Jacques Chessex
Der Vampir von Ropraz Roman Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Nagel & Kimche
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Jacques Chessex
Der Vampir von Ropraz Roman Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Nagel & Kimche
ch reihe Literatur aus der Schweiz in Übersetzungen Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Organisation aller 26 Kantone. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia subventioniert.
© 2007 Éditions Grasset & Fasquelle Titel der Originalausgabe: Le vampire de Ropraz © 2008 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann Druck und Bindung: Friedrich Pustet Printed in Germany ISBN 978-3-312-00416-4
Im Februar 1903 wird in Ropraz eine junge und außergewöhnlich hübsche Frau zu Grabe getragen. Die zwanzigjährige Rosa Gilliéron ist an Hirnhautentzündung gestorben, ihr Tod bewegt das ganze Tal. Zwei Tage später ist der Sarg geöffnet, die Leiche von Stech- und Bisswunden entstellt. Die Empörung der Dorfbewohner ist groß. Am nächsten Tag berichtet die Zeitung vom «Vampir von Ropraz», die Nachricht gelangt bis nach New York. In den Schweizer Bergen wird fieberhaft nach dem Täter gefahndet. Hat die Verstorbene, die weit herum begehrt wurde, einen Verehrer abgewiesen? Gilt der Akt dem Vater, der Richter am Obersten Gerichtshof und Abgeordneter ist? Nachdem in der Gegend zwei weitere Fälle von Leichenschändung entdeckt werden, greift sich der Volkszorn einen verrohten Bauernjungen. Ob aber der Täter damit gefasst ist? Jacques Chessex, geboren 1934 in Payerne, lebt seit bald 30 Jahren in Ropraz im Schweizer Jura. Er gilt mit über 80 Publikationen (Romane, Lyrik, Essays, Kinderbücher) als der bedeutendste Schriftsteller der Romandie. 1973 wurde er für Der Kinderfresser mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, 1992 erhielt er für sein literarisches Werk den Mallarmé-Preis, 2003 den Grand Prix de la langue française für sein Gesamtwerk und den Grand Prix du rayonnement der Académie française, 2007 den Jean-Giono-Preis. Chessex arbeitet außerdem als Maler und ist Jury-Mitglied des Prix Médicis.
Ein kleines totes Mädchen sagt: Ich bin die, die vor Grauen platzt in den Lungen der Lebenden. Holt mich schnell da heraus. Antonin Artaud Suppôts et supplications
Nicht wählbar sind: Bürger, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt wurden. Öffentliche Bekanntmachung Gemeinde Ropraz 12. Januar 2006
Vorbemerkung
Als ich im Mai 1978 nach Ropraz gezogen bin, lag das Grab von Rosa Gilliéron noch unversehrt in der Allee des Friedhofs, an dem die Straße zu meinem Haus entlangführt. Es bestand aus einer Sandsteinplatte mit einer kleinen weißen Marmorsäule, die von Rosen aus schwarz gewordenem Kupfer umrankt war und Name sowie Lebensdaten der Toten trug. Die kleine Säule war nur ein Stumpf, Sinnbild der Kürze eines tragisch, allzu früh in der Blüte reinsten Versprechens abgebrochenen Lebens. Rosas Grab wurde vor zehn Jahren bei der Neugestaltung des Friedhofs aufgelassen.
I.
Ropraz im waadtländischen Haut-Jorat, 1903. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Land der Wölfe und der Abgeschiedenheit, mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht zu erreichen, zwei Stunden von Lausanne, auf einer Anhöhe oberhalb der von dichten Tannenwäldern gesäumten Straße nach Bern. Die Häuser liegen oft weit verstreut in Einöden, die von dunklen Bäumen umschlossen sind, enge Dörfer mit geduckten Behausungen. Neue Ideen dringen nicht bis hierher, die Tradition lastet schwer, moderne Hygiene ist unbekannt. Geiz, Grausamkeit, Aberglaube, es ist nicht weit bis zur Grenze nach Freiburg, wo die Hexerei üppig sprießt. Man erhängt sich leicht in den Bauernhöfen des Haut-Jorat. In der Scheune. An Dachbalken. Man hat eine geladene Waffe im Pferdestall oder im Keller. Unter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehen oder zu wildern, hortet man Pulver, Schrotkörner, schwere Fallen mit eisernen Zähnen, am Wetzstein geschliffene Klingen. Die Angst geht um. Nachts spricht man Gebete zur Geisterbeschwörung oder Teufelsaustreibung. Man ist protestantisch bis auf die Knochen, bekreuzigt sich aber, wenn die vom Nebel gezeichneten Ungeheuer auftauchen. Mit dem Schnee kommt auch der Wolf zurück. Es ist noch gar nicht so lange her, dass man den letzten erschoss, 1881, sein ausgestopfter Balg verstaubt zwölf Kilometer von hier in einem Schaukasten des Museums Le Vieux-Moudon. Und der grauenerregende Bär aus dem Jura. Er hat vor nicht einmal vierzig Jahren in den Gorges de la Mérine Färsen gerissen. Die Alten erinnern sich noch daran, in Ropraz wird nicht gelacht, auch nicht in Ussières. Zur Zeit Voltaires, der im unteren
Schloss gewohnt hat, im Weiler Ussières, warteten die Räuber an der großen Straße nach Bern und in die deutschen Länder, später erpressten die aus den Kriegen der Großen Armee heimgekehrten Soldaten die anständigen Leute. Man ist auf der Hut, wenn man einen Landstreicher einstellt zur Getreide- oder Kartoffelernte. Er ist ein Fremder, ein Schnüffler, ein Dieb. Ring im Ohr, verschlagen, das Laguiole-Messer im Stiefelschaft. Hier gibt es keine großen Geschäfte, Fabriken, Manufakturen, man hat nur, was man der Erde abringt, also so gut wie nichts. Das ist kein Leben. Man ist sogar so arm, dass die Kühe fürs Fleisch an die Metzger der großen Städte verkauft werden, selber begnügt man sich mit Schwein und isst so viel davon, auf alle erdenklichen Arten, geräuchert, abgeschwartet, gehackt, gepökelt, dass man ihm zuletzt ähnlich sieht, rosa Gesicht, geröteter Kopf, fern der Welt, in schwarzen Talgründen und Wäldern. In diesen abgelegenen Landstrichen ist ein junges Mädchen ein Stern, der Verrücktheiten anzieht. Inzest und dumpfes Brüten, im zölibatären Schatten, des ewig begehrten und verbotenen Fleischlichen. Der sexuelle Notstand, wie man später dazu sagen wird, gesellt sich zur umherstreifenden Angst und der Vorstellung vom Bösen. Einsam bespitzelt man nachts Liebesspiele einiger Bessergestellter und ihrer stöhnenden Komplizinnen, Berührungen mit dem Teufel, Schuldgefühl, fest verankert in vier Jahrhunderten eines aufgezwungenen Calvinismus. Ohne Atempause der Bedrohung nachspüren, die aus dem eigenen Innersten kommt und von draußen, aus dem Wald, vom knarrenden Dach, vom heulenden Wind; aus dem Jenseits, von oben, von darunter, von ganz unten: die Bedrohung, die von anderswo kommt. Man verbarrikadiert sich in seinem Schädel, seinem Schlaf, seinem Herzen, seinen Sinnen, man riegelt sich
ein auf seinem Hof, mit bereitliegendem Gewehr, zerquälter und ausgehungerter Seele. Der Winter schürt die Gewalt unter dem ewigen Schnee, Freund der Verrückten, den roten und schwarzbraunen Himmeln zwischen Morgengrau und enteigneter Nacht, Kälte und Melancholie, welche die Nerven anspannt und zerfrisst. Ach, fast hätte ich die bestürzende Schönheit dieser Gegend vergessen. Und den Vollmond. Und in den Vollmondnächten die Gebete und Rituale, die Speckschwarten, mit denen Warzen und Wunden eingerieben werden, die schwarzen Mixturen gegen Schwangerschaft, die Rituale mit grobgeschnitzten Holzpuppen, von Nadeln durchbohrt, gemartert, und die Behexungen durch Schurken, die Gebete für den Augenfleck. Noch heute findet man auf Dachböden, in Schuppen Zauberbücher und Absudrezepte aus Menstruationsblut, Erbrochenem, Krötenschleim und zerstampfter Viper. Scheint der Mond allzu hell, lass die Finger vom Pack. Kommt der Mond allzu schnell, lass die Schlange im Sack. Der Wahnsinn geht um. Und die Angst. Wer ist über den Hängeboden geschlittert? Wer ist übers Dach gelaufen? Hüte Pulver und Forke, vor dem Geheimnis der Schlünde!
II.
Februar 1903. Zu Jahresbeginn war es sehr kalt, der Schnee hält sich in Ropraz, das noch zusammengekauerter wirkt, noch vergessener, auf seinem windgepeitschten Plateau. Seit dem 1. Februar fällt ohne Unterlass Schnee. Schwerer, nasser Schnee vor düsterem Himmel, und seit einiger Zeit ist dem Dorf nichts erspart geblieben. Abgeschnittene Straßen, Fieberanfälle, Kühe, die tote Kälber geboren haben, und am 17. einem Dienstag, ist die junge Rosa, eine große taufrische Blume von zwanzig Jahren, mit heller Haut, großen Augen, langem kastanienbraunen Haar, an Gehirnhautentzündung gestorben, auf dem Hof ihres Vaters Emile Gilliéron, Friedensrichter und Abgeordneter im Großen Rat. Er ist ein angesehener Mann, streng, besonnen, großzügig. Er hat Besitz, viel Land im Umkreis, und die geschmeidige Schönheit seiner Tochter hat für kräftige Verwirrung gesorgt. Zudem ist sie eine gute Sängerin, widmet sich aufopfernd den Kranken, ein reges Pfarrkind in der Mutterkirche von Mézières… Ungewöhnliche Menschen, wie man sieht. Und Menschen, die einen verblüffen angesichts der Hässlichkeit, des Lasters, der allgegenwärtigen Kleinlichkeit. Rosas Tod hat das ganze Land furchtbar erschüttert. Zum Begräbnis, am Donnerstag, dem 19. Februar, auf dem Friedhof von Ropraz, sind sie aus entlegenen Dörfern gekommen, von kleinen Marktflecken, Weilern, fernen Bergkämmen. Im Fuhrwerk, zu Pferd, Schneeschuhe an den Füßen, Männer und Frauen, so zahlreich, mehrere Hundert, dass trotz Kälte die Kapelle während des ganzen Gottesdienstes offen gestanden hat und der Trauerzug von der Kapelle zum Friedhof mehr als
eine Stunde brauchte, unter ständigem Geläut des Totenglöckchens. Um seinen jüngsten Gast unterzubringen, musste der Totengräber Cosandey den ganzen Mittwoch den gefrorenen Boden aufhacken. Arbeit getan. Am Donnerstagnachmittag wird Rosa Gilliéron am südöstlichen Hang bestattet, im zweiten Drittel des Friedhofs, der sich einsam zwischen dem dichten Wald und einer weitläufigen öden Hügellandschaft erstreckt, über der Krähen krächzen. Als der Sarg geschlossen, die letzte Handvoll gefrorener Erde pflichtschuldig auf das dumpfe Holz geworfen ist, muss Cosandey nicht einmal Schnee auf das kleine Viereck zurückschaufeln. Nach der kurzen Wetterberuhigung, die dem Trauerzug erlaubt hat, dem Leichenwagen Schritt für Schritt zu folgen, fing der Schnee wieder an zu fallen, während des letzten Gebets, nach dem letzten Lied der Kinder und der Segnung durch Pastor Béranger, der eigens aus Mézières hergekommen ist. Der Schnee, der den schwarzen Boden des alten Winters zudeckt und die Verstorbenen, wie behauptet wird, sanft in ihre ewige Ruhe wiegt. Nach der Beisetzung seiner Tochter hat Gilliéron in die Grande Salle zu einem kleinen Essen geladen. So heißt der Raum für Feste und offizielle Feierlichkeiten. Dann ist es Abend, ein letztes Händeschütteln, Umarmungen, die Straßen, die Erdwege leeren sich, und eine lange Nacht sinkt hernieder auf das trostlose Land. Freitag, der 20. Schnee und Erstarrung. Man könnte glauben, Rosas Tod und die endlose’ Trauerfeier auf dem Friedhof hätten die Geister betäubt und die Landschaft eingelullt in leisen Stumpfsinn.
III.
Aber dann kommt Samstag, der 21. An diesem Morgen, in aller Herrgottsfrühe, hat François Rod, der auf den Höhen über Ropraz wohnt, an einem Ort mit dem Namen Vers-chez-lesRod, sich vorgenommen, «Holz zu machen» in dem hügeligen Wald, der von unten her an den Friedhof grenzt. Sein Sohn Hermann begleitet ihn und lenkt den schweren Ochsenkarren der Milchhändler und Holzfäller. Es ist halb acht. Langsam wird es Tag über dem verschneiten Land. Der Chemin du Bois des Tailles führt dicht am Friedhof entlang. Vor dem Gittertor der Einfriedung angekommen, lässt François das Gespann halten, befiehlt seinem Sohn zu warten, geht auf den Friedhof, wo er vor dem frischen Grab Rosas ein Gebet verrichten will. Kaum hat er in der Allee ein paar Schritte getan, stößt er einen lauten Schrei aus: Rosas Grabstätte ist geöffnet und der Sarg bloßgelegt. Siebzig Jahre später wird sich der alte Hermann an den Schrei seines Vaters erinnern. «Als hätte er den Leibhaftigen gesehen», wird er zitternd sagen, mit gerötetem Blick, die Augen nach dieser langen Zeit noch blutunterlaufen vor Angst. Starr sitzt Hermann auf dem Karren, François kommt wankend heraus, macht nicht einmal das Tor hinter sich zu, fällt in den Schnee, rappelt sich hoch, fällt noch einmal, bahnt sich schließlich einen Weg bis zum Gasthof Cavin. Nun erscheinen Cavin, Mutter Cavin und der Totengräber Cosandey. Sie gehen zurück zum Friedhof. Das Licht ist nun klar und von widerwärtigem Weiß. Rund um das offene Grab sind Fußstapfen zu sehen – der ganze Boden ist zertrampelt – und
Spuren eines ausgestreckten Körpers, ein paar Meter weiter eine halb im Schnee vergrabene Sturmlaterne. Cosandey steigt hinab in die Grube. Der Sargdeckel ist vollständig abgeschraubt, hastig wieder an seinen Platz geschoben, ein schmaler Spalt klafft in der Höhe des Oberkörpers der Toten. Cosandey steckt die Hand hinein: «Der Kopf ist nicht mehr da!», brüllt er und sackt über dem Sarg zusammen. Cosandey wird wiederbelebt, schlotternd bleibt er neben der Grube zurück, um Wache zu halten, die anderen gehen ins Wirtshaus Cavin, wo sie das einzige Telefon im Dorf betätigen. Erwartet werden Monsieur Gloor, Friedensrichter des Bezirks Mézières, der Untersuchungsrichter, Monsieur Blanchod, und zwei Beamte der Kantonspolizei, die drei Stunden brauchen werden, um mit der zugigen alten Bahn der Linie Lausanne-Moudon bis in den Jorat zu gelangen: Um die verlorene Zeit wettzumachen, holt man sie mit dem Fuhrwerk an der Haltestelle beim Schloss Ussières ab.
Nun entdeckt man, was geschehen ist. Aus Mézières kommend, wo man ihn endlich erreicht hat, ist Doktor Delay zu der Gruppe gestoßen. Er gibt Anweisung, den Sargdeckel abzunehmen. Die Leiche wurde geschändet. Spuren von Sperma, von Speichel auf den entblößten Schenkeln des Opfers. Blutige Verstümmelung zeigt sich in ihrem ganzen Grauen. Die linke Hand liegt abgeschnitten neben der Leiche. Die Brust ist aufgeschlitzt, von Messerstichen zerfetzt. Die Brüste wurden in Stücke geschnitten, gefressen, zerkaut und weder ausgespuckt in den offenen Bauch. Der Kopf, zu zwei Dritteln vom Rumpf abgetrennt, ist in diesen hineingedrückt worden, nachdem mehrere Stellen gut
erkennbar und gut sichtbar zerbissen wurden: Hals, Wangen, Ohrenansatz. Ein Bein, das rechte, und auch der rechte Schenkel sind zerhackt bis hinauf zur Furche des Geschlechts. Das Geschlecht wurde weggeschnitten, herausgelöst, zerkaut, gefressen, später entdeckt man noch ausgespuckte Reste, Schamhaare und Knorpel, in einer Hecke, der sogenannten Haie du Crochet, zweihundert Meter oberhalb der Schmiede. Die Gedärme hängen aus dem Sarg heraus, das Herz ist verschwunden. Es steht fest, der Wahnsinnige hat die Leiche aus der Grube gezerrt, um sich austoben zu können. Ein Büschel langer Haare und zwei große, teilweise vom Schnee aufgesaugte Blutlachen finden sich unweit des geschändeten Grabes. Als das grausige Werk vollbracht, das bestialische Mahl beendet war, ist der Körper der jungen Märtyrerin zurückgelegt worden in den Sarg, an seinen Platz im offenen Grab.
IV.
Der Vampir von Ropraz. Diese Bezeichnung wird schon am übernächsten Tag eingeführt, von der Feuille d’Avis de Lausanne, in ihrer Ausgabe vom 23. Februar. Diese traurige Affäre, schreibt die Zeitung, wird in unserem Land schmerzliches Aufsehen erregen. Nie zuvor hatte die Verbrechensgeschichte der Schweiz eine so scheußliche Tat zu verzeichnen. Für die Ruhe der öffentlichen Meinung ist sehr zu hoffen, dass der Schuldige der Justiz in die Hände fällt und die exemplarische Strafe erhält, die er verdient. Hyänen kann der Hunger als Entschuldigung dienen, wenn sie Leichen ausscharren. Für ihn, diesen abscheulichen Vampir, finden wir keine. Der Vampir von Ropraz, der Schänder, der Bluttrinker aus dem Bois des Tailles, die Fledermaus der ländlichen Friedhöfe… Das ganze Dracula-Inventar wird in Umlauf gesetzt, galoppiert durch das Land. Zur gleichen Zeit verbreitet sich die Affäre in der europäischen und amerikanischen Presse, und Zeitungen aus New York, aus Massachusetts, aus Boston, aus England und Schottland natürlich, Länder mit einer Schauerromanphantasie, treffen in der Amtsstube des Dorfes ein, dessen auf düstere Weise berühmt gewordener Friedhof im ganzen Umkreis Scham und Entsetzen hervorruft. Es ist merkwürdig, diese großen und von so weit hergekommenen Tageszeitungen aufzuschlagen und darin Überschriften zu finden, in fetten Lettern über vier Spalten mit grässlichen Details:
THE VAMPIRE OF ROPRAZ Sehr bald kommt die Untersuchung ins Stocken und gerät auf Abwege. Sie richtet ihr Augenmerk zunächst auf Vucherens, ein Nachbardorf, und zwar auf die beiden Caillet-Brüder, ziemliche Galgenstricke, die in Mord-, Erpressungs-, Diebstahl- und Raubgeschichten verwickelt waren. Sechs Jahre zuvor haben der alte Caillet, ein älterer Sohn und die Mutter den Milchhändler Budry ermordet, in Ecoteaux, Vater und Sohn sind zu lebenslänglich verurteilt worden, die Mutter zu drei Jahren wegen Beihilfe zum Mord. Vater und Mutter Caillet sind zu Beginn ihrer Haft im Zuchthaus gestorben. Und, so erinnert die Feuille d’Avis de Lausanne vom 23. Februar, durch einen immerhin seltsamen Zufall ist Rosa Gilliéron die Tochter von Monsieur Emile Gilliéron, der damals den Geschworenen vorstand, die über das Verbrechen von Ecoteaux zu befinden hatten. Also Rache? Tobsüchtige Vendetta der beiden blutrünstigen Jüngeren? Aber der Vampir hat allein gehandelt. Die zwei Caillets sind lasterhaft, gewalttätig, aber nicht schwachsinnig. Allerdings haben sie kürzlich im Gemischtwarenladen von Mézières Blendlaternen des gleichen Modells gekauft, wie die in Ropraz aufgefundene. Und sie verstehen es, virtuos mit dem Messer umzugehen. Wo waren sie in der Nacht vom Donnerstag, dem 20. auf den 21.? Man verhaftet sie, lässt sie weder laufen. Ihre Frauen, ebenfalls Galgen- und Gossenvögel, haben ihnen Alibis geliefert. Unterdessen blüht das Gerücht. Und die Angst. Man verschafft sich noch mehr Waffen, nachts verbarrikadiert man
sich, und es wird eifrig denunziert. Neid, schnöde Eifersucht, uralte Abrechnungen, von Rosa oder ihrem strengen Vater abgewiesene Freier, durch seine Richtersprüche geschädigte Privatpersonen, über seine Karriere verstimmte Politikaster, Einzelgänger, Gehemmte und Zwangsneurotiker, verliebt und besessen von der Reinheit des allzu schönen jungen Mädchens… Der Name einer anderen Person aus Ropraz kommt ins Gerede, denn ihr Nebenberuf, Störmetzger auf den Bauernhöfen, legt auch den Gedanken an erregende und sündige Spielereien mit der Klinge nahe. Aufschlitzer von Schweinen und Backfischen! Das übelste Liedchen wird angestimmt. Eine lange Woche hindurch verdächtigt man einen Medizinstudenten, der ausgerechnet Ende Februar ein paar Tage bei seiner Familie in Mézières verbracht hat. Ein Äskulapjünger, na klar, bei all den Sezierkursen, die man ihnen auf unsere Kosten erteilt! Der Student wird zwei ganze Tage lang in den Räumen der Polizei gezaust. Umsonst. «Ein harter Knochen», wird der Polizeibeamte Décosterd sagen, der die Vernehmung geleitet hat. «Diese jungen Doktoren lassen sich nicht so leicht beeindrucken. Dem da schauen wir jedenfalls auf die Finger. Er sagt, er will Chirurg werden. Ein Grund mehr, ihn keine Minute aus den Augen zu lassen.» Währenddessen läuft der Vampir frei herum. Seine Spur wird in Vucherens gemeldet, in Ferlens, in Montpreveyres, er taucht immer nachts auf, entwischt Kontrollgängern und Spürhunden, bei jedem Besuch hangelt er sich hinauf in das Stockwerk, wo die junge Tochter oder das Dienstmädchen schläft. «Sehen Sie nur, das eingeschlagene Fenster, hier war die Leiter angelehnt…» «Aber er hat Ihrer Tochter doch nichts getan.»
«Sie ist rechtzeitig aufgewacht. Sie träumte, die arme Kleine, plötzlich fing sie an zu schreien, ich hatte gerade mal Zeit, nach der Hacke zu greifen und hinaufzurennen.» Man hat Angst, man wundert sich, man interessiert sich. «Er hat sie nicht angerührt, der Saukerl, aber er war da, schauen Sie nur, die eingeschlagene Scheibe, die Schneetropfen auf dem Holzboden. Er hat sich wohl abschrecken lassen von den Knoblauchzehen und dem Kruzifix, mit dem sie schlief!» Denn überall hat man den Christus wieder hervorgeholt, den man noch aus katholischen Zeiten besitzt. In allen Dörfern, allen Weilern sind jetzt an Fensterrahmen und -riegeln, an Türstürzen, Baikonen, Gartentoren, selbst an versteckten Türen und Kellern Knoblauchgirlanden und Heiligenbildchen aufgehängt, die das Ungeheuer von Ropraz abschrecken sollen. Wieder ragen Kreuze auf in diesem protestantischen Land, in dem seit vierhundert Jahren keine mehr gesehen wurden. Auf die Hügel, an die Wege pflanzt man erneut das seit der Reformation verabscheute Ding. Fürchtet der Vampir das Zeichen Christi? «Das wird ihm zu denken geben, und der Hund ist losgelassen.» Pastor Béranger und die Muttergemeinde in Mézières tolerieren diesen Aberglauben. «Mit den Freiburger Hexern ganz in der Nähe und ihren Magiern, ihren Pfarrern bis dicht an die Grenze bin ich solche Mätzchen gewöhnt.» Béranger ist Hugenotte. Ein Soldat Gottes. Als Rosas Katechet hat er dem Zusammensetzen des Leichnams beigewohnt, den man für ein paar Stunden vom Friedhof in die Grande Salle gebracht hat, um ihn zu waschen und wiederherzurichten. Und er, Béranger, hat die in ein neues weißes Kleid gehüllten sterblichen Überreste gesegnet, bevor man sie noch einmal begrub. «Und Madame Béranger und die kleine Pfarrhelferin, haben Sie denn keine Angst, Herr Pastor, das Ungeheuer könnte über
sie herfallen? Bestimmt will es sich an Ihnen rächen, Sie waren so gut zu Rosa…» «Wer Gott liebt, fürchtet den Geist der Finsternis nicht», erwidert der Pastor mit fester Stimme. Und er steigt wieder auf den eingespannten Wagen, den er selbst lenkt, die Nacht bricht herein, die gespenstische Nacht, lange noch hört man die Räder knirschen im gefrorenen Schnee des unteren Weges.
V.
Unterdessen läuft er frei herum, er läuft herum, der Vampir von Ropraz, entfernter Vetter Draculas und ihm doch so ähnlich, dem schimärischen Herrscher über die schroffen Hänge der Walachei und das von Verbrechen heimgesuchte Transsilvanien. Für sich hat er die furchtbare Verwandtschaft zwischen den Karpaten und dem waadtländischen Vorgebirge mit seinen schwarzen Wäldern, wo er sich versteckt, wo er lauert, seinen Durst und seinen Hunger anstachelt, der Fresser der reinen Rosa. Natürlich hat er, verkrochen im Gebüsch, wo er bis zum Sonnenuntergang hockt, oder in einer Berghöhle, einer dunklen Felsspalte, gehört, wie das Gespann des Pastors über den holprigen Weg ratterte. Und natürlich hat er später gesehen, wie das Licht in den Fenstern von Schloss Ussières erlosch, wie das Licht im Wirtshaus Cavin erlosch, in den Häusern aus wuchtigem Stein, den einsam gelegenen Höfen. Jetzt gehört die Nacht ihm. Aus dem Talgrund ist Wind aufgekommen. Er fegt über die Nacht, der nasskalte Wind, der die Hunde in ihre Hütten jagt und das Eis auf den Wegen hart macht… So viele zarte Jungfrauen schlafen ihren Lilienschlaf in so vielen schwindelerregend warmen Betten. So viele junge Tote ruhen ihre erste Nacht in der Erde, unter der Decke ihres frischen Grabes. Es ist Zeit, dich auf den Weg zu machen, Dracula, Herrscher des Dunkels, durch die Dörfer und übers Land! Du, der du alle unsere Bewegungen kennst, unser Rasten, unser Zögern, der du das Blut unserer Töchter trinken, sie beschnüffeln, sie verschlingen wirst, bevor die
Morgendämmerung dich zurücktreibt in dein unauffindbares Schlupfloch! Denn seit dem 20. Februar scheint kein Hügel, kein Wäldchen, kein Schleichweg sich der Macht des Ungeheuers mehr zu entziehen. Er ist überall, der Vampir von Ropraz, er streift umher, er lauert, er droht, durch ihn wächst die auf den einsamen Höfen tief verwurzelte Angst. Die Furcht vor der bösen Überraschung, die umgeht auf den größeren Landgütern, das Unbehagen, eingenistet im Fleisch der sexuellen und sühnenden Schändung. Die alte Schuld der bestraften und dem Teufel dargebotenen Körper. Du warst zu schön, Rosa, du bezahlst für dein strahlendes Weiß! Seit Urzeiten ist alles unheilvoll und gefährlich in diesen einsamen Landstrichen, das Gewitter, das Flüsse anschwellen lässt, der Blitz, der Dächer in Brand steckt, die Trockenheit, die Felder vernichtet, Gras versengt, Obst klein und schrumpelig macht, der Regen, der die Ernte faulen lässt und die Böden ausschwemmt. Man ist auf der Hut vor Vagabunden, Bettlern, umherziehenden Predigern, die klauen wie Zigeuner. Man verjagt fahrendes Volk, Landstreicher, Zirkusleute, vertreibt Hausierer mit der Mistgabel. Aber dann kommt der 20. Februar, die Herrschaft des Vampirs, die alle Angst, alle Gewalt, den unterdrückten Wahn in sich trägt und das furchtbare Geheimnis der bösen Welt auf das Unfassbare verdichtet. Es gab die Pastoren, die unseren Dünkel und unsere Lügen anprangerten. Es gab die Sonntagspredigt in den Kirchen Calvins und die Erinnerung an das Jüngste Gericht, das unsere Gedankenlosigkeit erwartet. Es gab vor allem in uns, aus der Tiefe jahrhundertelangen quälenden Brütens, die Gewissheit der Strafe, die da oben hing über unseren Leben. Jetzt, im Banne des Vampirs, entkommt keine Bruchbude, geräumige Wohnstatt oder Hütte, kein Schuppen, Verschlag,
Unterstand, kein schäbiges Loch, keine Baracke oder Werkstatt seinem grausamen Lauern. Kinder aus abgelegenen Häusern gehen nicht mehr zur Schule, der Briefträger macht seine Runde nicht mehr über Hügel und Weiler, Doktor Delay wird vom Jagdhüter beschützt, wenn er ans Bett eines weit entfernten Kranken eilt. Aber darf man in so schlimmer Zeit überhaupt krank werden? Mehr denn je überwachen die Mütter ihre Töchter. Vor dem Februar ging die Gefahr von den Burschen aus, den Tanzfesten, Lotterien, Liederabenden, nun jedoch lebt das Ungeheuer versteckt unter uns, hinterhältig, geschickt, gut informiert, bereit, sich die Zähne zu lecken und seinen Geifer auf unsere Träume tropfen zu lassen, bevor er die Kehlen und samtigen Bäuche unserer Verlobten aufreißt. Am Montag, dem 2. März 1903, erscheint ein empörter Artikel als Aufmacher der Revue de Lausanne. NOCH EINMAL DER VAMPIR VON ROPRAZ Es kann einfach nicht hingenommen werden, schreibt die radikale Zeitung über vier Spalten, dass unsere in jedem anderen Fall so tüchtige Polizei noch keinen Anhaltspunkt gefunden hat, der es ihr ermöglicht, des gemeinen Verbrechers habhaft zu werden, der unsere ländlichen Gegenden in Schrecken hält und demnächst unsere Städte und unser ganzes Tun angreifen wird. Soll die grauenhafte Schändung des Leichnams der jungen Rosa Gilliéron, deren verdienstvollen Vater, den Richter und Abgeordneten Emile Gilliéron aus Ropraz, unsere Leser alle kennen, noch lange ungesühnt bleiben? Soll der Vampir siegen über die öffentliche Ordnung und den Frieden eines ganzen Landes, mit denen er bald kurzen Prozess machen wird?
Diese Zeilen, wie die Zeitungsartikel, die fortan in der ganzen Schweiz erscheinen und immer häufiger auch in Europa, drücken genau jene Furcht und Ungeduld aus, die die öffentliche Meinung erregen und Stadt und Land aufwühlen. Auf der einen Seite der Vampir, der alle Welt verhöhnt, tut, was er will, und die Hysterie schürt. Ihm gegenüber Ohnmacht und Untätigkeit der Untersuchungsbeamten. Eine düstere Frage fasst den Artikel in der Revue de Lausanne zusammen: «Wann erleben wir die nächste Höllenszene?»
VI.
Der März verstreicht, auch der April, versteckte Anschuldigungen, falsche Gerüchte, zweifelhafte Ruhe, nichts geschieht mehr seit der Untat von Ropraz. Aber das Gerede schwillt an, Namen werden genannt, es drohen Anzeigen wegen Verunglimpfung und übler Nachrede. Und die Streitereien zwischen Sippschaften, der Hass in den Familien, finstere Erbschafts- oder Grenzziehungsgeschichten, all diese Ruchlosigkeiten erblühen, begünstigt durch Argwohn und Angst. Indem er den Körper der toten Tochter zerschnitt und aussaugte, hat der Vampir von Ropraz Gilliérons Vertraute gegeneinander aufgebracht. Anfang März wird einer der Nachbarn in La Moille de Perey, eine angesehene Persönlichkeit, ein reicher Grundbesitzer, durch Gerede beschuldigt, er habe Rosa geschwängert. Es wird die ganze Autorität des Richters und das Zeugnis des Doktors Delay brauchen, um eine Verleumdung zum Verstummen zu bringen, an die niemand glaubte. Rosa starb, über jeden Verdacht erhaben, die Abscheulichkeit des Angriffs aber zeigt, welche Bösartigkeit herrscht. Zur gleichen Zeit wird ein Junggeselle aus Hermenches, eine scheeläugige, verkorkste Existenz, ein gewisser Juste Fiaux, von der Polizei verhaftet. Den ganzen Sommer 1901 hat dieser Juste Fiaux als Knecht auf Gilliérons Hof gearbeitet und, was ordnungsgemäß bezeugt ist, die junge Rosa ständig mit taktlosen Annäherungsversuchen belästigt. Sie hat ihn freundlich abgewiesen, und dabei ist es geblieben. Aber hat der
verbitterte Fiaux sich für diese Missachtung gerächt? Die Spur wird schnell wieder aufgegeben. Und der breite Störmetzger aus Ropraz, dessen Name als Feind des Abgeordneten genannt worden war? Er hat sich einen Anwalt in Lausanne genommen, Maître Spiro, ein gefürchteter Prozessführer, und niemand hier hat Lust, sich seinem weithin bekannten Zorn auszusetzen. Abgang des Metzgers, Viehhändlers, reichen Bauern und Kirchenrats obendrein. Andere haben weniger Glück. Der Name eines Erziehers wird ins Spiel gebracht, der Mann ist wegen einer nie ganz aufgeklärten Affäre um unsittliche Berührungen entlassen und nicht reingewaschen worden, auch wenn sich der Pädagoge inzwischen zum öffentlichen Schreiber in Oron-la-Ville gewandelt hat. Dort schreibt er sonderbare Liebesbriefe (oder lässt sie schreiben). An Damen in Oron und Mézières, an junge Mädchen im ganzen Bezirk, an die Tochter von Doktor Delay, an Rosa. Der Schreiber leugnet. Wo war er in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar? Er gibt vor, es nicht sagen zu können, weil er die Ehre einer Dame schützen muss. «Und am Vorabend?» «Da habe ich an meinem Roman gearbeitet.» «Hat irgendjemand Sie beim Schreiben gesehen?» «Ich stelle mich nicht zur Schau. Wissen Sie, was Schreiben bedeutet? Ein Opfer, ja, meine Herren, ein Opfer, das um vieles schrecklicher ist als die Schlachtung der sterblichen Überreste einer unschuldigen Bäuerin!» Inspektor Décosterd und seine Kollegen von der Polizei tippen sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Schriftsteller! Und neuer Märtyrer! Man lässt den komischen Vogel reden. So geht es bis zum Schulanfang nach Ostern, am Dienstag, dem 14. April. Das Grauen ereignet sich in Carrouge, acht Kilometer von Ropraz, auf einer Kuppe an der Straße nach
Moudon. Auf der Wiese, die zwischen Friedhof und Schule als Spielplatz dient, beaufsichtigt der Lehrer Aimé Jeunet, der die einzige Klasse von Carrouge unterrichtet, gerade die Pause und raucht einen Fivaz-Stumpen, da wird seine Aufmerksamkeit auf eine Schar Kinder gelenkt, die mit einem seltsamen Ball vergnügt Fußball spielen. Als Aimé Jeunet in aller Ruhe näher tritt, stellt er bestürzt fest, dass dieser Ball ein Kopf ist und dass dieser Kopf skalpiert ist, blutverschmiert, Haarbüschel kleben noch am Schädel wie ein widerwärtiger Schmuck. Der Lehrer ist völlig verstört, wird beinahe ohnmächtig, und die Kinder laufen auseinander. Denn Jeunet hat den Schädel erkannt: «Das ist Nadine!», schreit er, taumelt noch einmal und sinkt ins Gras. Während der folgenden Stunde entdeckt man erneut das ganze Grauen des schaurigen Rituals. Das Grab ist geöffnet, der Sarg aufgeschraubt, die Leiche wiederum geschändet, Flecken von Sperma und Speichel rund um den Nabel und an den Schenkeln. Und der ganze übrige Körper verstümmelt, blutig, diesmal wurde das Geschlecht der jungen Toten mitgenommen, der Kopf vollständig vom Rumpf abgetrennt. Dann wurde der Schädel skalpiert, die Kerben im Knochen beweisen es, das verkrustete Blut und die lange schwarze Haarsträhne, die auf der Allee in der Sonne schimmert. Was ist geschehen in Carrouge? Vor drei Jahren hat eine Familie aus dem Dorf eine von Knochentuberkulose geheilte Waise bei sich aufgenommen. Doch ein Bein ist gelähmt, Nadine Jordan hinkt, man lässt sie kleine Hausarbeiten verrichten, um sie daheim zu behalten. Sie ist hübsch, fleißig, munter, die Burschen beginnen ihr den Hof zu machen, trotz ihres steifen Beins und der kindlichen Statur. Immerhin ist sie wohlgeformt, hat einen hübschen Busen, langes dunkles Haar, das glänzt, selbst den Lehrer, Monsieur
Jeunet, lässt so viel Anmut nicht gleichgültig… Der harte Winter hat seine Gesetze. Im Dezember des vergangenen Jahres bricht die Tuberkulose wieder aus, ein böses Fieber kommt dazu, der Todeskampf ist kurz, Nadine Jordan stirbt ein paar Tage vor Ostern, am Donnerstag, dem 9. April, begraben wird sie am Samstag, dem 11. Wie bei Rosa Gilliéron hat Pastor Béranger den Trauergottesdienst gehalten, Carrouge ist ein Nachbarort von Mézières, er hat an das kurzes Leben Nadines erinnert, eines tapferen und makellosen jungen Mädchens, und das Totengebet gesprochen. Dieses Mal liegt kein Schnee, der die Spuren des Vampirs verraten könnte. Es gibt nur den abgeschnittenen Schädel mit dem schwarzen Blut und eine lange, noch mit roten Perlen besetzte Haarsträhne auf dem Rasen des Friedhofs, hinter Kirche und Schule.
VII.
Es scheint, als würde der Frühling die Gier des Vampirs anfachen. Kaum hat man in Carrouge den gemarterten Leichnam und den Skalp von Nadine Jordan entdeckt, da erschüttert eine dritte grausige Geschichte erneut den Jorat. Diesmal geschieht es in Ferlens, einem Dorf östlich von Carrouge, an der Straße zum Lac de Bret. Eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren ist an Schwindsucht gestorben, und ihr Mann, Jacques Beaupierre, kommt ihrem letzten Willen nach: Im Grab soll ihr Kopf auf dem kleinen roten Schaumgummikissen ruhen, das ihr geholfen hat, die Prüfung zu ertragen. Ein seltsamer Wunsch, doch das Versprechen wird liebevoll gehalten und Justine Beaupierre am Dienstag, dem 21. April, bestattet, ihr Kopf liegt im Sarg auf dem absurden und nützlichen Gegenstand. Man stelle sich Beaupierres Entsetzen vor, als er bei seinem ersten Besuch auf dem Friedhof, am Morgen nach dem Begräbnis, das besagte Kissen entdeckt, orangerot und gut sichtbar im Neunuhrlicht, auf der Allee, die zum Grab seiner Frau führt! Wieder ist das Grab geöffnet, der Sarg aufgebrochen, das Totenkleid heruntergerissen und zerfetzt, die Kehle der jungen Frau ist von Löchern durchbohrt und aufgeschlitzt, die Brüste sind abgeschnitten, zum Teil gefressen. Eingetrocknetes Sperma, Spuren von Speichel, wie Geifer, wird Jacques Beaupierre später sagen, rund um den Nabel und in der Leistenbeuge. Ein langer, glatter Schnitt geht durch den Bauch, Schamberg und Geschlecht sind herausgelöst und mitgenommen worden. Reste davon wird man wiederfinden,
zerkaut und ausgespuckt, Haare, frisches Fleisch und Knorpel, im Buchsbaumgehölz, das die Einfriedung säumt. So wie man Reste des Geschlechts und Haare gefunden hat in der schwarzen Haie du Crochet, in Ropraz, nach der Untat vom Februar. «Augenfarbe der Justine Beaupierre?» «Braun, ins Schwarze spielend.» «Haarfarbe?» «Dunkelbraun.» «Hautfarbe der Obengenannten?» «Von blasser Reinheit.» «Größe der Obengenannten?» «Mittelgroß und gut gewachsen. Hübscher Busen. Schmale Hüften.» «Körperbau der Obengenannten?» «Schlank und geschmeidig. Höchstens vierzig Kilo.» Offenbar hält sich der Vampir von Ropraz an einen Frauentyp, immer den gleichen, und sucht das Opfer, das er schlachten will, lange vorher aus. Wie informiert er sich? Woher weiß er, dass eine schlanke Brünette im Sterben liegt, und an welchem Ort? Hat er eine Liste der jungen Kranken im Endstadium, in allen Ambulatorien, Sanatorien, Quarantänestationen oder Heilanstalten der Gegend? Verfügt er über einen Komplizen im Krankenhaus von Moudon? Und die Begräbniszeiten: Woher weiß er, auf den Tag genau, zur festgesetzten Stunde, dass man eine junge Tote in einem ganz bestimmten Dorf zu Grabe trägt? Man beginnt die Küster zu verdächtigen, die Totengräber, und der aus Ferlens, der alte Cordey, gerät durch die Untersuchung in Bedrängnis. Der Alkohol rettet ihn, Gott ist gütig. Als das Verbrechen Beaupierre geschah, war Jérémie Cordey wieder einmal stockbesoffen, dank der Trinkgelder vom Vortag.
Justine Beaupierre wird noch einmal begraben. Wieder ein neues Kleid für den geschundenen Körper, wieder Pastor Béranger, der sich nicht scheut, die schrecklichen Vorfälle mit den Zehn Plagen Ägyptens zu vergleichen, mit der erwarteten Bestrafung von Sodom und Gomorrha. «Für welches Verbrechen müssen wir büßen, auf unserem elenden Posten? Du weißt es, Du, Herr, und auch wir wissen es, wenn wir unser Gewissen befragen. Niemand ist unschuldig vor dem Herrn. Erst wenn wir all unsre Sünden geprüft haben und entschlossen sind, zu bereuen und den Lauf unseres Lebens zu ändern, o Herr, erst dann wirst du unseren Städten und unseren Dörfern wieder Frieden schenken. So, wie Du in Deiner Güte unsere von so viel Irrglaube verdunkelten Herzen besänftigt hast.» Nun ist es gesagt, Gott wird den Vampir vernichten, sobald wir uns Ihm anvertrauen. Ein biblischer Wunsch, der sich verbindet mit der Obsession von der im Körper eingeschlossenen Schuld der Calvinisten in ihren Einöden. Ihre Seelen, niedergedrückt durch die Höhe eines unerreichbaren Himmels. Béranger kennt seine Leute. Indes, vor allem nach Einbruch der Nacht, denken sie alle an die drei schönen blutigen und wieder zusammengeflickten Leiber tief unten in ihrem neuen Bett aus Erde, auf ihren drei kleinen einsamen Friedhöfen, und sie wissen, das Ungeheuer wird das letzte Wort haben in diesem Tal, das Gott uns gibt, voll bitterer Tränen und wohlverdienter Finsternis.
VIII.
Die Untat Beaupierre auf dem Friedhof von Ferlens überstieg, durch die Wiederholung des Rituals, die schlimmsten Vorstellungen. Würde man diesem Gemetzel jemals ein Ende setzen? Eine neue Geschichte in Ferlens, die «Affäre im Café du Nord», wie man sie sogleich benannte, ließ für einen Augenblick glauben, man habe den Schuldigen gefasst. Im Café du Nord klagte der Wirt, Georges Pasche, seit dem Winter darüber, dass in seinem an Hof und Wirtshaus angrenzenden Stall, alles zusammen ein einziges, weitläufiges Gebäude, die Kühe und Färsen durch widernatürliche Misshandlungen verletzt würden. Tatsächlich wurden in jenem Winter und den ganzen Frühling hindurch Vulva, Anus und Rektum mehrerer Tiere durch Einführen eines besonders großen Penis oder eines Stocks, eines Hackenstiels oder irgendeines anderen spitzen Geräts übel zugerichtet, denn Membran und Rektum der jungen weiblichen Tiere wurden durchbohrt, zerrissen, zumeist blutig geschunden um die Stunde des morgendlichen Melkens, und die Öffnungen verschiedener Tiere waren noch von Sperma besudelt. Zunächst legt sich Georges Pasche auf die Lauer, denn er wagt nicht, die Vorkommnisse aufzudecken, aus Furcht, man könnte ihm irgendeine Verbindung zum Vampir von Ropraz unterstellen. Doch da sie andauern und sogar schlimmer werden, verspricht Pasche schließlich zwei Fünffrankenstücke, damals eine stattliche Summe in jenen Landstrichen, eidgenössische Münzen aus schwerem Silber, für jeden, der
den Schuldigen anzeigt oder zu überführen hilft. Wir haben Montag, den 11. Mai 1903. Mehr braucht es nicht, damit die kleine Kellnerin aus dem Wirtshaus zwei Tage nach Bekanntgabe der Belohnung Favez, den Knecht, mitten in der Nacht im Stall dabei überrascht, wie er sich, auf einem Hocker stehend, die Hose bis auf die Socken heruntergelassen, an einer Färse mit zusammengebundenen Beinen vergeht. Die Kellnerin schwingt die Laterne: «Diesmal hab ich dich, Bürschchen!» Bei dem lauten Gezanke kommt Pasche angelaufen und Mutter Pasche und natürlich die Kinder Pasche, all diese Leute im Nachthemd im Stall, der wogt und dampft von schweren Gerüchen, Feuchtigkeit, hin und her geschwenkten Dochtlampen. Mit Gewalt wird der Knecht wieder angezogen, gefesselt, in den Keller verfrachtet, im Morgengrauen hieven ihn berittene Gendarmen aus Mézières auf ihren Wagen und sperren ihn ins Gefängnis von Oron, dem Hauptort des Bezirks. Mit vollem Namen heißt der Unglücksvogel CharlesAugustin Favez. Er ist einundzwanzig, wirkt doppelt so alt, seltsamer Körper, fliehende Stirn, Alkoholiker, lasterhaft, wortkarg. Und er vergnügt sich mit unseren Tieren! Treibt er sich vielleicht auch auf Friedhöfen herum? Und wenn Favez der Schuldige wäre, Favez an Rosas Grab, noch mal er in Carrouge, noch mal Favez in Ferlens! Natürlich ist Favez der Sadist. Favez ist das Ungeheuer. Er ist der Vampir von Ropraz. Wenn kein menschliches Opfer zur Verfügung steht, löchert er Kühe und Färsen, bis er wieder tote junge Frauen zu beißen kriegt. Oder lebendige, warum nicht? Kleine zarte und warme Täubchen, Schülerinnen, Konfirmandinnen oder junge Mütter im unschuldigen Schlaf, an denen er sich gütlich tun und sein dreckiges Maul reiben kann. Am Donnerstagmorgen, dem 14. Mai, ist im Jorat und weiter weg im ganzen Land ein Aufschrei zu hören: «Wir haben den
Vampir gefasst! Er ist der Vampir!» Ja, er ist es, schlimmer als der Wolf oder als der Bär aus den Legenden, denn er hat drei Körper von jungen Toten besudelt in Ropraz, in Carrouge, in Ferlens, er hat uns in Schrecken versetzt, über ihn muss jetzt gerichtet werden, für ihn muss die Todesstrafe wiedereingeführt werden. An diesem Morgen spricht man überall auf dem Land und in den Weilern von der Todesstrafe, auch wenn sie seit sechsunddreißig Jahren abgeschafft ist.* Allein die Todesstrafe ist in den Augen und Ohren einer ganzen Bevölkerung angemessen für so abscheuliche Freveltaten. Doch wer ist dieser Liebhaber der Toten, dieser Schänder von Kühen, der Urheber so vieler entsetzlicher Verbrechen? Charles-Augustin Favez wurde in Syens geboren, einem winzigen Dorf zwischen Moudon und Mézières, am 2. November 1882, in benachteiligten Verhältnissen, wo Alkohol, Inzest und Analphabetismus atavistische Plagen sind. Mit drei Jahren wird Charles-Augustin seiner erbärmlichen Familie weggenommen, einem Paar anvertraut, das ihn missbraucht, schließlich von der öffentlichen Fürsorge bei einer Kaufmannsfamilie in Mézières untergebracht, den Chappuis, die ihn anständig zu erziehen versuchen, indem sie ihm kleine Arbeiten im Geschäft übertragen, während er gleichzeitig noch zur Schule geht. Charles-Augustin ist sehr kräftig, entwickelter als die Jungen seines Alters, und er wird von Wutanfällen gepackt, die Angst machen. Er hat wenig Umgang mit seinen Kameraden, weicht den Mädchen aus, spricht so wenig, dass man ihn für stumm halten könnte. Bei der jährlichen Gesundheitskontrolle in den *
Die letzte Hinrichtung im Waadtlandt hat in Moudon stattgefunden, zwölf Kilometer von Ropraz, am 15. November 1867. Der Giftmischer Héli Freymond, unter anderem Mörder seiner Frau, wird öffentlich enthauptet, vor einer restlos zufriedenen Menge.
Schulklassen von Mézières im Juni 1892 – Charles-Augustin ist zehn – vermerkt Doktor Delay in seinem Bericht, das Kind Favez sei für sein Alter zu stark entwickelt, ungeheuer blass und seine Augen rot unterlaufen, «als würde ihm das Tageslicht weh tun». Dieser Vermerk wird im Prozess zitiert werden. Charles-Augustin Favez leidet unter «Abwesenheiten», die aus seinem Gedächtnis gewisse Handlungen oder gewisse Taten tilgen, erlittene oder begangene. Es scheint, als habe er diese Abwesenheiten entwickelt als Schutz vor schweren Verletzungen in seiner Kindheit, wie etwa Hunger und Misshandlungen, die er vor seiner Zeit bei den Chappuis erdulden musste. Bei den Geschichten, die uns interessieren, sagt er, er erinnere sich nicht, dass er vor kurzem irgendeine perverse Tat begangen habe oder begangen haben könnte, auf irgendeinem der genannten Friedhöfe. Bereits im Alter von fünfzehn Jahren stellt man einen Hang zur Trunksucht fest, die ihn alles schlucken lässt, was alkoholisch ist, vor allem an Samstagen, wenn er Wirtshäuser und Tanzfeste besucht, trotz seines Alters, Jahrmärkte und andere Veranstaltungen, auf denen er sich besäuft. Immer weder liest man ihn nach der Sperrstunde auf und wirft ihn vor die Tür des Chappuis’schen Ladens in der Grand-Rue, wo dieses Schauspiel Angst erzeugt. Mit sechzehn wird er vom Katechismus verwiesen, weil er in der Garderobe des Pfarrhauses fünfzig Rappen aus dem Kittel eines Schulkameraden gestohlen hat. Interessanter Zufall: In der Schule und im Katechismus war er in der gleichen Klasse wie Rosa Gilliéron, von der er sich eingeschüchtert fernhielt, doch im Bericht des Lehrers heißt es, «dass er sie ständig ansah und ihr auf der Straße folgte trotz der Gegenwart ihres Vaters».
Charles-Augustin Favez und Rosa Gilliéron trennt ein Altersunterschied von nur einem Jahr: 1882 und 1883. Sie erhalten die «gleiche» Bildung in einem Land, in dem allgemeine Schulpflicht herrscht. Es ist seltsam, sich vorzustellen, wie das reine junge Mädchen in der ersten Reihe aufmerksam dem Unterricht des Lehrers lauscht und ganz hinten in der Klasse der Vampir Favez sie belauert und bereits daran denkt, sie abzustechen und zu verschlingen.
IX.
Favez wird also ins Gefängnis von Oron gesperrt. Die Haft dauert nicht lange: siebenundfünfzig Tage. Wie kommt es, dass der berühmteste Verbrecher der ganzen Schweiz seiner Strafe entgeht? In Oron werden Charles-Augustin Favez wider Erwarten zwei Interventionen zugute kommen. Die erste ist unvermeidlich, nämlich die eines schon damals berühmten Psychiaters, Doktor Albert Mahaim, der Charcots Thesen studiert, seine Vorlesungen an der Salpêtrière gehört, selbst zahlreiche Arbeiten über Hysterie, Sadismus, Neurasthenie vorgelegt hat und in Favez ein für die Entwicklung seiner eigenen Thesen nützliches Beobachtungs-, vielleicht auch Vorführobjekt erahnt. Albert Mahaim ist Professor an der medizinischen Fakultät von Lausanne, aber auch einer der Gründer der ganz neuen psychiatrischen Anstalt von Cery, im Westen der Stadt, an der bewaldeten Grenze der Siedlung Prilly-Chasseur. Die Anstalt von Cery hat den Ehrgeiz, sich weiterzuentwickeln und eines der wichtigsten Studienzentren für seelische Krankheiten in Europa zu werden. Ein Beispiel: Die Anstalt ist schon bei ihrer Eröffnung 1873, dreißig Jahre vor den hier geschilderten Ereignissen, mit mehreren Pavillons für Geriatrie und einem Musterbauernhof ausgestattet, auf dem die harmlosesten Kranken oder solche, die sich im Stadium der – wie man damals sagt – «Latenz» befinden, arbeiten dürfen, so weit sie dazu fähig sind. Obstgärten, Gemüseanbau, Wälder, Hühnerhof, Feldarbeit, aber auch Großviehzucht – die Herde von Cery, mit mehreren alljährlich bei den kantonalen Landwirtschaftsausstellungen prämierten Stieren, gilt bald als
eine der bestversorgten in der ganzen Region. Bereits 1903 beschäftigt der Hof rund vierzig Insassen unter Anleitung mehrerer Ärzte und Vorarbeiter. Albert Mahaim untersucht Favez, er stellt fest, dieser sei Alkoholiker, verschlossen, habe eine atavistische Neigung zu Wutanfällen, die in Gewalttätigkeit umschlagen können. Doch Favez ist vielleicht nicht das Ungeheuer, für das man ihn hält. Auf keinen Fall ein Zerstückler von Leichen und Menschenfresser. Die anatomische Untersuchung bescheinigt Favez große Kraft und eine angesichts der Armut ungewöhnliche Widerstandsfähigkeit. Der Sturz von einem Baum, im Wald, während einer schiefgegangenen Ausbildung des Betroffenen bei einem Holzfällermeister, hat eine Schulter ziemlich schwer beschädigt und eine leichte Verrenkung von Knochen und Schlüsselbein zurückgelassen. Doch Favez leidet nicht darunter, sein Oberkörper ist kräftig, seine Arme sind lang und sehr muskulös, Geschlecht und Hoden stark entwickelt; anzumerken ist, dass frühe und wiederholte Masturbation die Eichel freigelegt hat: Die onanistischen Gewohnheiten des Verdächtigen haben ihn auf natürliche Weise beschnitten. «Hatte der Verdächtige Geschlechtsverkehr mit einer Frau?» «Trotz seines inneren Widerstands und nach mehrstündigen Gesprächen gesteht der Verdächtige, nie mit einer Frau verkehrt zu haben. Er hat sich mit Prostituierten getroffen, in Lausanne und Yverdon, doch er hatte zu viel getrunken, und die Frauen haben sich keine Mühe gegeben.» «Der Verdächtige ist von kräftiger Statur. Warum hat er keinen Militärdienst geleistet?» «Die Armee wollte ihn nicht wegen der verwachsenen Schulter. Es ist die rechte, die man zum Schießen braucht. Die Militärärzte, die ihn untersuchten, schlossen auf eine angeborene Missbildung, die ihn dienstuntauglich machte.
Schade für die eidgenössische Armee», sagt Doktor Mahaim lächelnd. «Aus ihm wäre ein guter Soldat geworden.» Eine Besonderheit allerdings beunruhigt Doktor Mahaim. Favez hat immer rote Augen, blutunterlaufen, wie umrandet von offenem Fleisch, er blinzelt ständig, als würde ihm das Tageslicht weh tun. Albert Mahaim vermerkt diese Eigenheit widerstrebend, er weiß, dass er Favez die geröteten Vampiraugen zuschreibt, die kein Licht vertragen. Durch die beschädigte und verkrümmte Schulter wird seinem Gang immer etwas Flüchtendes anhaften, das ist schon wahr, genau wie dem Ungeheuer. Ein anderes Detail, das sich jedoch als bedeutungsschwer erweist, wenn man zurückdenkt an die Zähne des blutdürstigen nächtlichen Streuners, die besonders groß und scharf sein müssen: Die Untersuchung von Favez’ Gebiss zeigt einen Kiefer mit ungewöhnlich langen Zähnen, die Schneidezähne sind spitzer als normal, was seinen Mund zu einem schwer erträglichen Grinsen verzerrt. Die Durchsuchung der persönlichen Habseligkeiten des Beschuldigten, seiner Kleider und des Kämmerchens, wo er schläft, in Mézières, unter dem Dach des Chappuis’schen Ladens, bringt nichts Interessantes ans Licht: nur ein kleines Taschenmesser mit Holzgriff und stumpfer, rostiger Klinge. Ein lächerlicher Gegenstand, wie Doktor Mahaim beweist und erklärt, der nicht dazu taugt, Fleisch zu zerschneiden mit der schnellen und außerordentlich effizienten Genauigkeit der Untaten auf den drei Friedhöfen. Das Taschenmesser wird von zwei eigens aus Basel und Zürich angereisten Kriminologen untersucht, Doktor Paulus Betschacht und Professor Johannes Berg, zwei Wissenschaftler, die von der deutschen und der österreichischen Polizei bei Mordtaten und Lastern zu Rate gezogen werden. Die zwei strengen Herren haben keine Spur
von menschlichem Blut auf der armseligen Klinge gefunden, nichts als Fettrückstände auf Kaseinbasis und Fruchtzucker, die von Käse und den aus Obstgärten gestohlenen Äpfeln stammen, von denen sich der Verdächtige zumeist ernährt. «Auch kein Blut oder irgendwelche Spuren von menschlichem Fett an den Kleidern des Beschuldigten? Oder auf seinen Hausschuhen? In seinem Bett?» «Nicht die geringste physiologische Spur. Der Verdächtige selbst ist sauber, das Dachkämmerchen, in dem er schläft, wird von ihm regelmäßig gelüftet und ausgefegt.» Anzumerken ist noch, dass die Deutschschweizer Experten, in ganz Europa anerkannte Fachleute auf dem Gebiet der Kriminologie, Favez mit verschiedenen Stücken Tierfleisch auf die Probe gestellt und ihm befohlen haben, einen Rindsrumpf, einen Schweinebauch und eine Kalbsbrust zu zerteilen und zu zerschneiden. Der Beschuldigte erwies sich als außerstande, damit fertig zu werden. Weder mit seinem «kleinen Messer» noch mit besonders scharfem Metzgerwerkzeug vermochte oder verstand es Favez, das Fleisch eines am Vortag geschlachteten Tieres zu zerteilen. Doktor Mahaim zog daraus den Schluss, Favez schnellstens wieder freizulassen. Eine Freilassung, verbunden mit einer im Strafregister verzeichneten Geldbuße von fünfunddreißig Franken wegen widernatürlicher Handlungen an Tieren und mit einer psychologischen Beobachtung von wenigstens drei Monaten, samt Weisung, sich an jedem ersten Tag der Woche zur ärztlichen Beratung in Cery einzufinden. Doktor Mahaim fügte noch hinzu, in Cery würde er den besagten Charles Favez persönlich empfangen, denn während seiner kurzen Untersuchung habe er einen Menschen liebgewonnen, der mehr dem Opfer beklagenswerter ländlicher Verhältnisse gleiche als dem Peiniger einer Gesellschaft, die wenig geneigt sei, ihm eine Chance zu geben.
X.
Wovon träumt ein Vampir, nachts, hinter Schloss und Riegel in seinem mittelalterlichen Kerker? Er sinkt zurück in Szenen aus einer Kindheit, da er vor Hunger fast verreckt, leidet, duldet, sich unterwirft, so oft sterben will. Eingesperrt im schwärzlichen Gefängnis von Oron, erinnert sich Favez an sehr weit zurückliegende Szenen, von denen er geglaubt hatte, er könne sie verbannen aus seinem Gedächtnis eines freien Streuners. Eines Jägers, eines blutdürstigen Rächers? Er ist drei, vier Jahre alt, also noch bevor ihn die Fürsorge bei den Chappuis untergebracht hat, in Mézières, bei seinen Eltern hagelt es Schläge, es gibt viel Geschrei, das Gebrüll des Vaters, seine Saufanfälle, und die Mutter, fertig vom Alkohol, den Schwangerschaften, und Hunger, und Schläge, immer Schläge und Hunger. Es gibt das bisschen Essen, gestohlen von den wenigen Kindern, in deren Nähe er sich traut. Es gibt die verfaulten Fleischreste und die alten Knochen, geklaut aus den Schüsseln der Nachbarhunde. Und später, nach einer so langen, so langsamen, an Traurigkeit immer gleichen Zeit, gibt es eine neue Familie für ihn, er ist vier Jahre alt, vielleicht fünf, Leute, die er nicht kennt und die ihm sofort Angst machen. Ein abgelegener Weiler in den Hügeln, Schluchten, hinter Vucherens, der Mann nimmt ihn auf den Schoß und zwingt ihn, die Hose runterzulassen, damit er ihm sein großes Ding hineinstoßen kann. Sei still, Favez, keiner hört dich. Wir sind hier allein, du und ich, Charles Favez, armer Kleiner, nur du und ich, und du wirst mir dein kleines Loch geben wie gestern Abend, wie heute Morgen. Dreh dich um, Favez. Los, auf die Knie, Charles Favez. Lutsch, Favez.
Wein, Favez. Und sei still. Sowieso wird nichts von dem, was hier geschieht, nach draußen dringen, niemals, hier gibt es nur dich und mich, Favez, und meine Frau, sie wird mitmachen, die alte Sau. Der Mann schreit, ich wische mich ab, mit den Fingern, mit der Handfläche, das Klebrige trocknet auf mir, und ich habe Schmerzen, ich habe wieder geblutet. Dann die Rute. Oder der Gürtel, der Stock, mit dem die Schweine hinausgetrieben werden. Der Mann schlägt, ich bin auf allen vieren, mit nacktem Hintern, der Mann schlägt und steckt wieder sein großes Ding in mein Loch. Und seine Frau? Auf dem Acker, seine Frau. Im Wald, zum Holzmachen. Der Mann ist ein Krüppel. Hat was am Bein. Geht nie aus dem Haus. Bleibt hier eingesperrt mit mir. Einmal, als ich am Boden lag, das große Ding tief hineingestoßen, tauchte seine Frau im Zimmer auf, sofort hat sie sich ausgezogen und ihren haarigen Bauch, ihre nasse Spalte an meinem Kopf und an meinem Mund gerieben. Stinkt, die Spalte. Und rinnt. Die Frau schrie, sie hatte mir den Kopf zwischen ihren Schenkeln eingeklemmt, sie rieb sich, sie schrie, und ich hatte immer noch das große Ding im Loch, das mir weh tat. Später war ich bei den Chappuis, und ich konnte in Ruhe schlafen. Kein großes Ding mehr, das weh tat. Aber die Frau von dem großen Ding, die Frau, ja die, wenn ich der noch einmal begegne… Wem von seinen Peinigern begegnet man noch einmal? Gewalttätige und vergewaltigende Männer, zuschauende, schweigende, lüsterne Frauen, die das Kind zum Opfer werden lassen oder zu ihrem eigenen Zweck missbrauchen. In seiner Zelle wacht Favez schwitzend auf, trinkt aus dem Wassereimer, schläft wieder ein unter dem groben Tuch. Im Schlaf quälen ihn Gesichter, von Frauen vor allem, die
bezahlen sollen, Kind, das endlich zum Mann geworden ist, den Preis für ihre Grausamkeit bezahlen durch eine noch schlimmere Grausamkeit. Und ohne Zeugen. Und ohne Grenzen. Und dieser Tag wird kommen, Kind, das fast schon Mann ist, du weißt es. Du wirst ungeduldig, Charles Favez? Heute Nacht ist es so weit. Oder all diese Nächte in der kalten Finsternis, oder der warmen Finsternis, im nächtlichen Schnee oder im Frühling, die schmutzige Spalte muss bezahlen. Kannibalismus, Vergehen an drei Toten, Bestialität, schwere Schändung, auch wenn Doktor Mahaim die Ursache der Manie ahnt, wie er nüchtern erklärt, zweifelt er doch, verliert alle Gewissheit, er weiß nur, dass er weit davon entfernt ist, sich das Martyrium des Kindes Favez vor dessen Unterbringung in Mézières genau vorstellen zu können. All diese Jahre, gekreuzigt durch Gehässigkeit, Sperma, Schleim der hemmungslosen Bestien. «Alle sagen der Vampir von Ropraz», vermerkt Mahaim im Register seiner Beobachtungen, «das ist eine volkstümliche und vom Grauen eingeflößte Vereinfachung für den Schänder, den Nekrophagen, den grausigen Fresser von Toten. In diesen Einöden wird das Symptom des Vampirs so lange andauern, wie diese Gesellschaft Opfer des primitiven Drecks ist: Schmutz der Körper, Promiskuität, Abgeschiedenheit, Alkohol, Inzest und Aberglaube, von denen das Land verseucht ist und die noch andere Brutstätten sexuellen Missbrauchs und gnadenlosen Grauens hervorbringen werden.»
XI.
Die zweite Intervention bleibt ein Rätsel. In den ersten Tagen von Favez’ Haft, am Samstag, dem 16. Mai, um achtzehn Uhr, steigt eine geheimnisvolle weißgekleidete Frau aus einem Wagen mit Gespann, vor dem Tor des Gefängnisses von Oron. Auf dem Bock wartet ein Kutscher in dunkler Livree. Das Gittertor öffnet sich vor der Dame, die wortlos in das Gebäude hineingeht, samstags besteht die Wache nur aus einem einzigen Mann, der die Geheimnisvolle zu Favez’ Zelle führt. Er öffnet die Tür, zieht sich zurück, die Dame betritt die Zelle und verschließt die Tür hinter sich mit dem Schlüssel, den sie bei ihrer Ankunft vom Wärter erhalten hat. Favez ist auf diesen Besuch nicht gefasst. Er steht da, angespannt, seine Gesichtszüge spiegeln das argwöhnische Staunen des Häftlings, der bereit ist, sich gegen einen üblen Streich, eine Misshandlung zu verteidigen. Die Frau tritt näher, mustert ihn von Kopf bis Fuß, starrt ihn durchdringend an. Das ist er also, der Frauenfresser. Sie kommt noch näher. Dieser Trinker von jungen Mädchen. Favez kann den Geruch der Besucherin riechen. Sie atmet den Geruch des eingesperrten Mannes, den Geruch vom Liebhaber des Todes. Sie tritt noch näher. Favez weicht zurück. Plötzlich streckt die Frau ihren Arm aus, umschlingt Favez, drückt, klammert sich an ihn, die Umarmung gleicht einem Krampf, Favez stürzt, die Frau wird von einem lang anhaltenden Schauder durchzuckt, der sie auf den Gefangenen wirft. Was danach geschieht, ist verworren, nach einer halben Stunde hat der Wärter das Ohr an die Zellentür gepresst, er wird später von Stöhnen oder Röcheln
oder Wimmern sprechen, er weiß nicht mehr, es war «wie wenn man ein Tier erwürgt». Wer ist die Geheimnisvolle? Anstandshalber wird man von einer heiligen Frau sprechen, die gekommen ist, einem von der Gesellschaft Geächteten den Trost Gottes zu bringen. Prosaischer, jedoch ohne das Geheimnis dieses seltsamen Eindringens zu lösen, wird man sie eine Gefängnisbesucherin nennen, diese Rolle war damals neu, mit größerer Wahrscheinlichkeit hält man sie für eine Abenteurerin, begierig auf Nervenkitzel, oder sogar für eine elegante Hysterikerin, die mit Geschick die Sich-Aufopfernde spielt, um sich einem Mann nähern zu können, der ihr Phantasma verkörpert. Von Aussaugen, von krankhaftem Verschlingen. Und von widernatürlicher Misshandlung. Eines ist sicher: Sie hat den Wärter dafür bezahlt, dass sie dem Vampir nahekommen durfte. Mehrere Monate später, als Favez zur schwersten Strafe verurteilt wird, über die man damals verfügt, nämlich zu lebenslänglicher Haft, wird der Wärter, aufgefordert, sich zu äußern, und von der Polizei hart in die Mangel genommen, verschiedene Geldbeträge in Fünffrankenstücken und Fünfzigfrankenscheinen eingestehen. Denn die Frau kommt immer wieder. Während Favez’ zweimonatiger Haft besucht sie ihn mindestens dreimal, die geheimen Abrechnungen des Wärters beweisen es. Die weiße Dame, die Geheimnisvolle, schließt sich jedes Mal über eine Stunde lang ein mit dem Mann der Gräber und der perforierten Färsen, der Wärter klebt an der Tür, auch er zittert, der Wärter, er schwankt bei dem Stöhnen, das mehrmals und anhaltend aus dem Dunkel dringt, in diesem Gefängnis, wo er allein ist mit dem liebestollen Paar. Bis heute weiß man nicht, wer die Dame in Weiß gewesen ist und wer ihr Treiben aufgedeckt hat. Das Gefängnis von Oron befindet sich seit zwei Jahrhunderten in einem Flügel des
Schlosses, oberhalb des Dorfes, der Zugang erschwert jede Überwachung von außen. Das Schloss steht auf einer recht steilen Anhöhe, die Neugierige aus der Stadt oder von den umliegenden Feldern abschreckt. Die Dame in Weiß muss die Örtlichkeiten und die Lebensgewohnheiten des Landstriches gekannt haben. Dennoch hat sie es riskiert, sich in ein Amtsgebäude einzuschleichen und dort einen sehr schwerer Verbrechen beschuldigten Menschen zu verführen. War die weiße Dame Ärztin, wie man damals mutmaßte? In der Anstalt von Cery hätte sie von dem Fall Favez erfahren können, durch Doktor Mahaim selbst, oder weil sie auf seine Aufzeichnungen stieß. War sie Medizinstudentin oder eine müßige und wohlhabende Hörerin von Mahaims Vorlesungen, die der Mann Favez mit seinen ausschließlich sexuellen Verbrechen so sehr aus dem Gleichgewicht brachte, dass sie auf Abwege geriet? Die Hysterie zieht Verrückte an, das ist bekannt, genau wie Analyseseminare über Ekstatiker und Besessene. Der Wärter wurde entlassen. Da er jedoch reuig war und im Dorf Oron für Kinder zu sorgen hatte, setzte man ihn wieder in sein Amt ein unter der Bedingung, dass er seine Gewinne einer vor kurzem im Kanton gegründeten Gesellschaft zur Bekämpfung des Alkoholismus abtrete, die einen himmlischen Namen trägt: das Blaue Kreuz.
XII.
Favez wird am Donnerstag, dem 9. Juli, auf freien Fuß gesetzt. Seine Entlassung ruft Empörung hervor. Der Vampir von Ropraz ist frei! Die Justizbehörde rechtfertigt sich vergeblich, beruft sich auf den Bericht des Psychiaters, die Gutachten aus Basel und Zürich, das Fehlen jeglicher Beweise für die Verbrechen auf den drei Friedhöfen – und vor allem, was in den Augen der Justiz entscheidend ist, auf Favez’ offenkundige Unfähigkeit, ganz gleich welches Fleisch auseinanderzuschneiden und zu zerlegen, tierisches Fleisch, wie bei den Versuchen, denen er sich unterziehen musste, und umso weniger menschliches Fleisch im schlimmsten aller Fälle. Lautes Wutgeheul erhebt sich im ganzen Land, und man muss für den falschen Schuldigen, den Vampir, den wahren Vampir in der öffentlichen Meinung, Lynchjustiz befürchten oder eine Entführung mit schwersten Misshandlungen. Allerorts in dem übererregten Land organisiert sich die «Landjugend»: Spruchbänder, Plakate, lärmende Versammlungen, man schreit und skandiert den Namen Favez, BRINGT-IHN-UM-DEN-FA-VEZ BRINGT-IHN-UM-DEN-VAM-PIR so dass die Gendarmerie von Oron vom Staatsrat, Abteilung Justiz und Polizei, Anweisung erhält, den Geächteten zu beschützen und die öffentlichen Unruhen niederzuwerfen. Doch Favez ist verschwunden. Entflohen, der Vampir. Auf und davon. Spurlos. Wo versteckt er sich während dieser Julitage, in denen der Volkszorn seinen Kopf verlangt? Später wird man
sich ausdenken, die geheimnisvolle Frau in Weiß habe ihn in ein sicheres Versteck gebracht, wo sie den Vampir in aller Ruhe vampirisieren kann. Oder verbirgt er sich im Bergland der Broye, vielleicht in den Gorges de la Mérine, hinter dem düsteren Villars-Mendraz, und lebt von Wurzeln, Wasser aus dem Fluss, kleinen Diebstählen auf einsam gelegenen Höfen? In dieser Zeit wird das Verschwinden von Geflügel aus Hühnerhöfen gemeldet, von Hasen, von Käse, der im Freien auf Holzsieben zum Trocknen ausgelegt ist. Zigeuner? Vagabunden? Oder Favez in seiner Abgeschiedenheit, gejagt, hungrig, der sich alles greift, was ihm unter die Finger kommt in dieser Einöde? Der unselige Charles-Augustin wird den nicht wiedergutzumachenden Fehler begehen. Geschieht es, weil er in seiner Zelle auf Schloss Oron vom Fleisch der weißen Dame gekostet hat? Offenbar genügt ihm die Masturbation nicht mehr. In seinem Schlupfwinkel erinnert sich Favez, bis ihn schwindelt, an die Avancen der Dubois, einer koketten Witwe in Mézières, die ihn oft mit verschiedensten Neckereien aufgereizt hat. Die Witwe Dubois ist fünfzig, rundlich, brünett, ihr Blick begehrlich, sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, wenn sie jungen Männern begegnet, macht ihnen schöne Augen, lacht lauthals. Das Fenster ihres Schlafzimmers geht auf den Chappuis’schen Laden; im obersten Stock, von seinem Dachkämmerchen aus, hat Favez sie oft gesehen und beobachtet. Er ist ihr im Ort begegnet, einmal hat sie ihn sogar lachend und tänzelnd in ihr Treppenhaus gelockt, doch Favez bekam Angst und lief weg. In seinem Unterholz, auf seinen Schleichwegen denkt er an die Witwe Dubois, er sieht ihren dargebotenen Busen, den weißen Hals, die festen Schenkel unter dem Kittel. Favez ist in die Nähe von Mézières gekommen. Am Mittwoch, dem 15. Juli, hat er sich am Ortsrand
herumgetrieben und aus dem Straßenbahndepot eine Kiste Schnaps gestohlen, er hat den ganzen Tag getrunken, sechs Liter abscheulichen Fusel, eine Mischung aus Apfel und Birne, Abfall edlerer und begehrterer Destillate. Seinen Rausch hat er im Gestrüpp bei Carrouge ausgeschlafen, ein bisschen zumindest, den Rest der Nacht ist er um das Haus der Witwe geschlichen. Im Morgengrauen hat er gesehen, wie sie die Läden aufstieß, das Fenster öffnete, sich im Hemd hinauslehnte. Sie hat ihn bemerkt. Da ist er sich ganz sicher. Er kehrt ins Straßenbahndepot zurück, bricht eine Kiste Schnaps auf, stiehlt noch eine Flasche, die er ohne Atemholen austrinkt. Es ist acht Uhr fünfundvierzig, Donnerstag, 16. Juli 1903. Betrunken, gebremst durch die Anstrengung, nicht zu taumeln und zusammenzubrechen, geht Favez durch die einzige Straße von Mézières und betritt den Hausflur der Witwe Dubois. Ein Stockwerk, zwei Stockwerke, er klopft an die Tür, die Witwe öffnet. Später wird man erfahren, dass er sie mit roher Gewalt aufs Bett geworfen, ihr das Nachtgewand heruntergerissen, bis aufs Blut in Mund und Hals gebissen hat, die roten Male beweisen es, richtige Löcher, noch mehrere Tage gut sichtbar, dass er ihr dann die Beine auseinandergedrückt hat und brutal in sie eingedrungen ist, obwohl sie auf ihn einschlägt. Die Witwe kreischt, das Fenster steht offen, zwei Kunden des Chappuis’schen Ladens stürzen herbei, gefolgt vom Enkel der Witwe, dem jungen Justin Dubois, vierzehn Jahre alt, der an diesem Morgen seine Großmutter besuchen wollte. Favez, verstört, noch mit aufgerichtetem Penis, wird niedergerungen und angezogen. Eine halbe Stunde später ist er in den Händen der Gendarmen, die ihn wieder ins Gefängnis sperren. Um die Mittagszeit dieses Tages versammelt sich eine große Menschenmenge vor der Gendarmerie von Oron – im gleichen Gebäude, im Stockwerk darüber, befinden sich auch das Büro
des Richters am Bezirksgericht, das Friedensgericht und eine Außenstelle der Polizei. Aufruhr, Drohungen, Gebrüll: BRINGT-IHN-UM-DEN-VAM-PIR BRINGT-IHN-UM-DEN-VAM-PIR schreit die Menge, die sich auf das Schloss zubewegt, wo der Unglückskerl hockt. Es braucht mehrere Gendarmen zu Pferd, um den Tobsüchtigsten den Weg zu versperren, vor allem Leute aus Ropraz, die Charles-Augustin Favez an den Kragen wollen, um Rosa Gilliéron zu rächen, das erste Opfer des nach Blut und Fleisch lechzenden Vampirs, und das Land zu säubern von einem Ungeheuer, das ihm das Leben vergiftet.
XIII.
In seiner Zelle hat Favez Angst. In jedem Augenblick kann die dreifach verriegelte Tür unter dem Ansturm der Aufrührer nachgeben. Favez weiß, die Leute aus Ropraz sind besonders rachsüchtig. Er ist genug herumgekommen im ganzen Land, um ihre Hartnäckigkeit zu kennen. Er weiß, er ist ihr Vampir. Es würde reichen, dass einer der Anführer es beschließt, Aloïs Rod, Pierre Gilliéron oder der lange Desmeules, der beim letzten Schützenfest ganz allein drei Schausteller niedergeschlagen hat, und schon würde die Absperrung der Gendarmen gesprengt und seine Tür zerschmettert. CharlesAugustin Favez ist oft um Ropraz herumgeschlichen, er erinnert sich an die Schönheit der Mädchen, vor allem an Rosa, er hat sie lange genug angestarrt in der Schule, später auf den Tanzfesten, den Liederabenden, noch heute tun ihm die Augen davon weh. Die Hügel von Ropraz. Das rosafarbene Schloss. Das andere Schloss, das weiße, auf dem Hügel. Und der Friedhof vor dem Wald, dieser Friedhof von Ropraz mit seinem verborgenen Weg, der in den Wald führt und in die Schluchten. Favez hat Angst. An diesem Donnerstagabend, dem 16. Juli, muss es draußen lau sein und hell, die Männer und Burschen aus Ropraz sind noch einmal gekommen, um vor dem Gefängnis zu schreien, und es ist immer derselbe Schrei, der an Favez’ Ohr dringt, jener skandierte Schrei, bei dem sich ihm der Bauch zusammenkrampft: BRINGT-IHN-UM-DEN-VAM-PIR BRINGT-IHN-UM-DEN-VAM-PIR
In seiner Zelle hat Favez Angst. Warum hat ihm der Wärter noch nicht seine Suppe gebracht? Warum hört man die Pferde der Schwadron Gendarmen vor seinem Kerker nicht mehr? Ja, das ist es. Am Abend haben sich die Gendarmen auf ihren Posten zurückgezogen, und sie lassen den rasenden Männern und Burschen aus Ropraz nun freie Hand. Sie werden seine Tür einschlagen, die hartgesottenen Kerle, sie werden ihn mit Stöcken verprügeln, ihm die Knochen brechen und die Zähne ausschlagen, dann werden sie ihn in den Hof zerren, ihm einen Pfahl ins Herz rammen und ihn bei lebendigem Leib verbrennen. Oder sie werden ihn nach Ropraz schleppen, ein Scheiterhaufen wird errichtet sein bei der Kapelle, und er wird braten, er, Favez, nackt, brüllend, vor dem ganzen gerächten Dorf. Favez geht wieder zu seinem Bett, legt die Hand auf das grobe Tuch. Aus Leinen, das Tuch. Solides Zeug. Automatisch beginnt der Häftling den Saum loszutrennen, er wendet so viel Kraft an, dass er einen langen Streifen abreißt, mit einem Ratsch gibt der Stoff nach. Jetzt eine Schlinge. Favez hat Angst. Er muss schnell machen. Die aufrührerische Menge tobt, sie schreit immer noch: Bringt ihn um… Eine sehr große Schlinge. Favez steht auf, legt sich die Schlinge um den Hals, bindet das Ende der Schlinge am Türgitter fest, dann wirft er sich nach vorn. Er hört, wie sein Hals knackt, im gleichen Augenblick das Geräusch eines Schlüssels, es ist der Wärter, der ihm die Suppe bringt. «Was machst du, Favez, verdammt noch mal!» Der Mann stürzt sich auf den Häftling, reißt ihm den tödlichen Halsring herunter. Favez hebt den Kopf, der glasige Blick wird schnell wieder klar, Favez reibt sich den Nacken, sagt nichts. «Du wolltest sterben, Favez? Deine Kräfte solltest du dir besser für die Verhöre und den Prozess aufsparen. Du wirst sie brauchen. Ich habe deinen berühmten Doktor gehört, vorhin
erst, in meiner Wachstube, er hat mit einem der Richter geredet, vorm Winter ist nicht damit zu rechnen.» Favez isst seine Suppe, sein Brot, nichts wird seine trübselige Ruhe stören bis zum einzigen Besuch seines Pflichtverteidigers. Und bis zu dem Besuch, den die weiße Dame noch einmal erwirkt, Ende Juli, indem sie den Wärter großzügig besticht, auch das wird die Untersuchung herausfinden. Besuch von Favez’ Pflichtverteidiger, Dienstag, 21. Juli, in der Zelle von Oron: «Drei Grabschändungen werden Ihnen vorgeworfen», sagt seelenruhig Maître Maillard von der Kanzlei Maillard, Vinet und Veillard, Rue de Bourg Nr. 12, in Lausanne. «Auf den Friedhöfen von Ropraz, Carrouge, Ferlens. Sexuelle Handlungen und Vampirismus an drei jungen Toten. Schlächterei und Metzelei. Auf jeden Fall Störung der Totenruhe. Schlimme Verbrechen, Monsieur Favez! Von den dreien ist Ropraz das ärgste, das wissen Sie ja, Monsieur Favez, Rosa war die über alles geliebte Tochter des Richters… und Inbild der Reinheit. Aber bei diesen drei Schändungen, die man Ihnen ausdrücklich zur Last legt, kann niemand beweisen, dass Sie der Täter sind. Schweigen Sie also. Bleiben Sie stumm bei der Verhandlung. Mit gutem Recht werden Zweifel bestehen, das wird Ihnen zugutekommen.» Maître Maillard wirft einen Blick auf seine Notizen, macht eine Pause und fährt fort: «Zwei andere Vorwürfe sind erwiesen. Im Café du Nord, in Ferlens, eine Reihe widernatürlicher Handlungen, vorgenommen an den Tieren des Monsieur Georges Pasche. In Mézières die Vergewaltigung der Witwe Dubois. In beiden Fällen wird die Verteidigung schwieriger sein, denn in den Augen des Gerichts und nach Auffassung der Geschworenen bestätigen diese Taten ganz offensichtlich die Schändungen
auf den drei Friedhöfen. Sex, Bestialität, Grausamkeit, ich erinnere Sie daran, dass bei mehreren Färsen von Monsieur Pasche das Rektum mit einem scharfen Gegenstand perforiert wurde, was uns die Sache nicht leichter macht. Verstehen Sie mich, Monsieur Favez? Und dann kommt noch etwas hinzu. In einem Land, das knurrt und murrt, sind Sie der ideale Schuldige. Abrechnungen, Hass auf Richter Gilliéron, dessen Tochter hingeschlachtet wird… und Sie, Monsieur Favez, sind der willkommene Sündenbock. Leider Gottes ist da die Sache mit den Tieren. Durchbohrtes Rektum, Schneidwerkzeug, blutende Membran, schlimme Folgen, und natürlich, das zu erwartende Echo auf die Zerstückelung der drei Toten…» Der Anwalt unterbricht sich noch einmal, wie übermannt von seiner Aufgabe, dann blickt er Favez fest in die Augen: «Aus all diesen Gründen, Favez, schweigen Sie. Überlassen Sie es mir, die Friedhofsgeschichten von den anderen beiden Fällen zu unterscheiden, die immerhin weniger ungewöhnlich sind in einer Gegend, die sich nicht gerade durch die Lauterkeit ihrer Sitten auszeichnet. Auf der einen Seite die Witwe und die Kühe. Auf der anderen die SchlächtereiSchläferei in den Gräbern…» Der Anwalt genießt sein Wortspiel. Er weiß, in der Stadt wird er es noch einmal anbringen: Die Bestie, die er zum Mandanten hat, ist außerstande, es zu goutieren. Was Maître Maillard nicht sagt, weil er das primitive Schuldgefühl, das auf diesen Landstrichen lastet, nicht ermessen kann: Anstatt den Fall Favez zu banalisieren, erschweren die Vergehen an den Färsen und die Vergewaltigung der Witwe Dubois sein Dossier, denn sie lassen zu viele schändliche Geheimnisse in allen Dörfern der Umgebung wieder wachwerden. Von mehr oder weniger verschwiegenen, schmutzigen Dingen. Von Alkohol. Aberglauben. Inzest. Vor langer Zeit und hastig vollzogener
Unzucht in Kuh- und Pferdeställen. Wiederholter Grausamkeit an verängstigten Tieren. Latentem Mord. Schwelender Rache. Maître Maillard, dieser geistreiche Anwalt aus der Stadt, weiß nichts von den Gewissensqualen, die einen unter dem frischen Grün der Landschaft und dem kräftigen Bau der Körper würgen und lähmen. Er hat keine Vorstellung von der unergründlichen Verrücktheit in den Köpfen und Körpern. Von der Bösartigkeit hinter der Idylle. Dem Todestrieb. Der Angst, die schweigt und umherstreicht. «Lassen Sie mich reden bei dem Prozess, Favez, diese Leute stecke ich im Handumdrehen in die Tasche. Ich stehe auf Ihrer Seite, Favez. Sie müssen Vertrauen haben. Stumm bleiben. Und ich hole Sie raus aus dieser Geschichte.» Daraufhin kehrt der Anwalt zurück in seine gutgehende Kanzlei in der Rue de Bourg, zwei Teilhaber, drei Sekretärinnen, und eine Vorlesung als Privatdozent an der juristischen Fakultät der Universität Lausanne.
XIV.
Doktor Mahaim ist wiedergekommen. Die geheimnisvolle weiße Dame ist wiedergekommen. Von Doktor Mahaim, eine Atempause, ein listiger und sanfter Friede. Von der weißen Dame, verkrampft, betäubt, grässliche Sehnsucht nach Liebe. Ein ganzes Leben, einundzwanzig Jahre, die lange, harte Kindheit, das zu früh gekommene Mannesalter, die Einsamkeit des Körpers, immerzu die Einöde des Herzens. Wie eine Bestätigung, eine heilige Botschaft, die sie ihm gibt: «Du hast gefehlt, Charles-Augustin. Jetzt bist du Favez, Vampir für alle Ewigkeit.» Es gibt das Sakrament des Ungeheuers, so wie es seit zweitausend Jahren das Sakrament des Priesters am Altar gibt. Sacerdos eris in aeternum. Vampyrus eris in aeternum. Die Dame tritt näher, um ihn zu berühren, in ihren Mund nimmt sie den Mund des Vampirs. «Hast du gespielt, als du klein warst, Charles-Augustin? Bist du zu früh entwöhnt worden? Tiere, die von ihren Müttern nicht gestillt wurden, können nicht spielen. Sie kratzen sofort, um zu verletzen. Beißen, um zu töten. Du warst nie ein kleines Kind, Charles-Augustin. Du warst ein Vampir-Kind. Ein Mörder-Kind. Ich liebe dich, Charles-Augustin.» Die Dame nimmt in ihren Mund die Zunge des Vampirs und beißt zärtlich hinein. Die Dame erzittert. Ist es das geballte Böse, was die weiße Dame anzieht? Die lauernde Gewalt unter dieser Haut? Oder die Furcht des einsamen Mannes. Oder der Geruch von Tod, von Erde voller Tod, von Haut, gerieben am Tod, von Penis, gerötet im Blut
des Todes. Und alle Opfer sind da, ineinandergeschlungen, aufgebrochen, vereint, gefressen, in diesem einsamen Mann, der zittert vor Begierde und Angst, dasteht vor dem Bett seiner Zelle. Die Dame nimmt in ihren Mund den Penis, gerötet im Blut des Todes. Die Dame saugt und verschlingt den Vampir in kleinen ruckartigen Schlucken. Eine ganze Stunde dauert das unheimliche Liebesspiel. Eine Stunde, die dem geschmierten Wärter von der Dame mit fünfundzwanzig Franken vergütet wird. Fünf glänzende Silberstücke mit der eidgenössischen Prägung. Davon lebt man drei Monate lang weniger schlecht. Wird sie wiederkommen? Niemand weiß es. Der Wärter wird kein Wort mehr sagen. Bei manchen Menschen gibt es einen leidenschaftlichen Hang zu Aufopferung und sexuellem Verbrechen. Bei vielen Frauen. Die weiße Dame war eine von ihnen. Es ist bemerkenswert, dass sie, bloß verkehrt herum, in Favez’ Zelle die grausige Szene der Grabschändungen nachstellt. Auf dem Friedhof verzehrt und zerstückelt der Vampir seine Frauenopfer, in der Zelle ist es die Frau, die den Vampir trinkt und ihrer Willkür unterwirft. Ein umgekehrtes Ritual, das die Geschichte von Favez in seltsamer Gefühlsverwirrung verdichtet, und zugleich macht sie dich zu unsereins, Vampir von Ropraz, mein Doppelgänger, mein Bruder!
XV.
Der Prozess läuft nicht gut für Favez. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft ist der Mann noch finsterer geworden, und der Zorn hat sich immer weiter gesteigert, fordert seinen Kopf oder lebenslänglich. In der Zwischenzeit hat man mehrere Dramen entdeckt, vergessene Dossiers erneut geöffnet, die Spur von Verbrechen wiederaufgenommen, die man bereits ad acta legen wollte. Junge Mädchen, denen nach Sonnenuntergang die Kleider vom Leib gerissen wurden, nächtliche Überfälle, Frauen, die, allein unterwegs, an Wegkreuzungen zu Boden geworfen wurden von einem Individuum, das unkenntlich war oder schneller als ein Tier, wie immer unmöglich zu identifizieren, jetzt weiß man, es ist Favez. Der Vampir Favez, Favez, immer wieder Favez. In Ropraz, wo es ihm trotz zahlreicher Versuche, Mauern hochzuklettern und Türen aufzubrechen, nicht gelang, sich der kleinen Jaunin zu nähern, wurde eine Kuh auf der JauninWiese abgestochen, ihre Gedärme an Ort und Stelle aufgefressen. Schon damals Favez. Immer wieder Favez. In Corcelles wurde eine Porchet-Tochter verfolgt, sie rannte, eine Hecke entlang, entkam, von weitem hat sie Favez erkannt. Der Gerichtspräsident fragt nach: «Was heißt erkannt? Sind Sie sicher? Sie waren zu weit entfernt, um ihn zu sehen.» «Er lachte wie ein Vampir. Glauben Sie etwa, ich habe seine Zähne nicht gesehen?» Der Prozess beginnt am 21. Dezember 1903 im Gericht von Oron-la-Ville, unter Vorsitz des Gerichtspräsidenten Charles Pasche.
Favez wird von Maître Maillard verteidigt. Der Saal ist voll. Alle starren auf das aschfahle Gesicht, die roten Augen und die langen Zähne des Beschuldigten. «Da läuft’s einem kalt über den Rücken», ist wiederholt und sehr laut aus den ersten Reihen zu hören. Das Verlesen der Anklageschrift ruft ein solches Toben hervor, dass der Gerichtspräsident droht, diese erste Sitzung zu unterbrechen. Dann, den Saal räumen zu lassen. Von Anfang an macht Favez einen schlechten Eindruck, grinst, schweigt oder antwortet, wenn der Gerichtspräsident ihn bedrängt, mit Gestammel und Geknurre. «Tierischer kann man nicht wirken», verkündet die Revue de Lausanne, deren Bericht schonungslos ist. In ihrer Ausgabe vom 22. Dezember schreibt sie: Es bleibt zu hoffen, dass die Verhandlung zügig geführt wird, damit schnell ein Urteil ergeht. Da Favez’ Schuld außer Zweifel steht, deutet alles darauf hin, dass der Prozess vor Ende des Jahres abgeschlossen ist. Zeilen, die den Ton angeben. Vier Sitzungen. Datum und Anzahl der Gerichtstermine: Montag, 21. Dezember: zwei Sitzungen, Vormittag und Nachmittag. Verlesung der Anklageschrift, erste Zeugenaussagen (Anhörung von sechs Zeugen). Dienstag, 22. Dezember: zwei Sitzungen, Vormittag und Nachmittag, weitere Zeugenaussagen (elf Zeugen), ab vierzehn Uhr Anhörung des Doktor Mahaim. Mittwoch, 23. Dezember: Anklagerede. Plädoyer des Verteidigers Maître Maillard. Beratung der Geschworenen. Donnerstag, 24. Dezember: Urteil.
Am 24. Dezember um elf Uhr dreißig vormittags wird der aus Palézieux stammende und am 2. November 1882 in Syens geborene Charles-Augustin Favez durch das Gericht von Oronla-Ville zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt für alle ihm zur Last gelegten Taten, ohne Ausnahme und ohne Zubilligung mildernder Umstände. In Anbetracht der maßlosen Grauenhaftigkeit der schlimmsten Verbrechen, deren besagter Favez sich schuldig gemacht hat, Vampirismus und Grabschändung, werden zusätzlich zur Strafe zwanzig Jahre Sicherheitsverwahrung verhängt. Das Publikum johlt. Doktor Mahaim stürmt ins Büro des Gerichtspräsidenten Pasche, das vor den Blicken der Menge geschützt ist, und erreicht vom Richter und seinen Geschworenen, dass Favez’ Strafe, mit Rücksicht auf die zuhöchst psychotische Natur der Vergehen und folglich ihr wissenschaftliches Interesse für die Ärzte und Studenten der neugegründeten Anstalt von Cery, umgewandelt wird in lebenslängliche Verwahrung in der obengenannten psychiatrischen Anstalt. So wird vom Gericht angeordnet, dass der Verurteilte unter strenger Bewachung in eine Zelle der Heilanstalt von Cery verbracht wird, in der Gemeinde Prilly, westlich von Lausanne, damit er den Ärzten und Medizinstudenten des Kantons zum Studium der Geisteskrankheiten diene. Am Abend des 24. Dezember schneit es, und es ist bitter kalt, Favez verbringt seine erste Nacht in Cery, in einer Zelle mit dick gepolsterten Wänden. Am 25. Dezember holen ihn zwei Schwestern mit blauer Haube aus seiner Zelle, denn er soll mit den Kranken und Angestellten das Weihnachtsfest feiern, die Kerzen auf dem hohen Baum werden entzündet, und Favez, die Verrückten, die Schwestern, die Ärzte singen zu Ehren der Geburt Christi,
trinken Glühwein und essen die von freiwilligen Helfern in der Anstaltsküche gebackenen Kekse.
XVI.
In Cery bleibt Favez zwölf Jahre. Drei Jahre in seiner Zelle, dann wird er dank seiner guten Führung und seines athletischen Körperbaus auf den Musterbauernhof der Heilanstalt verlegt. Er arbeitet als Schweinehirt, dann als Kuhhirt, neun weitere Jahre seines Lebens. Im Februar 1915 entweicht Favez, überquert in den Wäldern von Vallorbe die Grenze, gelangt in das kriegführende Frankreich und verpflichtet sich als ausländischer Freiwilliger in der französischen Armee. Nach drei Wochen wird er der Fremdenlegion zugeteilt. Die Untersuchung der eidgenössischen Behörden hat ergeben, dass der Freiwillige erster Klasse Charles-Augustin Favez in das Bataillon der Fremdenlegion als Infanterist der vom Schweizer Gefreiten Frédéric Sauser befehligten Kampfgruppe eingegliedert wird, und dieser Frédéric Sauser hat einige Gedichte geschrieben, unter dem Namen Biaise Cendrars. Cendrars nimmt ihn freundlich auf und entlockt ihm, trotz Favez’ Argwohn, gewisse Geständnisse für ein Buch, das er früher oder später schreiben will über einen verrückten Bauchaufschlitzer junger Mädchen. Er weiß sogar schon den Titel: Moravagine. Schändung junger Körper, Favez, Schändung von Gräbern? Kein Urteil. Die Legion und der Krieg tilgen alles. Cendrars, Favez und ihre Gefährten werden in die Bresche der Nordfront getrieben, zwischen Marne und Somme, sie kämpfen im Schlamm von Notre-Dame-de-Lorette, in Vimy, im Bois de la Vache und gelangen immer weiter nach Norden, Richtung Champagne-Pouilleuse. Am 28. September 1915, um neunzehn Uhr dreißig, stürmt die Kampfgruppe des Gefreiten
Sauser-Cendrars und von Favez entlang der Straße nach Souain, zweihundert Meter vom Bauernhof Navarin, nach mehreren verbissen zurückgeschlagenen Versuchen erneut zum Angriff auf die «Kultur» genannte deutsche Stellung. Es regnet, alles versinkt im Morast, die Abteilung Cendrars-Favez gerät unter feindliches Feuer. Biaise Cendrars wird der rechte Unterarm zerfetzt, er wird ins Hinterland gebracht und amputiert. Im selben Gefecht wird Favez getötet, sein Leichnam auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, seine Spur verliert sich endgültig. Bis zum Tag der Auslosung des Unbekannten Soldaten, am 21. November 1920, unter acht aus allen Kampfgebieten ins Fort von Douaumont gelangten Särgen. Die sterblichen Überreste eines einzigen anonymen Helden, über denen die niemals verlöschende Flamme brennen soll, unter dem ruhmreichen Arc de Triomphe. Und hier treffen wir uns wieder, neuere Untersuchungen gaben Anlass zu der Vermutung, dass die durch Analyse ihrer DNA identifizierten sterblichen Überreste des Unbekannten Soldaten dem Waadtländer Charles-Augustin Favez gehören, freiwilliger Soldat in der im Februar 1915 kriegführenden französischen Armee. Gefallen vor dem Bauernhof Navarin, am 28. September desselben Jahres. Und dass der durch Staatschef, Totengeläut und militärische Ehren an jedem 14. Juli, den Gott heraufziehen lässt, als Held gewürdigte Unbekannte Soldat niemand anders ist als ein Verrückter und abscheulicher Gewohnheitsverbrecher Schweizer Herkunft und unseligen Angedenkens in der wahnwitzigen Epopöe der lebendigen Toten. Natürlich haben sich die zuständigen Ministerien der Ergebnisse dieser Analysen bemächtigt, und der Skandal ist vertuscht worden. Deshalb sind wir nur wenige Wissende: Am ruhmreichen Arc de Triomphe, unter der Flamme des Unbekannten Soldaten ruht Favez, der Vampir
von Ropraz, und schläft nur mit einem Auge, denn er wartet darauf, wieder umzugehen in kommenden Nächten.