R. L. Stine • Der Vampir aus der Flasche
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R. L. Stine • Der Vampir aus der Flasche
DER AUTOR R. L Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit neun Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben. DIE SERIE Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L. Stine
Der Vampir aus der Flasche Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von Bertelsmann
Band 20657 Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Erstmals als OMNIBUS Taschenbuch November 1999 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 49: Vampire Breath« bei Scholastic, Inc., New York © 1996 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved Published by arrangement with Scholastic, Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA 1 1 »Goosebumps« " and »Gänsehaut« " and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1997 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München Übersetzung: Gunter W. Kienitz Lektorat: Christa Marsen Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl +Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20657-2 ■ Printed in Germany 10 9876543
»Wenn sich ein Werwolf nachts von hinten an dich ranschleicht, tritt er so leise auf, dass du ihn kein bisschen hören kannst. Du hast keine Ahnung, dass dir der Werwolf auf den Fersen ist, bis du seinen heißen, stinkenden Atem hinten im Nacken spürst.« Ich beugte mich vor und pustete Tyler Brown einen kräftigen Schwall heiße Luft in den Nacken. Dem Jungen traten fast die Augen aus dem Kopf und er machte ein würgendes Geräusch, als ob ihm schlecht geworden wäre. Für Tyler mache ich gerne den Babysitter. Es ist so einfach, ihm Angst einzujagen. »Der Atem des Werwolfs lässt dich ganz starr werden. Du kannst dich nicht mehr bewegen«, sagte ich flüsternd, »kannst nicht davonlaufen. Du kannst weder mit den Beinen um dich treten noch deine Arme bewegen. Das macht es für den Werwolf leicht, dir die Haut abzureißen.« Noch einmal blies ich Tyler heißen Werwolfatem in den Nacken. Er fing an zu zittern und wimmerte leise. »Hör auf damit, Freddy! Du machst ihm echt Angst!«, schimpfte meine Freundin Cara Simonetti und warf mir vom anderen Ende des Zimmers einen bitterbösen Blick zu. Tyler und ich saßen auf der Couch. Ich war ganz dicht neben ihn gerutscht, damit ich flüstern und ihm richtig schön Angst machen konnte. »Freddy - er ist erst sechs«, erinnerte mich Cara. »Sieh ihn dir an. Er zittert am ganzen Körper.« »Er hat das gerne«, behauptete ich und wandte mich wieder Tyler zu. »Wenn du spät in der Nacht draußen bist und den heißen Atem eines Werwolfs in deinem Nacken spürst - dreh dich nicht um«, wisperte ich. »Dreh dich nicht
um. Lass ihn bloß nicht wissen, dass du ihn siehst - denn genau dann wird er dich angreifen!« Das Wort angreifen schrie ich. Und dann stürzte ich mich auf Tyler und begann ihn zu kitzeln. Er stieß einen lauten Schrei aus. Er weinte und lachte gleichzeitig. Ich kitzelte ihn, bis er keine Luft mehr bekam. Dann hörte ich auf. Ich bin ein guter Babysitter. Ich weiß immer ganz genau, wann ich mit Kitzeln aufhören muss. Cara stand auf. Sie packte mich an den Schultern und zerrte mich von Tyler weg. »Er ist erst sechs, Freddy!«, wiederholte sie. Daraufhin stürzte ich mich auf Cara, rang sie zu Boden und fing an sie zu kitzeln. »Der Werwolf greift schon wieder an!«, schrie ich. Dabei warf ich den Kopf zurück und stieß ein schauriges Lachen aus. Mich mit Cara zu balgen ist jedes Mal ein schwerer Fehler. Sie boxte mich so heftig in den Magen, dass ich Sternchen sah. Wirklich. Rote und gelbe Sternchen. Mühsam rollte ich mich zur Seite und rang keuchend nach Luft. Hat dir schon einmal jemand so einen Schlag versetzt, dass dir die Luft weggeblieben ist? Das ist kein angenehmes Gefühl. Du denkst echt, du könntest nie wieder atmen. Mich Sternchen sehen zu lassen ist Caras Lieblingsbeschäftigung. Sie tut es ständig. Das schafft sie mit einem einzigen Schlag. Cara ist knallhart. Genau deswegen ist sie meine beste Freundin. Wir sind beide ziemlich harte Knochen. Wir kneifen nie, wenn es hart auf hart kommt! Da kannst du jeden fragen. Freddy Martinez und Cara Simonetti. Zwei harte Brocken. Eine Menge Leute meinen, wir wären Bruder und Schwester. Vermutlich liegt das daran, dass wir uns ein bisschen ähnlich sehen. Wir sind beide ganz schön groß für
zwölf. Sie ist zwei Zentimeter größer als ich, aber ich bin dabei aufzuholen. Wir haben beide gewelltes schwarzes Haar, dunkle Augen und ein rundes Gesicht. Wir sind dicke Freunde, seit ich sie in der vierten Klasse mal verkloppt habe. Sie erzählt natürlich, dass sie mich in der vierten Klasse vermöbelt hätte. Von wegen. Willst du wissen, wie knallhart wir sind? Wir mögen es, wenn unser Lehrer mit der Kreide an der Tafel quietscht! Das ist knallhart. Wie auch immer - Tyler wohnt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Immer wenn ich ihn babysitten muss, rufe ich Cara an und meistens kommt sie dann mit. Tyler mag Cara lieber als mich. Sie beruhigt ihn immer, nachdem ich ihm Geschichten erzählt habe, um ihn zu Tode zu erschrecken. »Heute Nacht haben wir Vollmond, Tyler«, sagte ich und lehnte mich auf der grünen Ledercouch im Wohnzimmer dicht an ihn. »Hast du schon aus dem Fenster geschaut? Hast du den Vollmond gesehen?« Tyler schüttelte den Kopf und kratzte sich seitlich durch sein kurzes, blondes Haar. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen. Er wartete auf den Rest der Werwolfgeschichte. Ich beugte mich noch dichter zu ihm und senkte die Stimme. »Wenn ein Werwolf bei Vollmond nach draußen geht, beginnen auf seinem Gesicht Haare zu sprießen«, erzählte ich. »Seine Zähne werden länger und länger und spitzer. Sie hören erst auf zu wachsen, wenn sie ihm bis zum Kinn reichen. Fell bedeckt den Körper wie bei einem Wolf. Und aus den Fingern wachsen lange Krallen hervor.« Ich fuhr Tyler mit den Fingernägeln vorne übers TShirt. Er keuchte. »Du machst ihm echt Angst«, warnte Cara. »Er wird
heute die ganze Nacht nicht schlafen können.« Ich ignorierte sie. »Und dann zieht der Werwolf los«, flüsterte ich, über Tyler gebeugt. »Der Werwolf streift durch den Wald auf der Suche nach einem Opfer. Er sucht... ausgehungert... und läuft... und läuft...« Aus dem Wohnzimmer hörte ich Schritte. Schwere Schritte, die dumpf über den Teppich dröhnten. Zuerst dachte ich, ich würde mir das nur einbilden. Doch Tyler hörte sie ebenfalls. »Und läuft... und läuft...«, flüsterte ich. Tyler klappte den Mund auf. Die schweren Schritte kamen näher. Cara drehte sich in ihrem Sessel zur Tür um. Tyler schluckte schwer. Nun hörten wir sie alle. Die schweren, dröhnenden Schritte. »Ein echter!«, kreischte ich. »Das ist ein echter Werwolf!« Wir brüllten alle drei los.
»Jetzt aber mal halblang«, sagte der Werwolf. Natürlich war es kein richtiger Werwolf. Es war Ty-lers Vater. »Was treibt ihr drei denn da?«, fragte Mr. Brown, während er den Mantel auszog. Er hatte blondes Haar und blaue Augen so wie Tyler. »Wir erschrecken Tyler zu Tode«, erklärte ihm Cara. Er zog eine Augenbraue hoch. »Habt ihr das nicht schon beim letzten Mal gemacht?« »Wir machen es jedes Mal«, antwortete ich. »Tyler steht
darauf.« Ich tätschelte dem Jungen den Rücken. »Dir gefällt das doch - stimmt's?« »Ich glaube schon«, sagte er mit zaghafter Stimme. Tylers Mutter trat ins Zimmer und strich sich den Pullover glatt. »Hast du Tyler wieder Werwolfgeschichten erzählt, Freddy?«, wollte sie wissen. »Das letzte Mal hatte er die ganze Nacht Alpträume.« »Nein, hatte ich nicht!«, protestierte Tyler. »Tss-tss«, machte Mrs. Brown. Tylers Vater reichte Cara und mir je einen Fünfdollarschein. »Danke fürs Babysitten. Wollt ihr, dass ich euch nach Hause begleite?« »Nicht nötig«, antwortete ich. Hielt er mich etwa für einen Angsthasen? »Es ist doch nur über die Straße.« Cara und ich sagten den Browns Gute Nacht. Ich war überhaupt noch nicht in der Stimmung, schon heimzugehen. Also begleitete ich Cara nach Hause. Sie wohnt eine Straße weiter. Der Vollmond schien auf uns herab. Er hing tief über den dunklen Häusern und schien uns zu folgen, während wir die Straße entlanggingen. Wir lachten über die Werwolfgeschichte. Und wir lachten darüber, dass sie Tyler solche Angst gemacht hatte. Wir hatten ja keine Ahnung, dass wir als Nächste an der Reihe waren Angst zu bekommen. Schreckliche Angst. Am Samstagnachmittag kam Cara zu mir rüber. Wir gingen in den Keller hinunter, um dort Tischhockey zu spielen. Vor einigen Jahren hatten meine Eltern den Keller aufgeräumt und ihn in ein tolles Spielzimmer verwandelt. Wir haben da unten einen richtigen großen Billardtisch und eine wunderschöne alte Musicbox, die Mom und Dad mit alten Rock-'n'-Roll-Platten bestückt haben.
Letztes Weihnachten haben sie mir ein Tischhockeyspiel gekauft. Ein richtig stabiles. Cara und ich tragen darauf immer wieder Hockeykämpfe aus. Wir verbringen Stunden damit, den Plastikpuck zwischen uns hin und her zu schießen. Wir steigern uns da immer richtig rein. Gewöhnlich enden unsere Hockeyspiele mit Balgereien. Genau wie bei echten Hockeyspielen im Fernsehen! Wir beugten uns über das Spielfeld und begannen uns warm zu spielen, indem wir den Puck auf dem Tisch mit geringer Geschwindigkeit hin und her schoben. Noch versuchten wir nicht Punkte zu machen. »Wo sind deine Eltern?«, wollte Cara wissen. Ich zuckte die Achseln. »Da bin ich überfragt.« Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie mich an. »Du weißt nicht, wo sie hingegangen sind? Haben sie dir denn keine Nachricht oder so was dagelassen?« Ich schnitt eine Grimasse. »Sie sind oft unterwegs.« »Wahrscheinlich, um dir aus dem Weg zu gehen!«, rief Cara und lachte. Ich war gerade aus dem Karateunterricht zurückgekommen. Also trat ich um den Hockeytisch herum und vollführte ein paar Karatebewegungen. Aus Versehen erwischte ich sie mit einem meiner Fußtritte an der Ferse. »He ...!«, rief sie wütend. »Freddy - du Trottel!« Als sie sich bückte, um sich die Ferse zu reiben, schubste ich sie gegen die Wand. Einfach so zum Spaß. Ich alberte nur herum. Aber wahrscheinlich ist mir nicht ganz klar, wie kräftig ich bin. Cara verlor das Gleichgewicht und knallte heftig gegen die antike Vitrine mit altem Geschirr. Das Geschirr klapperte und wackelte. Aber nichts zerbrach. Ich lachte, denn ich wusste, dass sich Cara nicht
ernsthaft wehgetan hatte. Ich streckte die Hand aus, um ihr dabei zu helfen, von der Vitrine weg- und hochzukommen. Doch sie stieß ein Angriffsgebrüll aus - und stürzte sich auf mich. Sie rammte mir die Schulter gegen die Brust. Ich stieß einen heiseren, erstickten Laut aus. Wieder einmal sah ich Sternchen. Während ich keuchend nach Luft rang, schnappte sie sich den Puck vom Spieltisch. Sie holte aus, um den Puck nach mir zu werfen. Doch ich packte ihre Hände und kämpfte darum, ihr den Puck abzunehmen. Wir lachten zwar, doch diese Rangelei war ganz schön ernst. Versteh mich nicht falsch, Cara und ich, wir machen das ständig. Vor allem dann, wenn meine Eltern außer Haus sind. Hastig riss ich ihr den Puck aus der Hand - und er flog quer durch den Raum. Mit einem lauten Karateschrei riss ich mich von ihr los. Wir lachten beide so heftig, dass wir uns die Bäuche halten mussten. Doch dann rannte Cara los und rammte mich noch einmal. Dieses Mal schaffte sie es, mich zurücktaumeln zu lassen. Ich verlor das Gleichgewicht. Meine Hände schossen in die Höhe, als ich gegen die Vitrine flog. Ich kam heftig auf und knallte mit dem Rücken gegen die hölzerne Seitenwand der Vitrine. Und da kippte die ganze Vitrine um! Ich hörte das Klirren von Geschirr, das zerbrach. Einen Moment später landete ich, hilflos auf dem Rücken ausgestreckt, auf der Vitrine. »Ohhhh!« Mein Schrei verwandelte sich in schmerzerfülltes Stöhnen.
Dann herrschte Stille. Da lag ich wie eine Schildkröte auf dem Rücken auf der umgestürzten Vitrine. Ich zappelte mit Händen und Beinen in der Luft herum. Mein ganzer Körper tat mir weh. »Ah-oh!« Das war alles, was ich Cara sagen hörte. Einfach nur: »Ah-oh!« Und dann hastete sie zu mir. Sie bückte sich, packte mich an den Händen und zerrte mich auf die Beine. Bestürzt traten wir von der umgekippten Vitrine zurück. »Das tut mir Leid«, murmelte Cara. »Das hab ich nicht gewollt.« »Ich weiß«, sagte ich. Schwer schluckend rieb ich mir die schmerzende Schulter. »Ich denke, wir haben jetzt ziemlichen Ärger am Hals.« Wir drehten uns beide um, um den Schaden zu begutachten. Und schrien überrascht auf, als wir entdeckten, was hinter dem alten Holzschrank verborgen gewesen war.
»Eine geheime Tür!«, rief ich aufgeregt. Wir starrten die Tür an. Sie war aus glattem dunklem Holz. Der Griff war mit einer dicken Schicht Staub überzogen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass da hinten eine Tür ist. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Mom und Dad ebenfalls nichts davon wussten. Neugierig traten Cara und ich vor die Tür. Ich rieb mit der Hand über den Griff und wischte den Staub ab.
»Wo führt die hin?«, fragte Cara und strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. Ich zuckte die Achseln. »Da fragst du mich zu viel. Vielleicht ist es ein Einbauschrank oder so was. Mom und Dad haben nie einen weiteren Raum hier unten erwähnt.« Ich klopfte mit der Faust gegen die Tür. »Ist da drin jemand?«, rief ich. Cara lachte. »Du wärst bestimmt ganz schön baff, wenn dir jemand antworten würde!«, rief sie aus. Ich lachte ebenfalls. Das war eine ziemlich komische Vorstellung. »Warum versteckt wohl jemand eine Tür hinter einem Schrank?«, fragte Cara. »Das ergibt doch keinen Sinn.« »Vielleicht ist dahinter ein Piratenschatz verborgen«, sagte ich. »Oder es gibt da einen Raum voller Goldstücke.« Cara verdrehte die Augen. »Das ist ziemlich lahm«, meckerte sie. »Piraten mitten in Ohio?« Cara drehte den Türgriff und versuchte die Tür aufzuziehen. Manche Kinder würden wahrscheinlich zögern und wären nicht gerade scharf darauf, eine geheimnisvolle, verborgene Tür in ihrem Keller zu öffnen. Manche Kinder hätten womöglich ein bisschen Angst. Aber Cara und ich nicht. Wir sind keine Angsthasen. Über Gefahren denken wir nicht lange nach. Wir sind knallhart. Die Tür ging nicht auf. »Ist sie abgeschlossen?«, fragte ich Cara. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Die Vitrine ist im Weg.« Die Vitrine lag auf der Seite vor der Tür. Wir packten sie an. Cara nahm sie oben. Ich packte sie unten. Sie war schwerer, als ich gedacht hatte. Vor allem wegen all des zerbrochenen Geschirrs darin. Aber wir schoben
und zogen und schleiften sie von der Tür weg. »Okay«, sagte Cara und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ihrer Jeans ab. »Okay«, wiederholte ich. »Dann wollen wir uns das mal ansehen.« Der Türgriff fühlte sich kühl in meiner Hand an. Ich drehte ihn und zog die Holztür auf. Die Tür bewegte sich nur langsam. Sie war schwer und die rostigen Angeln verursachten ein unheimliches Quiiiiiietsch, Quiüiiietsch, während ich mich abmühte, sie zu öffnen. Dann beugten Cara und ich uns dicht aneinander gedrängt in die Türöffnung und spähten hinein.
Ich erwartete dahinter einen Raum vorzufinden. Eine Abstellkammer oder einen alten Heizungsraum. In einigen alten Häusern - zum Beispiel in dem meiner Tante Harriet gibt es Kohlenkammern, wo die Kohle aufbewahrt wurde, mit der man die Heizung fütterte. Doch das war es nicht, was wir zu sehen bekamen. Während ich so in die Dunkelheit blinzelte, stellte ich fest, dass wir in einen Tunnel starrten. Einen finsteren Tunnel. Ich streckte die Hand aus und berührte die Wand. Stein. Kalter Stein. Kalt und feucht. »Wir brauchen Taschenlampen«, schlug Cara leise vor. Noch einmal strich ich über den kalten, feuchten Stein. Dann wandte ich mich zu Cara um. »Du meinst, wir gehen in den Tunnel?«, fragte ich.
Blöde Frage. Natürlich gingen wir in den Tunnel. Wenn du einen verborgenen Tunnel in deinem Keller findest, was tust du dann? Du bleibst nicht einfach nur am Eingang stehen und wunderst dich darüber. Du erforschst ihn. Cara folgte mir zur Werkbank meines Vaters hinüber. Ich fing an, auf der Suche nach Taschenlampen Schubladen aufzuziehen. »Wo könnte dieser Tunnel hinführen?«, fragte Cara und runzelte nachdenklich die Stirn. »Vielleicht führt er zum Haus nebenan. Vielleicht verbindet er die beiden Häuser miteinander.« »Auf dieser Seite gibt es kein Haus«, erinnerte ich sie. »Da ist ein unbebautes Grundstück. Leer, solange ich denken kann.« »Nun, irgendwohin muss er ja führen«, sagte sie. »Man kann doch keinen Tunnel haben, der nirgends hinführt.« »Gut überlegt«, antwortete ich sarkastisch. Sie schubste mich. Ich schubste sie zurück. Dann entdeckte ich auf dem Boden einer Werkzeugschublade eine Plastiktaschenlampe. Cara und ich griffen gleichzeitig danach. Schon wieder gab es eine Rangelei, aber diesmal nur eine kurze. Dabei nahm ich ihr die Taschenlampe ab. »Wieso machst du so viel Wind darum?«, wollte sie wissen. »Ich hab sie als Erster gesehen«, sagte ich. »Besorg dir selber eine.« Ein paar Sekunden später fand sie in einem Regal über der Werkbank eine weitere Taschenlampe. Sie probierte sie aus, indem sie mir damit so lange in die Augen leuchtete, bis ich sie anschnauzte.
»Okay. Ich bin bereit«, sagte sie. Wir rannten zur Tür zurück, wobei die Strahlen unserer Taschenlampen kreuz und quer übereinander über den Kellerboden hüpften. Vor der offenen Tür blieb ich stehen und schickte den Lichtstrahl in den Tunnel. Cara leuchtete die Steinwände ab, die von einer dicken grünen Moosschicht überzogen waren. Auf dem glatten Steinboden glitzerten kleine Wasserpfützen in den herumhuschenden Strahlen unserer Taschenlampen. »Feucht hier drin«, stellte ich fest. Ich machte einen Schritt in den Tunnel und ließ meinen Lichtstrahl über die Wände gleiten. Die Luft fühlte sich augenblicklich kälter an. Ich fröstelte, von der Temperaturänderung überrascht. »Puh!«, pflichtete mir Cara bei. »Das ist ja wie in einem Kühlschrank hier drinnen.« Ich hob die Lampe und richtete den Lichtstrahl geradeaus vor uns. »Ich kann nicht sehen, wo der Tunnel endet«, sagte ich. »Er könnte sich kilometerweit hinziehen!« »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, antwortete Cara entschlossen. Sie hob ihre Lampe und blendete mich schon wieder. »Haha! Drangekriegt!« »Das ist nicht witzig!«, protestierte ich und leuchtete ihr mit meiner Lampe in die Augen. Wir lieferten uns einen kurzen Taschenlampenkampf. Keiner von uns gewann. Nun tanzten uns beiden helle gelbe Flecke vor den Augen. Ich wandte mich wieder dem Tunnel zu. »Halllloooooo!«, rief ich. Das Echo meiner Stimme wurde wieder und wieder zurückgeworfen. »Jeeeeeemand zu Hauuuuuuuuse?« Cara stieß mich gegen die feuchte Steinwand. »Hör auf damit, Freddy. Wieso kannst du nicht einmal ernst sein?« »Ich bin ernst«, erklärte ich. »Los jetzt. Lass uns gehen.« Dabei rempelte ich sie mit der Schulter an und wollte sie vor
die Wand schubsen. Aber ihre Beine hielten stand. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Also senkte ich meinen Lichtstrahl auf den Boden, damit wir sehen konnten, wo wir hintraten. Cara leuchtete mit ihrer Lampe vor uns her. Pfützen ausweichend bewegten wir uns langsam voran. Die Luft wurde kälter, je tiefer wir in den Tunnel vordrangen. Unsere Schuhe verursachten leise scharrende Geräusche, die unheimlich von den Steinwänden widerhallten. Nach etwa einer Minute drehte ich mich um und schaute zur Kellertür zurück. Sie war nur noch ein schmales gelbes Rechteck aus Licht und sehr weit entfernt. Der Tunnel machte eine Kurve und die Steinwände schienen auf uns zuzurücken. Ich fühlte einen Schauer von Angst, schüttelte ihn aber ab. Es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste, sagte ich mir. Das hier ist nur ein alter leerer Tunnel. »Es ist wirklich unheimlich«, murmelte Cara. »Wo kann der Tunnel nur hinführen?« »Wir müssen uns unter dem unbebauten Grundstück nebenan befinden«, vermutete ich. »Aber warum sollte jemand einen Tunnel unter ein unbebautes Grundstück graben?« Cara leuchtete mir ins Gesicht. Sie hielt mich an der Schulter fest, damit ich stehen blieb. »Möchtest du umkehren?« »Natürlich nicht«, antwortete ich, wie aus der Pistole geschossen. »Ich auch nicht«, sagte sie rasch. »Ich wollte nur wissen, ob du es willst.« Unsere Lichtstrahlen tanzten über die feuchten Steinwände, während wir der Biegung des Tunnels folgten. Wir hüpften über eine ausgedehnte Wasserpfütze, die die ganze Breite des Fußbodens einnahm. Dann machte der Tunnel eine weitere Kurve. Und eine
Tür kam in Sicht. Eine weitere dunkle Holztür. Die Strahlen unserer Taschenlampen tanzten an der Tür auf und ab, als wir eilig darauf zuliefen. »Hallo, da drinnen!«, rief ich. »Halllooooo!« Ich klopfte an die Tür. Keine Antwort. Als Nächstes packte ich den Türgriff. Cara hielt mich ein weiteres Mal zurück. »Was ist, wenn deine Eltern nach Hause kommen?«, fragte sie. »Sie werden sich schreckliche Sorgen machen. Sie werden nicht wissen, wo du bist.« »Nun, wenn sie in den Keller herunterkommen, werden sie die Vitrine auf dem Boden liegen sehen«, antwortete ich. »Und sie werden die offene Tür sehen, die zu diesem Tunnel führt. Dann können sie sich ausrechnen, was passiert ist. Und sie werden uns wahrscheinlich hierher folgen.« »Wahrscheinlich«, pflichtete mir Cara bei. »Wir müssen herausfinden, was sich auf der anderen Seite dieser Tür befindet«, sagte ich eifrig. Dabei drehte ich den Griff und zog die Tür auf. Auch diese Tür war schwer. Und als sie aufging, knarrte sie genauso unheimlich wie die erste. Wir leuchteten hinein. »Das ist ein Raum!«, wisperte ich. »Ein Raum am Ende des Tunnels!« Unsere Lichtstrahlen tanzten über die glatten dunklen Wände. Über nackte Wände. Aneinander gedrückt betraten wir den kleinen, rechteckigen Raum. »Was ist schon groß dabei? Er ist leer«, sagte Cara. »Es ist nur ein leerer Raum.« »Nein, ist es nicht«, sagte ich leise. Ich zielte mit meinem Lichtkegel auf ein großes Objekt auf
dem Boden in der Mitte des Raums. Wir starrten es beide unverwandt an. Starrten es schweigend an. »Was ist das?«, fragte Cara schließlich. »Ein Sarg«, antwortete ich.
Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag lang aussetzte. Ich hatte keine Angst. Aber mein ganzer Körper begann zu prickeln. Vor Aufregung, denke ich. Cara und ich hielten die Lichtkegel unserer Taschenlampen auf den Sarg gerichtet, der in der Mitte des Raums auf dem Boden stand. Die Lichtkreise tanzten über das dunkle Holz. Unsere Hände zitterten. »Ich habe noch nie zuvor einen Sarg gesehen«, murmelte Cara. »Ich auch nicht«, gestand ich. »Außer im Fernsehen.« Das Licht wurde von dem polierten Holz reflektiert. Ich entdeckte Messinggriffe an beiden Enden der langen Truhe. »Was ist, wenn da drin ein Toter liegt?«, fragte Cara mit zaghafter Stimme. Mein Herz hüpfte schon wieder. Die Haut prickelte noch kälter. »Ich weiß nicht«, flüsterte ich. »Wer sollte denn schon in einem geheimen Raum unter unserem Haus begraben liegen?« Ich richtete den Lichtkegel höher und leuchtete den Raum damit ab. Vier nackte Wände. Glatt und grau. Keine Fenster. Kein Schrank. Die einzige Tür führte zurück in den Tunnel.
Ein verborgener Raum am Ende eines gewundenen Tunnels. Ein Sarg in einem verborgenen unterirdischen Raum... »Ich bin sicher, dass meine Eltern davon keine Ahnung haben«, erklärte ich Cara. Tief Luft holend, steuerte ich weiter auf den Sarg zu. »Wohin gehst du?«, wollte Cara mit schriller Stimme wissen. Sie stand noch immer an der offenen Tür. »Das sollten wir uns näher ansehen«, antwortete ich und ignorierte mein wummerndes Herz. »Lass uns einen Blick hineinwerfen.« »Halt mal!«, rief Cara. »Ich... ähm... ich glaube nicht, dass wir das tun sollten.« Ich wandte mich zu ihr um. Das Licht meiner Taschenlampe erfasste ihr Gesicht. Ich sah, wie ihr Kinn bebte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf den Sarg. »Du fürchtest dich?«, wollte ich wissen und konnte nicht verhindern, dass sich auf meinem Gesicht ein Grinsen breit machte. Cara fürchtete sich vor irgendetwas? Das war ein unvergesslicher Augenblick! »So ein Quatsch!«, sagte sie nachdrücklich. »Ich fürchte mich nicht. Aber ich denke, wir sollten vielleicht deine Eltern holen.« »Wieso?«, fragte ich. »Wieso sollten meine Eltern dabei sein, wenn wir einen alten Sarg öffnen?« Ich hielt den Lichtstrahl auf ihr Gesicht gerichtet und sah, wie ihr Kinn schon wieder bebte. »Weil man nicht einfach herumspaziert und Särge öffnet«, antwortete sie und verschränkte nachdrücklich die Arme vor der Brust. »Na gut... wenn du mir nicht helfen willst, mach ich's eben alleine«, verkündete ich, drehte mich zu dem Sarg um und strich mit der Hand über den Deckel. Das polierte Holz
fühlte sich glatt und kühl an. »Nein - warte!«, rief Cara. Sie kam rasch herbei und stellte sich neben mich. »Ich habe keine Angst. Aber... das könnte ein großer Fehler sein.« »Du hast Angst«, behauptete ich. »Du hast eine Heidenangst.« »Hab ich nicht!«, widersprach sie hartnäckig. »Ich habe dein Kinn zittern gesehen. Zweimal.« »Und?« »Also fürchtest du dich.« »Überhaupt nicht.« Sie stieß einen empörten Seufzer aus. »Hier, ich beweise es dir.« Sie drückte mir ihre Taschenlampe in die Hand. Dann packte sie den Sargdeckel mit beiden Händen und begann ihn anzuheben. »Brr. Der ist echt schwer«, stöhnte sie. »Hilf mir.« Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich schüttelte ihn ab und setzte die Taschenlampen am Boden ab. Dann legte ich beide Hände auf den Sargdeckel. Ich beugte mich vor. Fing an ihn anzuheben. Cara und ich schoben mit aller Kraft. Anfangs rührte sich der schwere Holzdeckel kein bisschen. Doch dann hörte ich ein Knarren, als er sich zu heben begann. Langsam, ganz langsam hob er sich in unseren Händen. Über den offenen Sarg gebeugt, schoben und drückten wir, bis er senkrecht aufgeklappt war. Wir ließen den Deckel los. Ich schloss die Augen. Eigentlich wollte ich gar nicht hineinschauen. Aber ich musste. Ich blinzelte in den offenen Sarg hinein. Zu dunkel. Man konnte überhaupt nichts erkennen.
Gut, sagte ich mir und seufzte erleichtert auf. Doch da bückte sich Cara, hob die Taschenlampen vom Boden auf und drückte mir meine in die Hand. Wir leuchteten in den Sarg und schauten hinein.
Der Sarg war mit violettem Samt ausgeschlagen, der im Licht unserer Taschenlampen zu glühen schien. Wir leuchteten das Innere des Sarges mit unseren Lampen von einem Ende bis zum anderen ab. »Er... er ist leer!«, stotterte Cara. »Nein, ist er nicht«, antwortete ich. Mein Lichtkegel blieb an einem Gegenstand am Ende des Sarges haften. Ein blauer Fleck, der sich vom violetten Samt abhob. Als ich näher rückte, wurde er erkennbar. Eine Phiole. Ein blaues Glasfläschchen. »Verrückt!«, rief Cara aus, als sie das Fläschchen ebenfalls entdeckt hatte. »Ja. Total verrückt«, stimmte ich ihr zu. Zögernd bewegten wir uns zum Ende des Sarges, um besser sehen zu können. Ich drückte mich gegen die Seitenwand des Sarges, während ich mich zu dem Fläschchen hinunterbeugte. Meine Hände fühlten sich auf einmal eiskalt an. Cara langte an mir vorbei und schnappte sich die Phiole. Sie hielt sie in den weißen Lichtkegel meiner Taschenlampe und wir musterten sie beide sorgfältig. Das Fläschchen war rund und dunkelblau und passte locker in Caras Hand. Es bestand aus glattem Glas und war mit einem blauen Glasstopfen verschlossen.
Cara schüttelte es. »Es ist leer«, sagte sie leise. »Ein leeres Fläschchen in einem Sarg? Eindeutig verrückt!«, rief ich. »Wer kann es hier drin zurückgelassen haben?« »He...! Da ist ein Etikett.« Cara deutete auf ein kleines Papierviereck, das auf das Glas geklebt war. »Kannst du es lesen?«, fragte sie und hielt mir das blaue Fläschchen vors Gesicht. Auf dem Etikett standen verwaschene, altertümlich aussehende Buchstaben. Ich kniff die Augen zusammen. Die Aufschrift war so verblasst, dass kaum mehr als verwischte Flecken übrig geblieben waren. Ich richtete meinen Lichtkegel direkt darauf und schaffte es schließlich, die Aufschrift zu entziffern: »VAMPIRODEM.« »Was?« Cara klappte vor Schreck der Unterkiefer herunter. »Hast du Vampirodem gesagt?« Ich nickte. »Genau das steht drauf.« »Aber was kann das sein?«, fragte sie irritiert. »Was ist Vampirodem!« »Da bin ich überfragt«, antwortete ich und starrte die Phiole unverwandt an. »Ich habe noch keinen Werbespot im Fernsehen darüber gesehen!« Cara lachte nicht über meinen Scherz. Sie drehte das Fläschchen zwischen ihren Fingern hin und her und suchte nach zusätzlichen Informationen. Doch auf dem Etikett stand nur das eine Wort: »VAMPIRODEM.« Ich richtete den Lichtstrahl noch einmal auf den Sarg, um nachzuschauen, ob wir irgendetwas darin übersehen hatten. Immer wieder ließ ich den Lichtkegel hin und her wandern. Dann beugte ich mich über die Sargwand und strich mit der Hand über den violetten Samt. Er fühlte sich trocken und weich an.
Als ich mich zu Cara umwandte, hatte sie sich ihre Taschenlampe unter den Arm geklemmt. Und sie drehte an dem Glasstopfen, der oben auf der Phiole saß. »He - was tust du da?«, rief ich. »Ich mach sie auf«, antwortete sie. »Aber der Stöpsel klemmt und es sieht so aus, als ob ich ihn nicht...« »Nein ...!«, schrie ich. »Stopp!« Ihre dunklen Augen blitzten und bohrten sich in meine. »Hast du Schiss, Freddy?« »Ja. Ich meine - nein!«, stotterte ich. »Ich... ähm... ich stimme dir zu, Cara. Wir sollten warten, bis meine Eltern nach Hause kommen. Wir sollten ihnen das hier zeigen. Wir können nicht einfach herumspazieren und Särge öffnen und Fläschchen herausnehmen und ...« Angespannt schnappte ich nach Luft, während sie an dem Stopfen zog. Ich hatte keine Angst oder so. Ich wollte nur einfach keine Dummheit begehen. »Gib es mir!«, rief ich und griff nach der Phiole. »Kommt nicht in Frage!« Sie fuhr herum, um zu verhindern, dass ich sie ihr wegnahm. Und dabei fiel ihr das Fläschchen aus der Hand. Wie versteinert sahen wir zu, wie es auf den Boden fiel. Es hüpfte einmal auf. Aber es zerbrach nicht. Doch der Glasstopfen flog heraus. Cara und ich starrten auf das Fläschchen hinunter. Ohne zu atmen. Wir warteten. Wir fragten uns, was passieren würde.
Ssssssssssssssss. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was das zischende Geräusch verursachte. Dann entdeckte ich den rauchigen grünen Nebel, der aus der Phiole hervorschoss. Kühl und feucht stieg der dichte Nebel wie ein Geysir empor. Ich spürte, wie er mir ins Gesicht trieb. »Oh!« Ich stöhnte auf, als mir sein stechender Geruch in die Nase stieg. Benommen taumelte ich rückwärts und rang nach Luft. Ich begann zu würgen und ruderte mit beiden Armen wie wild durch die Luft, um den Nebel zu vertreiben. »Igitt!«, stieß Cara hervor und verzog angewidert das Gesicht. Sie hielt sich mit den Fingern die Nase zu. »Das Zeug stinkt erbärmlich!« Der Ekel erregende Nebel hatte sich nach wenigen Sekunden über den ganzen Raum ausgebreitet. »Ich ... ich krieg keine Luft!«, keuchte ich. Und sehen konnte ich auch nichts. Der Nebel verschluckte das Licht unserer Taschenlampen! »Oh!«, stöhnte Cara. »Wie furchtbar!« Meine Augen brannten. Ich schmeckte den ekelhaften Nebel auf der Zunge. Mir war schlecht. In meinem Magen gluckerte es. Der Hals war wie zugeschnürt. Ich muss das Fläschchen wieder verschließen, entschied ich. Wenn ich das Fläschchen zumache, wird der widerliche Nebel aufhören daraus hervorzuquellen. Rasch ließ ich mich auf die Knie nieder. Blindlings tastete ich herum, bis ich das Fläschchen gefunden hatte. Dann strich ich mit der anderen Hand in Kreisen über den Boden, bis sie sich um den Stopfen schloss.
Ich gab mir größte Mühe nicht zu würgen, als ich den Stopfen zurück in den Hals der Phiole drückte. Hastig sprang ich auf und hielt das Fläschchen in die Höhe, damit Cara sehen konnte, dass ich es verschlossen hatte. Aber sie sah mich nicht. Sie hatte beide Hände vors Gesicht gelegt. Ihre Schultern hoben und senkten sich. Ich musste das Fläschchen absetzen, denn ein Brechreiz packte mich. Ich schluckte heftig. Wieder. Und wieder. Der Geschmack war einfach ekelhaft. Einige Sekunden lang wirbelte der übel riechende Nebel noch um uns herum. Dann senkte er sich auf den Boden und verflüchtigte sich. »Cara ...?«, würgte ich schließlich heraus. »Cara -alles in Ordnung mit dir?« Langsam nahm sie die Hände vom Gesicht. Sie blinzelte ein paar Mal, dann wandte sie sich mir zu. »Igitt«, murmelte sie. »Das war wirklich widerlich! Warum musstest du auch so an dem Fläschchen reißen? Das war nur deine Schuld!« »Was?«, rief ich. »Meine Schuld? Meine Schuld?« Sie nickte. »Ja. Hättest du nicht nach dem Fläschchen gegrapscht, hätte ich es niemals fallen lassen. Und...« »Aber du bist doch diejenige, die es öffnen wollte!«, kreischte ich. »Schon vergessen? Du warst dabei, den Stöpsel herauszuziehen!« »Oh!« Sie erinnerte sich wieder. Mit beiden Händen strich sie über ihren Pullover und ihre Jeans, als versuchte sie den grässlichen Geruch abzuwischen. »Freddy, lass uns von hier verschwinden«, drängte sie. »Klar. Lass uns gehen.« Ausnahmsweise waren wir uns einmal in einer Sache einig. Ich folgte ihr zur Tür. Auf halbem Weg wandte ich mich noch einmal um.
Warf einen Blick auf den Sarg. Und schnappte nach Luft. »Cara - sieh nur!«, flüsterte ich. In dem Sarg lag jemand.
Cara kreischte los. Sie packte mich am Arm und drückte so fest, dass ich aufschrie. Wir drängten uns in der Tür zusammen und starrten in den dunklen Raum zurück. Starrten auf die bleiche Gestalt im Sarg. »Hast du Angst?«, flüsterte Cara. »Wer - ich?«, würgte ich hervor. Ich musste ihr zeigen, dass ich mich nicht fürchtete. Deshalb machte ich einen Schritt auf den Sarg zu. Dann noch einen. Sie blieb dicht neben mir. Die Kegel unserer Taschenlampen zuckten zittrig vor uns her. Mein Herz pochte heftig und mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Es war mir unmöglich, die Taschenlampe ruhig zu halten. »Es ist ein alter Mann«, wisperte ich. »Aber wie ist er da hineingekommen?«, flüsterte Cara zurück. »Vor einer Sekunde war er noch nicht da.« Wieder drückte sie meinen Arm. Aber ich fühlte den Schmerz gar nicht richtig. Ich war viel zu aufgeregt, zu verblüfft und zu durcheinander, um irgendetwas zu spüren. Wie war er da hineingekommen? Wer war er? »Ist er tot?«, fragte Cara.
Ich antwortete nicht, sondern tappte zum Sarg und leuchtete mit meiner Lampe hinein. Der Mann war alt und völlig kahl. Die Haut spannte sich straff über seinen Schädel, so glatt wie eine Glühbirne. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen so bleich wie seine Haut und fest zusammengepresst. Seine winzigen weißen Hände lagen verschränkt auf seiner Brust. Knochendürr. Er trug einen schwarzen Frack und wirkte sehr altmodisch. Der steife Kragen des weißen Hemdes drückte sich gegen seine blassen Wangen. Seine glänzenden schwarzen Schuhe waren zugeknöpft anstatt geschnürt. »Ist er tot?«, wiederholte Cara. »Ich schätze ja«, würgte ich hervor. Ich hatte noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen. Wieder spürte ich Caras Hand auf meinem Arm. »Lass uns gehen«, flüsterte sie. »Lass uns von hier verschwindenl« »Okay.« Ich wollte raus. Wollte, so schnell ich nur konnte, weg von hier. Aber etwas hielt mich zurück. Etwas ließ mich wie angewurzelt auf der Stelle stehen bleiben und auf das bleiche alte Gesicht starren. Auf den alten Mann, der da so ruhig und still in dem violetten Sarg lag. Und während ich ihn betrachtete, öffnete der alte Mann die Augen. Er blinzelte. Und dann begann er sich aufzusetzen.
Nach Luft schnappend, taumelte ich rückwärts. Wenn ich nicht gegen die Wand gestoßen wäre, wäre ich wohl
hingefallen. Die Taschenlampe fiel mir aus der Hand und knallte laut scheppernd auf den Boden. Das Geräusch sorgte dafür, dass der alte Mann den Kopf in unsere Richtung wandte. Im zittrigen Kegel von Caras Taschenlampe blinzelte er ein paar Mal. Dann rieb er sich mit seinen winzigen bleichen Händen die Augen, wie um den Schlaf herauszuwischen. Er stöhnte leise. Und strengte sich blinzelnd und seine Augen reibend an, uns besser zu sehen. Mein Herz wummerte so heftig, dass ich dachte, es würde durchs Hemd hindurch explodieren. In meinen Schläfen pochte es und ich atmete heftig und pfeifend. »Ich... ich...«, stammelte Cara, am ganzen Leib zitternd, während sie vor mir stand und ihren Lichtstrahl auf den alten Mann im Sarg gerichtet hielt. »Wo bin ich?«, krächzte der alte Mann und schüttelte den Kopf. Er wirkte immer noch benommen. »Wo bin ich? Was tue ich hier?« Dabei blinzelte er in den Kegel der Taschenlampe. Sein bleicher kahler Kopf leuchtete im Licht. Sogar die Augen waren bleich, irgendwie silbrig. Er leckte sich über die weißen Lippen und verursachte dabei ein trockenes, schmatzendes Geräusch. »Ich bin so durstig«, stöhnte er in heiserem Flüsterton. »Ich bin so schrecklich - durstig.« Mit einem lauten Stöhnen setzte er sich langsam auf. Während er sich aufrichtete, sah ich, dass er ein Cape trug, ein seidenes, violettes Cape, das mit dem Lila des Sarges übereinstimmte. Erneut leckte er sich die Lippen. »So durstig...« Und dann entdeckte er Cara und mich. Wieder blinzelte er. »Wo bin ich?«, fragte er und starrte
uns mit seinen unheimlichen, silbrigen Augen angestrengt an. »Was ist das für ein Raum?« »Das ist mein Haus«, antwortete ich. Aber was ich sagte, kam nur als schwaches Flüstern heraus. »So durstig ...«, murmelte er wieder. Stöhnend und vor sich hin murmelnd, hob er ein Bein über den Rand des Sarges, dann das andere. Er rutschte auf den Boden hinaus, verursachte aber kein Geräusch, als er aufkam. Er wirkte so leicht, als ob er überhaupt nichts wöge. Ein Angstschauder ließ meinen Nacken erstarren. Ich wollte zurückweichen. Aber ich stand bereits an die Wand gepresst. Ich warf einen Blick zur offenen Tür. Sie kam mir hundert Meilen weit weg vor. Der alte Mann leckte über seine trockenen Lippen. Immer noch heftig blinzelnd, machte er einen Schritt auf Cara und mich zu. Im Gehen strich er mit beiden Händen sein Cape glatt. »Wer... sind... Sie?«, brachte Cara mit Mühe und erstickt heraus. »Wie sind Sie hierher gekommen?«, rief ich, als ich meine Stimme wieder gefunden hatte. »Was tun Sie in meinem Keller? Wie sind Sie in diesen Sarg gekommen?« Die Fragen schossen nur so aus mir heraus. »Wer sind Sie?« Er hielt inne und kratzte sich an der Glatze. Einen Moment lang schien er Mühe zu haben sich zu erinnern, wer er war. Dann antwortete er: »Ich bin Graf Nachtschwinge.« Er nickte, als ob er sich seine Erinnerung selbst bestätigte. »Ja. Ich bin Graf Nachtschwinge.« Cara und ich keuchten auf. Dann fingen wir gleichzeitig zu reden an.
»Wie sind Sie hierher gekommen?« »Was wollen Sie?« »Sind Sie ... sind Sie ... ein Vampir?« Er hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. »Dieser Lärm ...«, klagte er. »Bitte, sprecht leise. Ich habe so lange geschlafen.« »Sind Sie ein Vampir?«, fragte ich leise. »Ja. Ein Vampir. Graf Nachtschwinge.« Er nickte. Und schlug die Augen wieder auf. Prüfend starrte er Cara und dann mich an, so als sähe er uns zum ersten Mal. »Gewissss«, zischte er, hob die Arme und bewegte sich auf uns zu. »Und ich bin so durstig. So schrecklich durstig. Ich habe so lange geschlafen. Und nun bin ich durstig. Und ich muss sofort etwas trinken.«
Der Graf hob seine Arme und ergriff sein violettes Cape. Das Cape breitete sich hinter ihm wie Flügel aus und er erhob sich in die Luft. »So durstig ...«, murmelte er und leckte über seine trockenen Lippen. »So durstig.« Er fixierte Cara mit seinen silbrigen Augen, als ob er sie hypnotisieren und auf der Stelle festhalten wollte. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst gehabt. Das gebe ich zu. Ich fürchte mich nicht so schnell. Und Cara auch nicht. Wir haben uns bestimmt hundert Vampirfilme im Fernsehen angeschaut. Meistens lachen wir darüber. Wir finden die Idee, dass ein Typ mit langen Fangzähnen herumfliegt und menschliches Blut trinkt, ziemlich komisch.
Nie haben wir uns auch nur das kleinste bisschen gefürchtet. Aber das waren Filme gewesen. Das hier war das wirkliche Leben! Wir hatten gerade dabei zugesehen, wie dieser Typ der sich Graf Nachtschwinge nannte - einem Sarg entstiegen war. Einem Sarg, der praktisch in meinem Keller stand! Und nun hatte er die Arme ausgebreitet und segelte durch den Raum auf uns zu. Dabei murmelte er vor sich hin, wie durstig er sei. Und er hatte seine unheimlichen, Furcht erregenden Augen auf Caras Hals gerichtet! Also, ja - ich gebe zu, dass ich Angst hatte. Aber nicht zu viel Angst, um mich zu bewegen. »He...!«, schrie ich und packte Cara am Arm. »Komm schon! Lass uns abhauenl« Sie rührte sich nicht. »Cara - komm jetzt!«, brüllte ich und zerrte an ihr. Unbewegt starrte sie zu dem bleichen Gesicht des Vampirs empor. Sie rührte sich nicht, blinzelte nicht. Ich packte sie mit beiden Händen am Arm und versuchte sie wegzuziehen. Aber sie blieb wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Starr wie eine Statue. »So durstig...«, krächzte der alte Mann. »Ich muss sofort etwas zu trinken haben!« »Cara - reiß dich los!«, schrie ich. »Reiß dich los! Bitte!« Ich zog mit aller Kraft an ihr - und zerrte sie zur Tür. Als wir den Tunnel erreichten, blinzelte Cara und schüttelte den Kopf. Sie stieß einen verblüfften Schrei aus, riss ihren Arm los und begann zu laufen. Hastig schossen wir aus dem kleinen Raum hinaus und rannten den gewundenen Tunnel entlang. Unsere Schuhe klapperten laut über den harten Steinboden. Das Geräusch hallte von den Wänden wider. Es klang so, als ob tausend
Kinder vor dem Vampir davonliefen! Meine Beine fühlten sich schwach und wie aus Gummi an. Aber ich zwang mich zu laufen. Wir rannten den dunklen Tunnel entlang. Cara beugte sich beim Laufen vor und streckte die Arme aus. Sie hielt die Taschenlampe fest in einer Hand. Der Lichtstrahl hüpfte überall herum. Aber wir brauchten das Licht gar nicht. Wir wussten, wohin wir liefen. Cara ist eine sehr schnelle Läuferin - viel schneller als ich. Als wir wieder um eine Kurve bogen, holte sie mit ihren langen Beinen kräftig aus und war mir ein ganzes Stück voraus. Ich warf einen Blick zurück. Folgte uns der Vampir? Ja. Er war dicht hinter mir, schwebte knapp unter der Decke und sein Cape flatterte hinter ihm her. »Cara - warte auf mich!«, rief ich außer Atem. Vor uns kam ein gelbes Lichtviereck in Sicht. Die Tür! Die Tür zu unserem Keller! Wenn wir nur die Tür erreichen können, dachte ich. Wenn wir es in den Keller schaffen, können wir die Tür hinter uns zuschlagen. Und Graf Nachtschwinge im Tunnel einsperren. Wenn wir es in den Keller schaffen, sind wir in Sicherheit. Mom und Dad müssten inzwischen zurück sein, sagte ich mir. Bitte seid zu Hause! Bitte! Vor uns wurde das Lichtviereck der offenen Tür größer. Cara rannte schnell und stieß bei jedem Schritt ein leises Keuchen aus. Ich war nur ein paar Meter hinter ihr. Ich rannte, so schnell ich konnte. Strengte mich mächtig an, sie einzuholen.
Ich drehte mich nicht um. Aber ich konnte das Flattern des Vampircapes hinter mir näher kommen hören. Cara hatte die Tür beinahe erreicht. Lauf, Cara, lauf!, dachte ich. Meine Brust fühlte sich an, als ob sie gleich platzen würde. Doch ich rannte noch schneller, verzweifelt bemüht aufzuholen. Die Tür zu erreichen. In den Keller und in Sicherheit zu springen. »Ohhhh!«, rief ich aus, als ich sah, wie das Lichtrechteck kleiner zu werden begann. »Die Tür - sie schließt sich!«, kreischte ich. »Neeeeiiiin!«, heulten Cara und ich gleichzeitig. Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss. Cara konnte nicht rechtzeitig anhalten und rannte gegen die Tür. Betäubt prallte sie zurück. Ich packte sie bei den Schultern, um ihr Halt zu geben. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie gab keine Antwort. Ihre Augen wanderten zur geschlossenen Tür. Automatisch streckte sie die Hand nach dem Türgriff aus. »Freddy...«, murmelte sie. »Sieh mal!« Kein Türgriff! Auf dieser Seite der Tür gab es keinen Griff. Mit einem wilden Schrei senkte ich die Schulter gegen die hölzerne Tür - und stemmte mich mit dem ganzen Körper dagegen. Wieder und wieder. Nichts passierte. Meine Schulter pochte und schmerzte. Doch die Tür rührte sich nicht. »Hilfe!«, schrie ich. »Hilfe! Lasst uns raus!« Zu spät. Graf Nachtschwinge hatte uns erwischt. Er landete leise, sein Cape fiel an ihm herunter. Auf seinem bleichen Gesicht breitete sich ein dünnes Lächeln aus. Die silbrigen Augen wurden vor Aufregung weit. Seine Zunge
fuhr über den verkrusteten trockenen Lippen hin und her. »Lauf an ihm vorbei«, flüsterte mir Cara ins Ohr. »Lauf zurück in den Tunnel. Vielleicht können wir ihn so lange hinter uns her jagen lassen, bis er müde wird.« Doch der Vampir hob sein Cape, um mir den Weg abzuschneiden. Konnte er unsere Gedanken lesen? Er hielt das Cape hoch und trat auf Cara zu. »So durstig ...«, murmelte er. » So durstig.« Dann senkte er das Gesicht zu Caras Hals hinunter.
»Lassen Sie sie los! Lassen Sie sie los!«, brüllte ich. Verzweifelt packte ich ihn und versuchte ihn wegzuziehen. Doch ich erwischte nur sein Cape. »Lassen Sie sie los! Stopp!«, flehte ich, während ich an dem Cape zerrte. Ich konnte Cara überhaupt nicht mehr sehen, sah nur das Cape des Vampirs und seine Schultern, als er den Kopf senkte, um ihr Blut zu trinken. »Bitte...!«, bettelte ich. »Ich besorge Ihnen etwas anderes zu trinken! Bitte - lassen Sie Cara gehen!« Zu meiner Überraschung hob Graf Nachtschwinge den Kopf. Er richtete sich auf und trat einen Schritt von Cara zurück. Cara hob die Hand an den Hals und rieb sich den Nacken. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen und ihr Kinn bebte. »Etwas stimmt nicht«, sagte Graf Nachtschwinge und schüttelte den Kopf. Er runzelte die Stirn. »Etwas stimmt ganz
und gar nicht.« Hastig wandte ich mich Cara zu. »Hat er dich gebissen?«, würgte ich hervor. Cara rieb sich den Hals. »Nein«, flüsterte sie. »Etwas stimmt nicht«, wiederholte der Vampir leise und hob eine Hand an den Mund. Ich beobachtete, wie er den Mund öffnete und einen Finger hineinsteckte. Er schloss die Augen und tastete in seinem Mund herum. »Meine Fänge!«, sagte er schließlich. Seine seltsamen Augen weiteten sich und sein Mund klappte auf. »Meine Fangzähne! Sie sind verschwunden!« Er wandte sich ab und begann noch einmal seinen Mund zu untersuchen. Das war meine Chance, begriff ich. Mit beiden Fäusten hämmerte ich gegen die Tür zum Keller. »Mom! Dad! Könnt ihr mich hören?«, rief ich. Graf Nachtschwinge schenkte mir keine Beachtung. Ich hörte ihn hinter mir stöhnen. »Meine wunderschönen Fangzähne!«, jammerte er. »Verschwunden. Verschwunden. Ohne meine Fänge werde ich verhungern!« Er riss den Mund weit auf und zeigte ihn Cara und mir. Keine Fangzähne. Überhaupt keine Zähne. Nur rosa Zahnfleisch. »Wir sind sicher vor ihm«, flüsterte ich Cara zu. Er ist zu alt und zu schwach, um uns etwas anzutun, sagte ich mir. Ohne Fangzähne kann uns der alte Vampir nichts anhaben. »Wir sind gerettet! Wir sind gerettet!«, schrie ich. Wie kann man sich nur dermaßen täuschen?
Der alte Vampir tastete weiter mit einem Finger im Mund herum und schüttelte dabei die ganze Zeit traurig den Kopf. Schließlich seufzte er und ließ die Hände sinken. »Verloren«, flüsterte er. »Verloren. Es sei denn...« »Es tut uns Leid, dass wir Ihnen nicht helfen können«, sagte ich. »Würden Sie jetzt bitte die Tür öffnen und uns in mein Haus zurücklassen?« Graf Nachtschwinge rieb sich das Kinn. Er schloss die Augen und dachte angestrengt nach. »Ja. Lassen Sie uns raus!«, beschwor Cara ihn eindringlich. »Wir können Ihnen nicht helfen. Also ...« Der alte Vampir riss die Augen auf. »Aber ihr könnt mir helfen!«, verkündete er. »Ihr werdet mir helfen!« Ich holte tief Luft. »Nein. Das werden wir nicht«, rief ich trotzig. »Lassen Sie uns gehen - jetzt sofort.« Er schwebte über uns in die Höhe und ließ den Blick von Cara zu mir wandern. Seine silbrigen Augen wirkten plötzlich kalt, eisig. »Ihr werdet mir helfen«, sagte er leise. »Ihr beide. Wenn ihr die Hoffnung haben wollt, jemals wieder nach Hause zurückzukehren.« Ich schauderte. Im Tunnel fühlte es sich plötzlich so kalt an, als ob ein eisiger Wind hindurchfegte. Ich schaute verzweifelt zur Tür. So nahe dran, dachte ich. Wir stehen so dicht davor, drinnen in unserem Haus in Sicherheit zu sein. Auf der anderen Seite der Tür wären wir außer Gefahr. Doch da konnten wir nicht hin. Wir konnten einfach nicht. Genauso gut hätten wir tausend Meilen weit entfernt sein können.
Ich wandte mich wieder dem eisigen Blick des alten Vampirs zu. Er ist böse, stellte ich fest. Sogar ohne seine Fangzähne ist er böse. »W-was müssen wir tun?«, stotterte Cara. »Ja. Was können wir tun?«, wiederholte ich. Er ließ sich auf den Boden herabsinken. Seine Miene entspannte sich. »Diese Phiole mit Vampirodem«, sagte er. »Habt ihr sie gesehen?« »Ja«, antwortete ich. »Wir haben sie gefunden. In Ihrem Sarg.« »Hast du sie?«, wollte er wissen und streckte mir begierig die Hand entgegen. »Hast du sie? Gib sie mir.« »Nein«, antworteten Cara und ich gemeinsam. »Wir haben sie nicht mitgenommen«, erklärte ich dem Grafen. »Ich glaube, ich hab das Fläschchen auf dem Boden liegen lassen.« »Wir ... wir haben es fallen lassen«, stotterte Cara. Der alte Vampir schnappte nach Luft. »Ihr habt was? Habt ihr es zerbrochen? Habt ihr den Vampirodem verschüttet?« »Es... es ist ausgelaufen«, antwortete ich. »Der Raum hat sich mit Rauch gefüllt. Wir haben den Stöpsel wieder draufgesteckt. Aber ...« »Wir müssen es finden!«, verkündete Graf Nachtschwinge. »Ich muss diese Phiole unbedingt haben. Wenn noch ein kleines bisschen Vampirodem darin ist, wird sie mich in meine Zeit zurückversetzen.« »Ihre Zeit?«, fragte ich. Er blinzelte mich an. »Eure Kleidung. Eure Haare. Ihr beiden stammt nicht aus meiner Zeit«, sagte er. »Welches Jahr haben wir?« Ich sagte es ihm.
Sein Mund klappte auf und er stieß ein verblüfftes Quieken aus. »Ich habe über hundert Jahre lang geschlafen!«, rief er aus. »Ich muss den Vampirodem finden. Er wird mich in die Zeit zurückversetzen. Zurück in die Zeit, als ich meine Fänge noch hatte.« Ich starrte ihn unverwandt an und versuchte zu begreifen, was er uns da erzählte. »Heißt das, dass Sie von hier verschwinden werden?«, fragte ich. »Falls sich in dem Fläschchen noch Vampirodem befindet, dann werden Sie hundert Jahre in der Zeit zurückgehen?« Der alte Vampir nickte. »Gewissss«, zischte er. »Ich werde in meine Zeit zurückkehren.« Doch dann wurden seine Augen wieder kalt. »Falls von dem wertvollen Vampirodem noch etwas übrig ist«, erklärte er bitter. »Falls ihr nicht alles verschüttet habt.« »Es muss noch etwas übrig sein!«, rief ich. Cara und ich folgten Graf Nachtschwinge den Tunnel entlang zurück. Er schwebte uns still voran, sein Cape flatterte hinter ihm her. »So durstig...«, murmelte er immer wieder. »So schrecklich durstig.« »Kaum zu glauben, dass wir in diesen Raum zurückkehren«, flüsterte ich Cara zu, während wir über den glatten Steinboden trabten. »Nicht zu fassen, dass wir dabei sind, einem Vampir zu helfen!« »Wir haben keine andere Wahl«, antwortete sie. »Wir wollen ihn loswerden - oder etwa nicht?« Ich platschte durch eine Pfütze und spürte kaltes Wasser an den Knöcheln. Der Tunnel wand sich und wir folgten ihm. Bis in den kleinen, quadratischen Raum. Graf Nachtschwinge trat an den Sarg, dann wandte er sich zu uns um. »Wo ist die Phiole?«, wollte er wissen. Ich hob meine Taschenlampe vom Boden auf und schaltete sie an. Einmal. Zweimal. Kein Licht. Sie musste
kaputtgegangen sein, als ich sie fallen gelassen hatte. Enttäuscht legte ich sie auf den Boden zurück. »Die Phiole«, wiederholte der alte Vampir. »Ich muss sie haben.« »Ich glaube, Freddy hat sie in den Sarg fallen lassen«, erklärte Cara. Sie trat in die Mitte des Raums und ließ das Licht ihrer Taschenlampe über den violetten Samt des Sarges auf und ab gleiten. »Nein. Da ist sie nicht«, sagte Graf Nachtschwinge ungeduldig. »Wo ist die Phiole? Ihr müsst sie finden. Ihr habt ja keine Vorstellung davon, wie durstig ich bin. Ich habe seit mindestens hundert Jahren nichts getrunken!« Er hat einen festen Schlaf!, dachte ich. »Sie muss irgendwo auf dem Boden liegen«, mutmaßte Cara. »Na, dann sucht sie endlich! Findet sie!«, kreischte der Vampir. Cara und ich begannen den Boden abzusuchen. Ich ging neben ihr her, weil sie die einzige Lampe hatte. Sie ließ den Lichtstrahl auf dem nackten Boden vor und zurück wandern. Keine Spur von der blauen Phiole. »Wo ist sie?«, flüsterte ich. »Wo?« »Es sollte doch eigentlich nicht so schwer sein, dieses Fläschchen in einem leeren Raum zu finden!«, rief Cara aus. »Denkst du, dass es vielleicht in den Tunnel hinausgerollt ist?«, fragte ich. Cara biss sich auf die Unterlippe. »Das glaube ich nicht.« Sie hob den Blick vom Boden und schaute mich an. »Wir haben es doch nicht zerbrochen - oder doch?« »Nein. Nachdem ich den Stöpsel draufgesteckt hatte, hab ich es irgendwo abgestellt«, antwortete ich. Als ich aufschaute, sah ich, dass uns der Vampir ärgerlich anfunkelte. »Ich verliere langsam die Geduld«,
warnte er uns und leckte über seine trockenen Lippen. Seine eisigen Augen wanderten von mir zu Cara. »Da ist es!«, rief Cara. Ihr Lichtkegel war unten auf den Sarg gerichtet. Da lag das blaue Fläschchen. Ich hastete durch den Raum, bückte mich rasch und hob den Vampirodem auf. Graf Nachtschwinges Augen blitzten vor Begeisterung. Auf seinem Gesicht breitete sich ein bleiches Lächeln aus. »Mach es auf - sofort!«, befahl er. »Mach es auf und schon bin ich fort. Zurück in meiner Zeit. Zurück in meiner wunderschönen Burg. Tschüss, Kinder. Tschüss. Mach es auf! Rasch!« Meine Hände zitterten. Mit der linken Hand hielt ich das blaue Fläschchen gut fest. Dann legte ich die rechte auf den Glasstopfen. Ich packte den Stopfen - und zog ihn aus dem Fläschchen heraus. Und wartete. Und wartete. Es passierte nichts.
Und dann hörte ich ein Wuuusch. Beinahe ließ ich das Fläschchen fallen, als oben grüner Nebel daraus hervorquoll. »Jaaaaa!«, rief ich fröhlich. Die Phiole war nicht leer! Der widerwärtige Geruch brachte mich dazu, nach Luft zu schnappen und dann den Atem anzuhalten. Aber das machte mir nichts aus. Ich schaute zu, wie der Nebel dichter und dichter
wurde, bis ich den Sarg in der Mitte des Raums schließlich nicht mehr sehen konnte. Bis ich Cara nicht mehr sehen konnte. Bis ich den alten Vampir nicht mehr sehen konnte. Der dunkle Nebel breitete sich aus und wirbelte durcheinander. Am liebsten hätte ich gejubelt und wäre auf und ab gehüpft. Weil ich wusste, dass Graf Nachtschwinge in diesem Nebel verschwinden würde. Und wir wären in Sicherheit, würden ihn nie wieder sehen. »Cara - alles in Ordnung mit dir?«, rief ich. Meine Stimme klang hohl, gedämpft vom herumwirbelnden Nebel. »Es stinkt!«, rief sie erstickt. »Halt die Luft an«, riet ich ihr. »Beim letzten Mal hat sich der Geruch schon nach Sekunden aufgelöst.« »Er ist soooo widerlich!«, heulte sie. Cara stand ganz in meiner Nähe. Aber ich konnte sie durch die Nebelschwaden hindurch nicht sehen. Es war schrecklich feucht und kalt. Plötzlich fühlte ich mich, als würde ich unter Wasser stehen. Als würde ich unter dem Meer stehen, während Welle um Welle über mich hinwegrollte. Ich hielt den Atem an, so lange ich konnte. Als meine Brust zu schmerzen begann, ließ ich ihn mit einem langen Wuuusch ausströmen. Erschöpft schloss ich die Augen und betete. Betete, dass sich die Schwaden auflösten, dass sich der Nebel auf den Boden absenkte und verschwand wie zuvor. Bitte, bitte dachte ich. Lass Cara und mich nicht in diesem ekelhaften Nebel ertrinken. Einige Sekunden später öffnete ich die Augen wieder. Ringsum herrschte Dunkelheit. Ich blinzelte ein paar Mal. In einiger Entfernung schimmerte ein fahles gelbes Rechteck aus Licht. Mondlicht, das durch ein Fenster hereinsickerte.
Ein Fenster? In diesem Raum gibt es kein Fenster!, sagte ich mir. Ich wandte mich um und entdeckte Cara. Sie schluckte schwer und schaute sich mit weit aufgerissenen Augen nervös im Raum um. »Er... er ist verschwunden«, murmelte sie. »Freddy - der Vampir ist fort.« Ich blinzelte in das dämmrige Licht. »Aber wo sind wir?«, flüsterte ich und deutete auf das offene Fenster, weit entfernt am anderen Ende des Raums. »Vorher gab es hier kein Fenster.« Cara nagte an ihrer Unterlippe. »Wir sind nicht im selben Raum«, sagte sie leise. »Dieser Raum hier ist so groß und ...« Sie brach ab. »Särge!«, stieß ich hervor. Während sich unsere Augen an das Licht gewöhnten, traten die niedrigen, klobigen Formen aus den Schatten hervor. Und mir wurde klar, dass ich auf zwei lange, gerade Reihen von Särgen blickte. »Wo sind wir?«, schrie Cara, die die Angst in ihrer Stimme nicht verbergen konnte. »Das muss eine Art Friedhof oder so was sein!« »Aber wir befinden uns nicht im Freien«, sagte ich. »Wir sind nicht auf einem Friedhof. Wir sind in einem Raum. Einem sehr langen Raum.« Ich warf einen Blick zur hohen Decke hinauf. Von dort oben hingen zwei Kristallkronleuchter herab, das Glas schimmerte im bleichen Mondlicht. An den dunklen Wänden hingen riesige Gemälde. Trotz des dämmrigen Lichtes konnte ich sehen, dass es sich dabei um Porträts handelte, Porträts streng dreinblickender Männer und Frauen in feierlichen, altmodischen dunklen Gewändern. Ich drehte mich zu den Sargreihen um - und begann sie
schweigend zu zählen. »In diesem Raum müssen an die zwei Dutzend Särge stehen«, flüsterte ich Cara zu. »Alle ordentlich in zwei geraden Reihen aufgestellt«, fügte sie hinzu. »Freddy, denkst du, dass ...?« »Er hat uns mitgenommen«, murmelte ich. »Was?« Cara kaute auf ihrer Lippe herum. »Graf Nachtschwinge. Er hat uns mit sich genommen«, wiederholte ich. »Er sollte in seine Burg zurückkehren alleine. Er sagte, er würde verschwinden und uns nie wieder sehen. Aber er hat uns mitgenommen, Cara. Ich bin sicher, das hat er.« Cara blickte unverwandt auf die Sargreihen. »Aber das kann er doch nicht tun!«, schrie sie. »Das kann er nicht!« Ich setzte zu einer Antwort an. Doch ein Geräusch ließ mich innehalten. Ein knarrendes Geräusch. Ich spürte, wie mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief, als ich ein weiteres Knarren hörte, näher diesmal. Cara packte mich am Arm. Sie hörte es ebenfalls. »Freddy - sieh nur«, wisperte sie. Ich blinzelte in das dämmrige Licht. »Die Särge...!«, flüsterte ich. Knarrend öffneten sich die Särge.
Die Sargdeckel hoben sich langsam. Ich konnte bleiche Hände sehen, die sie von innen anhoben. Knarrend schwangen die Deckel auf und blieben offen stehen. Cara und ich drängten uns dicht aneinander, unfähig, uns zu bewegen. Unfähig, unsere Augen von dem Grauen erregenden Anblick abzuwenden. Man hörte leises Ächzen und Stöhnen, als die Vampire
sich aufsetzten. Knochige Hände umklammerten die Sargränder. Ich hörte Husten. Trockene Kehlen räusperten sich. Langsam richteten die Vampire sich auf. Ihre Gesichter leuchteten im Mondlicht gelb. Ihre Augen schimmerten matt, in bleichem Silber. »Ohh!« Ihr Stöhnen hallte von den hohen Wänden wider. Knochen knirschten und knackten. Die Vampire sahen so alt aus. Älter als die ältesten Leute, die man auf der Straße sieht. Ihre Haut wirkte dünn und war so straff gespannt, dass man die Knochen darunter sehen konnte. Lebende Skelette, dachte ich. Ihre uralten Knochen knackten, wenn sie sich bewegten. »Ohhh!« Sie richteten sich auf. Beine, dünn wie Spinnenbeine, tasteten sich über die Sargränder. Endlich bewegten Cara und ich uns. Wir wichen in die tiefen Schatten an der Wand zurück. Man hörte mehr Husten. In der Nähe des Fensters beugte sich ein weißhaariger Vampir über den Rand seines Sarges und machte grässliche, würgende Geräusche. »So durstig...«, hörte ich einen von ihnen flüstern. »So durstig... so durstig...«, wiederholten andere. Sie schoben sich aus ihren Särgen, streckten sich und stöhnten. »So durstig... so durstig...«, jammerten sie im Chor. Ihre Stimmen klangen trocken und krächzend, als ob ihre Hälse entzündet, als ob sie heiser wären. Sie waren alle schwarz gekleidet. In feierliche schwarze Anzüge. Mit weißen, steifen Kragen, die weit über das Kinn hochragten. Einige trugen lange, glänzende Capes. Sie rückten ihre Capes mit knochigen weißen Fingern zurecht und schwangen sie über ihre gebeugten dürren Schultern nach
hinten. »So durstig... so durstig...« Ihre silbrigen Augen leuchteten heller, als sie munter zu werden schienen. Und dann begannen sie, zwischen den beiden Sargreihen stehend, mit ihren knochendürren Armen zu schlagen. Anfangs nur langsam. Ihre Arme knackten, als sie sie auf und ab bewegten. Die silbrigen Augen in den bleichen, alten Gesichtern glühten. Auf und ab. Auf und ab. Sie schlugen schneller mit den Armen, stöhnten und grunzten. Die Geräusche hallten von den Wänden und der hohen Decke wider. Nun schlugen sie schneller. Schlugen. Schlugen. Und während Cara und ich verblüfft und mit offenen Mündern zusahen, begannen die hinfälligen, stöhnenden alten Männer zu schrumpfen. Das Schlagen ihrer Arme wurde zum Flattern schwarzer Flügel. Ihre roten Augen glühten aus mausähnlichen Gesichtern hervor. In wenigen Sekunden schrumpften und verwandelten sie sich. Sie wurden alle zu flügelschlagenden, schwarzen Fledermäusen. Und ihre roten Augen richteten sich auf Cara und mich.
Sahen sie uns? Konnten sie uns, in der tiefen Dunkelheit mit den Rücken gegen die Wand gepresst, sehen? Die Fledermäuse flatterten über die offenen Särge empor. Ihre schwirrenden Flügel glänzten im Mondlicht silbrig.
Ich hörte ein Rasseln, ähnlich dem Warngeräusch einer Schlange. Aber das Rasseln verwandelte sich rasch in ein Zischen. Die Fledermäuse öffneten ihre Mäuler, bleckten spitze gelbe Fangzähne - und zischten. Was für ein Geräusch! Ein gellendes, wütendes Pfeifen, das höher und schriller anschwoll, bis es das Klatschen ihrer flatternden Flügel völlig übertönte. Ein Angriffszischen. Nun waren sie wach und bereit. Bereit, auf uns herabzustoßen, uns zu Boden zu reißen, ihre spitzen Zähne tief in unsere Hälse zu graben und zu trinken ... zu trinken... »Freddy ...!«, schrie Cara und hob die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen. «Freddy...!« Das schrille Zischen kreiste uns ein. Ich hielt mir die Ohren zu, versuchte es auszuschalten. Hielt mir die Ohren zu. Beobachtete die roten, glühenden Augen - und erwartete ihren Angriff. Doch zu meiner Verblüffung schossen die Fledermäuse nicht auf uns herab. Sie schwangen sich höher und höher. Machten kehrt. Und flatterten in einer Reihe hintereinander durch das Fenster am anderen Ende des Saales hinaus. Mir blieb der Mund offen stehen. Nun fiel mir auf, dass ich zu atmen vergessen hatte. Ich sah ihnen zu, wie sie mit raschen Schlägen ihrer glänzenden Flügel im Mondlicht verschwanden und ihr schrilles Zischen mit ihnen. Dann holte ich tief Luft und ließ sie langsam ausströmen. »Cara«, flüsterte ich. »Wir haben's überstanden. Sie haben uns hier hinten nicht gesehen.« Sie nickte, gab aber keine Antwort. Eine dicke Strähne ihrer schwarzen Haare klebte an ihrer Stirn. Mit zitternder Hand strich sie sie nach hinten.
»Wow!«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Wow!« »Wir haben's überstanden«, wiederholte ich und ließ den Blick durch den Saal wandern. Die offenen Särge erstreckten sich bis zum Fenster. Ihr dunkles Holz schimmerte im Mondlicht. Lange Schatten krochen über den Boden. »Jetzt haben wir's überstanden«, sagte ich noch einmal. »Wir sind alleine.« Schritte hinter uns ließen uns beide aufschreien. Ein Räuspern war zu hören. Ich fuhr so heftig herum, dass ich beinahe hingefallen wäre. Mit großen Schritten kam Graf Nachtschwinge, eine lodernde Fackel in der Hand, in den Saal. Der Lichtschein der Fackel flackerte über sein glattes Gesicht. Er riss die silbrigen Augen vor Überraschung weit auf. »Was macht ihr zwei denn hier?«, wollte er wissen. Ich öffnete den Mund, um zu antworten. Doch ich brachte nichts als ein ersticktes Gurgeln heraus. »Ihr gehört nicht hierher«, dröhnte der alte Vampir und fuchtelte mit der lodernden Fackel vor uns herum. Während er sie schwang, zeichnete sie eine orange Leuchtspur in die Luft. »Ihr habt kein Recht dazu, hier zu sein. Dies ist meine Zeit. Und das hier ist meine Burg.« Er hob vom Boden ab. Seine Augen glühten plötzlich so hell wie die Flamme der Fackel. »Ihr gehört nicht hierher!«, wiederholte er wütend. »Aber... aber ...«, stammelte ich voller Angst und zornig und verwirrt - alles zugleich. »Aber Sie haben uns hierher gebracht!«, protestierte Cara wütend und fuchtelte anklagend mit dem Finger vor ihm durch die Luft. »Wir sind Ihnen nicht gefolgt!« »Sie hat Recht!« Endlich hatte ich meine Stimme wieder gefunden. »Sie haben uns versprochen, dass Sie verschwinden
und uns alleine lassen würden. Aber Sie haben uns in Ihre Burg mitgenommen.« Immer noch einen Meter über dem Boden schwebend, hielt Graf Nachtschwinge die Fackel mit einer Hand und rieb sich mit der anderen über das zerbrechlich wirkende Kinn. »Hmmm«, murmelte er. Seine Augen strahlten uns entgegen. »Hm.« »Sie müssen uns nach Hause schicken«, erklärte Cara, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Schicken Sie uns nach Hause - jetzt gleich.« Schweigend ließ sich Graf Nachtschwinge auf den Boden sinken. Im lodernden Schein der Fackel sah er plötzlich müde aus. Das Leuchten in seinen Augen wurde matt. Er seufzte. »Schicken Sie uns einfach nach Hause«, wiederholte Cara hartnäckig. »Wir werden niemandem erzählen, dass wir Sie gesehen haben. Wir werden alles einfach vergessen.« Der alte Vampir strich das Cape zurück und schüttelte den Kopf. »Ich kann euch nicht nach Hause schicken«, flüsterte er. »Wieso nicht?«, wollte ich wissen. Er seufzte wieder. »Ich weiß nicht, wie.« »Was?«, schrien Cara und ich. »Ich habe keine Ahnung, wie ich euch nach Hause schicken könnte«, wiederholte Graf Nachtschwinge. »Ich bin Vampir - kein Zauberer.« »Aber... aber... aber ...«, fing ich wieder zu stottern an. Vor Panik zitterte ich am ganzen Körper. »Was werden wir dann tun?«, wollte Cara mit schriller Stimme wissen. Der alte Vampir zuckte die Achseln. »Es ist im Grunde kein Problem«, antwortete er leise. »Überhaupt kein Problem.
Sobald ich meine Fangzähne gefunden habe, trinke ich euer Blut. Und verwandle euch beide in Vampire.«
»Aber wir wollen nach Hause!«, brüllte ich. »Wir möchten keine Vampire werden!«, heulte Cara. »Das ist nicht fair! Wir haben Ihnen geholfen! Jetzt müssen Sie uns helfen!« Der alte Vampir hörte uns nicht zu. Im orangen Schein der Fackel sah ich, dass seine Augen einen verträumten Ausdruck bekommen hatten. »Der Vampirodem«, flüsterte er. »Ich brauche ihn -jetzt.« »Schicken Sie uns nach Hause - jetzt!«, befahl ihm Cara. »Ich meine es ernst. Schicken Sie uns heim!« Ich ballte die Hände zu Fäusten, so wütend war ich. Wir hatten ihm schließlich geholfen in seine Burg zurückzukehren. Und was hatte er als Gegenleistung im Sinn? Uns in den Hals zu beißen und zu Vampiren zu machen. Uns für immer und ewig hier zu behalten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, hier in dieser Burg zu leben. Den ganzen Tag über in einem Sarg zu schlafen. In der Nacht aufzustehen und mich in eine Fledermaus zu verwandeln. Nacht für Nacht hinauszufliegen auf der Suche nach Hälsen, um hineinzubeißen. Für immer. Der bloße Gedanke daran ließ mich vor Entsetzen beben. Ich werde mich nie wieder beklagen, wenn ich bei Tyler Brown babysitten muss, beschloss ich. Und dann ließ ein schrecklicher Gedanke mein Herz einen
Schlag lang aussetzen: Möglicherweise würde ich Tyler Brown nie wieder sehen. Oder Mom und Dad. Oder irgendeinen meiner Freunde. »Sie müssen uns nach Hause schicken!«, schrie ich Graf Nachtschwinge an. »Sie müssen!« Er lief nun ruhelos vor uns hin und her. Offenbar dachte er angestrengt nach. Ich glaube, ihm war noch nicht einmal bewusst, dass Cara und ich im Raum waren. »Vampirodem«, wiederholte er. »Ich muss den Vampirodem finden.« Wo ist das Fläschchen mit Vampirodem!, fragte ich mich. Ich hatte es in der Hand gehalten, als ich es zuvor in dem kleinen Raum öffnete. Ich suchte die Umgebung ab. Keine Spur von dem kleinen blauen Fläschchen. Es muss verschwunden sein, als wir in der Zeit zurückgereist sind, dämmerte es mir. »Wozu brauchen Sie ihn?«, fragte Cara. Der alte Vampir schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wenn er wach ist, braucht ein Vampir jeden Tag Vampirodem«, sagte er leise. »Wir können nicht von Blut alleine leben.« Gespannt starrten Cara und ich ihn an und warteten darauf, dass er fortfuhr. »Wir leben alle zusammen hier in meiner Burg«, erklärte er uns mit seiner heiseren, flüsternden Stimme. »Wir leben hier, damit wir immer in der Nähe unseres Vorrats an Vampirodem sind. Jeder von uns hat seine eigene Phiole. Wir hüten sie sorgfältig.« Er seufzte. »Doch nun erinnere ich mich - der Vorrat ging zur Neige. Ich war bereits beim letzten Fläschchen angelangt. Das muss ich finden. Ich muss!« »Was bringt es Ihnen?«, wollte ich wissen. »Alles!«, schrie Graf Nachtschwinge. »Vampirodem tut
alles für einen Vampir! Er macht es einem möglich, in der Zeit zu reisen. Er kann uns unsichtbar machen und wieder erscheinen lassen. Er erhält unsere Haut glatt und rein. Er gibt uns Kraft und hilft uns zu schlafen. Er bewahrt unsere Knochen davor, zu Staub zu trocknen. Er hält unseren Atem frisch!« »Wow!«, murmelte ich staunend. »Aber wie hilft er Ihnen, Ihre Fangzähne wieder zu finden?«, wollte Cara wissen. »Vampirodem frischt mein Gedächtnis auf«, erklärte der alte Vampir. »Wenn man hunderte von Jahren lebt, ist es schwer, alles im Kopf zu behalten. Der Vampirodem wird mir helfen, mich daran zu erinnern, wo ich meine Fangzähne gelassen habe.« Er fuhr herum. Seine Augen bohrten sich in meine. »Die Phiole. Hast du sie noch?« Ich konnte die Macht seiner silbrigen Augen fühlen. Spürte, wie sie sich in meine bohrten und meine Gedanken erforschten. »N-nein ...!«, stotterte ich. »Ich habe sie nicht.« »Aber es würde Ihnen nichts nützen!«, rief Cara. »Wir haben das Fläschchen leer gemacht, schon vergessen? Wir haben es leer gemacht, um Sie hierher zurückzubringen.« Graf Nachtschwinge schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das war in der Zukunft«, schnauzte er. »Das war über hundert Jahre in der Zukunft. Jetzt schreiben wir das Jahr 1880, du erinnerst dich? 1880 war das Fläschchen noch voll.« Mir drehte sich alles im Kopf. Ich lehnte mich an einen der Särge und versuchte Sinn in das, was er sagte, zu bringen. Der alte Vampir begann wieder auf und ab zu laufen und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich habe das Fläschchen irgendwo versteckt«, murmelte er. »Ich hab es versteckt, damit die anderen es nicht finden und benutzen konnten, während
ich mein Nickerchen hielt. Aber wo? Wo habe ich es versteckt? Ich muss es finden. Ich muss.« Hastig verließ er uns, sein langes violettes Cape flatterte hinter ihm drein. Die orangen Flammen der Fackel tanzten vor ihm her, während er auf den Ausgang zuschwebte. »Wo? Wo?«, fragte er sich selbst kopfschüttelnd. Ein paar Sekunden später war er verschwunden. Cara und ich blieben zwischen den Sargreihen in dem Saal alleine zurück. Cara seufzte unglücklich und deutete auf die Särge. »Ich hoffe, ich bekomme einen in der Nähe des Fensters«, scherzte sie. »Ich steh auf jede Menge frische Luft.« Ich lehnte noch immer an dem Sarg, der uns am nächsten stand. Jetzt richtete ich mich auf und schlug wütend gegen die Seitenwand. »Ich glaub das alles nicht!«, schrie ich. »Ich bin erst zwölf«, stöhnte Cara. »Ich bin noch nicht bereit dazu, zu sterben und anschließend für immer zu leben.« Ich schluckte schwer. »Du weißt, was wir zu tun habenoder nicht?«, sagte ich leise. »Wir müssen den Vampirodem finden, bevor Graf Nachtschwinge es tut. Wenn er ihn zuerst findet und seine Fangzähne wiederkriegt, sind wir verratzt.« »Das seh ich aber anders«, antwortete Cara heftig. »Ich habe einen viel besseren Plan.« »Einen besseren Plan? Und der wäre?«, wollte ich wissen.
Cara schaute zur Tür und dann zurück zu mir. »Wir müssen von hier verschwinden«, flüsterte sie. »Das ist dein Plan?«, rief ich aus. »Das ist alles? Das soll
ein Plan sein?« Sie nickte und legte einen Finger auf die Lippen. »Vielleicht können wir Hilfe finden, wenn wir aus der Burg davonlaufen«, führte sie aus. »Wenn wir hier bleiben, sind wir verloren, ganz egal, was wir tun. Wenn wir hier bleiben, sind wir in seiner Gewalt.« »Wie sollte uns irgendjemand helfen können?«, hielt ich ihr entgegen. »Wir sind hier über hundert Jahre in der Vergangenheit - schon vergessen? Wie sollte uns jemand außerhalb der Burg helfen, zurück in die Zukunft zu kommen?« »Weiß ich nicht«, antwortete Cara unglücklich. »Ich weiß nur, dass wir überhaupt keine Chance haben, wenn wir hier in dieser unheimlichen Burg bleiben.« Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen. Aber mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Wahrscheinlich hatte Cara Recht. Zu fliehen war unsere einzige Chance. »Komm schon«, flüsterte sie ungeduldig. Sie packte meine Hand und begann mich an den Sargreihen entlang hinter sich her zu ziehen. Ich hielt sie auf. »Wohin gehen wir?« Sie deutete mit ihrer Hand. »Zu dem Fenster. Lass uns nachsehen, ob wir rausklettern können.« Der Saal war so lang wie unsere Schulturnhalle. Wir hasteten zwischen den beiden Reihen offener Särge hindurch. Ich konnte meine Augen nicht von ihnen wenden. Vampire schlafen darin. Das war es, was mir durch den Sinn ging, während wir an ihnen vorbeihasteten. Cara und ich schlafen vielleicht auch bald darin. Ich schauderte. Und blieb stehen. »Cara, sieh mal.« Mit dem Kinn deutete ich auf das Fenster vor uns.
Sie seufzte. Ihr war klar, was ich meinte. Das große Fenster saß sehr hoch oben in der Wand. Weit über unseren Köpfen. Selbst mit einer Leiter hätten wir es nicht erreichen können. »Die einzige Möglichkeit, durch dieses Fenster hinauszukommen, ist zu fliegen«, sagte ich leise. Cara runzelte die Stirn und starrte zu dem Fenster empor. »Ich hoffe, du und ich verbringen nicht den Rest unseres Lebens damit, mit unseren Fledermausflügeln zu schlagen und durch dieses Fenster rein- und rauszufliegen«, sagte sie. »Es muss einen Weg aus dieser Burg hinaus geben«, erklärte ich und zwang mich, zuversichtlich zu klingen. »Komm mit. Lass uns den Haupteingang finden.« »Freddy - nein!« Cara zog mich zurück. »Wir können nicht einfach so durch die Gänge laufen. Graf Nachtschwinge wird uns sehen.« »Wir werden vorsichtig sein«, sagte ich. »Komm schon, Cara. Wir finden einen Weg hinaus.« Wir drehten um und liefen Seite an Seite an den leeren Särgen vorbei zurück. Durch die Tür hinaus. Und in einen langen, spärlich erleuchteten Gang. Der Gang schien sich über Meilen zu erstrecken. Dunkle Holztüren säumten ihn zu beiden Seiten. Die Türen waren alle geschlossen. Über jeder Tür verbreitete eine Gaslampe einen sanften gelben Lichtschein. Meine Schuhe sanken im dicken, blauen Teppich ein. Die Luft roch abgestanden und schwefelig. Ich warf einen Blick zu dem Raum mit den Särgen zurück. Ein hässlicher Wasserspeier aus Stein, der über der Tür angebracht war, grinste heimtückisch auf uns herab. Schnell wandte ich mich von seinem bösen Blick ab und schaute den langen Gang hinauf und hinunter. Die Reihen von
Türen erstreckten sich in beiden Richtungen. »Wohin?«, flüsterte ich. Cara zuckte die Achseln. »Das spielt keine große Rolle. Wir müssen nur eine Tür oder ein Fenster, irgendeinen Weg nach draußen finden.« Schweigend schritten wir über den dicken Teppich. Die Gaslampen spendeten ein düsteres Dämmerlicht. Während wir so dahingingen, schienen sich unsere Schatten hinter uns zu verstecken. Vor der ersten Tür, an der wir vorbeikamen, blieben Cara und ich stehen. Ich packte den Messinggriff und drehte ihn. Die schwere Tür knarrte, als sie aufging. Wir spähten in einen großen, rechteckigen Raum voller Möbel, die mit weißen Tüchern abgedeckt waren. Neben einer langen, verhüllten Couch ragten Stühle wie Gespenster auf. In der Ecke neben einem rußigen offenen Kamin bewachte eine Standuhr den Raum. Cara zeigte auf die schweren schwarzen Vorhänge, die vor der gegenüberliegenden Wand hingen. »Dahinter muss sich ein Fenster befinden. Das sollten wir uns gleich mal ansehen.« Wir sausten quer durch den Raum. Meine Schuhe rutschten über den Boden. Ich schaute hinunter und sah, dass der Boden von einer zwei Zentimeter dicken Staubschicht überzogen war. »Ich glaube nicht, dass dieser Raum in letzter Zeit benutzt wurde«, sagte ich. Cara gab keine Antwort. Sie packte ein Ende der schweren Gardine und zog daran. Ich eilte ihr zu Hilfe. Der Vorhang glitt zur Seite. Dahinter befand sich ein staubbedecktes Fenster. »Großartig!«, rief ich. »Von wegen großartig«, antwortete Cara
niedergeschlagen. Ich sah sofort, was sie meinte. Vor dem Fenster waren dicke eiserne Gitterstäbe angebracht. Mit einem grimmigen Stöhnen schob sie den Vorhang an Ort und Stelle zurück. Wir liefen wieder auf den Gang hinaus und versuchten unser Glück mit der nächsten Tür. Diesmal traten wir in einen kleinen Raum voller Schrankkoffer, die bis zur hohen Decke hinauf aufeinander gestapelt waren. In dem ganzen Raum gab es kein Fenster. Im nächsten Zimmer stand ein riesiger, alter dunkler Holzschreibtisch in der Mitte und an den Wänden reichten Regale voll mit uralt aussehenden Folianten vom Boden bis zur Decke. Das Fenster war ebenfalls mit einem schweren schwarzen Vorhang zugehängt. Eifrig zog ich die Gardine zurück - und fand dahinter ein weiteres eingestaubtes Fenster. Und noch mehr dicke eiserne Gitterstäbe. »Verdammt«, murmelte ich. »Diese Burg ist wie ein Gefängnis«, flüsterte Cara mit bebender Stimme. Ihre dunklen Augen glühten ängstlich. »Aber es muss einen Weg hinaus geben.« Wir schlichen uns zurück in den langen Korridor. Dort blieb ich stehen, weil ich ein leises flatterndes Geräusch vernahm. Fledermausflügel ? Kehrten die Vampire zurück? Cara hörte es ebenfalls. »Beeil dich«, wisperte sie. Hastig rissen wir die nächste Tür auf und stürmten hinein. Sorgfältig schloss ich die Tür hinter uns. Dann wandte ich mich um und stellte fest, dass wir einen großen Speisesaal betreten hatten. Ein langer Tisch nahm beinahe den ganzen Raum ein. Abgesehen von einem großen Kerzenleuchter in der Mitte war
er leer. Auf dem Kandelaber steckten weiße Kerzenstummel. Auf der Tischplatte hatte heruntergetropftes Wachs kleine erstarrte Pfützen gebildet. Die Wachsflecken lagen unter einer grauen Staubschicht. »Hier ist seit langer Zeit niemand gewesen«, murmelte ich. Cara war bereits am Fenster. Sie zog die Gardine zurück und legte ein weiteres vergittertes Fenster frei. Frustriert raufte sie sich die Haare. »Jedes Fenster! Jedes der Fenster ist vergittert!«, heulte sie. »Und wir können nicht ewig durch diese Korridore laufen. Sonst wird uns noch jemand finden.« Während ich auf den langen, staubbedeckten Esstisch blickte, kam mir eine Idee. »Vampire essen nicht«, sagte ich. »Und wenn schon«, schrie Cara und schlug mit der Faust gegen den schweren schwarzen Vorhang. »Also gehen sie wahrscheinlich nie in die Küche«, fuhr ich fort. »Also dürften wir in der Küche in Sicherheit sein. Und vielleicht gibt es von dort eine Tür nach draußen. Vielleicht...« Cara seufzte. »Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.« Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf. »In dieser unheimlichen alten Burg gibt es tausende von Räumen. Wie sollen wir da die Küche überhaupt finden?« Ich nahm sie an den Schultern und führte sie zur Tür. »Nun, dies hier ist der Speisesaal, richtig? Vielleicht ist die Küche ganz in der Nähe des Speisesaals.« »Vielleicht, vielleicht, vielleicht«, wiederholte sie verdrossen. Ich schob sie auf den Korridor hinaus und führte sie zur nächsten Tür. Wir öffneten sie und schauten hinein. Nein. Das war nicht die Küche. Rasch schlichen wir den Gang entlang weiter und
öffneten eine Tür nach der anderen. Nicht die Küche. Nicht die Küche. Immer wieder schauten wir zurück, um nach Graf Nachtschwinge Ausschau zu halten, und hofften, dass wir nicht auf ihn stoßen würden. Wir bogen um eine Ecke und befanden uns nun in einem schmaleren, dunkleren Gang. Versuchsweise öffnete ich die erste Tür. Ja! Da war sie: eine altmodische Küche mit einem großen offenen Herd, einem riesigen Abzug und geschwärzten Töpfen und Pfannen, die neben dem Herd an der Wand hingen. Rasch ließ ich den Blick durch den Raum schweifen. Er blieb an dem breiten Küchenfenster hängen. Kein schwarzer Vorhang. Und keine Gitterstäbe! »Jawollll!«, jubelte Cara. Wir stürzten auf das Fenster zu. Konnten wir es öffnen? Wir versuchten es hochzuschieben. Doch es gab keine Griffe, nichts, woran wir den Rahmen hätten packen können. »Schlag es ein!«, rief Cara. »Schlag das Fenster ein!« Rasch lief ich zur Wand, riss eine schwere Bratpfanne herunter und schleppte sie zum Fenster. Ich holte weit aus. Machte mich für den Schlag bereit. »Oh!«, rief ich, als ich ein Husten hörte. Hinter uns. Vom Korridor her. »Das ist er!«, wisperte ich. »Das ist Graf Nachtschwinge!« »Schlag das Fenster ein!«, forderte Cara hartnäckig. »Nein. Er würde uns hören. Er würde uns finden«, flüsterte ich zurück. Ich senkte die Bratpfanne und setzte sie auf dem Boden ab. Dann wandte ich mich um, um mir das Fenster genauer anzusehen.
Noch ein Husten. Näher diesmal. »Guck mal«, flüsterte ich Cara zu. »Ich glaube, es geht nach außen auf.« Ich streckte die Hände aus und drückte gegen die staubbedeckte Scheibe. Stemmte mich dagegen. Drückte mit aller Kraft. Langsam, ganz langsam glitt es nach außen. Ächzend schob ich es so weit auf, wie es nur ging. Eine Böe kühler Nachtluft blies mir entgegen. Ich nahm Cara an der Hand und begann ihr hochzuhelfen. Ein Geräusch hinter uns auf dem Korridor ließ mich zusammenzucken. »Mach schnell...!«, flüsterte ich. »Er kommt!« Mein Herz hämmerte heftig, als ich Cara auf die Fensterbank hochschob. Dann kletterten wir wild entschlossen auf den Fenstervorsprung hinaus.
»Hat er uns gesehen? War er in der Küche?«, flüsterte Cara. »Weiß ich nicht«, antwortete ich. »Ich hab ihn nicht gesehen. Aber er war eindeutig auf dem Korridor.« »Wenn er uns gesehen hat...«, begann Cara. Eine Windböe verschluckte den Rest ihres Satzes. Der Nachtwind fühlte sich kühl und erfrischend an. Schwere Wolken schoben sich vor den vollen Mond und tauchten uns in völlige Dunkelheit. Wir hockten auf den Knien, den Rücken zur Küche. Eng an Cara gedrückt, hatte ich alle Mühe, auf dem schmalen steinernen Fenstersims das Gleichgewicht zu bewahren. »Lass uns verschwinden«, drängte ich.
Wir drehten uns mit den Gesichtern zur Küche um. Dann schoben wir, während wir uns mit beiden Händen am Fenstersims festkrallten, unsere Beine an der Wand hinab und versuchten mit den Füßen den Boden zu ertasten. Tiefer. Tiefer... »He...!«, schrie ich, als ich unter meinen Füßen nichts Festes spüren konnte. Ein Mondstrahl brach durch die Wolken. Ich schaute nach unten. Und riss den Mund zu einem heiseren Schrei auf. Meine Füße hingen frei in der Luft. Mit den Händen hielt ich mich oben am Fenstersims fest. Ich starrte nach unten ins Nichts. Tief unten konnte ich dunkle, gezackte Felsen sehen, die matt im Mondschein schimmerten. Tief unten! Kilometer unter uns! »Wir... wir sind auf der Spitze einer Felsenklippe!«, stotterte Cara. »Die Burg - sie ist auf eine Klippe gebaut! « »Oh!« Ich stöhnte vor Entsetzen auf. Die Burg war hoch oben auf nacktem Fels errichtet. Und nun baumelten wir über dem Abgrund. Hingen an unseren Armen. Baumelten ... Meine Arme begannen zu schmerzen. Ich konnte spüren, wie meine Hände rutschten und den Halt am steinernen Fenstersims über mir verloren. »Cara...!«, keuchte ich.
Meine Hände schrappten über die dunklen Steine der Wand. Verzweifelt versuchte ich mich irgendwo festzuhalten an irgendetwas! Aber ich fiel zu schnell. Ich strampelte mit den Beinen. Schlug mit den Armen um mich. Der Wind blies mir entgegen, als ob er versuchte mich nach oben zurückzutragen. War ich das etwa, der so heulte? Ich fiel zu schnell, um meinen eigenen Schrei hören zu können. Und dann hörte ich plötzlich auf. Hörte auf zu schreien. Hörte auf zu fallen. Ein schwarzer Schatten fegte um mich herum. Ich spürte, wie sich etwas Scharfes in meine Schultern grub. Heißer Atem streifte meinen Nacken. Ich vernahm ein lautes, klatschendes Geräusch. Einen flatternden Herzschlag. In dem Schatten eingeschlossen, spürte ich, wie ich emporgetragen wurde. Ich wandte den Kopf - und sah zwei glühende rote Augen. Der heiße Atem kam aus einem dunklen aufgerissenen Mund. Er wird mich auffressen!, schoss es mir durch den Kopf. Ich bin in einem rotäugigen Schatten eingeschlossen. Von seinen Krallen festgehalten, während er mich höher trägt. Höher. Und dann umgab mich Dunkelheit. Ich landete irgendwo. Landete mit einem dumpfen Geräusch unsanft auf meinen Füßen. Die Dunkelheit hob sich. Ich öffnete die Augen und erblickte Cara. Ihr Mund stand vor Verblüffung offen. »Freddy...!«, brachte sie erstickt heraus. »Freddy...?«
Als ich mich zu dem großen offenen Fenster umdrehte, sah ich die riesige Fledermaus, die mich zurück in die Küche getragen hatte. Ihre Schwingen klatschten auf den Boden. Die roten Augen funkelten zornig. Sie hat mir das Leben gerettet!, machte ich mir klar. Ich sank auf die Knie. Dabei hielt ich mich am Ofen fest, als Stütze, um mich aufrecht zu halten. Alles in Ordnung mit mir. Mit mir ist gleich wieder alles in Ordnung, redete ich mir zu. Ich hob den Blick zu der riesigen Fledermaus. Sie begann zu schrumpfen. Zog sich unter ihre Flügel zurück. Legte die Flügel um ihren Körper. Die Flügel verwandelten sich in ein Cape. Ein violettes Cape. Und als das Cape zurückgeschwungen wurde, kam Graf Nachtschwinge zum Vorschein. »Du hast einen schwerwiegenden Fehler gemacht, junger Mann«, schimpfte er mit ernstem Gesicht. Seine seltsamen silbrigen Augen bohrten sich zornig in meine. »Hast du gedacht, du könntest fliegen?«, wollte er höhnisch wissen. »Du bist noch nicht bereit zum Fliegen - noch nicht!« »Ich ... ich ... ich ...« Ich war noch immer so heftig am Zittern, dass ich nicht antworten konnte. »Wenn ich dich in einen Vampir verwandle, kannst du jede Nacht fliegen«, schnarrte Graf Nachtschwinge und beugte sein Gesicht dicht an meines, so dicht, dass ich den Verwesungsgeruch seiner bleichen Haut riechen konnte. »Versuch nicht noch einmal zu fliegen«, knurrte er. »Das ist Zeitverschwendung. Und das nächste Mal... fange ich dich nicht auf.« Ich schluckte schwer. Hielt den Atem an und versuchte mein Herz unter Kontrolle zu bekommen. Graf Nachtschwinge wandte sich von mir ab. Das violette Cape wehte hinter ihm her, als er an Cara vorbei
durch die Küche schwebte. An der Tür hielt er inne und drehte sich mit Schwung noch einmal zu uns um. »Steht da nicht so herum«, befahl er. »Kommt mit und helft mir den Vampirodem zu finden. Ich weiß, er befindet sich irgendwo in diesem Flügel.« Er fasste sich an seinen bleichen Hals. »Ich bin so durstig... so schrecklich durstig.« Dabei fixierte er erst Cara und dann mich mit seinen silbrigen Augen. »Ich muss mich daran erinnern, wo ich meine Fangzähne abgelegt habe. Beeilt euch. Helft mir den Vampirodem zu finden. Er ist hier irgendwo ganz in der Nähe. Da bin ich sicher.« Cara und mir blieb keine andere Wahl. Er war an der Tür stehen geblieben und wartete darauf, dass wir ihm folgten. Mich am Ofen festhaltend, rappelte ich mich mühsam auf. Dann folgte ich Cara durch die Küche hindurch auf den Korridor. »Vielleicht habe ich das Fläschchen im Königlichen Gästezimmer gelassen«, sagte Graf Nachtschwinge, mit sich selbst redend. Er öffnete eine Tür und verschwand in dem Raum. Cara und ich gingen weiter. Der Gang schien sich meilenweit vor uns auszudehnen. Tür auf Tür auf Tür. Und das hier war nicht der einzige Flügel dieser alten Vampirburg. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Cara und musterte mich im Weitergehen aufmerksam. »Du wirkst immer noch ein bisschen wackelig auf den Beinen.« »Ich bin noch immer wackelig auf den Beinen«, gestand ich. »Immerhin bin ich von der Klippe herabgestürzt. « Cara schüttelte den Kopf. »Es wird nicht leicht werden, von hier abzuhauen.« »Wir können nicht fliehen«, bestätigte ich. »Diese Burg wurde hier oben auf dem Felsen erbaut, um zu verhindern,
dass irgendjemand abhaut.« Sie strich sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus den Augen. »Wir dürfen nicht aufgeben, Freddy. Wir müssen es weiter versuchen. Sobald er seine Fangzähne gefunden hat, wird er uns in Vampire verwandeln.« »Deshalb ist mein erster Plan auch der bessere«, meinte ich hartnäckig. »Wir müssen das Fläschchen Vampirodem finden, bevor er es in die Finger kriegt. Vielleicht haben wir ja Glück. Vielleicht finden wir es zuerst.« »Aber was fangen wir damit an, wenn wir es haben?«, wollte Cara wissen. »Vor allem halten wir es vor ihm versteckt!«, erklärte ich knapp. Ich zog sie mit mir in den nächsten Raum. Wir schnappten beide nach Luft, als wir die Särge sahen. Dutzende von Särgen. Alle über die ganze Länge des Saals ordentlich in vier Reihen aufgestellt. Alle offen. »Noch ein Vampirschlafsaal!«, rief Cara und schauderte. »Das ist so unheimlich, Freddy. Sieh nur, wie viele das hier sind!« »Die Vampire sind alle irgendwo unterwegs, fliegen in der Gegend herum auf der Suche nach Blut, das sie trinken können«, sagte ich. »Aber sie werden bald nach Hause zurückkehren. Und wenn sie uns sehen ...« Cara schluckte. »... sind wir ihre Nachspeise!« »Äh... vielleicht sollten wir nach dem Vampirodem in einem anderen Saal suchen«, schlug ich vor. »Irgendwo, weg von diesen Särgen.« Doch da fiel mir etwas auf. Ein Sarg, der an der Wand stand. Ein geschlossener Sarg. » Cara - sieh dir den mal an!«, flüsterte ich und deutete darauf. »All die anderen Särge wurden offen gelassen. Das ist
der Einzige mit einem geschlossenen Deckel. Meinst du...?« Cara starrte nachdenklich auf den Sarg. »Sonderbar«, murmelte sie. »Sehr sonderbar.« Mir schwirrten ein paar verrückte Ideen durch den Kopf. »Vielleicht ist das ein leer stehender Sarg«, spekulierte ich aufgeregt. »Vielleicht schläft in diesem Sarg niemand. Dann wäre das eine perfekte Stelle. Der perfekte Ort, um ein Fläschchen Vampirodem zu verstecken.« Cara hielt mich zurück. »Oder vielleicht schläft ein Vampir in dem Sarg«, warnte sie. »Wenn wir den Sarg öffnen und ihn aufwecken ...« Ihre Stimme verklang. »Wir müssen hineinsehen!«, rief ich aus. »Wir dürfen uns diese Möglichkeit nicht entgehen lassen.« Gespannt steuerten wir auf den Sarg zu. Ich starrte auf das polierte schwarze Holz und strich vorsichtig mit der Hand darüber. Dann, ohne ein Wort zu sprechen, packte Cara einen Griff und ich ergriff den anderen. Und langsam, ganz langsam begannen wir den Sargdeckel anzuheben.
Der Deckel war massiv und schwer. Cara und ich stemmten uns dagegen und drückten. Endlich fiel er auf der anderen Seite des Sarges herunter. Ich wandte den Kopf zur Tür, um sicherzugehen, dass uns Graf Nachtschwinge nicht gehört hatte. Keine Spur von ihm. Dann richtete ich mich auf und spähte in den offenen Sarg hinein. Das Innere war mit dunkelgrünem Filz ausgekleidet. Das erinnerte mich an den Billardtisch in unserem Keller. »Er ist leer«, murmelte Cara bekümmert.
»Wir müssen weitersuchen«, sagte ich. Gerade wollte ich vom Sarg zurücktreten, als ich die Tasche entdeckte. Eine grüne Tasche in der Seitenwand des Sarges. Ähnlich den Taschen in den Seitenwänden von Koffern. Sie war auf einer Seite ein wenig ausgebeult. »Stopp! Warte mal einen Moment«, sagte ich zu Cara, die bereits auf halbem Weg zur Tür war. Ich griff in die Tasche. Und zog ein blaues Glasfläschchen hervor. »Cara - sieh nur!«, rief ich, völlig vergessend, dass wir von Graf Nachtschwinge nicht gehört werden wollten. »Ich hab ihn gefunden! Den Vampirodeml« Cara begann übers ganze Gesicht zu strahlen. Ihre dunklen Augen blitzten vor Begeisterung. »Toll!«, jubelte sie. »Ganz toll! Nun müssen wir ihn nur noch vor Graf Nachtschwinge verstecken. Irgendwo, wo er ihn niemals findet.« Ich hielt mir das Fläschchen vors Gesicht und betrachtete es eingehend. »Vielleicht sollten wir es öffnen und ausschütten«, sagte ich. Cara trat rasch an meine Seite und nahm mir die Phiole aus der Hand. »Als wir es letztes Mal öffneten, hat es uns in der Zeit zurückreisen lassen«, sagte sie aufgeregt. »Vielleicht würde es, wenn wir es diesmal öffnen ...« »Dann wird es uns in die Zukunft bringen!«, beendete ich den Gedanken für sie. »Klar! Graf Nachtschwinge hat gesagt, man kann es für Zeitreisen benutzen. Wenn wir es öffnen - und fest daran denken, wo wir hinwollen -, bringt es uns vielleicht nach Hause in unseren Keller.« Wir starrten die blaue Phiole fasziniert an. Sollten wir sie vor dem alten Vampir verstecken, um ihn daran zu hindern, seine Fangzähne wiederzubekommen? Oder sollten wir sie öffnen und darauf hoffen, dass uns der
übel riechende Nebel nach Hause trug? Cara hielt die Phiole mit einer Hand fest. Die andere hob sie zum Glasstopfen. Sie begann daran zu ziehen - hielt dann aber inne. Wir schauten uns gegenseitig an und sprachen kein Wort. »Also los. Tu's«, flüsterte ich schließlich. Cara nickte zustimmend. Sie packte den Stopfen und begann daran zu ziehen. Doch dann hielt sie noch einmal inne. Und schnappte nach Luft. Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich eine Bewegung wahr, hörte einen leisen Schritt. Und da war mir klar, dass wir nicht mehr alleine waren.
Ich fuhr herum und erwartete, Graf Nachtschwinge gegenüberzustehen. »Oh!«, rief ich erstaunt aus, als ein Mädchen aus dem Schatten hervortrat. Ihre blauen Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Offenbar war sie überrascht uns zu sehen. Während sie auf uns zukam, musterte ich sie. Ihr blondes Haar war zu Korkenzieherlocken gedreht, die ihr über die Schultern fielen. Sie trug ein langes und altmodisch wirkendes graues Trägerkleid und darunter eine weiße Bluse. Sie ist etwa in unserem Alter, stellte ich fest. Aber sie stammte eindeutig aus einer anderen Zeit. Ein paar Särge weiter blieb sie stehen. »Wer seid ihr?«, fragte sie und beäugte uns misstrauisch. »Was tut ihr hier?«
ich.
»Das... das wissen wir selbst nicht so genau«, stotterte
»Wir wissen, wer wir sind. Aber wir wissen nicht so genau, was wir hier tun!«, verbesserte mich Cara. »Wir sind hier versehentlich gelandet«, fügte ich hinzu. Der entgeisterte Gesichtsausdruck des Mädchens änderte sich nicht. Sie schob die Hände in die Taschen ihres Kleides. »Wer bist du?«, wollte Cara wissen. Das Mädchen antwortete nicht gleich. Den Abstand wahrend, fuhr sie fort, uns mit ihren blassblauen Augen zu mustern. »Gwendolyn«, sagte sie schließlich. »Mein Name ist Gwendolyn.« »Bist du eine von ihnen!« Die Frage fuhr mir so heraus. Gwendolyn schauderte. »Nein«, antwortete sie rasch und verzog verächtlich den Mund. »Nein. Ich hasse sie!«, erklärte sie. »Ich hasse sie alle!« Angespannt trat Cara von einem Bein aufs andere. Ich konnte deutlich sehen, dass sie echt nervös war. Sie drückte mir das Fläschchen Vampirodem in die Hand. Es fühlte sich kalt und feucht von ihren Händen an. Ich hielt meine Hand so, dass Gwendolyn die Phiole nicht sehen konnte. »Lebst du hier?«, fragte Cara Gwendolyn. »Bist du mit Graf Nachtschwinge verwandt?« Gwendolyn verzog den Mund noch abweisender. »Nein«, sagte sie mit erstickter Stimme. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich werde hier gefangen gehalten. Ich bin erst zwölf. Aber sie behandeln mich wie eine Sklavin.« Sie ließ ihre Tränen ungehindert über die bleichen Wangen hinabrollen. »Wie eine Sklavin«, wiederholte sie mit zitternder Stimme. »Wisst ihr, was ich für sie tun muss? Ihre Särge polieren, Tag und Nacht.«
»Widerlich«, murmelte Cara. Gwendolyn seufzte. Sie strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht und wischte die Tränen weg. »Tag und Nacht. In dieser Burg gibt es dutzende von Sargsälen. Alle voll mit Reihen von Särgen. Und ich muss sie für die Vampire alle glänzend und sauber halten. « »Was wäre, wenn du dich weigertest?«, fragte ich. »Was wäre, wenn du Graf Nachtschwinge sagen würdest, dass du es nicht mehr machst?« Gwendolyn lachte spröde auf. »Dann würde er mich in einen Vampir verwandeln.« Sie schauderte wieder. »Da putze ich lieber ihre Särge«, murmelte sie bitter. »Kannst du nicht fliehen?«, fragte ich. Wieder stieß sie ein freudloses Lachen aus. »Fliehen? Wenn ich das täte, würden sie mich aufspüren. Sie würden sich in Fledermäuse verwandeln und mir nachfliegen. Und sie würden mein Blut trinken, bis ich eine von ihnen wäre.« Ich schluckte heftig. Sie tat mir schrecklich Leid. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. »Wir gehören nicht hierher«, erklärte ihr Cara und warf einen Blick zur Tür. »Graf Nachtschwinge hat uns versehentlich hierher gebracht. Kannst du uns helfen? Gibt es für uns irgendeine Möglichkeit zu fliehen?« Gwendolyn senkte den Blick und überlegte angestrengt. »Es gibt vielleicht einen Weg«, sagte sie schließlich. »Aber wir müssen sehr vorsichtig sein. Wenn er uns erwischt...« »Wir werden vorsichtig sein«, versprach ich. Gwendolyn warf einen Blick zur Stirnseite des Saales. »Folgt mir«, flüsterte sie. »Beeilt euch. Es dämmert schon fast. Wenn die Vampire zurückkommen und euch sehen - dann ist es zu spät. Sie werden über euch herfallen und euch das Blut aussaugen. Dann werdet ihr das Tageslicht nie wieder sehen.«
Sie führte uns auf den Korridor. An die Wand geschmiegt, blieben wir stehen und schauten in beide Richtungen. Von Graf Nachtschwinge war weit und breit nichts zu sehen. Doch uns war klar, dass er sich ganz in der Nähe befinden musste. Auf der Suche nach dem Fläschchen Vampirodem. Das Fläschchen, das ich fest in meiner Hand hielt. »Hier entlang«, flüsterte Gwendolyn. Wir folgten ihr durch eine weitere Tür hindurch. Sie führte zu einer schmalen Treppe. Gaslampen an den Wänden spendeten ein trübes Licht, das die Stufen beleuchtete, über die wir hinunter stiegen. Unten fanden wir uns in einem langen, gewundenen Tunnel wieder. Gwendolyn führte uns mit raschen Schritten und schweigend. Der Tunnel war so eng, dass wir einzeln hintereinander gehen mussten. Er wand und krümmte sich und führte uns nach unten, tiefer in die Burg hinab. »Gibt es da unten wirklich einen Weg nach draußen?«, fragte Cara Gwendolyn. Ihre Stimme hallte in dem engen Tunnel wider. Gwendolyn nickte. »Ja. Folgt mir. Es gibt einen geheimen Ausgang, der durch den Burgkeller hinausführt. « Unsere Schritte dröhnten auf dem harten Tunnelboden. Vor uns glühte Gwendolyns blondes Haar wie eine Fackel und zeigte uns den Weg. Den Weg in die Freiheit. Den Weg in Sicherheit. Ich beugte mich zu Cara und flüsterte: »Das ist toll! Wir kommen hier raus - und wir nehmen den Vampirodem mit!« Cara legte einen Finger auf die Lippen. »Noch sind wir nicht draußen«, erinnerte sie mich. Der Tunnel endete in einem großen dunklen Kellerraum. Gwendolyn nahm eine lodernde Fackel von der Wand und trug sie hoch vor sich her, um uns den Weg zu
leuchten. »Folgt mir«, flüsterte sie. »Rasch!« Die flackernde Flamme erleuchtete nur einen schmalen Streifen des riesigen Kellers. Zu beiden Seiten davon konnte man nichts sehen. Es herrschte völlige Schwärze. Gwendolyn führte uns tiefer in die Dunkelheit hinein. Hier unten roch es feucht und faulig. Irgendwo hörte ich Wasser tropfen. Cara und ich drängten uns dicht aneinander und bemühten uns im Lichtschein der Fackel zu bleiben. Ich schloss meine Hand fest um das Fläschchen Vampirodem. Gwendolyn blieb so plötzlich stehen, dass wir sie beinahe über den Haufen gerannt hätten. Langsam drehte sie sich um. Der Schein der Fackel ließ ein Lächeln auf ihrem Gesicht erkennen. »Sind wir da?«, wollte Cara wissen. »Wo ist die Tür?« »Ja. Wir sind da«, antwortete Gwendolyn im Flüsterton. »Wir sind da und ganz alleine.« »Was?«, rief ich. Ich verstand nicht recht. »Hier habe ich euch ganz für mich«, fuhr Gwendolyn fort. Ihr Lächeln wurde breiter. Die Lider waren halb geschlossen. »Hier werden wir nicht von Graf Nachtschwinge oder den anderen gestört.« »Aber ... wo können wir fliehen?«, wollte ich wissen. Gwendolyn gab keine Antwort. »Warum haben wir angehalten?«, schrie Cara. »Ich bin so durssssstig...«, zischte Gwendolyn. »So dursssstig.« Als sie die Fackel senkte, sah ich lange, spitze Fangzähne aus ihrem Oberkiefer ragen. »Ich bin so durstig ...« Sie seufzte. »So schrecklich durstig ...« Dabei packte sie mich an den Schultern. Und ich spürte, wie ihre Fangzähne über meinen Hals schrammten.
»Nein...!«, schrie ich. Verzweifelt packte ich sie bei den Armen und drängte sie weg. »Nein! Hau ab! Geh weg von mir!«, heulte ich. Ihre Augen blitzten vor Erregung. Speichel tropfte von den spitzen Fangzähnen herab. »So dursssstig...«, zischte sie. »Geh weg! Geh weg!«, flehte ich. »Du willst doch entkommen, oder nicht?«, verspottete sie mich. »Das ist die einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen!« Sie warf den Kopf zurück und riss den Mund sperrangelweit auf. Dann stürzte sie sich auf mich. »Niemals!«, schrie ich und duckte mich. Ihr langes lockiges Haar klatschte mir ins Gesicht. Ich taumelte rückwärts. Fand mein Gleichgewicht wieder. Sie setzte zu einem neuen Angriff an. »Freddy - der Vampirodem!«, schrie Cara. »Setz den Vampirodem ein. Vielleicht bringt er uns zurück in die Zukunft!« »Waas?« Ich hatte ganz vergessen, dass ich ihn in der Hand hielt. »So durstig...«, murmelte Gwendolyn und leckte sich die trockenen Lippen. »So durstig...« Ich hob den Vampirodem in die Höhe. Der Lichtschein der Fackel erfasste die blaue Phiole. Gwendolyn schrie auf und wich ängstlich zurück. Ich packte den Stopfen. Und begann daran zu ziehen. »Nein - bitte!«, bettelte Gwendolyn. »Steck das weg! Mach es nicht auf! Bitte - mach es nicht auf!«
Ich packte den gläsernen Stopfen - und zog ihn aus der Flasche. Doch nichts geschah. Wir starrten alle drei auf die geöffnete blaue Phiole in meiner Hand. »Es dauert einige Sekunden«, erklärte ich Cara. Meine Stimme klang schrill und zittrig. »Weißt du noch? In unserem Keller hat es auch ein paar Sekunden gedauert. Dann kam es herausgezischt.« Gwendolyns Augen waren weit aufgerissen und hingen an dem Fläschchen. In gespanntem Schweigen starrten wir darauf. Ein paar Sekunden verstrichen. Dann noch einige Sekunden mehr. Gwendolyn brach das Schweigen mit hämischem Gelächter. »Es ist leer!«, verkündete sie lachend. »In der Burg wimmelt es nur so von leeren Fläschchen! Da drüben gibt es einen ganzen Raum, der ist voll davon.« Sie deutete in die Dunkelheit. Ich hob die Phiole vors Gesicht und blinzelte hinein. Aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Gwendolyn hatte wohl Recht. Sie war leer. Entmutigt ließ ich sie auf den Boden fallen. Im flackernden Lichtschein der Fackel wirkte Gwendolyns Grinsen abgrundtief böse. Ich versuchte zurückzuweichen. Doch ich prallte gegen eine steinerne Säule. Gefangen. Als sie mich hungrig angrinste, blitzten Gwendolyns Fangzähne im fahlen Licht auf. »So durstig ...«, flüsterte sie. »Freddy - lauf nicht weg. Hilf mir. Ich bin so durstig ...« »Ich bin auch durstig!«, dröhnte eine Stimme hinter uns. Ich fuhr herum und erblickte den orangen Lichtschein einer Fackel, der auf uns zugehüpft kam. Und in dem
Lichtfleck tauchte das zornige Gesicht von Graf Nachtschwinge auf. Während er näher schwebte, fixierte er Gwendolyn mit zusammengekniffenen Augen. Ihr klappte der Mund zu. Schützend hob sie beide Hände vors Gesicht. »Gwendolyn - was tust du hier unten mit meinen Gefangenen?«, wollte Graf Nachtschwinge wütend wissen. Er gab ihr keine Gelegenheit zu antworten, sondern erhob sich vom Boden und schwebte über ihr. Das Cape breitete sich wie Fledermausflügel aus. Seine silbrigen Augen bohrten sich in ihre. Und er öffnete den Mund zu einem wilden, zornigen Zischen. Gwendolyns Fangzähne glänzten nass im Schein der Fackel. Sie warf ihre blonden Locken zurück und zischte, beide Hände noch immer abschirmend erhoben, dem alten Vampir entgegen. Oh, wow!, dachte ich. Sie werden kämpfen! Ich beugte mich vor - entsetzt, aber begierig darauf zuzusehen. Die beiden Vampire schwebten in die Höhe. Sie zischten sich gegenseitig an wie zwei angriffslustige Schlangen. »Freddy - komm schon!«, wisperte Cara. Sie packte mich am Arm und zog mich weg. »Das ist unsere Chance.« Cara hatte Recht. Während sich die beiden Vampire gegenseitig anzischten, mussten wir versuchen zu verschwinden. Mein Herz klopfte heftig, als ich Gwendolyns Fackel vom Boden aufhob und hinter Cara herlief. Blindlings rannten wir durch den dunklen Keller. Es muss einen Weg nach draußen geben!, sagte ich mir immer wieder. Es muss einen Fluchtweg geben! Endlich entdeckte ich eine offene Tür.
Cara und ich sausten durch die Tür hinaus. Als ich einen Blick zurückwarf, sah ich Graf Nachtschwinge hoch über dem Boden schweben. Sein Cape wirbelte hinter ihm her. Gwendolyn zischte vom Kellerboden aus kraftlos zu ihm hinauf. Keine Zeit, ihren Kampf zu beobachten. Ich folgte Cara in den Raum. »Wo sind wir?«, flüsterte ich und hob die Fackel vor uns in die Höhe. »Wow!«, murmelte Cara, als der Lichtschein die Regale an der Wand erfasste. »Das glaub ich nicht!« Wir waren auf- den Raum mit den leeren VampirodemPhiolen gestoßen, von dem uns Gwendolyn erzählt hatte. Regale bedeckten alle Wände vom Boden bis hinauf zur Decke. Und alle Regale waren mit blauen Fläschchen voll gestopft. Reihenweise blaue Fläschchen. »Das sind bestimmt eine Million Fläschchen«, wisperte ich. Wir schauten uns im Raum um. Die Phiolen funkelten wie blaue Juwelen, wenn der Lichtschein der Fackel sie erfasste. Cara schüttelte heftig den Kopf, als ob sie auf diese Weise versuchte ihre Augen von dem erstaunlichen Anblick loszureißen. Schließlich wandte sie sich mit ernster Miene zu mir um. »Das hilft uns auch nicht dabei zu fliehen«, flüsterte sie. »Fliehen?«, krächzte eine raue Stimme von der Tür her. Graf Nachtschwinge bewegte sich rasch in den Raum herein. »Es hat keinen Sinn, von Flucht zu reden«, sagte er und richtete seine blitzenden silbrigen Augen zuerst auf Cara und dann auf mich. »Denn aus Graf Nachtschwinges Burg gibt es kein Entkommen.« Er lüpfte sein Cape an und erhob sich vom Boden. »Was h-haben Sie vor?«, stotterte ich.
Er warf seinen kahlen Kopf zurück und stieß ein Furcht erregendes Zischen aus. Ich fühlte, wie ich zurückgestoßen wurde, zurück und weiter in den Raum hinein. Er setzte eine Kraft ein, eine Art uralter Macht. Als er höher schwebte, blähte sich das Cape um ihn herum auf. Er sah wie ein feingliedriges Insekt in einem violetten Kokon aus. Aber ich konnte seinen mächtigen Einfluss spüren. Er drängte mich zurück... hielt mich fest... schob mich rückwärts ... Und dann, ganz plötzlich, spürte ich, dass er mich losließ. Schwerfällig landete er auf dem Boden. Seine Augen blitzten. Er schnippte mit den knochigen Fingern. Seine dünnen Lippen formten ein verkniffenes Lächeln. »Jaaaaa!«, fauchte er. Cara und ich wichen zu den Regalen an der hinteren Wand zurück. Nun zitterten mir die Beine. Er hatte mich mit einer uralten Zaubermacht gepackt. Und nun fühlte ich mich irgendwie zittrig, rang nach Atem. »Jaaaaa!«, fauchte er noch einmal. »Jetzt erinnere ich mich wieder!«
Schweigend starrten Cara und ich den alten Vampir an. Er wandte sich den Regalen mit den blauen Fläschchen zu. »Hier ist der Ort, wo ich meine volle Phiole Vampirodem versteckt habe«, erklärte er. »Hier im Raum der leeren Phiolen habe ich sie versteckt. Ich war sicher, dass die anderen hier
niemals suchen würden.« Als er lächelte, konnte ich hinter seinen trockenen Lippen das glatte, rosige Zahnfleisch sehen. Sein Lächeln verschwand. Und die silbrigen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich bin so durstig«, flüsterte er, während er Cara und mich betrachtete. »Ich muss die volle Phiole finden - mein Gedächtnis auffrischen und meine Fangzähne wiederbekommen.« Er stürzte sich auf das nächstgelegene Regal und fing an die Fläschchen zu durchwühlen. »Welches ist es? Welches davon?«, murmelte er vor sich hin. »Tausende von Fläschchen und nur eines davon ist voll.« Seine schmalen, knochigen Hände bewegten sich flink durchs Regal. Er schob leere Fläschchen zur Seite und murmelte vor sich hin. Fläschchen fielen zu Boden und zerbarsten. » Cara - rasch!« Ich deutete auf das hinterste Regal. »Nichts wie los!« Sie verstand mich sofort. Wir mussten das volle Fläschchen als Erste finden. Mussten es aufspüren, bevor Graf Nachtschwinge es fand. Ich ließ mich auf die Knie nieder und begann die Phiolen im untersten Fach durchzugehen. Leer... leer... leer ... leer... Eine nach der anderen schob ich sie beiseite. Meine Finger bewegten sich flink über die Hälse der Fläschchen. Wegen des dämmrigen Lichtes blinzelte ich angestrengt, während ich nach dem einzigen vollen Fläschchen suchte und suchte. Glas zersplitterte auf dem harten Boden. Fläschchen rollten und kreiselten um mich herum. Neben mir arbeitete sich Cara mit wilder
Entschlossenheit durch eines der unteren Regalfächer. »Nein. Nein. Nein. Nein.« Sie murmelte vor sich hin, während ihre Hände über die leeren Phiolen huschten. »Ihr zwei...«, rief Graf Nachtschwinge quer durch den Raum zu uns herüber. »Verschwindet von da!« Wir kümmerten uns nicht um ihn und wühlten uns immer weiter durch die Fläschchen, arbeiteten schneller und schneller. Verzweifelt bemüht, das volle als Erste zu finden. Und dann - hatte ich es in der Hand. Ich holte tief Luft, als ich spürte, dass es schwerer als die übrigen war. Meine Hand zitterte, während ich es vorsichtig zwischen den anderen hervorholte. Ja! Es fühlte sich eindeutig schwerer an. Ja! Es war noch versiegelt. Ja! »Ich hab's gefunden!«, rief ich und sprang auf die Füße. »Cara - sieh nur! Ich habe es!« Ich hielt die Phiole in die Höhe, um sie ihr zu zeigen und da schnappte Graf Nachtschwinge sie mir aus der Hand. »Danke«, sagte er.
Mit einem begierigen Lächeln hob der alte Vampir das Fläschchen und schickte sich an es zu öffnen. »Neeeiiin!«, heulte ich. Ich sprang ihn an. Nutzte den Überraschungseffekt. Ich rammte ihm meine Schulter gegen die Brust. Er fühlte sich so federleicht an, als hätte er überhaupt keine Knochen. Verdattert stieß er einen erstickten Schrei aus. Das Fläschchen Vampirodem fiel ihm aus der Hand.
Ich schnappte danach - und fing es in der Luft auf. Vorsichtig hielt ich es mit beiden Händen fest und wich an die Regale zurück. Graf Nachtschwinge erholte sich rasch von seinem Schreck. Er schaute mich funkelnd an und wieder fühlte ich, wie mich eine sonderbare Kraft packte und auf der Stelle festhielt. »Freddy, du wirst mir augenblicklich die Phiole geben«, befahl er mit leiser, ruhiger Stimme. Ich rührte mich nicht. Ich konnte nicht. »Gib mir sofort die Phiole!«, beharrte der Vampir, während er auf mich zuschwebte. »Du gibst sie mir auf der Stelle, Freddy.« Ich schluckte heftig. Ich konnte ihm den Vampirodem nicht geben. Mir war klar, dass Cara und ich verloren waren, sobald Graf Nachtschwinge die Phiole öffnete. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Er hatte mich auf der Stelle erstarren lassen. Ich war hilflos! »Gib sie mir«, forderte er hartnäckig und streckte fordernd die Hand nach dem Fläschchen aus. »Affe in der Mitte!«, hörte ich Cara rufen. Sie schien weit weg zu sein. Und zuerst kapierte ich ihren Ruf überhaupt nicht. »Affe in der Mitte!«, rief sie noch einmal. Dieses Mal begriff ich. Ich holte tief Luft und musste meine ganze Kraft zusammennehmen, um den Arm zu bewegen. Graf Nachtschwinge schnappte nach dem Fläschchen. Seine knochigen Fingerspitzen streiften es. Aber ich schleuderte das Fläschchen in hohem Bogen über seine Schulter hinweg. Cara erwischte es nicht richtig, es segelte durch die Luft - und dann fing sie es. »Der Fang des Tages!«, schrie sie.
Mit einem wütenden Stöhnen fuhr Graf Nachtschwinge herum. »Gib sie mir!«, schnarrte er und schoss auf Cara zu. Sie holte mit dem Arm aus und warf das Fläschchen zu mir zurück. Ein tiefer Wurf, der dem alten Vampir an den Knien vorbeizischte. Ich fing es auf. Graf Nachtschwinge wirbelte zu mir zurück. Seine sonderbaren Augen verengten sich vor Wut. »Ich will diese Phiole!«, knurrte er. Ich warf sie hoch, über seinen Kopf hinweg. Cara fing sie mit einer Hand. Wenn wir auf Tyler Brown aufpassten, spielten Cara und ich fast die ganze Zeit Affe in der Mitte. Das kleine Würstchen konnte uns den Ball nie abnehmen. So ließen wir ihn stundenlang hin und her laufen. Doch mir war klar, dass Graf Nachtschwinge bald die Geduld verlieren würde. Dieses Spiel konnten Cara und ich unmöglich gewinnen. Aber was hätten wir sonst schon tun können? Der alte Vampir stürzte sich mit ausgestreckten Händen und fliegendem Cape auf Cara. Cara warf ungeschickt. Ich streckte mich nach dem Fläschchen. Aber es segelte an meiner aufgehaltenen Hand vorbei. Und knallte in ein Regal. Fläschchen fielen um und zerschellten. Graf Nachtschwinge flog zu dem Regal und griff blindlings zwischen die Fläschchen. Aber ich war zuerst an der richtigen Stelle. Ich hob das Fläschchen auf und warf es Cara zu. »Nein...!«, schnaubte Graf Nachtschwinge. »Es reicht jetzt!« Er sauste zu Cara. Sie warf es in hohem Bogen über den Kopf des alten Vampirs hinweg zu mir.
Ich reckte die Hände hoch, um es aufzufangen. Doch zu meiner Verblüffung flog Graf Nachtschwinge schnurstracks in die Höhe - und schnappte sich die Phiole. Während er langsam auf den Boden zurückschwebte, machte sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht breit. »Ich habe gewonnen«, sagte er leise und seine Augen blitzten. »Ich habe gewonnen. Es hilft enorm, wenn man fliegen kann.« Triumphierend hielt er das Fläschchen in die Höhe. »Nein - tun Sie's nicht!«, bat ich. Sein Lächeln wurde noch breiter. Er streckte die Finger aus - und zog den Stopfen heraus.
Wir erstarrten alle drei. Und schauten wie gebannt auf das offene Fläschchen in Graf Nachtschwinges Hand. Einige Sekunden verstrichen. Und noch ein paar Sekunden. »Es geschieht nichts«, flüsterte Graf Nachtschwinge. Sein Lächeln verschwand. Er hielt sich die Phiole vors Gesicht und kippte sie, um hineinzusehen. Seine schmalen Schultern fielen unter dem violetten Cape herab. Er seufzte - ein langer, trockener Seufzer. »Leer«, sagte er. »Diese Phiole ist ebenfalls leer.« Cara und ich tauschten Blicke aus. Bei meiner wilden Aktion, das Fläschchen aufzuheben, musste ich das falsche aus dem Regal genommen haben. Genauso war es auch. Ich wandte mich zu dem Regal um - und entdeckte das volle Fläschchen direkt vor mir. »Ich hab es!«, rief ich und nahm es vorsichtig vom Regal. »Ich hab es!«
los. zu.
Der alte Vampir knurrte wütend und sprang auf mich »Cara - fang!«, brüllte ich und warf ihr das Fläschchen
Doch Graf Nachtschwinge streckte den Arm vor. Seine Hand erwischte die Phiole und warf sie im Flug aus der Bahn. »Oh...!«, keuchte ich, als sie gegen die Wand knallte. Die Phiole prallte ab. Fiel klirrend auf den Boden. Zerbrach. Und der übel riechende dunkle Nebel strömte aus und verbreitete sich im ganzen Raum. »Wir haben's vermasselt«, murmelte ich. »Wir sind verloren.«
Ich versuchte den Atem anzuhalten, aber das nützte nichts. Der faulige Geruch des aufsteigenden Nebels schien sogar in die Haut einzudringen. Ich sah, wie Cara am anderen Ende des Raums ihre Hand fest über Nase und Mund gelegt hielt. Ihre dunklen Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Mit der anderen Hand wedelte sie wild durch die Luft und versuchte so, den übel riechenden Nebel von sich fern zu halten. Ich erstickte fast daran. Meine Augen fingen zu brennen an. Ich machte sie zu. Fühlte heiße Tränen über meine Wangen herabkullern. Als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich Cara nicht mehr sehen. Der Nebel war zu dicht geworden. Graf Nachtschwinges violettes Cape war im Nebel gerade noch zu erkennen. Dann verschwand es ebenfalls.
Und ich war alleine. Alleine in einer dichten, wogenden Wolke. Ich ließ mich auf die Knie nieder. Bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ich bemühte mich, nicht zu atmen. Aber ich konnte den fauligen Nebel sogar auf der Zunge schmecken! Wie lange kniete ich so da? Das weiß ich nicht genau. Als ich meine brennenden Augen schließlich öffnete, löste sich der Nebel bereits auf. Graf Nachtschwinges violettes Cape kam wieder in Sicht. Und ich sah Cara am anderen Ende des Raumes, die sich schützend einen Arm vors Gesicht hielt. Der Nebel löste sich weiter auf. Der Raum war wieder klar zu erkennen. Erstaunt stellte ich fest, dass ich auf einen Hockeytisch blickte. Ich blinzelte ein paar Mal. In der Mitte des Raums stand ein Billardtisch. Billardtisch? Hockey? Cara kam zu mir herübergelaufen, ihre dunklen Augen blitzten vor Aufregung. »Wir sind zurück, Freddy!«, rief sie glücklich. »Wir sind zurück in deinem Keller!« »Jaaaaa!«, jubelte ich und stieß beide Fäuste in die Luft. »Jaaaa!« Ich tanzte durch den Raum und umarmte das Hockeyspielfeld. Dann küsste ich die Wand. Ich küsste tatsächlich die Wand! »Wir sind zurück! Wir sind zurück!«, sang Cara und hüpfte auf und nieder. »Der Vampirodem - er hat uns in euer Haus zurückgebracht, Freddy!« »Neeeiiin!« Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Graf Nachtschwinge den Kopf mit einem langen, wütenden Heulen zurückwarf. Er schwang sein Cape hinter sich und ballte die Hände zu Fäusten.
»Neeeiiin! Neeeiiin! Das kann doch nicht wahr sein!«, schrie er heiser. Cara und ich drängten uns aneinander, während der Vampir auf uns zurückte. »Ich will hier nicht sein!«, verkündete er. »Ich muss zurückkehren. Ich muss meine Fangzähne finden! Ohne meine Fangzähne kann ich nicht leben. Ich werde umkommen!« Bedrohlich baute er sich vor uns auf. Seine Augen funkelten wütend, die trockenen Lippen bebten. Er breitete das Cape aus, als wollte er uns darin einschließen. »Ich muss zurückkehren!«, schnarrte er. »Wo ist der Vampirodem?. Wo ist die blaue Phiole?« Hastig suchte ich mit den Augen den Raum ab. Nichts davon zu sehen. »Sie ist nicht mit uns zurückgekommen«, stellte Cara fest. Der alte Vampir warf den Kopf ein weiteres Mal mit einem wütenden Heulen zurück. Dann hob er sein Cape noch höher und stürzte auf uns los. Cara und ich taumelten rückwärts gegen den Billardtisch. Der Vampir bewegte sich rasch und schwang das violette Cape um uns beide. Wir waren eingeschlossen, konnten uns nicht mehr bewegen. Da wurde das Cape plötzlich zurückgezogen. Graf Nachtschwinge wich einen Schritt zurück. Verblüfft klappte sein Unterkiefer herunter. Ich folgte seinem Blick - und sah Mom und Dad, die in den Keller gestürmt kamen. »Mom!«, schrie ich. »Dad! Passt auf! Er ist ein Vampir! Ein echter Vampir!«
Graf Nachtschwinge blinzelte meine Eltern an, sein Mund stand vor Schreck noch immer offen. Er richtete den Blick auf Mom. »Cynthia ...?«, stammelte er. »Cynthia, was tust du denn hier?« Mom lächelte ihn an. »Daddy, bist du endlich aufgewacht!«, rief sie aus. »Waaas?« Cara und ich schnappten beide vor Schreck nach Luft. Mom lief zu ihm und nahm den alten Vampir in die Arme. Umarmte ihn lange. »Daddy, dein Nickerchen hat mindestens hundert Jahre gedauert«, sagte sie. »Wir wussten nicht so recht, ob wir dich aufwecken oder schlafen lassen sollten.« Nun trat Dad mit strahlendem Gesicht zu uns. Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Hast du unseren Sohn Freddy schon kennen gelernt?«, fragte er Graf Nachtschwinge. »Das ist Freddy - dein Enkelsohn.« Enkel? Ich? Der Enkelsohn eines Vampirs? Graf Nachtschwinge schaute auf mich herunter und schüttelte den Kopf. Es war deutlich zu sehen, dass er genauso durcheinander war wie ich! »Cynthia ...?«, sagte er zu Mom. »Cynthia - meine Fänge. Ich habe meine Fangzähne verloren.« Mom legte dem Vampir den Arm um die Hüfte. »Daddy, deine Fangzähne sind nicht verloren«, erklärte sie ihm. »Sie liegen in einem Glas im Badezimmer. Genau dort, wo du sie abgelegt hast.« »Hier. Hier drüben«, sagte Dad und führte ihn zu dem
kleinen Badezimmer in der Ecke, das wir nie benutzen. Ein paar Sekunden später kam Graf Nachtschwinge heraus und rückte seine Fangzähne mit beiden Daumen auf dem Zahnfleisch zurecht. »Na also! So ist es gleich viel besser! Ich bin so durstig! Seit hundert Jahren habe ich nichts getrunken!« Mom und Dad wandten sich zu mir. »Wir sind bald wieder da«, sagte Dad. »Mach dir oben ein Sandwich, okay? Und mach Cara auch eines.« Ich starrte ihn an, konnte meinen Schock nicht überwinden. »Aber wenn du und Mom Vampire seid, bin ich dann auch ein Vampir?«, fragte ich mit bebender Stimme. »Natürlich«, antwortete Mom. »Aber du bist noch viel zu jung, um Fänge zu bekommen, Freddy. Da musst du dich noch mindestens hundert Jahre gedulden!« Es gab eine Million Fragen, die ich gerne gestellt hätte. Doch die drei begannen mit den Armen zu schlagen. Auf und ab. Innerhalb von Sekunden verwandelten sie sich in Fledermäuse und flogen zum Kellerfenster hinaus. Ich starrte das Fenster lange an, versuchte mich zu beruhigen und bemühte mich, mein rasendes Herz dazu zu bringen, langsamer zu schlagen. Als ich mich wieder halbwegs normal fühlte, wandte ich mich zu Cara um. »Wow!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Wow!« »Ich kann es auch kaum glauben«, antwortete ich leise. Sie grinste mich an. »Ich wusste immer, dass du ein bisschen verrückt bist, Freddy. Aber mir war nicht klar, dass du so daneben bist!« Ich hätte gerne darüber gelacht. Aber ich war noch immer zu geschockt, um zu lachen, zu weinen, zu schreien oder irgendetwas zu tun! Benommen wandte ich mich von Cara ab und zählte, um mich wieder in den Griff zu bekommen, bis zwanzig.
Es ist nicht gerade ein Klacks, wenn du herausfindest, dass du ein Vampir bist. Ich finde wirklich, Mom und Dad hätten mir die Neuigkeit ein bisschen behutsamer beibringen können. Aber wahrscheinlich hielten sie es für keine große Sache... Die Tür des Badezimmers stand offen. Ich trat ein. »Dieses Badezimmer benutzen wir nie«, murmelte ich. »Wir benutzen das am anderen Ende des Kellers.« Cara kam ebenfalls herein. Die Spiegeltür des Medizinschränkchens stand ein Stück weit offen. Cara öffnete sie ganz. Die Fächer waren mit allen möglichen Töpfchen und Fläschchen voll gestopft. Mit seltsamen Medikamenten und Salbentiegeln. Im obersten Fach entdeckte ich eine grüne Phiole. »Was ist das?«, fragte ich und streckte die Hand danach aus, um sie herunterzuholen. Doch Cara schnappte sie mir vor der Nase weg. »Gib sie zurück!«, schrie ich und schubste sie. Sie schubste mich zurück. Dann drehte sie das Fläschchen in ihrer Hand und las mir die Aufschrift auf dem Etikett vor: »WERWOLFSCHWEISS.« »Cara - stell das Fläschchen zurück!«, befahl ich ihr. »Nein. Wirklich. Stell es zurück. Lass die Finger davon, Cara. Mach es nicht auf. Mach es nicht...« Sie wollte mich foppen. Grinsend tat sie so, als würde sie den Stöpsel herausziehen. »Nein...!«, rief ich und griff danach. Versuchte ihr das Fläschchen wegzunehmen. Aber ich verfehlte es - und zog stattdessen den Stöpsel heraus.
»Huch!«, schrie Cara, als eine gelbe Flüssigkeit herausschoss und uns beide voll spritzte. Ich rollte mit den Augen. »Was nun?«, schrie ich. »Was, denkst du, wird jetzt passieren?« »Grrrrrrrrrrrrrrrrrrhhhh!«, antwortete Cara.
ENDE