. "Anita Seagraves? Berühmteste Dichterin an der Westküste? Wo zum Teufel steckst du?" Das war Gordy! Jetzt erkannte sie ihn wieder. "Ich bin in Los Angeles", meinte sie beton lässig. "Wollte nur mal ,Guten Tag' sagen." "Echt? Bist du wirklich in Los Angeles, oder nimmst du mich auf den Arm?" Tat das gut, ihn wieder zu hören! "Hab ich dich jemals auf den Arm genommen?" "Was macht die mexikanische Staatsbürgerschaft? Schon beantragt? Und die Arbeitserlaubnis auch? Oder braucht man die nicht als Dichterin? Ich wette, du kannst gar nicht mehr richtig Englisch sprechen." Und so ging es weiter.
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Anita lachte, bis ihr die Rippen weh taten. Ach, Gordy! "In zwei Tagen bin ich wieder zu Hause. Du glaubst nicht, wie ich mich auf den Regen freue." "Pech gehabt! Wir haben nämlich schon seit drei Tagen Sonnenschein." Nach einer kleinen Pause fuhr Gordy zögernd fort: "Hast du deinen Don Juan getroffen?" Anitas Herz begann, heftig zu klopfen. "Ja, habe ich." "Wie ist er denn so? Netter Bursche?" "Hmm." "Hmm?" "Ich werde ihm nicht mehr schreiben." So, Gordy, da hast du es. "Aha", meinte er bedächtig. "Es war trotzdem ganz prima", fuhr Anita munter fort. "Die Stadt ist interessant, und auf die Hochebene sind wir auch gefahren..." "Moment mal", unterbrach Gordy sie. "Hast du gesagt, daß es aus ist zwischen dir und diesem...na, du weißt schon?" "Wie du es mir vorausgesagt hast! Ja, es ist aus." "Was ist denn passiert?" "Das erzähle ich dir zu Hause." Vielleicht sollte sie das wirklich tun. Sie hatte bereits öfter die Erfahrung gemacht, daß Gordy ein guter Zuhörer war. "Ich muß jetzt Schluß machen, Gordy." "Ja, klar, ist ja ein Ferngespräch", sagte er. "Du, Anita, war nett, daß du angerufen hast. Danke." "Hast du mir doch selbst vorgeschlagen", erwiderte sie kühn. "Erinnerst du dich etwa nicht mehr?" "Das hatte ich total vergessen, aber jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein", lachte er leise, "Darüber müssen wir uns auch noch unterhalten, okay?" "Okay." "Paß gut auf dich auf, und daß du mir ja nicht ins Meer fällst!" "Keine Sorge, Tschüs dann." "Tschüs."
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Sie legte auf. So einfach ging das mit Gordy. Keine Entschuldigungen und keine Liebeserklärungen, sondern eine ganz normale Unterhaltung mit einem wirklichen Freund. Anita lächelte vor sich hin und merkte plötzlich, wie entspannt sie war. Vergnügt stand sie auf und ging auf den Balkon hinaus zu Ralph und ihrer Mutter.
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