Christian Lukas
Der Vampir von Berlin Version: v1.0 Jasmin schrie. Der Freier packte sie an den Schultern, presste sie...
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Christian Lukas
Der Vampir von Berlin Version: v1.0 Jasmin schrie. Der Freier packte sie an den Schultern, presste sie auf die Ma tratze und grinste sie lechzend aus gelb funkelnden Augen an. Sein vor wenigen Sekunden noch so freundliches Gesicht ver formte sich zu einer Fratze aus den Tiefen der Hölle. Die Wangen knochen stießen aus der Dämonenfratze hervor und brachten die über ihr liegende Haut zum Platzen; Mund und Kiefer verformten sich zu einer Raubtierschnauze mit den dazugehörigen Reißzäh nen. Mit der zehnfachen Kraft eines normalen Mannes hielt der Freier sein Opfer fest und labte sich an ihrer Angst. Jasmin spürte, wie ihn der Anblick ihres nackten Halses erregte. »Dein Blut wird mir munden«, hauchte er. »Dein wunderbares, heißes Blut.« Jasmin erkannte, dass es vorbei war. Vielleicht war dies sogar besser, als eines Tages in der Gosse zu verrecken. Sie schloss die Augen und wartete auf den Tod. Sekunden später bedeckte feiner Staub ihren nackten Körper …
Der Geruch von verbrannten Fleisch, Blut und Schwefel lag in der Luft. Ein feiner Schleier aus Rauch schwebte durch das Zimmer, Licht brach sich in den kleinen Staubpartikeln. Jasmin öffnete die Augen. Der Dämon war verschwunden. Dennoch war sie nicht allein. »Zieh dich an«, herrschte sie der Fremde an. Er bewachte die Tür des schäbigen Zimmers ihres Stundenhotels, öffnete sie einen Spalt und beobachtete das Geschehen auf dem Gang. Er wirkte ruhig und konzentriert. In seiner Rechten hielt er einen Holzpflock, an dessen blutverschmierten Spitze Staub klebte. »Was zum …?«, setzte Jasmin an. Der Fremde wandte sich von der Tür ab und drückte diese vor sichtig ins Schloss. »Wenn du leben willst, Kind, dann tu genau, was ich dir sage.« Seine Stimme klang sanft aber bestimmt. Jasmin funktionierte. Sie tat ganz einfach, was der Fremde von ihr verlangte. Sie zog ihren Mini-Rock über, die blauen Stiefel mit den abgewetzten Absätzen, die schwarze, für das kalte Wetter viel zu dünne Lederjacke. Der feine Staubschleier, der durch das kleine Zimmer tanzte, berührte ihre Haut, verfing sich in ihren langen, blonden Haaren. »War das ein Vampir?«, fragte sie im Ton eines unschuldigen Schulmädchens. »Ja«, antwortete er trocken. »Kaum zu glauben, aber du hast es mit deinen eigenen Augen gesehen. Herzlich willkommen in der Welt jenseits der Realität.« Er lächelte freundlich, reichte ihr eine Hand. »Ich heiße Peter, Peter Farber.« »Jasmin Dombrowsky.« Sein Händedruck war nicht zu fest, dennoch zeigte sich in ihm Entschlossenheit. Farber wirkte unglaublich ruhig, diese seltsame Si tuation – für ihn schien sie eigentlich nichts Besonderes zu sein. Innerlich schrie Jasmin auf, ihr Verstand spielte vollkommen ver
rückt. Doch etwas in ihr, ein tief in ihrem Innersten existierender Wille, ließ sie Ruhe bewahren. War dies ihr Überlebenswille, jener Funken, der sie seit Jahren daran hinderte, ihrem erbärmlichen Leben ein Ende zu setzen? Keine Frage, sie wollte schreien, heulen – aber nicht jetzt. Jetzt gab es für sie nur eine Devise: Überleben. Die Legenden der Straße berichteten davon, dass die Blutsauger stets zu zweit, zu dritt oder in noch größeren Gruppen erschienen. Die Legenden, die sich als Wahrheiten offenbarten. Jasmin spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Zum Weinen aber fehlte die Zeit. Wer immer dieser Peter Farber sein mochte, ohne ihn wäre sie ebenso tot wie die anderen Mädchen, deren ausgesaugten Leiber regelmäßig in den Kanälen und den Seitengassen gefunden wurden. Mädchen wie Jasmin Dombrowsky …
* »Hör zu, mein Kind!« Peter Farbers sanfte Stimme schmeichelte sich augenblicklich in ihr Unterbewusstsein ein. »Wenn ich die Tür öffne, gehen wir beide einfach zusammen den Korridor entlang bis zum Treppenhaus und tun so, als würden wir uns prächtig amüsieren. Wenn wir von jemand angesprochen werden, lächle einfach, das Re den übernehme ich. Ist das klar?« Jasmin nickte. Ihre Hände zitterten. Das Zimmer war klein. Rechts neben der Tür befand sich eine Nasszelle mit Toilette, Dusche und Waschbecken. Im Zimmer selbst standen ein Bett, ein alter Holzstuhl und eine alte Nachtkonsole, auf der die Freier nach getaner Arbeit ihre Bezahlung ablegten. Seit Jasmin nicht mehr an der Nadel hing, durfte sie hier im Hotel ›Zur Sonnenlinde‹ arbeiten. Das Etablissement war schäbig, scheuß lich waren die roten Tapeten, die sämtliche Zimmerwände bekleb
ten und von einem unsagbar schlechten Geschmack zeugten. Nicht ein einziges Möbelstück, egal ob Kiefer, Eiche oder was für ein Holz auch immer, passte zu diesen Tapeten. Aber im Vergleich zu den Ecken, in denen sie früher ihren Körper verkauft hatte, erschien ihr dieses Hotel wie ein Palast. Peter Farber nahm ihre Hand und umklammerte sie fest. »Wenn du weiterhin so tapfer die Nerven behältst, mein Kind, gebe ich dir ein Versprechen.« »Und das wäre?« »Dass du diese Nacht als Mensch überleben wirst!«
* Der Weg hinaus führte die beiden zunächst den Korridor entlang an einem halben Dutzend Türen vorbei, die ausnahmslos verschlossen waren. Hinter ihnen wurde schwer geatmet, geschrieen, gekeucht. Jasmin spürte, wie sich Peter Farbers Finger immer fester in ihre Hand krallten. In seinem Gesicht spiegelte sich Ekel wider. Er trug einen von grauen Strähnen durchzogenen, ordentlich ge stutzten Dreitagebart. Die braunen Augen strahlten Wärme aus. Er mochte weit über 40 Jahre alt sein, aber seine Bewegungen, der wa che Blick und die sanften Augen ließen ihn weitaus jünger er scheinen. Jasmin lebte davon, Männer anzuschauen, ihre Gesichtszüge zu analysieren und sich anhand dieses oft nur wenige Sekunden langen Eindrucks zu entscheiden, ob es sich lohnt, einen Mann anzuspre chen oder nicht. Peter Farbers warme Augen wirkten traurig. Zu traurig. Sie hätte ihn draußen nicht angesprochen … Das dunkle Treppenhaus führte die beiden zwei Stockwerke in die Tiefe. Sie gingen normal, ohne Eile, obschon jede Faser in Jasmins Körper danach schrie, einfach nur noch zu rennen. Farber jedoch
schien sich seiner Sache sicher zu sein. Gemeinsam betraten sie die Lobby des Hotels, wenn man einen von Neonlicht kalt ausgeleuchteten großen Raum, der weder Sitzge legenheiten noch andere Assecoires, die zum Verweilen einluden, als Lobby bezeichnen wollte. Hinter den Tresen stand Nikolaj, der Concierge. So nannte er sich zumindest selbst. Es klang eben besser als Nikolaj, der Abzocker, der von den Mädchen fünfzig Prozent ih rer Einnahmen dafür verlangte, dass sie seine Zimmer benutzen durften. Das Hotel lag jenseits der üblichen Amüsement-Alleen von Berlin. Immerhin aber nah genug an gleich mehreren Hauptstraßen, so dass hier vor allem während des Feierabendverkehrs das Ge schäfts ganz gut lief. Der späte Abend, so wie jetzt, gehörte eher zu den ruhigeren Zeiten, im krassen Gegensatz zu den Etablissements in den Amüsiervierteln. Ein weiterer Mann stand draußen vor der Eingangspforte. Er schi en die Straße zu beobachten, ganz so, als würde er jemanden erwarten – oder aber Schmiere stehen, für einen Komplizen, der sich längst im Gebäude befand. »Wo wollt ihr hin?«, fragte Nikolaj die beiden. Peter Farber stoppte, legte ein seltsames, fast kindisches Lächeln auf und wankte zum Tresen, hinter dem sich Nikolaj verschanzte. »Wir gehen jetzt zu mir«, lallte Farber. »Und dann wird das süße Ding …« Er verzog das Gesicht zu einer Fratze, zwinkerte dem Con cierge zu und machte mit der rechten Hand eindeutige Bewe gungen. »Ja, ja, ist schön. Aber ich möchte den Schlüssel vom Zimmer zu rück.« Jasmin beeilte sich, machte zwei große Schritte und begann in ih rer Handtasche zu kramen, während Farber ihr offenbar belustigt zuschaute. »Du bist doch gar nicht mit Jasmins aufs Zimmer gegangen …«, bellte Nikolaj plötzlich. Er griff unter seine Theke und griff nach
einer Pistole, die er Farber nur einen kurzen Augenblick später mit zitternden Händen unter die Nase hielt. »Ey!«, spielte Farber seine Rolle weiter. »Ich mochte das Mädchen eben nicht, das mich abgeschleppt hat. War mir zu dürr.« Er lachte albern. Nur den Bruchteil einer Sekunde später schnellte seine Linke in die Höhe und umschloss Nikolajs Handgelenk und schob dessen Arm von seinem Gesicht weg. Während er das Hand gelenk umklammert hielt, vollzog er eine halbe Drehung mit dem Oberkörper, winkelte seinen rechten Ellenbogen an und rammte diesen unbarmherzig in das Gesicht des Hoteliers. Augenblicklich ließ dieser die Waffe fallen, verdrehte die Augen und sackte zusammen, während eine Fontäne warmen roten Blutes aus seiner gebrochenen Nase strömte. Farber ließ von dem be wusstlosen Mann ab, nahm dessen Waffe an sich und warf sie Jas min zu, die sie reflexartig auffing, vor Nervosität aber fast wieder fallen ließ. Der Mann, der vor der Tür Schmiere stand, bemerkte erst jetzt, was in der Lobby geschah. Er war groß, ein Bär von einem Mann. Seine Augen funkelten rot, als er die Lobby betrat, der Kopf ver formte sich zu einer dämonischen Fratze. Noch bevor die Verwandlung abgeschlossen war, zog Farber eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer. Ohne auch nur eine Se kunde zu zögern jagte er dem Vampir eine Kugel mitten ins Herz. Der Angreifer wirkte verwirrt. Panik funkelte in seinen Augen, er betastete mit seinen Pranken ähnlichen Händen die Wunde. »Das ist doch nicht möglich!«, heulte er auf, »das ist doch nicht möglich!« »Jasmin!« Farber hielt die Smith & Wesson ungerührt auf den sterbenden Vampir gerichtet, während er die junge Prostituierte an sprach. »Komm bitte zu mir.« Das Mädchen folgte seiner Aufforderung augenblicklich. In den Händen hielt sie nach wie vor die Waffe des Hoteliers, zitternd,
ohne genau wissen, was sie eigentlich mit ihr anfangen sollte. »Jasmin, schau bitte hinter den Tresen nach, ob unser guter Nikolaj langsam wieder zu Bewusstsein kommt«, sagte Farber. Sie beugte sich über die Holzplatte, starrte auf am Boden liegenden Mann und erkannte, dass dieser stöhnte, ohne dass ein Laut über seine Blut verschmierten Lippen drang. »Ich glaube, es geht ihm«, sie zögerte, »na ja, halbwegs gut.« Farber zog den Abzug der Pistole ein zweites Mal durch. Der Vampir schrie auf, bevor sich sein Körper zu Staub verwandelte und nur die verrußte Kleidung auf dem grün gefliesten Boden zurückblieb …
* Farber verstaute die Smith & Wessen im Schulterhalfter. Jasmin erhaschte einen kurzen Blick auf die Bewaffnung des Mannes, der ihr heute Nacht das Leben gerettet hatte. Neben dem Pflock und der Pistole schien auch eine kleine Maschinenpistole dazu zu gehören. Als er die Jacke wieder schloss, waren die Waffen kaum noch auszumachen. Die einzige sichtbare Ausbuchtung befand sich in Höhe seines Herzens und die hätte statt vom Griff einer Pistole durchaus auch von einer Brieftasche stammen können. Jasmin wunderte sich noch immer darüber, wie sie ›funktionierte‹. Obwohl ihr Magen rebellierte und sie das dringende Bedürfnis ver spürte, sich zu übergeben, tat sie einfach das, was Farber von ihr verlangte. Zehn Jahre auf der Straße schienen ihre Überlebensin stinkte weitaus intensiver trainiert zu haben, als es ihr bislang be wusst gewesen war. Sie ermöglichten es ihr sogar, die Absurdität dieser Situation zu akzeptieren und mit ihr klar zu kommen – mit einer Situation, die sich jeder Rationalität entzog. Farbers Kondition erstaunte Jasmin. Er sprang aus dem Stand über
die Theke, kniete sich neben den röchelnden Hotelier und packte dessen Kopf mit beiden Händen. »Ich wollte eigentlich nur ein nettes Gespräch mit dir führen, aber du musstest ja unbedingt eine Show abziehen«, spottete Jasmins Retter. »Wenn dein ganzer Laden aus Pfeifen wie dir besteht, ist es ein Wunder, dass er noch nicht von richtig bösen Jungs übernom men wurde. Oder zahlst du Schutzgeld?« Nikolaj atmete schnell und panisch. Seine Hände ruderten wild umher, doch er traute sich nicht, Farber Widerstand zu leisten. »Ja, ich zahle Schutzgeld.« »An wen?« »Sein Name ist Alexander. Alexander Raducanu.« »Zahlst du ihm Schutzgeld in Form von Münzen oder in Naturali en?« »Mal so, mal so«, stotterte der Hotelier. Jasmin erkannte, dass nackte Panik von dem Concierge Besitz er griff. Es war jene Form von Angst, die einen Menschen ernsthaft darüber nachdenken lässt, ob der Tod nicht die sinnvollere Alterna tive gegenüber dem Weiterleben wäre. Jasmin kannte dieses Gefühl nur zu gut aus der Zeit ihrer Heroinsucht – wenn ihr Geld nicht mehr ausgereicht hatte, um neuen Stoff zu kaufen oder die Entzugs erscheinungen begannen, ihren Verstand aufzufressen. Sie beobachtete das Schauspiel hinter der Theke des Hotels mit einer Mischung auch Faszination und blankem Entsetzen. »Heute Nacht waren also die Naturalien gefragt«, stellte Farber fest. »Wie sieht der Ablauf aus?« »Sie suchen sich ein Mädchen aus, irgendwo in der Stadt. An schließend kommen sie her. Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet zu mir kommen. Es handelt sich immer nur um das Mondgesicht und einen Bewacher. Der Kerl scheint hier einfach einen Kick zu su chen, Zimmer an Zimmer mit der Durchgangskundschaft. Mehr
weiß ich nicht!« Nikolaj heulte auf. »Ich weiß wirklich nicht, was sie auf den Zimmern treiben. Und ich will es nicht wissen. Sie halten mir das Ordnungsamt und die Polizei vom Leib. Seit sie hier sind, habe ich keine Probleme mehr mit den Bullen.« »Natürlich …« Farbers Stimme klang sarkastisch. »Sie haben eben ihre Beziehungen und damit du hier in Ruhe deinen Geschäften nachgehen kannst, siehst du weg, wenn sie sich an den Mädchen laben …« »Scheiße«, kreischte Nikolaj, »du weißt doch selbst, was das für Kreaturen sind. Ich scheiße auf die Bullen und das Ordnungsamt, ich will einfach mit diesen Kreaturen keinen Ärger haben. Ich habe Familie …« »Und nur aus diesem Grund gebe ich dir eine Chance. Sage mir, wo ich diesen Raducanu finde.« »Ich weiß es nicht!«, flennte der Hotelier. »Ich weiß es wirklich nicht …« »Vielleicht weiß ich, wie wir ihn finden können«, schritt Jasmin ein. »Lassen Sie uns fahren!« Farber ließ von dem Hotelier ab, der sich sofort zur Seite rollte, das verweinte Gesicht hinter den Armen verbarg und weiterheulte. »Das kann ich nicht von dir verlangen«, wehrte Farber ihr Angebot ab. »Du solltest nach Hause gehen und vergessen, was du heute Nacht gesehen hast.« »Vergessen?«, herrschte ihn die Prostituierte an. »Geht es Ihnen noch gut? Wie soll ich diese Scheiße vergessen? Vor zehn Minuten hat ein Vampir versucht, mich zu beißen und nun sagen Sie, ich soll den Scheiß vergessen?« Jasmin kochte innerlich vor Wut. »Hören Sie mir zu: Ich weiß etwas, das Ihnen vielleicht weiterhilft. Als Gegen leistung erwarte ich einige Antworten. Okay?« Farber lächelte ihr beruhigend zu. »So sei es …«
* Überrascht starrte Jasmin auf Farbers Wagen. Mit einem schnittigen Sportwagen hatte sie gerechnet. Oder einem bis unters Dach mit Armbrüsten und anderen Vampirkillerwaffen voll gestopften Kombi. Stattdessen fuhr Farber einen grün lackierten VW Passat Kombi, der bereits zu einer Zeit die Straßen unsicher ge macht hatte, als Jasmin noch gar nicht geboren war. Zu ihrer zwei ten Überraschung prangten an dem Wagen Dortmunder Autokenn zeichen. Ein Vampirjäger aus dem Ruhrgebiet! Dies kam ihr fast noch seltsamer vor als die Tatsache, dass es Vampire gab. »Nun, Kind, du sagst also, deine Freundin Susanne kennt diesen Alexander Raducanu?«, vergewisserte sich Farber. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber mir kam der Name einfach be kannt vor.« »Du weißt schon, dass, wenn du falsch liegst, ich meine bislang beste Spur verlieren werde.« »Sie meinen Nikolaj?«, fragte Jasmin irritiert. »Allerdings. Sein Hotel war bislang meine einzige Spur. Drei deiner toten Kolleginnen haben nachweislich in seinem Hotel ihre Freier … ernährt.« »Aber wenn das so ist«, überlegte Jasmin, »hätte doch längst die Polizei das Hotel überprüfen müssen?« »Nicht unbedingt.« Die beiden fuhren in Richtung Bahnhof Zoo, jenem neuralgischen Verkehrsknotenpunkt, der Anfang der 80er Jahre nationale Be rühmtheit erlangte, als ein Berliner Mädchen ihre Memoiren mit dem Untertitel ›Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‹ veröffentlicht hatte. Der Bahnhof Zoo, schräg gegenüber der Ruinen der Berliner Ge dächtniskirche gelegen, war längst nicht mehr jener Ort, als den ihn Christiane F. einst beschrieben hatte. Und doch verbrachte Jasmins
Freundin Susanne hier oft die Nacht. Ein Zuhause hatte sie nicht. »Was heißt das, nicht unbedingt?«, wollte Jasmin wissen. »Dazu muss ich dir etwas über das Leben der Vampire berichten. Vampire leben in Clans. Einige dieser Clans sind uralt. Und die Al ten bewahren ihre Traditionen. Sie leben im Verborgenen und man che dieser Clans sind sehr, sehr reich. Aber das gilt nicht für alle.« Der Verkehr war trotz der nächtlichen Stunden in Berlin noch re lativ dicht. Farber konzentrierte sich auf den Verkehr und legte immer wieder Erzählpausen ein. Er fuhr nicht schneller als erlaubt. Auch er schien kein Interesse daran zu haben aufzufallen. »Gerade die jüngeren Clans müssen um ihr Überleben kämpfen«, fuhr er fort. »Sie sind genauso auf Geld, auf ein festes Einkommen angewiesen wie ganz normale Menschen. Aber wie kannst du arbei ten gehen und dich ernähren, wenn die Sonne dich umbringt und dein Hunger nur durch Blut gestillt werden kann? Das ist ein ver zwicktes Problem. Also rate doch mal, in welchem Metier viele dieser Clane ihr Geld verdienen?« Jasmin zuckte mit den Schultern. »Prostitution. Es ist das einzige Gewerbe, in dem hauptsächlich nachts gearbeitet wird. Niemand stellt Fragen, das Geschäft ist sehr verschwiegen.« »Das ändert nichts an der Tatsache, dass ein Mord die Polizei alarmiert – und mehrere Morde erst recht.« Farber nickte. »Allerdings gibt es da noch eine Kleinigkeit. Ein erfahrener Vampir kann einen Menschen durch einen Biss von sich abhängig machen. Ich habe keine Ahnung, wie das genau funktioniert – möglicherweise sondert der Vampir mit seinem Spei chel ein Sekret ab, das den Menschen auf ihn fixiert –, aber wird ein Mensch von einem Vampir abhängig, dann wird er alles für seinen Meister tun.« »Und er ist dennoch kein Vampir?«
»Er ist wie ein Drogensüchtiger und der Vampir, der ihn gebissen hat, ist der einzige Dealer, der ihn am Leben erhalten kann. Also wird er alles daran setzen, diesen Dealer zu schützen. Bis hin zu vollkommenen Selbstaufgabe.« Jasmin verstand. Oh, innerlich, da tobte der Kampf des Wahnsinns in ihr. Jedoch fehlte ihr die Zeit, ihrer Wut und ihrer Angst freien Lauf zu lassen. Zwölf Prostituierte waren in Berlin im letzten halben Jahr ermordet worden. Zwölf Mädchen, keines älter als zwei undzwanzig Jahre. Der Mörder hatte ihre Körper bis zum letzten Tropfen vom Blut geleert. Die Zeitungen nannten den unheimlichen Mörder den ›Vampir von Berlin‹. Schon nach dem zweiten Mord er zählten sich die Mädchen untereinander, dass nicht nur ein Mörder sein Unwesen trieb, sondern mindestens zwei. Die irrwitzigsten Sto rys machen die Runde, von Vampiren und anderen Dämonen spra chen die Mädchen. Wie Recht sie hatten … Die Opfer waren Straßenkinder, junge Mädchen und Frauen, ohne Heimat, ohne Hoffnung. Jene, die sowieso niemand vermisste. We der die, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, noch die eigenen Eltern. Menschen wie Jasmin, obwohl sie noch zu den Privilegierten zählte. Immerhin hatte sie eine Bleibe. Ein Zimmer nur – aber immerhin: Ein Zimmer! »Glauben Sie, ein Polizist hilft den Mördern?«, fragte sie. Farber nickte. »Bestimmt. Ich verurteile diesen Menschen nicht. Er ist ein Süchtiger, der einfach nur seine Quelle schützt.« »Aber wie haben Sie die Verbindung zum Hotel in Erfahrung ge bracht?« »Habe mich ein wenig umgehört und mit Mädchen wie dir gesprochen. Die Spuren ließen sich relativ leicht verfolgen, daher bin ich mir sicher, dass jemand im Polizeiapparat die Spuren verwischt.« »Sie reden wie ein Polizist«, wunderte sich Jasmin.
»Ich war Polizist«, antwortete Farber verbittert. »Ich war sogar ein verdammt guter Polizist, bis die Vampire mein Leben zerstörten.«
* Die Züge fahren in den Bahnhof Zoo nicht ebenerdig ein. Sie fahren auf Trassen, die erhöht liegen. Rechts vom Bahnhof liegt ein großer Busbahnhof, wo selbst in der Nacht keine Ruhe herrscht. Peter Farber parkte seinen Wagen in einer Nebenstraße unweit des Bahn hofs. »Warte!«, forderte er Jasmin auf, als er ausstieg. Er öffnete die Heckklappe seines Kombis und schob eine Plane beiseite. Die Überraschung stand Jasmin auf die Stirn geschrieben. Koffer lagen im Kombi. Koffer voll mit Kleidung, Büchern, sogar einen Wasserkocher entdeckte Jasmin. »Haben Sie ein Dach über dem Kopf?«, fragte sie direkt. »Zurzeit nicht. Ich schlafe meist in billigen Hotels.« Peter Farber lächelte angestrengt. In einem der Koffer fand er schließlich das, was er offenbar ge sucht hatte: eine rote Collegejacke. Er gab sie der jungen Prostituierten. »Ich weiß, dass sie nicht passt, aber du musst frieren, oder nicht?« Jasmin lachte. »Nein, ich laufe gerne mitten in der Nacht im Mini rock durch Berlin.« Sie nahm die Jacke gerne an. Natürlich war sie viel zu groß, sie reichte ihr fast bis zu den Knien. Seltsamerweise sah die Jacke an ihr gar nicht schlecht aus. Jasmin trug schwarzen Kayal um ihre Lider. Peter Farber reichte ihr ein Taschentuch und deutete auf ihr Gesicht. Sie verstand, ohne
dass er sagen musste, was er wollte und wischte sich die Schminke aus dem Gesicht. Nachdem sie fertig war, musterte er für einen Moment – und wuselte Jasmins Haare ein wenig durcheinander. »Hallo?«, protestierte sie. »Wie alt bist du, Jasmin?« Jasmin schluckte. »Ich bin einundzwanzig.« Farber schloss die Augen. »Und seit wann verkaufst du dich?« Jasmin spürte, wie die Übelkeit, die sie seit nunmehr einer Stunde unterdrückte, in einem Schwall aus ihr heraus platzen wollte. »Das braucht Sie nicht zu interessieren.« Farber streichelte ihre Wangen, berührte ihr Kinn. Seine Hände wirkten so sanft, so angenehm – ganz anders als die der Männer, die sie normalerweise berührten und die sich für den Menschen, der sich in diesem Körper verbarg, nicht weiter interessierten. »Wir sollten jetzt gehen«, wich sie Farber aus. »Wenn wir Glück haben, ist Susanne am Hinterausgang und hängt dort mit ein paar Freunden herum.«
* Susanne, ihren Nachnamen kannte Jasmin nicht, streifte tatsächlich die Straße auf und ab. Sie trug eine ausgewaschene Jeans, eine grü ne, gammelige Wolljacke und weiße Turnschuhe. Ihre braunblonden Haare waren zwar gewaschen, wirkten aber dennoch ungepflegt. Susanne suchte offenbar nach einem Freier, traute sich aber nicht, je manden anzusprechen. Der Grenzschutz, der den Bahnhof bewach te, hielt ebenso ein Auge auf sie wie die Polizei. Solange sie ruhig blieb, ließen auch die Bewacher des Bahnhofs sie in Ruhe. Ungeschminkt, mit den leicht zerzausten Haaren und bekleidet
mit der langen Collegejacke, die ihr fast bis zu den Knien reichte, sah Jasmin keinesfalls wie eine Prostituierte aus. Sie und Farber machten eher den Eindruck eines Paares, das sich nach einer Feier auf dem Heimweg befand. Lediglich ihr Altersunterschied ließ den einen oder ändern Betrachter vielleicht einen zweiten Blick auf die beiden werfen. Doch was sagte das Alter schon über sich liebende Menschen aus? Susanne zitterte vor Kälte. Jasmin erkannte sofort, dass ihre Freun din unter Entzugserscheinungen litt. Sie kannte dieses Zittern aus eigener Erfahrung und wusste, wie schwer es war, der Versuchung zu widerstehen, sich den nächsten Schuss zu setzen. Nur: Susanne hätte sich den nächsten Schuss gesetzt, hätte sie Geld dafür gehabt. »Susanne?«, rief Jasmin schon von weitem. Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen. »Jasmin, was tust du hier? Siehst schick aus!« Susanne berlinerte stark. Ihre Zähne zeigten Mangelerscheinungen auf, ihre Haut wirkte trocken und rissig. Hinter alledem versteckte sich eine kleine Schönheit, die jedoch vom Leben auf der Straße Stück für Stück aufgefressen wurde. »Ist das dein Freund?«, fragte Susanne mit einem Blick auf Farber. Jasmin lächelte. »So etwas Ähnliches. Aber keine Panik, er ist nicht mein Zuhälter oder so. Er ist jemand, der deine Hilfe braucht.« »Dann bitte?«, fragte Susanne überraschend freimütig. »Alexander Raducanu«, sagte Farber. Susannes Gesicht erstarrte. Sie schluckte. Ihre Augen begannen nach einem Fixpunkt jenseits der beiden Fragenden zu suchen. »Oh!« Sie lächelte bemüht. »Da ist jemand, den ich kenne. Ent schuldigt mich …« Sie machte einen Schritt zur Seite. Unsanft packte Farber sie am Oberarm. »Dies ist kein Spaß«, knurrte er das Straßenmädchen an. »Du kannst mir erzählen, was du über Alexander Raducanu weißt, oder
aber ich erzähle den Polizisten da hinten«, er deutete auf zwei Be amte, die keine hundert Meter von ihnen entfernt gerade mit einem offenbar ausländischen Reisenden sprachen, »dass du versucht hast, mir meine Brieftasche zu klauen. In dem Fall landest du auf der Wa che und wirst heute Nacht keinen Schuss mehr bekommen: Ist das klar?« Jasmin wich erschrocken einen Schritt von Farber zurück. Wie er sprach, wie er Susanne unter Druck setzte, offenbarte ihr, dass er noch ein anderes Gesicht hatte als das nette, das er ihr gezeigt hatte. Er war ein Killer, der nicht eine Sekunde zögerte, ein Leben auszulö schen, selbst wenn es sich bei denen, die er tötete, nicht um Vampire handelte. Hatte er sie selbst im Endeffekt nicht als Köder für den Killer missbraucht und gewartet, bis die Bestie ihr wahres Gesicht entblößte? Trotz ihres Verdachts wandte sich Jasmin nicht von Farber ab. Ohne ihn … Sie wollte sich ihr Schicksal gar nicht weiter ausmalen. »Susanne, bitte«, sagte sie. »Dieser Mann hat mein Leben gerettet. Du hast mir doch von einem Alexander erzählt, der mit seiner Bande Mädchen missbraucht, die sich nicht wehren können. Diese Alexander ist Alexander Raducanu, oder nicht?« Susanne starrte Farber aus hasserfüllten Augen an. Sie stand kurz davor, ihn anzuspucken. Aber die Angst, die Nacht im Gewahrsam verbringen zu müssen, hielt sie offenbar von ihrem Vorhaben ab. »Alexander Raducanu, ja, ich kenne den Wichser!«, stieß sie schließlich hervor. Farber lockerte seinen Griff, bis er schließlich ganz von der jungen Frau abließ. Er zog einen 20-Euroschein aus der Tasche, den er Su sanne unauffällig zusteckte. Die Androhung einer Nacht im Ge wahrsam in Verbindung mit dem Geldschein lockerten ihre Zunge. »Dieser Alexander ist wohl vor einem Jahr mit ein paar Freunden nach Berlin gekommen«, berichtete Susanne. »Sie haben sich einer Bande angeschlossen und offenbar die Führung der Bande über
nommen …« »Einen Augenblick«, unterbrach Farber das Mädchen. »Ich ver stehe dich richtig: Die Bande, der er angehört, ist, wenn man es streng nimmt, gar nicht seine Gang …« »Die Jungs sollen selbst zum Teil Riesenschiss vor Alexander und seinen Getreuen haben. Die Typen sind ziemliche miese Wichser, die immer wieder Mädchen von der Straße holen und sie ganz übel behandeln. Ich kenne sogar ein Mädchen, das den Mut aufgebracht hat, einen von Alexanders Freunden anzuzeigen. Und hey, die Bullen sind nicht unbedingt unsere Freunde …« »Und was ist passiert?« fragte Jasmin. »Nichts! Dieser Alexander und seine Leute haben Geld. Weiß der Teufel woher. Die dealen nicht, die verkaufen keine Waffen. Wahr scheinlich sind das irgendwelche verwöhnten Mami-Söhnchen aus Weißensee, denen das Leben in den Villen ihrer Eltern zu langweilig geworden ist und die ein bisschen Nuttenprügeln spielen. Und wenn mal eine ihr Maul aufreißt, bringt Papi das mit seinem Geld wieder in Ordnung.« Oder sie haben Kontaktleute bei der Polizei, dachte sich Jasmin, sprach ihren Gedanken aber nicht aus. Stattdessen fiel ihr eine seltsame Re gung in Farbers Gesicht auf: Es waren seine Augen. Sie funkelten freudig erregt. Was aber brachte sie dazu? »Das ist der Mann, nach dem wir suchen«, konstatierte Farber sichtlich zufrieden. Und doch war da mehr, was ihn zufrieden stimmte. Nur was? »Nur«, hakte Falber nach, »woher weißt du all das über diesen Alexander?« Susanne blickte ihn aus hasserfüllten Augen an. Sie krempelte den rechten Ärmel ihrer Jacke auf. Ihr Arm wies eine lange Narbe auf der Innenseite auf, die vom Ellenbogen bis fast zur Pulsschlagader führte. Nur ein paar Millimeter weiter rechts und Susanne wäre möglicherweise verblutet.
»Wer hat das getan?«, fragte Farber und klang plötzlich besorgt. »Einer von Alexanders Freunden. Wir haben in einem richtigen schnicken Hotelzimmer gesessen, haben uns einen richtig schönen Abend gemacht, man, ich habe mir Koks rein gepfiffen, ich sage es euch … Ich dachte, hey, Glückskind, heute musst du es keinen widerlichen Bürofutzis besorgen. Du musst nicht hinter dem Bahn hof herumlungern und darauf hoffen, dass sich ein Reisender deiner erbarmt, ohne vorher einen Gesundheitsattest sehen zu wollen. Nein, wir waren in einem richtig schnicken Hotel, so mit Pagen und solchen Leuten, die Mädchen wie dich«, sie blickte Jasmin an, »oder mich sofort von ihren privaten Sicherhitsfuzzis abführen lassen, wenn wir uns dem Eingang auch nur auf zwanzig Meter nähern; die aber den ukrainischen Edelnutten den Koks in kleinen Tütchen aufs Zimmer schicken, damit sie Spaß mit ihren Kunden haben. Und was sage ich euch: Da liege ich vollkommen bedröhnt auf dem Sofa, ki cher vor mich hin – und da kommt dieses Mondgesicht, packt meinen Arm, schlitzt die Haut auf uns trinkt mein Blut.« Susanne krempelte den Ärmel wieder runter. »Ich habe in all den Jahren, die ich mich verkaufe, verdammt viele kranke Typen kennen gelernt, aber der …« Sie verzog das Gesicht, Tränen standen ihr in den Augen. »Er hat mein Blut getrunken. Ich wäre fast verblutet, wenn mir nicht einer aus der Gang geholfen hätte …« »Dir hat einer aus der Gang geholfen?« »Es waren acht oder neun Leute in der Suite. Alles Kerle. Ich sagte doch, dass Alexander wohl die Bande von jemand anderem über nommen hat. Und einer von denen hat mir dann geholfen und das Mondgesicht verscheucht. Er hat mich ins Badezimmer geschleppt, meinen Arm verbunden und mir 500 Euro Schweigegeld in die Hand gedrückt.« »Und das Mondgesicht?« »Ich weiß es nicht genau. Ich stand unter Koks. Aber ich glaube, er war auf meinen Helfer nicht zu sprechen …«
»Wann hat er dir das angetan?«, fragte Farber. »Vor etwas mehr als einem halben Jahr.« Kurze Zeit später hatten die Morde begonnen. »Er wird dir nie wieder etwas antun«, besänftigte Farber Jasmins Freundin. »Wie meinen Sie das?« »Er hat Berlin überraschend verlassen müssen. Leider hat er es versäumt mir mitzuteilen, wo wir seinen Freund Alexander finden können. Hast du vielleicht eine Idee?« »Wir waren im Hotel Seven Seasons. Weiß nicht, ob die da noch immer residieren. Aber ich sage ja – die haben Geld. Weiß der Teufel woher …«
* »Darf ich Sie etwas fragen?« Jasmin saß neben Peter Farber in dessen alten VW, der durch das nächtliche Berlin rauschte. »Natürlich.« »Sie haben ziemlich seltsam gelächelt, als Susanne ihnen erzählt hat, dass Alexander offenbar die Bande eines anderes übernommen hat. Warum?« »Wenn ein König ermordet wird und der Mörder seinen Thron einnimmt, dann wird aus dem Mörder der neue König. So sagt es ein uraltes, ungeschriebenes Gesetz. Aber du kannst dir sicher vor stellen, was das bedeutet?« Jasmin nickte. »Wenn der alte König ein guter König war und der neue König ein Tyrann ist, werden ihn seine Untertanen nicht lieben.« »Genau das. Der neue König wird sich also zunächst einmal mit ihm treu ergebenen Vasallen umgeben müssen, die ihm einen ge
wissen Schutz vor den Getreuen des alten Königs garantieren. Selbst wenn die Höflinge des alten Königs dem neuen König Treue schwö ren, wird er sich niemals sicher sein können, dass nicht einer von ih nen möglicherweise den Tyrann vom Thron stürzt. Alexander wird von einem Teil seines Clans gehasst und das ist gut für uns.« »Aber wie kann uns das helfen? Ich meine, die, die ihn hassen, sind schließlich auch Vampire.« »Vampire, die im Verborgenen lebten.« Peter Farber massierte sich mit der rechten Hand die Stirn, während er mit der Linken das Lenkrad umklammerte. »Dies ist das oberste Gesetz, das alle Vampi re zu befolgen haben: Die Wahrung des Geheimnisses ihrer tat sächlichen Existenz. Er hat dieses Gesetz an dem Tag gebrochen, an dem die Geschichte mit deiner Freundin Susanne passiert ist.« »Susanne?« »Nur wenige Vampire töten aus Lust. Ich vermute, dass Folgendes passiert ist: Ein Vampir, der dem Clan bereits angehörte, bevor Alexander seine Führung übernommen hat, hat Susanne gerettet, um damit gleichzeitig Alexanders Führungsanspruch zu un terminieren. Ein wahrer Clan-Führer hätte alles daran gesetzt, Su sanne verschwinden zu lassen, auch wenn sich das für dich grausam anhören mag. Doch statt nun als geschwächt dazustehen, als angreifbar, hat Alexander den Spielball angenommen und ganz anders pariert als gedacht: Er hat seiner Meute die Erlaubnis gege ben, draußen zu töten. Wenn ein Vampir einen Menschen tötet, verwischt er alle Spuren. In der Regel verschwindet der Leichnam spurlos von der Bildfläche. Aber Alexander sucht die Öffentlichkeit. Seine Leute präsentieren ihre Taten, als wollten sie mit ihnen ko kettieren. Die Zurschaustellung ist natürlich inszeniert. Da kommt zum Beispiel dein Hotel ins Spiel, Jasmin, ein Ort, an dem das Mondgesicht in Ruhe, jenseits der Augen der alten Vampire, seine Gier befriedigen und sich einen Kick holen konnte. Dieses Mondge sicht ist dabei nur ein Vollstrecker, ein kranker Psychopath, den Alexander benutzt hat. Der Kick, den sich dieser bei seinen Morden
geholt hat, ist für Alexander mit einem Minimum an Risiko ver bunden. Schließlich steht das Hotel unter seiner Kontrolle und von dort aus konnten die Mädchen relativ gefahrlos an ihre Fundorte ge bracht werden. Ich behaupte nicht, dass alle Mädchen in deinem Hotel getötet wurden. Wahrscheinlich befinden sich eine ganze Rei he von ähnlichen Etablissements unter Alexanders Kontrolle.« Farber dachte nach, bevor er fortfuhr. »Ich nehme an, dass die Morde jenseits der Augen der alten Vampire geschehen, jenseits ih res Territoriums, um sie in Unruhe zu versetzen.« Er lachte. »Ich sehe die alten Vampire förmlich vor mir, wie sie in Panik das Treiben von Alexander verfolgen. Mit jedem Mord fordert er sie aufs Neue heraus. Jeder Mord ist eine Herausforderung an sie, ihm Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig wird er mit jeder Herausforderung, die sie ablehnen, mächtiger.« »Damit ist aber noch immer nicht meine Frage beantwortet.« »Eigentlich schon. Siehst du«, Farber lächelte triumphierend, »wenn ich ihn stelle, werden mir die alten Clan-Mitglieder nicht ge rade applaudieren, aber sie werden mich auch nicht aufhalten, so lange ich sie in Ruhe lasse.« »Aber auch sie sind Vampire, sie sind böse …« Farber lächelte leicht, aber entgegnete ihr nichts.
* Natürlich konnte niemand Farber garantieren, dass Alexander Ra ducanu nach wie vor im Seven Seasons residierte. Jasmin war dieser Gedanke recht früh gekommen, aber Farber schien ihn kategorisch auszuschließen. Und wahrscheinlich hatte er Recht. Wenn Raducanu tatsächlich derart arrogant war, wie Farber behauptete, bestand für ihn kein Anlass, sich eine neue Bleibe zu suchen. Das Seven Seasons war
schließlich nicht einfach nur ein Hotel, in dem man übernachtete. Als eine der Top-Adressen der Hauptstadt lag es nahe des Branden burger Tores direkt an der Prachtallee ›Unter den Linden‹. Unweit des Hotels lagen die britische, die amerikanische und die russische Botschaft, wobei die amerikanische und die britische Botschaft seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unter besonderer Be wachung des Grenzschutzes standen. So wurde Alexanders Hotel letztendlich von der Polizei und diversen Geheimdiensten vor un willkommenen Eindringlingen bewacht. Welch eine bittere Ironie des Schicksals. Für Peter Farber bedeutete dies im Umkehrschluss, dass er in diesem Umfeld nicht einmal einen Gedanken daran zu verschwenden brauchte, seinen Wagen einfach nahe des Hotels abzustellen. Tausend Kameras und wahrscheinlich ebenso viele Augenpaare wären in diesem Moment auf ihn gerichtet gewesen. Parkhäuser gab es keine in der unmittelbaren Nähe. Wenn er nicht auffallen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Wagen auf dem nächsten, öffentlichen Parkplatz abzustellen. Und der befand sich nahe des Bahnhofs Friedrichsstraße, immerhin fast zehn Minu ten Fußweg vom Hotel entfernt. Farber stellte den Wagen ab, schaltete den Motor aus und zog die Smith & Wesson. Er lud sie nach, überprüfte den Sitz des Schall dämpfers und steckte sie zurück ins Halfter. Die Waffe, die Farber Nikolaj abgenommen hatte, lag im Handschuhfach. Jasmin öffnete es und nahm sie an sich. »Du kannst sie haben«, bemerkte Farber, während er den Sitz sei ner Waffen überprüfte. »Das will ich meinen. Ich gehe da bestimmt nicht unbewaffnet rein.« »Moment!« Farber lachte und wandte sich seiner Beifahrerin zu. »Du kommst nicht mit!« »Natürlich komme ich mit! Was haben Sie denn gedacht?«
»Kind …« »Ich bin kein Kind«, herrschte sie ihn an. »Ich bin einundzwanzig Jahre alt – und wenn Sie es tatsächlich wissen wollen: zehn Jahre.« Farber starrte Jasmin verständnislos an. »Zehn Jahre?« Der Moment war gekommen, die Dämme brachen. Jasmin begann zu weinen. »Sie haben mich gefragt, wie lange ich schon auf der Platte lebe«, schluchzte sie schließlich. »Zehn Jahre. Ich bin vor zehn Jahren von Zuhause abgehauen …« »Das tut mir Leid …« »Halten Sie den Mund, okay?«, fauchte Jasmin. Tränen rannen ihre Wangen herab. Sie zitterte am ganzen Körper. Nur ihre Hände be hielt sie unter Kontrolle. »Der Freund meiner Mutter hat mich miss braucht. Er hat mich vergewaltigt. Zwei Jahre lang. Da bin ich abge hauen, weil es auf der Platte gar nicht schlimmer sein konnte als zu Hause. Als mich die Polizei zum ersten Mal aufgegriffen und wieder nach Hause gebracht hat, hat mich meine Mutter zusammenge schlagen.« Jasmins Stimme zitterte. »Sie hat mir nicht etwa ein paar Ohrfeigen verpasst, nein, sie hat mit einem langen Schuhanzieher aus Eisen auf mich eingedroschen, bis mein Rücken grün und blau war. Ich kann Ihnen gerne die Narben zeigen. Aber wissen Sie, was dann passiert ist? Sie hat ihrem Freund gesagt, er könne ja weiter machen. Und er hat weiter gemacht. Einen Tag später bin ich wieder abgehauen und die Polizei hat mit erst ein halbes Jahr später wieder aufgegriffen. Ich habe keinen Schulabschluss, ich habe keinen Beruf. Ich habe mich verkauft, jeden Tag, zunächst um etwas zu Essen zu bekommen, dann um mir Drogen kaufen zu können. Aber wissen Sie was?« Jasmin zitterte inzwischen vor Wut. »Ich habe überlebt. Ich habe diesen ganzen Dreck überlebt. Ich bin clean. Okay, ich ver kaufe nach wie vor meinen Körper, aber ich lebe. Männer haben Dinge mit mir gemacht, die Sie sich in ihren schrecklichsten Träu men nicht vorstellen möchten. Und das in einem Alter, in dem Mäd
chen noch mit ihren Puppen spielen und von Prinzen auf weißen Rössern träumen sollten. Aber«, sie spukte die Worte förmlich aus, »ich habe überlebt! All das habe ich überlebt und jetzt kommt heute Abend ein Vampirarsch und will mein Blut trinken. Ein abgehalf terter Vorstadtheld stolpert in mein Leben, rettet mich – um mich dann auf einem Bahnhofsparkplatz aus seiner versifften Karre zu werfen. Vielleicht werde ich heute Nacht sterben. Vielleicht ende ich wie all die anderen Mädchen heute Nacht in einem Kanal. Gut, dann war’s das eben. Scheiß drauf, werde ich eben in einem anonymen Grab verscharrt. Es gib schon heute niemanden, der mich vermissen wird. Aber vielleicht überlebe ich die heutige Nacht. Glauben Sie, ich habe Angst vor diesen Nachtgestalten, die sich tagsüber in ihre Hütten verziehen müssen, um nicht vom ersten Sonnenstrahl ge grillt zu werden. Ich habe in meinem Leben Schlimmeres erlebt – und bitte, Herr Farber, glauben Sie mir. Ich übertreibe nicht.« Jasmin bebte vor Erregung. Die Worten sprudelten aus ihr hinaus, ohne, dass sie auch nur eine Sekunde lang nach den richtigen Worten hätte suchen müssen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich frei. Nein, das war falsch. Zum ersten Mal überhaupt fühlte sie sich frei. Ihre Drogensucht mochte sie aus eigenem Antrieb heraus besiegt haben, aber damals war die Angst ihr Antrieb gewesen – Angst da vor, wie ein anderes Mädchen von der Platte, mit der sie sich man chmal einen Schlafplatz geteilt hatte, an verseuchtem Stoff zu kre pieren. Diese Situation ließ sich mit damals gar nicht vergleichen. Dieses Mal lag die Entscheidung, was zu tun war, allein in ihren Händen. Es gab keine Mutter, keinen Freund, keine Polizei, keine Freier, die Dinge von ihr verlangten, die sie nicht tun wollte. Die Entscheidung, was zu tun war, lag dieses Mal ganz allein in ihren Händen. Farber reichte ihr ein Taschentuch. »Wisch dir die Tränen aus dem Gesicht – und versprich mir eines!«
»Was soll ich versprechen?«, rotzte sie mehr ins Taschentuch, als dass sie es sprach. »Was auch geschehen mag: Behalt deine Gefühle unter Kontrolle.«
* Wie kommt man in ein Hotel, das an einer der meistbewachten Stra ßen Deutschlands liegt und auf dessen Eingangsportal ein Dutzend Kamera gerichtet werden? Man geht einfach durch den Haupteingang. Farber besaß eine seltsame Form von Mut, fand Jasmin. An der Drehtür stand ein Nachtportier. Er blickte mürrisch drein, als Jasmin in ihrer viel zu großen Collegejacke und den hohen Stiefeln plötzlich vor ihm stand. Der Mann hatte den entspre chenden Blick für Mädchen ihres Gewerbes, er erkannte, was sie war. Doch Farber nahm den Portier zur Seite, steckte ihm einen Geld schein in die Hand und lächelte vielsagend. »Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte Jasmin vollkommen verblüfft, als ihnen der Portier sogar die Tür aufhielt. »Dass ich diese Nacht mit einem scharfen Mädchen verbracht habe, weit weg von daheim bin und noch ein bisschen Spaß haben möchte.« »Und wie haben Sie ihm weiß gemacht, dass Sie ein Gast des Hauses sind?« »Gar nicht. Er muss dies wohl fälschlich angenommen haben. Außerdem lüge ich niemals. Ich lasse manchmal einfach nur ein paar Fakten weg.« Die Lobby war ein Traum aus weißem Marmor. In der Mitte – auf dicken, roten Teppichen – luden dunkelrote Ledersofa und Sessel
zum Verweilen ein, überall standen kleine Tische. Ein Kronleuchter erhellte den gesamten Eingangsbereich. Geradeaus führte ein Weg in den Privatbereich. Rechts von ihnen befand sich eine Bar, die zu dieser Stunde, mitten in der Woche, jedoch geschlossen war. Links erwartete sie eine junge Asiatin freundlich hinter dem Empfang. Sie trug ein weinrotes Kostüm und lächelte selbst zu dieser späten – oder frühen – Stunde noch freundlich. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie höflich. »Einen Moment bitte …«, antwortete Farber und wandte sich Jas min zu: »Ruf doch bitte schon einmal einen Fahrstuhl, wärst du so freundlich?« Warum er sie fortschickte, verstand Jasmin nicht. Sie kam seiner Bitte nach, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Während sie ihn im Gespräch mit der Empfangsdame beobachtete, entging ihr nicht, dass die hübsche Asiatin mit jeder Silbe, die Farber sprach, unru higer wurde. Zunächst verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht, kurz darauf wischte sie sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn, obwohl es in der Lobby eher frisch war. Schließlich begann sie schwer zu atmen und musste sich sogar an der Theke festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Farber wandte sich von der vollkommen verwirrten jungen Frau ab und folgte Jasmin zu den Aufzügen. »Was war denn das?«, fragte sie irritiert. »Wenn man mit Vampiren zu tun hat, lernt man irgendwann ein paar von ihren Tricks wie das Manipulieren von Gedanken. Das funktioniert aber nicht bei Autohändlern. Glaub mir, du weißt ja, was ich fahre …« Sie betraten den mit braunem Holz vertäfelten Lift. »Welche Etage?«, fragte sie Farber. »U2.« »Untergeschoss?«
»Genau das.« Jasmin drückte den entsprechenden Knopf. Nun gab es für sie kein Zurück mehr …
* Am Ende des langen, dunklen Ganges fiel ein Lichtschein durch die verschlossene Tür und dumpfe Partymusik dröhnte durch den Flur. Zwei hoch gewachsene Männer bewachten den Eingang. Sie waren kaum wahrzunehmen, ihre Silhouetten vermischten sich mit der Dunkelheit: Strammen Schrittes bewegten sich Farber und Jas min auf die beiden Männer zu, die keine Anstalten machten sich von ihren Plätzen zu bewegen. »Stopp!« Der Größere von den beiden, den dunklen Haaren und fast schon schwarzen Augen nach zu urteilen ein Araber, streckte den Arm aus. »Haben Sie eine Einladung?« Farber lachte. »Dies erinnert mich an meinen alten Freund Ali, den Türsteher des Lindors in Dortmund. Er war der beste Türsteher, den ich je gekannt habe. Und wissen Sie, was passiert ist? Ein 60-jähriger Mann brach ihm die Nase.« Bevor der Wächter auch nur ansatzweise reagieren konnte, packte Farber mit der Linken den ausgestreckten Arm des Türstehers, um ihn nur einen Wimpernschlag später mit unglaublicher Wucht die Rechte gegen das Brustbein zu hämmern. Den Türsteher, obwohl er einen ganzen Kopf größer als Farber war, riss die Wucht des Aufpralls von den Beinen. Ohne sich weiter um den Stürzenden zu kümmern, sprang Farber hoch, wirbelte einmal um die eigenen Achse, strecke das rechte Bein aus und verpasste dem zweiten Türsteher einen Tritt gegen den Hals. Röchelnd ging dieser in die Knie.
Noch während er vollkommen überrascht nach einem Halt suchte, riss Farber den Holzpflock hervor und rammte das sauber geschlif fene Stück Eichenholz dem Taumelnden mitten ins Herz. Mit einem kurzen, röchelnden Schrei ging der Mann zu Boden, während sich der Körper in Staub verwandelte und nur die dunkle Kleidung angesengt zurückblieb. Der erste Türsteher versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Bevor er jedoch sicher auf den Füßen stand, packte ihn Farber am Nacken, knallte ihn gegen die schwarze Flurwand und presste ihm den Holzpflock gegen das Brustbein. »Ich habe drei Fragen, du hast drei Antworten«, erklärte Farber. »Beantwortest du sie, bleibt dir der Weg in die Hölle erspart. Ist das klar?« Der Türsteher nickte verstört und starrte ihn aus weit auf gerissenen Augen an. »Was wird heute gefeiert, wie viele Vampire sind anwesend und gehört Alexander Raducanu zu den Anwesenden?« »Es gibt für die Feier keinen besonderen Grund, es sind etwa drei ßig von uns im Saal und ja«, der Vampir verfiel in nackte Panik, »mein Sire ist anwesend.« »Er ist dein Sire?«, fragte Farber erstaunt. »Schade, Pech für dich.« Ohne mit der Wimper zu zucken rammte er dem Vampir den Pflock ins Herz. Dieser schrie nicht. Er war viel zu erschrocken dar über, dass Farber sein Wort brach. »Was ist ein Sire?«, fragte Jasmin. »Und ich dachte, Sie lügen nicht.« »Solltest du heute Nacht noch gebissen werden und dich in einen Vampir verwandeln, ist der, der dich gebissen hat, dein Sire. Und was das Lügen betrifft …« Farber zuckte mit den Schultern. Inmitten der angesengten, teilweise verbrannten Kleidung und der sich langsam auflösenden Überreste der beiden Türsteher suchte
Farber nach der Magnetkarte für das Türschloss. »Da ist sie«, zischte er, als er sie endlich in den Händen hielt. »Weißt du, was ein point of no return ist?« Jasmin wusste es nicht. »Auf jeden Fall, mein Kind, werden wir ihn in wenigen Augenbli cken überschreiten.« Er zog die Magnetkarte durch den dafür vorgesehenen Schlitz neben der Tür …
* Jasmin folgte Farber in die Höhle des Löwen. Er schien keine Angst zu kennen und betrat den Saal ohne auch nur ein Anzeichen von Furcht – ganz so, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet. Der Saal war offenbar ein umgebauter Atombunker aus längst vergangenen Tagen. Die betongrauen Wände wirkten einfach nur Trostlos. Die Halle erstreckte sich auf einer Fläche von etwa ein tausend Quadratmetern und war zirka sechs Meter hoch. Neonröh ren in verschiedenen Farben erhellten den von der Außenwelt an sonsten hermetisch abgeschirmten Raum, laute Technomusik dröhn te in den Ohren. Einige der Vampire tanzten zu der Musik. Sie küssten sich, schleckten sich gegenseitig ab. Manche trugen dabei ihre dä monischen Gesichter offen zur Schau und schienen sich an ihren gegenseitigen, widerlichen Antlitzen zu ergötzen. Dies aber galt nicht für alle Vampire. Tatsächlich verhielt sich gerade einmal die Hälfte von ihnen so. Die anderen standen einfach nur da und beob achteten das Geschehen angewidert. Waren dies die alten Mitglieder des Clans? Am anderen Ende des Saals stand – Jasmin wollte ihren Augen
nicht trauen – ein goldener Thron, auf dem ein Mann das Geschehen belustigt verfolgte. An einer Hundeleine hielt er eine – Jasmin ver schlug es den Atem. An der Hundeleine hielt er eine nackte, weinende Frau! Sie musste zu seinen Füßen knien, Blut lief ihr über den Rücken. Hass stieg in Jasmin auf. »Unterdrück deine Gefühle«, raunte Farber. »Um Gottes Willen, unterdrück deine Gefühle!« Es war zu spät. Eine große Vampirin – die ihr dämonisches Ich stolz zur Schau stellte und deren fast nackter weißer Körper überall Deformationen durch Knochen aufwies, die sich offenbar durch ihr eigenes Fleisch pressen wollten – riss mit klauenartigen Händen Jas min an ihren langen, blonden Haaren. »Was haben wir denn da?«, fragte sie mit rauchiger Stimme und lächelte Jasmin an. Zwei Fangzähne wie die eines Säbelzahntigers blitzten. Ihr fauliger Atem nebelte Jasmins Sinne ein und weckten sie aus ihrer Lethargie, die sie dazu verdammt hatte, ausschließlich Farber zu folgen. Jasmin trug Nikolajs Waffe in der rechten Außentasche der Collegejacke. Sie umklammerte den Kolben, ihr Zeigefinger be rührte den Abzug. Es war an der Zeit, die Pistole zu benutzen. Sie richtete die Waffe auf die Vampirin, feuerte durch den Stoff. Die hässliche Vampirin wurde von den Beinen gerissen. Sie schrie auf. Eine Blutfontäne schoss Jasmin entgegen. Seelenruhig nahm die Prostituierte die Waffe aus der Jackentasche, richtete sie auf die am Boden liegende Vampirin, nahm ihr Herz ins Visier und feuerte ein zweites Mal. Die Kugel zerriss das Herz der Untoten, Rauch stieg auf, Schwefelgeruch erfüllte den Bunker. Die Musik stoppte, das Tanzen endete und ein Moment unheimlicher Stille erfüllte den Saal.
Farber fluchte leise. Er öffnete den Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke und ließ diese nur einen kurzen Augenblick später zu Boden gleiten. Unter ihr trug er einen schwarzen Pullover – und das Halfter mit dem Colt, einen Pflock und tatsächlich einer kleinen Uzi. Jasmin schluckte. Die Vampire auf der Tanzfläche blitzten sie aus roten und gelben Augen heraus an. Die Pistole fasste neun Kugeln. Zwei hatte sie abgefeuert, blieben sechs für die Vampire – und eine letzte für sie selbst. Ein Lachen durchbrach die Stille. Alexander Raducanu erhob sich von seinem Thron und tänzelte den Eindringlingen entgegen. Die Hundeleine ließ er fallen; die of fenbar menschliche Frau rollte sich zu einem Embryo zusammen. »Na, das ist ja mal eine wirkliche Überraschung«, rief er lachend. Jasmin gab es nicht gerne zu, aber Alexander Raducanu war ein sehr gut aussehender Mann. Hoch gewachsen war er, schlank und offenbar gut durchtrainiert. Sein Gesicht wirkte freundlich; dunkle, lange Haare, braune Augen, hohe Wangenknochen. Indirekt er innerte er Jasmin an den Darsteller eines Vampirs in einem Film, den sie vor einigen Jahren im Heim gesehen hatte. An dessen Namen erinnerte sie sich nicht. Raducanu trug einen schwarzen Designeranzug. Als Mensch wäre er ein Blickfang gewesen. Aber er ist kein Mensch, erinnerte sich Jasmin. Er ist eine abscheuliche Bestie. »Ich möchte ja nichts sagen, meine Lieben«, Raducanu sprach mit einem leichten romanischen Akzent, »aber wie habt ihr euch das hier vorgestellt? Sprich, Mädchen …« Jasmin erschrak. Warum sprach er ausgerechnet sie und nicht Farber an? Jasmin richtete ihre Waffe direkt auf den Anführer des Clans. Sofort machten sich einige der Vampire zum Sprung bereit – aber
Alexander erhob die Arme und deutete ihnen an zu warten. »Bitte, meine Liebe, bitte. Wir sind doch zivilisierte Geschöpfe. Außerdem habe ich eine Vorliebe für starke Frauen.« Er verbarg sein Lachen schamhaft hinter seinen Händen. »Ja, ja, starke Frauen. Hast du schon meine Freundin Alice gesehen? Nein?« Er erhob seine Stimme. »Alice, machst du bitte einmal Männchen.« Die geschundene, nackte Frau, die vor seinem Thron kauerte, schluchzte laut auf. »Alice ist seit drei Monaten bei uns. Sie ist eine Vampirjägerin. So wie du, kleines Fräulein. Ist hier hereingetanzt und hat geglaubt, die große Heldin spielen zu können. Und nun schau dir an, was aus ihr geworden ist. Sie bringt mir keinen Spaß mehr, sie ist, wie lautet noch einmal dieses deutsche Wort, das ich mir nie merken kann …« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und flanierte vor Jasmin auf und ab – offensichtlich ohne sich über die auf ihn gerich tete Waffe ernsthaft Sorgen zu machen. »Genau, ich habe es: Sie ist kaputt …« Jasmins Blicke wanderte nervös umher. Links von ihr standen sieben oder acht Vampire bereit zum Sprung, vor ihr machte sich Raducanu über sie lustig. Hinter ihr beobachteten die Vampire das Geschehen, die nicht getanzt hatten und zu ihrer Rechten stand Farber – mit vor dem Brustkorb verschränkten Armen! Dies schien auch Raducanu zu irritieren. Er wandte den Blick von Jasmin ab und tänzelte auf Farber zu, der die Szene irritierend ge langweilt beobachtete. »Na gut, wenn das kleine Mädchen nicht sprechen kann, sei du doch bitte so nett und sag mir, ob ich das richtig sehe, mein Lieber. Ihr beiden habt euch gedacht, ihr kommt mal vorbei, killt ein paar Vampire und protzt anschließend vor eu ren Jägerfreunden damit, wie ihr den guten, alten Alexander gekillt habt. Habe ich Recht?« Farber schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dass das so nicht ganz richtig ist«. Er winkte ab und
tänzelte nun seinerseits leichtfüßig auf den Anführer des Clans zu. Seine Fingernägel verwandelten sich in spitze Krallen, die sicher jede Art von Fleisch mit nur einem Hieb in Stücke reißen konnten. »Tatsächlich habe ich mir gedacht, ich komme mal vorbei, fordere den Anführer dieses Clans zum Duell heraus, verwandle ihn in Asche und werde dann sein Nachfolger. Damit«, rief Farber la chend, während ihm lange Reißzähne aus dem Oberkiefer wuchsen, »hast du jetzt wohl nicht gerechnet, oder?«
* Jasmin erstarrte. Farbers Gesicht verformte sich zu einer grässlichen, weißen Fratze, die Augen verfärbten sich in rot glühende Lavasteine, während dir Fingernägel mehrere Zentimeter wuchsen und seine Hände in sche renartige Krallen verwandelten. Raducanus Jünger spürten ebenso wie Jasmin, dass die bislang un beteiligten Nachtwandler ihrerseits ihre menschliche Gestalt gegen die ihres dämonischen Ichs austauschten – keinesfalls aller um Alex ander Raducanu zu verteidigen. Farbers Einschätzung der Lage hatte den Nagel auf den Kopf ge troffen. Die alten Clanmitglieder hassten ihren Anführer. Ein Clan, der im Seven Seasons residierte, verfügte über Geld und Macht. Macht, die Raducanu an sich gerissen hatte. »Schnappt euch diesen Eindringling!«, spukte Raducanu seine Jünger an, verwandelte sich selbst in einen Blut saugenden Dämon und – nichts geschah. Seine Jünger verweilten in Erstarrung, während sich die alten Clan-Mitglieder sehr wohl zum Sprung bereit machten. Und mittendrin stand Jasmin, zwischen allen Fronten; ein Mensch zwischen sich hassenden Vampiren. Eine schlechtere Ausgangssi
tuation konnte es für sie gar nicht geben. In genau diesem Moment sprang Raducanu. Er warf sich mit aus gestreckten Armen auf seinen Herausforderer, der wie eingefroren wirkte und sich nicht bewegte, sondern ganz einfach auf den Auf prall zu warten schien. Raducanus Klauen zuckten vor und fuhren ins Leere. Farber hatte sich zu Boden fallen lassen und ließ seinen Gegner über sich hinwegstolpern. Im nächsten Augenblick erhob er sich blitzschnell und nahm zur Überraschung aller wieder sein menschli ches Antlitz an. »Weißt du, was John Wayne einmal über Helden gesagt hat?« Farber grinste. Er genoss diesen Augenblick in vollen Zügen. »Ein Held kämpft so lange fair, wie ihm dies möglich ist. Und unfair, wenn ihm keine andere Chance mehr bleibt.« Plötzlich hielt er die Uzi in der Hand, krümmte den Zeigefinger – und entfachte ein Stakkato von einhundert Kugeln, das in weniger als drei Sekunden den Körper von Alexander Raducanu in kleine Stückchen zerfetzte!
* Jasmin saß auf dem weichen Bett in ihrem Zimmer des Seven Sea sons Hotels. Verlassen konnte sie den Raum nicht. Sie war eine Gefangene – oder zumindest ein Gast ohne das Privileg, gehen zu dürfen. Mit einem Mal öffnete sich die Tür und Farber trat ein. Er wirkte fröhlich und vollkommen entspannt. »Sie sind also einer von denen«, stellte Jasmin konsterniert fest. »Ein Dämon.« Farber setzte sich zu ihr und nahm zu ihrer Überraschung ihre Hand. »Du weißt wie das ist, wenn man keine Familie hat, Jasmin.
Ich habe einen Clan gesucht, dem ich mich anschließen konnte und ich habe einen gefunden.« »Sind diese Bestien jetzt ihre Familie?« »Besser noch.« Farbers Augen strahlten. »Ich bin ihr Oberhaupt und«, er beugte sich vor und flüsterte: »das Oberhaupt eines kleinen Clans mit hervorragenden Kontakten und einem nicht zu un terschätzen Einfluss auf Politik und Wirtschaft in dieser Stadt.« Er streichelte ihre Wangen. »Hätten Sie sich dem Clan auch angeschlossen, wenn er einfach nur aus Mördern wie Raducanu bestanden hätte?« Farber schloss die Augen. »Ich weiß es nicht, Jasmin. Ich weiß es wirklich nicht.« »Was passiert mit Raducanus Anhängern. Und mit der Jägerin?« »Die Anhänger können sich mir anschließen oder gehen. Die Jä gerin ist meine Feindin, aber ich werde sie verschonen.« »Und was ist mit mir?« Farber lachte. »Erinnerst du dich: Ich habe dir versprochen, dass du diese Nacht als Mensch überleben wirst. Ich habe dieses Verspre chen gehalten. Aber ich kann dir mehr als nur dein Leben bieten. Ich biete dir Unsterblichkeit. Unsterblichkeit als Mitglied einer mächtigen, einflussreichen Familie …« »Deren Oberhaupt jederzeit von einem unzufriedenen Familien mitglied oder Fremden ermordet werden kann?« »Perfekte Familien existieren nur in Märchen, Jasmin. Wie ent scheidest du dich?« Jasmin schüttelte den Kopf. Tränen bildeten sich in ihren Augen. Weinend schmiegte sie sich an Farber. Zärtlich schloss er sie in die Arme … ENDE