Kapitel 1 Das ist ein Dorf! Nie im Leben habe ich solche Dörfer gesehen, nicht mal gewußt, daß es so etwas gibt! Die Hä...
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Kapitel 1 Das ist ein Dorf! Nie im Leben habe ich solche Dörfer gesehen, nicht mal gewußt, daß es so etwas gibt! Die Häuser - rund, braun, fensterlos - stecken auf Pfählen, wie Wachttürme, und was alles darunter liegt: große Töpfe, rostige Kessel, Tröge, Holzrechen, Spaten... Der Tonboden zwischen den Häusern ist derart ausgedörrt und festgetreten, daß er sogar glänzt. Und überall, wohin man auch sieht, hängen Netze. Knüppeltrockene. Was sie mit diesen Netzen fangen, weiß ich nicht - rechts ist Moor, links ist Moor; es stinkt wie aus der Jauchengrube... Ein grusliges Nest. Seit tausend Jahren faulen sie hier vor sich hin, und war nicht der Herzog, würde es noch tausend Jahre so bleiben. Ist eben der Norden. Die Wildnis. Von den Bewohnern läßt sich natürlich keiner blicken. Haben sich verdrückt oder verkrochen, oder sie wurden fortgetrieben. Auf dem Platz vor der Faktorei qualmte eine Gulaschkanone, die sie vom Fahrgestell gehoben hatten. Ein massiges Stachelschwein, mehr breit als hoch, in schmutziger weißer Schürze über der schmutzigen grauen Uniform rührte mit einer langen Schöpfkelle im Kessel. Aus diesem Kessel kam anscheinend auch der Gestank, der durch das Dorf wehte. Wir gingen näher, und Gepard fragte, wo der Kommandeur sei. Das Vieh wandte sich uns nicht mal zu es knurrte etwas in seinen Eintopf und wies mit der Kelle die Straße entlang, irgendwohin. Da hieb ich ihm meine Stiefelspitze unters Kreuz, er fuhr herum, erkannte unsere Uniform - und gleich stand er, wie sich's gehört. Seine 211
Visage war genauso fett wie der Hintern, dazu seit einer Woche unrasiert. »Wo also ist euer Kommandeur?« fragte Gepard wieder, wobei er seinen Rohrstock dem Dicken unterm Doppelkinn in den feisten Hals stippte. Das Stachelschwein riß die Augen auf, es schmatzte und krächzte: »Verzeihung, Herr Oberausbilder... Der Herr Stabsmajor liegt in Stellung... Wenn Sie diese Straße entlangzugehen belieben... direkt am Dorfrand... Bitte vielmals um Vergebung, Herr Oberausbilder...« Er krächzte und gluckste noch etwas, während hinter der Faktorei zwei andere, noch scheußlichere Stachelschweine hervorkrochen - die reinsten Vogelscheuchen, unbewaffnet und ohne Kopfbedeckungen. Als sie uns erblickten, nahmen sie Haltung an. Gepard sah nur kurz hin, seufzte und ging weiter, wobei er sich mit dem Stöckchen an den Stiefelschaft klopfte. Ja, gerade noch rechtzeitig sind wir hier angekommen. Diese Stachelschweine würden vielleicht kämpfen! Obwohl ich erst drei von ihnen gesehen habe, ist mir ganz übel und völlig klar, daß so ein - entschuldigen Sie die Benennung - »Truppenteil«, der aus Etappenhengsten zusammengetrieben wurde, zudem Hals über Kopf und irgendwie, daß also alle diese Regimentsbäcker, Brigadeschuster, Schreiber, Intendanten wandelnder Kompost sind, Schmierfett für die Bajonette. Die Panzerwagen des Reichs würden sie überrollen und nicht mal merken, daß da jemand war. Im Spaziertempo. Hier wurden wir angerufen. Linkerhand hatten sie zwischen zwei Häusern ein Tarndach gespannt, an einer Stange hing ein weißgrüner Lappen. Die Sanitätsstelle. Zwei weitere Stachelschweine kramten träge in grünen Medizintaschen; direkt auf der Erde lagen, auf Binsenmatten, Verwundete . Es waren drei, einer mit verbundenem Kopf hatte sich halb aufgerichtet und starrte uns an. Jetzt rief er noch einmal: »Herr Ausbilder! Einen Augenblick, ich bitte Sie...« Wir traten hinzu. Gepard kauerte sich nieder, ich blieb hinter ihm stehen. Der Verwundete trug keinerlei Rang212
abzeichen, nur einen zerrissenen, angesengten Tarnanzug, der über der nackten, behaarten Brust offenstand, aber sein Gesicht, der fanatische Blick unter den verkohlten Wimpern hervor verrieten mir gleich, daß das kein Stachelschwein war, Jungs, nein, der war echt. Und tatsächlich. »Brigadejäger Baron Tregg«, stellte er sich vor. Als rasselten Raupenketten. »Kommandeur der achtzehnten Sonderabteilung der Waldjäger.« »Oberausbilder Digga«, sagte Gepard. »Was kann ich für dich tun, Heldenkamerad?« »Zigarette...«, bat der Baron. Seine Stimme klang gleich brüchig! Während Gepard sein Zigarettenetui hervorholte, fuhr der Verwundete hastig fort: »Mich hat ein Flammenwerfer erwischt, hat mich gebraten wie ein Schwein... Gott sei Dank war dicht daneben das Moor. Bis an die Brauen bin ich hineingestiegen... Aber die Zigaretten sind hin... Danke...« Die Augen halb geschlossen, sog er tief den Rauch ein, doch im selben Moment packte ihn quälender Husten, er lief blau an, begann zu zucken; ein Blutstropfen quoll unter seiner Binde hervor und erstarrte. Wie Harz. Ohne sich umzudrehen, streckte Gepard die Hand hinter sich und schnippte mit den Fingern. Ich riß mir die Feldflasche vom Gürtel, reichte sie ihm. Der Baron nahm einige Schlucke, danach ging es ihm anscheinend besser. Die beiden anderen Verwundeten regten sich nicht - entweder schliefen sie, oder sie hatten schon ausgelitten. Die Sanitäter sahen uns scheu an. Das heißt, sie sahen uns nicht mal an, linsten nur kurz in unsere Richtung. »Wunderbar...«, ächzte Baron Tregg und wollte die Flasche zurückgeben. »Wieviel Männer hast du?« »Vierzig«, antwortete Gepard. »Behalte die Flasche. Behalt sie für dich.« »Vierzig..., vierzig Sturmkater...« »Katerchen«, unterbrach ihn Gepard. »Leider. Aber wir tun, was wir können.« Der Baron musterte ihn. In seinen Augen stand Leid. 213
»Hör zu, Heldenkamerad«, sagte er. »Ich habe keinen mehr. Bin auf dem Rückzug, direkt vom Paß, schon den dritten Tag. Pausenlos Kämpfe. Die Rattenfresser schmoren in ihren Panzerwagen. An die zwanzig habe ich abgeschossen. Die letzten beiden gestern..., hier, direkt am Dorfrand..., wirst du noch sehen. Dieser Stabsmajor... ist ein feiger Schwachkopf..., ein alter Waschlappen... Ich wollte ihn erschießen, aber ich hatte keine Patrone mehr. Stell dir vor! Keine einzige Patrone! Habe mich mit meinen Stachelschweinen im Dorf verschanzt und zugeschaut, wie sie uns ausgeräuchert haben, einen nach dem anderen... Aber was rede ich? Wo bleibt Gagrids Brigade? Die Funkstelle ist im Eimer... Das letzte, was ich gehört habe, war: >Haltet durch, Gagrids Brigade rückt an.. .< Hör mal, gib noch 'ne Zigarette... Und melde dem Stab, daß es die achtzehnte Sonderabteilung nicht mehr gibt.« Er phantasierte bereits. Seine Augen verschleierten sich, die Zunge wurde schwer. Er fiel auf den Rücken, redete und redete, brabbelte, röchelte, während die gekrümmten Finger unruhig umhertasteten, sich bald in den Rand der Matte, bald in den Overall krallten. Plötzlich verstummte er, mitten im Wort, und Gepard stand auf. Ohne den Blick von dem zurückgebogenen Kopf zu wenden, zog er langsam eine Zigarette hervor, knipste sein Feuerzeug an, bückte sich und legte sein Zigarettenetui samt Feuerzeug neben die geschwärzten Finger, und die Finger umklammerten das Etui gierig und preßten es, Gepard aber machte wortlos kehrt, und wir gingen weiter. Letztlich war das Schicksal sogar barmherzig gewesen, dachte ich - der Brigadejäger hatte sein Bewußtsein im rechten Moment verloren. Andernfalls hätte er hören müssen, daß es auch Gagrids Brigade nicht mehr gab. In dieser Nacht war sie mit einem Bombenteppich belegt worden; zwei Stunden brauchten wir danach, um die Chaussee von den Fahrzeugtrümmern zu säubern, wobei wir immer wieder Verrückte fortjagen mußten, die sich unter den Lastwagen verkriechen wollten. Von Gagrid selbst fanden wir nur seine Generalsmütze, hart von getrocknetem Blut... Bei der Erinnerung überlief es mich kalt, unwillkürlich 214
blickte ich zum Himmel und freute mich daran, wie tief und grau er war, wie undurchdringbar. Das erste, was uns am Dorfrand auffiel, war einer der erwähnten Panzerwagen des Reichs, der, vom Wege gerutscht, mit der Nase in einem Brunnen steckte. Er war bereits abgekühlt, das Gras ringsum bedeckte fettiger Ruß, und unter der auf gestoßenen Bordluke lag ein verreckter Rattenfresser, völlig verkohlt, nur seine rötlichen Schnürstiefel mit der Dreifachsohle waren noch heil. Diese Schuhe der Rattenfresser haben Niveau, auch ihre Panzerwagen und wahrscheinlich die Bomber. Aber als Soldaten taugen sie nichts, das weiß jeder. Schakale! »Wie findest du diese Stellung, Gagh?« fragte Gepard. Ich blickte mich um. Das war 'ne Stellung! Ich traute kaum meinen Augen. Die Stachelschweine hatten sich Schützengräben ausgehoben, zu beiden Seiten der Straße, mitten auf der Lichtung zwischen Dorfrand und Dschungel. Wie eine Mauer stand der Dschungel den Gräben gegenüber, höchstens fünfzig Schritte entfernt. Ein ganzes Regiment könnte man dort zusammenziehen oder eine Brigade - die in den Gräben würden nichts merken, und wenn sie es merkten, würde es zu spät sein. Hinter den Schützengräben an der linken Flanke lag das Moor, hinter denen rechts ein freies Feld, auf dem früher irgendwas angebaut, jetzt aber alles verbrannt war. J a a a . . . »Mir gefällt sie nicht«, antwortete ich. »Mir auch nicht«, sagte Gepard. Keine Frage! Es ging ja nicht nur um die Stellung, hinzu kamen die Stachelschweine! Mindestens hundert waren es, und sie trödelten herum wie auf dem Markt. Die einen hätten sich zum Kränzchen ums Lagerfeuer versammelt. Andere standen einfach da, die Hände in die Ärmel geschoben. Wieder andere schlenderten umher. Neben den Schützengräben lagen Gewehre, ragten MGs empor, ihre Rüssel sinnlos in den tiefhängenden Himmel gereckt. Mitten auf dem Weg stand, bis an die Naben im Schlamm und völlig unnütz, ein Raketenwerfer. Auf der Lafette hockte ein älteres Stachelschwein, vielleicht der Wachposten, oder der Mann hatte sich nur mal so hingesetzt, weil er vom Um215
herlaufen müde geworden war. Übrigens schadete er auch keinem: lümmelte gemütlich da und pulte mit einem Holzspan in seinem Ohr. Mich hob es fast aus. Wäre es nach mir gegangen - mit dem Maschinengewehr hätte ich es diesem Haufen gezeigt! Ich blickte Gepard hoffnungsvoll an, er aber schwieg, schwenkte nur seine Hakennase von links nach rechts und von rechts nach links. Hinter uns erschollen aufgebrachte Stimmen. Ich drehte mich um. Unter der Treppe des letzten Hauses stritten zwei Stachelschweine um einen Futtertrog. Jeder wollte ihn zu sich ziehen, sie stießen die schlimmsten Flüche aus - diese beiden hätte ich mit besonderem Vergnügen durchsiebt. Gepard sagte: »Bring sie her.« Im Nu stand ich bei diesen Raffzähnen, haute mit dem Lauf der MPi erst dem einen, dann dem anderen auf die Pfoten, und als sie ihren Trog fallen gelassen hatten und mich anstarrten, wies ich mit dem Kopf in Gepards Richtung. Keinen Mucks gaben sie von sich, beiden brach der Schweiß aus, als wären sie in der Sauna. Im Trab liefen sie zu Gepard, wobei sie sich mit den Ärmeln die Stirn wischten, und erstarrten zwei Schritte vor ihm. Gepard hob gemächlich seinen Stock, nahm Maß, wie beim Billard, und stieß zu, genau in die Visagen, dem einen wie dem anderen, und dann sah er sie an, diese Viecher, und knurrte nur: »Den Kommandeur zu mir. Bißchen plötzlich!« Nein, Jungs, daß es hier dermaßen mies sein würde, hatte Gepard wohl trotz allem nicht gedacht. Freilich hatten wir auch nichts Gutes erwarten können. Wirft man erst die Sturmkater in die Bresche, weiß jeder: Die Karre läuft schief. Doch so was...! Sogar Gepards Nasenspitze wurde bleich. Endlich erschien ihr Kommandeur, eine verschlafene Hopfenstange, die sich zwischen den Häusern hervorquälte und dabei ihre Uniform] acke schloß. Der Mann war mindestens fünfzig. Die Nase rot geädert, ein befingerter Kneifer, wie sie im vorigen Krieg von den Stabsoffizieren getragen wurden, am spitzen Kinn feuchte Kautabakkrümel. Er 216
stellte sich uns als Stabsmajor vor und versuchte, Gepard zu duzen. Aber da geriet er an den Falschen! Gepard ließ ihn so eisig abblitzen, daß der Alte sogar zu schrumpfen schien: Zuerst hatte er Gepard um einen halben Kopf überragt, doch als ich eine Minute später wieder hinsehe - Natternmilch! -.; schaut er plötzlich zu ihm auf, ist ein mittelgroßes, grauhaariges Männlein. Jedenfalls erwies sich folgendes: Wo die gegnerischen Kräfte stehen und wie zahlreich sie sind, ist dem Stabsmajor.unbekannt, sein Auftrag lautet nur, das Dorf zu halten, bis Verstärkung eintrifft; seine Kampfkraft beträgt einhundertsechzehn Soldaten an acht Maschinengewehren und zwei Raketenwerfern, fast alle Soldaten sind nur bedingt tauglich, und nach dem gestrigen Eilmarsch liegen siebenundzwanzig von ihnen dort in diesen Häusern, die einen wundgerieben, andere mit Knochenbrüchen, wieder andere wer weiß, womit... »Hören Sie mal«, sagte Gepard unvermittelt, »was ist denn da bei Ihnen los?« Der Stabsmajor unterbrach sich mitten im Satz, sein Blick folgte dem polierten Rohrstock. Unser Gepard hatte aber auch Augen! Erst jetzt nahm ich es wahr: In der allergrößten Runde um eins der Lagerfeuer schimmerten widerwärtig zwischen den grauen Jacken unserer Stachelschweine mehrere gestreifte Overalls der Reichs-Panzergrenadiere. Natternmilch! Eins, zwei, drei... vier Rattenfresser an unserem Lagerfeuer, und diese Schweine umhalsen sie fast. Sie rauchen miteinander. Und wiehern sogar... »Da?« wiederholte der Stabsmajor und staunte Gepard mit seinen Kaninchenaugen an. »Meinen Sie die Gefangenen, Herr Oberausbilder?« Gepard antwortete nicht. Das Stabs-Stachelschwein zwackte seinen Kneifer fester und erging sich in weitschweifigen Erläuterungen. Es seien zwar Gefangene, doch mit ihnen hätten sie nichts zu schaffen. Die Jäger hätten sie gefaßt, während der Kämpfe am Vortag. Aber da kein geeignetes Transportmittel vorhanden gewesen sei und es auch an der vorgeschriebenen Begleitmannschaft gefehlt h a b e . . . 217
»Gagh«, sagte Gepard. »Führ sie ab und überstell sie Zecke. Nur soll er sie zuerst verhören...« Ich entsicherte mein Gewehr und lief zum Feuer. Die Stachelschweine bemerkten mich schon von weitem, schlagartig verstummten sie. Einige verkrümelten sich, anderen schienen vor Schreck die Beine den Dienst zu versagen, denn sie blieben mit aufgerissenen Augen starr sitzen. Die Streifigen wurden ganz grau im Gesicht, sie kannten unser Emblem, diese Rattenfresser, waren gut informiert! Ich befahl ihnen aufzustehen. Sie standen auf. Widerstrebend. Ich befahl anzutreten. Sie traten an, was blieb ihnen übrig. Ein Weißblonder versuchte, etwas in unserer Sprache zu faseln - ich stieß ihm den Lauf zwischen die Rippen, und er war still. So trotteten sie dahin: im Gänsemarsch, niedergeschlagen, die Hände auf dem Rücken. Ratten! Sie rochen auch irgendwie nach Ratte... Zwei von ihnen waren kräftig und breitschultrig, die beiden anderen offensichtlich vom letzten Aufgebot, spillerige Rotznasen, kaum älter als ich. »Im Laufschritt - marsch!« raunzte ich in ihrer Sprache. Sie rannten los. Langsam, miserabel. Der Weißblonde hinkt. Ist schwer verletzt, hat sich den Fuß in diesem Schwitzbad verrenkt. Macht aber nichts, er wird durchhalten. Wir liefen bis zum anderen Ende des Dorfes. Dort standen auch die Lastwagen. Die Jungs johlten und pfiffen, als sie uns sahen. Ich suchte eine recht große Pfütze aus, legte die Gefangenen in den Modder und ging zu dem vorderen Laster, wo Zecke war. Er kam mir schon entgegengesprungen, mit quietschvergnügtem Gesicht, den Schnurrbart auf gezwirbelt, zwischen den Zähnen, nach der Mode des ältesten Studienjahrs, eine Zigarettenspitze aus Elfenbein. »Na, wie steht's, Himmelfahrtskamerad?« sagt er zu mir. Ich melde: So und so, derart ist die Lage, und die Gefangenen müssen auf jeden Fall vorher verhört werden. Und ich füge von mir aus hinzu: »Vergiß mich dabei nicht, Zecke. Immerhin hab ich sie hergebracht.« 218
Er aber musterte mich so, daß mir gleich das Herz in die Hose rutschte. »Katerchen...«, sagt er. »Willst du dich hier vergnügen, während Gepard dort allein ist? Schwirr ab, schnapp dir drei Zweiergruppen, und verzieh dich. Dalli!« Da war nichts zu machen. Schicksal eben, Pech. Ein letztes Mal sah ich zu meinen Gestreiften hinüber, warf die MPi über die Schulter und schrie, so laut ich konnte: »Erste, zweite und dritte Zweiergruppe - zu mir!« Wie Erbsen kullerten die Katerenen vom Lastwagen: Hase und Hahn, Riechkolben und Krokodil, Scharfschütze und dieser... wie heißt er doch..., hab mich noch nicht an ihn gewöhnt, er ist gerade erst aus der Pigganer Schule zu uns gekommen, hat dort einen umgelegt, den er nicht hätte umlegen dürfen, und so haben sie ihn hergeschickt. Mir ist das schon lange aufgefallen, ich rede nur nicht drüber: Macht ein Kater im Affekt einen Zivilisten kalt, kommt sofort ein Befehl an seine Einheit. Der und der mit dem und dem Decknamen ist wegen Verübung eines Gewaltverbrechens zu erschießen. Und man führt den Sünder tatsächlich auf den Appellplatz, stellt ihn vor die Front seiner besten Kameraden, feuert eine Salve auf ihn ab und wirft den Körper zwecks Bestattung ohne Ehren auf einen Lastwagen. Später aber hörst du, daß er von den Jungs gesehen wurde, bei einer Operation oder in einem anderen Truppenteil... Und es ist richtig so, denke ich. Na, ich kommandierte: »Im Laufschritt!«, und wir galoppierten zurück zu Gepard. Er hatte dort keine Zeit verloren. Ich gucke - kommt doch diese Hopfenstange, der Stabsmajor, angetrabt, daß der Staub nur so wirbelt, und hinter ihm her eine Kolonne, an die fünfzig Stachelschweine, mit Spaten und Kreuzhacken, ihre Stiefel knallen und sie schwitzen - es dampft geradezu! Also hatte Gepard sie losgescheucht, eine neue Stellung auszuheben, eine richtige, für uns. Unter dem Haus gegenüber der Sanitätsstelle blinken schon die Spaten, und der Raketenwerfer steht bereit, überhaupt ist ein Treiben im Dorf, wie auf der Hauptavenue an den Namenstagen Ihrer Durchlauchten; die Stachelschweine flitzen her und hin, und kein einziges mit lee219
ren Händen: manche tragen eine Waffe - das sind die wenigsten -, die Mehrheit aber schleppt Kisten mit Munition und MG-Lafetten. Gepard freute sich, als er uns sah. Scharfschützes und Hases Zweiergruppen schickte er sofort zur Aufklärung in den Dschungel, Riechkolben und Krokodil behielt er als Verbindungsleute bei sich. Zu mir sagte er: »Gagh, du bist der beste Raketenschütze der Abteilung, und ich verlasse mich auf dich. Siehst du diese Schaben? Nimm sie dir. Du bringst mit ihnen den Raketenwerfer in Stellung, drüben am Dorfrand, ungefähr dort, wo jetzt die Lastwagen sind. Tarne dich gut, und eröffne das Feuer, wenn ich das Dorf anzünde. Los, Kater!« Ich hüpfte nicht, nein, ich flog regelrecht zu meinen Schaben. Sie waren mit dem Raketenwerfer in einem Schlammloch steckengeblieben, mitten auf dem Weg, wollten anscheinend den ganzen Krieg dort zubringen. Na, dem ersten gab ich eine Ohrfeige, dem zweiten einen Fußtritt, dem dritten hieb ich den Kolben zwischen die Schulterblätter, und ich schrie dabei so laut, daß es mir selber in den Ohren dröhnte - dann aber arbeiteten meine Schaben richtig, fast wie normale Menschen. Den Raketenwerfer wuchteten sie auf ihren Händen aus dem Schlamm und rollten ihn, marsch, marsch, den Weg entlang, daß die Räder quietschten und der Dreck flog - hinein ins nächste Loch! Da allerdings mußte ich mit zupacken... Nein, Jungs, auch diese Stachelschweine kann man auf Trab bringen, man $ muß nur wissen, wie. Meine Situation war jedenfalls folgendermaßen: Den Platz für die Stellung hatte ich schon festgelegt - ich dachte an eine flache Mulde hinter dichten rötlichen Sträuchern in der Nähe der Laster, wo wir uns so gut hätten eingraben können, daß wir von keinem Teufel aus dem Dschungel bemerkt worden wären. Ich aber hätte alles überblickt: den Weg zum Dschungel und den Dorfrand, falls sie zwischen den Häusern hervorgekommen wären, und den Sumpf linkerhand für den Fall, daß sich das Fußvolk von dort heranpirschte. Und ich überlegte noch, daß ich nicht vergessen dürfte, Zecke um ein paar Zweiergruppen zur Absicherung 220
dieser Seite zu bitten. Zwanzig Raketen hatte ich in den Ladeschalen, sofern diese Schreiberlinge nicht unterwegs ein paar weggeworfen hatten, um ihr Gepäckzu erleichtern aber das würde ich gleich feststellen; unbedingt jedoch mußte ich, sobald wir uns verschanzt hatten, die Schaben nach Zusatzmunition schicken. Ich hasse es, wenn ich im Kampf Munition sparen muß, das ist dann kein Kampf, sondern wer weiß, was... Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde noch genügend Zeit bleiben, und wenn sie dann zuschlagen sollten, würde dieses öde Dorf auflodern, und ich hätte sie alle auf dem Präsentierteller, könnte mir sogar aussuchen, wen ich abknalle . . . Wirst es nicht bereuen, Gepard, daß du dich auf mich verlassen hast... Diesen letzten Gedanken dachte ich mechanisch zu Ende, während ich schon auf dem Rücken lag und am grauen Himmel über mir, seltsamen Vögeln gleich, brennende Fetzen flogen. Weder einen Schuß noch eine Detonation hatte ich gehört, und nun hörte ich überhaupt nichts mehr. Ich war taub. Ich weiß nicht, wieviel Zeit so verstrich, dann setzte ich mich auf. In Viererreihe krochen Panzerwagen aus dem Dschungel, spien Feuer und fächerten sich auf zum Kampf, während hinter ihnen die nächsten vier hervorkamen. Das Dorf brannte. Über den Schützengräben ballte sich Rauch, kein Mensch war zu sehen. Die Feldküche vor der Faktorei war umgekippt, und die Suppe floß braun und dampfend heraus. Meinen Raketenwerfer hatte es auch umgehauen, und die Schaben lagen im Straßengraben übereinander. Kurz: Eine sehr günstige Stellung hatte ich ausgesucht, Natternmilch! Da deckte uns die zweite Salve ein. Ich landete neben den Schaben, kopfüber, bekam den Mund voll Ton und Sand in die Augen. Kaum stand ich wieder auf den Beinen, folgte die dritte Salve. Und das nahm kein Ende. Den Raketenwerfer brachten wir dennoch auf die Räder und schoben ihn in den Graben. Einen Panzerwagen schoß ich ab. Meine Schaben waren nur noch zu zweit, wohin der dritte verschwunden war, wußte keiner. 221
Dann fand ich mich plötzlich, ohne Übergang, auf dem Weg wieder. Vor mir hatte ich eine ganze Schar Gestreifternahe, sehr nahe. Ihre Klingen spiegelten das Feuer wie Blut. Ohrenbetäubend ratterte über mir ein Maschinengewehr, in der Hand hielt ich ein Messer, und neben meinen Beinen zuckte jemand, stieß mir gegen das Knie... Danach richtete ich sorgfältig, wie auf dem Übungsplatz, den Raketenwerfer auf einen stählernen Schild, der sich aus dem Rauch auf mich zu bewegte. Ich meinte sogar, das Kommando des Instrukteurs zu hören: »Auf Schützenpanzer - Panzergeschosse...!« Ich konnte aber nicht auf den Abzug drücken, weil in meiner Hand wieder dieses Messer lag... Unvermittelt trat eine Pause ein. Es dämmerte schon. Wie sich herausstellte, war mein Raketenwerfer heil, und ich war es auch, und um mich herum hatten sich etwa zehn Stachelschweine versammelt. Alle rauchten, irgendwer drückte mir eine Taschenflasche in die Hand. Wer? Hase? Ich wußte es nicht... Ich entsinne mich, daß sich vor einem dreißig Schritte entfernten brennenden Haus eine seltsame dunkle Figur abzeichnete; alle saßen oder lagen, dieser Kerl aber stand, und es schien, als sei er zwar schwarz, aber gleichzeitig nackt... Oder war er es doch nicht? Er trug weder Mantel noch Jacke... »Hase, wer ist das dort?« »Weiß nicht, ich bin nicht Hase.« »Und wo ist Hase?« »Keine Ahnung. Trink mal, trink...« Später gruben wir uns ein, machten so schnell wir konnten. Das war bereits an einem anderen Fleck, das Dorf lag nicht mehr seitlich, sondern vor uns. Das heißt, das Dorf gab es gar nicht mehr, nur Haufen von schwelendem Holz, dafür brannten aber auch Panzerwagen auf dem Weg. Viele. Einige. Unter unseren Füßen gluckste der Morast... »Ich spreche dir meinen Dank aus, bist ein Mordskerl, Kater...« »Verzeihung, Gepard, ich versteh nicht ganz: Wo sind unsere Leute? Warum sehe ich nur Stachelschweine?« »Alles in Ordnung, Gagh, mach deine Sache, Heldenkamerad, alle sind unversehrt, sind von dir begeistert...« Jäh springt aus dem schwarzroten Nebelschleier ein Sturzregen flüssigen Feuers, direkt in mein Gesicht. Alles 222
lodert: die Erde, die Leichen, der Raketenwerfer. Irgendwelche Sträucher. Und ich. Das tut weh. Ein höllischer Schmerz. Wie bei Baron Tregg. Eine Pfütze, ich brauche eine Pfütze! Hier war doch eine. Sie haben drin gelegen, Natternmilch, ich habe sie ja hineingehetzt, dabei hätte ich sie in die Flammen jagen sollen, in die Flammen! Keine Pfütze... Die Erde brannte, die Erde rauchte, und irgendwer schlug sie mir plötzlich mit unmenschlicher Kraft unter den Füßen weg...
Kapitel 2 An Gaghs Bett saßen zwei. Der eine war hager, hatte breite knochige Schultern und große knochige Hände. Die Beine hielt er übereinandergeschlagen, das obere Knie mit den dürren Fingern umfaßt. Er trug einen grauen Pullover mit Aufschlagkragen, enge dunkelblaue Hosen von undefinierbarem Schnitt, die zumindest zu keiner Uniform gehörten, und rot-graue geflochtene Sandalen. Sein Gesicht war gebräunt und scharf geschnitten, in den Zügen lag Festigkeit, die dem Herzen wohltat. Hinzu kamen helle, leicht zusammengekniffene Augen und eine wirre, aber gleichsam geordnete Mähne grauer Haare. Von einem Winkel zum anderen des breiten, schmallippigen Mundes wanderte ein Strohhalm. Der zweite war ein gutmütiger Kerl in weißem Kittel. Sein Gesicht - jugendlich, rosig - hatte keine einzige Falte. Ein merkwürdiges Gesicht! Das heißt, merkwürdig war nicht das Gesicht, sondern sein Ausdruck. Er erinnerte an die Heiligen auf den alten Ikonen. Der Mann strahlte Gagh unter seinem blonden Schopf hervor an wie ein Geburtstagskind. Mit irgend etwas schien er sehr zufrieden zu sein. Er war es auch, der als erster zu reden begann. »Wie fühlen wir uns?« erkundigte er sich. Gagh stützte sich im Bett auf, zog die Knie an und brachte sein Gesäß mit Leichtigkeit bis ans Kopfende. »Normal«, sagte er verwundert. 223
Er lag völlig bloß, nicht einmal ein Laken bedeckte ihn. Er musterte seine Beine, die vertraute Narbe oberhalb des Knies, berührte die Brust und fühlte sofort das, was früher nicht da gewesen war: zwei Vertiefungen unter der rechten Brustwarze. »Oho!« entfuhr es ihm. »An der Hüfte ist auch noch eine«, sagte der Gutmütige. »Höher, höher...« Gagh betastete die Narbe an der rechten Hüfte. Dann betrachtete er seine Hände. »Moment mal«, murmelte er. »Ich hab doch gebrannt. ..« »Und wie!« rief der Rotwangige und veranschaulichte es mit Gesten. Anscheinend hatte Gagh gelodert wie ein Faß Benzin. Der Hagere musterte Gagh schweigend. In seinem Blick lag etwas, das Gagh sich straffen und schnarren ließ: »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. War ich lange bewußtlos?« Der Gutmütige hörte auf zu lächeln. »Woran erinnerst du dich als letztes?« fragte er fast zärtlich. Gagh runzelte die Stirn. »Ich hab einen abgeschossen... Nein. Ich habe gebrannt. Vermutlich war's ein Flammenwerfer. Und ich hab Wasser gesucht...« Er verstummte, befühlte die Schramme auf der Brust und fuhr unsicher fort: »In diesem Moment wurde ich wohl getroffen... Danach. ..« Er schwieg wieder und blickte den Hageren an. »Haben wir sie zum Stehen gebracht? Ja? Wo bin ich? In welchem Lazarett?« Doch der Hagere antwortete nicht, statt dessen schaltete sich der Gutmütige wieder ein. Als setzte ihn Gaghs Frage in Verlegenheit, strich er sich kräftig über die rundlichen Knie und fragte zurück: »Was glaubst du denn?« »Da muß ich passen...«, antwortete Gagh und schob die Beine vom Bett. »Ist denn viel Zeit vergangen? Ein halbes Jahr? Oder ein Jahr?... Sagen Sie es mir offen!« »Die Zeit ist nicht das Problem«, murmelte der Rotwangige. »An Zeit sind nur fünf Tage vergangen.« »Wieviel?« »Fünf Tage«, wiederholte der Rotwangige. »Stimmt's?« wandte er sich an den Hageren. 224
Dieser nickte schweigend. Gagh lächelte nachsichtig. »Na gut«, sagte er. »Meinetwegen. Ihr Ärzte wißt das besser. Letztlich ist es bedeutungslos... Ich wüßte nur gern, Herr...« Er ließ absichtlich eine Pause und blickte den Hageren an, doch der reagierte nicht. »Ich wüßte gern, wie die Lage an der Front ist und wann ich zur Truppe zurückkehren darf...« Der Hagere schob schweigend seinen Strohhalm hin und her. »Ich darf doch hoffen, wieder meiner Gruppe zugeteilt zu werden, in der Hauptstädtischen Schule...?« »Kaum«, sagte der Rotwangige. Gagh warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu und wandte sich wieder an den Hageren. »Schließlich bin ich Sturmkater. Drittes Studienjahr... Habe Anerkennungen. Eine von Seiner Hoheit persönlich. ..« Der Rotwangige schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Darum geht's nicht.« »Was heißt >darum geht's nicht« ereiferte sich Gagh. »Ich bin Sturmkater. Wissen Sie das nicht? Hier!« Er hob den rechten Arm und zeigte, wieder dem Hageren, die Tätowierung in der Achselhöhle. »Seine Hoheit selbst haben mir die Hand gedrückt. Seine Hoheit wünschten mir. „« »Schon gut, wir glauben dir ja, wir wissen es.« Der Rotwangige winkte ab. »Ich rede nicht mit Ihnen, Herr Doktor! Ich wende mich an den Herrn Offizier!« Hier prustete der Rotwangige plötzlich los, schlug die Hände vors Gesicht und brach in dünnes, widerwärtiges Gelächter aus. Gagh sah ihn verdutzt an, dann wanderte sein Blick zu dem Hageren. Der tat nun endlich den Mund auf. »Achte nicht darauf, Gagh.« Seine Stimme war tief und ausdrucksvoll, sie paßte zu dem Gesicht. »Aber du hast wirklich keine Ahnung von deiner Situation. Wir können dich jetzt nicht in die Hauptstadt schicken. Wahrscheinlich 225
wirst du sowieso nie wieder auf eine Sturmkater-Schule kommen...« Gagh öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Der Rotwangige hörte auf zu kichern. »Aber ich fühle mich doch...« flüsterte Gagh. »Ich bin völlig gesund. Oder bin ich verkrüppelt? Sagen Sie es mir, Herr Doktor: Bin ich ein Krüppel?« »Nein, nein«, antwortete der Arzt schnell. »Deine Arme und Beine sind in Ordnung, und was die Psyche anbelangt ... Wer war Gang Gnukh, weißt du das noch?« »Jawohl... Er war Wissenschaftler. Vertrat die Ansicht von der Vielzahl bewohnter Welten... Fanatiker des Reichs haben ihn an den Füßen aufgehängt und mit Armbrüsten erschossen...« Gagh geriet ins Stocken. »Ans genaue Datum erinnere ich mich nicht, tut mir leid. Aber es war vor dem Ersten Alayischen Aufstand...« »Sehr gut!« lobte ihn der Rotwangige. »Und wie steht die moderne Wissenschaft zu Gangs Lehre?« Gagh stockte wieder. »Das kann ich nicht genau sagen... Es gibt keine Gründe, sie abzulehnen. In unseren Astronomiestunden in der Schule wurde das nicht durchgenommen. Es hieß nur, der Aigon... Ja, richtig! Den Aigon umgibt eine Atmosphäre, die von Gridd, dem großen Begründer der alayischen Wissenschaft, entdeckt wurde. Dort könnte durchaus Leben existieren...« Er holte tief Luft und blickte den Hageren unruhig an. »Sehr gut«, sagte der Rotwangige wieder. »Und wie ist es auf anderen Sternen?« »Verzeihung, was: auf anderen Sternen?« »Kann es im Umfeld anderer Sterne Leben geben?« Gagh brach der Schweiß aus. »N-nein...«, murmelte er. »Nein, weil dort doch luftleerer Raum ist. Da kann kein Leben sein.« »Und wenn um einen Stern Planeten kreisen?« Der Doktor blieb hartnäckig. »Ah! Dann, natürlich, ja. Wenn um einen .Stern ein Planet mit einer Atmosphäre kreist, kann auf diesem Planeten Leben sein.« 226
Der Rotwangige lehnte sich zufrieden im Sessel zurück und blickte den Hageren an. Dieser nahm seinen Strohhalm aus dem Mund. »Du bist doch Sturmkater, Gagh?« fragte er. »Jawohl!« Gagh straffte sich erneut. »Und ein Sturmkater ist eine selbständige Kampfeinheit« , die Stimme des Hageren klang vorschriftsmäßig metallen, »die sich jeder möglichen oder unmöglichen Situation gewachsen zeigt, stimmt's?« »Sowie ihr eine Wendung zu Ehre und Ruhm Seiner Hoheit, des Herzogs, und seines Hauses gibt!« fiel Gagh ein. Der Hagere nickte. »Das Sternbild >Käfer< kennst du?« »Jawohl. Zwölf helle Sterne in Ekliptiknähe, am Sommerhimmel sichtbar. Der erste Stern des Käfers...« »Stop! Ist dir der siebente ein Begriff?« »Jawohl. Ein orangefarbener Stern...« »...der«, unterbrach ihn der Hagere, den knochigen Finger erhoben, »ein Planetensystem hat, das der alayischen Astronomie bislang nicht bekannt ist. Auf einem dieser Planeten existiert eine Zivilisation vernunftbegabter Wesen, die der auf eurer Giganda weit voraus ist. Auf diesem Planeten bist du, Gagh.« Sie schwiegen. Gagh, sehr konzentriert, wartete, was noch kommen würde. Der Hagere und der Arzt sahen ihn unverwandt an. Das Schweigen zog sich hin. Endlich hielt es Gagh nicht mehr aus. »Ich habe verstanden, Herr Offizier«, sagte er. »Fahren Sie bitte fort.« Der Arzt räusperte sich, und der Hagere zwinkerte einige Male. »Ach«, begann er dann ruhig, »er denkt, daß wir immer noch seine Psyche testen und ihm jetzt eine imaginäre Situation vorschlagen. Aber das ist nicht imaginär, Gagh. Alles ist wirklich wahr. Ich habe auf eurem Planeten gearbeitet, in den nördlichen Dschungeln des Herzogtums. Während der Kämpfe war ich zufällig in deiner Nähe. Du lagst auf dem Boden und branntest, außerdem warst du 227
tödlich verwundet. Ich habe dich auf mein Raumschiff gebracht - das ist so ein Spezialapparat für Reisen zwischen den Sternen - und dann hierher. Hier haben wir dich geheilt. Das alles ist nicht imaginär. Gagh. Ich bin kein Offizier und selbstverständlich kein Alayer. Ich bin ein Erdenmensch.« Gagh strich sich nachdenklich über die Haare. »Man setzt also voraus, Herr Offizier, daß mir Ihre Sprache und die Lebensbedingungen auf diesem Planeten vertraut sind. Oder?« Wieder Stille. Der Hagere schmunzelte. »Du denkst, daß wir hier eine Übungsstunde in Diversions- und Spionagevorbereitung durchführen...« Gagh wagte ebenfalls ein Lächeln. »Nicht ganz, Herr Offizier.« »Sondern?« »Ich glaube..., ich hoffe, daß die Heeresleitung mich dieser SpezialÜberprüfung für würdig hält, um mich einer neuen, höchst verantwortlichen Bestimmung zuzuführen. Ich bin stolz darauf, Herr Offizier, und werde alle meine Kraft einsetzen, dieses Vertrauen zu rechtfertigen...« »Hör mal«, wandte sich plötzlich der rotwangige Arzt an den Hageren, »vielleicht sollten wir es dabei belassen? Die Voraussetzungen zu schaffen wäre leicht. Du meinst doch, daß ihr nur drei, vier Monate braucht.« Der Hagere schüttelte den Kopf und erklärte dem Rotwangigen etwas in einer Gagh unverständlichen Sprache. Gagh blickte, betont zerstreut, um sich. Ein ungewöhnlicher Raum. Rechtwinklig, mit glatten, cremefarbenen Wänden, die Decke im Schachbrettmuster, wobei jedes Feld von innen heraus leuchtete: rot, orange, blau, grün. Fenster gab es nicht, ebenso war keine Tür zu sehen. Über dem Kopfende des Bettes waren irgendwelche Knöpfe in der Wand, darüber lange Luken, durch die gleichmäßiges, sehr reines grünes Licht hereindrang. Der Fußboden schimmerte mattschwarz ... und die Sessel, auf denen die beiden Männer saßen, schienen aus ihm herauszuwachsen ... oder ein Ganzes mit ihm zu bilden. Gagh strich unbemerkt mit der nackten Fußsohle über den Boden. Die 228
Berührung war angenehm, wie die eines weichen warmen Tieres... »Meinetwegen«, sagte schließlich der Hagere. »Zieh dich an, Gagh. Ich werde dir etwas zeigen... Wo sind seine Sachen?« Der Rotwangige saß noch einen Moment unschlüssig, bückte sich dann zur Seite und holte, anscheinend direkt aus der Wand, ein flaches Päckchen hervor. Während er es noch in der gesenkten Hand hielt, redete er abermals auf den Hageren ein, redete sogar recht lange, doch der Hagere schüttelte nur immer energischer den Kopf, nahm schließlich dem Rotwangigen das Päckchen ab und warf es Gagh auf die Knie. »Zieh dich an!« forderte er ihn wieder auf. Gagh betrachtete das Päckchen vorsichtig von allen Seiten. Es war durchsichtig, fühlte sich samtig an und enthielt etwas sehr Reines, Weiches, Leichtes in Weiß und Hellblau. Und auf einmal zerfiel die Umhüllung, zerfiel von selbst in silbrige Fünkchen, die an der Luft schmolzen, und eine blau-weiße Jacke, kurze hellblaue Hosen und noch etwas sanken auseinandergefaltet auf das Bett. Mit steinerner Miene begann Gagh sich anzuziehen. Plötzlich sagte der Arzt laut: »Vielleicht sollte ich trotzdem mitkommen?« »Nicht nötig«, erwiderte der Hagere. Der Rotwangige schlug die weißen, weichen Hände zusammen. »Was hast du nur für eine Art, Kornej! Was sollen diese Intuitionsanwandlungen? Wir hatten doch alles aufgeschrieben und abgesprochen...« »Wie du siehst, eben nicht alles.« Gagh streifte die fast gewichtslosen Sandalen über, die erstaunlich gut paßten. Er stand auf, zog die Hacken zusammen und neigte den Kopf. »Ich bin fertig, Herr Offizier.« Der Hagere musterte ihn. »Na, wie ist's, gefällt es dir?« Gagh zuckte die Schultern. »Die Uniform wäre mir natürlich lieber...« »Du wirst ohne sie auskommen«, murmelte der Hagere vor sich hin und erhob sich. > 229
»Zu Befehl«, sagte Gagh. »Bedanke dich bei dem Arzt«, forderte der Hagere ihn auf. Gagh wandte sich zackig dem Heiligengesicht zu, zog wieder die Hacken zusammen und neigte noch einmal den Kopf. »Erlauben Sie mir, mich bei Ihnen zu bedanken, Herr Doktor.« Der Arzt winkte müde ab. »Geh schon..., Kater...« Der Hagere hatte sich bereits abgewandt, er lief direkt in die Wand hinein. »Leben Sie wohl, Herr Doktor«, sagte Gagh vergnügt. »Ich hoffe, daß wir uns hier nicht wiedersehen und Sie nur Gutes über mich hören.« »Das hoffe ich auch...«, entgegnete der Arzt mit sichtlichem Zweifel. Doch Gagh ließ sich in kein Gespräch mit ihm mehr ein. Er erreichte den Hageren gerade in dem Moment, als in der Wand vor ihnen eine rechtwinklige Tür erschien - nicht aufsprang, sondern sich unvermittelt abzeichnete -, und sie traten in einen Flur, der auch cremefarben war und leer, auch türen- und fensterlos und ebenfalls auf unerklärliche Weise erleuchtet. »Was, denkst du, wirst du als nächstes sehen?« fragte der Hagere. Er nahm lange Schritte, wobei er seine Stelzbeine nach vorn warf, die Füße aber besonders weich aufsetzte, was Gagh lebhaft an Gepards unnachahmlichen Gang erinnerte. »Das kann ich nicht wissen, Herr Offizier«, antwortete Gagh. »Nenne mich Kornej«, sagte der Hagere. »Jawohl, Herr Kornej.« »Nur Kornej.« »Zu Befehl... Kornej.« Der Flur wurde unmerklich zu einer Treppe, die als weite, fließende Spirale abwärts führte. »Du hast also nichts dagegen, auf einem anderen Planeten zu sein?« »Ich bemühe mich zurechtzukommen, Kornej.« 230
Sie rannten fast die Stufen hinab. »Wir sind hier in einem Lazarett«, erklärte Kornej. »Hinter seinen Wänden wirst du viel Unerwartetes, sogar Erschreckendes sehen. Aber vergiß nicht, du bist hier in absoluter Sicherheit. Was für merkwürdige Dinge dir auch zu Gesicht kommen sollten, sie bedrohen dich nicht und können dir keinen Schaden zufügen. Verstehst du mich?« »Ja, Kornej«, sagte Gagh und leistete es sich, wieder zu lächeln. »Versuch dir selbst ein Bild zu machen«, fuhr Kornej fort. »Wenn dir etwas nicht klar ist, frage! Unbedingt! Den Antworten kannst du trauen. Hier lügt man nicht.« »Zu Befehl!« antwortete Gagh todernst. Hier endete die endlose Treppe, und sie gelangten in einen geräumigen hellen Saal mit durchsichtiger Vorderwand, hinter der alles voll Grün war, Sandwege gelb leuchteten und unerfindliche Metallkonstruktionen in der Sonne blinkten. Mitten im Saal unterhielten sich einige grell und, offen gesagt, leichtsinnig gekleidete Leute. Ihre Stimmen entsprachen ihrem Äußeren, sie klangen ungehemmt und geradezu unanständig laut. Doch plötzlich verstummten sie, gleichzeitig, als hätte man sie abgeschaltet. Alle Blicke schienen sich auf Gagh zu richten... Nein, nicht auf ihn. Kornej sahen die Leute an. Die Gesichter hörten auf zu lächeln, sie erstarrten. Gleich darauf aber schlugen die Menschen ihre Augen nieder, nun achtete keiner mehr auf Kornej, überhaupt blickte niemand mehr in ihre Richtung, und Kornej schritt drauflos, in der absoluten Stille an ihnen vorbei, und schien von alldem nichts zu bemerken. Vor der durchsichtigen Wand blieb er stehen und legte Gagh die Hand auf die Schulter. »Wie gefällt dir das?« fragte er. Mächtige, zerklüftete Stämme, die ein einzelner nicht hätte umfassen können, ganze Schwaden, Wolken, ja Wolkenberge von blendendem, stechendem Grün, ebenmäßige gelbe Wege und an ihren Rändern dunkles Gesträuch, dicht, undurchdringlich, mit Blüten in unwirklich leuchtendem Lila, und dann trat aus dem sonnengesprenkelten Schatten ein eigenartiges, unvorstellbares Tier auf 231
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einen Sandplatz, das nur aus Beinen und Hals zu bestehen schien, es hielt an, wandte seinen kleinen Kopf und musterte Gagh mit großen, samtigen Augen. »Kolossal...«, flüsterte er. Seine Stimme versagte. »Perfekt gemacht!« »Eine Zebragiraffe«, erklärte Kornej, und das klang unverständlich und gleichermaßen verständlich. »Ist sie gefährlich?« fragte Gagh sachlich. »Ich habe dir doch gesagt: Hier ist nichts gefährlich...« »Ich verstehe. Hier nicht. Aber . . . dort?« Kornej biß sich auf die Lippe. »Hier heißt auch dort«, sagte er. Aber Gagh hörte schon nicht mehr zu. Fassungslos beobachtete er, wie den Sandweg entlang ein Mann kam, unmittelbar hinter der Zebragiraffe. Gleich einer bunten Schranke senkte sich der schier endlose Hals, und der Mann tätschelte dem Tier, ohne stehenzubleiben, den Rücken und ging dann weiter, vorbei an einem Gebilde aus verflochtenem Stacheldraht, vorbei an regenbogenfarbenen Federn, die in der Luft schwebten, bis er ein paar flache Stufen heraufstieg und durch die glasklare Wand in den Saal gelangte. »Übrigens, er ist auch von einem anderen Planeten«, sagte Kornej halblaut. »Er wurde hier gesund gepflegt und wird bald nach Hause zurückkehren.« Gagh schluckte, seine Blicke folgten dem Fremden. Der Mann hatte sonderbare Ohren. Das heißt, genaugenommen waren es gar keine Ohren - statt dessen verunzierten den kahlen Schädel viele Beulen und knotige, kammartige Warzen. Gagh schluckte wieder und sah hinüber zur Zebragiraffe. »Ist das etwa...«, begann er und verstummte. »Ja?« »Verzeihung, Kornej... Ich dachte..., das alles..., das hinter der Wand wäre...« »Nein, es ist kein Film!« In Kornejs Stimme schwang eine Spur Ungeduld mit. »Und auch kein Zoo. Alles existiert wirklich, und so ist es hier überall... Möchtest du sie streicheln?« fragte er plötzlich. 232
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Gagh spannte sich. »Zu Befehl!« sagte er heiser. »Nein, nein, wenn du nicht willst, brauchst du es nicht. Du sollst nur begreifen...« Kornej brach mitten im Satz ab. Gagh blickte auf. Kornej starrte über seinen Kopf hinweg in die Tiefe des Saales, woher bereits wieder Worte und Gelächter klangen, und sein Gesicht veränderte sich in eigenartiger Weise. Ein neuer Ausdruck erschien darauf, ein Gemisch aus Sehnsucht, Schmerz und Erwartung. Gagh hatte solche Gesichter schon gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, wann und wo. Er drehte sich um. Am anderen Ende des Saales, direkt an der Wand, stand eine Frau. Einen Moment später war sie verschwunden, Gagh hatte sie nicht einmal richtig betrachten können. Rot gekleidet war sie gewesen, hatte pechschwarze Haare gehabt und strahlende, anscheinend blaue Augen in einem blassen Gesicht. Eine reglose rote Flamme vor dem cremefarbenen Hintergrund der Wand. Und gleich darauf nichts mehr. Kornej aber sagte ruhig: »Na los, gehen wir...« Sein Gesicht war wieder wie vorher, als wäre nichts geschehen. Sie schritten an der durchsichtigen Wand entlang. »Gleich werden wir an einem anderen Ort sein«, fuhr er fort. »Uns dort wiederfinden, verstehst du? Nicht hinfliegen oder hinfahren, sondern einfach dort sein, bedenke das...« Hinter ihnen lachten mehrere Stimmen lauf auf. Gagh errötete und drehte sich um. Nein, man lachte nicht über ihn. Überhaupt interessierten sie niemanden. »Tritt ein«, sagte Kornej. Da stand eine runde Kabine, ähnlich einer Telefonzelle, nur waren ihre Wände nicht gläsern, sondern matt. Aus ihrer Tür drang ein Duft nach draußen, wie man ihn nach heftigen Gewittern erlebt. Gagh ging zaghaft hinein, Kornej drängte ihm nach, und die Türöffnung verschwand. »Ich erkläre dir gleich, wie das funktioniert«, sagte Kornej. Gemächlich drückte er die Tasten eines kleinen Schaltpults, das in die Wand eingelassen war. Ähnliche 233
Schalttafeln hatte Gagh bei den Rechenmaschinen in der Buchhaltung seiner Schule gesehen. »Hier gebe ich einen Code ein«, fuhr Kornej fort. »Schon geschehen... Siehst du das grüne Licht? Es zeigt an, daß der Code Sinn hat und das Ziel frei ist. Jetzt starten wir... Dort, dieser rote Knopf...« Er bediente den roten Knopf. Um nicht hinzufallen, klammerte Gagh sich an Kornejs Pullover. Es war, als verlöre er für kurze Zeit den Boden unter den Füßen, dann spürte er ihn wieder, und hinter den matten Wänden wurde es hell. »Das war's«, sagte Kornej. »Steig aus.« Sie waren nicht mehr in dem Saal. Sie standen in einem breiten, lichterfüllten Gang. Eine ältere Frau in quecksilbern schimmerndem Cape machte Platz, um sie vorbei zu lassen; streng musterte sie Gagh, warf Kornej einen Blick zu - und ihr Gesicht zuckte plötzlich; dann tauchte sie eilig in die Zelle, und die Tür verschwand hinter ihr. »Geradeaus«, sagte Kornej. Gagh ging geradeaus. Nach einigen Schritten schöpfte er unauffällig tief Atem. »Ein Augenblick - und wir sind zwanzig Kilometer entfernt«, hörte er hinter sich Kornejs Stimme. »Grandios«, erwiderte er. »Ich wußte gar nicht, daß wir so etwas können.« »Na, nehmen wir ruhig an, daß ihr es noch nicht könnt...«, wandte Kornej ein. »Hier nach rechts!« »Nein, ich meine, im Prinzip... Ich weiß ja, alles ist geheim, aber für die Armee...« »Geh schon, geh.« Kornej schob ihn sacht vorwärts. »Für die Armee ist so was unersetzlich... Für die Armee, für die Aufklärung...« »Stop!« unterbrach ihn Kornej. »Wir sind jetzt in einem Hotel. Das ist mein Zimmer. Hier habe ich gewohnt, während sie dich geheilt haben.« Gagh blickte sich um. Das Zimmer war groß und leer. Nicht die Spur eines Möbelstücks. Anstelle der Außenwand sah man den blauen Himmel, die anderen Wände waren verschiedenfarbig, der Fußboden strahlte weiß, die 234
Decke, wie schon im Krankenhaus, im bunten Schachbrettmuster. »Komm, wir reden miteinander«, schlug Kornej vor und setzte sich. Sein mageres Hinterteil hätte auf den Fußboden plumpsen müssen. Aber der Boden blähte sich dem fallenden Körper entgegen, umfloß ihn und formte einen Sessel. Soeben hatte es diesen Sessel noch nicht gegeben, er war einfach in Sekundenschnelle emporgewachsen. Direkt aus dem Fußboden. Vor Gaghs Augen. Kornej schlug die Beine übereinander und umfaßte gewohnheitsgemäß mit den knochigen Händen sein Knie. »Wir haben hier viel gestritten, was mit dir werden soll, Gagh«, begann er. »Was wir dir sagen sollten, was besser vor dir zu* verheimlichen wäre. Und wie wir es anstellen könnten, daß du um Gottes willen nicht durchdrehst...« Gagh fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich...« »Es gab, beispielsweise, den Vorschlag, dich für diese drei, vier Monate bewußtlos zu lassen. Jemand regte an, dich zu hypnotisieren. Aller mögliche Unsinn wurde vorgeschlagen. Ich war dagegen. Aus folgenden Gründen: Erstens glaube ich an dich. Du bist ein kräftiger, durchtrainierter Bursche; ich habe dich kämpfen gesehen, und ich weiß, daß du vieles aushältst. Zweitens wird es für alle besser sein, wenn du unsere Welt siehst... sei es auch nur ein Zipfelchen unserer Welt. Und drittens sage ich dir ehrlich: Ich werde dich vielleicht brauchen.« Gagh schwieg. Aus seinen Beinen schwand das Gefühl, er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und preßte sie, bis sie schmerzten. Kornej beugte sich plötzlich vor und sagte beschwörend: »Mit dir ist nichts Schlimmes geschehn, Gagh. Dir wird auch nichts Schlimmes geschehn. Du bist in absoluter Sicherheit. Bist einfach verreist, zu Besuch, verstehst du?« »Nein«, sagte Gagh heiser. Er drehte sich um und ging geradewegs auf den blauen Himmel zu. Blieb stehen. Schaute. Seine zusammengedrückten Fäuste waren weiß geworden. Er tat einen 235
Schritt zurück, einen zweiten, dritten - er wich so lange zurück, bis er mit den Schulterblättern anstieß. »Das heißt... ich bin schon dort?« fragte er. »Das heißt, du bist hier«, sagte Kornej. »Und wie ist mein Auftrag?«
Kapitel 3 Mit einem Wort, Jungs, ich bin reingerasselt wie wahrscheinlich kein anderer Sturmkater vor mir! Da sitze ich nun auf einer üppigen Waldwiese, bis zum Hals im weichen, zarten Gras. Um mich herum ist es wunderschön, der reinste Kurort am Sagguta-See, bloß daß der See fehlt. Bäume gibt es hier, wie ich sie nie gesehen habe: ihre Blätter sind saftig grün, weich und seidig, und an den Zweigen hängen riesengroße Früchte - Birnen heißen sie. Ein Genuß! Und ich kann essen, soviel ich will. Links ist ein Wäldchen, und direkt vor mir steht das Haus. Kornej sagt, er habe es eigenhändig erbaut. Vielleicht, ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Als ich den Jagdsitz Seiner Hoheit bewachen mußte, war dort auch ein Haus, mächtig prunkvoll, das kluge Köpfe entworfen hatten, aber an das hier reichte es nicht heran. Vor dem Haus ist ein Bassin und sein Wasser so klar - wenn du's siehst, möchtest du's trinken, wagst gar nicht, darin zu baden. Und ringsum ist Steppe. Dort war ich noch nicht. Habe vorläufig auch keine Lust hinzugehen. Die Steppe interessiert mich jetzt nicht. Erst mal möchte ich herausfinden, in welcher Sprache ich denke, Natternmilch! Mein Lebtag habe ich keine anderen Sprachen als unser Alayisch gekannt - Armeebegriffe natürlich nicht mitgerechnet: »Hände hoch!«, »Hinlegen!«, »Wer ist der Kommandeur?« und alles so was. Doch jetzt kapiere ich einfach nicht, was meine Muttersprache ist, das Alayische oder ihr Russisch. Kornej behauptet, sie hätten fünfundzwanzigtausend russische Wörter und allerlei idiomatische Wendungen in mich hineingestopft, in einer einzigen Nacht, während ich nach der Operation schlief. Ich weiß 236
nicht... Idiome... Wie würde man das auf alayisch nennen? Keine Ahnung. Was hatte ich doch zuerst geglaubt? Ein Speziallabor! So was gibt's bei uns, ich kenne das. Kornej hielt ich für einen Offizier unserer Abwehr, dachte, daß sie mich für einen besonders wichtigen Auftrag ausbilden. Wäre schließlich möglich, daß die Interessen Seiner Hoheit inzwischen bis auf einen anderen Kontinent reichen. Oder, zum Teufel, auch auf einen fremden Planeten. Warum nicht? Was weiß ich denn? Anfangs meinte ich Dummkopf sogar, alles ringsum sei Attrappe. Dann aber, nachdem ich einen Tag und den zweiten hier gelebt hatte - nein, Jungs, das haute nicht hin! Diese Stadt sollte Attrappe sein? Diese blauen Riesendinger, die ab und zu am Horizont auftauchten? Und das Essen? Könnte ich es den Jungs zeigen - sie würden es nicht glauben. Solche Verpflegung gibt's einfach nicht! Da nimmst du eine Tube, so ähnlich wie die von der Zahnpasta, drückst ihren Inhalt auf einen Teller, und flupp - es brodelt, zischt, und dann greifst du dir eine andere Tube, quetschst auch sie aus, und ehe du einen Seufzer getan hast, liegt ein riesengroßes Steak auf deinem Teller, goldbraun, und es duftet - ach, was soll ich noch sagen. Jedenfalls ist das keine Attrappe. Das ist Fleisch! Oder nehmen wir den Nachthimmel: alle Sternbilder hängen schief. Auch der Mond. Ist das etwa Attrappe? Der Mond hat freilich was Theatralisches an sich. Besonders, wenn er hoch steht. Steigt er jedoch gerade auf, ist's zum Fürchten. Rot und riesig, ja, aufgebläht kriecht er hinter den Bäumen empor... Fünf Tage bin ich wohl schon hier, aber wenn ich das sehe, fange ich immer noch an zu zittern. Ich stecke ganz schön im Schlamassel! Mächtig sind sie hier, mächtig, das ist mit bloßem Auge zu erkennen. Und gegen sie, gegen all ihre Macht bin ich allein. Und was das Schlimmste ist: Bei uns ahnt überhaupt keiner was von ihnen. Sie spazieren über unsere Giganda, als wären sie dort zu Hause, und wissen alles über uns, wir aber wissen nichts über sie. Weshalb sind sie denn gekommen, was wollen sie von uns? Entsetzlich... Wenn man sich ihr 237
Teufelszeug so vorstellt, diese blitzschnellen Sprünge über Hunderte von Kilometern, ohne Flugzeug, ohne Auto, ohne Eisenbahn..., diese Gebäude über den Wolken, die unmöglich und unglaublich sind, wie ein Alptraum..., diese Zimmer-möbliere-dich, das Essen direkt aus der Luft, die wundertätigen Ärzte... Und heute früh - ob ich das geträumt habe? - flog Kornej aus dem Bassin geradewegs in den Himmel, wie ein Vogel und nur mit einer Badehose am Leibe; er beschrieb einen Kreis über dem Garten und verschwand hinter den Bäumen... Bei dieser Erinnerung überrieselte es mich kalt. Ich sprang auf, rannte auf der Wiese hin und her, aß sogar eine Birne, um mich zu beruhigen. Dabei bin ich erst den fünften Tag hier. Was kann ich denn in fünf Tagen gesehen haben? Nehmen wir nur diese Wiese. Mein Fenster geht auf sie hinaus. Da wurde ich neulich nachts von heiserem Mauzen geweckt. Balgen sich bestimmt Katzen, dachte ich. Aber es waren keine Katzen. Ich schlich zum Fenster, blickte hinaus. Da stand was. Mitten auf der Wiese. Was, wurde mir nicht klar. Dreieckig anscheinend, weiß und riesengroß. Während ich mir noch die Äugen rieb, löste es sich in Luft auf. Wie ein Spuk, Ehrenwort. Sie nennen das auch so: »Phantom«. Am Morgen habe ich Kornej gefragt, und er hat gesagt: »Das sind unsere Sternenschiffe vom Typ >Phantom< für Raumflüge mittlerer Entfernungen, bis zu zwanzig Lichtjahren.« Könnt ihr euch so was vorstellen? Zwanzig Lichtjahre zählen bei ihnen als mittlere Entfernung! Bis zur Giganda sind es übrigens achtzehn... Nein, von uns können sie nur eins brauchen: Sklaven. Irgendwer muß schließlich sogar bei ihnen arbeiten, diesen Wohlstand gewährleisten... Kornej betont immer wieder: »Lerne, sieh dir alles an, lies - in drei, vier Monaten kehrst du nach Hause zurück und wirst dort das neue Leben mit aufbauen«, und dies und jenes; »der Krieg«, sagt er, »ist in drei, vier Monaten vorbei, wir kümmern uns darum und beenden ihn in allernächster Zeit.« Da habe ich ihn festgenagelt. »Wer wird den Krieg gewinnen?« habe ich gefragt. »Niemand«, antwortet er. »Es wird Frieden, und damit hat sich's.« A h a . . . Alles klar. Sie wollen, das wir nicht unnütz 238
Material vergeuden. Daß alles ruhig und still abläuft, ohne Unruhen, Aufstände, Blutvergießen. So wie die Hirten darauf achten, daß die Stiere nicht aufeinander losstürzen und sich zerfleischen. Wer von uns ihnen gefährlich wird, den räumen sie aus dem Weg, wen sie brauchen, den kaufen sie sich, und in die Laderäume ihrer »Phantome« stopfen sie Alayer wie Rattenfresser, bunt durcheinander ... Kornej freilich... Ich kann nichts dafür, er gefällt mir. Mein Verstand sagt mir natürlich, daß es so sein muß, daß sie nur einen solchen Typ auf mich ansetzen konnten; im Kopf ist mir das klar. Aber hassen kann ich ihn nicht, da spielen meine Sinne verrückt. Wie ein Idiot glaube ich ihm, lege die Ohren an, wenn er was erzählt. Dabei weiß ich, daß er mir im nächsten Moment was einbläst, mir nachweist, wie schön ihre Welt und wie schlecht die unsre ist, und daß unsre Welt nach dem Beispiel der ihren umgestaltet werden muß, und daß ich ihnen dabei zu helfen habe, weil ich doch ein kluger, entschlossener, kräftiger Bursche bin und bestens geeignet für das wahre Leben... Aber was reg ich mich auf, er hat ja schon damit angefangen. Berühmte Männer, die wir anhimmeln, hat er mir madig gemacht: Feldmarschall Bragg und den Einäugigen Chef der Abwehr; selbst hinsichtlich Seiner Hoheit hat er versucht, gewisse Dinge anzudeuten, aber da bin ich ihm natürlich sofort in die Parade gefahren... Alle haben von ihm was abgekriegt, sogar die aus dem Reich. Wahrscheinlich wollte er beweisen, wie unparteiisch sie hier sind. Und nur über einen hat er Gutes gesagt: über Gepard. Sicher hat er ihn persönlich gekannt. Und geschätzt. Mit diesem Mann, sagt er, ist ein großer Pädagoge gefallen. Hier, sagt er, wäre er unbezahlbar gewesen... Na, lassen wir das. An diesem Punkt wollte ich aufhören, konnte aber nicht - ich mußte noch über Gepard nachdenken. Ach, Gepard... Daß es die Jungs erwischt hat - meinetwegen, Hase, Riechkolben... Zecke hat sich mit 'ner Rakete unterm Arm vor einen Panzerwagen geworfen... Soll er, in Gottes Namen, dazu wurden wir geboren. Doch Gepard... An meinen Vater erinnere ich mich ja fast nicht, die Mutter 239
- na, was ist schon die Mutter. Aber Gepard vergesse ich nie! Als ich zur Schule kam, war ich ganz schlapp, hatte gehungert, Katzenfleisch gefressen und wäre selbst fast gefressen worden; mein Vater war ohne Arme und Beine von der Front zurückgekehrt, er nützte keinem, tauschte alles gegen Schnaps... In der Kaserne war's auch kein Zuckerlecken, ihr wißt selber, wie die Verpflegung dort ist. Und wer hat mir seine Konserven gegeben? Ich stehe also nachts Wache und knirsche vor Hunger mit den Zähnen, da taucht er plötzlich auf wie aus dem Boden gestampft, hört sich meine Meldung an, knurrt etwas, drückt mir eine Scheibe Brot mit Pferdefleisch in die Hand - seine Ration, die ihm in der Etappe zustand - und ist verschwunden. Und beim Eilmarsch hat er mich zwanzig Kilometer auf seinem Rücken geschleppt, als ich vor Schwäche umgefallen war. Eigentlich wäre das Sache der Jungs gewesen, und sie hätten's auch gern getan. Aber sie sind selber alle zehn Schritte gekippt. In der Instruktion heißt's: Wer nicht laufen kann, kann auch nicht dienen. Zieh ab nach Hause, hock dich unter deine stinkige Treppe und scheuch die Katzen... Ja, dich vergesse ich nie! Du bist gefallen; wie du uns gelehrt hast, in den Tod zu gehen, so hast du's selber getan. Aber da ich nun mal heil geblieben bin, muß ich so leben, daß ich dir keine Schande mache. Nur - wie soll ich leben? Ich sitze in der Patsche, Gepard. Mächtig in der Patsche! Wo bist du jetzt? Steck mir ein Licht auf, sag, was ich anfangen soll... Denn die hier wollen mich kaufen. Haben mir zuallererst das Leben gerettet. Mich geheilt und runderneuert, nicht mal ein löchriger Zahn ist geblieben - ob da neue gewachsen sind? Sie stopfen mich voll wie eine Mastgans, sie wissen, diese Vagabunden, wie knapp bei uns das Futter ist. Tun ganz freundlich, haben mir einen sympathischen Menschen beigegeben... Hier rief er mich: Mittagszeit. Wir setzten uns an den Tisch im Salon, nahmen diese Tuben und zauberten unser Essen. Kornej stellte sich etwas Seltsames her: einen ganzen Knäuel durchsichtiger gelblicher Fäden - sah aus wie ein verreckter Moorigel; den be240
goß er mit brauner Soße, und obendrauf lagen noch Fischoder Fleischscheiben. Und es duftete... ich kann nicht sagen, wonach, aber sehr herzhaft. Aus irgendeinem Grund aß er mit Stäbchen, klemmte zwei Stäbchen zwischen die Finger, führte den Teller bis ans Kinn und stopfte sich seine Portion in den Mund. Dabei zwinkerte er mir zu. Er hatte also gute Laune. Mir dagegen war nach meinen Grübeleien und wohl auch nach den vielen Birnen der Appetit vergangen. Ich machte mir nur etwas Fleisch. Gekochtes. Wollte eigentlich geschmortes, aber es kam gekochtes dabei raus. Meinetwegen, es ließ sich essen, auch dafür danke. »Ich habe heute gut gearbeitet«, sagte Kornej, während er seinen Igel verdrückte. »Und was hast du getan?« »Nichts Besonderes. Habe gebadet. Im Gras gesessen.« »Warst du in der Steppe?« »Nein.«»Schade. Ich hatte dir doch gesagt: Dort gibt's vieles, was dich interessieren dürfte.« »Ich gehe hin. Später.« Kornej aß den Rest von seinem Igel und griff wieder nach den Tuben. »Hast du dir überlegt, wo du gern einmal sein würdest?« »Nein. Das heißt, ja.« »Und wo?« Was sollte ich ihm auf die schnelle vorflunkern? Ich wollte jetzt nirgendwohin, mußte erst mal mit diesem Haus klarkommen. Ich platzte heraus: »Auf dem Mond...« Er sah mich erstaunt an. »Und wo liegt dein Problem? Die Null-Kabine steht im Garten, das Code-Verzeichnis habe ich dir gegeben... Wähle die Nummer und reise los.« Dieser Mond fehlte mir gerade... »Ich fahre auch«, sagte ich. »Ich zieh nur noch meine Galoschen über...« Keine Ahnung, woher ich diese Wendung hatte. Bestimmt war das ein Idiom. Sie hatten es in mein Hirn gepflanzt, und seitdem sprang es mir von Zeit zu Zeit auf die Zunge. 241
»Wie bitte?« fragte Kornej und hob die Brauen. Ich schwieg. Jetzt mußte ich also auf den Mond. Hatte ich's angekündigt, mußte ich es auch tun. Aber was dort konnte neu für mich sein... Andererseits würde es natürlich nicht schaden, sich das mal anzusehen... Mir fiel ein, wieviel ich hier noch anzusehen hatte, und mir wurde schwarz vor Augen. Dabei war das ja nicht mal das Schlimmste. Später würde ich mir noch alles einprägen müssen, Stück für Stück in den Schädel sortieren, und in meiner Rübe lag sowieso alles durcheinander, als würde ich schon hundert Jahre hier rumlungern und als würde in dieser ganzen Zeit, Tag und Nacht, ein verrückter Film ohne Anfang und Ende vor mir abrollen. Denn Kornej verheimlicht doch nichts! Der Null-Transport? Bitte sehr! Er erklärt mir den Null-Transport. Erklärt ihn scheinbar verständlich, zeigt mir Modelle. Die Modelle verstehe ich, aber wie die Kabine funktioniert - nein, das bleibt mir ein Rätsel. Die Krümmung des Raumes, habe ich die etwa kapiert? Oder nehmen wir diese Tubennahrung. Drei Stunden lang hat er mir das auseinandergesetzt, und was ist hängengeblieben? Die submolekulare Verdichtung. Und die Ausdehnung. Die submolekulare Verdichtung ist natürlich was Schönes, sogar Wunderschönes. Chemie. Aber woher kommt nun dieses Stück gebratenes Fleisch? »Na, was läßt du den Kopf hängen?« fragte Kornej und wischte sich den Mund mit der Serviette. »Hast du's schwer?« »Mir dröhnt der Schädel«, sagte ich wütend. Er brummte etwas vor sich hin und begann, den Tisch abzuräumen. Wie es sich gehört, versuchte ich ihm zu helfen, nur bleibt hier sogar für einen kaum was zu tun. Das ganze Abräumen besteht darin, eine kleine Luke in der Tischmitte zu öffnen und alles dort hineinzuwerfen; nicht einmal schließen muß man sie, das passiert von allein. »Komm, wir sehen uns einen Film an«, sagte er. »Einer meiner Bekannten hat einen hervorragenden Streifen gedreht. Im historischen Stil, schwarz-weiß und flächig. Er wird dir gefallen.« Kurz: Ich mußte mich auf der Stelle hinsetzen und diesen 242
Film ansehen. Irgendeinen Schwachsinn. Von Liebe. Da lieben sich zwei Adlige, doch ihre Eltern sind dagegen. Ein paarmal wird zwar auch gekämpft, aber immer nur mit Schwertern. Freilich ist das großartig gemacht, bei uns können sie das nicht. Einer stieß da einem anderen sein Schwert in die Brust - ohne Quatsch: die Klinge kam am Rücken drei Finger breit wieder raus, sie schien sogar zu dampfen... Das wäre zum Beispiel auch eine Sache, wofür sie SklaVen brauchten... Mir wurde richtig flau bei diesem Gedanken, ich hielt's kaum noch aus bis zum Ende. Außerdem hatte ich mächtigen Appetit auf eine Zigarette. Kornej ist gegen das Rauchen, wie Gepard. Er hat mir angeboten, es mir abzugewöhnen, aber ich wili das nicht. Das Rauchen ist vielleicht das einzige, was von mir, so wie ich früher war, geblieben ist... Jedenfalls habe ich ihn dann gefragt, ob ich mich zurückziehen darf. Um zu lesen, hab ich gesagt. Über den Mond. Er hat es mir geglaubt und mich gehen lassen. Als ich in mein Zimmer trat, fühlte ich mich richtig wie daheim. Gleich nachdem ich hier angekommen war, hatte ich es für mich umgestaltet. Damit hatte ich auch meine liebe Not gehabt. Kornej hatte mir natürlich alles erklärt, doch ich hatte nichts so recht verstanden. Ich steh also mitten im Zimmer und schrei wie ein Verrückter: »Einen Stuhl! Ich will einen Stuhl!« Erst später habe ich mich langsam eingefuchst. Wie sich herausstellte, muß man hier nicht rumbrüllen, sondern nur hübsch still an diesen Stuhl mit allen seinen Einzelheiten denken. Und das habe ich dann getan. Mich sogar an den ordentlich zusammengeflickten Lederbezug des Sitzes erinnert. Er war zerrissen, als Hase sich nach dem Feldzug sofort hingesetzt hatte und beim Aufstehen mit dem Haken von seinem Visitiereisen hängengeblieben war... Na, auch ansonsten habe ich mir alles so wie in Gepards Kabüffchen eingerichtet: eine eiserne Bettstelle mit grüner Wolldecke, ein Nachtschränkchen, eine Waffenkiste, ein Tischchen mit Lampe, zwei Stühle und ein Kleiderschrank. Dazu habe ich mir eine richtige Tür gemacht und die Wände zweifarbig gestaltet, in Orange und Weiß, den Farben Seiner Hoheit. Anstelle 243
der durchsichtigen Wand hat das Zimmer nun ein Fenster. Und an der Decke hängt eine Lampe mit Blechschirm... Freilich ist das alles Tinnef, in Wahrheit gibt es hier weder Blech noch Eisen noch Holz. Und in der Kiste liegt natürlich keine Waffe, sondern die einzige mir noch verbliebene MPi-Patrone, die ich in meiner Jackentasche fand. Und das Nachtschränkchen ist leer. Bei Gepard hatte ein Foto darauf gestanden, von einer Dame mit Kind - es hieß, das wären seine Frau und seine Tochter gewesen; er selber hat nie davon gesprochen. Ich wollte mir auch ein Foto hinstellen. Von Gepard. So, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Aber es wurde nichts. Wahrscheinlich hatte Kornej recht, als er sagte, dazu müsse man Maler oder Bildhauer sein. Aber im großen und ganzen gefällt mir meine Kammer. Hier erholt sich meine Seele - die anderen Zimmer kommen mir vor wie freies Feld, wie leergefegt. Außer mir scheint allerdings keiner Geschmack dran zu finden. Gepard hat nichts gesagt, als er sie sich ansah, doch ich glaube, er war unzufrieden. Und das ist noch das kleinere Übel! Ob ihr's glaubt oder nicht, das Zimmer gefällt sich selbst nicht. Oder dem Haus. Oder, Natternmilch, dieser unsichtbaren Kraft, die hier alles steuert. Kaum bin ich mal abgelenkt, siehe da, ist der Stuhl verschwunden. Oder die Lampe von der Decke. Oder die Waffenkiste hat sich in so eine Nische verwandelt wie die, in denen sie ihre Mikrobücher aufbewahren. Jetzt auch wieder. Ich gucke hin: Der Nachtschrank ist weg. Das heißt, er ist da, aber das ist nicht mein Nachtschränkchen, auch nicht Gepards - es ist eigentlich gar keins. Weiß der Kuckuck,,was das ist, irgendein halbdurchsichtiges Gebilde. Gottlob sind wenigstens die Zigaretten darin unverändert. Meine geliebten Selbstgedrehten. Also hab ich mich auf meinen Stuhl gesetzt, mir ein Stäbchen angezündet und dieses Gebilde vernichtet. Ehrlich, es hat mir Spaß gemacht. Und dann habe ich mein Nachtschränkchen an seinen Platz zurückgestellt. Mich sogar an seine Nummer erinnert: 0064. Was diese Nummer bedeutet, weiß ich jedoch nicht. 244
Ich sitze also, rauche und fixiere meinen Nachtschrank. Ich werde ruhiger, in meinem Zimmer herrscht angenehmes Halbdunkel, das Fenster ist so schmal, daß ich mich im Ernstfall gut verteidigen könnte. Wenn ich was hätte, womit. Und dann überlegte ich: Was sollte ich mir auf das Nachtschränkchen legen? Ich grübelte und grübelte, und endlich fiel's mir ein. Ich nahm das Medaillon vom Hals, öffnete den Deckel und holte das Porträt Ihrer Hoheit heraus. Ich ließ einen Rahmen darum wachsen, so gut ich's konnte, rückte das Bild in die Mitte, zündete mir eine neue Zigarette an - ich sitze also da und betrachte das wunderschöne Gesicht der Jungfrau der Tausend Herzen. Wir alle, wir Sturmkater, bleiben bis zum letzten Atemzug ihre Ritter und Beschützer. Alles Gute in uns gehört ihr. Unsere Wärme, unsere Zärtlichkeit, unser Mitleid - alles das haben wir von ihr, für sie und in ihrem Namen. Da saß ich nun, und jäh wurde mir bewußt, in was für einem Aufzug ich mich vor ihr befand! Hemd, kurze Hose, Arme und Beine nackt... Pfui! Ich sprang so heftig hoch, daß der Stuhl umkippte, riß die Schranktüren auf, streifte diesen blau-weißen Plunder ab und zog meine Sachen von zu Hause an: die Tarnjacke und die Tarnhose. Fort mit den Sandalen, und die schweren rötlichen Kurzschaftstiefel an die Füße. Den Riemen schnürte ich so fest um die Taille, daß mir fast die Luft wegblieb. Schade, das Barett fehlte offenbar war es so gründlich verbrannt, daß sie es nicht wiederherstellen konnten. Vielleicht hatte ich es auch in jenem Getümmel verloren... Ich musterte mich im Spiegel. Das war schon etwas ganz anderes: kein rotznasiger Junge mehr, sondern ein Sturmkater - die Knöpfe funkeln, das Schwarze Tier im Emblem fletscht die Zähne in ewiger Wut, und die Gürtelschnalle sitzt genau auf dem Nabel, wie angegossen. Ach, daß ich kein Barett h a b e . . . Und hier merkte ich, daß ich den Marsch der Sturmkater grölte, so laut ich es konnte, bis zur Heiserkeit, und meine Augen waren feucht. Ich sang ihn durch bis zum Schluß, trocknete mir die Tränen und begann von vorn, nun in halber Lautstärke, einfach, weil es mir Freude machte - ich 245
sang von der allerersten Zeile an, die mir immer so aufs Gemüt schlägt: »Purpurne Feuer verhülln den Horizont«, bis zur letzten, sehr optimistischen: »Stürmende Kater niemals untergehn«. Wir hatten noch eine Strophe hinzugedichtet, aber die kann man im nüchternen Zustand, zumal vor den Augen der Jungfrau, keinesfalls singen. Wegen dieser Strophe hat Gepard, wie ich mich entsinne, Krokodil vor versammelter Mannschaft an den Ohren gezogen... Natternmilch! Schon wieder! Schon wieder ist aus der Lampe ein idiotischer Beleuchtungskörper geworden. Was soll ich bloß mit ihr machen... Ich versuchte, diese Leuchte in meine Lampe zurückzuverwandeln, dann aber pfiff ich drauf und vernichtete sie ganz. Verzweiflung überkam mich. Wie sollte ich mit ihnen nur fertig werden, wenn ich nicht einmal meinem eigenen Zimmer gewachsen war! Und diesem verfluchten Haus! Ich hob meinen Stuhl auf und setzte mich wieder. Von wegen H a u s . . . Sagt, was ihr wollt, Jungs, aber mit dem Haus stimmt was nicht. Scheinbar ist alles ganz einfach: Da steht ein zweistöckiges Gebäude, neben ihm ein Wäldchen, im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern ist nur Steppe, flach, wie eine Tafel, und im Haus leben zwei: Kornej und ich. Das war's. Doch wie sich zeigt, Jungs, war's das noch lange nicht. Denn erstens gibt's die Stimmen. Da spricht jemand, und nicht nur einer - es ist auch kein Radio. Durchs ganze Haus tönen Stimmen. Nicht etwa nachts, sondern am hellichten Tag. Wer da mit wem worüber spricht, weiß der Himmel! Zudem ist Kornej in dieser Zeit gar nicht da. Das ist übrigens auch so eine Frage: Wo steckt er? Obwohl, diese Antwort habe ich anscheinend gefunden. Habe Blut und Wasser geschwitzt, aber ich hab sie gefunden. Und das war folgendermaßen: Vorgestern sitze ich am Fenster und beobachte die Null-Kabine. Sie steht schräg gegenüber, am Ende des Sandwegs, etwa fünfzig Schritte entfernt. Auf einmal hört sich's an, als ob im Innern des Hauses eine Tür klappt - aber gleich darauf ist Stille, und ich fühle, daß ich wieder allein bin. Aha, denke ich, er benutzt also beim Weggehen nicht die Null-Kabine. Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: eine Tür! Wo in unserem Haus 246
sind denn, abgesehen von der zu meinem Zimmer, Türen, die sich zuschlagen lassen? Ich renne aus dem Zimmer, hinunter ins Erdgeschoß. Gucke hierhin, gucke dahin, da ist ein Flur, hell, mit einem Fenster über die ganze Wand... na, das kennt man ja von ihnen. Und plötzlich höre ich Schritte. Ich weiß nicht, was mich zum Stehen brachte! Ich verstecke mich und halte den Atem an. Der Flur ist leer, am entlegenen Ende eine Tür, ganz normal, gestrichen... Warum sie mir früher nicht aufgefallen ist, weiß ich nicht. Warum ich diesen Flur vorher nie bemerkt habe, weiß ich auch nicht. Aber gut. Das Wichtigste sind die Schritte. Von mehreren Menschen. Sie kommen näher und näher, und dann -mir krampfte sich sogar das Herz zusammen - treten mitten im Flur drei Männer direkt aus der Wand. Natternmilch! Fallschirmjäger des Reichs, in voller Kampfausrüstung: diese malerischen Overalls, die MPi unterm Arm, das Beilchen am Hintern ... Ich legte mich sofort flach. War schließlich allein, mit bloßen Händen. Hätten sie sich umgesehen, wäre es aus gewesen mit mir. Aber sie sahen sich nicht um. Stapften bis zum anderen Ende des Ganges, bis zu jener Tür, und verschwanden. Die Tür schlug zu wie bei Durchzug - und mehr passierte nicht. Na, Jungs, ich bin vielleicht zurück in mein Zimmer gewetzt - erst dort kam ich wieder zu mir... Ich begreife immer noch nicht, was das bedeuten mochte. Das heißt, klar ist jetzt, wie Kornej aus dem Haus verschwindet. Durch ebendiese Tür. Aber woher kamen die Rattenfresser, noch dazu in voller Ausrüstung? Und was ist das für eine Tür? Ich warf die Kippe weg, sah zu, wie der Fußboden sie einsog, und stand auf. Natürlich war mir mulmig, doch irgendwann mußte ich schließlich anfangen. Und wenn, dann mit dieser Tür. Klar, angenehmer war's, im Garten auf der Wiese zu liegen und eine Birne zu mampfen oder, sagen wir, sich im Zimmer einzuschließen und den Marsch zu schmettern. Ich steckte den Kopf aus der Tür und lauschte. Alles ruhig. Aber Kornej ist in seinem Zimmer. Ist wahrscheinlich sogar besser-wenn was passiert, schreie ich laut, 247
er wird mich schon raushauen... Ich schlich zu diesem Flur hinab, auf Zehenspitzen, mit ausgebreiteten Armen. Eine Ewigkeit brauchte ich bis zu der Tür. Immer nach zehn Schritten blieb ich stehen, lauschte und wagte mich danach erst weiter. Endlich war ich angelangt. Eine normale Tür. Der Knauf vernickelt. Ich hielt das Ohr ran - nichts zu hören. Ich drückte mit der Schulter dagegen. Die Tür blieb zu. Ich griff nach dem Knauf, zog. Wieder nichts. Interessant. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, blickte mich um. Keiner da. Noch einmal langte ich nach dem Knauf, zog wieder - und da sprang die Tür auf. Vor Schreck oder Überraschung schlug ich das verdammte Ding gleich wieder zu. Mein Schädel war leer, nur ein Gedanke hüpfte darin umher wie die Erbse im Benzintank: Steck deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten, du Idiot, misch dich nicht ein, tut man dir nichts, laß auch sie in R u h e . . . Und da verging mir auch dieser letzte Gedanke. Denn ich sehe: Direkt an der Wand neben der Tür steht in kleinen akkuraten Buchstaben auf alayisch: »folglich«! Überhaupt stand dort ziemlich viel, sechs Zeilen, doch alles übrige war Mathematik - solche Mathematik, daß ich nur die Plus und Minus erkannte. Und zwar war das so: vier Zeilen dieser Mathematik, dann »folglich«, doppelt unterstrichen, und danach noch zwei Zeilen Formeln, in einem dicken Rahmen, bei dem demjenigen, der das geschrieben hatte, der Griffel zerbröckelt war. A h a . . . In meinem armen Kopf, diesem leeren Benzintank, drängte sich jetzt dermaßen viel durcheinander, daß ich die Tür vergaß. Also war ich hier nicht allein, sondern es gab noch mehr Alayer? Aber wen? Und wo? Warum habe ich euch bisher nicht bemerkt? Weshalb habt ihr das geschrieben? Wolltet ihr ein Zeichen geben? Wem? Mir? Aber ich kenne mich in Mathematik nicht a u s . . . Oder sind die Gleichungen nur Tarnung? Ich konnte nicht zu Ende denken, weil ich hörte, daß Kornej mich rief. Wie ein Schwachsinniger stürzte ich davon und schlüpfte auf Zehenspitzen in mein Zimmer. Ich sank auf meinen Stuhl, steckte mir eine Zigarette an und schnappte irgendein Buch. Kornej rief unten noch einige Male, und dann hörte ich ihn an die Tür pochen. 248
Das ist bei ihm übrigens die Regel: Obwohl es sein eigenes Haus ist, klopft er jedesmal an, bevor er hereinkommt. Das gefällt mir. Wenn wir zu Gepard wollten, klopften wir auch immer a n . . . Im Moment allerdings war mir das egal. »Herein«, sage ich und gucke geistesabwesend, wie einer, der so in seine Lektüre vertieft ist, daß er weder sieht noch hört. Er kam herein, blieb auf der Schwelle stehen, lehnte sich an den Türpfosten und blickte mich an. Seinem Gesicht war nichts abzulesen. Da tat ich, als käme ich plötzlich zu mir, und drückte die Zigarette aus. Und er begann zu reden. »Na, wie ist der Mond?« fragt er. Ich schweige. Habe nichts zu sagen. In solchen Situationen fürchte ich immer, er würde gleich loswettern, aber das macht er nie. Auch jetzt nicht. »Gehen wir«, sagt er. »Ich zeige dir was.« »Zu Befehl!« erwidere ich. Und erkundige mich für alle Fälle: »Soll ich mich umziehen?« »Schwitzt du denn nicht in diesen Sachen?« fragt er zurück. Ich griene nur. Kann mich nicht beherrschen. Das ist vielleicht'ne Frage! »Entschuldige«, sagt er, als hätte er meine Gedanken erraten. »Komm.« Wo er mich nun hinbrachte, war ich nie gewesen. Nein, Jungs, in diesem Haus finde ich mich nicht zurecht! Ich hatte nicht mal geahnt, daß es hier so was gibt. Im Wohnzimmer drückte er gegen die Wand neben der Büchernische - und eine Tür erschien, und hinter dieser Tür eine Treppe, abwärts, in den Keller. Wie sich herausstellte, hat dieses Gebäude noch eine ganze Etage unterirdisch, ebenfalls luxuriös und taghell erleuchtet, doch dient sie nicht zum Wohnen. Er hat dort eine Art Museum. Einen riesengroßen Raum. Und was dort alles ist! »Weißt du, Gagh«, begann er in merkwürdigem, wehmütigem Ton, »früher bin ich doch Kosmozoologe gewesen, habe das Leben auf anderen Planeten untersucht. Ach, war das eine herrliche Zeit! Hier, schau dir das an!« Er zog mich am Ärmel in eine Ecke, wo auf einen schwarz 249
lackierten Ständer ein merkwürdiges Skelett von der Größe eines Hundes gespannt war. »Siehst du, es hat zwei Wirbelsäulen. Ein Tier von der Nistagma. Beim ersten Exemplar dachten wir noch, es wäre eine Mißbildung. Aber dann fingen wir ein zweites, das genauso war, und ein drittes... Auf der Nistagma lebt eine ganze neue Gattung der Tierwelt - die Bichordata. Die gibt es nirgends sonst... und auf der Nistagma auch nur diese eine Art. Wie mag sie entstanden sein? Und warum?« Und so weiter und so fort. Er schleppte mich von Skelett zu Skelett, gestikulierte, hob seine Stimme - so hatte ich ihn noch nicht erlebt. Er muß mächtig an dieser Kosmozoologie hängen! Oder mit ihr besondere Erinnerungen verknüpfen. Ich weiß nicht. Von dem, was er erzählt hat, habe ich natürlich wenig kapiert und behalten, mir auch nicht sonderlich viel Mühe gegeben. Was geht mich das alles an? Spaß hat es nur gemacht, ihn zu beobachten, diese Viecher dagegen. .. Hundert Stück hat er bestimmt. Teils sind es Skelette, zum anderen Teil vollständige Tiere, in große, durchsichtige Blöcke eingeschmolzen (wahrscheinlich, damit sie sich besonders gut halten), wieder andere sind bloß ausgestopft, wie im Jagdhaus Seiner Hoheit, und auch einzelne Köpfe oder Bälge hab ich gesehen. B eispielsweise verhüllt in seinem zweiten Saal eine einzige Haut die ganze rechte Wand. Ich wich zurück vor Schreck! Natternmilch! Zwanzig Meter lang und drei Meter hoch oder sogar vier, denn ein Zipfel zieht sich bis auf die Decke hinauf. Und diese Haut ist voller Platten oder Schuppen, und jede Schuppe ist schüsselgroß und strahlt wie reiner Smaragd, auf dem aber auch noch rote Fünkchen glitzern der Raum wirkt davon wie in grünes Licht getaucht. Ich war begeistert, konnte mich nicht losreißen von diesem Glanz. Was es nicht alles gibt auf der Welt! Der Kopf an dieser Haut war übrigens kein, wie eine Faust, Augen konnte ich gar nicht erkennen, und in den Mund hätte nicht mal mein Finger gepaßt - wie dieses Tier seinen Riesenkörper ernährte, ist mir unbegreiflich... Dann fällt mir auf- am Ende des Saales scheint noch eine 250
Tür zu sein, die in einen dunklen Raum führt. Wir traten näher - ja, Jungs, das war keine Tür. Das war ein aufgerissener Rachen. Aber wirklich: türgroß. Und zwar nicht wie eine Zimmertür, sondern, sagen wir, wie das Tor einer Garage. Oder eines Hangars. Tachorg heißt dieses riesige Tier, und man fängt es auf dem Planeten Pandora... Kornej lief an dem Rachen so gleichgültig vorbei, als handle es sich um eine Schildkröte oder einen Frosch. Dabei war der Kopf so groß wie zwei Waggons, und in dem Maul ließe sich unsere ganze Schule unterbringen. Was mag da erst für ein Körper dran gewesen sein. Und wie mögen sie es erlegt haben! Bestimmt mit dem Raketenwerfer... Was noch dort war? Allerlei Vögel, ungeheure Insekten . . . Ein Fuß hat sich mir eingeprägt. Da steht mitten im Saal ein Fuß. Auch in diesem durchsichtigen Material konserviert. Und selbstverständlich zum Fürchten! Länger als ich, dürr wie ein alter Baum und mit acht Krallen, jede säbelscharf. Wie man sie bei uns dem Drachen Gugu andichtet. Na ja. Bemerkenswert ist folgendes: Außer so einem Fuß oder, sagen wir, dem Schwanz besitzt kein Museum etwas von diesem Tier. Es lebt auf dem Planeten Jaila, und obwohl man schon seit vielen Jahren nach ihm jagt, konnte man es bislang nicht vollständig erbeuten. Es ist kugelfest, unempfindlich gegen Gas, bricht aus jeder Falle aus, und Kadaver wurden überhaupt noch nie gesichtet. Man bekommt immer nur einzelne Körperteile. Denn verletzte Körperteile stößt es einfach ab, sie leben dann wohl noch einige Zeit - scharren oder zucken irgendwie herum -, na, und dann sterben sie natürlich a b . . . Ja, dieser Fuß! Mit aufgesperrtem Maul hab ich davorgestanden, sah aus wie dieser Tachorg. Der Schöpfer ist halt groß... Wir schlendern also umher, Kornej erzählt und ereifert sich, ich aber habe von diesen Dingen langsam die Nase voll und denke wieder an meine Angelegenheiten. Zuerst an die Notiz im Flur - wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll und was daraus zu schlußfolgern ist; dann freilich wandern meine Gedanken doch zurück zu Kornej. Warum lebt er allein, frage ich mich. Er ist wohlhabend und unabhängig. Wo sind seine Frau, die Kinder? Eine Frau gibt's da aller251
dings. Das erste Mal habe ich sie im Lazarett gesehen, quer durch den ganzen Raum haben sie sich zugeblinzelt. Und dann hat sie ihn hier besucht. Das heißt, ich habe nicht bemerkt, wie sie hergekommen ist, aber daß er sie danach zur Null-Kabine begleitet hat, habe ich mit eigenen Augen beobachtet. Nur, das richtige Glück ist es bei ihnen auch nicht. Er sagt zu ihr: »Ich warte auf dich, jeden Tag, jede Stunde, immer.« Sie aber erwidert: »Ich hasse das, von wegen >jeden Tag, jede Stunde.. .<« oder so ähnlich. Hat man so was schon gehört? Weshalb ist sie dann gekommen, fragt man sich. Hat den Mann nur in tiefste Verwirrung gestürzt. Sie steigt in diese Kabine - frrr! - und weg ist sie, er jedoch steht da, der Ärmste, und sein Gesicht spiegelt wieder teils Wehmut, teils Schmerz, wie schon damals im Lazarett, und jetzt weiß ich endlich, wo ich solche Gesichter gesehen habe: bei den tödlich Verwundeten, wenn sie verbluten... Nein, im Privatleben hat er kein Glück, das sehe sogar ich als Außenstehender, mit bloßem A u g e . . . Vielleicht arbeitet er deswegen Tag und Nacht, um sich abzulenken. Auch seinen zoologischen Tick hat er sicher deshalb . . . Ob er mich irgendwann aus diesem Keller rausläßt, oder sollen wir das ganze Leben hier zubringen? Nein, er läßt mich nicht raus. Wieder fängt er an, irgendwas zu erläutern. Haben wir denn wenigstens die Hälfte hinter uns? Scheint s o . . . Jaaa, da hat also all dieses Getier gelebt, Tausende von Lichtjahren entfernt. Ahnte nichts Böses, obwohl es natürlich seine Sorgen und Nöte hatte. Und dann kamen sie, steckten es in den Sack, und ab ins Museum! Zu wissenschaftlichen Zwecken! Mit uns ist's genauso: Wir leben, kämpfen, machen Geschichte, hassen unsere Feinde, schonen uns nicht - sie aber schauen zu und halten schon den Sack auf. Zu wissenschaftlichen Zwecken. Oder irgendwelchen anderen. Was bringt das für einen Unterschied? Und womöglich werden wir alle in solchen Kellern enden, und sie werden um uns herumstehen, gestikulieren und streiten: warum wir so sind, und woher wir kamen und weshalb... Richtig nahe waren mir plötzlich diese Tiere. Nicht direkt nahe, aber wie soll ich's ausdrücken... Man 252
sagt doch, bei Hochwasser, oder beispielsweise einem Buschbrand, flüchten Raubtiere und Pflanzenfresser Seite an Seite, werden fast Freunde und helfen einander. Hab ich gehört. Und solch ein Gefühl stieg in mir auf. Doch ausgerechnet in diesem Moment erblickte ich das Skelett. Es steht in der Ecke, ganz bescheiden, nicht besonders beleuchtet und klein, kleiner als ich. Das eines Menschen! Schädel, Arme, Beine... Ich kenne ja wohl menschliche Skelette! Schön, der Brustkorb war etwas breit, die Hände hatten eine Art Haut zwischen den Fingern, und die Beine erschienen mir leicht gekrümmt. Aber trotzdem war das ein Mensch. Sicher war meinem Gesicht etwas anzumerken, denn Kornej blieb plötzlich stehen, musterte mich, dann den Knochenmann und dann wieder mich. »Was ist?« fragte er. »Verstehst du etwas nicht?« Ich schweige, starre dieses Gerippe an und bemühe mich, Kornej nicht anzusehen. Ich hatte doch so was Ähnliches erwartet! Kornej aber sagt ruhig: »Jaaa, das ist dieser berühmte Pseudohomo, auch ein bedeutendes Naturrätsel. Hast du schon was über ihn gelesen?« »Nein«, erwidere ich und denke dabei: Jetzt wird er mir alles erklären. Sehr gut wird er's mir erklären. Aber soll ich ihm glauben? »Eine erstaunliche Geschichte«, fuhr Kornej fort, »und in gewisser Hinsicht eine tragische. Weißt du, eigentlich hätten diese Wesen vernunftbegabt sein müssen. Nach allen uns bekannten Gesetzmäßigkeiten hätten sie es sein müssen.« Er breitete die Arme aus. »Aber sie waren es nicht. Das Skelett ist Kokolores, ich zeige dir nachher Fotos. Zum Fürchten! Im vorigen Jahrhundert hat eine Gruppe von Wissenschaftlern diese Pseudohominiden entdeckt, auf Morohashis Planeten. Lange versuchten sie, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, sie beobachteten sie in ihrer natürlichen Umwelt, stellten Untersuchungen an und kamen zu dem Schluß, daß es Tiere waren. Das klang paradox, doch Fakt ist Fakt: Es mußten Tiere sein. Dementsprechend wurden sie nun auch behandelt: man hielt sie in 253
Menagerien, tötete sie, wenn notwendig, sezierte und präparierte sie, übernahm Skelette und Schädel in Sammlungen. Die Sachlage war ja in wissenschaftlicher Hinsicht einmalig: Das Tier hätte ein Mensch sein müssen, war es aber nicht... Dann jedoch, wieder einige Jahre später, fanden sich Anzeichen für eine überaus mächtige Zivilisation auf der Morohashia. Eine, die weder der irdischen noch der euren irgendwie ähnelt - etwas nie Dagewesenes, völlig phantastisch Angelegtes, aber zweifelsohne eine Zivilisation. Kannst du dir vorstellen, wie furchtbar das war? Einer der Entdecker verlor den Verstand, ein anderer erschoß sich... Und erst nach weiteren zwanzig Jahren gewann man Klarheit. Tatsächlich, auf dem Planeten gibt es Vernunft. Aber eine absolut nichtmenschliche. Sie ist sowohl uns als auch euch oder, sagen wir, den Leonidanern in einem solchen Maße unähnlich, daß die Wissenschaft die Möglichkeit dieses Phänomens einfach nicht voraussetzen konnte... J a . . . Das war eine Tragödie...« Unvermittelt schien er das Interesse an der Sache zu verlieren, er ging aus dem Saal, als hätte er mich vergessen, auf der Schwelle aber blieb er stehen und sagte mit einem. Blick auf das Skelett in der Ecke: »Inzwischen vertritt man die Hypothese, das hier seien künstliche Wesen. Verstehst du, die Morohashier selbst hätten sie geschaffen, modelliert oder so. Aber wozu? Bis jetzt haben wir keine gemeinsame Sprache mit ihnen finden können...« Hier blickte er mich an, schlug mir auf die Schulter und murmelte: »So sieht's aus, Heldenkamerad. Ja, diese Kosmozoologie...« Ich weiß nicht, ob er mir die Wahrheit gesagt oder alles nur erfunden hatte, um mein Gehirn endgültig zu vernebeln, doch die Lust, herumzufuchteln und diverse Naturrätsel zu schildern, war ihm nun vergangen. Wir verließen das Museum. Er schwieg, ich auch, und in meinem Inneren herrschte ein Durcheinander wie im Hühnerstall. So erreichten wir sein Arbeitszimmer. Er setzte sich in den Sessel vor die Bildschirme, griff sich ein Glas mit seiner Lieblingslimonade aus der Luft, nuckelte am Strohhalm und schien durch mich hindurchzuschauen. Abgesehen von diesen Bildschirmen und unnormal vielen Büchern ist sein 254
Arbeitszimmern und für sich leer. Nicht mal einen Tisch hat er; ich kann bis heute nicht begreifen, wie er es anstellt, wenn er, sagen wir, ein Papier unterschreiben muß. Ebensowenig enthält sein Zimmer Bilder, Fotos oder Nippes. Dabei ist er reich und könnte sich das leisten. Ich an seiner Stelle würde, wenn ich, sagen wir, kein Geld mehr flüssig hätte, diese Smaragdhaut verscheuern, würde mir Dienstboten anschaffen, überall Plastiken aufstellen und Teppiche hinhängen - wer hat, der hat. Freilich, was will man von ihm erwarten, er ist halt ein Junggeselle. Vielleicht kommt es ihm dienstrangmäßig auch nicht zu, großen Aufwand zu treiben. Was weiß ich denn über seine Funktion? Nichts. Gerade, daß er ein Museum im Keller hat... »Hör mal, Gagh«, sagt er«unvermittelt, »du bist doch bestimmt ein bißchen traurig, oder?« Diese Frage überraschte mich. Weiß der Teufel, wie ich zu antworten hatte. Und überhaupt - was weiß ich denn, ob ich traurig bin! Beklommen ist mir schon. Auch unbehaglich. Ich finde keine Ruhe. Aber traurig...? Ist einer traurig, der im Schützengraben unter Beschuß liegt? Ihm bleibt doch gar keine Zeit, traurig zu sein. Und ebenso habe ich vorerst keine Zeit dazu. »Bestimmt nicht«, sage ich. »Ich begreife meine Situation.« »Und wie begreifst du sie?« »Sie können ganz und gar über mich verfügen.« Er schmunzelte. »Über dich verfügen... Na, lassen wir das. Wie du merksfr, kann ich mich dir nicht immer widmen. Du bist wohl auch nicht sonderlich daran interessiert. Hältst so viel Distanz wie möglich...« »Aber nein«, widerspreche ich höflich. »Ich werde nie vergessen, daß Sie mir das Leben gerettet haben.« »Das Leben gerettet? H m . . . Bis zur Rettung ist es noch weit... Möchtest du mal ein ungewöhnliches Subjekt kennenlernen?« Mein Herzschlag stockte. »Wie Sie befehlen«, sagte ich. Er überlegte kurz. »Ja, ich werde es dir wohl zeigen.« Er stand auf. »Wahrscheinlich wird das nützlich sein.« 255
Bei dieser mir unverständlichen Bemerkung ging er zur Wand gegenüber, hantierte an ihr herum, und die Wand tat sich auf. Ich blickte hin und fuhr zurück. Daß ihre Wände sich augenblicklich öffnen oder schließen, war mir nicht neu, es langweilte mich fast schon. Aber ich hatte doch gedacht, er würde mich mit diesem Mathematiker bekannt machen. Statt dessen aber steht dort - Natternmilch! - so ein Typ, zweieinhalb Meter groß, breite Schultern, lange Arme, überhaupt kein Hals, die Visage von einer Art Visier verdeckt, von einem engmaschigen glanzlosen Gitter, und zu beiden Seiten des gewaltigen Nischels ragen Ohren oder Scheinwerfer hervor. Ehrlich: Hätte ich nicht in der Uniform gesteckt, ich wäre Hals über Kopf davongerannt. Ohne Quatsch! Sogar in Uniform wäre ich abgezischt, aber meine Beine versagten mir den Dienst. Und da tönte dieser Blödmann auch noch in vollem Baß: »Sei gegrüßt, Korne j.« »Grüß dich, Dramba«, sagt Kornej zu ihm. »Komm raus.« Er kommt heraus. Und wieder hatte ich was Falsches erwartet. Nämlich, daß von seinen Schritten das Haus erzittert. Er war schließlich ein Monstrum, eine Statue. Dieser Riese aber ging, als schwebte er durch die Luft. Kein Ton war zu hören, kein Geräusch - soeben hatte er in der Nische gestanden, und nun war er schon mitten im Zimmer und richtete seine Scheinwerferohren auf mich. Ich spüre: Hinter meinem Rücken ist die Wand, weiter zurückweichen kann ich nicht. Kornej aber lacht, dieser Penner, und sagt: »Sei kein Feigling, Sturmkater! Das ist doch ein Roboter. Eine Maschine!« Besten Dank auch, denke ich. Mächtig beruhigend, daß es eine Maschine ist. »Solche stellen wir jetzt nicht mehr her«, fährt Kornej fort, wobei er dem Hirnlosen über den Ellenbogen streicht und irgendwelche Stäubchen abpustet. »Aber mein Vater ist noch mit ihnen auf der Jaila und der Pandora gewesen. Erinnerst du dich an die Pandora, Dramba?« »Ich erinnere mich an alles, Kornej«, dröhnt der Hirnlose. 256
»Na, macht euch bekannt«, sagt Kornej. »Das ist Gagh, ein Junge aus der Hölle. Er ist neu auf der Erde, kennt hier nichts. Du unterstehst ab sofort seinem Befehl.« »Ich erwarte Ihre Anordnungen, Gagh«, brummt der Roboter, und wie zur Begrüßung hebt er seine riesige Pranke hoch an die Decke. Jedenfalls endete alles glücklich. Und tief in der Nacht, als das Haus schlief, schlich ich zu jenem Flur und kritzelte unter die mathematischen Formeln: »Wer bist du, Freund?«
Kapitel 4 Als sie die verwahrloste Straße erreichten, stand die Sonne schon hoch über der Steppe. Der Tau war getrocknet, das kurze harte Gras raschelte und knisterte unter ihren Füßen. Myriaden von Heuschrecken zirpten ringsum, die erhitzte Erde roch scharf und bitter. Es war eine merkwürdige Straße. Schnurgerade entsprang sie dem blau verschleierten Horizont, zerschnitt die Erdkugel in zwei Hälften und verlor sich wieder im blau verschleierten Horizont, dort, wo tagelang, auch nachts, etwas sehr Fernes und Großes undeutlich aufflammte, flimmerte, sich regte, blähte und verging. Die Straße war breit, sie schimmerte matt, und ihr Band schien als massiver Streifen eines festen, aber flexiblen Materials, mehrere Zentimeter stark und an den Rändern abgerundet, auf der Steppe zu liegen. Gagh trat darauf und hüpfte einige Male leicht, beeindruckt von der überraschenden Elastizität. Das war mit Sicherheit kein Beton, aber auch kein sonnenwarmer Asphalt. Eher eine Art sehr fester Gummi. Dieser Gummi verbreitete Kühle, nicht die stickige Schwüle erhitzten Straßenbelags. Auf seiner Oberfläche waren keinerlei Spuren zu sehen, nicht einmal Staub lag darauf. Gagh bückte sich und strich mit der Hand über die ebene, fast rutschige Oberfläche. Seine Finger blieben sauber. »Sie ist stark eingetrocknet in den letzten achtzig Jah257
ren«, tönte Dramba. »Als ich sie das letzte Mal sah, war sie mehr als zwanzig Meter breit. Damals bewegte sie sich noch.« Gagh sprang auf die Erde. »Sie hat sich bewegt? Wie denn?« »Das war eine Gleitstraße. Damals gab es viele solcher Straßen, rund um den Erdball, und sie glitten dahin - an den Rändern langsamer, in der Mitte sehr schnell.« »Hattet ihr denn keine Autos?« fragte Gagh. »Doch. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum die Menschen sich für solche Straßen begeisterten. Ich habe nur die indirekte Information. Es hing mit der Reinigung der Umwelt zusammen. Die Gleitstraßen reinigten sie. Sie entzogen der Atmosphäre, dem Wasser und der Erde alles Überflüssige und Schädliche.« »Und warum bewegt sie sich jetzt nicht?« »Ich weiß nicht. Alles hat sich sehr verändert. Früher drängten sich auf dieser Straße die Menschen. Jetzt ist keiner mehr da. Früher nutzte man diesen Himmel in mehreren Ebenen, Schwärme von Flugapparaten waren unterwegs. Jetzt ist der Himmel leer. Früher stand Weizen zu beiden Seiten der Straße, so hoch wie ich. Jetzt ist hier Steppe.« Gagh lauschte mit halboffenem Mund. »Früher trafen in jeder Sekunde Hunderte von Radioimpulsen meine Rezeptoren«, fuhr Dramba mit monotoner Stimme fort. »Jetzt spüre ich nichts außer atmosphärischen Entladungen. Anfangs vermutete ich sogar, ich wäre nicht in Ordnung. Aber nun weiß ich: Ich bin unverändert. Die Welt ist anders.« »Vielleicht ist sie krank?« fragte Gagh lebhaft. »Ich verstehe nicht«, sagte Dramba. Gagh wandte sich ab und blickte dorthin, wo der Horizont waberte und aufloderte. Von wegen! dachte er finster. Schön wär's! Aber die werden nicht krank! »Und was ist das da?« fragte er. »Dort liegt Antonow«, antwortete Dramba. »Eine Stadt. Vor achtzig Jahren konnte man sie von hier aus nicht sehen, sie war ein Landwirtschaftszentrum.« 258
»Und heute?« »Ich weiß nicht. Ich rufe schon fortwährend das Informatorium, doch mir antwortet keiner.« Gagh blickte zu dem rätselhaften Flimmern hinüber, und plötzlich stieg am Horizont etwas unglaublich Großes auf, ähnlich einem gigantischen dreieckigen Segel, fast genauso graublau wie der Himmel oder eine Winzigkeit dunkler; langsam und majestätisch beschrieb es einen Kreis, als wandere ein Uhrzeiger über das Zifferblatt, und verschwand wieder, löste sich auf in einer Nebelwolke. Gagh hielt den Atem an. »Hast du das gesehen?« fragte er flüsternd. »Ja«, sagte Dramba bedrückt. »Ich weiß nicht, was das ist. Früher gab es so etwas nicht.« Gagh zog fröstelnd die Schultern hoch. »Du nützt einem aber auch... Na, gehen wir nach Hause.« »Sie wollten das Raketodrom besuchen«, erinnerte Dramba. »Herr!« sagte Gagh scharf. »Ich verstehe nicht...« »Füge gefälligst das Wort >Herr< hinzu, wenn du mit mir sprichst.« »Verstanden, Herr.« Einige Zeit gingen sie schweigend. Wie trockene Spritzer sprangen Grashüpfer vor ihren Füßen auf. Ab und an sah Gagh zu dem lautlosen Koloß hinüber, der gleichmäßig neben ihm her schaukelte. Er merkte auf einmal, daß den Roboter, wie vorhin die Straße, eine eigene Atmosphäre umgab, die frisch und kühl war. Dramba bestand auch aus ähnlichem Material: Er war ebenfalls fest und elastisch, und gleich matt schimmerten seine Hände, die aus den Ärmeln des blauen Overalls herausragten. Und noch etwas wurde Gagh nun bewußt: Dramba hielt sich stets zwischen ihm und der Sonne. »Erzähl noch mal von dir!« befahl er. Dramba wiederholte, er sei der Androidenroboter Nummer Sowieso aus der Experimentalserie der Expeditionsroboter, entwickelt dann und dann (etwa vor hundert Jahren - ein ganz schönes Alterchen!), hergestellt dann 259
und dann. Eingesetzt gewesen sei er bei den und den Expeditionen, er habe auf der Jaila eine ernste Havarie erlitten und sei teilweise zerstört worden, dann und dann habe man ihn zwar rekonstruiert und modernisiert, doch an Expeditionen habe er nicht mehr teilgenommen... »Beim vorigen Mal hast du gesagt, du hättest fünf Jahre in einem Museum gestanden«, unterbrach ihn Gagh. »Sechs Jahre, Herr. Im Museum für Entdeckungsgeschichte in Lübeck.« »Meinetwegen«, nuschelte Gagh. »Und danach hast du achtzig Jahre in Kornejs Nische gesteckt...« »Neunundsiebzig Jahre, Herr.« »Gut, gut, du brauchst mich nicht zu berichtigen...« Gagh schwieg einen Moment. »Dort war es doch sicher langweilig?« »Ich verstehe die Frage nicht, Herr.« »Hohlkopf... Übrigens interessiert das keinen. Sag mir lieber folgendes: Worin unterscheidest du dich von den Menschen?« »In allem, Herr. In der chemischen Zusammensetzung, im Steuerungs- und Kontrollsystem, in meiner Bestimmung. ..« »Und was ist deine Bestimmung, du Hohlkopf?« »Alle Befehle auszuführen, die ich ausführen kann.« »Oho... Und wozu sind die Menschen bestimmt?« »Sie haben keine Bestimmung, Herr.« »Bist ein Hohlkopf, Junge. Ein Hinterwäldler. Was würdest du erst von wahren Menschen begreifen...« »Ich verstehe die Frage nicht, Herr.« »Ich frage doch noch gar nichts.« Dramba schwieg. Sie wanderten durch die Steppe, kamen immer weiter vom direkten Weg nach Hause ab, weil Gagh auf einmal sehen wollte, was auf dem kleinen Hügel rechts von ihnen aufragte. Die Sonne stand schon hoch, über der Steppe flimmerte glühend heiße Luft, und der beißende, stickige Geruch nach Gras und Erde wurde immer stärker. »Du bist also bereit, jede meiner Anordnungen zu befolgen?« fragte Gagh. 260
»Ja, Herr. Soweit es in meinen Kräften liegt,« »Na gut... Und wenn ich dir das eine befehle u n d . . . h m . . . ein anderer etwas Gegensätzliches, was dann?« »Ich verstehe nicht, wer das zweite Kommando erteilt.« »Hm... Ist doch egal, wer.« »Das ist nicht egal, Herr.« »Na, zum Beispiel Kornej...« »Dann führe ich Kornejs Befehl aus, Herr.« Gagh schwieg einige Zeit. Ach du Vieh, dachte er. So ein Lump! »Und warum?« fragte er schließlich. »Kornej ist älter, Herr. Sein Index der sozialen Relevanz ist wesentlich höher.« »Was für ein Index?« »Er trägt mehr Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.« »Woher weißt denn du das?« »Er hat ein sehr viel höheres Informationsniveau.« »Na und?« »Je höher das Informationsniveau ist, desto mehr Verantwortung trägt man.« Gerieben sind sie, dachte Gagh. Du kannst ihnen nichts am Zeuge flicken. Alles logisch. Ich bin hier wie ein kleines Kind. Na, wir werden noch sehen... »Ja, Kornej ist ein großer Mann«, sagte er. »Ich kann ihm natürlich nicht das Wasser reichen. Er sieht und weiß alles. Da schlendern wir beide und schwatzen, und er hört wahrscheinlich jedes Wort. Und wenn mal ein falsches fällt, können wir was erleben...« Dramba reagierte nicht. Weiß der Kuckuck, was in seinem Ohrenschädel vorging. Hat sozusagen weder Maul noch Augen - das begreife einer. Und die Stimme klingt immer gleich... »Habe ich recht?« »Nein, Herr.« , »Wieso nicht? Du meinst, Kornej kann irgend etwas nicht wissen?« »Ja, Herr. Er stellt mir Fragen.« 261
»Jetzt auch?« »Nein, Herr. Jetzt habe ich keine Verbindung zu ihm.« »Dann hört er also nicht, was du von dir gibst? Oder was ich zu dir sage? Er kennt sogar unsere Gedanken, falls du's wissen willst! Und nicht nur die Gespräche...« »Ich verstehe Sie, Herr.« Gagh blickte Dramba haßerfüllt an. »Was verstehst du, Blödmann?« »Ich verstehe, daß Kornej über eine Apparatur zum Lesen von Gedanken verfügt.« »Wer hat dir das gesagt?« »Sie, Herr.« , Gagh blieb stehen und spie kräftig aus. Auch Dramba hielt sofort an. Ach, kräftig eins zwischen die Ohren müßte man ihm geben, doch da reichte man ja nicnt hin. So ein Trottel aber auch! Oder tut er nur so? Ruhig, Kater, ruhig. Bleib kaltblütig und beherrscht. »Und bevor ich das gesagt habe, hast du es nicht gewußt?« »Nein, Herr. Ich habe nichts gewußt von der Existenz einer solchen Apparatur.« »Dann willst du Stachelschwein wohl behaupten, daß ein so bedeutender Mann wie Kornej uns jetzt weder sieht noch hört?« »Ich bitte zu präzisieren: Gibt es diese Apparatur zum Gedankenlesen?« »Woher soll ich das wissen? Man braucht sie eigentlich gar nicht. Du kannst doch Bild und Ton übermitteln...« »Ja, Herr.« »Übermittelst du es?« »Nein, Herr.« »Warum nicht?« »Ich habe.keinen Befehl, Herr.« »So, du hast keinen Befehl«, murmelte Gagh. »Na, was bleibst du stehen? Gehen wir!« Einige Zeit gingen sie schweigend. Dann sagte Gagh: »Hör mal, du! Wer ist Kornej?« »Ich verstehe die Frage nicht, Herr«. »Na... was hat er für einen Posten? Was macht er?« »Ich weiß nicht, Herr.« 262
Gagh blieb wieder stehen. »Wieso weißt du es nicht?« »Ich habe keine Information.« »Aber er ist dein Herr! Weißt du nicht, was dein Herr ist?« »Doch.« »Ja, was?!« »Kornej.« Gagh biß die Zähne zusammen. »Irgendwie klingt das merkwürdig, Dramba, mein Freund«, sagte er einschmeichelnd. »Kornej ist dein Herr, du lebst achtzig Jahre in seinem Haus, und du weißt nichts über ihn?« »So ist es nicht. Mein erster Herr war Jan, Kornejs Vater. Jan hat mich an Kornej weitergegeben. Das war vor dreißig Jahren, als Jan fortzog und Kornej dort, wo Jans Lager gestanden hatte, ein Haus baute. Seit dieser Zeit ist Kornej mein Herr, aber ich habe nie mit ihm gearbeitet und weiß deshalb nicht, womit er sich befaßt.« »Aha«, knurrte Gagh und ging weiter. »Das heißt also, du weißt gar nichts über ihn?« »So ist das nicht. Ich weiß sehr viel über ihn.« »Erzähle«, verlangte Gagh. »Kornej Janowitsch. Größe: ein Meter zweiundneunzig, Gewicht nach indirekten Angaben: circa neunzig Kilogramm, Alter nach indirekten Angaben: circa sechzig Jahre, Index der sozialen Relevanz nach indirekten Angaben: circa Null neun...« »Augenblick«, unterbrach ihn Gagh verblüfft, »halte mal die Luft an. Was schwafelst du da? Sag lieber was Wichtiges!« »Ich verstehe den Befehl nicht«, erwiderte Dramba prompt. »Na, zum Beispiel, ob er verheiratet ist, was er für einen Abschluß hat, ob Kinder da sind... Klar?« »Daten über Kornejs Frau besitze ich nicht. Über seine Bildung auch nicht.« Der Roboter machte eine Pause. »Ich habe eine Information über den Sohn: Andrej, circa fünfundzwanzig Jahre alt.« »Über die Frau weißt du nichts, und über den Sohn weißt du etwas?« 263
»Ja, Herr. Vor elf Jahren erhielt ich den Befehl, mich einem Halbwüchsigen zur Verfügung zu stellen, der etwa vierzehn Jahre alt war und den Kornej >Sohn< und >Andrej< nannte. Er verfügte vier Stunden über mich.« »Und danach?« »Ich verstehe die Frage nicht, Herr.« »Hast du ihn irgendwann später gesehen?« »Nein, Herr.« , »Klarer Fall«, murmelte Gagh nachdenklich. »Und was habt ihr in diesen vier Stunden getan?« »Wir haben uns unterhalten. Andrej hat sich nach Kornej erkundigt.« »Und was hast du ihm gesagt?« »Alles, was ich wußte. Größe, Gewicht... Dann hat er mich unterbrochen. Hat verlangt, daß ich ihm von Jans Tätigkeit auf anderen Planeten erzähle.« Jaaa. So also sieht's aus... Na, das betrifft uns nicht. Aber was ist das für ein Hohlkopf! Ihn nach dem Haus zu fragen hätte erst recht keinen Zweck, er weiß mit Sicherheit nichts. Hat alle meine Pläne durchkreuzt, dieser Penner . . . Warum hat Kornej ihn mir untergeschoben? Oder irre ich mich? Dieser Teufel, wie soll ich ihn nur prüfen? Keinen Schritt kann ich machen, wenn ich ihn nicht überprüfe. »Ich erinnere Sie daran«, ließ sich Dramba vernehmen, »daß Sie vorhatten, nach Hause zu gehen.« »Das hatte ich vor. Na und?« »Wir weichen immer mehr vom optimalen Kurs ab, Herr.« »Du bist nicht gefragt«, sagte Gagh. »Ich möchte mir anschauen, was dort auf dem Hügel ist.« »Das ist ein Obelisk, Herr. Ein Denkmal auf einem Massengrab.« »Für wen?« »Für die Helden des letzten Krieges. Vor hundert Jahren haben Archäologen auf diesem Hügel das Massengrab entdeckt.« Das sehen wir uns an, dachte Gagh und beschleunigte seine Schritte. Ein dreister, sogar abstoßender Gedanke 264
war ihm gekommen. Aber riskant, dachte er. Den Kopf werden sie mir abreißen! Doch wofür? Woher soll ich denn wissen, wie und was? Ich bin hier neu, kenne nichts, versteh nichts... Es wird bestimmt sowieso nicht klappen. Aber wenn es klappt... Wenn es klappt, kann ich mir sicher sein. Schön, versuchen wir's. Der Hügel war flach, an die zwanzig, fünfundzwanzig Meter, und noch einmal so hoch ragte über ihm ein Granitstein auf, von einer Seite spiegelglatt poliert, von allen anderen grob behauen. Auf der polierten Fläche war eine Inschrift eingemeißelt, mit altertümlichen Buchstaben, die Gagh nicht gelernt hatte. Er lief um den Obelisken herum und kehrte in dessen Schatten zurück. Setzte sich. »Gemeiner Dramba!« rief er leise. Der Roboter drehte ihm seinen Ohrenkopf zu. »Wenn ich sage: >Gemeiner Dramba<«, belehrte ihn Gagh, immer noch leise, »hast du zu antworten: >Zu Befehl, Herr Korporal.<« »Verstanden, Herr.« »Nicht >Herr<, sondern >Herr Korporal!<« brüllte Gagh und sprang auf die Füße. »Herr Korporal! Ist das klar? Dorftrottel!« »Verstanden, Herr Korporal.« »Nicht >verstanden, sondern >jawohlRühren!< mußt du einen Fuß 265
/ nach vorn stellen und die Hände auf dem Rücken verschränken. So. Deine Ohren gefallen mir nicht. Kannst du sie hängen lassen?« »Ich verstehe nicht, Herr Korporal.« »Kannst du diese Dinger, die dort herausragen, senken, wenn ich >Rühren!< sage?« »Jawohl, Herr Korporal. Aber dann sehe ich schlechter.« »Das macht nichts, wirst es aushalten... Also los, ver-, suchen wir's... Gemeiner Dramba, stillgestanden! Rühren! Stillgestanden! Rühren...« Gagh kehrte in den Schatten des Denkmals zurück und setzte sich wieder. Ja, wenigstens einen Zug solcher Soldaten müßte man haben! Dieser Lümmel packt das auf Anhieb. Gagh stellte sich dreißig Drambas in der Stellung bei jenem Dörfchen vor. Fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Ja, bestimmt kriegst du so einen Teufel selbst mit Raketen nicht klein. Nur eins begreife ich trotz allem nicht: Denkt dieser Blödmann, oder denkt er nicht? »Gemeiner Dramba!« raunzte er. »Zu Befehl, Herr Korporal.« »Woran denkst du, Gemeiner Dramba?« »Ich warte auf Befehle, Herr Korporal.« »Mordskerl! Rühren!« Gagh wischte sich mit dem Finger die Schweißtröpfchen ab, die über seiner Oberlippe hervorgetreten waren, und sagte: »Ab sofort bist du Soldat Seiner Hoheit, des Herzogs von Alay. Ich bin dein Kommandeur. Alle meine Befehle sind für dich Gesetz. Keine Diskussionen, keine Fragen, kein Geschwätz! Du hast die Pflicht, begeistert jenem glücklichen Moment entgegenzufiebern, da du zum Ruhme Seiner Hoheit dein Leben opfern darfst...« Dieser Strohkopf versteht sicher nur die Hälfte, na, meinetwegen. Hauptsache, man trichtert ihm das Grundsätzliche ein. Treibt ihm seine Dummheit aus. Ob er was begreift oder nicht, ist zweitrangig. »Alles, was man dir früher beigebracht hat, vergißt du! Ich bin dein Lehrer! Dein Vater und deine Mutter. Nur 266
meine Befehle zählen, nur meine Worte sind für dich Befehl! Worüber ich mit dir spreche und was ich dir befehle, ist Militärgeheimnis. Was ein Geheimnis ist, weißt du?« »Nein, Herr Korporal.« »Hm... Ein Geheimnis ist das, was nur ich und du wissen dürfen. Und, selbstverständlich, Seine Hoheit.« Nun habe ich wohl überzogen, dachte Gagh. Ist noch zu früh, er hat doch von Tuten und Blasen keine Ahnung. Na schön, warten wir's ab. Zuerst muß er mal ein bißchen getriezt werden. Soll mal anständig schwitzen, dieser Penner. »Still-stann!« kommandierte er. »Gemeiner Dramba, dreißig Runden um den Hügel! Im Laufschritt marsch!« Und der Gemeine Dramba lief los. Leicht, eigenartig, weder vorschriftsmäßig noch überhaupt wie ein Mensch, er lief nicht einmal, sondern flog in gewaltigen Sätzen, wobei er jeweils lange in der Luft blieb und wie zuvor die Hände an die Schenkel preßte. Mit halbgeöffnetem Mund starrte Gagh ihm nach. Donnerwetter! Es war wie ein Traum. Eine absolut geräuschlose Bewegung, halb Lauf, halb Flug, ohne Stampfen oder Keuchen. Er stolpert kein einziges Mal, dabei sind dort Erdhäufchen, Steine, Löcher... Ein Kochgeschirr voll Wasser könnte man ihm auf den Kopf stellen - er würde keinen Tropfen vergießen! Was für ein Soldat! Nein, Jungs, was für ein Soldat! »Schneller!« blaffte Gagh. »Beweg dich, Schabengezücht!« Dramba wechselte die Gangart. Gagh blinzelte: Drambas Beine waren verschwunden. Unter dem kerzengeraden Rumpf war jetzt nur ein unklares Flimmern wahrzunehmen, wie das eines Propellers bei hoher Umdrehungszahl. Die Erde hielt dem nicht stand, sie folgte dem Giganten, wurde sichtlich dunkler; eine Furche grub sich ein, und ein Ton stieg auf: das sirrende Pfeifen durchschnittener Luft, begleitet vom Prasseln der wegrutschenden Erde. Gagh konnte den Kopf kaum so schnell wenden. Und plötzlich war alles vorbei. Dramba stand wieder vor ihm, stramm, reglos, riesig. Kühle ging von ihm aus. Als wäre er nie gelaufen. 267
Jaaa, dachte Gagh, so einen bringst du nicht in Schweiß. Aber habe ich ihn wenigstens zur Vernunft gebracht? Riskieren wir es. Er blickte zu dem Obelisken hinüber. Eine Gemeinheit ist das. Schließlich liegen dort Soldaten... Helden. Wofür und gegen wen sie gekämpft haben, ist mir nicht recht klar, aber wie - das habe ich gesehen. Geb's Gott, daß wir alle so kämpfen, wenn unser letztes Stündlein geschlagen hat. Ach, nicht umsonst hat Kornej mir die Filme gezeigt. Nicht umsonst... Abergläubische Furcht stieg in Gagh auf. Sollte der schlaue Kornej wirklich auch diese Minuten vorhergesehen haben? Doch nein, Unsinn, das ist unmöglich. Gott der Herr ist er nun doch nicht... Er wollte mir einfach sacht andeuten, mit wessen Nachfahren ich es zu tun h a b e . . . Und hier liegen sie. So viele Jahrhunderte schon, und keiner hat ihre Ruhe gestört. Wären sie am Leben, ließen sie das nicht zu, sie würden mich fortscheuchen. .. Gut, aber wenn es Rattenfresser wären? Es wäre wohl trotzdem abscheulich... So ein Quatsch, Rattenfresser sind Feiglinge, Stinktiere. Die hier dagegen waren Soldaten, das hab ich mit eigenen Augen gesehen! Zum Teufel, sogar übel ist mir... Wenn Gepard jetzt neben mir stünde und ich ihm meinen Entschluß mitteilte, was würde er sagen? Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ihm das auch auf den Magen schlagen würde. Jedem würde es zu schaffen machen, der ein Mensch ist. Gagh sah Dramba an. Der Roboter stand noch immer in Hab-Acht-Haltung und bewegte gleichmütig seine Augohren. Was bleibt mir denn anderes übrig? Die Idee ist richtig. Gemein auch, das bestreite ich nicht. Heikel. Einem anderen würde ich zu anderer Zeit dafür ins Maul schlagen. Aber ich muß das tun. So eine Gelegenheit bietet sich vielleicht nie wieder. Auf einen Schlag prüfe ich alles, sowohl diesen Hohlkopf als auch, ob ich beobachtet werde... Es muß ja gerade fies sein! Denn da hielte sich keiner zurück, jeder würde mir sofort in den Arm fallen sofern er es könnte. Na, Schluß mit dem Flennen! Ich tu's doch nicht zum eigenen Vergnügen. Bin kein Parasit. Ich bin Soldat und erfülle meine soldatische Pflicht, so gut es geht. Verzeiht mir, Heldenkameraden. Wenn ihr könnt. 268 •
»Soldat Dramba!« rief er mit klirrender Stimme. »Zu Befehl, Herr Korporal.« »Eine Anordnung. Diesen Stein umstürzen. Los!« Er sprang zur Seite, ohne die eigenen Füße zu spüren. Wäre da ein Schützengraben gewesen, er hätte sich hineingeworfen. »Dalli!« kreischte er. Seine Stimme überschlug sich. Als er die zusammengekniffenen Augen öffnete, stand Dramba bereits gebückt vor dem Obelisken. Seine gewaltigen Pranken glitten über den Granit und gruben sich in die ausgetrocknete Erde. Die mächtigen Schultern gerieten in Bewegung. Es dauerte nur eine Sekunde. Dann erstarrte der Koloß, und Gagh bemerkte entsetzt, daß dessen gigantische Beine anzuschwellen schienen, sie wurden sichtlich kürzer und verwandelten sich in dicke, unten abgeplattete Sockel. Der Hügel bebte. Ein durchdringendes Knirschen, und der Obelisk neigte sich kaum sichtbar zur Seite. Und da hielt Gagh es nicht mehr aus. »Halt!« brüllte er. »Kommando zurück!« Er schrie noch etwas, das er selbst schon nicht mehr hörte, fluchte auf russisch und auf alayisch, es gab gar keinen Grund mehr zu schreien, das begriff er, doch er schrie trotzdem, und Dramba stand vor ihm stramm und wiederholte ständig: »Zu Befehl, Herr Korporal, zu Befehl, Herr Korporal...« Dann kam er zu sich. Seine Kehle brannte, der ganze Körper tat ihm weh. Er stolperte um den Obelisken herum, betastete mit zitternden Fingern den Granit. Alles war wie vorher, nur am Fundament, unter der unverständlichen Inschrift, klafften zwei tiefe Löcher, und Gagh scharrte heftig mit den Absätzen Erde in sie hinein.
Kapitel 5 Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Drehte und wendete mich, rauchte, lehnte aus dem Fenster, um mich abzukühlen... Offenbar spielten nach alledem die Nerven
verrückt. Dramba stand in der Ecke und leuchtete im Dunkeln. Schließlich jagte ich ihn raus, einfach so, um mich abzureagieren. Aller möglicher Quark kam mir in den Sinn, Bilder, die völlig nebensächlich waren. Dazu noch diese hinterhältige Pritsche - immer wieder versuchte sie sich in so ein weiches Bett zu verwandeln, wie die, in denen hier anscheinend alle schlafen, und außerdem wollte das Miststück mich auch noch wiegen! Wie einen Säugling! An und für sich war es nicht schlimm,- daß ich wach blieb - ich komme drei Tage ohne Schlaf aus, ohne was zu merken. Schlimm war, daß ich nicht richtig denken konnte. Nichts kapierte ich. Habe ich gestern erreicht, was ich wollte? Oder nicht? Kann ich Dramba jetzt vertrauen? Ich weiß es nicht. Werde ich von Kornej kontrolliert? Auch das weiß ich nicht. Gestern nach dem Abendbrot war ich auf einen Sprung in seinem Arbeitszimmer. Da sitzt er vor seinen Bildschirmen, auf jedem ist eine Visage, mitunter sind's zwei, und er redet mit ihnen allen. Mich durchfuhr's wie ein Messer. Ich stellte mir vor, wie ich dort auf dem Hügel wüte und eine Szene veranstalte, während er im Kühlen sitzt, die Sache auf dem Bildschirm verfolgt und sich eins kichert. Und womöglich noch an Dramba funkt: Nur zu, reiß das ein, ich erlaube es. Nein, ich könnte das mit Sicherheit nicht: kichernd auf dem Bildschirm beobachten, wie vor meinen Augen ein Heiligtum meines Volkes geschändet wird - nein, ohne mich. Bin schließlich kein Rattenfresser. Aber wenn er nun so einen Auftrag hat, ihm gesagt wurde: um jeden Preis... Ich weiß nicht, ich weiß nicht... Als ich zurückkam, hat er mich wie immer empfangen, dann aber genauer hergesehen, aufgemerkt und mich gefragt, wie und was. Der reinste Vater! Ich habe ihm wieder vorgelogen, daß mir der Schädel brummt. Von den Gerüchen der Steppe. Aber ich schätze, er hat mir nicht geglaubt. Den ganzen Abend habe ich aufgepaßt, ob er Dramba aushorcht oder nicht. Nein, er hat es nicht getan. Ihn nicht einmal angesehen... Ach, Jungs, mein armer Kopf! Am liebsten würde ich mich hinhauen und das alles laufenlassen. 270
So quälte ich mich bis zum Morgengrauen. Legte mich nieder, sprang auf, lief durch das Zimmer, legte mich wieder hin, lehnte aus dem Fenster, hängte meine Rübe in den Garten - und letzten Endes drehte es mich anscheinend ab, das Ohr auf dem Fensterbrett, nickte ich ein. Als ich erwachte, war ich schweißgebadet und hörte sofort dieses heisere Mauzen - mrrrau, mrrrau, mrrrau -, als würde der Teufel höchstselbst in der Hölle von den himmlischen Heerscharen gewürgt, und in mein Gesicht blies ein heißer, zischender Wind, der aus dem Garten kam. Ich hatte meine Augen noch gar nicht ganz offen, da saß ich schon auf dem Fußboden, tastete gewohnheitsmäßig nach meiner MPi und spähte über das Fensterbrett wie über eine Brustwehr. Und diesmal sah ich, wie das bei ihnen funktioniert, von Anfang bis Ende. Über meiner runden Wiese, rechts vom B assin, glühte im Halbdunkel ein heller Punkt auf, und von ihm strömte eine Art flüssiges lila Licht nach unten und zur Seite; zunächst durchsichtig, so daß die Büsche dahinter erkennbar waren, doch es floß und floß, und dann füllte es schon einen mächtigen Kegel, der sah aus wie ein Laborgefäß, war aber vier Meter hoch; es füllte ihn und wurde fest, erkaltete, erlosch - und auf der Wiese stand eins ihrer »Phantom«Schiffe, wie ich es beim ersten Mal gesehen hatte. Und Stille. Jungfräuliche Stille. Sogar die Vögel waren verstummt. Über der Wiese wölbt sich der graublaue Morgenhimmel, um sie herum stehen schwarze Bäume und Sträucher, und mitten darauf dieses silbrige Ungeheuer, und ich kann einfach nicht verstehen, ob es etwas Lebendiges oder eine Sache ist. Dann hörte es sich an wie leises Platzen, ein schwarzer Rachen tat sich auf, es klapperte, zischte, und ein Mensch trat heraus. Das heißt, zunächst dachte ich, es wäre ein Mensch: Er hatte Arme, Beine, einen Kopf, er war völlig schwarz - entweder rußig oder verbrannt - und von oben bis unten mit Waffen behängt. Solche Waffen hatte ich noch nie gesehen, Jungs, und doch begriff ich auf Anhieb, daß es welche waren. Sie baumelten dem Kerl von beiden Schultern herunter, auch vom Gürtel, und sie klirrten und 271
rasselten bei jedem Schritt. Er blickte nicht rechts noch links, sondern steuerte geradewegs auf die Treppe zu, wie auf sein eigenes Haus; sein Gang war irgendwie seltsam, aber mir wurde nicht gleich klar, weshalb, weil ich den Blick nicht von seinem Gesicht wenden konnte. Es schien auch schwärzlich und verbrannt zu sein, schimmerte und glänzte, und mit einemmal hob er beide Hände und zog es sich ab, wie eine Maske, und das war wohl auch eine Maske, weil er es in zwei Sekunden herunter hatte und auf den Boden schleuderte. Und da brach mir ein weiteres Mal der Schweiß aus, denn unter seinem schwärzlichen, verbrannten, lackglänzenden, ziehbaren Etwas kam ein zweites Gesicht zum Vorschein - aber nicht das eines Menschen: steinweiß, nasen- und lippenlos, und die Augen leuchtend wie Illuminationslämpchen. Ich hatte es kaum gesehen, da war mir schon klar: Das ertrage ich nicht! Mein Blick wanderte zu seinen Füßen - und ich fühlte mich noch schlechter. Sein Gang war nämlich deshalb so merkwürdig, weil er durch das dichte Gras und den festen Boden watete wie wir durch Treibsand oder, sagen wir, durch Morast bei jedem Schritt sank er bis zu den Knöcheln ein. Und tiefer. Die Erde trug ihn nicht, sie gab nach. An der Treppe verharrte er für eine Sekunde und warf mit Schwung sein ganzes Arsenal ab. Es rasselte und schepperte, während er durch die Tür trat; dann herrschte wieder Stille. Und Leere. Wie ein Fieberwahn. Auch das Raumschiff hatte sich in nichts aufgelöst, und nur die schwarzen Tapfen von der Wiese zum Haus und diese auf einen Haufen geworfenen erstaunlichen Waffen vor der Treppe waren geblieben. Am liebsten hätte ich mir die Augen gerieben und in die Schenkel gekniffen oder ähnliches, aber ich tat es nicht. Schließlich bin ich Sturmkater, Jungs. Diesen ganzen Unsinn fegte ich beiseite. Daran war ich gewöhnt. Übrig ließ ich nur die Hauptsache: die Waffe! Zum ersten Mal sah ich hier eine Waffe. Ich zog mich nicht einmal an - wie ich war, in Turnhose, sprang ich vom Fensterbrett der zweiten Etage. Es lag viel Tau, meine Beine waren im Nu naß bis über 272
die Knie, und mich überlief ein Schauer, entweder von dieser Nässe, oder es waren wieder die Nerven. Ich kauerte mich neben die Treppe und lauschte. Stille, normale morgendliche Stille. Die Vögel fingen an sich zu regen, eine Grille zirpte. Ich hatte dafür keinen Sinn, ich wartete auf Stimmen. Doch nein, nichts hörte ich. In diesem Haus ist es immer so: Dürfte man eigentlich keine Stimmen hören, schreien sie herum, brabbeln und beschimpfen einander, wobei nicht klar wird, wer das ist, denn Kornej glänzt zu diesen Zeiten durch Abwesenheit, treibt sich irgendwo rum und hält den Teufel zum besten. Wenn jedoch, wie jetzt, Menschen - oder, von mir aus, keine echten Menschen einander begrüßen, sich auf die Schultern klopfen, irgendwas ausrufen müßten - dann herrscht Stille. Grabesstille. Na, meinetwegen. Ich hocke also da und begucke diese Dinger vor mir, denen man sogar ansieht, wie schwer sie sind, wie glatt, gut geölt und zuverlässig. Niemals ist mir Vergleichbares vorgekommen, weder auf Fotos noch im Kino. Offenbar sind das Apparate von hoher Schlagkraft; schade nur, daß ich nicht weiß, von welcher Seite man an sie herangeht, wie man sie anfaßt und wo der Abzug liegt. Ich fürchte mich sogar, sie zu berühren: ehe du muckst, donnern sie los, und deine Knochen fliegen sonstwohin. Jedenfalls verlor ich den Kopf, und das war schlecht, weil ich mir eigentlich sofort etwas hätte schnappen und abhauen sollen. Na, Gagh, ran! Schnell! Nimm dieses Sächelchen: einen Lauf hat's, anstelle der Mündung zwar nur ein Stück Glas, dafür aber scheint ein Griff stück dazusein, und zwei flache Magazine ragen zu beiden Seiten des Laufs hervor. .. Schluß. Mehr Zeit bleibt mir nicht. Den Rest kläre ich später. Ich streckte den Arm aus und langte vorsichtig nach dem Griff. Und da passierte etwas Merkwürdiges. Ich angelte also nach- dem Griff. So einem gerippten, warmen. Schloß die Finger. Zog ihn zu mir heran. Vorsichtig, damit nichts klirrte. Ich spürte richtig, wie schwer er war. Doch in meiner Faust hielt ich - nichts! Ich sitze da wie betrunken, starre auf meine leere Hand, und das Maschinchen liegt unverändert auf der Stufe. Erbost greife ich min 273
gerade zu, spüre unter meinen Fingern wieder das feste, schwere Metall. Aber als ich es zu mir ziehen wollte, war auch diesmal nichts. Am liebsten hätte ich geschrien, aus voller Kehle. Konnte mich kaum beherrschen. Ich musterte meine Hand, sie war ölbeschmiert. Ich säuberte sie am Gras, stand auf. Das war natürlich eine furchtbare Enttäuschung! Auf alles sind sie vorbereitet, alles kalkulieren sie ein, sehen sie vorher, diese Lumpen! Ich schritt über diesen Haufen für mich nutzlosen Eisens hinweg und ging ins Haus. Da fällt mir auf: In der Dielenecke steht Dramba. Wackelt mit seinen Ohren und starrt mich an, und mir wird übel, wenn ich ihn nur sehe. Ich wollte mich schon in mein Zimmer zurückziehen, da dachte ich plötzlich: Wenn er nun...? Ist letztlich nicht egal, wer das Maschinchen hält, ich oder dieser Hohlkopf? »Gemeiner Dramba«, sagte ich leise. »Zu Befehl, Herr Korporal«, erwiderte er vorschriftsmäßig. »Na los, mir nach!« Wir gingen wieder auf die Außentreppe. Die Waffe lag unverändert. »Gib mir das dort, ganz am Rand«, sage ich. »Aber vorsichtig.« »Ich verstehe nicht, Herr Korporal«, tönt dieser Trottel. »Was verstehst du nicht?« »Ich verstehe nicht, was befohlen wurde zu geben.« Daß dich die Erde verschlinge! Woher weiß ich denn, wie das heißt? »Wie nennt man das dort?« frage ich. Dramba läßt seine Ohren schlackern und meldet: »Gras, Herr Korporal. Stufen...« »Und auf den Stufen?« frage ich und spüre, wie ich eine Gänsehaut kriege. »Auf den Stufen ist Staub, Herr Korporal.« »Und was noch?« Zum erstenmal zögerte Dramba mit der Antwort. Schwieg lange. Auch bei ihm griff anscheinend erst allmäh274
lieh ein Rädchen ins andere. »Außerdem befinden sich auf den Stufen: der Herr Korporal, der Gemeine Dramba, vier Ameisen...«, er zögerte wieder, »und verschiedene Mikroorganismen.« Er sah die Waffe nicht! Versteht ihr? Sah sie einfach nicht! Die Mikroorganismen sah er, aber diese meterlangen Eisenteile hatte er nicht zu sehen. Er hatte sie nicht zu sehen, und ich hatte sie nicht zu nehmen. Alles, alles hatten sie vorherbedacht! Vor Ärger holte ich mit dem nackten Fuß aus und trat, ohne zu überlegen, gegen das größte Eisenteil, das auf der Treppe lag. Ich heulte auf, hatte mir einen Zeh gründlich demoliert, den Nagel abgebrochen. Das Eisending aber lag unverändert. Aus! Das war der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ich hinkte in mein Zimmer, knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Mir kamen fast die Tränen, ich sank auf mein Bett, und mich überfiel eine solche Verzweiflung, wie ich sie nicht mehr erlebt hatte, seit ich eines Tages auf Kurzurlaub heimgefahren war und festgestellt hatte, daß nicht nur unser Haus, sondern das ganze Viertel verschwunden war, einzig verkohlte Ziegel hatten sich aufgetürmt und der Brandgeruch einem fast den Atem genommen. Jetzt, in diesen ebenso schwarzen Minuten schien mir, daß ich zu nichts nütze bin, nichts ausrichten kann in dieser satten und hinterlistigen Welt, wo jeder meiner Schritte auf hundert Jahre im voraus erahnt und berechnet ist und durchaus sein kann, daß sie sogar wissen, wie Handlungen, die ich erst noch vorhabe, zu unterbinden und zu ihrem Nutzen zu wenden wären. Um die Finsternis zu vertreiben, rief ich mir das Lichteste, Glücklichste, das es in meinem Leben gegeben hatte, ins Gedächtnis zurück, und ich erinnerte mich an jenen klaren Frosttag, an die in den grünen Himmel steigenden Rauchsäulen und das Prasseln der Flammen, von denen die Ruinen verschlungen wurden, an den rußgrauen Schnee auf dem Platz, die steif gefrorenen Leichen, den deformierten Raketenwerfer in einem riesigen Trichter... und der Herzog schreitet unsere Reihe ab, wir sind noch gar nicht recht bei uns, noch rinnt Schweiß in unsere Augen und der 275
Lauf der MPi sengt die Finger, er aber schreitet voran, stützt sich schwer auf den Arm des Adjutanten, und der Schnee knirscht unter seinen weichen roten Stiefeln, und jedem von uns schaut er aufmerksam ins Gesicht, sagt er leise Worte der Dankbarkeit und Ermutigung. Und dann blieb er stehen. Direkt vor mir. Und Gepard, den ich nicht sah - ich sah keinen, außer dem Herzog - nannte meinen Namen, und der Herzog legte mir seine Hand auf die Schulter und blickte mir in die Augen, und sein Gesicht war gelb vor Müdigkeit, von tiefen Falten durchzogen - ganz und gar nicht glatt, wie auf den Porträts -; seine Lider waren rot entzündet, und der schwere, schlecht rasierte Unterkiefer mahlte langsam. Und die Rechte immer noch auf meiner Schulter, hob er die linke Hand und schnippte mit den Fingern, und der Adjutant legte hastig ein schwarzes Würfelchen in diese Finger, während ich immer noch nicht an mein Glück glaubte, nicht glauben konnte, doch der Herzog sprach mit heiserer, tiefer Stimme: »Öffne deinen Rachen, Katerchen...« - und ich kniff die Lider zusammen und riß den Mund auf, so weit ich konnte, und dann fühlte ich das Rauhe, Trockene auf der Zunge und begann zu kauen. Die Haare sträubten sich unter meinem Helm, aus den Augen rannen Tränen. Es war Seiner Hoheit persönlicher Kautabak, zur Hälfte mit Kalk und gedörrtem Senf versetzt, und der Herzog klopfte mir auf die Schulter und sagte gerührt: »Ach, diese Rotznasen! Meine treuen, unbesiegbaren Rotznasen...« Und hier ertappte ich mich dabei, daß ich über das ganze Gesicht strahlte. Nein, meine Herren, noch ist nicht alles verloren. Treue, unbesiegbare Rotznasen desertieren nicht! Sie taten es dort nicht, und sie tun es hier nicht. Ich drehte mich auf die Seite und schlief ein, womit dieses Abenteuer endete. Dieses Abenteuer war vorbei, dafür aber begannen andere, denn unser stilles Häuschen geriet in Bewegung. Früher war es folgendermaßen gewesen: Kornej und ich frühstückten zusammen, dabei beharkten wir uns wegen irgend etwas so zwanzig Minuten lang - und Schluß, bis Mittag war ich allein. Ich konnte nach Belieben schlafen 276
oder Bücher lesen oder den Stimmen zuhören. Jetzt aber ich weiß auch nicht, entweder hatte jemand dieses Schlangennest aufgestört, oder eine Ruhephase war beendet, jedenfalls wurde es eng in unserem Haus. Alles begann damit, daß ich in den bewußten Flur ging, um nachzusehen, wie sich mein Schriftverkehr entwickelt. Ehrenwort, ich hatte gar nicht erwartet, etwas Neues zu lesen, da sehe ich - oho! - mein Mathematiker hat geantwortet. Direkt unter meiner Frage steht, wieder in diesen akkuraten kleinen Buchstaben: »Beim Teufel sind deine Freunde.« Sieh mal einer an! Wie ist denn das zu deuten? »Wer bist du, Freund?« - »Beim Teufel sind deine Freunde.« Das heißt doch, hier sind mehrere von ihnen... Warum schreiben sie nicht, wer sie sind? Aus Angst? Und wieso beim Teufel? Natürlich ist hier kein Paradies für normale Menschen, doch eine Hölle... Ich musterte die angestrichene Tür. Womöglich war dahinter ein Gefängnis? Oder noch etwas Schlimmeres? Warum habt ihr euch nicht klar äußern können, Jungs? Nein, diesen Flur muß ich im Auge behalten. Das allerdings später, was aber soll ich nun schreiben? Damit sie gleich verstehen, was mit mir ist... Verdammt, ich kapiere diese Mathematik nicht. Vielleicht ist bei ihnen alles in der Formel chiffriert? Ich werde ihnen andeuten, wer ich bin, damit sie wissen, mit wem sie zu tun haben und wozu ich tauge. Das schreibe ich ihnen... Ich holte meinen aufgesparten Bleistiftstummel hervor und kritzelte in Druckbuchstaben: »Stürmende Kater niemals untergehn.« Mir gefiel sehr, was ich mir da ausgedacht hatte. Jeder mußte erfassen, daß ich ein Kater war, gut bei Kräften und bereit zu handeln. Auf diese Fallschirmjäger pfeife ich, hier würden sie mir nichts anhaben. Wenn das jedoch eine Falle ist und Kornej die Korrespondenz angezettelt hat - bitte, auch egal, ich hatte ja nichts Schlimmes geschrieben. Gut. Den Flur werden wir im Auge behalten. Jetzt aber will ich erst mal nachsehen, was dort hinter der Tür ist. Ohne lange zu überlegen, griff ich nach dem Knauf und zog daran. Die Tür sprang auf. Ich hatte gedacht, dahinter wäre ein Zimmer oder ein Gang oder eine Treppe... was man 277
eben so hat hinter einer Tür. Doch hier war nichts. Eine Kammer. Drei mal drei Meter. Die Wände mattschwarz. An der gegenüber ein runder roter Knopf. Und damit hatte es sich. Mehr war nicht in der Kammer. Mir verging gleich die Lust, sie zu betreten. Hol sie der Kuckuck, denke ich', was in dieser Gruft wäre denn neu für mich? Der rote Knopf etwa? Ich stehe also unentschlossen da - und höre plötzlich Stimmen. Nahe. Man kann sagen, hinter mir. Na, denke ich, nun sitz ich in der Patsche. Ich werfe die Tür zu, beiße die Zähne zusammen, drehe mich um. Dem ersten eins vor die Kehle, denke ich, und ab in den Garten, da sollen sie mich erst mal finden... Doch wie sich herausstellte, waren es nicht die Fallschirmjäger. Ein Mann mit einem Karren biegt in den Flur ein, mit so einer Plattform auf Rädern. Ich schiebe die Hände in die Taschen und schlendere ihm entgegen. Der Flur ist breit, da passen wir bequem aneinander vorbei. Inzwischen ist er ganz nahe mit seinem Karren, ich blicke ihn an - Natternmilch! - er ist schwarz! Zuerst schien es mir sogar, als hätte er überhaupt keinen Kopf, dann sah ich genauer hin und merkte: Ein Kopf ist da. Aber schwarz. Das heißt völlig schwarz! Nicht nur die Haare, sondern auch Wangen, Stirn und Ohren; die dicken Lippen hingegen leuchteten rot, und die Augäpfel und Zähne weiß. Von welchem Planeten mochte es ihn hierher verschlagen haben? Ich drückte mich an die Wand, machte ihm Platz, so viel ich konnte - geh weiter, sollte das heißen, halt dich nicht auf, rühr mich nicht a n . . . Doch da hatte ich mich verrechnet. Er blieb mit seinem Karren natürlich direkt vor mir stehen, blendete mich fast mit seinen Augäpfeln und Zähnen und sagte in heiserem Brustton: »Das ist, glaube ich, ein typischer Alayer...« Ich schlucke, nicke. »Jawohl«, erwidere ich. »Ich bin Alayer.« Er fängt an, alayisch mit mir zu sprechen, nicht mehr in diesem heiseren Baß, sondern mit normaler, angenehmer Stimme, Tenor oder Bariton, ich weiß da nicht so Bescheid. 278
»Du bist sicher Gagh«, meint er. »Der Sturmkater.« »Jawohl«, sage ich. »Kommst du vom Zentrum?« fragt er. Was soll ich ihm antworten. »N-nein«, stammle ich, »ich spaziere nur herum...« Ich hatte inzwischen schon mitbekommen, daß er ganz normal war. Schwarz, na und? Bei uns auf den Inseln leben Blaue, und keiner zeigt mit dem Finger auf sie. Auch gekleidet war dieser hier normal, nach der hiesigen Mode: eine kurze Hose, das Hemd lose darüber. Nur, daß er eben schwarz war. Von Kopf bis Fuß. »Vielleicht suchst du Kornej?« fragt er weiter. Es klingt teilnahmsvoll. So, wie Kornej immer redet. »Du siehst mitgenommen aus.« »Aber nein«, widerspreche ich verdrossen. »Ich schwitze bloß. Es ist heiß bei euch.« »Ach s o . . . Du solltest deine Uniform ausziehen, was schmorst du darin... Und Kornej such vorläufig lieber nicht, er steckt bis zum Hals in Arbeit...« Sein Alayisch klingt rein und geschult, die Aussprache hauptstädtisch gehaucht. Stilvoll. Er erklärt mir also irgendwas, wo Kornej jetzt ist und womit er sich befaßt; ich aber starre immerfort auf den Karren und - ehrlich, Jungs höre kein Wort mehr von dem, was er sagt. Dieser Karren hat zunächst einmal nichts Besonderes an sich, um ihn geht es nicht. Doch auf seiner Plattform liegt ein riesengroßer Sack, anscheinend aus Leder. Aus Leder und wohl eingeölt, braun, wie die Jacke eines Panzerwagenfahrers. Seine Oberseite ist glatt, sie wirft keine einzige Falte, unten aber wirkt er zerknüllt und zerknittert. Und dort, zwischen diesen Falten und Brüchen, hatte ich schon vorher eine Bewegung bemerkt. Zuerst dachte ich, ich hätte mich geirrt, dann aber... Kurz gesagt: Da war ein Auge! Ihr könnt mir Arme und Beine ausreißen - es war ein Auge! Eine der Knitterfalten schob sich sacht auseinander, und dieses große runde dunkle Auge blickte mich an. Aufmerksam und traurig. Nein, Jungs, heute hätte ich nicht in diesen Flur gehen sollen. Klar, ein Sturmkater ist eine selbständige Kampf279
einheit und so weiter, aber über solche Begegnungen steht nichts in der Dienstvorschrift... Ich steh also da, gegen die Wand gestützt, und plappere immerzu: »Jawohl... jawohl...« Und denke dabei: Bring das weg von mir, mach schon, warum hast du nur angehalten! Und mein Schwarzer begreift mich, ihm leuchtet ein, daß ich zu mir kommen muß. Er sagt in seinem heiseren Baß: »Gewöhn dich dran, Alayer, gewöhn dich dran... Gehen wir, Jonathan.« Und dann, mit normaler Stimme auf alayisch: »Na, mach's gut, Heldenkamerad... Mann, hat's dich erwischt! Hab doch keine Angst, Sturmkater! Das hier ist nicht der Dschungel...« »Jawohl«, erwidere ich zum hundertachtundvierzigsten Mal. Seine Augäpfel und Zähne blitzten zum Abschied, und er zog seinen Karren weiter den Flur entlang. Ich sah ihm nach - Natternmilch! - der Wagen rollt von allein, er geht nebenher, ohne ihn zu berühren, und nun höre ich bereits wieder die Stimmen: den heiseren Baß also und dazu eine gewöhnliche Stimme, doch reden beide nun in einer mir unbekannten Sprache. Und auf dem Rücken dieses Schwarzen steht halbrund: GIGANDA. Eine nette Begegnung, stimmt's? Noch so eine, und ich fange an, mich in meinen eigenen Stiefeln zu verkriechen. >Gewöhn dich dran, Alayer, gewöhn dich dran.< Ich weiß nicht, vielleicht gewöhne ich mich irgendwann wirklich, aber in den nächsten fünfzig Jahren kriegen mich keine zehn Pferde in diesen Flur...; Ich beobachtete noch, wie sie sich in die Gruft quetschten und die Tür hinter ihnen zuschlug, dann verließ ich diesen schauerlichen Ort. Immer an der Wand lang. Seit diesem Tag ist es eng in unserem Haus. In Scharen strömen sie herbei. Mit der Null-Kabine kommen sie zu zweit oder zu dritt. Nachts und vor allem gegen Morgen hallt der Garten vom Mauzen der »Phantome« wider. Und manche Leute fallen einfach vom Himmel - einer plumpste genau ins Schwimmbecken, als ich morgens darin badete, der jagte mir vielleicht einen Schreck ein! Und alle wollen zu Kornej, alle krakeelen in verschiedenen Sprachen, alle haben ihre - dringenden! - Anliegen. Kommst du in die 280
Diele, palavern sie dort. Gehst du ins Speisezimmer, um was zu essen, hocken auch da zwei oder drei, stopfen sich voll und plappern wieder, und sind sie gegangen, kommen, wer weiß, woher, die nächsten... Ich konnte schon nicht mehr mit ansehen, wie viele von den guten Sachen des Gastgebers sie verpraßten, hätten sie wenigstens was mitgebracht oder s o . . . Begreifen sie wirklich nicht, daß man nicht Vorräte für alle anlegen kann? Die Leute haben kein Gewissen, das sage ich euch. Freilich, trotzdem muß ich ihnen zugute halten: Säcke mit Augen habe ich nicht wieder gesehen. Natürlich waren recht grauslige Exemplare unter ihnen, doch regelrechte Säcke - nein, sowas nicht mehr. Und selbst darüber war ich froh. Ich ertrug das alles einen Tag und einen zweiten, dann jedoch riß ich vor dieser Invasion schlichtweg aus, ganz ehrlich, Jungs. Da nimmst du am Morgen deinen Dramba - und ab an die Teiche, fünfzehn Kilometer von dieser Absteige entfernt. Ein wunderschönes Fleckchen habe ich dort entdeckt, Teiche, Schilfrohr, Kühle, massenhaft Enten... Möglich, daß ich mich nicht richtig verhalten und versagt habe. Wahrscheinlich hätte ich mich dort unter sie mischen sollen, mit aufgesperrten Augen und Ohren, um mir alles hinter die Löffel zu schreiben. Aber ich habe mich ja wirklich, bemüht, Jungs. Da setzt du dich in eine Ecke des Salons, sperrst den Mund auf, spitzt die Ohren - aber kein Wort ist zu verstehen. Sie spektakeln in fremden Sprachen, zeichnen irgendwelche Kurven, wedeln einander mit zeichenbedeckten blauen Papierrollen vor der Nase herum, haben einmal sogar eine Karte des Reichs aufgehängt: eine geschlagene Stunde sind ihre Finger darüber hingekrochen... Es schien doch immer nichts Einfacheres zu geben als eine Karte, hier jedoch konnte ich nicht begreifen, was sie voneinander wollten, worüber sie sich nicht einig wurden... Eins habe ich allerdings geschnallt, Jungs: Irgendwas ist los bei uns oder soll demnächst losgehen. Deshalb auch ist dieses Schlangennest so aufgewühlt. Kurz gesagt, ich beschloß, die Initiative dem Gegner zu überlassen. Unter den vorhandenen Bedingungen finde ich mich nicht zurecht, hindern kann ich sie an gar nichts 281
bleibt also etwa folgender Gedankengang: Wenn sie mich hierbehalten, heißt das, sie brauchen mich, und wenn sie mich brauchen, werden sie wohl - was immer sie dort aushecken mögen - früher oder später auf mich zukommen. Dann werden wir sehen, wie wir verfahren. Bis dahin aber wandern wir zu den Teichen, drillen Dramba und warten ab - vielleicht ergibt sich was. Übrigens ergab sich wirklich etwas. Da gehe ich eines Morgens *um Frühstück. Ich gucke Kornej sitzt am Tisch. Dazu allein. In den Tagen vorher hatte ich ihn selten gesehen, und wenn, war er von allerhand Volk umgeben gewesen. Nun also ist er allein, trinkt seine Milch. Na, ich grüße, setze mich ihm gegenüber. Und mir wird ganz eigenartig - hat er mir etwa gefehlt? Am ehesten wohl sein Gesicht. Trotz allem hat er ein gutes Gesicht. Etwas sehr Männliches liegt darin und gleichzeitig das Gegenteil - vielleicht Kindliches? Jedenfalls ist es das Gesicht eines Menschen ohne hinterhältige Absichten. Selbst wenn du so einem nicht glauben willst, du glaubst ihm. Wir reden miteinander, und ich sage mir immerzu: Vorsicht, Kater, dein Freund kann er nicht sein, er hat keinen Grund, dein Freund zu sein, ist er aber nicht dein Freund, ist er dein Feind... Und da meint er doch unvermittelt: »Warum stellst du mir nie Fragen, Gagh?« Da haben wir's - ich stelle ihm keine Fragen! Wann soll ich ihn denn was fragen, wenn ich ihn tagelang nicht sehe. Mir stieß es richtig bitter auf, am liebsten hätte ich ihm unverblümt geantwortet: Um weniger Lügen zu hören, schlauer Freund. Aber ich tat es natürlich nicht. Ich murmelte nur: »Wieso stelle ich keine Fragen? Ich stelle sie doch...« »Weißt du«, sagt er, und es klingt, als wollte er sich entschuldigen, »lange Vorlesungen kann ich dir nicht halten. Erstens fehlt mir dazu die Zeit, das siehst du ja selbst. Ich wäre gern öfter mit dir zusammen, aber es geht nicht. Und zweitens, finde ich, sind Vorlesungen langweilig. Was für Interesse solltest du an Antworten auf Fragen haben, die du gar nicht gestellt hast? Oder denkst du da anders?« 282
Ich war verwirrt, erwiderte irgendwas mir selber Unverständliches, doch in diesem Augenblick stürzen zwei Männer herein und hinter ihnen noch ein dritter. Alle drei strahlen wie frisch geputzte Kupferkessel. Und es scheint, als trügen sie zu dritt ein winziges rundes Schächtelchen, und mit diesem Schächtelchen rennen sie geradewegs zu Kornej. »Ist sie das?« fragt er und steht auf. »Das ist sie«, antworten sie fast im Chor und verstummen gleich darauf. Ich hatte früher schon bemerkt, daß sie in Kornejs Beisein nicht herumspektakeln. Ist er da, benehmen sie sich ordentlich. Wahrscheinlich mag er keine Spaße. Ja. Ich schlinge also an so einem Fisch und trinke ein heißes Gesöff dazu, während Kornej mit zwei Fingern dieses Schächtelchen entgegennimmt, es behutsam öffnet und ein schmales rotes Band hervorholt. Die drei halten den Atem an. Im Eßzimmer ist es mäuschenstill, nur der Lärm aus dem Salon dringt herüber. Kornej mustert das Bändchen - auch gegen das Licht - und sagt dann leise: »Prachtburschen! Vervielfältigt und verteilt das.« Und er ging aus dem Zimmer. Erst an der Tür besann er sich plötzlich, drehte sich um und murmelte: »Entschuldige, Gagh. Da kann ich nichts machen.« Ich zucke nur die Schultern - ist mir doch egal... bitte. Von diesen dreien liefen zwei Kornej hinterher, der dritte blieb und legte das rote Bändchen sorgfältig in die Schachtel zurück. Ich bin wütend, ich esse nicht gern, wenn mir jemand auf den Teller guckt. Er aber scheint mich gar nicht zu beachten. Quer durchs Zimmer geht er in die Ecke, wo Kornej eine Art Schrank oder Truhe hat - einen Kasten, der hochkant steht. Hundertmal hatte ich dieses Ding gesehen und nie beachtet. Er aber geht hin, zieht so ein kleines Rollo hoch, und in der Kastenwand entsteht eine hell erleuchtete Nische. In diese Nische legt er sein Schächtelchen und läßt das Rollo runter. Ein kurzes Summen, am Kasten leuchtet ein gelbes Auge auf, er zieht das Rollo hoch... und da, Jungs, hörte ich auf zu essen. Weil, als ich hingucke, in der Nische zwei Schachteln liegen! Der Typ läßt 283
das Rollo noch einmal runter, wieder das Brummen, wieder das Aufleuchten des gelben Auges; er zieht das Rollo hoch und - vier Schachteln! Und so weiter, und so weiter... Ich klappe nur mit den Lidern. Rollo hoch, Rollo runter, Summen, gelbes Licht, Rollo hoch, Rollo runter... Nach einer Minute lag die Nische voller Schachteln. Er nahm sie, stopfte sie in seine Taschen, zwinkerte mir zu und verließ den Raum. Wieder verstand ich gar nichts. Kein normaler Mensch hätte das verstanden. Nur eins war mir klar: Das war eine tolle Maschine! Ich sprang auf und flitzte zu dem Kasten. Besah ihn mir von allen Seiten, versuchte es sogar an der Rückwand, doch mein Kopf paßte nicht dahinter, ich quetschte mir nur das Ohr. Na gut. Das Rollo aber war noch oben, und das Licht aus der Nische blendete meine Augen. Natternmilch! Ich griff mir eine zerknüllte Serviette vom Tisch, rollte sie zu einer Kugel und warf sie in die Nische - für alle Fälle aus einiger Entfernung, man muß ja mit allem rechnen! Nein, es lief normal: Das Papierkügelchen lag ruhig da, ihm passierte nichts. Da langte ich ganz vorsichtig nach dem Rollo und zog es herunter. Es bewegte sich leicht, wie von selber. Knipp! Und wie zu erwarten, hörte ich das Summen, und die gelbe Lampe schaltete sich ein. Los, Kater! Ich zog das Rollo hoch. Tatsächlich. Zwei Kügelchen. Ich angelte sie vorsichtig mit der Gabel heraus, sah sie an - sie waren gleich. Das heißt vollkommen gleich. Unmöglich, sie zu unterscheiden. Ich drehte sie hin) und her, hielt sie ins Licht, ja, ich roch sogar daran, ich Idiot... Sie waren gleich. Was das bedeutete! Hätte ich jetzt eine Goldmünze - zu Millionen könnte ich's bringen! Ich wühlte in meinen Taschen. Wenn schon keine Goldmünze, denke ich, finde ich vielleicht einen Kupfergroschen... Aber Fehlmeldung. Doch auf einmal ertaste ich meine einzige Patrone. Eine Einheitspatrone vom Kaliber acht Komma eins null. Nein, nicht mal in diesem Moment begriff ich, was das bedeutete. Ich dachte nur: Wenn ich schon kein Geld habe, mache ich mir wenigstens Patronen, sie kosten ja auch Geld. Und erst als in der Nische vor mir sechzehn solche Dingerchen kup284
fern funkelten, erst da klingelte es bei mir: sechzehn Patronen, das ist ja ein Ladestreifen! Ein volles Magazin, Jungs! Ich stehe vor diesem Kasten, sehe mir meine Patronen an, und so interessante Gedanken spuken durch meinen Kopf, daß ich mich erst mal besinne und umgucke, ob jemand zuhört oder zusieht. Eine großartige Maschine haben sie sich hier ausgedacht, kann man nicht anders sagen. Und sehr nützlich! Ich habe schon allerlei bei ihnen gesehen, aber so etwas Nützliches begegnet mir erst zum zweiten Mal. (Mit dem ersten Mal meine ich natürlich Dramba.) Na dann, besten Dank. Ich nahm meine Patronen heraus, schüttete sie in die Jackentasche, die sich davon richtig langzog, und ich hatte das Gefühl, Jungs, als graute endlich in der Ferne der Morgen. Diese Maschine habe ich später noch mehrmals benutzt. Habe meinen Patronenvorrat nach und nach aufgefüllt, und als mir ein Knopf abriß, für alle Fälle zwei Sätze Uniformknöpfe angefertigt, auch einigen anderen Kleinkram. Anfangs war ich vorsichtig, dann aber ganz dreist: Während sie am Tisch essen und palavern, stehe ich gemütlich vor dem Kasten und lasse das Rollo schnappen. Und keinen von ihnen kümmert das! Ein leichtsinniges Volk, ich kann nicht fassen, wie sie bei ihrer Sorglosigkeit unseren Planeten beherrschen wollen. Mit den Federmessern wird man sie abschlachten! Vor ihren Augen hätte ich alle ihre Geheimdokumente kopieren können. Sofern vorhand e n . . . Sie haben mich doch überhaupt nicht beachtet! Willst du sie belauschen - belausche sie, willst du etwas abgucken - bitte sehr... Irgendwer wirft dir einen zerstreuten Blick zu, lächelt - und plappert weiter. Richtig beleidigend ist das, Natternmilch! Immerhin bin ich kein kleiner Popel, sondern Sturmkater Seiner Hoheit; baumlange Kerls sind vor mir vom Bürgersteig gegangen und haben noch den Hut gezogen... Klar, nicht immer, nur an den Namenstagen Ihrer Hoheiten, aber trotzdem. Jedenfalls hätte ich mich am liebsten an die Tür gestellt und wie Gepard geschnauzt: »Still-stann! Augen zu mir, Schabengezücht!« Sie wären vielleicht gespritzt! Dann habe ich mir natürlich verboten, 285
an so was zu denken. Ich habe kein Recht, meine Würde zu verletzen. Nicht mal in Gedanken. Soll alles laufen, wie es läuft. Allein dürfte ich's sowieso nicht schaffen, sie strammstehen zu lassen. Und das ist auch nicht meine Aufgabe... Mein Kornej ist in diesen Tagen ganz von Kräften gekommen. Nicht genug, daß er die lärmenden Palaver regeln mußte, brachen noch persönliche Unannehmlichkeiten über ihn herein. Alles weiß ich natürlich nicht, aber da kehrte ich doch eines Abends von den Teichen zurück, verschwitzt, erschöpft, mit müden Füßen; ich badete und legte mich ins Gras unter den Sträuchern, wo mich niemand sieht, ich aber alles überblicke. Der Garten war leer, die noch dawaren, saßen in Kornejs Arbeitszimmer bei einer ihrer üblichen Beratungen - und auf einmal öffnet sich die Tür der Null-Kabine, und heraus tritt ein Mann, wie ich ihn bislang hier noch nie zu Gesicht bekommen habe. Schon seine Kleidung war ungewöhnlich: Unsere Leute laufen meist in Overalls umher oder in bunten Hemden mit Aufschriften auf dem Rücken. Er jedoch... ich weiß nicht mal, wie ich das nennen soll, er trägt so was Strenges, Imposantes, aus grauem Tuch, klar? Eben vornehm, man merkt gleich, daß sich nicht jeder das leisten könnte. Ein Aristokrat. Zweitens, sein Gesicht. Das kann ich gleich gar nicht beschreiben. Schön, die Haare schwarz, die Augen blau, doch nicht daran lag es. Irgendwie erinnerte er mich an den rotwangigen Doktor, der mich gesund gemacht hatte, obwohl er gar nicht rotwangig war und erst recht kein gutmütiger Kerl. War der Ausdruck der gleiche? Bei uns habe ich solche Gesichter nie gesehen, unsere sind entweder heiter oder besorgt, wogegen dieser... Nein, ich weiß nicht, wie ich das nennen soll. Jedenfalls verließ er die Kabine und schritt so recht entschlossen an mir vorbei, hinein ins Haus. Ich höre: Der Lärm im Arbeitszimmer bricht mit einemmal ab. Wer gibt uns denn da die Ehre, denke ich. Ein hoher Vorgesetzter? In Zivil? Und mich packte höllische Neugier. So einen müßte man sich greifen, denke ich. Als Geisel. Eine große Sache ließe sich deichseln... Und ich stellte mir in allen 286
Einzelheiten vor, wie ich diese Sache deichsle, meine Phantasie ging sozusagen mit mir durch. Dann kam ich zu mir. Im Arbeitszimmer plappern sie schon wieder, und zwei Männer treten auf die Treppe heraus, Kornej und dieser Aristokrat. Sie schreiten die Stufen herab und kommen langsam den Weg zur Null-Kabine entlang. Schweigend. Das Gesicht des Aristokraten wirkt verschlossen, sein Mund ist nur noch ein Strich, den Kopf trägt er hoch erhoben. Ein General, trotz dieser Jugend. Mein Kornej aber läßt den Kopf hängen, sieht vor seine Füße und beißt sich auf die Lippen. Ich kann gerade noch denken, daß wohl auch er nun seinen Meister gefunden hat, als sie ganz in der Nähe stehenbleiben und Kornej sagt: »Na, dann... danke, daß du gekommen bist.« Der Aristokrat schweigt. Er zuckt nur leicht mit den Schultern, schaut aber zur Seite. »Du weißt, ich freue mich immer, dich zu sehen«, sagt Kornej. »Selbst wenn du nur auf einen Sprung vorbeischaust. Ich weiß ja, du bist sehr beschäftigt...« »Hör auf«, sagt der Aristokrat ungehalten. »Laß das. Verabschieden wir uns lieber.« »Also gut, verabschieden wir uns«, stimmte Kornej zu. Und das klang so demütig, daß mir angst und bange wurde. »Und noch folgendes«, sagt der Aristokrat in schroffem, unangenehmem Ton. »Ich werde jetzt lange fort sein. Mutter bleibt allein. Ich verlange von dir, daß du aufhörst, sie zu quälen. Früher habe ich nie darüber gesprochen, weil ich bei ihr war u n d . . . Mit einem Wort, mach, was du willst, doch hör auf, sie zu quälen!« Kornej erwiderte etwas, flüsterte es fast, so leise, daß ich die Worte nicht verstand. »Du kannst es!« sagt der Aristokrat nachdrücklich. »Du kannst wegfahren, kannst verschwinden... Alle diese... alle deine Beschäftigungen... Wieso sind sie mehr wert, als ihr Glück?« »Das sind ganz verschiedene Dinge«, entgegnet Kornej, und in seinen Worten klingt Verzweiflung an. »Du verstehst einfach nicht, Andrej...« 287
Fast wäre ich hinter meinen Büschen aufgesprungen. Selbstverständlich! Das war gar kein Vorgesetzter, auch kein General. Es war sein Sohn, sie sahen einander sogar ähnlich! »Ich kann nicht wegfahren«, fährt Kornej fort, »kann nicht verschwinden. Das würde nichts ändern. Du meinst, aus den Augen, aus dem Sinn. Aber so ist es nicht. Versuch zu verstehen: Man kann da nichts machen. Das ist Schicksal. Verstehst du mich? Schicksal.« Dieser Andrej warf den Kopf in den Nacken und blickte seinen Vater hochmütig an, als wollte er auf ihn pfeifen, doch plötzlich zuckte sein aristokratisches Gesicht kläglich; fast hätte er geweint, er winkte ungeschickt ab und rannte zur Null-Kabine. »Paß auf dich auf!« rief Kornej ihm nach, aber der Sohn war bereits verschwunden. Kornej drehte sich um und ging zum Haus. Auf der Treppe verharrte er - bestimmt länger als eine Minute, so als sammelte er seine Kräfte und Gedanken -, dann reckte er die Schultern, und erst danach trat er über die Schwelle. So also lagen die Dinge. Dem Mann wurde zugesetzt. Von mir aus, es war nicht meine Sache. Aber leid tat er mir. Wäre ich er, würde ich diesem Söhnchen das Maul stopfen, damit er kapiert, wo sein Platz ist, und seine Nase nicht in alles steckt, doch Kornej sähe so was nicht ähnlich. Das heißt, ihm sähe nicht ähnlich, daß er überhaupt jemand das Maul stopft, genauer betrachtet, könnte er sicher jedem das Maul stopfen, denn er ist unglaublich kräftig und geschickt. Einmal habe ich beobachtet, wie sie am Schwimmbassin miteinander gerauft haben, Kornej gegen drei von diesen... Offizieren oder s o . . . Wie er sie erledigt hat! Es tat richtig wohl, zuzusehen. Um das Maulstopfen brauchtet ihr euch also keine Sorgen zu machen. Die Sache ist eher so, daß er ohne äußerste Notwendigkeit keinem das Maul stopfen will... was heißt Maul, kein scharfes Wort wirst du von ihm hören... Obwohl, es gab mal so einen Fall... Da habe ich eines Tages die Nase in sein Arbeitszimmer gesteckt, weswegen, weiß ich nicht mehr. Ich wollte mir wohl 288
ein Buch holen oder einen Film für den Projektor. Jedenfalls regnete es an dem Tag. Ich ging also in sein Zimmer und stand plötzlich im Finstern! Ich bekam sogar das Grübeln. Das hatte es noch nicht gegeben, daß ich in diesem Haus am hellichten Tag in einen dunklen Raum gekommen wäre. War ich irrtümlich in eine Abstellkammer geraten? Doch dann höre ich von dort, aus der Finsternis, Kornejs Stimme: »Lassen Sie's noch mal von Anfang an durchlaufen. ..« Da tappte ich vorwärts. Die Wand schloß sich hinter mir, und es wurde so schwarz wie nachts auf dem Schießplatz. Ich streckte die Arme vor, um nicht irgendwo anzustoßen, und hatte noch keine zwei Schritte getan, als sich meine Finger in was Textilem verhedderten. Ich fuhr zusammen vor Schreck. Was war das für ein Zeug? Wie kam es hierher, in das Arbeitszimmer? Vorher war es nie hier gewesen. Und plötzlich höre ich Stimmen, und wie ich diese Stimmen hörte, dachte ich nicht mal mehr an das Gewebe; ich erstarrte und hielt den Atem an. Mir war sofort klar, daß sie in der Sprache des Reichs redeten. Deren Hurli-Murli erkenne ich überall, dieses heisere Gequäke. Es waren zwei, der eine ein normaler Rattenfresser, den hätte ich gleich mit der MPi durchlöchern wollen; doch der zweite.. .Jungs, ihr glaubt es nicht, ich habe es selber kaum geglaubt. Der zweite war Kornej. Eindeutig seine Stimme. Allerdings benutzte er erstens eben die Reichssprache, und zweitens in einem solchen Baß, wie ich ihn weder von Kornej noch von sonst jemand auf diesem Planeten je gehört habe. Es war ein richtiges Verhör, Jungs, wirklich! Ich habe genug Verhöre miterlebt, ich weiß, wie es dort zugeht. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Kornej redete ganz zornig: grrrum-trrrumbrrrum! Und der andere, dieser feige Hund, antwortete jammernd: hurli-murli, hurli-murli... Mir lachte das Herz, Ehrenwort. Leider verstand ich nur ein Bruchteil von dem, was sie sagten, und was ich verstand, konnte ich mir nicht recht zusammenreimen. Ungefähr kam heraus, daß dieser Rattenfresser kein gewöhnlicher Soldat oder, sagen wir, Bürger 289
war, sondern irgendein hohes Tier. Ein Marschall vielleicht oder ein Minister. Und sie redeten immerzu von Korps und von Armeen, auch von der Lage in der Hauptstadt. Das heißt, ich schlußfolgerte das, weil ich nämlich die Worte »Korps«, »Armee« und »Hauptstadt« kenne, und sie wiederholten sich dauernd. Dann wurde mir noch klar, daß Kornej die ganze Zeit Druck machte, der Rattenfresser jedoch, wiewohl er katzbuckelte und sich einzuschmeicheln versuchte, irgendwas verheimlichte, er spielte mit verdeckten Karten, dieses gestreifte Ekel. Kornej donnerte ihn immer wütender an, der Rattenfresser quiekste kläglicher, und ich war völlig überzeugt, daß er genau jetzt ihm mächtig eins überziehen mußte - ich rückte sogar noch weiter vor, bis ich mit der Nase das Tuch berührte, das mich vom Vernehmungsraum trennte; ich wollte ja nichts verpassen, wenn dieser Lump loswinselte und anfing auszupacken! Aber der Rattenfresser verstummte auf einmal ganz - hatte er sich in eine Ohnmacht gerettet, oder was? -, und Kornej sagte mit seiner normalen Stimme, auf russisch: »Ganz und gar nicht schlecht! Woldemar, Sie können gehen. Versuchen wir jetzt, die Ergebnisse zusammenzufassen. Erstens...« Ich erfuhr nicht mehr, was erstens war. Mich traf ein so heftiger Schlag ins Gesicht, daß mir trotz dieser Finsternis vor den Augen ganz hell wurde, und als ich wieder zu mir kam, Jungs, war ich bereits im Salon. Ich sitze auf dem Fußboden, blinzle, und über mir steht dieser bewußte Woldemar, ein baumstarker Kerl, dessen Kopf fast an die Decke stößt, er reibt sich die Schulter, blickt kleinlaut und fassungslos auf mich herab und brummt halb vorwurfsvoll, halb schuldbewußt: »Was machst du nur für Sachen, mein Bester? Warum stehst du da im Dunkeln? Woher sollte ich das wissen? Entschuldige bitte... Hast du dich auch nicht verletzt?« Ich befühlte vorsichtig meine Nasenwurzel - ob ich überhaupt noch eine hatte, stand auf, so gut ich konnte, und sagte: »Nein«, sage ich, »ich habe mich nicht verletzt. Verletzt wurde ich vorher.« 290
Kapitel 6 Als Dramba den Verbindungsgraben zur Feuerleitstelle fertiggestellt hatte, befahl Gagh ihm anzuhalten, sprang in den Schützengraben und nahm die Stellung ab. Sie war großartig. Ein voll ausgebauter Graben mit leicht nach außen geschrägten, ideal gleichmäßigen Wänden und festgestampftem Boden, ohne lockere Erdklümpchen oder anderen Unrat - alles genau nach Vorschrift -, führte zum Feuernest, einer makellos runden Grube von zwei Metern Durchmesser, von der sich bohlenbedeckte Unterstände nach hinten zogen: für die Munition und die Bedienungsmannschaft. Gagh sah auf die Uhr. Die ganze Stellung war in zwei Stunden zehn Minuten entstanden. Und was für eine Stellung! Darauf hätte sogar die Ingenieurakademie Seiner Hoheit stolz sein dürfen. Gagh blickte sich nach Dramba um. Der Gemeine Dramba überragte ihn und den Rand des Schützengrabens. Seine mächtigen Pranken hielt er an die Schenkel gedrückt, die Ellenbogen abgespreizt und die Ohren gesenkt; er reckte die Brust vor und verbreitete Frische und Kühle, die sich mit dem Geruch nach aufgegrabener Erde mischte. »Mordskerl!« sagte Gagh leise. »Ich diene Seiner Hoheit, Herr Korporal«, schrie der Roboter. »Was fehlt uns nun noch?« »Halbliterflaschen Schnaps und gesalzener Fisch, Herr Korporal!« Gagh grinste. »Ja«, sagte er, »einen Soldaten hab ich aus dir gemacht, aus dir Liederjan.« Er stützte sich auf den Rand des Grabens und schleuderte seinen Körper hinüber aufs Gras, dann stand er auf, klopfte sich die Knie sauber und musterte noch einmal seine Stellung, nun von oben. Ja, sie war ausgezeichnet. Die Sonne stand bereits hoch, der Tau war getrocknet, und der Mond hing wie ein blasses Stück schmelzenden Zuckers über dem Westhorizont, über den verschleierten Konturen der Monsterstadt. Ringsum zirpte, Myriaden 291
von Grashüpfern, die Steppe, eben und rötlich-grün, bei all ihrer Weite stets gleich und leer, wie der Ozean. Ihre Eintönigkeit wurde nur fern durch das Wölkchen Grün unterbrochen, in dem rot das Ziegeldach von Kornejs Haus leuchtete. Die zirpende, von würzigen Düften erfüllte Steppe, der reine, graublaue Himmel über ihr, und mitten darin er, Gagh. Und er fühlt sich wohl. Wohl, weil alles weit fort ist. Weit fort der unbegreifliche Kornej, so unendlich gütig, unendlich geduldig, nachsichtig, aufmerksam, der einem unablässig, Millimeter für Millimeter, die Liebe zu ihm ins Herz drückt, und der gleichzeitig unendlich gefährlich ist, wie eine Bombe von gewaltiger Sprengkraft, die, wenn man's am wenigsten erwartet, zu explodieren und Gaghs Universum in kleine Stücke zu zerreißen droht. Weit fort von hier ist das arglistige Haus, vollgepfropft mit unvorstellbaren, unmöglichen Mechanismen und unvorstellbaren, unmöglichen Geschöpfen, unter die solche menschlichen Fallen, wie Kornej, gemengt sind, ein Haus, das geradezu brodelt von chaotischer Betriebsamkeit ohne sichtbares vernünftiges Ziel, und deshalb genauso unbegreiflich und höchst gefährlich ist. Weit fort ist diese ganze heimtückische Welt, wo die Menschen alles haben, was sie sich nur wünschen können, aber ihre Wünsche widernatürlich und ihre Ziele überirdisch sind, und wo die Mittel in nichts mehr an menschliche erinnern. Und noch einen Grund gibt es für Gaghs Wohlbefinden: Hier gelingt ihm, wenigstens für kurze Zeit die nagende, seine Kräfte übersteigende Verantwortung zu vergessen, alle diese unaufschiebbaren, unerläßlichen und völlig unlösbaren Aufgaben, die wie ein Geschwür seine entzündete Seele belasten. Denn hier ist alles so einfach und leicht... »Oho!« ließ sich plötzlich Kornej vernehmen. »Donnerwetter!« Gagh sprang auf und drehte sich um. Kornej stand auf der anderen Seite des Schützengrabens und betrachtete mit fröhlichem Staunen die Stellung. »Du bist ja ein Befcstigungskünstler«, sagte er. »Was hast du denn da?« 292
Gagh schwieg zunächst, doch er mußte Farbe bekennen. »Eine Stellung«, knurrte er unwillig. »Für einen schweren Mörser.« Kornej war verblüfft. »Wofür?« »Für einen schweren Mörser.« »Hm... Und woher willst du den nehmen?« Gagh antwortete nicht, sah ihn nur finster an. »Na gut, das ist letztlich nicht meine Sache«, sagte Kornej, nachdem er etwas gewartet hatte. »Entschuldige, wenn ich dich gestört habe... Ich habe hier gewisse Nachrichten erhalten, und ich wollte sie dir schnell überbringen. Es geht nämlich darum: Euer Krieg ist zu Ende.« »Welcher Krieg?« fragte Gagh dümmlich. »Eurer. Der zwischen dem Alayischen Herzogtum und dem Reich.« »Schon?« flüsterte Gagh. »Sie haben doch behauptet, noch vier Monate...« Kornej breitete die Arme aus. »Na, entschuldige«, sagte er. »Ich habe mich geirrt. Wir alle haben uns geirrt. Aber weißt du, das war ein erfreulicher Irrtum. Gib zu, wir haben uns in die richtige Richtung geirrt... Schon nach einem Monat war Schluß.« Gagh fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, er hob den Kopf und senkte ihn wieder. »Wer...« Er verstummte. Kornej wartete, blickte ihn ruhig an. Da hob Gagh wieder den Kopf und sah Kornej in die Augen. »Ich möchte wissen, wer gesiegt hat.« Kornej schwieg sehr lange, seinem Gesicht war nichts abzulesen. Gagh setzte sich, seine Beine trugen ihn nicht mehr. Neben ihm ragte Drambas Kopf aus dem Schützengraben. Gagh starrte ihn gedankenlos an. »Ich hab's dir doch schon erklärt«, begann Kornej schließlich. »Gesiegt hat niemand. Oder besser: Alle sind Sieger.« »Erklärt... Was heißt das schon, daß Sie es mir erklärt haben...«, preßte Gagh zwischen den Zähnen hervor. »Ich verstehe das nicht. Wem gehört nun das Mündungsgebiet 293
der Tara? Ihnen kann das egal sein, aber uns ist es nicht egal!« Kornej schüttelte langsam den Kopf. »Für euch spielt das auch keine Rolle«, sagte er müde. »Dort gibt es keine Armee mehr, nur noch Zivilisten...« »Aha!« triumphierte Gagh. »Also haben sie die Rattenfresser in die Flucht geschlagen.« »Aber nein...« Kornej verzog gequält das Gesicht. »Die Armee existiert nicht mehr, verstehst du? Keiner hat den anderen aus dem Tara-Delta vertrieben. Sowohl die Alayer als auch die Soldaten des Reichs haben ihre Waffen niedergelegt und sind nach Hause gegangen.« »Das ist unmöglich«, sagte Gagh ruhig. »Mir ist nicht klar, warum Sie mir das alles erzählen, Kornej. Ich glaube Ihnen nicht. Ich verstehe überhaupt nicht, was Sie von mir wollen. Weshalb halten Sie mich hier fest? Wenn Sie mich nicht brauchen, lassen Sie mich fort! Wenn Sie mich aber brauchen, dann sagen Sie es...« Kornej stöhnte und schlug sich mit Wucht auf die Schenkel. »Also folgendes: Was das betrifft, kann ich dir nichts Neues mitteilen. Ich merke, daß es dir hier nicht gefällt. Ich weiß, daß du nach Hause willst. Aber du mußt Geduld haben. Zur Zeit ist es in deiner Heimat zu schwer. Verfall. Hunger. Epidemien. Und nun auch noch politisches Durcheinander... Der Herzog hat, was zu erwarten war, auf alles gespuckt und ist geflohen, wie der letzte Feigling. Er hat nicht nur sein Land im Stich gelassen...« »Reden Sie nicht schlecht vom Herzog!« schrie Gagh mit belegter Stimme. »Den Herzog gibt es nicht mehr«, erwiderte Kornej kalt. »Der Herzog von Alay ist gestürzt. Übrigens kannst du dich trösten: Dem Kaiser ist es auch nicht besser ergangen.« Gagh grinste schief, dann versteinerte sein Gesicht wieder. »Lassen Sie mich nach Hause«, sagte er. »Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten. Ich bin weder Kriegsgefangener noch Sklave.« Kornej seufzte. »Komm, wir wollen uns nicht streiten. Du kannst dir kaum vorstellen, was sich bei euch tut. Solche wie du haben dort Banden gebildet, sie wollen trotz 294
allem das Skelett auf die Beine bringen. Doch außer ihnen möchte das niemand mehr. Sie werden gejagt wie tollwütige Hunde, und man wird sie erledigen. Wenn wir dich jetzt heimschicken, wirst du dich natürlich einer solchen Bande anschließen, das aber wäre dein Ende. Übrigens geht es dabei nicht nur um dich, es geht auch um die Leute, die du zu Hause noch quälen und töten könntest. Du bist gefährlich. Für dich und für andere. So sieht's aus, wenn ich offen sein soll.« Das konnte Kornej also auch! Vor Gagh stand ein Kämpfer, mit eisernem Zugriff, und er traf genau auf den Punkt. Na, trotzdem: für die Offenheit danke. Dabei werden wir von jetzt an auch bleiben: Du hast mir deine gesagt, und ich werde dir meine Meinung sagen. Habe mich lange genug als grünes Jüngelchen aufgeführt. Mir reicht's. »Sie fürchten also, ich könnte dort gefährlich werden«, fauchte Gagh. Er wollte und konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Nun ja, das steht Ihnen frei. Nur, passen Sie auf, daß ich hier nicht gefährlich werde!« Sie standen zu beiden Seiten des Grabens, die Gesichter einander zugewandt, und anfangs war Gagh ganz stolz, daß es ihm gelungen war, diesen kalten Glanz in den gewöhnlich geradezu abscheulich gütigen Augen des großen Schlaukopfs hervorzurufen. Doch auf einmal bemerkte er erstaunt und empört, daß der Glanz verschwand und dieser Satan sein Lächeln wiedergewann, seine Augen gewohnheitsgemäß auf väterliche Art zusammenkniff, Natternmilch! Und dann prustete Kornej los, fing laut an zu lachen, er verschluckte sich, hustete, lachte wieder, breitete die Arme aus und rief: »Ein Kater! Wie er im Buche steht! Ein ganz wilder... Denke!« Er klopfte sich auf den Scheitel. »Denk nach! Dein Hirn mußt du benutzen. Bist du denn umsonst die fünfte Woche hier?« Da drehte Gagh sich heftig um und ging in die Steppe. Er achtete nicht auf den Weg, brach in Murmeltierbaue ein, stolperte, zerkratzte sich an den Dornen die Füße. Er sah und hörte nichts. Vor seinen Augen stand das faltendurchzogene aschfahle Gesicht mit den unermeßlich müden, geröteten Augen, und in seinen Ohren klang die 295
leicht rauhe Stimme: »Diese Rotznasen! Meine treuen, unbesiegbaren Rotznasen!« Und dieser Mann, dieser letzte noch lebende Mensch von denen, die ihm nahestanden, war jetzt irgendwo auf der Flucht, versteckte und quälte sich, wurde gehetzt wie ein wilder Wolf von stinkenden Horden betrogener, gekaufter, vor Angst wild gewordener Stachelschweine. Mob, Gesindel, Abschaum - ohne Anstand, ohne Ehre, ohne Gewissen... Lüge, Lüge, es kann nicht sein! Die Waldjäger, die Garde, die Landungstruppen. Die Blauen Drachen - haben auch sie sich verkauft? Ihn auch im Stich gelassen? Sie hatten doch niemanden außer Ihm. Haben nur für Ihn gelebt, für Ihn Todesgefahren auf sich genommen! Nein, nein, es ist Lüge, Unsinn... Sie haben ihren stählernen Ring um Ihn geschlossen, ihre Bajonette, ihre Läufe, die Flammenwerfer nach außen gerichtet..., sie sind doch die besten Kämpfer der Welt, sie vertreiben und zerschmettern die wild gewordene Soldateska. .. Oh, wie werden sie sie jagen, schmoren, in den Dreck treten... Und ich, ich sitze hier. Ein Kater! Nein, kein Kater - ein widerliches Hündchen! Aufgelesen hat man das Ärmste, sein Pfötchen kuriert, ihm ein Schleifchen umgebunden, und nun wedelt es mit dem Schwänzchen, schlabbert warme Milch und plappert unentwegt »jawohl« und »zu Befehl«... Gagh strauchelte und fiel der Länge lang in das kratzige, trockene Gras, und er blieb liegen, barg den Kopf in den Händen vor unerträglicher Scham. Aber er stand doch allein! Allein gegen diesen ganzen Koloß! Und die Jungs, seine Freunde in dieser hinterhältigen Hölle, schwiegen, gaben seit Tagen kein Lebenszeichen, keine Zeile, keinen Buchstaben - womöglich waren sie t o t . . . Oder hatten sie etwa kapituliert? Konnte er denn wirklich nichts tun? Er zitterte wie im Fieber unter der brennenden Sonne, in seiner Vorstellung erschienen, kreisten, vollzogen sich ganz irreale, undenkbare Arten des Kampfes, der Flucht, der Befreiung... Das Schlimme war, daß Kcrnej natürlich die Wahrheit gesagt hatte. Nicht ohne Grund arbeitete seine Maschinerie, nicht von ungefähr waren alle diese Scheusale aus geheimnisvollen Welten herbeigereist, -ge296
krochen, -geflogen; sie hatten ihre Arbeit getan und Gaghs Land verwüstet, sein Bestes zugrunde gerichtet, entwaffnet, kopflos gemacht*... Er hörte nicht, wie Dramba herankam, doch der verschwitzte Rücken unter dem glühendheißen Hemd kühlte ab, als der Schatten des Roboters ihn traf, und er fühlte sich besser. Trotz allem war er nicht völlig allein. Er lag noch lange mit dem Gesicht nach unten, die Sonne wanderte den Himmel entlang, und Dramba hielt sich lautlos neben ihm, schützte ihn vor der Hitze. Dann setzte Gagh sich auf. Seine nackten Füße waren von den Dornen übel zugerichtet. Auf das Knie sprang ihm ein Heuschreck und glotzte ihn aus grünen Tropf chenaugen verständnislos an. Gagh schüttelte ihn angeekelt ab und stutzte, als er nun seine Hand sah: Die Fingerknöchel waren zerschunden. »Wann habe ich das getan?« fragte er sich laut. »Das kann ich nicht wissen, Herr Korporal«, meldete sich Dramba prompt. Gagh musterte seine andere Hand. Sie blutete auch. Da hatte er also auf Mütterchen Erde eingedroschen. Auf die Mutter aller dieser... Schlauköpfe. Ein schöner Kater! Hysterie fehlte mir gerade noch! Er blickte zum Haus hinüber. Das grüne Wölkchen am Horizont war kaum zu erkennen. »Viel Überflüssiges habe ich heute geschwatzt«, sagte er langsam. »Bist ein Stachelschwein und kein Kater. Und niemand da, der dich durchprügeln könnte. Hast dir einfallen lassen, ihm zu drohen, du Rotznase... Da mußte Kornej ja lachen...« Er blickte den Roboter an. »Gemeiner Dramba! Was hat Kornej getan, nachdem ich fort war?« »Er hat mir befohlen, Ihnen zu folgen, Herr Korporal.« Gagh lachte bitter auf. »Und du hast natürlich gehorcht ...« Er erhob sich, trat dicht an den Roboter heran. »Wie oft soll ich's dir noch sagen, du Strohkopf«, zischte er wütend. »Wem hast du zu gehorchen? Wer ist dein unmittelbarer Vorgesetzter?« 297
»Korporal Gagh, Sturmkater Seiner Hoheit«, sagte Dramba Silbe für Silbe. »Wie kannst du stupides Stachelschwein dann jemand anderem gehorchen?« Dramba zögerte, erwiderte dann: »Bitte um Verzeihung, Herr Korporal.« »Ach...«, stöhnte Gagh hoffnungslos. »Lassen wir das, nimm mich auf die Schultern. Ab nach Hause.« Das Haus empfing ihn mit ungewohnter Stille. Es war leer. Die Aasgeier waren ausgeflogen. Nach Beute. Gagh nahm zuallererst ein Bad im Schwimmbecken, er wusch das Blut und den Staub von sich ab, kämmte sich sorgfältig vor dem Spiegel und schritt, nachdem er frische Wäsche angezogen hatte, entschlossen ins Eßzimmer. Zur Mittagsmahlzeit kam er zu spät, Kornej trank schon seinen letzten Schluck Saft. Betont gleichgültig sah er Gagh kurz an und wandte sich dann wieder der Mappe zu, die vor ihm lag. Gagh trat an den Tisch, hüstelte und begann gepreßt: »Ich habe mich falsch benommen, Kornej.« Kornej nickte, ohne den Blick zu heben. »Ich bitte Sie um Entschuldigung.« Das Sprechen fiel Gagh unerträglich schwer, die Zunge gehorchte ihm kaum. Er mußte für einen Moment abbrechen und fest die Kiefer zusammenbeißen, um wieder in Ordnung zu kommen. »Selbstverständlich werde ich..., werde ich alles so machen, wie Sie es befehlen. Ich hatte Unrecht.« Kornej seufzte und schob die Mappe von sich. »Ich nehme deine Entschuldigung an...« Seine Finger trommelten auf den Tisch. »Ja. Ich nehme sie an. Freilich bin ich leider mehr schuld als du. Aber setz dich doch, iß...« Gagh setzte sich mißtrauisch, ohne Kornej aus den Augen zu lassen. »Sieh mal, du bist noch jung, dir kann man vieles verzeihen. Aber ich!« Kornej schüttelte die gespreizten Finger in der Luft. »Ich bin ein alter Narr! In meinen Jahren und bei meiner Erfahrung sollte man wissen, daß es Leute gibt, die einen Schicksalsschlag ertragen, und solche, die daran 298
zerbrechen. Den ersteren sagt man die Wahrheit, den zweiten erzählt man Märchen. Also verzeih du mir auch bitte, Gagh. Ich schlage vor, wir versuchen diese Geschichte zu vergessen.« Und er nahm sich wieder seine Papiere vor. Gagh aß ein Ragout aus Fleisch und Gemüse, spürte aber weder dessen Geschmack noch den Geruch; ihm war, als kaute er Watte. Seine Ohren glühten. Wieder war es schiefgegangen . Am liebsten hätte er j etzt laut geschrien oder mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Lange genug habt ihr ein Hündchen aus mir gemacht! Es reicht! Mich kriegt ihr mit Schicksalsschlägen nicht klein, klar? Sind schließlich kein rostiges Eisen:.. Wie Kornej sich das aber auch zurechtgedreht hat, wieder bin ich der absolute Idiot... Gagh goß sich aus einer Korbflasche Kokosmilch ins Glas. Genaugenommen habe ich mich ja wirklich idiotisch verhalten. Er redet mit mir wie mit einem Mann, und ich reagiere wie ein Weib. Dann ist man eben ein Hündchen und Blödian. Aber ich will nicht darüber nachdenken. Ich brauche deine Wahrheit nicht, auch nicht deine Märchen. Das heißt, für die Wahrheit danke ich - nun weiß ich wenigstens, daß ich nichts mehr zu erwarten habe, daß es an der Zeit ist, selbst zu handeln. Kornej stand auf, nahm die Mappe unter den Arm und ging. Sein Gesicht wirkte niedergeschlagen. Gagh, der noch immer aß und trank, blickte in den Garten. Ein großer rötlicher Kater schob sich aus dem dichten Gras auf den Sandweg, in seinen Zähnen zuckte etwas Gefiedertes. Finster rollte er seine wilden Augen nach rechts, nach links, und dann glitt er auf das Haus zu, wahrscheinlich unter die Außentreppe. Nur zu, nur zu, mach deine Sache, Heldenkamerad, dachte Gagh. Ich muß noch die Zeit bis zum Abend totschlagen, danach werde ich mich vielleicht auch meiner Angelegenheit widmen. Er sprang auf, warf das Geschirr in die kleine Luke und schlich auf Zehenspitzen in den bewußten Flur. Es war nichts Neues hinzugekommen. Die Freunde beim Teufel schwiegen. Na gut. Muß ich's eben allein wagen. Dramba... Nein. Auf den Gemeinen Dramba setze ich keine Hoffnung. Schade, natürlich.« Als Soldat ist er nicht mit Gold aufzuwiegen. Aber ich kann 299
ihm nicht recht trauen. Besser also ohne ihn. Er soll nur das tun, was nötig ist, und dann... kommandiere ich ihn ab. Gagh kehrte in sein Zimmer zurück, legte sich auf die Pritsche und verschränkte die Hände unter dem Kopf. »Gemeiner Dramba!« rief er. Dramba kam herein und blieb an der Tür stehen. »Erzähl weiter!« befahl Gagh. Wie es seine Art war, fuhr Dramba mitten im Satz fort. ».. .keinen anderen Ausweg. Der Arzt jedoch war dagegen. Er begründete seinen Protest damit, daß, erstens, ein Wesen, welches nicht der Gattung der humanoiden Sapienten angehöre, nicht zum Objekt eines Kontakts ohne Mittler werden könne...« »Laß das aus«, murmelte Gagh schläfrig. »Zu Befehl, Herr Korporal.« Dramba schwieg kurz und begann diesmal am Satzanfang: »Kontakt nahmen auf: Evariste Kosak, Kommandeur des Raumschiffs, Faina Kaminska, die Chefxenologin, und die Xenologen...« »Laß das aus!« wiederholte Gagh gereizt. »Was passierte weiter?« In Drambas Innerem schnurrte etwas, dann berichtete er, wie in der Kontaktzone unvermittelt Feuer ausgebrochen und gleich darauf der Kontakt abgerissen war, hinter der Flammenwand jemand geschossen hatte und der Navigator der Gruppe, der Semihumanoide Quarr, umgekommen, sein Körper aber nicht gefunden worden war; Evariste Kosak, der Kommandeur der Gruppe, hatte einen schweren Bauchschuß erlitten... Gagh schlummerte ein. Er erwachte jäh, wie von einem nassen Handtuch getroffen: In der Nähe sprach jemand alayisch.~ Sein Herz hämmerte wild, der Kopf schmerzte. Aber es war kein Traum, und Fieber hatte er auch nicht. ».. .Mir ist aufgefallen, daß die meisten seiner Arbeiten in Gigna entstanden sind«, sagte eine unbekannte brüchige Stimme. »Vielleicht hilft Ihnen das weiter?« »Gigna...« Das war Kornej. »Wo liegt das?« »Es ist ein kleiner Kurort... am Westufer des Sagguta..., so eines Sees, wissen Sic...« 300
»Ich weiß. Du meinst...« »Offensichtlich hat er dort oft gearbeitet... Wahrscheinlich bei irgendeinem Mäzen gewohnt...« Gagh rutschte lautlos von seinem Bett und schlich zum Fenster. Auf der Treppe unterhielten sich Kornej und ein etwa sechzehnjähriger Junge, der schmächtig war, weißblond, und der große, ausgeblichene Puppenaugen hatte unverkennbar ein Südalayer. Gagh krallte seine Finger in das Fensterbrett. »Interessant«, sagte Kornej nachdenklich. Er klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Das ist eine Idee, bravo, Dang. Unsere Traumtänzer haben das übersehen...« »Er muß unbedingt gefunden werden, Kornej!« Der Junge preßte seine Fäuste gegen die schmale Brust. »Sie haben doch selbst gesagt, daß sich sogar Ihre Wissenschaftler für ihn interessieren, und jetzt verstehe ich auch, warum... Er hat Ihr Niveau! In gewisser Hinsicht ist er sogar weiter... Sie haben einfach die Pflicht, ihn zu finden!« Kornej seufzte schwer. »Wir tun, was wir können, mein Bester... Aber wenn du wüßtest, wie schwer das ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was bei euch los ist.« »Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte der Junge. Sie schwiegen. »Sie hätten besser mich dort lassen und ihn herausbringen sollen«, sagte der Junge leise und blickte zur Seite. »Auf dich sind wir, zum Glück, gestoßen, auf ihn nicht«, entgegnete Kornej ebenso leise. Er legte dem Jungen wieder seine Hand auf die Schulter. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht.« Der Junge nickte. »Gut.« Kornej seufzte noch einmal. »Na, lassen wir d a s . . . Du willst also direkt nach Obninsk?« »Ja.« »Dort wird es dir besser gefallen. Zumindest wirst du qualifizierte Gesprächspartner haben. Nicht solche Urpragmatiker wie mich.« Der Junge lächelte schwach, und sie drückten einander die Hände, auf alayische Art, über Kreuz. 301
»Nun ja«, sagte Kornej. »Die Null-Kabine bedienen kannst du ja jetzt...« Beide prusteten gleichzeitig los, anscheinend erinnerten sie sich an eine mit der Null-Kabine verbundene Geschichte. »Ja«, sagte der Junge, »das habe ich gelernt... Ich kann e s . . . Aber wissen Sie, Kornej, wir haben beschlossen, bis Antonow zu laufen. Die Jungen wollen mir etwas zeigen, in der Steppe...« »Wo sind sie eigentlich?« Kornej blickte sich um. »Sie werden sicher gleich kommen. Wir haben vereinbart, daß ich schon vorausspaziere... Gehen Sie nur, Kornej, ich habe Sie ohnedies aufgehalten. Und vielen Dank...« Und plötzlich umarmten sie sich - Gagh fuhr überrascht zusammen -, dann schob Kornej den Jungen behutsam von sich und lief ins Haus. Dang ging die Treppe hinunter und den Sandweg entlang, und da sah Gagh, daß er stark hinkte, mit dem rechten Bein. Es war deutlich kürzer und dünner als das linke. Einige Sekunden blickte Gagh ihm nach, dann warf er sich mit einem Ruck über das Fensterbrett, er landete auf allen vieren und tauchte gleich darauf in das Gesträuch. Lautlos folgte er diesem Dang, fühlte bereits instinktive Feindseligkeit, jene an Ekel grenzende Abscheu, die er verkrüppelten, geschädigten, überhaupt nutzlosen Leuten gegenüber immer empfunden hatte. Doch dieser Junge war Alayer, zudem nach Namen und Aussprache Südalayer, also ein Alayer von bester Sorte, und wie er zu ihm auch stand, reden mußte er mit ihm. Es war immerhin eine Chance. Nachdem Gagh abgewartet hatte, bis nur noch das Dach des Hauses hinter den Bäumen hervorsah, näherte er sich dem Fremden. Sie waren bereits in der Steppe. »He, Freund!« rief er leise auf alayisch. Dang drehte sich hastig um. Er schwankte sogar auf seinem entstellten Fuß. Seine Puppenaugen wurden noch größer, und er wich zurück. Alle Farbe schwand aus seinem abgezehrten Gesicht. 302
»Wer bist du?« stieß er hervor. »Bist d u . . . dieser... Sturmkater?« »Ja«, sagte Gagh. »Ich bin Sturmkater. Ich heiße Gagh. Mit wem habe ich die Ehre?« »Dang«, murmelte der Junge nach kurzem Schweigen. »Entschuldige, ich hab's eilig...« Er drehte sich um und ging weiter, noch stärker hinkend als zuvor. Gagh lief ihm nach und packte ihn am Oberarm. »Warte... Was ist denn, willst du nicht mit mir reden?« fragte er verwundert. »Warum?« »Ich hab's eilig.« »Hör auf, du kommst schon zurecht! Das wäre ja noch schöner! Da treffen sich zwei Alayer in dieser Hölle und sollten nicht miteinander reden? Was ist mit dir? Bist du übergeschnappt, oder wie?« Dang versuchte seinen Arm zu befreien, aber woher denn - er war ja ganz schlapp, diese Frühgeburt von einem Südländer. Gagh verstand die Welt nicht mehr. »Hör zu, Freund...«, begann er so eindringlich wie möglich. »Beim Teufel sind deine Freunde!« preßte Dang zwischen den Zähnen hervor und blickte ihn haßerfüllt an. Verblüfft ließ Gagh ihn los. Für einen Augenblick verschlug es ihm sogar die Sprache. Deine Freunde sind beim Teufel... Beim Teufel sind deine Freunde... Deine Freunde sind beim Teufel! Gedemütigt und wütend rang er nach Luft. »Ach, d u . . . « , stöhnte er. »Ach, du käufliches Subjekt!« Erwürgen, in Stücke reißen müßte man diesen Mistkäfer ... »Und du bist hirnverbrannt!« zischte Dang. »Du davongekommener Henker, du Mörder...« Ohne auszuholen, versetzte Gagh ihm einen Schlag in die Herzgrube, und als der Mickerling zusammenklappte, hieb er ihm noch schwungvoll die Faust in den weißblonden Nacken, wobei er das Gesicht mit dem Knie abstützte. 303
Dann beugte er sich über Dang und sah mit herabhängenden Armen zu, wie der Junge sich im trockenen Gras krümmte und Blut schluckte, und er dachte: Da hast du deinen Verbündeten, deinen Freund beim Teufel... Bitternis stieg in ihm auf, am liebsten hätte er geheult. Er kauerte sich hin, hob Dangs Kopf leicht an und drehte das blutbesudelte Gesicht zu sich. »Du Lump..,«, röchelte Dang und fing an zu schluchzen. »Henker... Selbst bis hierher...« »Warum hast du das getan?« fragte jemand finster. Gagh hob die Augen. Zwei Unbekannte standen neben ihm, Hiesige, auch ganz junge Leute. Gagh legte behutsam den Kopf des Südländers ins Gras und stand auf. »Warum...«, murmelte er. »Woher soll ich das wissen?« Er wandte sich um und ging zum Haus. Ohne darauf zu achten, daß er Sträucher niederriß und Blumenbeete zertrat, steuerte er geradewegs die Treppe an, stieg zu seinem Zimmer hinauf, fiel mit dem Gesicht nach unten auf das Bett und lag dort bis zum Abend. Kornej rief ihn zum Essen - er reagierte nicht. Stimmen brabbelten, Musik spielte, dann wurde es still. Die Spatzen hörten auf zu tschilpen und richteten sich im Efeugestrüpp auf die Nacht ein, Zikaden stimmten ihre endlosen Gesänge an, und im Raum wurde es dunkler und dunkler. Und als es ganz dunkel geworden war, erhob sich Gagh, rief Dramba zu sich und schlich mit ihm in den Garten. Sie gingen in den hintersten Winkel, wo die dichtesten Fliederbüsche standen, Gagh setzte sich ins warme Gras und sagte leise: »Gemeiner Dramba, höre mir aufmerksam zu. Erste Frage: Kannst du Metallarbeiten ausführen?«
Kapitel 7 Beim Frühstück wechselte Kornej kein Wort mit mir, er sah mich nicht einmal an. Als wäre ich überhaupt nicht da. Ich kniff natürlich den Schwanz ein, wartete ab, und ich 304
muß bekennen: Mir war mies bis zum Gehtnichtmehr. Bald wollte ich mich reinwaschen, bald am liebsten ins Gras beißen. Na, ich stopfte mich irgendwie voll, ging hoch in mein Zimmer und zog die Uniform über. Das half aber auch nicht. Schien sogar schlimmer zu werden. Ich griff nach dem Porträt Ihrer Hoheit, doch es glitt mir aus den Händen und rutschte unter das Bett - ich suchte nicht mal danach. Ich setzte mich ans Fenster, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und blickte in den Garten - sah aber nichts, wollte auch nichts sehen. Nach Hause wollte ich. Einfach nach Hause, wo alles anders ist als hier. Was habe ich nur für ein Hundeschicksal! Habe doch nichts im Leben gesehen. Das heißt, gesehen hab ich natürlich viel, ein anderer würde nicht mal so viel träumen, wie ich wirklich gesehen habe, aber Freude habe ich bei alledem nicht gehabt. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie der Herzog mir Tabak geschenkt hatte, ließ es aber dann sein, selbst das nützte nichts. Anstelle seines Gesichts erschien immer wieder diese halbe Portion vor mir und die magere, blutige Visage. Und statt der Stimme Seiner Hoheit hörte ich eine ganz andere, die ständig wiederholte: »Warum hast du das getan? Warum?« Woher soll ich denn wissen, warum! Plötzlich sprang die Tür auf und Kornej kam herein, wie eine Gewitterwolke, mit blitzenden Augen. Ohne ein Wort zu sagen, schleuderte er mir einen Packen Blätter hin, fast in mein Gesicht (und das Kornej! Er schleuderte sie!); dann wandte er sich ab und ging, nach wie vor stumm, hinaus. Und knallte die Tür. Ich hätte fast losgejault und gab diesen Blättern einen Tritt, daß sie durchs ganze Zimmer flogen. Wieder guckte ich in den Garten, aber mir wurde schwarz vor Augen, ich konnte nicht mehr. Ich angelte mir das Blatt, das am nächsten lag, begann zu lesen. Danach ein anderes, ein drittes... Ich sammelte sie alle auf, sortierte sie und las sie noch einmal. Das waren alles Berichte. Von Kornejs Leuten, die anscheinend bei uns eingeschleust worden waren und dort gearbeitet hatten, der eine als Hauswart, der andere als Friseur, noch ein anderer als General. Und hier hatten sie 305
also Kornej ihre Beobachtungen mitgeteilt. Saubere Arbeit, nichts zu meckern. Professionelle. Da stand auch etwas über dieses Bürschchen, über Dang. Gelebt hatte er, wie ich, in der Hauptstadt, sogar in meiner Nähe, gegenüber vom Tierpark. Sein Vater war schon beim Ersten Tara-Zwischenfall umgekommen. Er war Wissenschaftler gewesen, hatte im Tara-Delta irgendwelche wissenschaftlichen Fische gefangen, na, und dort hatte es ihn zufällig erwischt. Dang war mit seiner Mutter allein geblieben. Wie ich. Nur war seine Mutter gebildet gewesen, eine Lehrerin. Musik hatte sie unterrichtet. Der Junge war übrigens auch ein kluger Kopf. Hatte allerlei Auszeichnungen in der Schule eingeheimst, meistens in Mathe. Er hatte da viel los, etwa wie ich in technischen Dingen, nur eben noch mehr. Gleich zu Beginn dieses Krieges geriet er in einen der ersten Bombenangriffe, eine Rippe wurde ihm gebrochen und das rechte Bein unheilbar verstümmelt. Und während ich also Arichada einnahm, Revolten niederschlug und im Tara-Delta Landungsoperationen mitmachte , lag er rund um die Uhr zu Hause. Ich werfe ihm das nicht vor, er hat sich dort womöglich mehr gequält als ich: Zweimal wurde ihr Block von Bomben getroffen, er hatte eine Gasvergiftung, und später räumte man das ganze Gebäude, nur er und seine Mutter blieben in der Ruine - keine Ahnung, warum sie nicht umziehen wollte. Sie ging dann Tag für Tag zur Arbeit, nicht mehr in die Musikschule, sondern in die Munitionsfabrik. Manchmal blieb sie einen Tag weg, manchmal zwei. Läßt ihm irgendwelches Essen da, wickelt die Suppe in eine Wattejacke und stellt sie so hin, daß er rankommt - er selber konnte j a fast nicht aufstehen und geht. Na, und einmal kam sie nicht wieder. Keiner weiß, was mit ihr passiert ist. Dieser Dang war dicht vorm Abkratzen, als Kornejs Aufklärer ihn zufällig fand... Alles in allem natürlich eine gruslige Geschichte. Mitten in der Hauptstadt kratzt ein Junge fast ab vor Hunger und Kälte, dazu ein großes, sogar bedeutendes mathematisches Talent, und keinen interessiert das. Er wäre verreckt wie ein Hund unterm Zaun, wenn nicht dieser Typ gekommen wäre. Er kam einmal, kam ein zweites Mal, brachte ihm 306
Essen. Der Bursche aber trieb ihn in die Enge! Der Aufklärer sperrte nur den Mund auf. Dang stellte ihm eine Art Ultimatum: Entweder ihr holt mich hier raus - also in eure Welt -, oder ich knüpfe mich auf. Da, sagt er, hängt eine Schlinge, seht ihr? Na, Kornej erteilte natürlich die entsprechende Instruktion... So war die Geschichte. Dort stand noch alles mögliche. Über den Herzog und über den Einäugigen Fuchs und über den Herrn Feldmarschall Bragg, über alle stand dort was. Wie sie ihre Politik machen, was sie in ihrer Freizeit treiben... Ab und zu unterbrach ich meine Lektüre und kaute an meinen Fingernägeln, um mich zu beruhigen. Auch über Seine Hoheit war dort was zu lesen. Denn sogar als Hofmarschall im Schloß diente einer von Kornejs Männern, so daß alles hieb- und stichfest ist. Sie haben diese Materialien ja nicht eigens für mich zusammengebastelt, nein, Kornej hat sie aus einem Vorgang rausgerissen, ohne Rücksicht auf Verluste. Na, von mir aus. Ich legte die Blätter zu einem ordentlichen Stapel zusammen, hübsch Kante auf Kante, wog sie in der Hand und verstreute sie wieder im Zimmer. Wenn ich ehrlich war, blieb mir nur eins: eine Kugel in die Stirn. Mein Rückgrat hatten sie mir gebrochen, so war das. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Die ganze Welt hatten sie mir auf den Kopf gestellt. Wie ich weiterleben sollte, wußte ich nicht. Wozu ich weiterleben sollte, war mir auch nebelhaft. Und wie ich Kornej noch in die Augen sehen sollte, konnte ich mir erst recht nicht vorstellen. Ach, denke ich, jetzt einen Anlauf durchs ganze Zimmer, die Hände an die Hosennaht und - ab durchs Fenster, mit der Rübe zuerst. Dann hat alles ein Ende, immerhin ist's die zweite Etage. Aber gerade in diesem Moment rückte mir Dramba auf die Pelle, verlangte die nächstfällige Zeichnung. Er lenkte mich ab. Und als er weg war, überlegte ich schon ruhiger. Eine ganze Stunde hockte ich so und kaute an meinen Fingernägeln, dann ging ich und badete ausgiebig. Und ich fühlte mich merkwürdig erleichtert. Als wäre eine schmerzhafte Blase, die in meiner Seele gewachsen und gewachsen war, jetzt geplatzt. Als hätte ich Schulden beglichen. Mich mit meiner Verzweiflung bei 307
irgendwem losgekauft. Ich weiß nicht, bei wem. Ich weiß auch nicht, von welchem Vergehen. Durch meinen Kopf schwirrt nur eins: Heim, Jungs! Jeder in sein Zuhause! Alle Schulden, die ich noch habe, habe ich dort, zu Hause. Beim Mittagessen fragt mich Kornej, streng und unfreundlich, ohne aufzusehen: »Hast du's gelesen?« »Ja.« »Und begriffen?« »Ja.« Damit war unser Gespräch beendet. Nach dem Mittagessen blickte ich zu Dramba hinein. Mein Gemeiner rackerte aus Leibeskräften, daß die Fetzen flogen. Er war voller Metallstaub, sein Öl hatte sich erhitzt, und die Arme rotierten nur so. Das reinste Vergnügen, ihm zuzusehen. Die Arbeit ging ihm flott von der Hand, einfach ausgezeichnet. Und mir blieb jetzt nur eins: zu warten. Warten mußte ich allerdings nicht lange, an die zwei Tage. Als das Maschinchen fertig war, nahm ich es auseinander, packte es in einen Sack und trug es zu den Teichen. Dort setzte ich es wieder zusammen und erprobte es, mit einem Stoßgebet. War gar nicht schlecht, das Ding, es hämmerte - spuckte dabei zwar ein bißchen, war aber trotzdem besser als die unserer Rebellen, die ihre Donnerbüchsen überhaupt nur aus Stücken von Wasserleitungsrohren gemacht hatten. Na, ich ging zurück und verstaute es mitsamt dem Sack in der eisernen Truhe. Ich war bereit. Und genau an dem Abend - ich war schon auf Schlafen eingestellt - öffnet sich die Tür, und diese Frau steht auf meiner Schwelle. Gott sei Dank war ich noch nicht ausgezogen - ich saß in Uniform auf meinem Bett und streifte die Stiefel ab. Den rechten hatte ich schon aus, knöpfte mir gerade den linken vor, blicke auf - und sie steht da. Ich hatte nicht mal Zeit zu denken, ich sah sie nur, sprang auf und nahm Haltung an, so wie ich war, mit nur einem Stiefel an den Füßen. Schön war sie, Jungs, beklemmend schön; bei uns habe ich nie solche gesehn und werde sie auch sicherlich nie zu sehen bekommen. »Verzeihen Sie«, sagt sie und lächelt. »Ich wußte nicht, daß Sie hier sind. Ich suche Kornej.« 308
Ich stehe da wie ein Holzklotz, verschlinge sie mit den Augen und nehme dennoch nichts wahr. Ich bin verdattert. Sie läßt den Blick durch das Zimmer schweifen, mustert mich - unverwandt, aufmerksam und nun ganz ernst - na, sie merkt also, daß sie von mir nichts Gescheites erfahren wird, sie nickt, geht und schließt ganz leise hinter sich die Tür. Und ob ihr's glaubt oder nicht, Jungs, das Zimmer erschien mir gleich dunkler. Lange stand ich so, mit einem Stiefel. Meine Gedanken verwirrten sich, ich begriff überhaupt nichts mehr. Keine Ahnung, woran das alles gelegen hatte: ob nun das Licht in dieser Minute irgendwie besonders oder die Minute an sich außergewöhnlich gewesen war - jedenfalls wälzte ich mich die halbe Nacht herum und fand nicht zu mir. Ich erinnerte mich daran, wie sie dagestanden, wie sie geblickt und was sie gesagt hatte. Natürlich erriet ich, daß sie gelogen und keineswegs Kornej gesucht hatte (ausgerechnet hier!) - s i e war extra zu mir hereingekommen, um mich zu begutachten. Na, meinetwegen. Ein anderer Gedanke hat mich in tödliche Schwermut gestürzt: Mir ist klargeworden, daß ich in diesem Moment ein winziges Teilchen der wahren, großen Welt dieser Menschen sehen durfte. Kornej hatte mich in sie ja nicht hineingelassen, und wahrscheinlich hatte er recht damit getan. Ich hätte mir dort wohl 'nen Strick genommen, weil es unmöglich ist, so etwas immerfort zu sehen und gleichzeitig zu wissen, daß man nie so sein wird, wie sie sind, und nie das haben wird, was sie haben, und unter ihnen, wie es im Heiligen Buch heißt, »abstoßend, ekelerregend und faulig« ist und bis ans Ende seiner Tage bleiben wird... Jedenfalls schlief ich schlecht in dieser Nacht, Jungs, man kann sagen, ich schlief überhaupt nicht. Und kaum daß es hell wurde, schleppte ich mich hinaus in den Garten und legte mich zwischen die Sträucher, an meinen üblichen Beobachtungspunkt. Ich wollte sie noch einmal sehen, herausbekommen, ja verstehen, womit sie mich gestern so getroffen hatte. Denn ich hatte sie doch früher schon gesehen, auch aus diesen Büschen... Als sie nun den Weg zur Null-Kabine entlangkamen, 309
nebeneinander, ohne sich zu berühren, hätte ich fast geheult. Wieder fand ich nichts Besonderes an ihr. Klar, eine schöne Frau, unbestreitbar - aber damit hatte es sich! Sie war wie erloschen. Wie entseelt. Ihre blauen Augen blickten leer, und um den Mund standen Falten. Sie gingen schweigend an mir vorüber, und erst unmittelbar an der Kabine sagte sie, nachdem sie stehengeblieben war: »Weißt du, er hat die Augen eines Mörders...« »Er ist ja ein Mörder«, antwortete Kornej leise. »Ein Profi...« »Mein Armer.« Sie streichelte seine Wange. »Wenn ich nur bei dir bleiben könnte... Aber ich kann es wirklich nicht. Hier wird mir übel...« Ich hörte nicht länger zu. Sie hatten über mich gesprochen. Ich schlich in meine Kammer, sah in den Spiegel. Ganz normale Augen. Ich weiß nicht, was sie wollte. Aber was Kornej gesagt hatte, stimmte: Ich war ein Profi. Dafür mußte ich mich auch nicht schämen! Was man mir beigebracht hat, beherrsche ich eben... Und damit tat ich diese Geschichte ab. Ihr habt eures, ich habe meins. Und meine Sache ist jetzt abzuwarten. Wie ich die restlichen drei Tage zubrachte, ist mir entfallen. Ich aß, schlief, badete. Schlief wieder. Mit Kornej redete ich selten. Nicht, daß er mir den bewußten Vorfall nicht verziehen hätte oder etwas in der Art, nein. Er hatte einfach alle Hände voll zu tun. Absolut. Er magerte sogar ab. Wieder waren oft Leute bei uns, sie rannten uns fast die Tür ein. Ihr werdet's nicht glauben, da kam ein Luftschiff angeflogen, hing einen ganzen Tag über dem Garten, und gegen Abend hagelten sie daraus herab - Massen von Menschen . . . Was aber ungewöhnlich war: Es erschien kein einziges »Phantom«. Ich hatte längst schon gemerkt, daß die »Phantome« immer spätabends oder am frühen Morgen landen, warum, weiß ich nicht. Jedenfalls war ich nun tagsüber wie im Tran, ich achtete auf gar nichts, doch sobald die Sonne sank und die Sterne am Himmel hervortraten, hockte ich am Fenster, mein Maschinellen auf den Knien. Aber es kamen keine »Phantome«, nicht ums Verrecken! Ich warte, und sie kommen nicht. Ehrlich, ich wurde schon 310
panisch. Steckt Absicht dahinter? denke ich. Hat er auch hier alles auf hundert Jahre vorausberechnet? In dieser ganzen Zeit gab es nur einen interessanten Zwischenfall. Am letzten Tag. Ich döse gerade vor meiner Nachtwache, da weckt mich plötzlich Kornej. »Was legst du dich am hellichten Tag aufs Ohr?« fragt er mich unzufrieden, aber ich sehe, sein Unmut ist gespielt. »Es ist heiß«, sage ich. »Mich hat's umgehauen.« Schlaftrunken, wie ich war, hatte ich natürlich Unsinn geschwatzt. Gerade an dem Tag hatte es seit dem Morgen genieselt. »Ach, ich habe die Zügel schießen lassen«, seufzt er. »Verwöhnt habe ich dich. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, und du nutzt das aus... Gehen wir. Ich brauche dich.« Das ist 'ne Nummer, denke ich. Er braucht mich. Na, selbstredend springe ich auf, bringe das Bett in Ordnung und greife nach den Sandalen - und da überrascht er mich. »Nein«, sagt er, »das laß mal. Zieh deine Uniform an. Und bring dich in Ordnung, wie sich's gehört..., kämm dich. Siehst aus wie der letzte Strolch, man muß sich ja schämen...« Na, Jungs, denke ich, jetzt brennt das Meer, die Wälder fließen, und die Maus versinkt im Stein. Er verlangt die Uniform! Und mich packte solche Neugier - ich konnte kaum noch. Ich zieh mich also an, schnüre den Riemen, so eng es geht, kämme mich. Knalle die Hacken zusammen. Diener Seiner Exzellenz. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, grinste, und dann gingen wir durchs ganze Haus zu seinem Arbeitszimmer. Er tritt als erster ein, macht einen Schritt zur Seite und sagt in exaktem Alayisch: »Gestatten Sie vorzustellen, Herr Oberpanzermeister: Gagh, Sturmkater Seiner Hoheit, Offiziersschüler im dritten Studienjahr an der Hauptstädtischen Sonderschule.« Ich gucke hin, und mir wird schwarz vor Augen, die Beine flattern. Wie ein Geist lümmelt direkt vor mir ein Panzeroffizier im Sessel, ein Blauer Drache, ein lebens311
großes »Feuer auf Rädern«, in Felddienstuniform mit allen Rangabzeichen. Er sitzt da mit übereinandergeschlagenen Beinen, seine Schnürstiefel glänzen und zeigen demonstrativ die aus der Sohle hervorstehenden Nägel, dazu trägt er eine braune Lederjacke mit Brandflecken und von der Schulter die blaue Schnur - er ist also sogar ein Wolf... Auch seine Visage ist die eines Wolfs, die angesengte, teils transplantierte Haut glänzt, der Kopf weist, kahlgeschoren, bräunliche Narben von Verbrennungen auf, und die wimpernlosen Augen erinnern an Sehschlitze. Meine Hände fuhren von selbst an die Schenkel, Jungs, und die Absätze schlugen so zusammen, wie sie es hier noch nie getan hatten. »Rühren, Offiziersschüler«, krächzt er, nimmt sein Zigarillo vom Aschenbecher und zieht daran, ohne die Sehschlitze von mir zu wenden. Ich ließ die Arme hängen. »Einige Fragen, Offiziersschüler.« Er legte das Zigarillo zurück auf den Rand des Aschers. »Zu Befehl, Herr Oberpanzermeister!« Nicht ich bin es, der das sagt - mein Mund skandiert die Worte, ganz von selbst. Ich aber denke unterdessen: Was ist bloß los, Jungs? Was geht hier vor? Ich steige nicht dahinter... Und er fährt fort, undeutlich, wobei er die Hälfte verschluckt - ich kenne ja deren Art zu reden: »Ich habe gehört, Seine Hoheit haben dich... ä h . . . eigenhändig mit Kautabak geehrt.« »Jawohl, Herr Oberpanzermeister!« »Und für welche... äh.. .Verdienste?« »Als Vertreter des Studienjahres nach der Einnahme Arihadas, Herr Oberpanzermeister!« Sein Gesicht bleibt gleichgültig, leblos. Was kümmert ihn Arihada? Wieder nahm er sein Zigarillo, betrachtete das glimmende Ende, legte es in den Aschenbecher zurück. »Du wurdest also ausgezeichnet... Und hattest somit später... ä h . . . Wachdienst im Hauptquartier Seiner Hoheit...« »Eine Woche lang, Herr Oberpanzermeister!« schrie 312
mein Mund, doch mein Kopf dachte: Was rückst du mir auf den Pelz? Was willst du von mir? Sein Körper schnellte nach vorn. »Hast du Marschall Nagon-Gigh im Hauptquartier gesehen?« »Jawohl, Herr Oberpanzermeister!« Natternmilch! So ein angesengtes Herrchen! Ich habe mit General Fragga persönlich gesprochen, dem du nicht das Wasser reichen könntest, und selbst er hat mir schon bei meiner zweiten Antwort erlaubt, den Dienstgrad wegzulassen. Aber dem hier klingt's offenbar wie Musik in den Ohren: »Herr Oberpanzermeister!« Ob er gerade erst befördert worden ist? Oder einer von diesen Kriechern, hat sich lieb Kind gemacht... und kommt nun gar nicht mehr zu sich. »Wenn du j etzt den Marschall treffen würdest - könntest du ihn erkennen?« Das ist 'ne Frage! Der Marschall war so ein Kleiner, Schwerfälliger, seine Augen tränten die ganze Zeit. Aber das kam vom Schnupfen. Ja, wenn ihm, sagen wir, ein Auge fehlen würde oder ein O h r . . . , aber nein - ein normaler Marschall. Nichts Besonderes. Im Hauptquartier gab's viele von der Sorte. Fragga war noch einer von den Kampferprobten . . . »Das kann ich nicht wissen«, sagte ich. Er lehnte sich im Sessel zurück und griff wieder nach seinem Zigarillo. Es schmeckte ihm nicht. Er hielt es mehr in den Händen oder roch daran, als daß er zog. Soll er das Rauchen doch lassen... So ein kräftiger Stier, und ich vertrage sogar M o o s . . . Er klappte seine Stelzbeine unter, stand auf und ging zum-Fenster, stellte sich mit dem Rücken zu mir. Ich sehe den blauen Dunst hinter seiner Schulter aufsteigen. Er überlegt. Ein Denker! »Na gut«, nuschelt er kaum verständlich, es hört sich an wie »nägätt«. »Hast du nicht einen älteren Bruder bei unseren Blauen Panzertruppen, Offiziersschüler?« Nicht einmal seine Fratze hat er mir zugewandt. Nur das Ohr ein bißchen in meine Richtung gedreht. Übrigens hatte 313
ich drei Brüder..., hätte ich haben können, sie sind alle im Säuglingsalter gestorben. Und eine Wut packte mich! Auf alle und auf alles gleichzeitig. »Was soll ich für Brüder haben?« schreie ich. »Natternmilch! Woher sollen denn unsere Brüder kommen? Wir leben ja selber kaum noch...« Er fuhr zu mir herum wie von der Tarantel gestochen. Fixierte mich. Der reinste Panzerwagen! Und mir war, als säße ich im Schützengraben... Nach alter Gewohnheit überlief mich sogar eine Gänsehaut, aber dann denke ich: Haut mir doch ab mit eurem Glotzen, das ist auch so einer, dieser Oberpanzermeister der aufgeriebenen A r m e e . . . Selber hat er sich bestimmt verdrückt, gleich bis hierher, ist vor seinen eigenen Soldaten getürmt... Und ich stelle frech meinen rechten Fuß zur Seite, lege die Hände auf den Rükken und blicke ihm direkt in seine Sehschlitze. Bestimmt eine halbe Minute schwieg er, dann krächzte er leise: »Wie stehst du denn da, Offiziersschüler?« Ich hätte am liebsten ausgespuckt, aber ich beherrschte mich und sagte nur: »Wieso? Ich stehe, wie ich stehe, ich fall schon nicht um.« Und da rückte er durch das ganze Zimmer auf mich zu. Langsam, fürchterlich. Und ich weiß nicht, womit das alles geendet hätte, doch plötzlich meldete sich Kornej aus der Ecke, wo er die ganze Zeit über seinen Papieren gesessen hatte: »Panzermeister, mein Freund, etwas ruhiger... Lassen Sie sich nicht hinreißen.« Und Schluß. Ein Krampf überlief die versengte Visage, und der Herr Oberpanzermeister schwenkte, bevor er mich erreichte, ab zu seinem Sessel. Er war fertig. Hatte die Lust verloren, der Blaue Drache. Bist hier schließlich nicht auf der Kommandantur. Und ich grinste, so frech ich konnte, über mein ganzes starres Gesicht. Doch dabei denke ich: Wenn nun aber Kornej nicht gewesen wäre? Für einen Moment den Raum verlassen gehabt hätte? Dann hätte er mich geschlagen, und ich hätte ihn umgebracht. Mit bloßen Händen. Der Oberpanzermeister ließ sich in den Sessel fallen, drückte endlich dieses Zigarillo im Aschenbecher aus und 314
sagte zu Kornej: »Es ist doch sehr heiß hier, Herr Korn e j . . . Ich hätte jetzt nichts gegen eine... ä h . . . Erfrischung.« »Saft?« schlägt Kornej vor. »Saft? Ä h . . . nein. Wenn möglich, etwas Stärkeres.« »Wein?« »Ja, bitte.« Mich beachtet er nicht mehr. Ignoriert rfiich. Nimmt das Weinglas entgegen und stippt seine angekohlte Nase hinein. Schlürft. Und ich bin perplex. Was heißt das nun wieder? Gewiß, alles mögliche kommt vor... zumal bei einer Niederlage, der Demoralisierung... Doch nein! Er ist ein Blauer Drache! Ein echter! Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Schnur... der Wein... Natternmilch,,der ist doch falsch! Kornej sagt: »Du willst nichts trinken, Gagh?« »Nein«, erwidere ich. »Ich trinke nicht. Trinke selber nicht und rate auch diesem da, es bleibenzulassen..., diesem Herrn Oberpanzermeister.« Und mich packt eine so grimmige Fröhlichkeit, daß ich fast laut her ausgelacht hätte. Die beiden starren mich an. Ich trete zu dem angeschmorten Herrn, nehme ihm das Glas aus der Hand und sage - ganz sanft, auf die väterliche Art belehre ich ihn: »Die Blauen Drachen«, sage ich, »trinken keinen Wein. Sie trinken überhaupt keinen Alkohol. Sie haben einen Eid geleistet, Herr Oberpanzermeister: Keinen Tropfen Alkohol, solange auch nur eine gestreifte Ratte mit ihrem Atem die Welt verpestet. Das als erstes. Und nun zur Schnur...«Ich greife nach diesem Symbol für Tapferkeit im Kampf, knöpfe es von der Jacke los und lasse es den Ärmel hinunterbaumeln. »Die Tapferkeitsschnur haben Sie nur nach dem Reglement am dritten Knopf von oben zu befestigen. In Wahrheit knöpft kein echter Drache sie an. Sie sitzen sogar auf der Hauptwache, ohne sie festzumachen. Das also zum zweiten!« Ach, war mir das ein Fest! Wie leicht und wunderbar ich mich fühlte. Meine Blicke wanderten noch einmal über sie hin. Sie lauschten mir, als wäre ich der Prophet Gagura persönlich, der aus seiner Grube die Wahrheit des Herrn ver315
kündet. Dann ging ich zur Tür. Auf der Schwelle blieb ich stehen und ergänzte zu guter Letzt: »Und im Gespräch mit Untergeordneten, Herr Oberpanzermeister, lassen Sie sich nicht immerfort mit vollem Titel anreden. Dieser Fehler ist zwar nicht schlimm, nur - achten wird man Sie nicht! >Das ist kein Frontkämpfer<, wird man sagen, >sondern ein Etappenhengst in der Uniform eines Frontkämpfers^ Da nützt Ihnen auch Ihr angekohltes Gesicht nichts. Brandwunden holt man sich sonstwo...« Und ich verließ sie. Setzte mich ans Fenster, verschränkte die Hände auf den Knien - ich fühlte mich wohl und war ruhig, als hätte ich eine große Tat vollbracht. Noch einmal ließ ich alles an mir vorüberziehen. Wie Kornej zuerst nur die Lider auf- und zugeklappt hatte, dann aber ganz Ohr wurde und mit vorgerecktem Hals jedes meiner Worte einfing. Und diesem Pseudo-Panzermeister war vor Anspannung sogar der Handschuh geplatzt... Doch ich vergnügte mich nicht lange auf diese Weise, weil mir sehr bald der Gedanke kam, daß sich eigentlich ziemlicher Quark ergeben hatte, nämlich: Sie würden einen Spion zu uns schicken, und ich hatte diesem Typ geholfen. Ihn sozusagen beraten. Wie der letzte bestechliche Lump. Und ich habe mich noch gefreut, ich Idiot! Hab ihn entlarvt. Dort hätten sie ihn schnappen und an die Wand stellen sollen, und Feierabend... Feierabend womit? Nein, das ist alles nicht so einfach. Weshalb bin ich denn in Harnisch geraten? Weil dieser Drache mich gereizt hat. Mich hob's aus, wenn ich ihn nur ansah. Früher hätte es mich nicht ausgehoben, früher wäre ich vor ihm auf die Knie gefallen, vor diesem Heldenkameraden, hätte stolz seine Stiefel geputzt und mich noch damit gebrüstet... Weißt du, wem ich die Stiefel geputzt habe? Einem Oberpanzermeister! Mit Schnur!... Nein, nein, ich muß mir noch über einiges klarwerden... So saß ich bis zur Dämmerung, grübelte und grübelte, und dann kam Kornej und legte mir die Hand auf die Schulter, genau wie diesem... Dang. »Mein Freund«, sagt er, »ich danke dir. Mir war doch gleich so, daß du was bemerken könntest. Weißt du, wir hatten wenig Zeit, ihn vorzubereiten... Ein Mann muß ge316
rettet werden. Einer von euch, ein bedeutender Wissenschaftler. Die Vermutung liegt nahe, daß er sich am Westufer des Sagguta-Sees« verborgen hält, aber dort hat sich eine Panzereinheit verschanzt, und sie lassen keinen durch, nur ihre eigenen Leute. Nimm also an, daß du heute zwei Menschen das Leben gerettet hast. Zwei guten Menschen. Einem von euch und einem von uns.« Alles mögliche hat er mir noch erzählt. Mich regelrecht beweihräuchert. Ich wußte schon nicht mehr, wohin ich gucken sollte, denn als ich sie sozusagen beraten hatte, war mir ja nicht mal im Traum eingefallen, daß ich damit jemand retten würde. Ich war nur schadenfroh gewesen. Aber lassen wir das. »Wann reist er denn ab?« frage ich. Ich fragte es einfach so, um Kornejs Redestrom ein bißchen zu bremsen. »Morgen früh«, antwortet er. »Um fünf Uhr.« Und da geht mir ein Licht auf. Hehe, denke ich. Jetzt ist es soweit. »Von hier?« frage ich. Schon nicht mehr zufällig. »Ja«, sagt er. »Von dieser Wiese.« So. »Ich sollte ihn mit verabschieden, ihn mir ein letztes Mal ansehen«, schlage ich vor. »Vielleicht fällt mir noch was auf...« Kornej lacht, tätschelt wieder meine Schulter. »Wie du willst«, sagt er. »Aber besser wäre es für dich, zu schlafen. Bist neuerdings völlig aus dem Rhythmus gekommen. Gehen wir zum Abendessen, und dann leg dich hin.« Na, wir gingen essen. Kornej war richtig aufgekratzt, so hatte ich ihn lange nicht erlebt. Er erzählte allerlei komische Histörchen aus seiner Zeit als Bankkurier in unserer Hauptstadt: Wie Gangster ihn hatten anwerben wollen, und was dabei herausgekommen war. Er fragte mich, wo Dramba stecke, warum man ihn seit Tagen nicht zu Gesicht bekomme. Ich antwortete ehrlich, daß Dramba für mich Befestigungen an den Teichen errichte. »Befestigungen? Das ist gut«, sagte er ernst. »Im Notfall werden wir also einen Platz haben, wo wir in Sicherheit abwarten können... Wenn ich erst etwas Luft habe, werden 317
wir noch ein richtiges Kampf spiel veranstalten, ich muß sowieso mal die Jungs trainieren...« Na, wir unterhielten uns über den Drill und über Manöver, mir fällt auf, wie freundlich und entgegenkommend er ist, und ich denke mir: Ob ich ihn noch einmal bitte? Im Guten? Daß er mich nach Hause läßt? Doch nein, er wird mich nicht lassen. Er läßt mich erst fort, wenn er sicher sein kann, daß ich ungefährlich bin. Wie aber soll ich ihn davon überzeugen, wenn ich's selber nicht weiß? Und auch nicht erfahren werde, solange ich nicht dort bin... Wir verabschiedeten uns voneinander. Er wünschte mir eine gute Nacht, und ich ging in mein Zimmer. Natürlich schlief ich nicht. Legte mich bloß ein bißchen lang und duselte mit einem Auge. Bereits um drei stand ich auf, machte mich langsam bereit. Ich tat es so gründlich, wie ich mich auf kein Spähtruppunternehmen je vorbereitet hatte: Mein Leben mußte sich an diesem Morgen entscheiden, Jungs. Um vier Uhr war ich im Garten und legte mich auf die Lauer. Die Zeit schlich dahin, wie immer in solchen Fällen. Doch ich war ruhig. Ich wußte, daß ich einfach gewinnen mußte, daß es anders nicht sein konnte. Und die Zeit... Was spielte es für eine Rolle, ob sie langsam oder schnell dahinfloß, letzten Endes verstreicht sie immer. Genau um fünf, der Tau war gerade gefallen, hörte ich direkt über mir das bekannte heisere Mauzen, schlug heißer Wind durch die Sträucher, flammte über der Lichtung das erste Feuer auf-und dann stand es da. Neben mir. So nahe hatte ich es noch nie gesehen. Riesengroß, warm, lebendig, die Flanken anscheinend sogar fellbedeckt, und sie bewegen sich deutlich, pulsieren, atmen... Weiß der Teufel, was das für ein Apparat ist. So was gibt's doch gar nicht! Ich veränderte meine Position, näher zum Weg. Ich blicke auf, und da kommen sie. Vornweg mein Blauer Drache, seine Schnur baumelt, wie es sein muß, in der Hand hält er den Offiziersstock. Das haben sie gut durchdacht: Hat bei denen einer die Schnur, kriegt er in jedem Fall auch den Stock, das hatte ich selber vergessen. Mein Drache ist in Ordnung. Kornej folgt ihm, und beide schwei318
gen. Sicher ist schon alles gesagt, und es bleibt nur noch, die Hände zu schütteln oder, wie es hier Sitte ist, einander zu umarmen und vor der Reise noch einmal zu küssen. Ich wartete, bis sie dicht vor dem »Phantom« waren - die Luke öffnete sich schmatzend -, und da trat ich hinter den Sträuchern hervor und richtete mein Maschinchen auf sie. »Stehenbleiben! Keine Bewegung!« Sie fuhren gleichzeitig zu mir herum und erstarrten. Ich hatte die Knie leicht eingeknickt, den Lauf der Maschinenpistole angehoben - für den Fall, daß einer von ihnen womöglich über die zehn Meter hinweg, die uns trennten, einen Satz machte; ich hätte ihn in der Luft empfangen können. »Ich will nach Hause, Kornej«, sagte ich. »Und Sie nehmen mich jetzt dorthin mit. Ohne Diskussion und sofort!« In der Morgendämmerung erschienen ihre Gesichter sehr ruhig, nichts war ihnen abzulesen als Aufmerksamkeit und die Erwartung, was ich noch sagen würde. Aber am Rande meines Bewußtseins vermerkte ich, daß Kornej Kornej und der Blaue Drache der Blaue Drache geblieben war, und beide waren gefährlich. Sehr gefährlich! »Entweder wir reisen zusammen«, fuhr ich fort, »oder es reist niemand. Ich schieße Sie beide nieder und mich dazu.« Ich verstummte. Wartete. Hatte nichts mehr zu sagen. Sie schwiegen auch. Dann drehte der Blaue Drache seinen Kopf ein wenig in Kornejs Richtung. »Dieser Bengel . . . äh ... ist völlig außer sich. Vielleicht sollte ich ihn mitnehmen? Ich brauche ja einen ... äh ... Burschen.« »Er eignet sich nicht als Offiziersbursche«, erwiderte Kornej, und auf seinem Gesicht erschien unvermittelt wieder dieser Ausdruck tödlicher Schwermut, der mich schon im Lazarett bestürzt hatte. Ich verlor sogar die Fassung. »Ich muß nach Hause!« sagte ich. Als bäte ich um Verzeihung. Aber Kornej war schon wieder der alte. »Kater«, murmelte er. »Ach, du, Katertier ... Mäuseschreck!« 319
Kapitel 8 Gagh zwängte sich durch die letzten Büsche und ging auf den Weg zu. Er blickte sich um. Hinter dem Wirrwarr der nassen Zweige war nichts mehr zu erkennen. Es goß in Strömen. Gestank wehte aus dem Straßengraben, wo in der tonigen Jauche Haufen übelriechender schwarzer Lumpen moderten. Etwa zwanzig Schritte entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, stand, seitlich in den Morast gerutscht, ein ausgebrannter Panzerwagen - das kupferne Rohr des Flammenwerfers zielte sinnlos auf die niedrig hängenden Wolken. Gagh sprang über den Graben und ging am Straßenrand auf die Stadt zu. Eine Straße im eigentlichen Sinn war es freilich nicht, eher ein Fluß aus Tonschlamm. Und durch diese Brühe krochen, ihm entgegen, mit entkräfteten Ochsen bespannte wacklige Leiterwagen, deren große Holzräder immer wieder steckenblieben, und bis an die Augen eingehüllte Frauen, die alle Augenblicke ausrutschten, schlugen weinend, unflätig schimpfend und blindwütig auf die knochigen Flanken der Zugtiere ein, und begraben zwischen nassen Bündeln und hervorstehenden Stuhl- und Tischbeinen, drängten sich blasse, skrofulöse Kinder auf den Wagen wie die Äffchen im Regen; es waren viele, Dutzende je Fuhre, und in diesem ganzen kläglichen Troß gab es keinen einzigen Mann... An jedem seiner Stiefel klebte schon ein Pud Modder, der Regen hatte die Jacke durchweicht, troff ihm in den Kragen, rann über sein Gesicht. Gagh ging und ging, und ihm entgegen zogen die Flüchtlinge, sie krümmten sich unter der Last feuchter Ballen und zerschrammter Koffer, schoben Karren mit erbärmlicher Habe vor sich her, schweigend, mit letzter Kraft, lange schon, ohne Rast. Und ein Greis mit zerbrochener Krücke auf den Knien saß direkt im Schlamm und wiederholte monoton, ohne Hoffnung: »Nehmt mich mit, um Gottes willen... Nehmt mich mit, um Gottes willen...« Und an einem schiefen Telegrafenmast hing ein schwarzgesichtiger Mann, die Hände hinter den Rücken gebunden... 320
Gagh war zu Hause. Er kam an einem festgefahrenen Militärkrankenwagen vorbei. Der Chauffeur, in schmutzigem Soldatenkittel und speckiger Schiebermütze, brüllte angestrengt etwas bei halbgeöffneter Tür, das aber beim Heulen des Motors nicht zu verstehen war, und an der Rückwand mühten sich zwischen Strömen von Schmutz, die die durchrutschenden Räder aufwarfen, hilflos und ungeschickt ein kleiner Armeearzt mit Backenbart und eine uniformierte junge Frau, offenbar die Krankenschwester. Im Vorübergehen dachte Gagh flüchtig, daß einzig dieses Auto gegen den allgemeinen Strom in die Stadt wollte, und selbst das war nun steckengeblieben... »Junger Mann!« hörte er da. »Halt! Ich befehle es Ihnen!« Er blieb stehen und wandte den Kopf. Der Arzt kam auf ihn zugelaufen, glitt dabei immer wieder aus und fuchtelte plump mit den Armen, und hinter ihm her drängte wie ein Wildschwein der Fahrer, rasend, blaurot im Gesicht, quadratisch, die gewaltigen Fäuste in die Seiten gestemmt. »Belieben Sie sofort, uns zu helfen!« schrie der Arzt im Falsett, während er herankam. Er war über und über mit der braunen Jauche bespritzt, und es war unbegreiflich, wie er durch die beklecksten Gläser seines Kneifers überhaupt etwas sehen konnte. »Unverzüglich! Ich erlaube Ihnen nicht, das abzulehnen!« Gagh blickte ihn schweigend an. »Verstehen Sie doch, dort ist die Pest!« schrie der Arzt und wies mit der schmutzigen Hand in die Richtung der Stadt. »Ich bringe den Impfstoff. Warum will nur keiner mir helfen?« Was hatte er bloß an sich? Alt war er, schwach, schmutzig... Gagh aber sah plötzlich sonnenüberflutete Zimmer vor sich, große, schöne, gepflegte Menschen in Overalls und bunten Hemden, und wie die Lichter der »Phantome« über einer runden Lichtung erglühen... Es war wie eine Vision, die über ihn kam. »Mit dem noch reden, mit dieser Kreatur!« krächzte der Fahrer und schob den Arzt beiseite. Entsetzlich schnau321
fend packte er die Maschinenpistole beim Lauf, entwand sie Gagh, der sie unter dem Arm gehalten hatte, und warf sie grunzend in den Wald. »Hat sich rausgeputzt, dieser Geier! Natternmilch! Na los!« Er holte aus und versetzte Gagh eine Ohrfeige, doch gleich rief der Doktor: »Aufhören! Sofort aufhören!« Gagh wankte, hielt aber stand. Er würdigte den Fahrer nicht mal eines Blickes, starrte nur immer den Arzt an und wischte langsam die Spur des Schlags von seinem Gesicht. Der Arzt zog ihn am Ärmel. »Bitte, ich bitte Sie. Ich habe zwanzigtausend Ampullen. Verstehen Sie bitte... Zwanzigtausend! Heute ist es noch nicht zu spät...« Nein, nein, das war ein Alayer. Ein gewöhnlicher Südalayer... Eine Vision. Sie gingen zum Wagen. Der Fahrer stieg knurrend und schäumend in die Kabine, raunzte: »Los!« Und im selben Augenblick heulte der Motor auf, und Gagh, der sich zwischen das Mädchen und den Arzt gestellt hatte, drückte mit aller Kraft seine Schulter gegen das Heck, das nach nassem Metall roch. Der Motor dröhnte, der Schlamm flog im Schwall, er aber stemmte gegen, schob, wuchtete und dachte: Daheim. Daheim...