Das unheimliche Medium
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 144 von Jason Dark, erschienen am 30.03.1993, Titelbild: Mar...
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Das unheimliche Medium
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 144 von Jason Dark, erschienen am 30.03.1993, Titelbild: Mark Harrison
Nichts wies auf das Unheil hin - gar nichts! Weldon, der verschlafene Ort, lag unter der friedlichen Stille einer Herbstnacht begraben. Bis es geschah. Von einem Augenblick zum anderen entstand das Inferno aus Blitzen und tobte über dem Dorf. Minutenlang dauerte das »Unwetter« an. Danach war alles anders. Weldon war zu einem Geisterort geworden, in dessen Mitte jemand saß der dies alles zu verantworten hatte. Ein unheimliches, gefährliches Medium. Und in dieser unheilschwangeren Nacht erreichte ein Fremder den Ort. Der Mann war ich!
An diesem herrlichen Herbstabend war Vincent Miller so zufrieden wie seit langem nicht mehr. Er hätte singen und jubeln können, denn die drei mit Touristen gefüllten Busse aus Germany hatten seine Kasse so richtig klingeln lassen. Himmel, was hatten die Leute eingekauft! Alle möglichen und unmöglichen Dinge, besonders englische Schokolade, als hätten sie nie andere gegessen. Jedenfalls war der Verdienst des Lebensmittelhändlers erheblich gestiegen, und der Witwer dachte daran, diesen ausgehenden Tag zu feiern. Ins Wirtshaus gehen, sich was gönnen, auch mal eine Runde schmeißen, das war es doch, was die Leute im Ort liebten. Schließlich gehörte er als Kaufmann zu den Besserverdienenden. Zuvor aber mußte er eine Bestandsaufnahme machen. Er hatte die große Kladde hervorgeholt, das Licht eingeschaltet und ging mit der Kladde in der linken und dem Kugelschreiber in der rechten Hand an den Regalen entlang. Es war ja nicht nur Schokolade gekauft worden, auch andere Ware war weggegangen wie warme Semmeln. Sogar Konserven, die er zwischendurch schnell noch abgestaubt hatte. Es war ihm auch dank seiner Geschicklichkeit gelungen, sie aus dem Bereich der Sonderangebote herauszunehmen. Er kicherte. Eine diebische Freude breitete sich in seinem Innern aus, und in seinen Augen lag der Glanz, der immer dann auftrat, wenn jemand ein dickes Geschäft gemacht und andere dabei etwas übers Ohr gehauen hatte. Ein schlechtes Gewissen hatte er dabei nicht. Die Horde würde nicht wiederkommen. Sie hatten es alle eilig gehabt, weil sie noch am selben Tag die Fähre in Dover erreichen wollten. Ja, das waren tolle Stunden gewesen. Plötzlich war seine Euphorie verschwunden. Er stand vor der Kühltheke, die nur zur Hälfte gefüllt war, weil es kein einziges Eis mehr gab. Die Veränderung traf ihn wie ein Schlag. Miller wußte selbst nicht, was mit ihm geschehen war. Er stand vor der Theke, starrte hinein, wollte die Waren zählen und brachte keine Addition zustande. Zunächst nahm er das nicht so tragisch, er lachte sogar über sich selbst, doch das Lachen verging ihm bald. In seiner Kehle spürte er ein dumpfes Gefühl, als wäre vom Magen her eine Faust in die Höhe gedrungen und auf halbem Weg steckengeblieben. Etwas war nicht in Ordnung! Er schluckte, der Kloß blieb. Miller räusperte sich. Vergeblich. Dann fluchte er und lauschte seiner Stimme, die sich so fremd und rauh anhörte. Auf seinem Kopf wuchsen nur wenige Haare. An den meisten Stellen schimmerte die blanke Haut durch, und sie wiederum war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt, was er auch nicht begriff, denn so
warm war es in seinem Geschäft nicht. Da konnte eigentlich niemand ins Schwitzen kommen. Es lag also nicht an der äußeren Temperatur, sondern an der inneren. An seiner eigenen Instabilität, für die er eine Erklärung suchte. Vielleicht waren die letzten Stunden doch etwas zu hektisch gewesen. So etwas war er einfach nicht gewohnt. Er hatte sich abgehetzt, aber es hatte ihm Spaß gemacht, auch deshalb, weil er nicht mit den Dorfweibern quatschen mußte, die zwar regelmäßig kamen, aber nur wenig kauften. Die Kladde kam ihm sehr schwer vor. Er legte sie weg. Es ging ihm nicht besser, im Gegenteil, er spürte den Schweiß auch auf seinem Gesicht und hörte, wie er schwer und seufzend Atem holte. Die Dinge in der Truhe verschwammen vor seinen Augen. Er konnte das Paket mit dem Rotkohl nicht von dem mit dem Spinat unterscheiden. So etwas war noch nie vorgekommen. Da konnte doch einer mit dem Hammer reinschlagen, das war schlimm. Miller hatte einen Punkt erreicht, wo er nicht mehr weitermachen wollte. Er mußte sich ausruhen. Seine Wohnung lag über dem Geschäft. Vom Laden her führte eine Wendeltreppe hoch. Mit der rechten Hand fuhr er über seinen Kopf und verteilte die wenigen Haare. Lag es am Wetter? Möglich, denn für die Jahreszeit war es schon zu warm. Einige Experten rechneten sogar mit schweren Stürmen und Unwettern, die aber sollten erst in einigen Tagen über das Land brausen. So hatte er also noch Zeit. »Mist!« keuchte er. »Verdammter Mist!« Er ging einige Schritte und zog seine Füße dabei nach. Immer wieder verfiel er in Grübeleien, starrte zu Boden und blieb schließlich vor den drei Stufen der kleinen Treppe stehen, die zur Wohnungstür führten. Danach mußte er eine normal lange Treppe hochgehen, um in seine drei Zimmer zu gelangen. Da es in dem Haus keinen Keller gab, hatte er sich den Flur zu einem Lager ausgebaut. Die kleine Treppe erschien ihm unüberwindlich. Er atmete heftig, Schwindel überkam ihn, er mußte sich festhalten, griff einmal daneben und warf einen Stapel mit Toilettenpapier-Rollen um. Die hatte natürlich keiner gekauft. Er hob sie nicht auf. Zu schwach war er. Ihn lockte das Bett. Nur die Tatsache, sich bis dorthin schleppen zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Deshalb blieb er erst einmal stehen. Dann hörte er das dumpfe Geräusch. Dreimal hintereinander klang es auf. Es riß ihn aus seiner Erstarrung, er schrak zusammen und drehte mit einer unendlich müden Bewegung den Kopf nach links. Jetzt konnte er gegen die Tür schauen. Ihr Glaseinsatz wurde von einem Metallrahmen umschlossen. Auch die Außenleuchte brannte noch. Ihr Licht fiel auf die Gestalt einer Frau. Miller kannte sie. Es war Chrissy
Norman, eine Nachbarin. Sie wohnte gegenüber, war nie verheiratet gewesen und hatte ein Auge auf ihn geworfen. Da sie schon auf die Sechzig zuging und Miller junge Frauen bevorzugte, war sie für ihn uninteressant. Nicht in diesem Fall. Er freute sich jetzt, daß sie an der Tür erschienen war. Es war durchaus möglich, daß er in den folgenden Sekunden Hilfte brauchte. Mit sehr langsamen Schritten bewegte er sich an dem Regal entlang und auf die Tür zu. Beim Näherkommen stellte er fest, daß sich Chrissy gegen das Glas gelehnt hatte. Sie wirkte erschöpft. Der Schlüssel steckte von innen. Miller brauchte ihn nur einmal herumzudrehen, dann war die Tür offen. Er zog sie auf. Fast wäre Chrissy Norman in den Laden hineingestolpert. Soeben konnte sie sich noch fangen und stützte sich glücklicherweise nicht bei Vince Miller ab. Keuchend blieb sie stehen. Sie stierte nach vorn. Ihr graues Haar sah ungekämmt aus. Das verwaschene Kleid machte sie auch nicht attraktiver. Die spitze Nase stach wie ein Dolch aus ihrem Gesicht, und die dünnen Lippen zitterten. »Was ist denn los, Chrissy?« Miller wunderte sich, wie schwer es ihm fiel, den Satz zu sprechen. »Weiß nicht, weiß nicht…« »Dir geht es schlecht.« »Ja…« »Mir auch.« Es dauerte eine Weile, bis die Frau den Sinn der Antwort begriffen hatte. Dann hob sie den Kopf und blickte den Kaufmann an. »Dir auch, Vince? Dir auch?« »Ja.« »Seit wann?« Sie lehnte sich gegen die schräge und völlig leere Gemüsetheke. Im bleichen Licht sah ihr Gesicht aus wie das einer Leiche, doch Miller gab zu, daß er bestimmt keinen besseren Anblick bot. »Seit«, er schluckte, »seit ungefähr fünf Minuten.« Chrissy quälte sich ein heftiges Nicken ab. »Ja, Vince, da begann es bei mir auch.« »Und so plötzlich?« »Sicher. Wie angeflogen.« Beide schwiegen. Sie überlegten, keiner kam zu einem Ergebnis. Nur Miller stellte die Frage. »Sag mal, hast du denn schon darüber nachgedacht?« »Dazu bin ich noch nicht gekommen.« »Quatsch.« »Wieso? Glaubst du mir nicht?«
»Richtig. Sonst wärst du hier nicht aufgetaucht. Man sieht dich doch sonst nicht in der Dämmerung.« »Ja, du hast recht. Das ist auch das Problem, draußen.« Sie betonte das Wort besonders. »Plötzlich, verstehst du, hat sich draußen alles verändert.« Er runzelte die Stirn. »Da komme ich nicht mit. Was soll sich denn verändert haben?« Sie sprach jetzt schnell, als hätte sie sich erholt. Dabei war es nur der Drang, etwas loszuwerden. »Die Luft, Vince, die verdammte Luft hat sich völlig verändert. Sie… sie ist so anders geworden.« »Wie denn?« Die Frau starrte ihn an. Ihre Augen sahen dabei aus wie graue Kugeln. »Das kann ich dir so genau auch nicht sagen. Ich weiß nur, daß sie sich verändert hat. Sie ist viel klarer geworden, reiner.« Er wollte grinsen und widersprechen, aber beides mißlang ihm. Statt dessen nickte er, ohne sich dessen bewußt zu werden. Chrissy Norman gab nicht auf. »Komm mit, Vince. Komm raus aus deinem Laden.« »Was soll ich draußen?« »Atmen«, sagte sie betont. »Du sollst nur atmen, dann wirst du es spüren, und ich bin sicher, daß es dir kalt den Rücken runterläuft.« »Meinst du?« Sie faßte ihn an. Er spürte den Druck dicht unter dem Ellbogen. Als die Frau näher kam, roch er ihren Schweiß, aber er gab seinen Widerstand auf und ließ sich vor die Tür zerren. Besser ging es ihm nicht. Die beiden kamen sich vor wie Greise, und als sie endlich nach wenigen Schritten stehenblieben, mußten sie erst einmal tief durchatmen. Vor ihnen lag die Dorfstraße. Eingehüllt in die schiefergrauen Schatten der Dämmerung, die eine sonst so normale Gegend so fremd erscheinen ließen. Es wehte kein Wind. Dennoch kam es den beiden vor, als würden sich fremde Gestalten bewegen und durch die Büsche der Vorgärten huschen. Und dann der Himmel. Ungewöhnlich sah er aus in der Dämmerung, wie ein unendlich erscheinender Flickenteppich. Chrissy Norman stellte eine Frage. »Na, was sagst du?« »Nichts.« Das verstand die Frau nicht. »Das ist nicht unsere normale Luft, Vince. Nein, das ist sie nicht. Du mußt mal tief durchatmen, dann wirst du es merken. Außerdem ist das Licht so seltsam.« Miller hob die Augenbrauen. Er wußte nicht, was er zu Chrissys Ausführungen sagen sollte. Er empfand nicht so. Auch weil er zu stark auf sich selbst konzentriert war. Es ging ihm auf keinen Fall besser. Der Kreislauf war äußerst schwach, und in seinem Kopf spürte Miller das
Brummen. Immer wieder hatte er das Gefühl, der Kopf würde anschwellen. Stiche durchtosten ihn, und hinter den Augen lag ein harter Druck. Er war blaß geworden. Wäre Chrissy Norman nicht bei ihm gewesen, hätte er schon längst den Rückzug angetreten, so aber blieb er stehen, tat wie ihm geheißen und öffnete den Mund weit. Er atmete ein dann aus – und stöhnte! Das alarmierte die Frau. »Was hast du?« Miller senkte den Kopf. Er keuchte. Er spie aus. Chrissy trat zurück. »Ich habe geatmet«, flüsterte er. »Ja, verdammt, ich habe geatmet, und dann spürte ich das Brennen im Hals. Verstehst du? Ich habe ein Brennen gespürt. Es ist wie Säure gewesen, es glühte in der Kehle, als wäre meine Haut verätzt.« Die Frau sagte zunächst nichts. Schließlich hob sie die Schultern. »Das muß eben an diesem Wetterliegen. Die haben ja schon eine Änderung vorausgesagt.« »Aber nicht so eine.« »Was meinst du damit?« »Das ist keine Luft mehr, keine normale.« Miller strengte sich an, um zu sprechen. »Das ist einfach furchtbar. Ich komme da nicht mit. Ich kann es nicht fassen.« Chrissy schlug ein Kreuzzeichen. Normalerweise hätte der Kaufmann darüber gelacht, in diesem Fall ließ er es bleiben. Er sah ihr Profil wie eine scharfe Zeichnung. »Da kommt etwas auf uns zu, was grauenhaft ist. Ich spüre es, Vince, ich spüre es bis in die Tiefen meiner Knochen hinein. Das ist grauenhaft. So etwas hat unser Ort noch nicht erlebt. Das ist das Unheil!« Sie deutete gegen den Himmel. »Und er gibt uns eine Warnung. Schau dir nur die Wolken an, wie sie dahintreiben und sich ständig verändern. Sie werden an einigen Stellen von Licht durchflutet. Da schiebt sich die Helligkeit in das Dunkle hinein. Es ist wie ein Gleichnis. Das Gute gegen das Böse, Vince, aber das Böse wird verlieren.« Miller gab keine Antwort. So apokalyptisch sich diese Voraussagen auch angehört hatten, er widersprach nicht. Er wußte auch nicht, was er hätte sagen sollen. Noch immer war die Luft klar. Klar und irgendwie scharf. Sie biß in die Kehlen und Schleimhäute hinein, sie war so unnormal, sie schien auch aufgeladen zu sein. In Weldon war es still. Die beiden Menschen hörten keine Stimmen. Alle Einwohner schienen zu wissen, daß sich etwas anbahnte, nur traute sich keiner nachzuforschen oder etwas zu unternehmen. Man blieb still, man verhielt sich abwartend, die Angst drückte. »Geht es dir wieder besser?«
»Kaum«, flüsterte Miller. »Ich will auch nicht mehr länger hier herumstehen, sondern ins Bett, aber ich muß noch die verfluchte Treppe hoch. Wird nicht einfach sein.« »Soll ich dir helfen?« »Nein, laß das mal. Du bist auch nicht gut dran. Ich an deiner Stelle würde wieder nach Hause gehen. Wir schließen uns in den Häusern ein. Vielleicht können wir uns vor der anderen Luft abschirmen.« Chrissy Norman sagte nichts. Sie hatte den Kopf leicht zurückgelegt, um gegen den Himmel schauen zu können. Genau dort spielte sich das schon unheimliche Geschehen ab. Die langen Schatten der Wolken waren in Bewegung geraten. Der Wind blies in sie hinein, er türmte sie hoch, zerrte sie auseinander, er brachte sie wieder zusammen. Unsichtbare Arme rissen an allen Ecken und Enden, doch es waren nur die Vorboten des Kommenden. Denn urplötzlich stand der Himmel in Flammen! *** Chrissy Norman schrie auf. Sie hatte den Schrecken gesehen. Sie wollte ihn nicht mehr allein erleben, ging zwei Schritte zur Seite und umklammerte Millers Handgelenk. Für diese Frau war es der Schrecken gewesen, denn der Himmel hatte sich innerhalb kurzer Zeit völlig verändert. Zwar war die Düsternis geblieben, sie aber wurde zerschnitten von unzähligen grellen und hellen Blitzen, die sich über dem Ort Weldon entluden. Sie waren einfach da, sie drangen aus den nahen Wolken und aus der Unendlichkeit des Alls, um sich an einem bestimmten Punkt zu vereinen, wo sie sich zu einem grellen Muster zusammenfanden. Ein Spinnennetz aus Energie lag über dem Dorf. Fahles Dunkel, künstliche Helligkeit wechselten sich gegenseitig ab. Die Natur spielte verrückt, und es gab auch keinen Donner. Also gehörten die Blitze nicht zu einem Gewitter. Sie waren einfach ein Phänomen! Die langen Lichtspeere jagten sich gegenseitig. Sie tobten sich aus, sie brachten den Schrecken, sie waren kalt, als wären Eislanzen geschleudert worden. Sie veränderten ständig ihre Richtungen, und es gab einfach keinen zentralen Punkt, von dem sie gekommen wären. Ihr Tanz wurde zu einem lautlosen, makabren Reigen, und sie machten den Ort dank ihrer Bleichheit zu einer regelrechten Gespensterstadt, über und durch die bleiche Schatten huschten, eben die Reflexionen der Energien. Obwohl der Schrecken vorhanden war, spielte er sich mit einer perfekten Lautlosigkeit ab. Er rollte am Himmel ab wie ein Film, ein Geistertanz aus Energien. Bilder, Szenen, schaurige Gestalten, das alles in den dunklen
Himmel gezeichnet und gleichzeitig auf die Erde niederrasend. Mit unheimlicher Wucht jagten die Blitze auf den Ort nieder. Sie trafen, aber sie trafen doch nicht. Sie huschten vorbei, sie sorgten für das bleiche Gespenstertum, und sie schienen die Schatten der Leichen aus den Gräbern als bleiche Gestalten in den Himmel zu schleudern. Manchmal schufen sie auch Figuren, die dann aussahen, als wären sie mit einem spitzen Stift in den Himmel gezeichnet. Sie fuhren aufeinander zu, sie stießen zusammen, um einen Moment später ihre neugebildete Formation wieder zu zerreißen. Die beiden einsamen Zuschauer standen vor dem Geschäft des Kaufmanns. Sie hielten sich an den Händen gefaßt und waren sprachlos. Sie waren erschreckt und fasziniert zugleich. In ihren Gesichtern stand die Furcht wie eingemeißelt. Sie wurden selbst von der Blässe des sie treffenden Lichts nicht verwischt, und jede Falte wirkte dadurch noch tiefer. Am Himmel tobten sich die Energien aus. Immer mehr Blitze entstanden. Sie bildeten über dem Ort ein zuckendes, grelles Dach. Einen harten Wirbel, scharf gezeichnete Striche und Netze, einen irren Reigen, der immer mehr Nachschub bekam und das Netz dichter zog. So hatten sie Weldon noch nicht erlebt. Ihnen kam es vor, als wären Hunderte von Fotografen dabei, gleichzeitig abzudrücken, um jedes Haus aufzunehmen. Ihr Dorf glich im Blitzgewitter einer Projektion des wahren Bildes. Bäume schimmerten, als wären ihre Aste und Zweige mit einer silbrigen Eisschicht belegt. Ebenso wirkten die Dächer und Wände der Häuser. Über die Straße huschte das grellweiße Licht, verschwand wieder, tauchte erneut auf, glitt zurück in die tiefe Dämmerung, war dann wieder da, denn die Natur holte nur in kurzen Stößen Atem. Sie konnten auch nicht sehen, ob sich das Lichtgewitter nur auf einen bestimmten Punkt konzentrierte. Sie waren einfach überall. Schräg, gerade, von oben oder von der Seite her kommend rissen sie immer wieder Löcher in die fahle Dämmerung hinein. Auch das Haus des Kaufmanns wurde getroffen. Die Blitze verwandelten es in ein Geisterhaus. Seltsamerweise schlugen sie nicht ein. Sie zerstörten nicht, sie legten nichts lahm. Und dann waren sie weg, genauso schnell, wie sie erschienen waren. Plötzlich zeigte sich der Himmel wieder normal. Als eine riesige Fläche lag er über dem Land. Glatt, kaum noch mit Wolkenstreifen bedeckt, zumindest waren diese nicht zu sehen, eine kalte, glatte Düsternis. Fast gemeinsam atmeten Chrissy Norman und Vince Miller aus, als hätten sie sich abgesprochen. Die Hand der Frau rutschte aus der des
Mannes, er bemerkte es nicht einmal. Miller starrte noch immer gegen den Himmel, aus dem jedoch kein Blitz mehr hervorjagte. »Sie sind weg!« Chrissy Norman sprach mit tonloser Stimme. »Sie sind nicht mehr da.« Miller schwieg. »Es ist so dunkel.« Miller blieb noch immer stumm. Chrissy wollte dies ändern und stieß den Mann in die Seite. »He, hast du nicht gehört? Die Blitze sind weg! Der Himmel ist dunkel. Schau hin, da wirst du nichts sehen.« Er nickte. »Warum sagst du denn nichts?« Endlich öffnete er den Mund. Doch seine Bemerkung klang wenig optimistisch. »Es ist so dunkel, so furchtbar dunkel. Siehst du es nicht? Es brennt kein Licht mehr.« Er hatte die Wahrheit gesagt. Erst durch seine Worte war die Frau aufmerksam geworden und hatte die Erinnerung an den unheimlichen Vorgang aus ihrem Gedächtnis getrieben. Dunkel… Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Die Dunkelheit war ihr ja nicht fremd. Sie gehörte zur Nacht, die den Tag ablöste. Aber diese hier war anders, ganz anders, und das hatte auch seinen Grund. Nirgendwo brannte Licht. Keine Laterne, keine Lampe in den Häusern. Alle Fenster lagen im Dunkeln. Auch die Leuchte über der Tür des Geschäftes hatte ihren Geist aufgegeben. Nichts war mehr zu sehen. Die Häuser und Bäume auf der gegenüberliegenden Seite sahen aus wie Zeichnungen, die nachträglich noch einmal übertüncht worden waren. Ansonsten lag die Dunkelheit über Weldon, und sie war auch nicht normal. Chrissy sah sie als eine scharfe Schwärze an, die so glatt wie eine Mauer war. »Das ist… das ist…«, sie rang nach dem richtigen Wort, das ihr nicht einfiel. »Unheimlich!« flüsterte Vincent Miller. »Es ist unheimlich.« »Ja, du hast recht, Vince.« »Mir kommt es vor, als wären wir von einer anderen Macht überfallen worden.« Er deutete in die Höhe. »Da, ganz oben. Sehr hoch. Unerreichbar hoch, da müssen sie gelauert haben.« »Wer denn?« »Die Raumschiffe der anderen Macht, Chrissy.« Er nickte heftig. »Ja, wir sind überfallen worden. Das ist einfach schrecklich. Sie lauern schon. Sie haben ihre Raumschiffe angehalten und die Energien auf Weldon gestreut. So und nicht anders ist es gewesen.« »Meinst du?«
»Davon bin ich überzeugt.« Er nickte heftig. »Es gibt keine andere Erklärung.« Sie hob die Schultern. »Ich würde dir ja gern glauben, aber ich kann es nicht. Das ist mir zu suspekt. Damit kann ich nichts anfangen. Im Fernsehen habe ich so etwas gesehen, wenn sie mal einen der komischen Filme zeigten.« »Das hier war kein Film, das war Realität, Chrissy, und wir haben sie erlebt.« Er wischte die Lippen ab. »Wir sind die Zeugen einer Invasion aus dem All geworden. Ich sage dir das, und ich habe auch recht, meine Liebe.« »Meinst du?« »Ja, sehr genau.« »Aber ich sehe keinen«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, wo sind denn deine komischen Ungeheuer?« Er lachte auf. »Sie werden kommen, keine Sorge. Sie werden bald hier erscheinen.« Die Frau schaute zum Himmel. Sie hatte sich stark beeinflussen lassen und suchte nach den Raumschiffen, die aber nicht zu sehen waren. Der Himmel blieb unbeweglich und beinahe tintenschwarz. Waren vor dieser Erscheinung Sterne und auch der Mond zu sehen gewesen? Sie überlegte, doch sie kam zu keinem Resultat. Komisch, Chrissy konnte sich nicht daran erinnern. »Er hat den Strom unterbrochen«, sagte Miller. »Das ist eben so, wenn sie kommen.« »Deine Wesen?« Chrissy Norman verzog den Mund zu einem säuerlichen Grinsen. »Ja. Ich habe es so gesehen.« Sie schaute ihren Nachbar an. Er stand so steif wie eine Figur auf dem Fleck. Kein Lächeln um die Lippen, kein Blinzeln in den Augen, und sie mußte feststellen, daß Miller sehr wohl an all das glaubte, was er ihr da gesagt hatte. Nicht, daß sie sich vor ihm gefürchtet hätte, ein wenig komisch war ihr schon, denn so hatte sie den Kaufmann von gegenüber noch nie erlebt. Chrissy Norman suchte nach einem anderen Thema. »Sag mal, Vince, wie fühlst du dich eigentlich?« »Warum?« »Ich meine, du hast dich doch schlecht gefühlt. Warst matt und schwach – oder?« »Ja, das stimmt. Aber jetzt geht es mir besser. Viel besser sogar.« Um seine Worte zu unterstreichen, drehte er sich ihr mit einer scharfen Bewegung zu, und er fühlte dabei keinen Schwindel. Es ging ihm wieder gut, wenn nicht sogar ausgezeichnet. Die Bedrückung lag hinter ihm. Wenn nur nicht die Dunkelheit gewesen wäre. Er strich über seine Stirn,
als wollte er einen Schleier vertreiben, der seine Gedanken festhielt. »Weißt du, was schlimm ist?« »Nein.« »Ich habe vergessen, was wir Menschen tun und wie wir handeln müssen, wenn die Außerirdischen uns besuchen. Es gibt da bestimmte Regeln. Ich kenne sie, ich habe darüber gelesen, aber sie wollen mir nicht mehr in den Sinn. Es ist zu lange her, ich habe sie einfach vergessen. Komisch, nicht wahr?« »Kann ich nicht behaupten.« Chrissy ging einen Schritt zurück. »Wenn du meinst, dann denke nach. Die Nacht ist noch lang. Du kannst ja im Kerzenschein nach dem Buch suchen.« »Das ist eine gute, sogar sehr gute Idee. Das werde ich auch tun«, sagte er lächelnd. »Gut, ich gehe dann.« Sie trippelte zurück, den Blick auf Vince Miller gerichtet, der sie überhaupt nicht wahrnahm und nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war. Er hat sich verändert, dachte die Frau. Er hat sich tatsächlich nach diesem Blitzgewitter verändert. Er ist längst nicht mehr der alte. Was soll das noch werden! Und sie fragte sich, ob auch sie sich so stark verändert hatte. Eigentlich nicht, denn ihr ging es wieder besser. Die Schwere war aus ihren Gliedern gewichen, sie konnte wieder normal durchatmen, und sie wollte schnell zurück in ihr Haus, vor dessen Größe sie sich plötzlich fürchtete. Allein in so vielen Räumen, bei dieser bedrückenden Finsternis, und es würde ihr wohl kaum gelingen, mit einer Freundin zu telefonieren, denn die Energieversorgung war eben lahmgelegt worden. Zu Ciaire hinlaufen wollte sie auch nicht. Der Weg war ihr zu weit, denn sie wohnte am anderen Ende von Weldon. Den Kaufmann sah sie nicht mehr, denn die Dunkelheit hatte ihn längst verschluckt. Da irrte sie, denn der Kaufmann war zurück in seinen Laden gegangen. Trotz der Fülle und der im Weg stehenden Regale bewegte er sich traumhaft sicher, denn dies war seine Welt. Er wußte auch, wo die Kerzen lagen. Ziemlich weit unten, in einer der Schubladen. Er bückte sich und holte ein halbes Dutzend der langen Kerzen hervor. Er steckte sie in die rechte Tasche seines weißen Kittels, wo sich auch das Feuerzeug befand. Ziemlich schnell richtete er sich auf. Nicht den leichtesten Schwindel spürte er. Es kam ihm vor, als hätten die Blitze sein Unwohlsein vertrieben. Seine Gedanken bewegten sich wieder klar und scharf. Mühelos überwand er die drei Treppenstufen, stieß die Tür zum Flurlager auf und stieg in die erste Etage hoch. Auf dem Absatz vor seiner Wohnungstür hielt er inne und entzündete den Docht der ersten Kerze. Die Flamme beleuchtete auch das Schloß, in das er seinen
Schlüssel schob. Er drehte ihn nur um eine Idee nach links, dann öffnete sich die Tür mit einem leisen Schnacken. In der Diele entzündete Miller den zweiten Docht. Beide Kerzen in der Hand schritt er auf das Wohnzimmer zu. Der flackernde Schein huschte ihm voraus. Er ließ große Schatten entstehen, die wie lautlose Ungeheuer an den Wänden entlangstrichen. Auf dem braunen Holztisch stand ein buntbemalter Teller. Auf ihn ließ er einige Tropfen Wachs fallen, bevor er die Kerze hineindrückte und somit für einen guten Stand sorgte. Die zweite stellte er auf den kleinen Beistelltisch mit der Marmorplatte und den krummen Eisenbeinen, verteilte die anderen ebenfalls und fühlte sich in seiner Wohnung plötzlich sehr wohl. Er setzte sich hin. Der Sessel war weich, er sank hinein. Hier wollte er die nächste Zeit verbringen und genau über das unheimliche Geschehen nachdenken. Es war schon ein besonderes Ereignis gewesen. Nicht nur besonders, einmalig. Das Jahrhundertereignis! Davon konnten andere Orte, auch größere, nur träumen. Er mußte nur dafür Sorge tragen, daß die Menschen hier auch richtig reagierten und bereit waren, alles zu akzeptieren. Dafür würde er sorgen. Er würde so lange reden, bis allen in Weldon klargeworden war, daß sie hier den ersten Kontakt mit einem Außerirdischen erlebt hatten. Ja, das war gut, das war sogar sehr gut. Aber zuvor mußte er sich kundig machen. Miller dachte an das Buch. Wo hatte er es nur hingelegt? Bevor er mit der eigentlichen Suche begann, wollte er nachdenken, und er fing beim Tod seiner Frau an. Damals hatte er aufgeräumt, verschiedene Dinge, die ihm nicht wichtig erschienen waren, zur Seite geräumt. Nur – wohin? Er lachte selbst, als er sich die Frage stellte. Hier im Raum lag das Buch nicht. Vielleicht im Schlafzimmer. Miller erinnerte sich daran, daß er eine Hälfte des Kleiderschranks ausgeräumt hatte. Die Kleidungsstücke hatte er verschenkt, und so war im Schrank jetzt Platz genug für andere Dinge. Vince Miller war davon überzeugt, daß es im Kleiderschrank lag. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Die Augen bekamen einen harten Glanz. Er freute sich, und er rechnete damit, daß die Außerirdischen noch in dieser Nacht Kontakt aufnehmen würden. Er stand auf. Es ging ihm gut, sogar sehr gut. Der Gedanke, bald das Buch in den Händen zu halten, beflügelte ihn. Das Unwohlsein vor dem Eintreten der Blitze war vergessen. Miller nahm eine Kerze mit, als er sich auf den Weg zum Schlafraum machte. Der tanzende Schein aus Licht und Schatten begleitete ihn.
Wenig später huschte er über das Ehebett hinweg und bewegte sich auf den dunklen Wandschrank zu, als er seine Hand drehte. In der rechten Hälfte hing seine Kleidung, in der linken hatte er die anderen Dinge aufbewahrt. Wenig später war die Tür offen. Den Teller mit der Kerze stellte er auf den Boden und schaute in den Schrank hinein. Das Innere wurde von der schmalen Flamme beleuchtet, aber nicht so gut, als daß er sofort das bestimmte Buch hätte entdecken können. Es mußte in dem Stapel stecken, der sich in dem Schrank auftürmte. Miller fing an zu wühlen. Was es zur Seite zu räumen gab, schaufelte er weg. Lexika, Fachbücher über den Beruf des Einzelhandelskaufmanns, technische Bücher, zwei uralte Erotikromane, einige Thriller in schon zerfledderter Taschenbuchform, und als er nach dem drittletzten Buch griff, da durchströmte ihn ein warmes Gefühl. Das war es. Miller atmete tief durch. Er hielt das Buch so, damit der Kerzenschein gegen den dunklen Einband fallen konnte. Im Prägedruck hob sich der Titel ab. »Verhaltensweisen bei einem Besuch Außerirdischer«, las er murmelnd vor. Das war es. Wenn er sich damit beschäftigte und alles behielt, konnte er nichts falsch machen. Bisher hatte er gehockt. Wuchtig stemmte er sich hoch und zog sich mit Kerze und Buch zurück in sein Wohnzimmer. Er hatte es kaum betreten, als sich die Umgebung draußen veränderte. Auf einmal war das Licht wieder da. Die tiefe Dunkelheit wurde von verschiedenen hellen Quellen unterbrochen. Die Straßenlaternen gaben wieder ihren Schein ab, und auch die Häuser gegenüber erschienen wie aus dem Nichts mit ihren hellen, viereckigen Augen. Ja, das war gut. Er atmete tief durch. Er lächelte. Dann blies er die Kerzen aus und tippte gegen den Lichtschalter. Unter der Decke erhellte sich die flache Lampenschale. Sie erinnerte ihn in ihrer Form an ein Raumschiffmodell, daß sich sein Zimmer als Landeplatz ausgesucht hatte. Er trat ans Fenster. Das Licht ließ er brennen. Miller schaute hinaus auf die Straße, dann zum Haus seiner Nachbarin Chrissy, und sein Gesicht verzog sich. Etwas durchströmte ihn. Es war ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. Ein wildes, unberechenbares, und er konnte es auch nicht einordnen. Es wurde, wie alle anderen auch, vom Gehirn gesteuert. Haß…
Töten! *** Ich hatte auf der Karte nachgeschaut und wußte, daß der nächste Ort, den ich erreichen würde, Weldon hieß. Von dort waren es noch gute sechzig Meilen bis an den Stadtrand von London, und ich überlegte, ob ich sie fahren sollte oder lieber in diesem Kaff übernachtete. Nein, ich würde durchfahren, und einschlafen würde ich ebenfalls nicht, dazu war mein Ärger zu groß. Ich kehrte von einer Dienstreise zurück, die nichts gebracht hatte. Auf einem Schloß waren mehrere Polizei-Psychologen zusammengekommen, um ein Seminar über zwei Tage abzuhalten. Wir sollten erfahren, wie es um die menschliche Seele bestellt war und welche Kräfte einen Täter zu diesen oft nicht nachvollziehbaren Verbrechen und Taten trieb. Es war langweilig gewesen, und ich hatte mir immer das Gesicht meines Freundes Suko vorgestellt, der in London zurückgeblieben war, obgleich er hätte mitfahren sollen, aber Suko hatte eine schwere Erkältung vorgetäuscht und dabei so überzeugend gewirkt, daß Sir James darauf reingefallen war. Die Ausrede >Erkältung< war mir also versperrt gewesen, und so hatte ich in den sauren Apfel gebissen. Der lag mir noch immer stückweise im Magen und schmerzte. Ich stellte mir schon Sukos Gesicht vor, wenn ich wieder in London eintraf. Der würde mich auslachen, sich über mich lustig machen und sicherlich scheinheilig danach fragen, was ich alles erlebt und was mir dieser Lehrgang gebracht hatte. Nichts, überhaupt nichts. Es waren keine klaren Verhältnisse geschafft worden, weil jeder Fachmann eine unterschiedliche Meinung vertrat und keine andere neben sich gelten ließ. Das ärgerte mich. Ich befand mich im südlichen England, zwischen London und Brighton. Ich erreichte irgendwann den Motorway, bis dahin aber mußte ich noch einige Orte durchfahren. Der nächste hieß Weldon… Zwei Meilen noch, dann war ich da. Auch in der hereinbrechenden Dämmerung war zu sehen, daß ich mich in einer herrlichen Gegend befand. Hier waren die Wiesen noch saftig, die Felder weit, der Wald dicht und das hügelige Land nur aus einer bestimmten Entfernung zu überblicken. Bäche, schmale Brücken, Häuser, mit weit vorgezogenen Dächern, die sich manchmal in Mulden duckten und von Hecken umgeben waren, damit sie den Winden nicht zu sehr ausgesetzt waren. Warme Herbsttage lagen hinter mir. Die Sonne hatte es noch einmal gut gemeint, jetzt genoß ich die Kühle des Abends, den plötzlichen
Aufenthalt allerdings weniger. Ob ich geträumt hatte oder nicht, das war mir nicht ganz klar, jedenfalls mußte ich bremsen, denn im blassen Licht meiner Scheinwerfer standen plötzlich drei vierbeinige Gestalten auf der recht schmalen Fahrbahn und glotzten in das Licht. Schafe! Ich hielt an. Von der rechten Seite her, ein Hügelrücken bildete dort eine mit Gras bewachsene Flanke, tauchten schon die nächsten Viecher auf. Eines der drei auf der Straße stehenden Tiere mußte wohl der Leithammel gewesen sein. Ich kam nicht mehr vorbei. Die Herde quoll auf die Straße zu. Es dauerte nicht lange, da war mein Wagen von Schafen eingekeilt. Dieser typische scharfe Geruch wehte durch das offenen Fenster ins Innere, so daß ich mich gezwungen sah, hastig die Scheibe des Rover hochzukurbeln. Dieser Gestank war nicht gerade mein Fall. Ein Bellen ließ mich nach rechts schauen. Ein langer Schatten huschte über den Hang. Es war der Hund des Schäfers. Er sollte die Herde bewachen, war ziemlich groß und rannte mit weiten Sprüngen um die jetzt still stehende Schafherde. Auch der Schäfer tauchte auf. Ein großer Mann, der sich auf einen langen Stock stützte, einen Mantel umgehängt hatte und mir vorkam wie die Gestalt aus einem Lesebuch, das man den Kindern in den fünfziger Jahren gegeben hatte. Ich mußte lächeln, fragte mich gleichzeitig, wann die Herde weiterziehen würde. Das war die Sache des Schäfers. Den Tieren selbst schien es auf der Straße sehr gut zu gefallen, denn kein Tier löste sich aus dem Verbund. Sie hatten um den Rover herum einen Teich aus Leibern gebildet. Das konnte dauern… Trotz des Gestanks kurbelte ich das rechte Seitenfenster nach unten. Sofort reckten einige Schafe ihre Köpfe. Mit den Schnauzen stießen sie gegen den Wagen. Ich hörte das Blöken, dann fuhren die Zungen durch die Lücke, als wollten sie mich ablecken. Auf derartige Liebkosungen konnte ich verzichten, kurbelte die Scheibe wieder halbhoch, denn ich wollte noch mit dem Schäfer sprechen und ihn zu bitten, daß er seine Herde wegtrieb. Er war zwar auf Rufweite herangekommen, aber dazu kam ich nicht. Wir alle, die Menschen, die Schafe und der Hund, wurden von einem Vorgang abgelenkt, der sich vor uns abspielte, direkt am Himmel, ungefähr dort, wo der kleine Ort Weldon liegen mußte. Dort tobte ein Gewitter aus grellen Blitzen! So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Es konzentrierte sich auf eine bestimmte Stelle und riß den Himmel auf. Ich hörte keinen Donner, es waren einzig und allein die unzähligen und wie aus dem Nichts
entstehenden Blitze, die über den grauen Himmel jagten und ihn immer wieder aufrissen. Sie bildeten Figuren, sie verschwanden, sie entstanden neu, sie zerschmetterten lautlos die Finsternis, schufen ein zuckendes Puzzle, das immer wieder neue Formen bekam, und jagten zudem in gewaltigen Hieben dem Erdboden oder dem Ort entgegen. Ich hatte schon zahlreiche Naturschauspiele erlebt, dazu zählte ich auch Gewitter, aber so etwas war mir noch nicht begegnet. Das war auch kein Gewitter, das war einfach unerklärlich für mich, es glich einem Phänomen. Es war der reine Wahnsinn. Wir befanden uns einige Meilen vom Zentrum entfernt. Trotzdem erreichten uns die Ausläufer der fahlen Helligkeit, die geisterhaft über die Rücken der Schafe hinwegwischten und auch die nähere Umgebung nicht verschonten. Kein Donner! Überhaupt kein Laut war zu vernehmen, nur das geisterhafte Netz der Blitze lag über Weldon und bewegte sich wie ein irres Karussell, nur eben nicht im Kreis. Mit mir geschah auch etwas. Zuerst hatte ich mich wie aufgeputscht gefühlt. Da waren mehrere Adrenalinstöße durch meinen Körper gerast, aber die Wirkung verging sehr schnell und machte dem Gegenteil Platz. Ich fühlte mich mies. Ich war plötzlich schlaff geworden, auch müde und down. Jegliche Kraft war aus meinem Körper geströmt. Ich hatte auch keine Lust mehr, weiterzufahren, und das Kreuz vor meiner Brust schien das Doppelte an Gewicht bekommen zu haben und zog mich allmählich nach vorn. Was war das nur? Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es steckte ein System dahinter, das stand für mich fest. Dieses Gewitter an Blitzen war nicht normal. Es glich schon einer über den Himmel jagenden Horrorlandschaft, als wollte es alles zerstören. Mein normaler Menschenverstand sagte mir, daß die Blitze eingeschlagen sein mußten. Ich rechnete mit Bränden an verschiedenen Stellen des Ortes, aber kein Flammenschein tauchte den Himmel in ein bedrohliches Rot. Er blieb so, wie er war, nur gespalten und aufgerissen durch das geisterhaft bleiche Muster. Damit kam ich nicht zurecht. Meine Müdigkeit blieb, allerdings nicht mehr so stark. Ich war wieder in der Lage, mich zu bewegen, es bedurfte dafür allerdings die doppelte Kraftaufwendung. Es fiel nicht ein Tropfen Regen, was weiterhin zu der Abnormalität dieses Vorgangs beitrug. Ich zermarterte mir den Kopf nach einer Erklärung, fand keine. Zumindest keine natürliche, dafür brachte mich die leichte Erwärmumg meines Kreuzes auf eine andere Idee. Magie?!
Waren es tatsächlich übersinnliche und übernatürliche Kräfte, die sich über dem Ort austobten? Es war nur ein Verdacht, doch ich wies ihn auf keinen Fall von mir. Vielleicht reagierten andere Menschen nicht so wie ich. Bei mir jedenfalls siegten der Verstand und der Wille über die Lethargie, und ich kümmerte mich um meine nächste Umgebung, weil ich sehen wollte, wie die Tiere auf dieses Blitzgewitter reagierten. Sie standen auf der Stelle. Da rührte sich kein einziges Schaf, und mit dem Hund war das gleiche geschehen. Auch ihn hatte diese unnatürliche Starrheit befallen. Er tat nichts und schaute ausschließlich in eine Richtung, als hätte man ihn dazu gezwungen. Dem Schäfer erging es ähnlich. Er wirkte wie eine Statue, die jemand auf den Hang gestellt hatte. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt, sein Blick galt einzig und allein dem auf unerklärliche Art und Weise veränderten Himmel. Wie ging es weiter, wie endete es? Bei mir hatte ich bereits eine Veränderung gespürt. Da ich nicht allein auf dieser Welt herumlief, würde die Veränderung sicherlich auch die anderen Individuen erfaßt haben, das heißt, die Schafe, den Hund und ihren Herrn. Ich wartete. Inzwischen hatte sich der kalte Schweiß auf meine Haut gelegt. Mit beiden Händen umfaßte ich das Lenkrad, als könnte es mir eine besondere Stütze in diesen ungewöhnlichen Minuten geben. Der Himmel gab auch weiterhin den fahlen Glanz zurück. Zwar blieben die Blitze weiterhin auf ein bestimmtes Zentrum konzentriert, aber ihr Widerschein drang auch als Schleier in die etwas entferntere Dunkelheit hinein und breitete sich dort wolkenartig aus. Ich hatte mein Gefühl für Zeit verloren, deshalb wußte ich nicht, wie lange dieses >Unwetter< anhielt. Plötzlich war es vorbei! Sehr genau konnte ich beobachten, wie die Blitze zusammensanken, als hätte sich eine gewaltige Hand über die Zone gestülpt. Es gab sie nicht mehr, nur noch den dunklen Himmel mit seinen Variationen aus Dunkel und fahlem Licht. Im ersten Augenblick kam mir die Finsternis bedrohlich vor, und ebenfalls die Stille. In meiner Umgebung bewegte sich nichts. Ich hatte den Motor ausgeschaltet, das Licht der Scheinwerfer gelöscht, hörte nur den eigenen Atem. Wie ging es weiter? Ich löste meine Hände vom Lenkrad. Noch immer war ich nicht auf dem Damm. Ich fühlte mich matt, schwerfällig, sowohl körperlich als auch geistig. Das Land war wieder in tiefe Dunkelheit oder Trauer versunken, aber ich stellte doch fest, daß sich die Luft verändert hatte. Sie schmeckte anders. Beim Einatmen legte sie sich scharf auf meine
Zunge. Ein bitterer Geschmack blieb zurück. Trotzdem hatte ich das Gefühl, sie sei gereinigt worden. Wind wehte kaum. Die Schafe standen noch immer wie eine Mauer um meinen Wagen herum. Irgendwann mußte ich weiterfahren, ich wollte nicht inmitten der Herde übernachten. Meine Hand näherte sich dem Zündschlüssel, als sich der Schäfer bewegte. Er drehte sich auf dem Hang stehend zu mir um. Schräg schaute er in den Rover hinein. Ich startete nicht, denn ich spürte genau, daß der Mann etwas von mir wollte. Zuerst nickte er. Dann setzte er sich in Bewegung. Mit kleinen Schritten kam auf meinen Wagen zu und trieb die ihm dabei im Wege stehenden Schafe mit leichten Stockschlägen zur Seite, damit er freie Bahn hatte. Als hoher Schatten tauchte er neben dem Rover auf. Er bückte sich. Sein Gesicht befand sich in Höhe der Scheibe. Ich kurbelte sie wieder weiter nach unten. Wir schauten uns an. Für mich war es ein fremdes Gesicht, ihm mußte es mit mir ebenso ergehen. Dennoch sah ich in seinen Augen einen mich störenden Ausdruck. Der Schäfer starrte mich an, als würde er mich hassen. Er trug einen dichten Bart, ebenso dunkel wie seine Augen, und der Mund war in dem Haargestrüpp kaum zu erkennen. Ja, er haßte mich! Ich begriff es nicht und wollte schon fragen, was ich ihm getan hatte, als er sich aufrichtete. Sein Stock machte die Bewegung mit, so lange, bis das untere Ende gegen die Scheibe wies. Dann stieß er zu. Im letzten Augenblick hatte ich seine Absicht erkannt und das Fenster noch höher gekurbelt. Der Stock erwischte die Lücke nicht, er stieß gegen das Glas. Es war widerstandsfähig genug und hielt dem Stock stand. Der Schäfer aber drehte durch. Er schlug auf das Autodach. Ich hörte die Treffer wie dumpfe Donnerschläge. Kaum hatte er sich bewegt, da verloren auch die Schafe und der Hund ihre Starre. Ich hörte das scharfe Bellen. Es überklang noch das Blöken der harmlosen Tiere, die auf einmal nicht mehr so harmlos waren und gegen meinen Rover drängten. Ihre Körper schlugen dumpf gegen die Karosserie. Die gereckten Köpfe tauchten hinter den Seitenscheiben auf. In den Augen der Tiere las ich den gleichen Ausdruck wie in denen des Schäfers. Das war der reinste Haß!
Mir wurde klar, daß die Schafe etwas von mir wollten. So groß der Rover auch sein mochte, irgendwann mußte er vor der Gewalt dieser Tiere einfach kapitulieren, und dann saß ich in der Klemme. Auch der Schäfer machte weiter. Er hatte seinen Platz gewechselt und trommelte wütend gegen den Kofferraum. Damit nicht genug. Der Hund huschte heran! Ich sah es, als ich durch die Frontscheibe schaute. Er hatte noch Platz, dann aber erreichte er den äußeren Rand der Schafherde, was ihn überhaupt nicht störte. Kraftvoll stieß er sich ab und riß sein breites Maul auf, als wollte er bellen. Er sprang genau auf den Wagen zu, aber er würde es nicht schaffen, ihn schon beim ersten Sprung zu erreichen. Dazu mußte er noch einmal auf den Boden, da aber standen die Schafe dicht an dicht. Er fiel. Wie eine mit Fell bezogene Bombe landete er zwischen den Körpern. Er riß die Lücke, fand wieder Kontakt mit dem Untergrund, war aber zu stark eingekeilt, um einen erneuten Sprung zu versuchen, und ich bekam eine Galgenfrist. Es geschah alles in kürzester Zeit. Am Heck des Fahrzeugs trommelte der Schäfer noch immer auf den Wagen ein. Er war wie von Sinnen. Er hatte sich verändert, und auch ich spürte die Veränderung, wenn auch abgeschwächt und in anderer Form. Ich wartete nicht, bis sich der tollwütig gewordene Hund aus der Schafherde erhoben hatte. Der Zündschlüssel drehte sich. Hoffentlich sprang der Wagen an. Es klappte! Ich jubelte innerlich. Auch die den Rover umstehenden Schafe hatten bemerkt, was ich wollte. Sie drängten sich noch dichter zusammen, sie wuchteten ihre Körper so gut wie möglich gegen den Wagen, um ihn einzubeulen und mich an einer Fahrt zu hindern. Auch ich bekam die Stöße mit. Die Vibrationen schüttelten mich durch. Ich biß die Zähne zusammen. Rücksicht konnte ich nicht mehr nehmen. Ich mußte durch. Gas! Der Rover tat seine Pflicht. Er rammte nach vorn. Ich hörte die Hinterreifen, wie sie über die Teerdecke jaulten, als wollten sie sich darin festfressen. Der Rover fuhr. Der Kühlergrill räumte die ersten Tiere zur Seite. Für mich sah es aus, als wären sie in die Höhe gesprungen, wobei sie sich im Sprung drehten und dann mit verklemmten Läufen wieder den Erdboden berührten. Da war noch der Hund. Sein scharfes Jaulen mischte sich in das Schreien des Schäfers. Im Innenspiegel sah ich, wie er die Verfolgung aufnahm und immer wieder
mit seinem Stock zudrosch, obwohl er das Fahrzeug nicht traf, dafür mehr die Rücken seiner Schafe. Ich sah den Hund. Er hatte es geschafft. Ich riß das Lenkrad nach rechts, weil ich Angst hatte, daß der aufprallende Körper die Windschutzscheibe zerstörte und mir der Köter in seinem Blutrausch an die Kehle ging. Es war schwer, den Wagen zu lenken. Die Schafe glichen Selbstmordkandidaten, die sich mir in den Weg stellten, vor der Kraft des Fahrzeugs aber kapitulieren mußten. Der Hund war da. Er rammte den Rover. Allerdings nicht auf der Mitte der Kühlerhaube, wie ich befürchtet hatte, sondern an der linken Seite. Er rutschte noch auf die Scheibe zu, kratzte auch gegen das Glas, aber sein Drall war einfach zu stark. Er drückte ihn zur Seite weg, dann war er zwischen zahlreichen Schafsbeinen verschwunden. Ich kurbelte wieder nach links. Kam ich zu weit ab, würde ich über den Hang gleiten, was ich auch nicht wollte. Ich mußte einfach auf der Straße bleiben. Zum Glück hatten Mensch und Tiere den Wagen nicht fahruntüchtig gemacht, die Beulen und Dellen ließen sich verschmerzen. Hauptsache war, daß mich die Technik nicht im Stich ließ. Die letzten Schafe sprangen gegen das Auto. Von der linken Seite her warfen sie sich mit voller Wucht gegen den Wagen. Sie glichen schon Todeskandidaten, aber sie kamen bei mir an die richtige Adresse. Das Fahrzeug konnten sie nicht stoppen, es war stärker, ich hatte mittlerweile beschleunigt, und die Körper der Tiere prallten von dem Fahrzeug ab wie hart geworfene Bälle. Freie Bahn! Ich schaltete in den dritten Gang, schaute in den Innenspiegel und sah hinter mir die Masse Tier, aus der der Schäfer herausragte und mit seinem Stock drohte. »Das kannst du vergessen«, flüsterte ich. Kein Schaf rannte hinter mir her, auch der Hund hielt sich zurück. Ich brauchte nicht einmal so schnell zu fahren, konnte mich auf die normalen Geräusche konzentrieren und stieß einen leisen Fluch aus, als ich etwas hörte, was mir gar nicht gefiel. Im hinteren Bereich schleifte etwas. Ich fuhr in die nächste Kurve hinein. In ihrem Scheitelpunkt hielt ich an und stieg aus. Es war ruhig geworden, fast beklemmend still. Möglicherweise kam es mir auch nur so vor, das war jetzt Nebensache. Ich schaute mir zunächst den Wagen an.
Der hatte einiges abbekommen. Das Blech sah nicht mehr so aus wie vor einer Stunde. Die Schafe und auch die Schläge hatten zahlreiche Dellen hinterlassen. Der Kofferraum war am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden. Da hatte der Schäfer darauf herumgetrommelt wie der Drummer auf seinem Instrument. Nur war das Blech weniger widerstandsfähig gewesen. Die gesamte Haube sah aus, als wäre ein mächtiger Hagelschauer darauf niedergegangen. Die Seitenteile des Rovers sahen ähnlich lädiert aus, wie ich im Licht meiner kleinen Lampe sehr deutlich erkennen konnte. Was hatte geschleift? Ich bückte mich am rechten Hinterrad und sah sofort den verbogenen Kotflügel. Seine Spitze hatte bereits einen Teil des Reifens zerstört. Wenn ich Glück hatte, kam ich mit ihm so eben noch bis Weldon, dann aber mußte ich den Wagen stehenlassen. Wie sah es an der linken Seite aus? Etwas besser, aber nicht ideal, denn auch dort war der Kotflügel nach innen gebogen, und seine Spitze schabte über das seitliche Profil hinweg. Ich unterdrückte nur mühsam einen Fluch. Die Wut stieg in mir hoch wie der heiße Atem eines Feuers. Ich schaute den Weg zurück so weit wie möglich. Von der Herde sah ich nichts mehr. Meine Laune besserte sich trotzdem nicht. Inzwischen stand fest, daß meine Rückfahrt am Beginn eines Horror-Trips stand. Ich war einfach davon überzeugt, nichts brachte mich davon ab. Die Veränderungen von Mensch und Tieren mußten meiner Ansicht nach in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den heftigen Blitzgewittern über dem Ort Weldon stehen. Das war schlimm… Nein, durchfahren bis London konnte ich nicht. Ich würde in diesem Kaff hängenbleiben, schaute auf die Uhr und sah, daß es gerade Acht geworden war. Sechzig Meilen bis London, rechnete ich. Für Suko war die Entfernung gut zu schaffen. Nicht daß ich vor Furcht vergangen wäre, aber ich hatte einfach das Gefühl, ihn holen zu müssen. In Weldon stand ich auf verlorenem Posten, und mein Freund würde sich sofort in seinen BMW setzen und loszischen. Ich nahm wieder im Rover Platz und wählte. Er war in seiner Wohnung, da fiel mir schon ein Stein vom Herzen, als ich das hörte. »Ja, ich bin es.« »Ah, der schlaue Geisterjäger. Na, hat der Kurs etwas gebracht?« »Hör auf, darum geht es nicht. Es sieht so aus, als würden Schwierigkeiten auf mich zukommen. Ich befinde mich hier dicht vor einem Ort namens Weldon, werde nicht weiterkommen, weil zwei Reifen allmählich ihren Geist aufgeben.« »Wie das?« Sukos Stimme klang jetzt hellwach und ernst.
Ich gab ihm einen Bericht, dem er schweigend und sicherlich auch staunend zuhörte. »Das ist ein Ding«, flüsterte er. »Du bringst dich auch immer wieder in des Teufels Küche.« »Ja, das ist so meine Art. Schwing dich in deinen Flitzer und komm rasch her.« »Wie hieß der Ort noch?« »Weldon.« »Wo finde ich dich da?« »Das Kaff ist ziemlich klein. Ich glaube nicht, daß du mich übersehen wirst.« »Schon gut, ich eile. Und halte dich von den Schafen fern, Alter. Schon allein wegen des Gestanks, verstehst du…?« »Hundesohn«, sagte ich und legte auf. Es ging mir etwas besser, denn mein Freund war ein Mann, auf den ich mich absolut verlassen konnte. Zudem wußte er, daß ich nicht grundlos anrief. Die erste Überraschung und auch die erste Furcht waren vorbei. Ich konnte wieder normal denken und fieberte seiner Ankunft schon entgegen. Ich dachte an die Blitze, die so unnatürlich gewesen waren, und ich konnte mir vorstellen, daß sie auch in Weldon etwas bewirkt hatten, und zwar bei den Bewohnern dort. Es war nur ein erster flüchtiger Gedanke. Er beschäftigte mich allerdings den Rest der Fahrt über und intensivierte sich auch. Bei mir war es durch den Vorgang ebenfalls zu einer Veränderung gekommen. Ich hatte mich müde und kaputt gefühlt. Die Schafe waren aggressiv geworden, der Schäfer ebenfalls, und ich dachte daran, wie es wohl den Menschen in Weldon ergangen sein mußte, die sich im Zentrum dieser für mich mittlerweile magischen Entladungen befunden hatten. Waren sie verändert? Waren sie zu Bestien geworden? Ich wurde abgelenkt, weil ich die ersten Ausläufer des Ortes erreichte. Das war in diesem Fall ein kleiner Supermarkt auf der linken und eine Tankstelle auf der rechten Seite. Normal. Mich aber störte trotzdem etwas. Beide Bauten lagen in völliger Dunkelheit. Weder am Supermarkt noch an der Tankstelle brannte die Beleuchtung, denn dafür waren die Straßenlaternen schließlich aufgestellt worden. Es war nichts im Vergleich zu den Dingen, die vor mir lagen. Auch der Ort selbst lag eingehüllt in eine tiefe Finsternis, und das wollte mir nun gar nicht gefallen. Ich fuhr langsamer. Das Schleifen hatte sich verstärkt. Und plötzlich spürte ich den harten Ruck. Jetzt war der Reifen durch. Egal wie, ich fuhr trotzdem weiter und erreichte die Hauptstraße.
In diesem Moment änderte sich alles. Als hätte jemand einen Befehl gegeben, so flammten die Lichter wieder auf. Hinter den Fenstern der Häuser wurde es hell, und auch die Straßenlaternen gaben ihren Schein ab. Weldon lebte plötzlich wieder. Es war wie im Traum oder im Kino. Vor mir lag der Ort wie eine nächtliche Landschaft, als wäre sie in eine dunkle Kulisse hineingezeichnet worden. Ein normaler Ort? Ich wußte es nicht, wollte bis zur Ortsmitte und fuhr langsam und stotternd an. Das Licht meiner Scheinwerfer wies mir den Weg. In seinem Kreis erschien ein Bild, das unglaublich war. Mich jedenfalls ließ es vor Entsetzen starr werden… *** Vince Miller hatte sein Wohnzimmer verlassen und war in der Diele stehengeblieben. Auch hier brannte Licht. Die Deckenleuchte wurde von einem Rahmen aus Schmiedeeisen eingefaßt. Durch die Lücken strömte das Licht und verteilte sich im Raum. Was tun? Miller überlegte. Vorhin hatte er eine Idee gehabt. Sie war ihm leider entfallen. Da hatte er genau gewußt, was er machen wollte, und nun grübelte er verzweifelt darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Miller ärgerte sich über sich selbst. Es war so plötzlich eingetreten. Er hatte einen Befehl bekommen oder sich selbst einen gegeben. Er war auch jetzt sicher, daß dieser Befehl oder Gedanke von einem der irgendwo weilenden Außerirdischen an ihn weitergegeben worden war, er mußte ihn nur wieder einfangen und in die Reihe kriegen. Was war es nur gewesen? Er bewegte sich in der Diele hin und her. Viel Platz stand ihm nicht zur Verfügung. So kam es dann, daß er sich zwangsläufig des öfteren im Spiegel sah und sich betrachten konnte. Er sah nicht gut aus. Sein Gesicht war grau, die Haare hätten mal gekämmt werden müssen. Wie graues Buschwerk wuchsen sie auf seinem Schädel hoch. Sein Gesicht zeigte scharfe Falten, und dann gab es noch die Augen. Sie hatten einen anderen Ausdruck als früher. Sie wirkten so eisig, so kalt. Es gab kein Gefühl mehr, es existierte nur der Wille. Und dieser Wille hatte etwas mit seinen letzten Überlegungen zu tun. Da war ihm schon bewußt gewesen, was er tun sollte. Wie ein Strom war es durch seinen Körper gelaufen, doch nun war dieser Trieb verschwunden. Oder?
Vince Miller hörte sich selbst lachen, als die Idee sprungartig zurückkehrte. Haß! Töten! Diese beiden Begriffe bohrten sich in seinem Hirn fest. Sie durchzuckten ihn wie ein Elektroschock, und noch in derselben Sekunde wußte er, was er zu tun hatte. Er würde diesem Befehl folgen, denn nach wie vor ging er davon aus, daß ihm die außerirdischen Wesen diesen Befehl übermittelt hatten, auch wenn er sie noch nicht mit den eigenen Augen gesehen hatte. Irgendwo hielten sie sich auf und ließen ihn nicht aus ihrer Kontrolle. Das Haus war so gebaut worden, daß von der Diele alle Zimmer abzweigten. Unter anderem auch die Küche. Miller wunderte sich darüber, wieso ihm gerade der Gedanke an die Küche in den Sinn gekommen war. Eigentlich war es Blödsinn. Er dachte trotzdem weiter darüber nach und erinnerte sich an die Dinge, die es in der Küche gab. Teller, Tassen, Töpfe, auch Werkzeuge, Messer, zum Beispiel. Er leckte seine Lippen wie eine Katzenach dem Mahl. Doch er hatte sein Mahl noch vor sich, und als er sich umdrehte, da lächelte er wieder. Es war ein gemeines, ein diabolisches und böses Lächeln. Es hatte Kerben in seinen Wangen hinterlassen. Mit geschmeidigen Schritten bewegte er sich auf die Küche zu, deren Tür weit offen stand. Das schmutzige Geschirr auf der Spüle störte ihn nicht. Sein Weg führte ihn auf den hohen Schrank zu. Er war ein Erbstück von seinen Großeltern und faßte allerlei Gegenstände, nicht nur Tassen, Teller oder Schalen. Auch Messer! In der Schrankmitte war eine breite Schublade. Davor blieb Miller stehen. Er legte seine Finger um den kühlen Metallgriff und zog die Lade auf. Daß sie klemmte, störte ihn nicht, das war schon immer so gewesen, wichtig allein war der Inhalt, und auf den schaute er sehr bald mit glänzenden Augen herab. Das Messer nahm beinahe die gesamte Breite der Schublade ein. Es war etwas Besonderes, denn manche hätten es als ein Schlachtermesser bezeichnet. Die Klinge war breit und stabil, sie lief an ihrem Ende leicht rund zu. Mit diesem >Messer< zertrennte der Metzger die dicken Fleischstücke und schlug auch Knochen. Auch Miller hatte es oft gebraucht. Es war leicht an dem Griff zu erkennen, der im Licht der Lampe dunkel glänzte. Fast wie eine Blutlache. Miller grinste, als er daran dachte. Seine Augen lebten wieder. Die Pupillen selbst lagen eingebettet in eine eisige Starre, aber das Innere wurde von den bösen Gefühlen durchtost, die allesamt mit Blut und Tod zu tun hatten. Er nahm das Messer aus der Lade!
So, das hatte er, aber es war ihm nicht genug. Wenn er schon die Waffe besaß, mußte er sie auch einsetzen. Dazu brauchte er ein Opfer. Hier in der Küche und auch im Haus würde er es nicht finden, da mußte er schon das Haus verlassen und nach draußen gehen. Chrissy! Der Gedanke an seine Nachbarin ließ ihn aufstöhnen, als wäre er von einer erotischen Lust gepackt worden. Ja, sie mußte es sein. Sie und keine andere. Ihr würde er die Klinge zu >schmecken< geben. Wenn er schellte, dann würde sie ihm freudig öffnen und ihn hereinbitten. Und dann… Er lachte. Es war ein häßliches, ein widerliches Lachen, voll ekliger Vorfreude. Dabei strich er über die breite Seite der Klinge hinweg, nickte und trat einen Schritt zurück. War das Schlachtermesser scharf genug? Er wollte es probieren. Blitzschnell holte er aus. Im nächsten Augenblick pfiff die Klinge durch die Luft. Sie hackte in den Schrank und verursachte eine tiefe Kerbe. Er war zufrieden. Ein Körper würde ihm nicht den Widerstand entgegensetzen. Den konnte er durchschlagen. Sogar mit einem Hieb. Wieder lächelte er. Miller hatte sich in den letzten Jahren nie so wohl gefühlt wie an diesem Abend. Er wußte, daß sein Leben nicht nur einen Kick bekommen, sondern sich radikal geändert hatte. Miller würde alles tun, damit dies auch so bliebe, das schwor er sich in diesen Sekunden. »Ich werde euch nicht enttäuschen!« flüsterte er und meinte damit die Außerirdischen. Nur nicht mehr länger warten. Er wollte das Haus verlassen, denn Weldon gehörte ihm. Rasch hatte er die Diele durchquert. Er schaute die Treppe hinab. Die Stufen glänzten im Licht der Lampe wie starre, rechteckige Pfützen. Da sich außer ihm kein anderer mehr im Haus aufhielt, war die Stille nahezu bedrückend. Das störte ihn überhaupt nicht. Im Raumschiff der Außerirdischen würde es auch ruhig sein. Er war fest davon überzeugt, daß ihn die anderen zu sich einladen würden, schließlich wollte er ihren Befehlen nachkommen. Er verließ die Treppe mit einem für ihn guten Gewissen und durchquerte nicht erst den Laden, um das Haus zu verlassen, sondern nahm die normale Tür. Er zog sie vorsichtig auf. Trotz seiner unsichtbaren Beschützer hatte er seine Feinde nicht vergessen, und das waren genau die, die früher zu seinen Freunden gezählt hatten. Es sei denn, sie glaubten auch an das große Phänomen.
Er blieb vor der Tür stehen. Sie fiel sacht hinter ihm ins Schloß. Das Messer hielt er in der rechten Hand. Er wippte mit der Klinge und schlug die flache Seite gegen sein Bein. Leer! Leer und verlassen kam ihm Weldon vor. Eine Stadt, die ausgestorben war, in der trotzdem Menschen lebten. Zwar war die Beleuchtung wieder intakt, jedenfalls brannten die Straßenlaternen und hinter den Fenstern der nahegelegenen Häusern sah er auch die Helligkeit, aber es traute sich keiner nach draußen. Warum nicht? Wußten die Menschen etwa von ihm? Wußten sie, daß das >Tier< lauerte? Bei dem Gedanken leuchteten seine Augen auf. Er selbst fing an zu kichern, verstummte aber sehr schnell, weil er ein Geräusch in seiner Nähe gehört hatte. Etwas war mit einem polternden Geräusch umgefallen, und einen Augenblick später huschte ein schwarzer Gegenstand vor ihm her. Eine Katze! Ein Lebewesen! schoß es ihm durch den Kopf. Gemeinsam mit der Gier, das Lebewesen zu vernichten. Er brauchte nur einmal zuzuschlagen, dann war es erledigt. Die Katze war schneller als er. Bevor sich der Kaufmann in Bewegung gesetzt hatte, war sie schon verschwunden. Er hörte sie noch fauchen, dann war sie verschwunden. Er ärgerte sich und schwor sich, daß ihm das nicht noch einmal passieren würde. Aber Menschen waren keine Katzen. Sie bewegten sich nicht so geschmeidig und schnell. Besonders Chrissy Norman nicht! Miller richtete seinen Blick nach vorn und dabei über die Straße hinweg. Da lag ihr Haus. Sogar Licht brannte hinter einigen Fenstern. Einige Male sah er sogar ihren Umriß, als dieser das helle Rechteck durchschritt. Sie war im Haus – und was er als sehr wichtig ansah, diese Person ahnte von nichts. Deshalb kam bei ihm Freude auf. Entschlossen machte er sich auf den Weg. Nach drei Schritten erschien das zweite Tier. Ein Huhn! Es war eigentlich nicht außergewöhnlich, daß hier Hühner über die Straße liefen, in diesem Fall jedoch hatte es für Miller schon etwas Besonderes an sich. Eine Beute! Das Huhn war schnell. Es gackerte, es wollte vor dem Mann fliehen, weil es plötzlich seine böse Ausstrahlung spürte, doch diesmal reagierte er schneller.
Vince Miller rannte los und schnitt dem Tier den Weg ab. Es starb fast vor Angst, schlug mit den Flügeln um sich, die natürlich zu kurz geschnitten waren, und so konnte es nicht wegfliegen. Mit der linken Hand packte er zu. Miller erwischte das Huhn mitten im Sprung. Er preßte es auf den Boden, das Gackern kümmerte ihn nicht. Oft genug hatte er in seinem Leben Fleisch zerteilt, und einem Huhn den Kopf abzuschlagen, gehörte zu den Dingen, die man in einem Dorf schon in der Kindheit oder Jugend lernte. Mit einem Schnitt trennte er den Kopf vom Rumpf. Das Gackern erstarb. Die Füße zuckten noch, auch die Flügel, und aus der Wunde rann dampfend das warme Blut und verteilte sich auf dem Straßenpflaster, wo es sehr bald einen kleinen See bildete. Vince Miller war so lange zufrieden, bis ihm der Geruch des Blutes in die Nase stieg. Der sorgte wiederum dafür, daß ein anderer Trieb in ihm aufstieg. Hunger! Hunger nach warmen Fleisch und dampfendem Blut. Ein Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte, doch nach diesen Blitzen war einfach alles anders geworden. Er hob das Huhn an seinem hinteren Ende hoch. Es war noch zu groß. Mit der anderen Hand holte er aus und teilte das tote Tier noch einmal. Die Stücke lagen vor ihm. Er änderte seine Haltung und kniete sich so hin, daß er direkt auf sein >Mahl< schauen konnte. Es roch so gut. Das Blut hatte mehrere Lachen gebildet. Daß sein Kittel verschmiert war, störte Miller nicht. Er schaute auf das rohe Fleisch und bemerkte die Veränderung auf der Oberfläche des Blutes, als etwas Helles darüber hinwegglitt. Was war das? Dann klang das Geräusch eines fahrenden Wagens in seinen Ohren nach. Noch in derselben Sekunde überschüttete ihn das blanke Licht eines Scheinwerferpaars. Der Wagen hielt. Noch immer kniend drehte sich Miller herum. Er blinzelte in das Licht, hörte ein dumpfes Geräusch, dann Schritte, und eine Gestalt wie ein Gespenst huschte durch den Schein. Da kam jemand. Vielleicht sogar ein Fremder. Er wollte seine Beute nicht teilen, mit niemandem. Und er dachte auch an Chrissy. Der Mann würde sich wundern. Und Vincent Miller freute sich bereits auf dessen Blut… ***
Ich war ausgestiegen und zunächst einmal stehengeblieben, weil ich mir klarmachen mußte, daß ich mich nicht getäuscht hatte, denn der Anblick war einfach zu schockierend gewesen. Da saß ein Mann auf der Straße und hielt ein Huhn in der Hand. Er mußte es frisch geschlachtet haben, da noch Blut aus der Halswunde tropfte. Auch wenn ich hier am Arm der Welt war, so etwas war einfach nicht normal. Ebensowenig wie der plötzliche Angriff der Schafe oder die Reaktion des Schäfers. Hier tobten Kräfte, die ich nicht erklären konnte, doch ich war mir sicher, daß sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit den verdammten Blitzen standen, die auch ich gespürt hatte. Jetzt war mir nicht mehr schlecht, zwar fühlte ich mich etwas müde und dumpf im Kopf, aber ich würde diesem Mann im blutverschmierten weißen Kittel schon die nötigen Fragen stellen. Ich hatte mitten auf der Straße und auch in einer gewissen Entfernung angehalten. Hier würde der Rover stehenbleiben. Ein Reifen war von der Kante des Kotflügels aufgeschlitzt, ein andererstark in Mitleidenschaft gezogen worden. Wenn mich nicht alles täuschte, dann hatte der Mann kurz seinen Kopf gedreht, nachdem ich gestoppt hatte. Er wußte also, daß jemand kam. Da er nichts tat, schien ihm alles egal zu sein, oder fühlte er sich etwa so sicher? Es würde sich herausstellen. Ich sah keinen Grund, meine Schritte zu dämpfen. Aber ich behielt nicht nur den Mann im Auge, sondern auch die Umgebung rechts und links der Fahrbahn. Dort standen die Häuser. Da leuchteten die Laternen. Da waren Fenster erhellt. Ihr Licht schimmerte durch die Lücken in den ansonsten dicht belaubten Kronen mancher Bäume. Ich sah parkende Autos, auf der linken Seite einen Lebensmittelladen, und weiter vorn beschrieb die Straße eine Linkskurve. Dahinter mußte meiner Ansicht nach die Ortsmitte von Weldon liegen. Kleinere Straßen zweigten ebenfalls ab. Wie starre Arme führten sie tief in das Gelände hinein. Niemand ließ sich blicken. Der Ort schien ausgestorben zu sein. Der Mann im Kittel und ich waren die einzigen Lebewesen. Erst als ich so nahe an den Fremden herangekommen war, um seinen Atem zu hören, blieb ich stehen. Ich blickte auf ihn herab, aber er traf keine Anstalten, seinen Kopf zu heben. Er hob auch das blutige Stück Huhn nicht an, um ein Stück abzubeißen, er machte nichts. »Darf ich fragen, was das soll?« Er gab mir keine Antwort. »Essen Sie die Hühner immer roh?«
Der Mann lachte. Er bewegte seine linke Hand und schleuderte den Rest weg. In der Gosse blieb es liegen. Erst jetzt bequemte er sich, etwas zu sagen. »Es ist nicht gut, mich zu stören, wissen Sie das? Ich muß ihnen einen Gefallen erweisen.« »Aha«, sagte ich und nickte. »Kann ich wissen, wer die sind?« »Keine Menschen.« »Wer dann?« Eigentlich hatte ich ja den Begriff Dämonen erwartet, doch da wurde ich enttäuscht. Der Mann im Kittel holte tief Luft, hustete und erwiderte flüsternd: »Es sind die Außerirdischen, die in der Umgebung warten. Es ist noch nicht lange her, daß sie hier landeten. Der Himmel war voller Licht. Blitze tanzten und verschwanden, als ihr Raumschiff gelandet war. Ja, so ist es geschehen.« »Das Raumschiff also?« Er nickte. »Und wo ist es hin?« »Irgendwo in der Nähe. Sie sind bestimmt schon unterwegs. Sie kommen, um uns zu begrüßen.« Eigentlich hätte ich lachen müssen, das aber wäre mir im Halse steckengeblieben. Es gab einfach zu viele gefährliche Ungereimtheiten, und so war ich vorsichtig. Natürlich glaubte ich nicht an die Landung eines Raumschiffes, dann wäre hier schon längst die Hölle los gewesen. Ein UFO wäre von den überwachenden Militärs entdeckt worden, und man hätte eine Eiltruppe geschickt. Was war es also dann? Daß hier etwas Außergewöhnliches oder Unerklärliches geschehen war, lag auf der Hand. Ich selbst hatte die Blitze gesehen, ohne mir ihr Erscheinen erklären zu können. Es war auch kein normales Gewitter gewesen, sie waren aus dem Nichts gekommen und ebenso wieder verschwunden, und sie hatten Spuren hinterlassen. Nicht nur bei diesem Mann, sondern auch bei den Tieren. Vielleicht gab es noch einen vernünftigen Menschen hier in Weldon. Ich mußte ihn nur finden, wollte aber zunächst diesen Mann hier von der Straße haben. »Stehen Sie auf!« Er schüttelte den Kopf. »Warum denn?« »Weil ich Sie nach Hause bringen möchte und sicher sein will, daß Sie auch dort ankommen.« Er fuhr mit der Hand durch sein Haar. Als er sie wieder wegnahm, blieb eine rote Blutspur zurück. »Ich habe es nicht weit, Mister.« »Um so besser.« »Ich wohne dort.« Er deutete auf den Lebensmittelladen. Ich schaute hin. Da die Entfernung nicht zu groß war, konnte ich im Licht der Lampe auch die Schrift lesen. Dort stand der Name Vincent Miller. Es war ein Fehler, daß ich mich hatte ablenken lassen. Gerade noch rechtzeitig hörte ich das Geräusch. Es klang dicht bei meinen Füßen auf,
es war ein Schaben, als würde Metall über den Straßenbelag gezogen. Ich blickte auf meine Füße. Ein Fluch. Dann schlug Miller zu! *** Zum Glück hatte mich das Geräusch gewarnt. Ich sah nur die verfluchte breite Klinge und stellte auch fest, wie scharf sie war. Er hätte mir mit einem Schlag die Beine in zwei Hälften teilen können, und genau das hatte er auch vorgehabt. Ich vereitelte es, indem ich blitzschnell in die Höhe sprang, so daß die mörderische Klinge unter meinen Schuhen hinwegfegte und nur die Luft zerschnitt. Nicht getroffen! Das wußte auch Miller. Es enttäuschte ihn und machte ihn wütend zugleich. Ich hörte ihn schreien, er mußte erneut ausholen, da er aber saß, hatte er seine Schwierigkeiten. Ich trat ihm gegen den Kopf. Er konnte den zweiten Hieb nicht mehr ansetzen, kippte zur Seite und blieb benommen liegen. So jedenfalls dachte ich und ging auf ihn zu, wobei ich beinahe noch in einer Lache aus Tierblut ausgerutscht wäre. Deshalb verlor ich etwas Zeit, die Miller nutzte. Daß er so schnell auf die Beine kam, hätte ich ihm nicht zugetraut. Wie ein Gummimännchen sprang er hoch, und natürlich machte seine Waffe die Bewegung mit. Ich drehte mich zur Seite, als er zuschlug. Die Klinge hackte gegen das rissige Pflaster. Miller heulte vor Wut auf, schwang herum und benutzte das Schlachtermesser wie eine Machete, als wollte er damit zahlreiche Lianen durch trennen, die ihm im Weg standen. Ich ging in die Knie. Das breite Messer pfiff über meinen Kopf hinweg. Aber ich griff auch an. Den nächsten Schlag unterlief ich geschickt. Dabei kam mir zugute, daß er nicht besonders schnell war und immer genau zielen wollte. Das schaffte ich mit einem klassischen Uppercut. Es war der berühmte Schlag auf den Punkt. Sein Kinn schien vom Körper wegzufliegen, mir tat selbst die Hand weh, aber Miller torkelte zurück. Da ich nachsetzte, erkannte ich den glasigen Ausdruck in seinen Augen. Der sagte mir, daß es bald mit ihm vorbei sein würde. Er wäre auf den Hinterkopf aufgeschlagen, hätte ich nicht blitzschnell zugefaßt und ihn abgestützt. Erst dann ließ ich ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Die Waffe hatte er verloren, ich trat sie weg, daß sie in der Gosse landete, und fühlte mich selbst nicht gut. Es war einfach Glück
gewesen, daß ich den Kampf gewonnen hatte, denn abermals kehrte das Gefühl zurück, das ich schon im Auto erlebt hatte. Die bleierne Schwere in meinen Knochen, so daß ich Mühe hatte, mich zu bewegen. Nur konnte ich mir in diesem Augenblick keine Schwäche leisten. Ich mußte weitermachen, zudem würde es dauern, bis mein Freund Suko hier in Weldon eintraf. Diese Auseinandersetzung war natürlich nicht geräuschlos über die Bühne gegangen, aber es hatte keine Menschen interessiert. Nach wie vor umgab mich die Totenstille eines wie ausgestorben wirkenden Ortes, der von Mensch und Tier verlassen schien. Das mochte verstehen, wer wollte, ich nicht. Allerdings dachte ich darüber nach, ob ich den Mann in seinen Laden schleppen sollte oder nicht. Es war vielleicht besser, wenn er nicht allein blieb. Die Menschen mußten noch auf den Beinen sein, sie schliefen schließlich nicht bei voller Festbeleuchtung. Gegenüber sah ich ein Haus, in dem zumindest die Fenster der unteren Etage erleuchtet waren. Hinter einem hellen Viereck bewegte sich ein Schatten. Er blieb sogar für Sekunden stehen, um auf die Straße zu schauen. Es war der Umriß einer Frau. Ja, sie konnte sich um Miller kümmern. Vielleicht wußte sie auch mehr über die unheimlichen Vorgänge. Vorsichtig mußte ich trotzdem sein. Es stand nicht fest, wie die unheimlichen Kräfte bei dieser Person gewirkt hatten. Ich konnte nur hoffen, daß nicht jeder Bewohner von den Blitzen erwischt worden war. Da ich mich noch nicht topfit fühlte, tat ich mich mit dem Bewußtlosen schwer. Mit einiger Mühe schaffte ich es, ihn über die rechte Schulter zu wuchten. Mit der anderen Hand hielt ich ihn fest. Noch immer stand ich dem Ortsende näher als der Ortsmitte. Ich schaute zurück, ohne jedoch die Schafe oder den Hund als Verfolger ausmachen zu können. Ob sie sich auch in Zukunft vor dem Ort aufhalten würden, war fraglich. Gewettet hätte ich darauf nicht. Noch immer wirkte Weldon wie ausgestorben. Keiner verließ das Haus. Niemand betrat den Gehsteig, die Straße oder auch nur seinen Vorgarten. Diese Totenruhe machte mir zu schaffen, weil sie eben nicht normal war. Hier war etwas Unerklärliches und Unheimliches geschehen, und ich ging davon aus, daß es noch nicht beendet war. Auch mir selbst ging es nicht gut. Noch immer breitete sich im Kopf das dumpfe Gefühl aus. Es kam mir vor, als wäre es eine mit Watte gefüllte Leere. Dann der Druck des bewußtlosen Körpers. Ich war froh, wenn ich ihn ablegen konnte. Dazu mußte ich zunächts den Vorgarten durchqueren. Hier hatte niemand Hand angelegt. Hier wucherten die Pflanzen zwischen den karg aussehenden Büschen. Der Weg war kaum zu sehen. Zudem lag er im Schatten zweier Bäume.
Dafür schimmerte das Licht durch die Fenster des alten Hauses. Das Haus wirkte wie ein viereckiger Klotz. Es war ziemlich groß. Das Dach schloß praktisch mit der Mauer ab. Vor der rechten Hausseite stand ein mit Wasser gefüllter Steintrog. Ich stellte mich vor die Tür und suchte nach einer Klingel oder Schelle. Sie befand sich an der linken Seite. Mit dem Daumen drückte ich den Knopf. Ein schrilles Geräusch war zu hören, danach Schritte, und ich war gespannt, wer mir da öffnen würde… Zwei Stunden zuvor! Behutsam wurde die Tür des Kinderzimmers aufgezogen, so, als wollte der Eintretende die Person nicht stören. Aber Nora Shane hatte günstig gesessen und schon erkannt, daß sie gestört werden würde. Die Zwölfjährige sagte nichts, sie schwang sich nur auf dem Drehstuhl etwas zur Seite und tat, als wäre sie beschäftigt, wobei sie gegen den Bildschirm des Monitors schaute, auf dem eine grüne Graphik zu sehen war. Jemand klopfte von innen gegen die Tür. Die weiche Frauenstimme erreichte Noras Ohren wenig später. »Ich wollte dir nur Bescheid geben, daß wir jetzt gehen, Kind.« Nora drehte sich. Sie lächelte. Ihre Tante Dinah stand in der offenen Tür. Über ihre Schulter schaute Onkel Gregory hinweg und lächelte. Er war ein Mann, der fast immer lächelte. Er war viel zu dick, manche sagten feist. Er liebte das Essen, das Leben, er kümmerte sich nicht um seine Figur und gehörte zu den Leuten, denen es eigentlich immer gutging, weil sie sich keine Sorgen machten. Nora fand, daß Dinah nicht zu ihm paßte. Zumindest äußerlich nicht. Hager, die Haare blond, eine unvorteilhafte Brille und auch zuviel Schmuck. Aber sie wollte sich nicht beschweren, schließlich hatten die beiden sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen. Daß zudem Zwölfjährige kritisch reagierten beim Aussehen der Erwachsenen, das war normal. Da wurden die Eltern verglichen und kamen meistens schlechter weg als die anderen Erwachsenen. »Ist gut, Tante Dinah.« »Und was machst du?« Nora hob die Schultern. »Weiß noch nicht. Ich werde am Computer spielen, glaube ich.« Dinah Shane hob den rechten Zeigefinger. »Aber nicht zu lange. Dieses lange Starren auf den Bildschirm ist nicht gut für die Augen, Kind.« »Aber Tante«, stöhnte sie. »Man hat heute Schirme entwickelt, die nicht mehr so ermüdend sind. Ich kenne mich da aus, wirklich. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Ja, das habe ich auch gehört«, sagte Gregory. Er unterstützte Nora immer, auch jetzt verzog er seinen Mund zu einem breiten Grinsen und nickte heftig. »Hör du auf, Greg! Du stehst nur auf ihrer Seite. Aber ich meine es gut mit dem Kind.« »Das weiß ich ja, Tante.« »Kann spät werden«, sagte ihr Onkel. »Wenn etwas sein sollte, rufst du an. Die Telefonnummer habe ich dir ja gegeben.« »Klar.« »Hast du sie denn noch?« »Tante Dinah, ich vergesse so etwas nicht. Wenn du den Zettel meinst, den habe ich nicht.« Sie lachte hoch, als sie das erschreckte Gesicht der Frau sah. »Aber ich habe sie in meinem Computer gespeichert. Das ist sicherer.« Dinah Shane schüttelte den Kopf. »Immer wieder dieser neumodische Kram. Schlimm ist das.« »Ich finde es super.« Greg Shane kannte seine Frau. Bevor sie sich zu einer Diskussion hinreißen ließ, tippte er ihr auf die Schulter. »Wir müssen jetzt gehen, sonst kommen wir zu spät.« »Ja, Greg, ja. Hetz mich nicht.« »Ich habe dich nur erinnert.« »Viel Spaß!« wünschte ihnen Nora. »Danke, Kind.« Die beiden verschwanden. Greg winkte seiner Nichte noch einmal zu. Dann schloß er die Tür. Nora war allein. Sie wartete so lange, bis sie den Motor des Wagens hörte, dann erst atmete sie auf. Geschafft. Die beiden waren weg. Sie mußte auch mal allein sein. Es war eben furchtbar, immer unter Erwachsenen zu sein. Sie war ihnen ja dankbar, daß sie sie aufgenommen hatten, aber manchmal war ihre Fürsorge auch zu stark. Die beiden – zumindest Tante Dinah – übertrieben oft. Sie konnte nicht begreifen, daß ihre Nichte auch älter wurde. Nora stand auf. Das Zimmer sah nicht so aus, wie man sich ein Mädchenzimmer vorstellte. Es war technisch gut eingerichtet. Ein Computer mit allem, was dazugehörte, zählte ebenso dazu wie ein CD-Player, ein TVApparat, das dazu passende Video-Gerät und die Stereoanlage. Einige Puppen hockten noch auf einem Weichholzregal. Sie erinnerten Nora an ihre frühe Kindheit. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie in Leeds gelebt, dann waren ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Es war ein Unglück gewesen. Ein Hubschrauber war abgestürzt. Nicht in England, sondern in den USA. Es hatte keine Überlebenden gegeben, und Nora, die ihre Eltern sehr geliebt hatte, hatte einen schweren Schock davongetragen. Sie war wochenlang nicht ansprechbar
gewesen. In dieser Zeit hatten sich Onkel und Tante sehr um sie gekümmert und sie schließlich auch in ihr großes Haus aufgenommen, denn sie selbst waren kinderlos geblieben. Die beiden meinten es wirklich gut, aber manchmal schon zu gut. Nora lächelte, als sie an sie dachte, aber sie lächelte nicht nur aus diesem Grund. Es gab noch einen anderen. Sie war allein, endlich war sie allein. Und endlich würde ihre große Stunde kommen, das stand für sie fest. Sie erhob sich. Mit zielsicheren Schritten ging sie zum Kleiderschrank, denn sie wollte sich umziehen. Raus aus dem Kleid mit den weißen Rüschen. So schön es auch war, sie mochte es nicht und hatte es nur ihrer Tante zu Gefallen angezogen. Da waren die Jeans und das pflaumenblaue Sweatshirt schon bequemer. Sie zog sich um und konnte sich dabei im Spiegel an der Innenseite der Schranktür betrachten. Für ihre zwölf Jahre war sie ziemlich groß. Sie hatte die rotblonden Haare lang wachsen lassen und überlegte immer wieder, ob sie sich schminken sollte, um die natürliche Blässe aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Wenn sie Schminke nahm, regte sich ihre Tante auf, so machte sie es heimlich. Sie mochte den blassen Teint nicht und auch nicht die vielen Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Das war ihr alles zuwider. Sie fand sich nicht schön, und das war schlimm. Auch die Blässe der Pupillen gefiel ihr nicht. Da sahen die Augen aus, als wären sie aus dünnem Glas, das jeden Augenblick platzen konnte. Die Brauen waren ebenfalls zu hell, ebenso die Lippen. Die Nase war etwas knochig, die Wangen zu dünn. Nora war mit sich selbst sehr unzufrieden. Sie wünschte sich ein anderes Gesicht. Sie wollte aussehen wie ihre Freundin Paula. Die hatte wunderschönes, dunkles Haar und braune Augen. Ihr schauten die Jungen hinterher, aber Nora warf kaum jemand einen Blick zu. Das ärgerte sie. Als sie einmal mit ihrem Onkel darüber gesprochen hatte, da hatte der gemeint, daß sie für ihn das schönste Mädchen der Welt sei. Und das andere würde sich mit der Zeit schon geben. Sie hatte sich damit zufriedengegeben, äußerlich nur, aber im Innern kochte es weiter. Nora schloß die Tür. Ihr Spiegelbild verschwand, als hätte man es ausgewischt. Sie lächelte, doch dieses Lächeln war hintergründig, wissend und geheimnisvoll. Was interessierte sie noch ihr Aussehen, wo doch jetzt ihr Abend und ihre Nacht angebrochen war? Endlich konnte sie beweisen, daß es die anderen gab. Niemand glaubte ihr, nicht einmal ihr Onkel. Er hatte sie nur mitleidig angeschaut, als sie mit ihm darüber gesprochen und von mächtigen Energien erzählt hatte, die sich in der Luft befanden, die stärker als der normale Strom waren und die sich auf sie, Nora, konzentriert hatten.
Er glaubte ihr nicht. Niemand glaubte ihr. Es war ein Fehler, sie wußte es, und sie würde noch heute den Beweis führen. Sie räusperte sich, weil plötzlich ein Kloß in ihrer Kehle steckte. Eine sehr starke Spannung hielt sie umklammert. Sie spürte das innerlichen Vibrieren, und als sie durch ihr langes Haar strich, da knisterten die Strähnen zwischen ihren Fingern. Sogar kleine Funken tanzten schimmernd über der blonden Flut. Sie war bereit. Sie war geladen! Und sie war froh, daß Onkel und Tante das Haus verlassen hatten, denn was bald folgte, das hätte die beiden an den Rand eines Abgrunds gebracht. Sie würde es dem Rest der Welt zeigen, was in ihr steckte, wobei sich der Rest der Welt zunächst auf den Ort Weldon bezog, aber das würde sich ändern, wenn sich erst einmal herumgesprochen hatte, was hier geschehen war. Sie verließ ihr Zimmer. Im Flur blieb sie stehen. Er war breit und endete an der Treppe. Wie immer hatten die beiden Erwachsenen das Licht brennen lassen, schließlich sollte sich die Alleingebliebene nicht ängstigen. Nora schüttelte den Kopf. Onkel und Tante wußten ja nicht, daß sie den Begriff Angst ja nicht mehr kannte, seit die anderen bei ihr waren. Diese Energien aus einem anderen Reich und einer anderen Welt, die in ihr einen Gastkörper gefunden hatten, den sie stark machen konnten. Unter der Lampe blieb sie stehen. Genau in diesem Augenblick fing sie an zu flackern. Ein hektischer Wechsel zwischen Hell und Dunkel löste sich ab, überwarf die Gestalt mit Licht und Schatten, bevor die Lampe dann dunkel blieb. Nora nickte. Es war eine ihrer leichtesten Übungen. So etwas schaffte sie spielend. Das kostete sie nicht einmal mehr Kraft als das Heben eines Arms. Es gab andere Dinge, um die sie sich kümmern mußte, und so ging sie auf die oberste Stufe der Treppe zu, über die ein blasser Schein kroch, der von unten her kam. Dort befand sich die große Diele, die schon einer Halle glich. Da wollte sie hin und das Haus dann verlassen. Hüpfend ließ sie die Treppe hinter sich. Jetzt glich sie tatsächlich einem zwölfjährigen Mädchen, und ihr Gesichtsausdruck zeigte sich auch gelöst. In der Diele brannten die Wandleuchten. Nora lächelte und breitete die Arme aus. Sie bewegte ihre Finger. Wieder geschah das gleiche Schauspiel. Erst flackerte das Licht, dann erloschen die Lampen. Schluß!
Sie ging in den Wohnraum. Auch durch dessen offene Tür fiel ein heller Schein und versickerte irgendwann auf dem Fußboden. Sie betrat den Wohnraum, den sie wegen der Möblierung nicht mochte. Es waren alte Möbel, ziemlich düster, und auch die Sessel schienen den Staub vergangener Jahrzehnte auszuatmen. Aber ihre Tante mochte die Möbel, und so blieben sie. Eine Stehlampe verbreitete ihren Schein. Die Lichtquelle stand neben dem TV-Apparat. Er war das modernste Stück im Raum, und durch die Schüssel oben auf dem Dach warn die Shanes in der Lage, sehr viele Programme zu empfangen. Nora löschte das Licht auf ihre Weise. Im Dunkeln ging sie zwei Schritte zurück. Erst dann blieb sie stehen und schaute sich um. Draußen sickerte die Dämmerung heran. Sie ließ nur noch wenig Tageslicht durch, so daß sich im Wohnraum eine graue Decke ausbreitete. Auch draußen wuchsen die Schatten zusammen, verschwand die Welt unter dem Grau des erwachenden Abends. Vor dem Fernseher blieb Nora stehen. Gebannt starrte sie auf den Bildschirm. Im Haus war es totenstill. Es tickte nicht einmal eine Uhr, das hätte die Tante auch aufgeregt, deshalb gab es keine Uhren im Haus. Nora erinnerte sich an den Film >Poltergeists Da hatte sie auch ein Mädchen gesehen, das in der Nacht aufstand und vor der Flimmerkiste stehenblieb, um mit den Kräften einer anderen Welt Kontakt aufzunehmen. So ähnlich kam auch sie sich vor. Nur war es bei ihr anders, ganz anders sogar. Sie schaute den Bildschirm an. Er blieb grau. Sekunden später hörte sie das leise Knistern. Und das wiederum wurde von dem Bildschirm abgegeben. Es hörte sich an, als würde Seidenpapier rascheln, aber das Papier warf keine Funken, wie es jetzt auf dem Bildschirm geschah. Grüne und gelbe Lichtblitze tanzten über ihn hinweg, und plötzlich erschien eine Ansagerin auf der Fläche, ohne daß Nora den Apparat eingeschaltet hätte. Sie schaute für einen Moment rein, hob die Augenbrauen und markierte so ihren spöttischen Gesichtsausdruck, der auswies, daß ihr das Programm nicht gefiel. Eine kurze Übung der Konzentration. Das nächste Bild erschien. Zwei Frauen stritten in der Küche. Diese Soap Opera mochte sie auch nicht. Der Krimi war ebenfalls nicht ihr Fall, da wußte man sowieso, wer >gewann<, und Nora ging die Programme voll durch. Sie wurde zu einem >Zapper<. Dank ihrer geistigen Kräfte schaffte sie dies ohne Mühe. Die einzelnen Programme erschienen in einem
rasenden Wechsel, so daß sie eigentlich nicht erkennen konnte, was sich dort abspielte. Dann hörte sie auf. Der Bildschirm blieb grau. Selbst das Knistern war verschwunden. Diese Spielerei war für sie nur ein Auftakt gewesen. Sie wollte feststellen, ob sie noch gut in Form war, und, verdammt noch mal, sie war es. Ja, sie war mit sich selbst zufrieden. Nora drehte sich um. Sie spreizte die Arme dabei vom Körper. Sehr genau spürte sie, wie ihre Adern von etwas durchflössen wurden, was den Namen Blut nicht verdiente. Es war ein Kribbeln, ein Strom, und für sie war es die Botschaft der anderen. Sie lächelte. Nora fühlte sich gut. Sie mußte gut sein, wenn sie in dieser Nacht ihre Zeichen setzen wollte. Im Haus hatte sie nur geübt. Draußen aber, auf der Straße, würde sie ihre vollen Kräfte entfalten. Sie ging mit langsamen Schritten zur Tür und blieb neben ihr stehen, denn dort, ziemlich tief unten, war eine Steckdose in die Wand eingelassen worden. Nora bückte sich. Als sie die entsprechende Höhe erreicht hatte, streckte sie den rechten Arm aus und bohrte ihre Finger in die Löcher der Dose. Kaum hatte sie den Kontakt mit der Steckdose hergestellt, da merkte sie den Druck an ihren Fingerspitzen. Er war auf einmal da, und er beschränkte sich nicht nur auf das leichte Zitfern, sondern breitete sich aus und raste wie Strom durch den Körper der Zwölfjährigen. Das blieb nicht ohne Folgen. Plötzlich leuchtete sie auf. Von innen her begann sie zu strahlen. Gleichzeitig stellte sich die blonde Haarflut auf, und Nora sah aus wie ein weiblicher Struwwelpeter, umtanzt von Funken und knisternder Elektrizität. Die anderen waren bei ihr. Sie sorgten dafür, daß sie noch stärker wurde. Nora sah äußerlich aus wie immer, nichts hatte sich an ihrem Körper verändert, aber im Innern spürte sie jetzt eine Kraft, die ungeheuer war. Sie zog die Finger wieder zurück, und sofort verlöschte die Helligkeit an und in ihr. Nora wurde wieder normal! Tief atmete sie aus. Sie fühlte sich so wohl, so gut. Sie war einfach super. Dann ging sie. Als sie die Haustür öffnete, fühlte sie sich stark genug, um den anderen Kräften zu zeigen, wie dankbar sie ihnen war… *** An der rechten Seite des Hauses blieb Nora stehen. Nicht weil es dort besonders schön gewesen wäre, nein, sie hatte einen anderen Grund, denn über ihr war die Schüssel angebracht worden. Sie stand in einem
schrägen Winkel zur Hauswand. Wer sie von der Seite her anschaute, den erinnerte sie an einen gekippten Halbmond, der sehr schmal war. Nora lächelte. Die Schüssel war wichtig. Mit ihr hatte es angefangen. Sie war der Vermittler zu den anderen, denn erst als sie angebracht worden war, hatte Nora den Kontakt geschafft. Schon immer hatte sie gewußt, daß sie etwas Besonderes war. Sie fühlte anders als die übrigen Freundinnen, sie hatte sogar von anderen Welten gesprochen und von Geisterreichen, aber man hatte sie ausgelacht. Nicht mehr. Nora ging so weit vor, bis sie einen günstigen Platz erreichte. Dort drehte sie sich um und schaute direkt gegen die Schüssel. Sie war an der Innenseite mit einer graubeigen Farbe angestrichen worden, und als das Mädchen seinen Blick direkt auf das Gerät richtete, da tanzten auf der Fläche Funken. Sie lächelte. Ungefähr eine Minute blieb sie stehen. Sie horchte in sich hinein und glaubte, Stimmen zu hören. Wispernde und flüsternde Stimmen, die sich zu einem Zischeln vereinigten. Das waren die anderen, die Geister, die sie jetzt beschützten. Mit ihnen hatte sie den Kontakt aufnehmen wollen, und sie war auch nicht enttäuscht worden. Nora fand, daß sie jetzt über ausreichende Kraft verfügte, und sie verließ das Grundstück. Zwar gehörte Weldon zu den Orten, die nach Einbruch der Dunkelheit wie ausgestorben wirkten, doch darauf wollte sie es nicht ankommen lassen. Es gab immer wieder Jugendliche, die sich auf der Straße aufhielten und dort die Zeit totschlugen. Ihnen wollte sie nicht begegnen, deshalb kletterte sie auch über einen schmalen Zaun und erreichte sehr bald einen Weg, der zwei Obstgärten teilte. Die Pflaumenbäume trugen noch Früchte, ebenso die Apfelbäume. Die anderen Bäume waren abgeerntet worden. Der Weg mündete in eine Straße. Sie führte an der Apotheke vorbei. Hinter dem Schaufenster sah sie den Besitzer. Er stand an der Kasse und addierte Zahlen. Der Mann sah nicht, wer sich an der Schaufensterscheibe vorbeischob, was Nora sehr gelegen kam. Sie hatte sich einen bestimmten Punkt ausgesucht, der ziemlich einsam lag, aber sehr wuchtig war. Praktisch am Ortsanfang stand der Verteilerblock. Ein Kasten aus Beton mit einer Metalltür, für die sich Nora einen Nachschlüssel besorgt hatte. Der steckte griffbereit in ihrer rechten Hosentasche. Sobald die Häuser nicht mehr so dicht beieinander standen, nahm die Welt ein ländlicheres Aussehen an. Felder und Gärten grenzten
aneinander. Die Straße führte in Windungen weiter und würde mehr als fünfzehn Meilen entfernt erst den nächsten Ort erreichen. Die Luft war kühl geworden, obwohl es ein warmer Tag gewesen war. Nora lehnte sich gegen den Verteilerkasten und mußte auch hinter ihm Deckung suchen, weil sich zwei Wagen näherten, die in den Ort einfahren wollten. Die Scheinwerfer glotzten wie tote Augen. Nora erkannte die Autos. Eines davon gehörte einem Fleischer, das andere dem Bäcker. Beide Männer waren miteinander befreundet und verließen Weldon sehr oft gemeinsam. Angeblich, um einzukaufen, aberDinah Shane hatte da eine andere Meinung. Sie sprach davon, daß sie sich schöne Stunden in einem Bordell machten, doch zu beweisen war das nicht. Erst als sie auch die Rücklichter nicht mehr sah, konzentrierte sich das Mädchen auf seine Aufgabe. Den Schlüssel hielt Nora mittlerweile in der Hand. Sie schaute sich vorsichtshalber noch um, aber da war nichts, was sie gestört hätte. Dann öffnete sie die Metalltür. Sie mußte ordentlich ziehen, um sie aufzubekommen. Und als sie es geschafft hatte, da lag eine elektrische Welt vor ihr, die sie nicht begriff. Das brauchte sie auch nicht, denn sie war etwas Besonderes. Sie mußte nur handeln, und sie würde es tun, darauf konnte sich jeder in Weldon verlassen. Nora ging noch näher heran. Das Warnschild an der Seite hatte sie bewußt übersehen. So etwas interessierte sie nicht, denn bei ihr spielten andere Dinge eine Rolle. Sie brauchte auch kein Licht. Alles, was sie tun mußte, das würde ihr ohne fremde Hilfsmittel gelingen. Nur die Hände waren wichtig. Auf einmal fühlte sie sich so anders. Nora war zwar noch ein Mensch, nur von einer fremden Kraft durchströmt, und sie hatte sie zu einem Medium gemacht. Sie stand mit beiden Beinen und im wahrsten Sinne des Wortes auf der Erde, und doch kam sie sich vor wie jemand, der abgehoben hatte und über allem schwebte. Es war ein ungewöhnlicher Zustand, doch sie nahm ihn hin. Sie freute sich sogar darüber. Dann streckte Nora beide Arme zugleich vor und spreizte auch ihre Hände. Sie tauchte ein in ein für sie völlig fremdes Gebiet. Sie hörte das leise Summen, sie sah die rötlich glänzenden Spuren, die zahlreichen Kontakte und auch die hellen Verdrahtungen. Alles hatte etwas zu bedeuten. Nur für sie nicht. Ihr war es egal, und sie drückte sich wie ein heller Schatten hinein. Die Hände griffen zu. Einfach irgendwohin… Es spielte keine Rolle. Wichtig allein war der Kontakt zwischen dem Medium und der Technik.
Es passierte schlagartig, buchstäblich von einer Sekunde auf die andere. Plötzlich entstanden die irrsinnigen Blitze. Sie umzuckten zuerst den Körper, bevor sie tief in ihn eindrangen, sich dort rasend schnell durch die Adern bewegten, im Haar bläulich schimmernde Funken hinterließen und dann mit einer immensen Geschwindigkeit in den Nachthimmel hineinrasten, wo sich ein wahres Gewitter abspielte. Es entstanden Figuren am Himmel, die ineinanderliefen. Die Lichter im Ort verloschen, und auch Nora zog ihre Hände aus dem Kasten zurück. Sie brauchte dies nicht mehr, denn ihre Freunde aus der anderen Welt hatten ihr geholfen. Über dem Ort hatte sich das Inferno abgespielt. Die Blitze kamen nicht zur Ruhe, sie rasten von einer Seite auf die andere, sie schufen immer wieder neue Bilder, sie zeichneten ein gewaltiges Dach aus grellem Licht, sie zerschnitten die Finsternis wie scharfe Messer und Lanzen. Sie zerstörten den Himmel und bauten ihn Momente später wieder neu auf. Es war ein Wunder. Es war Wahnsinn! Nora war einige Schritte zur Seite gegangen. Sie stand inmitten des vom Himmel fallenden fahlen Lichts, den Kopf zurückgelegt, so daß sie in die Höhe schauen konnte. Das Bild war unbeschreiblich. Und, was für sie ebenso zählte, sie hatte es geschaffen, es galt ihr. Die Freunde aus einem anderen Reich zeigten ihr, wie mächtig sie geworden war. Sehr langsam drehte sie sich auf der Stelle. Nur den Kopf nicht senken, nur das nicht. Sie wollte auf keinen Fall aufhören, dieses Schauspiel mußte sie einfach durchstehen, denn es war einmalig. Nora glaubte erkennen zu können, daß sich über ihrem Haus die Blitze besonders intensiv verhielten. In sie hinein zeichnete sich die Projektion des Hauses, als wäre es von einem gewaltigen Spiegel zurückgeworfen worden. Sie sah sogar den weißen Zaun oder glaubte, ihn zu sehen, aber die Blitze waren keine Täuschung, und diese Kraft tobte in ihrem Innern, wenn auch anders. Das Mädchen fühlte sich unheimlich gut. So herrlich frei. Sie hatte überhaupt nicht mehr das Gefühl, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen, sondern ein Teil dieses zuckenden und grellen Unwetters zu sein, das wie ein Stummfilm über den Himmel lief. Immer wieder fuhren die langen Lanzen und zuckenden Linien in die Tiefe. Sie suchten sich Ziele aus, sie drangen in Häuser ein, sie kamen zu den Menschen, denn auch sie würden die Botschaft ihrer Freunde empfangen. Es war nur schade, daß ihre Verwandten den Ort verlassen hatten. Sie hätte ihnen den Kontakt gegönnt. Natürlich wußte Nora nicht, wie die Botschaften der anderen Welt auf nicht medial veranlagte Menschen wirkten.
Es konnte sein, daß es zu Störungen kam, aber das mußte eben hingenommen werden. Es war unmöglich, allen gerecht zu werden. Herrlich war es, diesem geisterhaften Naturereignis zuzuschauen. Nora konnte sich kaum vorstellen, daß sie die Initiatorin dieses Schauspiels gewesen war. Das mußte sowieso in den Hintergrund treten, wichtig war nur der Erfolg. Und den empfand sie als überwältigend. Wie lange sie auf dem Fleck gestanden und die neue Kraft in sich gespürt hatte, das wußte sie nicht. Jedenfalls fühlte sie sich freier, durchleuchtet und durchblasen von einem gewaltigen Sturmwind, der dafür sorgte, daß sie eine andere wurde. Herrlich… Sie lachte… Sie freute sich… Die Arme hielt sie immer noch erhoben. Eine junge Priesterin, die über die Natur gebot. Sie empfand sich selbst als super und einmalig, und sie freute sich darauf, daß auch andere diese Botschaft empfangen hatten und sie verstanden. Noch immer rasten die Speere in die Tiefe. Sie trafen Häuser, es gab für sie keinen Widerstand. Zielsicher fanden sie ihren Weg, und jeder im Ort bekam sie zu spüren und damit den Besuch aus dem Reich der Geister und Toten. Ihre Haare standen noch immer hoch. Sie bewegten sich von allein. Sie schwangen von einer Seite zur anderen. Funkenmuster durchliefen sie mit knisternden Geräuschen, bis sie letztendlich zusammenfielen und damit auch das Inferno am Himmel verschwand. Kein Blitz mehr jagte nieder. Es wurde still, und es wurde wieder finster. Ein kalter Schauer rann über den Rücken des Mädchens. Nicht daß sie Furcht gehabt hätte, es war ein wohliger Schauer, und sie freute sich, daß sie es geschafft hatte. Ihre Arme sanken nach unten. Die Handflächen klatschten gegen den Stoff der Jeans. Nora senkte den Kopf. Sie dachte noch immer über das Phänomen nach und konnte es kaum fassen, daß es tatsächlich geklappt hatte. Bisher hatte sie nur davon geträumt, nun war es zu einer wunderbaren Wahrheit geworden. Die Freunde hatten ihr geholfen. Das Mädchen schaute in den Ort. Diesmal empfand sie den Anblick als eine pittoreske Landschaft, als hätte sich ein naiver Maler vor einem dunklen Hintergrund auslassen können. Es glich schon einem kleinen Wunder, daß nichts brannte. Nach einem derartigen Unwetter hätten die Feuer nur so flackern müssen, aber das traf hier nicht zu. Es hatte genügend Ziele gegeben, nur waren es Menschen gewesen. Sie mußten von den Blitzen getroffen worden sein und hatten die Botschaft ihrer Geisterfreunde vernommen.
Sie fühlte sich als Siegerin. Auch in der anderen Welt würde man sich über einen derartigen Helfer freuen, so wie sie sich freute, was auch ihr Lächeln ausdrückte. Hatten ihr die Verwandten nicht geraten, im Haus zu bleiben? Ja, das hatten sie, und Nora beschloß, ein artiges Mädchen zu sein. Sie wollte im Haus bleiben und abwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Während des Infernos hatte auch sie sich verändert. Sie war eine andere geworden und fühlte sich so erwachsen. Kein Kind mehr innerlich, das war es, worauf es ihr ankam. Zudem glaubte sie fest daran, daß sie von ihren Geisterfreunden nicht im Stich gelassen würde. Mit diesem Gedanken schritt sie in den nachtdunklen Ort. *** Eine Frau öffnete mir. Da sie im hellen Licht stand, konnte ich sie genau erkennen und wußte nicht, was ich von diesem ungewöhnlichen – um es mal vornehm auszudrücken – Bild halten sollte. Die Person gehörte nicht mehr zu den Jüngsten. Trotzdem hatte sie sich angezogen wie ein blutjunges Strichmädchen. Sie trug nur einen dunklen Slip und ein durchsichtiges Etwas, das wohl ein Hemd sein sollte und ebenso grau war wie das struppige Haar. Ihr Gesicht war geschminkt. Darin hatte sie wohl keine Routine, denn das Zeug war eher verschmiert worden. Die Lippen hatte sie ebenfalls schief angemalt. Der Mund sah aus, als wäre er zur rechten Seite gekippt. So lächerlich diese Person auch wirkte, wir hatten hier keinen Karneval, und ich brachte ihren Anblick augenblicklich in die für mich richtige Beziehung. Sie war verändert. Oder verändert worden. Bestimmt lief sie an normalen Tagen nicht so herum, denn altersmäßig mußte sie meiner Ansicht nach auf die Sechzig zugehen. Erst dieser Miller, jetzt sie. Und beide hatten das Blitzgewitter anders erlebt. Ich war erschreckt, aber ich mußte diesen Menschen hier einfach loswerden. »Guten Abend«, sagte ich. Die Frau nickte nur. Ich hatte ihren Namen draußen gelesen. »Sie sind Chrissy Norman?« Wieder das Nicken. Wenn sie nicht reden wollte, okay, das war ihr Problem. »Sie kennen den Herrn hier?« Jetzt bequemte sie sich zu einer Antwort. Mehr als ein gequetschtes »Ja« drang trotzdem nicht über ihre Lippen. »Kann ich den Mann denn bei Ihnen hier hinlegen. Ich brauche jemand, der sich um ihn kümmert. Da Sie Nachbarn sind…«
Sie gab mir den Weg frei. Ich trat über die Schwelle. Dabei schwankte ich leicht, denn das Gewicht drückte ungemein stark. Ich war auch nicht in Topform, für einen Moment überkam mich ein schlimmer Schwindel. Die Welt drehte sich vor meinen Augen, aber ich schaffte es, mich wieder zu fangen und blieb in der mit dunklen Möbeln eingerichteten Diele stehen. Hier gab es keinen Platz, wo ich den Mann niederlegen konnte. Mrs. Norman öffnete eine Tür. Sie machte Licht. Eine hinter trübem Glas sitzende Lampe gab ihren Schein ab, der auf ein breites Holzbett fiel. Es war sorgfältig gemacht worden, keine Falte >zierte< das Oberbett und das Kopfkissen. Schweigend ließ mich die in der Tür stehende Frau passieren. Ich legte Miller auf das Bett. Er fiel auf den Rücken, sank in das Oberbett ein, das unter seinem Gewicht nachgab wie eine Welle. Sein Kinn war geschwollen. Saß es schief, oder irrte ich mich? Ich wußte es nicht und richtete mich wieder auf. Zu hastig, und abermals wurde mir schwindlig. Ich tastete nach meinem Kreuz und staunte schon über die leichte Erwärmung. Hier stimmte etwas nicht. Hier waren Dinge geschehen, bei denen andere und auch gefährliche Mächte ihre Hände mit im Spiel hatten. Jedenfalls mußte ich auf der Hut sein. Als ich mich wieder einigermaßen gefangen und mich umgedreht hatte, war die Frau verschwunden. Sie hatte die Tür offengelassen. Ich hörte aber noch ihre Schritte, dann das Quietschen einer anderen Tür. Es sagte mir, daß sie ein anderes Zimmer betreten hatte. Ich verließ den Raum ebenfalls. Natürlich mußte ich mit Mrs. Norman sprechen und ihr erklären, was geschehen war. Es stand zeitlich nicht fest, wie lange Miller bewußtlos bleiben würde. Jedenfalls sollte sie hin und wieder nach ihm schauen und ihm erklären, wenn er erwachte, wo er sich denn befand. Ich hätte es auch gern selbst getan und mich noch weiter mit ihm unterhalten, aber es fehlte mir einfach die Zeit dazu. Außerdem wollte ich herausfinden, was sich hier noch alles tat und auch getan hatte. Irgendwo ahnte ich, daß mir noch böse Überraschungen bevorstanden. Wenn Weldon auch äußerlich gleichgeblieben war, die Menschen hatten sich verändert, und bestimmt nicht zum Guten hin. Ich durchquerte den Eingangsbereich. Die Haustür war wieder verschlossen. Ich konnte nur raten, hinter welcher der drei Türen sich die Frau befand. Unter einer schimmerte Licht hervor. Die öffnete ich auch. Ich hörte das Quietschen der Angeln, und mein Blick fiel in eine ziemlich geräumige Küche mit bleichgelben Möbeln als Dekoration und einem Mittelpunkt, der von dieser Frau gebildet wurde. Sie saß am
Küchentisch, den Blick mir zugewandt, und sie schaute mich aus kalten Augen an, während sie ständig ihren Mund bewegte, als würde sie an einem Stück Brot kauen. Mir war es noch zu dunkel, denn die Lampe beleuchtete nur die Tischplatte und kaum die Person davor. Um sie besser erkennen zu können, mußte ich tiefer in die Küche hineingehen. An der anderen Seite des Tisches ließ ich mich nieder. Jetzt zerstörte auch die Lampe mein Blickfeld nicht mehr. Ich schaute sie an, und sie blickte in mein Gesicht. Dabei konzentrierte ich mich auf die Augen. Bei ihnen war meist zuerst zu erkennen, mit welchen Problemen sich der Mensch herumschlug. Diese Erfahrung jedenfalls hatte ich im Laufe der Zeit gewonnen. Ja, die Augen! Wie wirkten sie? Was dachte diese Person? Spiegelten sich ihre Gedanken möglicherweise dort wider? Die Pupillen wirkten wie Glas. Sie lagen eingebettet in düstere Schatten, die keine natürliche Ursache aufwiesen. Mrs. Norman hatte sich nur falsch geschminkt. Sie schaute mich zwar an, doch sie sah durch meinen Körper hindurch. Zumindest interpretierte ich so diesen glanzlosen Blick. Es war schon seltsam, aber diese Person hatte etwas an sich, das mich davon abhielt, sie anzusprechen. Was war es nur? Der Tisch war nicht leer. Es standen zwei Biergläser darauf, aber in keinem befand sich auch nur ein Tropfen. Auf eine Decke hatte sie verzichtet. Was hatte sie vor? Plötzlich hörte ich das Knirschen. Da es in dieser Küche sehr still war, erklang das Geräusch überlaut, und auch durch irgend etwas abgeschwächt und gedämpft. Ich war irritiert. Mein Blick glitt in verschiedene Richtungen, weil ich herausfinden wollte, wo das Geräusch seine Quelle hatte. Ich fand sie nicht. Das Geräusch blieb, wurde sogar lauter. Und dann sah ich, wie die Frau am anderen Ende des Tisches ihren Mund bewegte. Sie kaute, und das war mir bereits bei meinem Eintritt aufgefallen. Nur hatte ich da nicht dieses Knirschen gehört. Nun wußte ich, daß es in ihrem Mund stattfand, und ich überlegte, ob sie nur mit den Zähnen knirschte oder damit irgend etwas zermalmte. Die letzte Annahme würde wohl stimmen, aber sie hielt den Mund mit ihren verschmierten Lippen noch geschlossen. War das wirklich Kosmetik? Mein Herz schlug schneller, ich beugte mich etwas vor, um besser sehen zu können.
In diesem Augenblick öffnete die Frau ihren Mund. Was ich da zu sehen bekam, erschreckte mich zutiefst. Blut floß daraus hervor. Zwei dünne Rinnsale rechts und links, während sie noch kaute. Auch das Geräusch blieb. Die Zunge bewegte sich, bekam etwas von dem zu fassen, was sich im Mund befand. Auf der Oberseite blieb der Gegenstand liegen. Die Frau öffnete ihren Mund noch weiter, damit sie auch die Zunge hervorschieben konnte. Sie war nicht mehr als ein rosiger, blutiger Klumpen. Auf ihrer Mitte lag der Gegenstand, auf dem sie gekaut hatte. Eine Glasscherbe! *** O Gott – das durfte doch nicht wahr sein! Für mich war es schlimm, schaurig, beinahe unerträglich, denn damit hätte ich nicht gerechnet. Was war nur mit dieser Frau los? Sie hielt die Zunge noch immer ausgestreckt und schaffte es sogar, den Mund – jetzt war es schon ein Maul – in die Breite zu ziehen und mir so ein widerliches Grinsen zu zeigen. Ich kam mir vor wie jemand, der überhaupt nicht Bescheid wußte und trotzdem gegen seine Feinde kämpfte, aber das alles wollte ich hintanstellen, ich mußte meine eigenen Gefühle unterdrücken und mich auf diese Person konzentrieren. Wenn ich anfing, hochzurechnen, kam ich zu dem Ergebnis, daß jeder Bewohner von Weldon unter den Blitzen zu leiden gehabt und sich bestimmt auch verändert hatte. Über meinem Rücken >flossen< kleine Eiskörner und produzierten einen kalten Schauder. Ich fühlte mich wie in einer Mühle. Hinter der Stirn hämmerten kleine Zwerge mit ihren Hacken in meinem Kopf herum, und ich rang nach Luft. Für einen Moment konzentrierte ich mich auf mein verdeckt hängendes Kreuz. Ja, es hatte sich noch erwärmt. Etwas klirrte, und ich schrak zusammen. Die Frau hatte die letzte dünne Scherbe einfach ausgespien. Sie schaute auf die Scherben und spie mit Blut vermischten Speichel hinterher. Ich konnte es noch immer nicht fassen. Mrs. Norman aber grinste. Sie war ein Monster, ein Freak, das Zerrbild eines Menschen. Auf schreckliche Art und Weise verändert, und als sie ihre Arme bewegte, konzentrierte ich mich auf die Hände. Die Fingernägel waren dunkelrot lackiert. Sie griff nach dem links stehenden Glas. Endlich wußte ich, weshalb sie die Gefäße dort abgestellt hatte. Wie andere Menschen Brot, Gemüse und Fleisch aßen, so ernährte sie sich mittlerweile von Glas, und es war ihr dabei egal, ob sie sich den Mund und die Lippen dabei zerschnitt. Die
Frau genoß es. Jedenfalls sah ich, wie sie das Glas zum Mund führte und mich dabei nicht aus den Augen ließ. »Nein!« Selbst mein scharf gesprochener Befehl konnte sie nicht stoppen. Sie wollte das Glas zerkauen. Ich sprang auf. So lang war der Tisch nun nicht. Ich warf mich der Frau entgegen und schlug ihr das Glas aus der Hand. Es flog zur Seite, landete auf dem Küchenboden und zerbrach dort. Für einen Moment schaute sie ihrer entgangenen >Nahrung< nach. Dann traf mich ein wütender Blick, und sie wollte zu den beiden restlichen Gläsern greifen. Ich war wiederum schneller. Mit einer Handbewegung wischte ich sie vom Tisch. Sie zerbrachen ebenfalls. Ich war stehengeblieben. Von der Seite her schaute ich auf sie nieder. »Sind Sie verrückt geworden?« flüsterte ich. »Verdammt noch mal. Was ist eigentlich mit Ihnen los? Warum tun Sie das?« Sie sagte nichts. Blut sickerte aus ihrem Mund. Sie schluckte auch, und in ihren Augen lag ein so seltsam leerer Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Ich kam mit dieser Person nicht klar. Doch Klarheit mußte ich einfach haben, deshalb wollte ich es mit dem Kreuz versuchen. Ich ging einen kleinen Schritt zurück, um sie in Sicherheit zu wiegen. »Okay, Mrs. Norman, Sie haben das Glas gegessen. Sie haben es getan, ich muß es akzeptieren, und ich werde Sie auch nicht fragen, ob es Ihnen geschmeckt hat«, fügte ich noch bissig hinzu. »Verstehen kann ich es trotzdem nicht.« Die Frau hob den Arm. Dann wischte sie mit dem Handrücken über ihren Mund und verschmierte das Blut noch mehr. Jetzt sah sie aus wie eine geschminkte Gestalt aus einem billigen Horrorfilm. Natürlich war ich gespannt darauf, wie sie auf mein Kreuz reagierte. Wenn sie Furcht bekam, waren die letzten Zweifel in mir gelöscht. Dann wußte ich, daß hier finstere Mächte am Werk waren, dämonische Mächte, die Weldon mit ihrem Blitzlichtgewitter überfallen hatten. Das Kreuz war frei. Es lag auf meiner Handfläche, und ich spürte die leichte Wärme, die von ihm ausging. Die Frau konnte das Kreuz noch nicht sehen. Erst Sekunden später. Sie schaute hin – und schrie auf! Es war ein spitzer, böser Schrei. Sie riß auch die Arme hoch und vergrub ihre Finger in das graue Haar, als wollte sie es sich vor lauter Wut aus dem Kopf reißen. Mrs. Norman gebärdete sich in der nächsten Zeit wie eine Irre. Sie war nicht zu beruhigen, erst recht nicht mit Worten, denn als ich sie anschrie, da brüllte sie zurück und sprang plötzlich auf. Sie wollte fliehen. Ungewöhnlich schnell bewegte sie sich durch die Küche.
Ich stoppte sie, indem ich ihr einen Stuhl gegen die Beine warf. Sie geriet ins Stolpern. Über ihre blutigen Lippen drang ein wilder Fluch, dann kippte sie nach vorn. Die Tür hielt sie auf. Mit beiden Händen klammerte sie sich an der Klinke fest, um sich wieder hochzuziehen. Ich stand bereits hinter ihr. Das Kreuz hielt ich sichtbar in der Hand. Meine Stimme klang nicht scharf, eher beruhigend, als ich sie ansprach. »Mrs. Norman, Sie müssen mir zuhören – bitte.« »Gehen Sie, verdammt! Hauen Sie ab! Lassen Sie mich allein!« Nach jedem Wort schnappte sie laut nach Luft. Die Frau kniete noch immer. Die Hände hatte sie um die Türklinke gekrampft. Sie war schweißgebadet, aber ich spürte auch ihre Angst, die sie vor dem Kreuz hatte. Meine Güte, was mußte sie so hart erwischt haben! Ich kam da einfach nicht mit. Es ging über mein Vorstellungsvermögen. Ich dachte an die Blitze und fragte mich, mit welch einer dämonischen oder satanischen Energie sie gefüllt gewesen waren. Schließlich war ich es leid, packte selbst zu und zerrte die Frau in die Höhe. Auf wackligen Beinen blieb sie stehen. Als ich sie umdrehen wollte, sträubte sie sich, fluchte wie ein Kesselflicker und wollte die Küche verlassen. Ich schleuderte sie herum und wieder zurück. Sie fiel gegen den Tisch, der bis zum Ofen katapultiert wurde. Dabei bewegte die Frau ihre Beine mit Trippelschritten, und ihre Augen waren jetzt feuerrot. Ich ging auf sie zu. Sichtbar trug ich das Kreuz. Im Licht der Lampe warf es einen silbrigen Reflex, der über den Körper der Frau hinwegfuhr. »Warum?« fragte ich sie. »Warum fürchten Sie sich vor dem Kreuz? Was hat es Ihnen getan? Ich will es wissen. Antworten Sie mir!« »Nein!« »Reden Sie!« Das Kreuz war nahe, zu nahe für sie, denn plötzlich schrie sie gellend auf. Ich zuckte zurück, auch ihr Körper zuckte, und bevor ich noch zugreifen konnte, war er bereits von der Tischplatte herabgerutscht und auf den Boden gefallen. Stumm und starr blieb er liegen. Es war nichts mehr wie sonst. Sie lag still und redete kein Wort. Sie konnte es auch nicht, denn sie war bewußtlos geworden. Mein Pech, mein Fehler? Hoffentlich nicht. Ich konnte mir und ihr nur die Daumen drücken, daß es tatsächlich nur eine Bewußtlosigkeit war.
Mrs. Norman lag da wie hingegossen. Ihre Augen standen offen, der Blick war starr. Sie bewegte nicht einmal ihre Lippen. Ich fühlte nach dem Puls. Ja, er war zu spüren. Mein Kreuz hatte sie nicht getötet, was mir wiederum bewies, daß sie noch nicht zu einem dämonischen Wesen degeneriert war, und dies wiederum war ein Hoffnungsschimmer. Ich richtete mich wieder auf und schaute mich versonnen in der Küche um. Nein, eine Lösung fand ich nicht. Es war einfach zuviel passiert, für das ich noch keine Erklärung wußte. Aber es mußte etwas geben, es mußte etwas dahinterstecken. Nicht grundlos erschien ein Unwetter über einem kleinen Ort und jagte seine verheerenden Blitze in die Häuser und Straßen. Da lief etwas… Was und von wem? Wer steckte dahinter? Mir war klar, daß es sich nur um eine dämonische Macht handeln konnte. Ich war voll hineingeraten, ein Zufall, könnte man sagen. Möglicherweise zog ich die Gefahr bereits an, wer konnte das schon wissen. Diese dämonische, noch unbekannte Kraft hatte etwas vor. Sie wollte Menschen in ihren Bann bringen, aber einfach so? Nur aus dem Himmel jagen und sich dann ausbreiten? Da kam ich nicht mit. Es konnte ja so sein, doch ich glaubte fest daran, daß es in diesem Dorf etwas gab, das mit dieser Kraft zusammenarbeitete und sie sogar noch verstärkte. Ja, das konnte sehr gut möglich sein, und meiner Ansicht nach mußte es sich dabei um einen Menschen handeln. Irgend jemand aus dem Kreis der Bewohner konnte durchaus den Mittler oder Übermittler spielen. Nur – wie fand ich ihn? Bevor ich die Küche verließ, schaute ich noch einmal nach Mrs. Norman. Wie groß der Schock durch den Anblick des Kreuzes gewesen war, konnte ich nicht sagen, und ich wußte deshalb auch nicht, wann sie erwachen würde. Ich hoffte, daß es noch in dieser Nacht geschah. Im Flur schaute ich auf die Uhr. Es war seit meinem Eintreffen schon einige Zeit vergangen, und ich grübelte darüber nach, wie lange Suko wohl noch brauchen würde, um Weldon zu erreichen. Eine Stunde – weniger? Wie ich ihn kannte, würde er sich beeilen. Vielleicht schaltete er auch die Sirene ein. Ich wollte mich nicht auf ihn verlassen und mußte zunächst den Weg allein gehen. Mit unsicheren Schritten trat ich hinaus in die frische Nachtluft. Unsicher deshalb, weil ich mich noch immer nicht fit fühlte und die Nachwirkungen dieses Überfalls deutlich spürte. Ich war inzwischen davon überzeugt, daß mich mein Kreuz gerettet hatte. Sonst wäre es mir unter Umständen so ergangen wie dem Kaufmann oder Missis Miller. Es waren zwei von
vielen. Ich dachte darüber nach, was mit den anderen Menschen passiert war, ob es möglicherweise auch Tote gegeben hatte. Dieser Gedanke erschreckte mich. Auf einmal kam mir die Luft nicht mehr so kühl und erfrischend vor. Ich empfand sie als heiß und stickig… In meiner Kehle war es trocken geworden. Mit langsamen Schritten durchquerte ich den Garten. Die Stille hing wie eine Bleidecke über dem Ort. Am Rand der Straße blieb ich stehen. Gegenüber sah ich den erleuchteten Lebensmittelladen von Vincent Miller. Nichts bewegte sich dort. Alles stand starr. Einen Plan hatte ich mir zurechtgelegt, wenn auch nur einen sehr schwammigen. Ich wollte den kleinen Ort zu Fuß erforschen und versuchen, den Gefahrenherd aufzuspüren… *** Nora Shane fühlte sich glücklich. So glücklich wie lange nicht mehr. Wie eine lebende Energiequelle kam sie sich vor, als sie sich in ihr Zimmer zurückzog. Dort setzte sie sich in den Sessel und spielte mit ihren Puppen. Das hatte sie ebenfalls schon seit langem nicht mehr getan, jetzt brauchte sie das einfach. Den Computer ließ sie links liegen. Sie hatte ein Licht eingeschaltet. Die kleine Lampe mit dem knallbunten Schirm stand neben dem Bett auf dem Nachttisch. Sie streute weiches Licht bis auf die Bettdecke. Sie hatte es geschafft. Ja, sie hatte es geschafft! Es wollte noch nicht richtig in ihren Kopf, und Nora hatte Mühe, es zu verarbeiten, aber es war eine Tatsache, und daran gab es nichts zu rütteln. Um sich selbst zu helfen und auch, um die Stille zu durchbrechen, sprach sie mit ihren beiden Puppen und erzählte ihnen mit rauher Flüsterstimme, was sie erlebt hatte. Die Puppen schienen zuzuhören. Nora war davon überzeugt, daß die Puppen jedes ihrer Worte verstanden. Wenn sie lächelte, erschien ein fremder Glanz in ihren Augen, und diesen Glanz glaubte sie auch in den Augen ihrer beiden Puppen zu erkennen. Schließlich hatte sie genug. Sie warf die Puppen auf das Kopfkissen. »Warum bin ich nicht glücklich?« Nora erschrak vor dieser Frage selbst. Sie hatte sie sich eigentlich nicht stellen wollen, sie war einfach über ihre Lippen gedrungen. War sie denn nicht glücklich? Wenn sie Seelenforschung betrieb und dabei objektiv war, dann stimmte dies. Konnte es auch an den Gedanken liegen, die eines Kindes nicht würdig waren? Waren es die Gedanken einer Erwachsenen? Sie war in
den letzten Minuten innerlich um Jahre gereift. So wie sie reagierte keine Zwölfjährige. Komisch… »Ich bin nicht glücklich!« Diesmal hatte sie sich keine Frage gestellt, sondern eine Feststellung getroffen. Das erschreckte sie. Zum erstenmal spürte sie den Schauer auf ihrem Rücken. Wieso konnte sie das sagen? Warum war sie denn nicht glücklich? Es hatte doch alles wunderbar geklappt. Anscheinend doch nicht, und sie saugte scharf die Luft ein. Nicht glücklich, das konnte nicht sein, das war doch Unsinn! Sie hätte glücklich sein müssen, denn für sie war alles optimal gelaufen. Das wollte ihr nicht in den Kopf. Gleichzeitig empfand sie es auch als eine Warnung, die ihr die Freunde zukommen ließen. Etwas war anders geworden oder hatte nicht so geklappt, wie es hätte sein sollen. Unruhig bewegte sich Nora auf ihrem Platz. Sie ließ die Blicke durch das Zimmer gleiten, dessen Winkel im Halbdunkel lagen. Schatten überall… Schwarzgrau und verwaschen. Nur an den Fenstern waren sie etwas heller geworden. Der Mund kam ihr rissig vor. Wenn sie schluckte, schmeckte sie eine gewisse Bitternis. Auf der Stirn lag der Schweiß wie ein dünner Film. Warum sie ihren Blick auf den Monitor richtete, wußte sie selbst nicht, aber sie spürte plötzlich ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Da kam etwas auf sie zu. Ihre Freunde hatten sich gemeldet. Nora wußte, daß sie etwas von ihr wollten. Vielleicht eine Botschaft? Oder sollte sie getröstet werden? Alles konnte eintreffen, aber sie selbst hätte keine Voraussage gewagt. Das Kribbeln blieb, und sie sah auch keinen Grund, ihre Sitzhaltung zu verändern. Der Computer und der Monitor standen auf ihrem Schreibtisch, der Drucker daneben auf einem kleinen Tisch, und sie sah keinen Grund, ihren Blick von der grauen Fläche abzuwenden. Etwas zwang sie sogar, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren. Angst hatte sie nicht. Dafür durchströmte sie ein anderes Gefühl. Da sie es nicht identifizieren konnte, nahm sie es auch weiterhin als Botschaft ihrer Freunde hin. Sie meldeten sich über den Monitor! Urplötzlich kam Leben in diesen Apparat. Auf dem Bildschirm huschten Schatten hin und her. Sie hatten keine bestimmte Form, aber sie faszinierten die junge Zuschauerin. Das Mädchen setzte sich steif hin. Es drückte die Hände flach auf die beiden Lehnen des Sessels. Das langsame Gleiten der Schatten hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie ging davon aus, daß es einen Sinn haben mußte.
Von verschiedenen Seiten trieben sie aufeinander zu, so daß sie sich zu einer kompakten Masse vereinigten, die nach einer kurzen Zeitspanne auch eine Gestalt bekam. Da entstand ein Wesen… Ein Mensch etwa? Nora hörte sich selbst atmen, so erregt war sie. Der Monitor bannte sie. Auch wenn sie es gewollt hätte, sie hätte es nicht geschafft, den Blick vom Bildschirm zu nehmen, zu interessant war das alles, was sich dort abspielte. Es hatte unmittelbar mit ihr zu tun, aber die Idee, die ihr eigentlich kommen mußte, trat nicht ein. Sie horchte nach innen. Auch das schaffte sie seit einiger Zeit, denn ihre unsichtbaren Freunde halfen ihr dabei. Sie wollte einfach >hören<, ob sich da etwas ergab, aber es kam kein Echo. Kein Flüstern oder Wispern, nur eine graue Wand. So jedenfalls sah Nora es, und sie dachte über die Wand nach. Mit dem Verstand einer Erwachsenen erkannte sie, daß dieses Erscheinen der Wand nur symbolisch gemeint war. Wenn ein derartiges Symbol so bedrückend erschien, dann gab es nur eine Lösung, die Nora auch sehr schnell begriff. Gefahr! Ja, nur das konnte es bedeuten. Es war die reine Gefahr, die sich ihr näherte, und sie überlegte plötzlich, ob sie nicht doch einen Fehler begangen hatte. Was hatte sie unter Umständen falsch gemacht oder nicht beachtet, daß irgendwelche Gegner auf den Plan gerufen worden waren? Gab es die überhaupt? Waren Menschen so stark genug, um es mit dem Geisterreich aufzunehmen? Oder kam die Gefahr etwa aus den eigenen Reihen? Nora wußte leider keine Antwort. Ihre Euphorie und das Gefühl der Sicherheit waren verschwunden. Dafür erfaßte sie ein Paradoxon. Sie glaubte, daß in ihrem Innern ein kleines Feuer loderte. Ihr Herz würde verbrennen! Schwer holte sie Luft. Im nächsten Moment drehte sich die Umgebung vor ihren Augen. Der Bildschirm wurde zu einem schwankenden Kreisel, was aber bald vorbei war. Sie atmete auf und schrak gleichzeitig zusammen. Da war jemand! Auf dem Schirm zeichnete sich eine Gestalt ab. Es war die Gefahr, und sie hatte sich personifiziert. Diese Gestalt war ein Mensch, ein Mann, wie Nora deutlich erkannte. Der Mann hatte kein Gesicht, er war nur ein Schatten auf dem graugrünen Hintergrund. Das Mädchen, sehr sensibilisiert, spürte deutlich die Ströme, die ihr da unsichtbar entgegen wehten. Daran trug die Gestalt die Schuld. Ja, nur sie…
Nora zog ein Fazit. Es gab also einen Feind. Und sie konnte sich vorstellen, daß sich dieser Gegner auch in der Nähe aufhielt, was nichts anderes hieß, als daß er im Ort war. Er hielt sich in Weldon verborgen. Auch für eine Person wie sie war es schwer, dies zu begreifen. Mit den gespreizten Fingern fuhr sie durch ihr Haar. Dabei lauschte sie wieder dem Knistern, bevor das Haar wie eine Welle zurückflutete. Sie ging auf den Monitor zu. Möglicherweise konnte sie aus der Nähe mehr sehen, aber das war auch nicht der Fall. Die Gestalt blieb gesichtslos. Die Warnung ihrer Freunde stand im Raum. Und Nora wußte jetzt sehr genau, was sie zu tun hatte. Würde sie noch wie ein Kind denken, hätte sie anders reagiert und wäre wahrscheinlich geflüchtet. Aber sie dachte wie eine Erwachsene und vertraute auch auf die Macht ihrer Freunde. Deshalb mußte sie das Haus verlassen und die Gefahr suchen. Es gab mehrere Telefone im Haus. Auch unten in der großen Diele stand eines. Das Mädchen schreckte zusammen, als der Apparat schrillte. Abheben oder nicht? Sie entschied sich dafür. Wahrscheinlich war es die Tante. Sie war immer unruhig, wenn ihre Nichte allein war. »Ja…« Dinah Shane war es tatsächlich. Das Mädchen hörte sie schnaufen. »Schein, daß du da bist.« »Wo sollte ich denn sonst sein?« Die Frau lachte. »Ja, wo schon? Ich weiß es nicht. Ich… ich… nur eine seltsame Ahnung.« »Ahnung?« »Ach, das verstehst du nicht.« Sie räusperte sich. »Ist sonst alles in Ordnung?« Nora schaute sich um und lächelte. »Ja, Tante Dinah, es ist alles super.« »Na, das freut mich. Nur eines noch: Deine Stimme klingt so anders. Wie kommt das?« Das Mädchen zuckte zusammen. »Es mag daran liegen, daß ich müde bin.« »Nein, nein, das Gegenteil ist der Fall. Sie klingt nicht müde. Du wirkst eher aufgekratzt.« »Das kann nicht stimmen, Tante Dinah. Ich wollte gerade ins Bett gehen, glaub mir.« »Na ja, wie du meinst.« Im Hintergrund hörte Nora Stimmen. Die Freunde drängten Dinah Shane, endlich aufzulegen. Sie tat es, nachdem sie noch Grüße übermittelt hatte. Nora war zufrieden. Jetzt hatte sie aus der Richtung nichts mehr zu befürchten. Nur aus einer anderen. Die Gefahr war da. Aber Nora würde sie vernichten! Suko gähnte, verringerte die Geschwindigkeit und dachte darüber nach, daß es eigentlich Irrsinn war, was er hier tat. Durch die Nacht zu rasen,
und das nur auf einen Verdacht hin. Allerdings hatte sein Freund John Sinclair ihn ausgesprochen, und da war die Lage schon anders. John alarmierte nicht ohne Grund. Wenn er allein nicht zurechtkam, mußte er in Schwierigkeiten stecken. Suko erinnerte sich an das Gespräch mit dem Geisterjäger. Da war von einem ungewöhnlichen Licht die Rede gewesen. Bisher hatte der Inspektor noch kein derartiges Leuchten gesehen. Er war durch die Nacht gefahren, und die hatte sich gezeigt wie immer. Mit einer tiefen Dunkelheit, in der die Wolken am Himmel schwammen und manchmal aussahen wie weißgraue Inseln, die durch ein Meer trieben. Nach der schon unangenehmen Wärme des Tages war es herrlich kühl geworden. Suko hatte das Schiebedach zurückfahren lassen. Er genoß die frische Luft, die immer dann würziger roch, wenn er an Waldstücken vorbeifuhr oder sie durchquerte. Er fuhr zügig, manchmal auch schnell, aber nie halsbrecherisch. Wenn jemand entgegenkam, wirkte das Licht wie ein zitternder Gruß aus der Schatten weit. An der Straße lagen kleine Orte. Suko kannte sie nicht. Dörfer in der Bilderbuchlandschaft im Südosten Englands, oft verwunschen aussehend, manchmal im Licht der Gestirne auch märchenhaft pittoresk. Es war wenig Leben in den Dörfern, nicht viele Lichter brannten, beleuchtet waren zumeist nur die Gasthäuser und die Pubs. Weldon lag sehr einsam. Als Suko den letzten Ort vor seinem Ziel durchfahren hatte, mußte er den Wagen noch runde zwanzig Meilen rollen lassen. Verstohlen schaute er immer wieder auf die Uhr. Die mit John ausgemachte Zeit würde er nicht einhalten können. Die breiten Reifen des BMW schmatzten über den Asphalt. Der schwarze Wagen im Metalliclook duckte sich in die Straße hinein wie ein Raubtier, das mit seinen bleichen Augen alles schluckte. Die Landschaft bestand aus einer Ansammlung von Hügeln. Dazwischen breiteten sich Felder aus. Weiden wurden von schmalen Bächen durchflössen. Die Menschen gingen, wenn sie die Bäche durchquerten, auf engen Steinbrücken, die schon Jahrhunderte zuvor dort gestanden hatten. Mal erschien ein einsames Gehöft oder ein verstecktes Hotel. Gebaut im Landhaus-Stil. In den letzten Jahren war es Mode geworden, mal das eine oder andere verlängerte Wochenende dort zu verbringen. Doch mitten in der Woche, so wie jetzt, waren die Bauten einsam und leer. Sukos BMW fraß Meile um Meile. Konzentriert saß der Inspektor hinter dem Lenkrad. Sein Blick war nach vorn gerichtet. Johns Warnungen lagen in seinem Hinterkopf. Er war darauf eingestellt, jede Veränderung sofort zu registrieren, doch nichts wies darauf hin, daß diese Ruhe gestört sein konnte.
Die Straße führte leicht bergan, lief dann auf gerader Strecke weiter, wurde von schrägen Böschungen flankiert – und mündete in einem kleinen Tal, wo Weldon lag. Suko verringerte das Tempo. Er hatte sich vorgenommen, langsam in den Ort hineinzufahren. Er wollte dieses Bild genau in sich aufnehmen und so versuchen, etwas von der Andersartigkeit wahrzunehmen, die Weldon angeblich auszeichneten Zu spüren war bisher nichts. Alles schien völlig normal zu sein. Die Laternen brannten, er sah die Häuser und auch das Licht hinter vielen Fenstern. Hatte sich sein Freund geirrt? Suko fuhr weiter. Die ersten Häuser tauchten auf. Nicht sehr hoch, der Landschaft angepaßt. Große Gärten, in denen die Obstbäume wuchsen. Er sah Hecken und Mauern, die aus dicken Steinen errichtet worden waren. Alles normal – oder doch nicht? Suko glaubte daran, daß etwas nicht stimmte. Er konnte es nicht genau in Worte fassen, aber er war davon überzeugt, daß Weldon nicht zu den normalen Orten zählte. Um eine Idee lenkte er den Wagen nach links und ließ ihn am Rand der Straße ausrollen. Er blieb sitzen. Das Licht der Scheinwerfer strahlte nicht mehr. Die nächtliche Szenerie hielt den Inspektor umfangen. Er hatte sich etwas mehr als eine Viertelstunde verspätet, aber das konnte es nicht sein, was ihn beunruhigte. Auch nicht, daß ihn John noch nicht entdeckt hatte. Er hätte eigentlich sehen müssen, wenn ein Wagen in den nächtlichen – stillen – Ort einfuhr. Es war etwas anderes, und Suko wußte es nicht genau. Möglicherweise machte er auch einen Fehler, wenn er im Fahrzeug blieb, er mußte aussteigen, um die Atmosphäre zu schnuppern. Suko verließ den BMW. Stille, Ruhe. Da hörte es sich schon laut an, als er die Wagentür zudrückte. Er ging einige Schritte auf die Straßenmitte zu, wo er dann stehenblieb und sich ein wenig vorkam wie ein Revolverheld, der vergeblich auf seinen Todfeind wartet. Es kam niemand. Eine halbe Minute verstrich, und Suko nahm die Eindrücke dieses Ortes immer stärker in sich auf. Natürlich waren viele Dörfer um diese Zeit zumeist ausgestorben, aber hier in Weldon gab es einfach nichts, was sich bewegt hätte. Hier war alles still, tot oder verlassen. Weldon glich einer Geisterstadt, einem Ort des Sterbens, der Toten. Als hätten sich die Menschen vor Angst verkrochen, um nicht von irgendwelchen bösen Geistern gestört zu werden. Das sah er nicht gerade als gut an. Er wußte auch, daß im Schutz der Dunkelheit dämonische Mächte lauern konnten, die blitzschnell zuschlugen, wenn es darum ging, Menschen zu töten.
Es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Suko empfand die Stille als bedrückend und auch als tot. Ja, er konnte sich nicht vorstellen, daß sie durch irgendein Anzeichen von Leben durchbrochen wurde. Hier war alles so dumpf, so menschenfeindlich, und in der Dunkelheit lauerten der Tod und die Gefahr. Diese Annahme brachte ihn wieder auf seinen Freund John Sinclair, der ihn in Weldon erwarten wollte. Er hatte sich nicht gezeigt, und Suko dachte über eventuelle Gründe nach. Wollte oder konnte er nicht? Wahrscheinlich traf die letzte Annahme zu. Sie machte Suko keinesfalls ruhiger. Er hatte feuchte Hände bekommen. Allmählich wurde er nervös. Nicht ein Tier huschte über die Straße oder verschwand in einer der dunklen Gassen. Suko war überzeugt, daß es keinen Sinn hatte, hier länger zu warten. Wenn John gekonnt hätte, dann wäre er bestimmt gekommen. Er hätte sicherlich das fremde Licht des einfahrenden Fahrzeugs gesehen, denn so groß war Weldon nicht. Also hatte man ihn daran gehindert. Es blieb Suko nur eines übrig: Er mußte sich auf den Weg machen und seinen Freund suchen. Mist auch, dachte er, denn es gefiel ihm aus zwei Gründen nicht. Erstens war er von seiner eigenen Aufgäbe abgelenkt, und zweitens wollte er John nicht gerade als Toten oder Schwerverletzten finden. Etwas mußte er tun. Seine Schritte hörte er deutlich, obwohl er sich bemühte, leise zu gehen. Menschen wohnten hier. Er sah sie nicht, aber er wollte wissen, was mit ihnen geschehen war, wissen, ob sie schon in den Betten lagen, was er eigentlich nicht glauben wollte. Suko ging auf das erste Haus zu. Es lag an einer Ecke. Im unteren Bereich waren die Rechtecke der Fenster hell. Sie lagen nicht sehr hoch, es gab auch keinen Vorgarten, und Suko kam ohne Schwierigkeiten bis dicht an die Scheiben heran. Er blickte in eine Küche. Sie war schmal, aber ziemlich lang. Die Schränke verteilten sich auf zwei Seiten. Am anderen Ende sah Suko noch ein Fenster. Dort brannte auch das Licht. Da stand ein ziemlich großer Tisch, an dem sich zwei Menschen gegenübersaßen. Ein Mann und eine Frau. Nicht weit entfernt lief der Fernseher. Ein völlig normales Bild, doch für Suko nicht normal, denn die Frau und der Mann saßen sich allzu steif gegenüber. Als wären sie schon lange tot und konserviert worden. Ein unbehagliches Gefühl beschlich den Inspektor. Wer zum Fenster schaute, mußte sein Gesicht sehen, das sich hinter der Scheibe in der
unteren Hälfte abzeichnete, aber die beiden rührten sich nicht. Dafür meldete sich Suko. Er klopfte gegen die Scheibe. Die Menschen reagierten nicht. Suko verstärkte sein Klopfen. Auch damit erreichte er nichts. Sie hörten nicht oder wollten nicht hören. Es hatte keinen Sinn. Er ging zurück und unternahm erst gar nicht den Versuch, in das Haus einzudringen und sich genauer zu erkundigen. Er wollte sich erst ein allgemeines Bild verschaffen, deshalb wollte er den gesamten Ort durchwandern. Ein Dorf der Toten! Der Vergleich hinkte zwar, bisher hatte Suko keine Leiche zu Gesicht bekommen, aber der Eindruck wollte einfach nicht weichen. Weldon glich einem gespenstischen Friedhof, die Häuser waren hohe Gräber, die Straßen nicht mehr als dunkle Pfade ins Totenreich, durch die hin und wieder der Wind strich. Was war hier geschehen? Suko hatte keine Anhaltspunkte bekommen. John hatte nur von dem Licht gesprochen, das plötzlich und unerwartet erschienen war und sich aus unzähligen Blitzen zusammengesetzt hatte. Ein Licht aus dem finsteren Himmel, als wäre über dem Ort ein Komet zerplatzt. Nein, das konnte es nicht sein! Kein Komet, keine Lebewesen aus einer fremden Galaxis. Es mußte eine andere Erklärung geben. Einige Minuten später hatte Suko die ungefähre Ortsmitte erreicht. Das nahm er jedenfalls an. Viel hatte sich nicht verändert. Möglich, daß die Häuser etwas dichter beisammen standen, auch die Gärten oder Vorgärten waren nicht mehr so groß, dafür die Schatten länger und dichter. Einige Laternen spendeten ihren matten Schein. Das Licht reichte kaum aus, um etwas mehr erkennen zu können. Es wirkte in der Dunkelheit verloren und verlassen. In den Großstädten waren die Auslagen der Geschäfte auch in der Nacht beleuchtet. Das fiel hier in Weldon zwar nicht weg, aber die Beleuchtung war schon als traurig anzusehen. Für Suko sah es aus, als würden die Lampen nur mit halber Kraft brennen. Etwas stimmte hier nicht. Davon ging Suko aus, das war für ihn keine Frage. Nur kam er nicht damit zurecht, was in dieser finsteren Umgebung falsch war. Abgesehen von den Bewohnern, die in einer tiefen Starre oder Veränderung lebten, konnte er überhaupt nichts sagen. Und auch sein Freund John Sinclair hatte sich nicht gezeigt. So war Sukos Hoffnung, ihn hier in der Ortsmitte zu treffen, ebenfalls zusammengebrochen. Wen konnte er fragen, wo sollte er hineingehen? Suko wußte einfach zuwenig über Weldon, ihm war nicht einmal bekannt, ob in dem Ort eine
Polizeistation existierte. Wenn ja, hätte er dort hingehen und sich erkundigen können. Er legte seinen Kopf in den Nacken und ließ die Blicke über den finsteren Himmel gleiten. Das Panorama der Sterne interessierte ihn dabei weniger, er wollte eben alles absuchen, was sich in seinem Sichtbereich befand. Ein seltsames Glänzen fiel ihm auf. Zuerst dachte er an den Widerschein eines Gestirns, das konnte es jedoch nicht sein. Sukos Neugierde war geweckt. Von ungefähr war das dort nicht entstanden, es mußte schon einen Grund gehabt haben, und den wollte er sich aus der Nähe ansehen. In der Dunkelheit hatte er sich in der Entfernung geirrt. Er konnte nicht auf der Hauptstraße bleiben und mußte in eine Gasse eintauchen, die ihn an einen schmalen, aber stockfinsteren Tunnel erinnerte. Nur seine Schritte waren zu hören. Ansonsten schlief um ihn herum alles. Er empfand es als bedrückend, durch die Schwärze zu gehen, in seinem Nacken spürte er das berühmte Kribbeln und rechnete auch mit einem Angriff. Da passierte nichts. Die Stille blieb, das Geräusch seiner Schritte veränderte sich auch nicht, die dunklen Hauswände traten zurück, er sah vor sich einige Lichtflecken und den dunklen Umriß eines größeren Hauses. Vor ihm verlief eine breite Straße. Die Gärten sahen aus wie eingefrorene Schatten. Der Wind bewegte die Blätter an den Obstbäumen. Allerdings nicht so stark, daß sie gegeneinander raschelten. Das Glänzen war geblieben. Suko sah es noch immer als unnatürlich an. In Dachhöhe, aber seitlich davon, schickte es seinen matten Schein in die Dunkelheit, ohne sie allerdings aufzuhellen. Das Tuch der Nacht war einfach zu dicht. Dieses für sich stehende Haus war relativ groß. Wenn dort eine Familie lebte, konnte sie sich über Platzmangel nicht beklagen. Zur Straße hin war das Grundstück durch einen weißgestrichenen Zaun abgesichert worden. Ihn passierte Suko. Er stellte fest, daß der Zaun nicht um das gesamte Grundstück herum errichtet worden war, sondern dort endete, wo die Seiten anfingen. Suko blieb da stehen. Schräg über ihm und an der seitlichen Dachkante schimmerte noch immer der silbrige Glanz. Bisher hatte er diesen Gegenstand nicht identifizieren können, nun, da er in der Nähe stand, wußte er genau, was es war, und er hätte beinahe gelacht. Es war sehr simpel. Über ihm schimmerte eine Schüssel. Ziemlich groß, und mit dem Gestänge war sie in einem schrägen Winkel dicht unter dem Dach an der Hauswand angebracht worden. Eine Satellitenschüssel. Damit konnte der Besitzer zahlreiche Programme empfangen. Suko war zwar kein Fachmann, er kannte sich trotzdem mit diesen Schüsseln aus. Deshalb war es ihm ein Rätsel, wie diese
Schüssel glänzen konnte. Es war kein Licht vorhanden. Äußerliche Einwirkungen schieden also aus. Kam der Glanz von innen? Das war möglich, das mußte so sein, und Suko, der vom langen Starren schon fast einen steifen Nacken bekommen hatte, machte sich so seine Gedanken. Konnte es sein, daß die Schüssel in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Vorgängen hier stand, von denen sein Freund John Sinclair erzählt hatte? War sie der auslösende Faktor gewesen? Eine Theorie nur, aber Suko war auf jeden Strohhalm angewiesen. Er hörte ein Geräusch. Eigentlich leise, nur in der Stille klang es ziemlich laut, und es war auch nicht weit vo ihm entfernt. Schaben, Kratzen? Er schaute nach rechts, bewegte sich dabei, ohne von der Stelle zu weichen. Suko war bereit, sofort seine Waffe zu ziehen und sie einzusetzen. Noch konnte er nichts erkennen, bis er das Kratzen über sich hörte und dazu ein leises Fauchen. Er entspannte sich. Eine Katze konnte ihn kaum gefährlich werden. Es sei denn, sie wäre verändert worden, doch das wiederum hatte er nicht gesehen. Die Katze, sie war ebenfalls schwarz wie die Nacht, nahm vor ihm auch nicht Reißaus. Sie huschte an der Hauswand in die Höhe, sie krallte sich fest, sie schob sich voran und kümmerte sich nicht um ihn. Sie turnte über den Dachrand hinweg und erreichte sehr bald schon das Gestänge, mit dem die Schüssel an der Hauswand angebracht worden war. Die Katze spazierte über das Gestänge hinweg. Ihr Körper verschmolz mit der Dunkelheit, und für Suko sah es so aus, als würden zwei gelbe Augen allein durch die Nacht wandern. Dann hatte die Katze den Rand der Schüssel erreicht. Suko war gespannt darauf, wie es weitergehen würde. Sie blieb zunächst dort hocken, schaute in die Tiefe, als wollte sie Suko einen Gruß schicken, dann huschte sie weiter. Sie ging sehr schnell, natürlich lautlos und wanderte auf der nach innen geneigten Fläche der sehr großen Empfangsschüssel. Das empfand Suko nicht als unnormal. Was dann passierte, damit hätte er nicht gerechnet, das war unglaublich und kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das Tier hatte sich an der Schüssel festgekrallt. Die Katze stand so, als wollte sie jeden Augenblick nach vorn springen, aber sie stieß sich nicht ab. Sie blieb in ihrer Haltung. Sie wirkte wie festgeklebt. Trotz der Dunkelheit erkannte Suko, wie sich das Fell der Katze sträubte. Sie öffnete ihr Maul. Ein klägliches Miauen drang daraus hervor, das sich zu einem Schrei steigert. Verspürte sie Schmerzen? Etwas zischte.
Diesmal war es nicht die Katze gewesen. Es hatte eine andere Ursache. Dampf umwölkte für einen Moment den Katzenkörper, nebelte ihn ein. Trotzdem konnte Suko das Schreckliche noch erkennen. Der Körper glühte auf. Es gab kein Feuer, das ihn erfaßt hätte. Er glühte von innen, und diese Kraft war derartig stark, daß der Körper des Tieres auch verglühte. Er verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in Asche, die an den Seiten der Schüssel herabregnete. Suko hatte noch immer den glühenden Katzenkörper vor Augen, als er von den ersten Aschewolken getroffen wurde. Der Inspektor wechselte seinen Standort. Er trat aus dem Ascheregen heraus. Nicht ein Knochen befand sich darunter, auch nicht der Rest eines Auges, kein Stück Fell, die Katze war verglüht, und das konnte Suko nicht fassen. Er sah die letzte kleine Wolke in die Tiefe stäuben und schüttelte den Kopf. Es war einfach nicht möglich, diese Dinge zu begreifen. Die Katze hatte sich nur für einen Moment auf der Schüssel aufgehalten, dann war sie verglüht, und er fragte sich, wie so etwas nur möglich war. Er wußte die Antwort nicht. Das heißt, er wußte sie schon. Mit dieser großen und eigentlich normal aussehenden Schüssel stimmte etwas nicht. In ihr steckten fremde Magien, die nichts anderes zuließen. Diese Schüssel war zugleich der Schlüssel zu dem düsteren Geheimnis, das über Weldon lag. Wer wohnte in diesem Haus? Suko war überfragt. Er nahm sich vor, dies herauszufinden. Hinter den Fenstern an der Vorderseite hatte er schließlich Licht gesehen, also war jemand zu Hause. Waren die Bewohner informiert? Waren sie Täter oder Opfer? Suko schwankte zwischen den beiden Möglichkeiten. Er glaubte allerdings fest daran, daß er in den folgenden Minuten mehr erfahren würde. Einen letzten Blick warf er noch auf die Schüssel. Sie sah so harmlos aus, auch wenn ihre leichte Übergröße auffiel. Doch eine Gefahr ging von ihr bestimmt nicht aus. Aber Suko war gewarnt und gespannt darauf, was ihm die Bewohner erzählen würden… *** Nora Shane dachte immer wieder an die Gestalt auf dem Bildschirm, die nicht mehr als ein Schatten gewesen war. Gerade mit dem Computer hatte sie sich eng verbunden gefühlt. In ihm steckten ebenfalls die Energien ihrer Geisterfreunde. Sie wußte, daß sie in einem anderen Reich geliebt wurde, und so war der Computer für sie so etwas wie ein Mittler zwischen den beiden unterschiedlichen Welten.
Sie war noch selbst aufgeladen. In ihrem Körper tobten andere Energien, wobei sie ihr auf keinen Fall unangenehm waren. Im Gegenteil, sie freute sich darüber. So konnte sie davon ausgehen, daß sie unter dem Schutz der anderen Macht stand und Menschen ihr kaum etwas anhaben würden. Schon gar nicht die Bewohner von Weldon. Das heißt, eine Ausnahme gab es schon. Der Schatten auf dem Monitor… Immer wenn sie an ihn dachte, rieselte eine Gänsehaut über ihren Rücken. Er hatte die Gefahr signalisiert, und sie spielte mit dem Gedanken, im Haus zu bleiben, weil es für Nora ein Hort der Sicherheit war. Das Haus war ihre Burg. Wo befand sich die Gefahr? Nora dachte analytisch. Bestimmt nicht innerhalb der Mauern. Sie mußte sich noch vor dem Haus aufhalten, draußen, wo die Finsternis lauerte. Auch wenn das stimmen sollte, wollte sie sich erst davon überzeugen. Deshalb verließ sie das große einsame Haus. Aber nicht durch die Vordertür, es gab durchaus noch andere Schlupfwinkel, denn hinter dem Gebäude breitete sich der Garten aus. An der Rückseite befand sich eine schmale Tür, nicht weit von den Vorratsräumen entfernt, denn einen Keller gab es nicht. Wie viele Häuser in England war es damals ohne Keller gebaut worden. Vor der Hintertür blieb sie für einen Moment stehen. Sie legte die Hand auf die kühle Klinke. Sie kam ihr vor wie ein Stück Eis, das auf der warmen Hand schmolz. Es war nicht abgeschlossen. Als Nora die Tür aufzog, lächelte sie. Ihr Onkel hatte schon dafür gesorgt, daß in den Angeln nichts knarrte. Sie waren von ihm gut geölt worden. Sie trat hinaus. Kühle Luft empfing sie. Nora fühlte sich gut, so leicht und gleichzeitig so stark. Die Kräfte der anderen Welt steckten in ihr und würden auch so leicht nicht verschwinden. Es paßten sogar noch welche in sie hinein, und sie nahm sich vor, sich später weiter aufzuladen. Da konnte es durchaus sein, daß wieder ein gewaltiges Blitzgewitter auf Weldon niederging, diesmal noch intensiver und mit weiterreichenden Folgen. Man hatte sie gereizt, man hatte ihr einen Gegner geschickt, und da mußte sie einfach etwas unternehmen. Der schmale Weg lag im Dunkeln. Er führte direkt an der Hauswand entlang. Weiter vorn schimmerten die Platten eines anderen Pfads. Er führte in den kleinen Nutzgarten hinein. Links davon breitete sich der Obstgarten aus, er war wild gewachsen und wurde kaum gepflegt. Nora huschte dorthin. Sie selbst hatte dabei den Eindruck, fliegen zu können. Ihre Füße glitten nur so über den Rasen hinweg. Sie knickte die hohen Halme, und sehr
bald schon erreichte sie die Schatten der ersten Bäume, die skurrile Figuren auf den Boden malten. Sie blieb stehen. Der Platz war günstig. Nora konnte nicht nur die Rückseite des Hauses mit den dunklen Fenstern im Auge behalten, sie konnte auch das Ende der breiten Hausseite sehen, wo ebenfalls ein schmaler Weg entlangführte und auch die Schüssel angebracht worden war. Sie gehörte ebenfalls dazu, durch sie empfing Nora die Energien aus der anderen Welt, und die Schüssel sorgte dafür, daß dies verstärkt wurde. Die Schüssel war wichtig… Etwas huschte mit langen Sprüngen an ihr vorbei, als hätte das Wesen Angst vor Nora. Sie konnte es noch verfolgen und sah die Katze um die Hausecke wischen. Wenig später hörte sie das Kratzen, als das Tier an der rauhen Hauswand hochkletterte. Noch ein anderes Geräusch drang an ihre Ohren. Tritte? Wenn ja, dann waren sie sehr behutsam und vorsichtig gesetzt, als wäre ein Dieb dabei, sich anzuschleichen. Nur wollte das Mädchen nicht an einen Dieb glauben, das mußte eine andere Person sein, und sie wußte auch, welche. Der Feind! Sie schluckte! Scharf saugte sie die Luft ein. Plötzlich brannten ihre Augen. Energien durchtosten sie. Nora fühlte sich gut, kraftvoll, aber sie mußte die Energien im Zaum halten. Sie durfte sich jetzt nicht zu erkennen geben, hier war sie nicht stark genug, um den Feind zu vernichten. Sie brauchte noch einen gewaltigen Push, und den würde sie im Haus bekommen, das stand fest. Ein Schatten huschte über den Rand der Schüssel hinweg. Wenig später hatte die Katze das Zentrum erreicht. Dort packten die anderen Mächte zu. Das Tier verglühte. Nora schaute zu und lächelte. Sie sah kein Feuer, nur eben dieses dunkelrote Glühen, das den Körper in Sekundenschnelle in Asche verwandelte. Sie rieselte nach unten. Nora hörte die schnellen Schritte des Fremden, als er sich zurückzog und sehr bald wieder stehenblieb. Er würde mit diesem Problem belastet sein und nach einer Erklärung suchen. Nora konnte sich vorstellen, daß so etwas Zeit kostete, und sie wollte sie nutzen. Der Fremde hatte jetzt erfahren, daß etwas nicht stimmte. Nora traute ihm zu, daß er der Sache auf den Grund gehen wollte, aber nicht nur außen, sondern auch innen. Er würde also das Haus betreten, und das wollte sie ihm leichtmachen. Nicht an der Hinterseite, sondern vorn, er sollte durchaus so kommen wie ein Besucher.
Zuviel Zeit durfte sie sich nicht lassen, deshalb huschte sie aus der Deckung der Obstbäume und drückte schnell die Hintertür auf. Sie war in Sicherheit und atmete auf, während sie so gut wie lautlos die Tür hinter sich schloß. Neben der Tür hing an der Wand ein kleines Schlüsselkästchen. Sie wählte unter den verschiedenen Schlüsseln den passenden aus und schob ihn in das Schloß. Zweimal drehte sie ihn herum. Dieser Weg war versperrt. Dann kümmerte sie sich um die anderen Dinge. So schnell wie möglich lief sie zur Eingangstür. Ihr Atem flog, als sie stehenblieb. Es gelang Nora nicht, die Nervosität zu unterdrücken. Sie bewegte ihre Hände gegeneinander, rieb sie trocken, erst dann schloß sie die Haustür auf. Dabei blieb es nicht, Nora öffnete sie und warf einen ersten Blick nach draußen in den Vorgarten, an dessen Rand sich der weiße Zaun abzeichnete. Seine Pfähle leuchteten wie bleiche Knochen, die jemand nebeneinandergestellt hatte. Am Himmel lag das Bild der Gestirne wie gemalt. Der Mond hatte sich auch nicht mehr hinter den Schleiern vergraben. Erleuchtete nicht voll. Sein Licht wirkte blaß, und die Dunkelheit des Firmaments hinter ihm führte in die Unendlichkeit hinein. Noras Augen bekamen einen ungewöhnlichen Glanz. Sie sahen aus, als hätte sie das Licht der Sterne mit ihren Pupillen eingefangen. Es war die Kraft der anderen in ihrem Innern, die dazu beitrug, und sie vibrierte vor Erwartung. Der Fremde war hier, aber nicht da. Sie sah im Vorgarten keine Bewegung. Die Stille glich einer Bedrohung. Nicht für sie, sondern für den anderen. Sie würde sich ihre Welt nicht zerstören lassen, Nora wollte für ihre Welt kämpfen. In diesem Bewußtsein schloß das Mädchen die Tür. Zwölf Jahre war es alt. Äußerlich wirkte es auch nicht älter, doch im Innern sah es anders aus. Da war sie schon eine junge Erwachsene, die sehr genau wußte, was sie wollte. In ihrem Innern war kein Platz mehr für gute Gefühle. Sie dachte auch nicht an ihre Verwandten, jetzt zählte ausschließlich sie und ihr gewaltiger Plan. Sie zog sich mit schnellen Schritten zurück. Dann huschte sie die Treppe hoch. Das Innere des Hauses lag in einem geheimnisvollen Halbdunkel. Nora würde auch keine weiteren Lampen einschalten. Was an Energie gebraucht wurde, steckte in ihrem Körper. Mit dem rechten Ellbogen drückte das Mädchen die Tür zu seinem Zimmer auf, und der erste Blick galt dem Monitor. Die Gestalt war noch da! Nora bewegte sich nicht. Sie trat näher an den Bildschirm heran. Dabei erinnerte sie sich daran, wie er ausgesehen hatte, als die Gestalt ihr zum erstenmal erschienen war.
Da war sie schon an den Seiten verschwommen gewesen. Das hatte sich jetzt geändert. Sehr scharf und deutlich zeichnete sie sich ab. Für sie ein Zeichen, daß sich der Fremde dem Ziel immer mehr genähert hatte. Er stand also fast vor dem Haus. Es war nicht so, als wäre es von Video-Kameras überwacht worden, denn eine Umgebung malte sich auf dem Monitor nicht ab. Nur eben der Schatten eines Menschen. Nora war sehr zufrieden. Die Tür zu ihrem Zimmer ließ sie offen. Sie rückte den Drehstuhl in die richtige Position und nahm darauf Platz. Der Computer war eingeschaltet, sie hörte das Summen. Als sie das Gehäuse berührte, kam es ihr vor, als wäre dieses Material ein Leiter, der eine schwache Energie in ihre Hände schickte. Kribbelnd breitete sie sich aus und lud sie immer stärker auf. Ihre Freunde waren auf der Hut, und Nora lächelte glücklich, denn sie fühlte sich so stark, weil ihr nichts mehr passieren konnte. Nach einer Weile löste sie die Hände, stand auf und bückte sich. Sie verfolgte den Weg der verschiedenen Kabel, die offen in ihrem Zimmer lagen. Ihr Onkel hatte sie stets unter Leisten verschwinden lassen wollen, dagegen hatte sie sich erfolgreich gewehrt. Schwachstrom lief durch die Leitungen. So war es jedenfalls in der Regel, aber das wiederum würde sich ändern, wenn sie diese Leitungen in einen direkten Kontakt brachte. Dann verwandelte sich der Strom in eine starke Energie, die sie wiederum aufnehmen konnte. Da war sie unersättlich. Sie lächelte… Es würde alles gut werden. Alles… *** Suko war gedanklich auch jetzt noch mit seinem Freund John Sinclair beschäftigt, als er auf dem normalen Weg um das Haus herumlief. Er hatte sich noch nicht entschieden, von welcher Seite er es eventuell betreten würde, ob von vorn oder von hinten, das mußte einfach die Situation ergeben. Er hätte durch eine Hintertür hineingehen können, doch er wollte sich zunächst vorn umschauen, weil er dort auch einen Kontakt zur Straße hatte und es möglich war, daß ihm sein Freund über den Weg lief. Er hatte Pech. John ließ sich nicht blicken. Möglicherweise konnte er das auch nicht, und so entschied sich Suko, wenn er schon mal hier war, es auf dem offiziellen zu versuchen. Hineingehen, vorher schellen, sich eine Ausrede ausdenken? Das alles ging ihm durch den Kopf, aber er entschied sich für keine der Möglichkeiten, er wollte es darauf ankommen lassen.
Der Vorgarten lag in der nächtlichen Stille. Bleich leuchteten die weißen Stangen des Zauns. Suko glaubte, die Farbe noch riechen zu können. Der Wind trug ihm ein fernes Geräusch zu, das sich anhörte wie ein Schrei, der rasch verwehte. Er konnte sich darum nicht kümmern. Lautlos schwang die Holztür nach innen. Suko ging auf sie zu. Er sah die schwache Beleuchtung hinter den Fensterscheiben, aber keinen menschlichen Umriß. Das Haus machte auf ihn einen ausgestorbenen und verlassenen Eindruck. Als wäre jemand gegangen, der aber vergessen hatte, das Licht auszuschalten. Es sah alles nach einer nächtlichen Ruhe aus, dennoch traute Suko dem Frieden nicht. Der Garten und auch das Haus >atmeten< Gefahr aus. Hier lauerte etwas, über das sich der Inspektor nicht klarwerden konnte. Dieses Gelände war erfüllt von einer anderen Kraft, und wäre er John Sinclair gewesen, dann hätte sein Kreuz sicherlich schon reagiert. Suko war nicht John, deshalb mußte er sich auf sein Gefühl verlassen. Das wiederum war nicht eben gut. Suko wußte, das etwas nicht stimmte, doch er wußte nicht genau, was es war. Er konnte nichts sehen. Das Haus lag völlig normal vor ihm. Alles entsprach dieser nächtlichen Ruhe, die auf dem Land herrschte, und trotzdem hatte sich etwas verändert. Lag es an der Luft? Wenn der Wind gegen sein Gesicht wehte, spürte Suko ein gewisses Kribbeln, ein Vibrieren, als würde Strom durch seinen Körper fließen. Strom? Über diesen Ort waren die Blitze in einem gewaltigen Inferno hinweggezuckt. Suko konnte sich vorstellen, daß sich eine Restenergie im Ort gehalten hatte, und er dachte daran, daß aus Weldon so etwas wie eine Insel geworden war, die von unsichtbaren Kräften durchweht wurde. Wenn das stimmte, dann mußten diese Kräfte auch einen Ursprung haben, und den wollte der Inspektor herausfinden. Strom und die Schüssel. In ihr war die Katze verglüht. Sie war so etwas wie ein Mekka der Magie, und ihre Kräfte konnten sich auch in dem vor ihm liegenden Haus verteilt haben. Davon ging Suko aus, deshalb wollte er es auch untersuchen. Er hatte den Vorgarten mittlerweile durchquert und stand vor der breiten Eingangstür. Ob sie allerdings auch abgeschlossen war, wußte er nicht. Es gab nicht viele Leute, die ihre Tür abschlossen, wenn sie im Haus waren. Da Licht brannte, ging er davon aus, das sich jemand in einem der Zimmer aufhielt. Suko hatte die Hand ausgestreckt und die flache Fläche gegen das Holz gelehnt.
Ein geringer Kraftaufwand reichte aus, und die Tür schwang nach innen, ohne daß sie ein Geräusch hinterließ. Er hatte freie Bahn. Vor ihm öffnete sich die große Diele, die beinahe schon die Ausmaße einer Halle hatte. Von der einsamen Lampe wurde sie nur spärlich erhellt, gerade so viel, daß jemand, der eintrat, nicht über irgendwelche Gegenstände stolperte. Suko traute dem Frieden nicht. Weshalb war die Haustür nicht ins Schloß gezogen worden? Wußten der oder die Bewohner, daß sich jemand ihrem Heim genähert hatte? Waren sie so raffiniert gewesen, um ihn in eine Falle zu locken? Suko kam sich vor wie eine Katze, die vor fremdem Territorium stehenblieb, um die Lage zunächst einmal zu sondieren. Wenn er ging, war es gefährlich, davon ging er aus. Zog er sich aber zurück, würde er nichts in Erfahrung bringen. Also gehen! Wer immer sich im Haus aufhielt, er mußte bemerkt haben, daß jemand gekommen war. Da er sich nicht zeigte, hielt er sich aus bestimmten Gründen zurück, die der Inspektor nicht als positiv ansah. Er rechnete sekündlich mit bösen Überraschungen, aber in der Halle rührte sich ebensowenig etwas wie auf der Treppe, die sich schwach im Schein der einzigen Lampe abzeichnete. Was würde ihn erwarten? Womit mußte er rechnen? Suko hatte bisher nur einen Hinweis bekommen. Die Katze war in der Empfangsschüssel verglüht. Einfach so. Die Katze war ein Lebewesen, und auch der Mensch gehörte zu den Lebewesen. Suko rechnete deshalb damit, daß in diesem Haus irgendwo auf ihn das gleiche Schicksal lauerte. Nur konnte er sich die Räume aussuchen, und hier unten war niemand. Suko näherte sich der Treppe. Der Raum sah völlig normal aus, er war es trotzdem nicht. Irgend etwas lauerte zwischen den vier Wänden, das für Suko nicht zu erklären und auch nicht zu greifen war. Etwas Geheimnisvolles, sehr Rätselhaftes, das nicht unmittelbar etwas mit diesen Bewohnern zu tun haben mußte, von denen Suko noch nichts gesehen hatte. Wo hielten sie sich versteckt? An der Treppe blieb der Inspektor stehen. Sie lockte ihn und sah trotzdem gefährlich aus, als wäre jede Stufe ein unüberwindliches Hindernis. Das Gelände schimmerte matt. Im Gegensatz zum Zaun draußen waren die Stufen dunkel, und im schwachen Licht verschwammen sie zu einer einzigen schattigen Fläche. Hier unten wartete niemand auf Suko, weiter oben würde es anders aussehen. Da war die Quelle!
Suko zögerte nicht mehr. Er war nicht gekommen, um wieder kehrtzumachen. Er mußte das Rätsel lüften. Für ihn war dieses Haus so etwas wie eine Zentrale. Möglicherweise hatte es John schon vorhin entdeckt. Wenn hier tatsächlich die dunkle Seite der Magie lauerte, dann hätte ihn das Kreuz an dieses Ziel führen müssen. Er hörte keinen Laut. Keine Stimme, kein fremdes Atmen, nur das leichte Schleifen seiner Schuhsohlen auf dem Belag, denn ein Läufer bedeckte die Stufen in der Mitte. Er kam gut weiter. Die erste Etage begann mit einem Flur. Eine Lampe warf ihr spärliches Licht. Immer stärker kam es Suko vor, als hätte er die berühmte Höhle des Löwen betreten. Mit jedem Schritt, den er zurücklegte, verdichtete sich das Gefühl der Gefahr. Hinzu kam die Dichte an Gefahr. Das Kribbeln hatte sich auf seinem Rücken verstärkt, der Strom, der über seine Arme und seinen Rücken floß, war stärker geworden. Welche Tür? Hinter einer von ihnen mußte das Verhängnis lauern oder das unheimliche Rätsel. Suko hörte das Summen! Zuerst hatte er noch an eine Täuschung gedacht, nach dem nächsten Schritt aber vernahm er es lauter. Den Grund konnte er sich nicht erklären. Das Summen konnte bestimmte Bedeutungen haben, einige von ihnen wischten durch Sukos Kopf, er verwarf sie alle, denn er wollte genau wissen, was es bedeutete. Dazu mußte er eine der Türen öffnen. Sie alle waren zugezogen. Aber er blieb vor der zweiten Tür stehen, denn hinter ihr war das Geräusch aufgeklungen. Suko blieb vorsichtig und legte behutsam sein Ohr gegen das dicke Holz. Das Summen blieb, es war auch bedeutungslos, denn er schaffte es nicht, den Laut zu identifizieren. Dafür sah er etwas anderes. Denn unter dem Türspalt her drang ein ungewöhnlicher Schein, eine Mischung aus fahlem Grün und Gelb, und es hinterließ auf Sukos Schuhspitzen einen exakten Schleier. Er ahnte, was da unter der Tür hervorgekrochen war. Das konnte durchaus das Licht einer Instrumentenbeleuchtung sein, vielleicht der Widerschein eines Computers. Auf keinen Fall der eines eingeschalteten Fernsehers, denn da würde das Bild häufig wechseln, und es hätte eine Unruhe gegeben. Hinter dieser Tür lag die Zentrale. Suko wußte, daß er die Lösung finden würde. Er bückte sich. Der Blick durch das Schlüsselloch konnte manchmal sehr helfen. In diesem Fall nicht. Er sah zwar ein Bett, auch einen kleinen Nachttisch,
und beides wurde eingehüllt von diesem grünen Leuchten, das einfach nicht natürlich war. Hielt sich überhaupt jemand in dem Raum auf? Suko öffnete die Tür. Er hatte sich einmal entschlossen, und er ignorierte dabei auch die Kopfschmerzen, die in den letzten Minuten zugenommen hatten. Er wollte sehen. Und er sah! Was er jedoch sah, ließ ihn beinahe an seinem Verstand zweifeln… *** Ein Mann, der ein Huhn zerhackte, eine Frau, die sich Gläser in den Mund schob, diese zerkaute und die Reste zusammen mit ihrem Blut einfach ausspie. Was war hier los? Was hatte sich in diesem verdammten Ort nach dem Blitzinferno geändert? Ich wußte es leider nicht. Nach wie vor mußte ich davon ausgehen, daß dämonische Mächte am Werk waren, aber ich wollte nicht unbedingt glauben, daß sie einfach so Weldon überfallen hatten. Da hatte es einen Grund geben müssen. Wenn ich ihn herausgefunden hatte, dann wußte ich auch die Lösung. Welcher Grund? Wer hatte hier die Macht übernommen? Es war niemand zu sehen. Keine fremden Gestalten aus irgendwelchen Pandämonien, die Grenzen eingerissen hatten. Und doch war so etwas Ähnliches passiert. Allerdings mußten hier Helfer lauern, die auf die anderen Mächte vorbereitet waren. Waren es die Bewohner? War es nur ein Bewohner? Ich wußte es nicht. Mir war nur klar, daß die Menschen hier nicht mehr normal waren. Und ich hatte die Folgen schließlich am eigenen Leibe erfahren. Da waren selbst friedliche Schafe zu vierbeinigen Bestien geworden, und der Schäfer selbst hatte wie ein Berserker auf meinen Rover geschlagen. Die andere Macht… Aber welche, zum Henker? Ich zermarterte mir das Gehirn, während ich meinen Weg durch den stillen Ort fortsetzte. Ich dachte natürlich auch an Suko. Er hätte schon längst hier eintreffen müssen. Er war es nicht. Ich dachte über Gründe nach und kam zu einem wenig beruhigenden Ergebnis. Vielleicht hatte die andere Kraft einen magischen Zaun um Weldon gelegt, der niemanden durchließ. Man wollte unter sich sein und die Menschen kontrollieren. Keine sehr angenehme Vorstellung. Bisher hatte ich mich zurückgehalten und so gut wie nicht in irgendwelche Häuser geschaut. Ich hatte auch ein wenig Angst davor, etwas Schlimmes entdecken zu
können. Unter Umständen waren einige Menschen zu wilden Bestien geworden! Es roch nach Gewalt, nach Mord, nach Totschlag… Ich passierte den Lichtschein einer einsam leuchtenden Laterne. Meine Gestalt warf dabei einen großen Schatten, der über die Fahrbahn hinwegzuckte. Links von mir lag ein Haus. Licht leuchtete hinter den Scheiben. Eine Bewegung war nicht zu sehen. Ich wollte trotzdem einen Blick hineinwerfen. Es kam nicht dazu, denn plötzlich hörte ich einen Schrei. Nicht sehr laut und schrill, doch in der herrschenden Stille nicht zu überhören. Ich fuhr herum. Nein, nicht hinter mir war der Schrei aufgeklungen. Er mußte etwas mit dem Haus zu tun haben, vor dem ich stand, und ich hörte auch sehr bald rasche Schritte. Da war jemand. Ich lief ebenfalls vor. Das Echo der Schritte verließ eine schmale Gasse, und einen Moment später erschien ein Mann. Er torkelte mir in den Weg, über sein Gesicht lief etwas Dunkles. Ich wußte sofort, daß es nur Blut sein konnte. Der Mann war außer sich. Er weinte, er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er wäre gewiß wer weiß wohin gelaufen, hätte ich mich ihm nicht in den Weg gestellt. So prallte er gegen mich und wurde durch mein Gewicht gestoppt. Ich hielt ihn fest. Er schrie wieder, dann hob er die Arme und schlug die Hände vor das Gesicht, als schäme er sich, seine Verletzungen zu zeigen. Ich führte ihn zur Seite. Er leistete keinen Widerstand. Erst im Schatten einer Hauswand, dicht neben der Einmündung der dunklen Gasse, blieben wir stehen. Weiter hinten bewegten sich dünne Baumzweige im leichten Nachtwind, als würden uns Totenarme zuwinken. Ich drückte den Verletzten gegen die Wand und bat ihn, die Hände herabzunehmen. Er tat es nicht freiwillig, ich >half< ihm dabei, dann schaute ich in sein Gesicht – und erschrak. Der Mann blutete nicht nur aus einer Wunde, sondern aus mehreren. Ich erkannte auch den Grund. Er mußte mit seinem Gesicht in eine Scheibe gefallen sein, denn es steckten noch zahlreiche Glassplitter darin, die er sich natürlich durch das Hochschlagen seiner Hände noch tiefer in die Haut hineingedrückt hatte. Aus den Wunden quoll in dicken Perlen das Blut, rann ihm über die Wangen und tropfte ihm schließlich vom Kinn.
Zum Glück waren die Augen des Mannes verschont worden. Als seine Hände wieder hochzuckten, hielt ich sie fest. »Nein, jetzt nicht, Mister«, sagte ich. »Ich bin…« »Sie sind verletzt, ich weiß. Ich werde Sie ins Haus führen…« »Meine Frau…« »Auch um sie werde ich mich kümmern.« Er fing wieder an zu weinen. Die Tränen vermischten sich mit dem Blut zu rotweißen Schlieren. Er konnte allein nicht normal gehen. Ich stützte ihn. Die Schmerzen mußten ihn fast verrückt machen. Er würde auch weiter leiden, wenn ich mit einer Pinzette versuchte, ihm die kleinen Splitter aus dem Gesicht zu ziehen. Die Haustür stand offen und war nicht zu weit entfernt. Wir gerieten in einen schmalen, dunklen Flur. Ich schaltete das Licht ein, doch kaum daß ich den Schalter berührt hatte, zitterte meine Hand wie wahnsinnig. Ein Stromstoß war durch meine Finger bis hoch in die rechte Schulter gejagt. Was war das schon wieder gewesen? Steht hier alles unter Strom? War das Haus ein riesiger elektrischer Stuhl geworden? Das Licht aber brannte. Auf dem Boden sah ich das Blut. So konnte ich den Weg verfolgen, den der Mann genommen hatte. Beim Eintreten hatte ich einen Blick auf das Klingelschild werfen können. Er hieß Styron und mit Vornamen Walter. Jetzt lehnte er an der Flurwand neben einem Spiegel. Er sah schlimm aus. Ich aber merkte noch etwas anderes. Zusammen mit dem Stromstoß hatte sich mein Kreuz für einen Moment erhitzt. Es hatte auf der Haut richtig gebrannt, und das war erst verschwunden, als ich die Hand wieder vom Schalter weggenommen hatte. Ich suchte nach einer Erklärung. Dabei kam ich zu der Überzeugung, daß mich mein Kreuz gerettet hatte. Es hatte diesen wilden Stoß abgewehrt, aber warum war das geschehen? So etwas hatte mein Kreuz noch nie zuvor getan. Der normale Strom hat nichts mit dem geweihten Talisman zu tun, das waren einfach zwei verschiedene Paar Schuhe. Daß es trotzdem geschehen war, ließ nur einen Schluß zu: Es floß zwar woanders Strom, aber der war trotzdem beeinfußt worden, und zwar von schwarzmagischen Kräften. Sie hatten den Ort in ihrer Gewalt, über den Strom also, ohne den kein Mensch auskommen konnte. So schafften sie es eben, gewisse Dinge voll und ganz zu kontrollieren. Die Schwarze Magie hatte es also geschafft, die Elektrizität zu beeinflussen. Wieder etwas Neues. Es zeigte mir, daß die andere Seite vor nichts haltmachte.
Das Schluchzen des Mannes riß mich aus meinen Gedanken. Verdammt, ich hatte einfach zuviel Zeit verloren, als daß ich mich um ihn hätte kümmern können. Ich holte ihn von der Wand weg und erkundigte mich nach dem Bad. Er zeigte auf die Tür am Ende des Flures. Eine schmale Stiege führte daneben in die obere Etage. Wie so oft in alten Häusern war das Bad nachträglich eingebaut worden. Es lag in einem kleinen Anbau. Eine Wanne, eine Dusche, ein Schrank, ein Spiegel. »Pflaster und Mull?« fragte ich. »Der Schrank.« Er flüsterte. Über seine Lippen rannen dünne Blutfäden. Styron wischte sie nicht weg. Im Bad hatte das Licht gebrannt. Es war zwar nicht besonders hell, aber es mußte reichen. Der Mann setzte sich auf den Rand der Wanne. Er sprach von seiner Frau, und ich mußte schon sehr genau hinhören, um ihn verstehen zu können. »Was ist denn mit ihr?« »Sie ist… oben…« »Und?« »Gehen Sie hin!« »Lebt sie?« »Glaube schon.« Ich hatte sogar eine Pinzette gefunden und machte mich an die Arbeit. Ich konnte mich leider nicht um beide Personen gleichzeitig kümmern. Die großen Scherben zog ich so behutsam wie möglich aus der Haut. Styron zuckte immer wieder zusammen. Er hatte sich mit beiden Händen fest an den Rand der Wanne geklammert, als wäre sie der letzte Strohhalm in seinem Leben. »Okay, Mister Styron, das kriegen wir schon hin.« Natürlich wollte ich weiter, aber der Mensch war in diesem Fall wichtiger. Ich verarztete ihn, so gut ich konnte, aber ich wollte auch wissen, wie das genau hatte passieren können. »Der Schrank, es war der Schrank!« »Wie bitte?« Er schloß die Augen. »Ich bin hineingefallen. In die Scheibe, in das Glas.« Das kam mir seltsam vor, und ich wollte wissen, wie so etwas passieren konnte. Er mußte sich erst die Kehle freiräuspern. »Ich… ich bin gestoßen worden.« »Von wem?« »Meine Frau…« Ich ließ ihn nicht ausreden. »Wollen Sie sagen, daß sie Sie geschubst hat?«
Er senkte den Kopf und weinte wieder. Die Erinnerung daran mußte für ihn schrecklich sein, und ich dachte daran, wie so etwas überhaupt möglich geworden war. Mrs. Styron mußte von fremden Kräften attackiert worden sein, eine andere Möglichkeit kam für mich überhaupt nicht in Betracht. »Wo ist sie jetzt?« »Oben, glaube ich.« »Gut, Mister Styron. Hat Ihre Frau denn einen Grund gehabt?« Er hob die Schultern. »Nein.« »Einfach so?« »Ja, Sir.« Ich beschäftigte mich mit seinen Wunden. Drückte kleine Pflaster darauf und sorgte auch dafür, daß er einen Kopfverband bekam, der auch seine Stirn bedeckte. »Überlegen Sie mal, Mister Styron, gab es wirklich keinen anderen Grund?« »Nein.« »Das kann ich nicht glauben. Ist zuvor etwas passiert? Sie haben doch auch die Blitze gesehen, die über Weldon zuckten. Oder haben Sie das verschlafen?« »Nein, nicht.« »Na bitte. Und wie haben Sie die Blitze gespürt? Was ist da mit Ihnen und Ihrer Frau passiert? Versuchen Sie, sich daran zu erinnern. Bitte, Mister Styron!« Er stöhnte auf. »Es war so schlimm, und es war gleichzeitig nichts, wenn Sie verstehen. Wir merkten, daß etwas kam. Das Licht war so komisch. Es wurde grell, dann fiel es aus. Lampen flackerten, Birnen knisterten und knackten. Ich habe sogar gesehen, wie die Blitze durch die Fenster und Wände jagten. Sie drangen in unser Haus ein, Sir, und bei den anderen war es ebenso.« »Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber das Blitzgewitter ging vorbei. Was passierte dann?« »Ich weiß es nicht.« »Wie bitte?« Er verzog den Mund. Ich sah einige Blutstropfen auf seinen Lippen und tupfte sie weg. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie leben doch, Sie müssen etwas gespürt haben!« »Nein und ja. Wir waren wie verwandelt.« Erschaute zu, wie ich das blutige Papiertuch in die Wanne warf. »Es ist alles so seltsam geworden, Sir. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich lebte, meine Frau lebte, aber es war ein anderes Leben.« Er wollte, daß ich ihn begriff, das sah ich an seinen Augen, aber ich konnte mir noch immer keine Vorstellung davon machen, deshalb zuckte ich hilflos mit den Schultern. »Sie verstehen nicht?« fragte er.
»Leider.« »Wir gingen durch das Zimmer. Beide haben wir gedacht, wir hätten lange geschlafen. Und während wir gingen, kam es uns vor, als würden wir uns in den eigenen Träumen bewegen. Wir sind nicht mehr die gleichen gewesen, Sir.« »Sie waren also verändert?« »Ja, aber nicht äußerlich, nur im Innern. Irgend etwas war in uns. Eine fremde Kraft oder Macht hatte von uns Besitz ergriffen. Wir waren in der eigenen Wohnung, aber wir kamen uns vor, als wären wir meilenweit entfernt. Meine Frau sagte, daß sie es nicht war, die da ging, sondern ihr Schatten. So komisch fühlten wir uns. Sie können darüber lachen, aber das wäre nicht fair.« »Keine Sorge, Mister Styron, ich werde mich hüten, auch nur den Mund zu verziehen. Ich kann sehr gut nachfühlen, was Ihnen da widerfahren ist. Bei mir war es zwar nicht so schlimm, aber diese andere Kraft wirkt sich nicht bei jedem Menschen gleich aus. Das stimmt schon. Ich habe Sie auch in etwa verstanden. Nur müssen Sie mir bitte noch erklären, wie es kam, daß Sie in die Glastür gefallen sind.« »Ich bekam einen Stoß!« »Von wem?« Er saß auf dem Wannenrand, und ich sah ihm an, daß er die Antwort wußte, sich aber nicht traute, sie mir zu sagen. Ich fragte direkt. »War es Ihre Frau?« »Betty?« hauchte er mit bebenden Lippen, bevor er den Kopf senkte und anfing zu schluchzen. Unter Tränen brachte er hervor: »Sie… sie muß es gewesen sein, Sir. Wenn ich darüber nachdenke, dann gibt es keine andere Möglichkeit.« »Und warum hätte sie das tun sollen?« Er hob die Schultern. Die Erinnerung an diesen Vorfall ließ ihn wieder weinen. Ich wollte genau herausfinden, was geschehen war, und deshalb mußte ich zu Betty Styron. »Fühlen Sie sich sicher genug, um allein bleiben zu können?« fragte ich. »Wollen Sie gehen?« Angst sprach aus seiner Stimme. »Ja, aber ich bin bald wieder zurück.« »Um Himmels willen, lassen Sie mich nicht zu lange allein. Ich kann es nicht ertragen, ich…« »Keine Sorge, Mister Styron, das geht schon klar.« »Sie wollen zu Betty?« Es hatte keinen Sinn, wenn ich ihn anlog, deshalb nickte ich bestätigend. Walter Styron preßte die Lippen zusammen. Sicherlich hatte er noch zahlreiche Fragen, nur traute er sich nicht, eine davon zu stellen. Er drehte den Kopf zur Seite. Ein Zeichen, daß er sich damit abgefunden hatte, allein zu bleiben.
Ich verließ das Bad. Im Flur hatte sich nichts getan. Die Haustür stand noch offen. Ich warf einen Blick hinaus, aber auch in der Dunkelheit auf der Straße bewegte sich nichts. Zudem war es still, die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Was hatte ich erfahren? Als ich die Treppe hochging, dachte ich darüber noch einmal nach und kam auch zu einem Ergebnis. Dieses Blitz-Inferno mußte die Menschen hart getroffen und sie praktisch in andere Persönlichkeiten verwandelt haben. Wahrscheinlich reagierte jeder Mensch anders, aber darüber konnte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, denn die Zeit hatte ich nicht. Ich hoffte, nicht auf eine aggressive Person zu treffen, die auch mich angriff, aber damit rechnen mußte ich leider trotzdem. In der ersten Etage war ein Blumenstrauß mitsamt der Vase umgekippt. Sie lag schräg vor meinen Füßen. Ich mußte über sie hinwegsteigen, sah sie aber nur mehr als Schatten, denn in dem engen Flur war das Licht nicht eingeschaltet worden. Daß trotzdem eine gewisse Helligkeit herrschte, lag an etwas anderem. In einem der Zimmer zuckte ständig ein Licht auf, verschwand wieder, zuckte erneut auf und warf seinen künstlichen Widerschein über die Schwelle hinaus in den Flur. Genau in dem Raum mußte sich Betty Styron aufhalten! Mich irritierte das Licht. Ich konnte mir darauf keinen Reim machen und wollte auch nicht glauben, daß es nur eine Lampe war, die dort flackerte. Nicht daß ich die Gewißheit in mir spürte, dicht vor des Rätsels Lösung zu stehen, doch ich hatte einfach das Gefühl, daß mich das Überschreiten der Schwelle weiterbringen würde. Ich war vorsichtig. Die Waffe ließ ich stecken, aber mein Kreuz hing jetzt außen vor der Brust. Es sollte so gut wie möglich die Gefahr auffangen, falls denn eine auf mich zukam. Um einen freien Blick zu haben, mußte ich die Tür ganz aufstoßen. Das tat ich mit dem rechten Fuß. Dicht hinter der Schwelle blieb ich stehen, überblickte den ganzen Raum, und was ich sah, war unglaublich… *** Betty Styron war die Lichtquelle! Grüner und gelber Schein strahlten von ihr aus und vermischten sich miteinander. Das immerwährende Zucken geisterte durch den Raum. Es floß hart und zackig über die Wände, es berührte den Schrank mit der zerstörten Scheibe und den davorliegenden Glassplittern ebenso wie die Couch, den Tisch und die beiden Sessel.
Betty stand zwischen allem. Sie trug einen Hausanzug. Der Reißverschluß der hellen Jacke war hochgeschlossen. Auch die beiden Hosenbeine waren außen mit dünnen Reißverschlüssen versehen. Die Taschen waren ausgebeult, als hätte die Frau dort Äpfel hineingesteckt. Ich nahm diese Kleinigkeit einfach wahr, obwohl sie unwichtig waren. Sie selbst sah aus wie eine gläserne Person, wie ein Fremdkörper, ein nachgemachter Mensch, fast schon wie eine Comicfigur aus einem Superhelden-Album. Bettys Gesichtshaut schimmerte grün, und sie war trotzdem durchsichtig. Unzählige Blitze durchtosten ihren Körper. Sie bildeten verschiedene Muster, sie rasten von verschiedenen Seiten heran, trafen die Arme, die Schultern, die Hände, den Oberkörper, die Beine und das Gesicht. Ja, das Gesicht. Es erschien mir alterslos, als hätte jemand davon eine Glasmaske angefertigt. Aber die Frau lebte. Sie bewegte ihre Augen, auch den Mund, dessen Lippen so fürchterlich blaß waren. Die andere Kraft hatte sie zu einer magischen Energiebombe verändert. Es fiel mir schwer, darüber hinwegzukommen und diese Dinge zu begreifen. Ich stand da, wirkte etwas verloren und spürte im Magen einen dicken Kloß. Damit hatte ich nicht gerechnet. Natürlich stellte ich mir Fragen nach den Gründen, aber da würde ich wohl keine befriedigende Antwort erhalten. Hier hatte eine Macht zugeschlagen, die außerhalb meiner Kontrolle und meines Wissens stand. Ich wußte nicht einmal, wo ich sie hinstecken sollte, woher sie gekommen war. Da kam ich nicht mit. Das Licht, das sich ja aus den Blitzen zusammensetzte, durchzuckte den Körper nach wie vor. Es behielt sein Flackern und seine Geschwindigkeit bei, ein Ende war nicht abzusehen, und immer wieder leuchtete sie kurz auf. Konnte sie hören, sprechen, atmen und reagieren? Nichts davon war zu spüren, und ich bekam auch keine Antwort, als ich sie mit ihrem Namen ansprach. Sie hielt sich zurück. Entweder wollte oder konnte sie nicht. Vorsichtig betrat ich den Raum. Es gab sonst keine Lichtquelle, und ich hütete mich davor, den Schalter oder nur eine der Lampen zu berühren. Die Frau war wichtiger. Vor dem Schrank lagen nicht nur Glasreste im Teppich, dazwischen schimmerten auch dunkle Tropfen, denn Walter hatte hier oben schon Blut verloren. Die Frau schaute mich an. Ein gläserner Roboter, einer, der das Inferno nicht überstanden hatte, der verändert worden war. Sie bewegte ihre Lippen, nur verließ kein Laut ihren Mund. Sie war so furchtbar still, und
es war auch nichts zu hören, obwohl sie zitterte, als würden ständig neue Stromstöße durch ihren Körper jagen. Ich mußte etwas unternehmen und sie von diesem verdammten Energieblock befreien. Es war nur eine Lösung möglich! Das Kreuz! Aber würde ich die Frau damit töten? Diese Gefahr bestand, weil sie ausschließlich unter dem Druck dieser anderen Kraft stand. Ich schob mich näher an sie heran. Ihren eigenen Mann hatte sie in einem plötzlichen Anfall in das Glas des Wohnzimmerschranks geworfen, deshalb mußte ich bei ihr mit weiteren Maßnahmen dieser Art rechnen. Ich sprach sie noch einmal an. Sie hörte nicht, aber sie ging zurück, denn sie wollte mich nicht zu nahe an sich herankommen lassen. Den Gefallen tat ich ihr nicht. Dabei streifte ich die schmale Kette über den Kopf und hielt das Kreuz jetzt in der rechten Hand. So war ich beweglicher. »Kommen Sie!« flüsterte ich. »Kommen Sie…« Sie kam nicht. Dafür drückte sie sich seitlich gegen die hohe Sessellehne, und die Blitze in ihrem Innern bekamen neue Kraft, sie leuchteten immer greller. Gelb und Grün wechselten sich ab. Sie zuckten in alle Richtungen. Ich hatte auch die ungewöhnlich reine Luft wahrgenommen. Hier floß die Elektrizität frei im Raum, gepeitscht von magischen Kräften aus anderen Welten. Dann war ich bei ihr. Ein großer Schritt hatte die Distanz zu ihr überwunden. Auch wenn sie ein lebendes Energiebündel war, ich mußte es darauf ankommen lassen. Mein Kreuz erwischte sie, und ich war im ersten Augenblick über die Weichheit ihres Körpers überrascht. Sie hatte wirklich so ausgesehen, als wäre sie innerlich hart geworden. Ein Schrei. Wie das Klirren von Glas hörte er sich an. Ich befand mich urplötzlich in einem irren Inferno aus magischen Blitzen und Energien. Die Kraft war ungemein stark, sie schleuderte mich zurück. Ich stolperte nach hinten, hatte am Rücken keine Augen und übersah einen Hocker. Als ich fiel, landete ich schräg in einem Sessel, konnte aber sehen, was mit Betty geschah. Mein Kreuz hatte seine Kraft gegen die andere gesetzt und dabei voll zugeschlagen. Zwei unterschiedliche Energien waren aufeinandergeprallt, und eine unschuldige Frau wie Betty Styron war zwischen diese Mühlsteine geraten. Sie tanzte, sie zuckte, als hätte sie aus dem Unsichtbaren Schläge erhalten. Zwei völlig unterschiedliche Kräfte oder Energien waren aufeinandergetroffen, und eine von ihnen mußte einfach die stärkere sein.
War es mein Kreuz? Noch ereignete sich nichts. Betty stand auf der Stelle, ihr Körper wurde geschüttelt, der Kopf flog nach vorn, wieder zurück, und noch immer tobten sich die Energien aus. Nicht mehr lange. Es trat das ein, worauf ich gehofft hatte. Plötzlich spielten die Blitze und Energien verrückt, allerdings im positiven Sinne, denn sie verließen den Körper der Frau. Wo es auch nur möglich war, rasten sie hervor. Aus den Augen, der Nase, den Ohren, selbst aus den Spitzen der Finger fanden sie ihren Weg, um als gezackte, helle Lanzen in den Teppich zu schlagen. Ein ungewöhnlicher Geruch breitete sich aus. Es roch verbrannt, aber nicht nur. Ich kam damit nicht zu recht und schaute auf die helle Funkenspur, die durch das Zimmer raste und sich dabei in Schlangenlinien bewegte. Sie strahlte den Geruch ab. Und so roch Strom… Ich verfolgte die Funkenspur, die plötzlich auf das Fenster zujagte. Dann war sie weg. Ich sprang ihr nach, um zu sehen, welches Ziel sie sich als nächstes aussuchte. Wie eine knisternde Schlange jagte sie durch die Dunkelheit und schräg über die Straße hinweg. Sie huschte an Hausdächern vorbei, bis sie plötzlich verschwunden war. Das Ziel hatte ich nicht sehen können, ich befand mich leider noch zu dicht am Erdboden. Und auf dem Boden saß auch Betty Styron. Sie war vor Schwäche gefallen und zum Glück von der Sessellehne aufgefangen worden. So war sie schließlich langsam zu Boden geglitten und hatte sich nicht verletzt. Wie eine Puppe lag sie auf dem Boden. Im Zimmer war es dunkel geworden. Noch immer hing der scharfe und klare Geruch in der Luft. Sogar das Knistern glaubte ich noch zu hören, aber das war wohl nur Einbildung. Ich hob sie auf. Sie war so steif, und ich befürchtete, daß sie die fremde Energie nicht überstanden hatte. Sie war einfach zu mächtig gewesen, selbst ich wußte noch keine Erklärung, woher sie plötzlich gekommen war. Aber sie steckte im Ort, sie verbarg sich nicht nur in den Gebäuden und Fenstern, sondern auch wohl in den Menschen selbst. Es stellte sich die Frage, ob sie auch aus eigener Kraft diesem Bann entfliehen konnten. Nachdem ich Bettys Kampf erlebt hatte, glaubte ich nicht daran. Die Couch war lang genug, um die Frau dort niederlegen zu können. Ich strich ihr das fahlblonde Haar aus dem Gesicht – und spürte das Zucken unter der Haut. Himmel, sie lebte!
Ich hörte das Poltern, als mir der Stein von der Seele rollte. Tatsächlich aber hatte das Poltern eine andere Ursache. Jemand kam die Stufen der Treppe hoch, und so, wie er ging, so unregelmäßig und mit Unterbrechungen, konnte das nur Walter Styron sein. Ich drehte mich um und sah seine Gestalt als Schattenriß in der Tür. Ich holte meine Bleistiftleuchte hervor und sorgte für die nötige Helligkeit. Styron kniff die Lider zusammen, als er von dem Lichtspeer getroffen wurde. »Was ist mit Betty?« »Sie lebt!« Er schwankte nach rechts, wo ihn der Türrahmen stützte. Eine Last war von ihm genommen worden. Er dachte nicht mehr an sein verpflastertes Geicht oder an seine Schmerzen, jetzt zählte nur noch Betty. Er kam auf uns zu, ich aber wollte noch ein Experiment wagen und drückte ihm mein Kreuz in die Hand. Er schrie. Ein Lichtreflex jagte aus seinem offenen Mund und turnte für einen Moment wie ein Kugelblitz an der Decke entlang. Dann war er weg. Dafür jammerte Walter Styron, als er sich rücklings in einen Sessel warf und die Beine ausstreckte. Beide brauchten die Kraft der anderen Macht nicht mehr zu fürchten. Ich aber stellte mir immer >lauter< die Frage, wer hinter diesem unheimlichen Prozeß steckte und was dieser Jemand mit den Menschen vorhatte, die er in seine Gewalt gebracht hatte. Waren es wirklich nur diese anderen Kräfte, oder gab es hier im Ort eine Person, die man als Helfer ansehen konnte? Walter Styron hatte sich wieder erholt. Ich hörte seine Stimme. »Ist jetzt alles vorbei?« »Für Sie schon.« Damit hatte ich wahrscheinlich nicht einmal gelogen. Aber für mich war es nicht vorbei. Ich hatte möglicherweise zwei Menschenleben retten können, war aber der eigentlichen Gefahr noch nicht auf die Spur gekommen, und mein Freund Suko hatte sich ebenfalls nicht gemeldet. Hier lief schief, was nur schieflaufen konnte. Er wollte noch mehr wisssen und richtete sich auf. »Auch für Betty, meine ich?« »Sie haben es beide überstanden.« An der Sesselkante stützte er sich ab. Wie in Zeitlupe schüttelte er den Kopf. »Trotz allem«, flüsterte Walter, »ich kann es einfach nicht fassen, wie das möglich gewesen ist. Sie denn?« Ich hob die Schultern. »Sie auch nicht, Mister?« »Nein, Walter, noch nicht. Ich bin durch einen Zufall in die Stadt geraten und hatte eigentlich vorgehabt, nach London zu fahren. Nun ja, jetzt
kann ich mich mit diesen Dingen herumschlagen, obwohl ich schon vor dem Ortseingang gemerkt habe, daß etwas nicht stimmt.« »Was denn?« Ich winkte ab. »Vergessen Sie’s, es ist nicht so wichtig. Jedenfalls muß ich Sie beide jetzt allein lassen.« Das paßte ihm gar nicht. Er wurde nervös und bewegte hektisch seine Hände. »Aber wenn Sie weglaufen, könnte Ihnen das gleiche passieren wie meiner Frau und mir.« »Nicht so stark.« »Was macht Sie stark?« »Ich trage eine bestimmte Waffe bei mir, die so etwas wie ein Schutz ist.« Auf Einzelheiten wollte ich nicht eingehen, es hätte nichts gebracht. Das Haus stand günstig. Vom Fenster aus hatte ich einen guten Blick über die Straße hinweg und auch in verschiedene Gassen hinein, sofern sie denn beleuchtet waren. Er wollte mir noch etwas sagen, deshalb ging ich auch nicht vor. »Wissen Sie, daß ich froh bin, Mister? Richtig froh darüber, daß Sie gekommen sind?« »Wie man’s nimmt.« »Doch«, flüsterte er, »doch. Ich freue mich darüber. Trotz meiner Schmerzen im Gesicht kann ich wieder aufatmen. Das Wissen, es überstanden zu haben, ist etwas Wunderbares. Ich weiß ja nicht, was genau mit Betty geschehen ist. Sie war nur so anders, als ich sie verließ, aber es war bestimmt schlimm.« »Keine Sorge, sie hat es überstanden.« Er lächelte oder wollte es, doch es wurde nur ein Zucken, als er die Lippen bewegte, wahrscheinlich eine Reaktion auf den Schmerz. Ich ging zum Fenster. Die Lampe ließ ich eingeschaltet. Ihr Lichtkegel wanderte vor mir her. Es hatte sich nicht viel verändert. Noch immer kam mir die Luft so ungewöhnlich vor. Sie war so seltsam klar, und ich fragte mich, ob sie bitter oder nach Strom schmeckte. Jedenfalls kam mir die Zunge vor, als läge eine dünne Metallschicht auf ihr. Vor dem Fenster blieb ich stehen. Ich zerrte es auf. Meine Bewegungen waren normal, dann aber froren sie ein, denn mein Blick war über die Häuser geglitten, in eine Richtung, wo etwas zu sehen war, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ein Licht! Kein Grund zur Freude, denn dieses Licht sah aus, als bestünde es aus Dampf oder Nebel. Es hatte seinen Ursprung etwa in Dachhöhe und schien zitternd in der Luft zu schweben. Eine scharf begrenzte Dunstwolke verteilte sich dort. Um sie herum lag dicht und schwer die Finsternis dieser ungewöhnlichen Nacht. Mir war sofort klar, daß dieses Licht etwas zu bedeuten hatte. Es leuchtete nicht von ungefähr so dumpf, nur wußte ich keine Antwort. Es
breitete sich nicht aus, es war die Quelle, strahlte nicht ab und blieb an dem Fleck stehen. Ich sah das Licht zum erstenmal, hatte keinen Beweis, doch ich ging davon aus, daß dieser Schein die Quelle allen Übels war. Das heißt, ich mußte hin und sein Geheimnis ergründen, zur Not mich auch dagegenstellen, um es dann zu vernichten. Das alles kam mir in den Sinn, auch noch einiges mehr, worüber ich nicht nachdachte, weil ich von anderen Dingen abgelenkt wurde, die sich unter mir auf der Straße abspielten. Bisher hatte ich mich über die ungewöhnliche Leere gewundert, eine Leere ohne Leben, die unter einem mächtigen Druck erschaffen worden war. Das hatte sich geändert. Der kleine Ort war aus dem bösen Traum oder dem Totenschlaf erwacht. Zahlreiche Geräusche durchbrachen die Stille. Ich hörte das Schlagen von Türen, auch Stimmen, Schritte, mal schnell, mal langsam, hier und da ein scharfes Lachen, Hüsteln ödere andere Dinge, die eben zu dieser Kulisse gehörten. Auch Tiere hatten sich aus ihren Verstecken getraut. So bellte ein Hund, und selbst Vögel waren erwacht, die bisher in den Bäumen geschlafen hatten. Sie flatterten über Dächer hinweg zu anderen Zielen. Ein Vogel huschte dicht vor dem offenen Fenster vorbei. Ich verstand die Welt nicht mehr und beugte mich vor, um besser sehen zu können. Ich brauchte den Blick nach drei Seiten und sah von nun an besser. Zahlreiche Menschen hatten ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Sie liefen von ihrem Zuhause weg, trafen sich auf der Straße, wo sich die Frauen, Männer und Kinder zu Gruppen zusammenfanden und miteinander sprachen. Dabei flüsterten sie nur, als hätten sie Angst davor, etwas zu wecken, das in der Nähe lauerte. Ich begriff die Welt nicht mehr. Trotzdem dachte ich darüber nach, was die Leute veranlaßt hatte, ihre sicheren Häuser zu verlassen. Es mußte einen Grund gegeben haben. Daß sie es gemeinsam getan hatten, ließ auf einen Befehl schließen, der ausschließlich sie erreicht hatte. Konnte es das ungewöhnliche Licht gewesen sein? Ich ging zunächst davon aus und schaute an der Hauswand entlang nach unten. Dort standen zwei Frauen und ein Mann, sie unterhielten sich, sie hatten sich anscheinend zu einem kleinen Tratsch zusammengefunden. Schaute man genauer hin, wie ich es tat, war schon die Veränderung zu erkennen. Sie sprachen zwar miteinander, aber sie wirkten so emotionslos. Die Wut drückte sich bei ihnen ebenso aus wie die Freude. Da zeigte keiner eine Reaktion. Nicht einmal ein Lachen wehte zu mir hoch.
Das war alles sehr seltsam, und der kleine Ort hatte längst noch nicht seine Normalität wiedergefunden. Nach wie vor stand er unter dem Druck einer anderen Macht, das Gespensterhafte hatte sich nur etwas verlagert. Wohler fühlte ich mich nicht. Was hatte die Menschen dazu veranlaßt, sich auf der Straße zu treffen? Sie standen da und warteten. Ja, so und nicht anders kamen sie mir vor. Hin und wieder schaute jemand zum Himmel. Mir war klar, daß die Menschen geholt worden waren. Jemand kontrollierte sie noch immer, und das konnte nur die Macht sein, die auch Verantwortung für das BlitzInferno getragen hatte. Sie war und blieb unsichtbar. Sie hatte sich zurückgezogen wie hinter einen Vorhang, aber es gab gut sichtbar das Licht. Diesen hellen wolkenartigen Schwamm, der sich in Dachhöhe nicht vom Fleck rührte. War er die Lösung? Ich runzelte die Stirn und sinnierte darüber nach. Wenn ja, dann durfte ich mich hier nicht länger mehr aufhalten und mußte zusehen, daß ich das Licht erreichte. Eine Beklemmung wurde ich ebenfalls nicht los. Nach wie vor rechnete ich damit, daß dieses gewaltige und lautlose Blitzgewitter zurückkehrte, um erneut zuzuschlagen und auch den Rest des Ortes unter Kontrolle zu kriegen. Ich schaute noch einmal rechts und links die Straße hoch. Dort hatten sich die Menschen sich versammelt, und die Gruppen waren größer geworden. Doch keine Person blickte bewußt dorthin, wo die Lichtwolke stand. Ich drehte mich wieder um, weil ich ein leises Stöhnen gehört hatte. Walter Styron tappte durch das Zimmer. Er hatte eine Hand gegen die Stirn gelegt, als wollte er darüber nachdenken, ob er das Richtige tat oder nicht. Für seine Frau hatte er keinen Blick. Sie hockte apathisch im Sesel und stierte zu Boden. »Walter!« Er schrak zusammen, als er meine Stimme hörte. Langsam drehte er sich um. »Wie fühlen Sie sich?« Seine Hand sank nieder. »Gut«, sagte er. »ja, ich fühle mich gut.« »Schön.« »Ich will weg!« Auf diesen Satz hatte ich gewartet. Es wäre schon unnatürlich gewesen, wäre er nicht gesprochen worden. »Darf ich fragen, wohin Sie wollen? Welches Ziel haben Sie sich ausgesucht?« »Zu den anderen.« »Und ich auch!« Betty hatte sich gemeldet. Es mußte so kommen. Hatte sie nichts gesagt, wäre es sehr verwunderlich gewesen. Sie war wieder obenauf und erhob sich. Ich ließ sie noch nicht gehen. Sie hatten die Botschaft erhalten. Ich wollte wissen, wie dies abgelaufen war und fragte: »Warum wollt ihr weg? Wer hat es euch gesagt?«
Erst schauten sie sich gegenseitig an, dann richteten sie ihre Blicke auf mich. Beide hoben die Schultern. »Sie müssen doch wissen, wer Sie dazu veranlaßt hat. Das geschah nicht grundlos.« Wieder schauten sich die beiden an und hoben nun gleichzeitig die Schultern. Walter sagte: »Wir müssen weg.« Betty nickte. Ich wollte sie noch nicht gehen lassen. »Hat sich bei Ihnen nichts verändert? Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie noch vor wenigen Minuten reagiert haben? Da waren Sie völlig apathisch und davor aggressiv. Was ist nun geschehen?« Von Betty bekam ich eine Antwort. »Wir sollen kommen«, sagte sie. »Ja, wir sollen kommen.« »Schön. Und wohin?« »Nach draußen.« »Das hat man euch gesagt?« Sie nickte. »Ja, so ist das. Wir haben den Befehl empfangen. Jemand wünscht, daß wir auf die Straße gehen.« Betty redete noch mit mir, ihr Mann hatte sich bereits umgedreht und ging auf die Tür zu. Ich überlegte, ob ich ihn gehen lassen sollte oder nicht. Die Entscheidung nahm er mir ab. Er öffnete die Tür nur und drehte seiner Frau den Kopf zu, weil er auf sie wartete. »War es das Licht?« Betty strich über den Stoff ihres Jogging-Anzugs. Sie machte einen nachdenklichen Eindruck. Ihre Lippen bewegten sich, erst nach einer Weile gab sie Antwort. »Licht…?« »Es leuchtet über einem Haus.« »Wo?« Ich wollte ihre Neugierde befriedigen, deshalb faßte ich sie an der Schulter und drückte sie herum. »Kommen Sie, wir werden zum Fenster gehen, dann zeige ich es Ihnen.« Walter rief seiner Frau zu, es nicht zu tun, aber ich hatte die besseren Karten. Sie blieb bei mir. Das Fenster war groß genug, um uns beiden den nötigen Blick zu verschaffen. Betty hatte sich vorgebeugt. Sie hob eine Hand, um einer unten stehenden Nachbarin zuzuwinken. Die Frau schaute zufällig hoch. »Nicht dorthin«, sagte ich, »Sie müssen über die Dächer hinwegschauen.« Ich wies ihr mit dem ausgestreckten Arm die richtige Richtung. »Dort, an der Seite eines Dachs, schimmerte der Fleck. Er sieht aus wie eine Wolke. Können Sie ihn erkennen?« Als Antwort bekam ich ein zögerndes Nicken. »Ist es der Grund?« Ich schaute sie von der Seite her an. An ihrem Profil war keine Regung zu erkennen. »Bitte, Mrs. Styron!«
Auch mein Drängen nutzte nichts. Sie hob nur die Schultern. Plötzlich lächelte sie. »Es ist schön«, sagte sie. »Ja, es ist schön…« Ich kam mit dieser Antwort nicht zurecht. Was, zum Henker, war denn schön daran? »Meinen Sie das Licht?« »Es ist schön. So warm, so wunderbar. Es wird uns allen helfen, glaube ich. Die Erscheinung ist da.« Klar, die sah ich auch. Für mich war sie ein Rätsel. Ich aber wollte mehr wissen und wegkommen von den schwammigen Bemerkungen oder Antworten. Deshalb erkundigte ich mich danach, wer in diesem Haus lebte. »Die Shanes.« »Gute Leute?« »Ja, wir kennen sie gut. Es sind Dinah, Gregory und auch Nora Shane.« »Eine Familie. Ein Ehepaar mit Tochter?« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Tochter. Nora ist die Nichte, das Patenkind. Ihre Eltern sind tödlich verunglückt. Die Shanes haben das Mädchen aufgenommen.« »Und weiter?« »Sie kümmern sich um die Kleine.« »Wie alt ist Nora?« Mrs. Styron überlegte. »Genau kann ich es nicht sagen. Ich glaube aber, daß sie nicht älter als zwölf Jahre ist. Wie gesagt, ich weiß es nicht genau.« »Das war doch schon etwas.« Ich kam auf die ungewöhnliche Erscheinung zu sprechen. »Können Sie sich einen Grund für dieses Licht vorstellen, Mrs. Styron?« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Eigentlich nicht, nein, bestimmt nicht.« »Eine Lampe ist es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Da oben nicht, Sir. Aber da ist etwas anderes, glaube ich.« »Und was?« »Eine Schüssel!« Ich erwiderte zunächst einmal nichts. Dann schluckte ich schwer, bevor ich weiter fragte: »Eine was bitte…?« »Schüssel – ja. Eine Schüssel, die dafür sorgt, daß die alles empfangen können.« »Die TV-Programme?« »Sogar die aus Germany, glaube ich.« Jetzt war mir alles klar, und gleichzeitig wiederum nicht. Natürlich kannte ich diese Empfangsschüsseln, auch >Salatteller< genannt, aber ich hatte nie zuvor eine Schüssel gesehen, die in einem derartigen Licht leuchtete. Das war schon ungewöhnlich. Ich dachte an die Blitze, brachte sie in einen Zusammenhang mit dieser Schüssel und stellte mir
die Frage, ob das Blitz-Inferno in der Satellitenschüssel seinen Ursprung gehabt hatte. Möglich war es… Natürlich wanderten meine Gedanken in eine bestimmte Richtung. Ich dachte an eine magische Beeinflussung, durch eine fremde Kraft, die sich die Satellitenempfänger als Mittler ausgesucht hatte. Betty Styron zog sich vom mir zurück. Sie drehte sich herum un ging wieder zu ihrem Mann. Ich stoppte sie nicht. Walter legte fürsorglich einen Arm um seine Gattin und brachte sie aus dem Zimmer. Er redete dabei leise auf sie ein. Ich ließ sie gehen. Sie mußten weg, sie waren beeinflußt worden, es gab keine andere Möglichkeit für sie. Mir wäre es wahrscheinlich ebenso ergangen, hätte ich nicht über diesen außergewöhnlichen Schutz verfügt. Ich war mittlerweile davon überzeugt, daß mich mein Kreuz vor den starken Treffern bewahrt hatte. Daß ich etwas tun mußte, stand fest. Ich wußte nur noch nicht, wie ich mich verhalten sollte und dachte daran, auf dem direkten Weg zu den Shanes zu gehen. Dann fiel mir Suko ein. Von ihm hatte ich noch nichts gesehen. Auch nicht auf der Straße. Aber ich glaubte fest daran, daß er mittlerweile in Weldon eingetroffen war. Wahrscheinlich war er ebenso unbedarft in dieses Inferno hineingeraten wie ich. Es war auch möglich, daß er es nicht so gut überstanden hatte, denn er besaß kein Kreuz als Schutz. Ich folgte den beiden Styrons. Ihre Tritte waren noch auf der Treppe zu hören. Sie unterhielten sich. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen. Als sie unten die Haustür öffneten, befand ich mich noch im düsteren Treppenhaus. Aber ich hörte das Geräusch! Nein, es war mehr ein dumpfes Grollen, das durch die offene Tür hereinwehte. Ich stellte Ähnlichkeit mit einem Donner fest, als wäre dieser nach den Blitzen so verspätet eingetreten, was natürlich Unsinn war. Aber er rollte heran. Auch die beiden Styrons waren irritiert. Sie blieben in der offenen Tür stehen und hatten die Köpfe nach rechts gedreht. Ich konnte sie gut sehen, und sie kamen mir vor wie zwei Figuren aus einem Wetterhäuschen, die sich nicht entscheiden konnten, wer von ihnen sich nun nach draußen wagen sollte. Das Donnern schwoll an. Es glich einer akustischen Drohung, die sich immer weiter und stärker auf den Ort zuwälzte. Ich bekam schwere Bedenken. Ein Gewitter hörte sich anders an. Ich vernahm kein Krachen, nicht dieses brutale Peitschen der Detonationen, es blieb im Rahmen, und mir fielen plötzlich Western-Filme ein, die ich gesehen hatte. Oft genug war dieses dumpfe Grollen zu hören gewesen,
wenn es bei den großen Rinderherden zu einer Stampede kam. So ähnlich klang es hier. Der Weg nach draußen war frei, da die Styrons ihren Platz an der Tür verlassen hatten. Ich überwand die Distanz mit schnellen Schritten, beging aber nicht den Fehler, sofort auf den Gehsteig zu rennen, sondern blieb zunächst in der offenen Tür stehen, den Kopf nach links gedreht. Viel konnte ich nicht sehen, und die wartenden Menschen interessierten mich nicht. Eine große Masse Leiber wälzte sich vom Eingang des Ortes her immer näher. Die Menschen, die auf der Straße zusammengekommen waren, hatten sich auf die schmalen Gehsteige vor ihren Häusern zurückgezogen. Was sich da mit großer Geschwindigkeit näherte und was sich ihnen in den Weg stellte, waren Schafe! Ja, es waren genau die Schafe, die sich bei meiner ersten Begegnung mit ihnen schon so aggressiv gezeigt hatten und dabei zu kleinen Bestien geworden waren. Ich hielt den Atem an! Die Herde rannte alles um, was nicht stabil genug war. Bei den parkenden Autos hatten die Tiere Schwierigkeiten. Einige donnerten dagegen und wurden so aufgehalten. Andere passierten diese Hindernisse ohne Probleme, oder sprangen einfach darüber hinweg. Zwischen dem Donnern der Hufe hörte ich das heisere Kläffen des Hundes, und ich rechnete damit, den Schäfer selbst auch bald zu sehen. Das hatte mir noch gefehlt! Auf keinen Fall wollte ich mich aber von der verrückten Herde von meinen Plänen abbringen lassen! Ich schlug die Haustür zu und lief den schmalen Gang entlang, bis ich den Hinterausgang erreichte. Es war von innen verriegelt. Ich stieß den Riegel zurück und zerrte die Tür auf. Vor mir lag ein kleiner Garten. Das Geräusch der Hufe wehte bis an die Rückseite des Hauses, allerdings nicht mehr so stark, da die Mauern doch einiges abhielten. Ich beeilte mich. Mit langen Schritten hetzte ich durch den Garten und übersprang einen braunen Zaun. Was auf den Straßen geschah, interessiert mich nicht mehr. Ich bekam jedoch mit, daß es stiller geworden war, dafür trug der Wind den strengen Schafsgeruch durch den Ort, den früher schon die amerikanischen Rinderzüchter so gehaßt hatten. Wer immer auch hinter diesen Vorgängen steckte und sie leitete, für mich stand fest, daß erzürn großen Finale gerufen hatte. Noch in dieser Nacht würde es passieren, da konnte die andere Kraft explodieren und ihre immense Macht zeigen.
Ich rannte geduckt durch eine schmale Gasse. Die Richtung war klar, zudem konnte ich dieses seltsame helle Licht auch hin und wieder sehen, wenn der Blick mal frei war. Auf der Haut spürte ich ein Kribbeln. Es wurde Zeit für mich. Sekunden wurden kostbar. Die Herde lief nicht mehr weiter. Sie stand mitten in Weldon. Ich hörte hin und wieder das Blöken der Schafe, auch das harte Bellen des Hundes. Stimmen erreichten mich ebenfalls. In einer Lücke zwischen den Häusern wagte ich einen Blick über die große Straße. Sie war an dieser Stelle leer. Die Schafe drängten sich weiter rechts zusammen, ungefähr in der Höhe des Styronschen Hauses. Neben mir atmete jemand scharf. Erst dann sah ich den Mann. Er saß auf einer umgekippten Tonne und starrte nach vorn. Sein Gesicht glänzte schweißnaß. Eine Hand hatte er auf seine linke Brustseite gelegt. Ich beugte mich zu ihm, doch erst als ich ihn ansprach, hob er den Kopf und hörte mir zu. »Was ist los? Was haben Sie?« »Die Blitze…« »Was ist mit Ihnen?« Er atmete stoßweise. »Sie werden zurückkommen, glauben Sie mir. Die Blitze kehren zurück!« Mit der Zungenspitze leckte er über seine Lippen. »Ja, sie sind schon hier…« »Ich sehe sie nicht!« Seine Augen bekamen einen beinahe träumerischen Ausdruck. Er bewegte die rechte Hand im Halbkreis. »Himmel, wer kann sie schon sehen, Sir. Niemand. Man spürt sie nur, wissen Sie? Man spürt sie. Sie sind da, sie sind in den Menschen festgefroren.« Ich wußte nicht, was ich von dieser Antwort halten sollte. »Festgefroren«, das hätte ich nicht so ohne weiteres unterstrichen, aber es konnte durchaus sein. »Haben Sie auch das seltsame Licht bei den Shanes gesehen, Mister?« Er verzog die Lippen, so daß der rechte Mundwinkel kippte. »Ja, das habe ich gesehen.« »Und?« Er hob die Schultern. »Spüren Sie denn nichts?« »Es ist da. Es ist in der Stadt. Es ist in uns. Es hat uns überfallen, und es wird uns beherrschen. Dieses Licht ist die Botschaft, und es ist gleichzeitig die Angst, Mister. Davor fürchte ich mich, obwohl ich es schon in mir spüre.« »Okay, Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich werde versuchen, es zu löschen.« »Das können Sie nicht.« Er strich über seine hellen Bartstoppeln und produzierte ein kratzendes Geräusch. »Es ist über uns gekommen wie das Jüngste Gericht. Die Blitze am Himmel sind nicht zu erklären. Wir sollten in die Wohnungen zurückgehen, die Bibeln nehmen und beten. Nur so können wir uns schützen. Was machen wir statt dessen? Wir
gehen hinaus, wir warten darauf, daß etwas passiert und nur, weil das Licht uns schon erreicht hat.« Es war mir alles zu theoretisch, was der gute Mann da erzählte. Ich wollte Gewißheit haben, und da mußte ich mich einfach mit dem Licht auf dem Dach beschäftigen. Ich lief über die Straße, die hier ziemlich leer war. Nur vereinzelt standen Bewohner im Schatten ihrer Häuser, und ich konnte mir auch vorstellen, daß sie meinen Weg verfolgten. Es war nicht der Stern von Bethlehem, und doch wurde mir der Weg zum Ziel gewiesen. Das Haus der Familie Shane zählte sicherlich zu den größten Bauten von Weldon. Bei Tageslicht sah es bestimmt prächtig aus, jetzt in der Dunkelheit wirkte es irgendwie bedrohlich, trotz des weißen Zauns, der es zur Straße und zum Gehsteig hin abschirmte. Ich war nur froh, daß es nicht zu weiteren schlimmen Ausschreitungen und Exzessen gekommen war und die Menschen hier sich gegenseitig zerstört hatten, so blieb alles in einem >vernünftigen< Rahmen, trotz der unheimlichen Bedrohung. Ich trat das kleine Tor auf. Vor mir lag der Weg. Er führte direkt zur Haustür. Ich schaute nach links und dabei gleichzeitig in die Höhe. Das Licht stand noch immer dort wie eine kleine, aber leicht aufgedunsene Wolke. Die eigentliche Quelle sah ich nicht, da sie der seitliche Dachfirst verdeckte. Vor mir sah ich die Tür. Ich kam nicht dazu, sie zu offen, denn jemand hatte wohl auf mich gelauert. Von innen her zerrte er die Haustür auf. Ich sah die Gestalt auf der Schwelle, ich sah sie schwanken und dann das Haus verlassen, eingehüllt von einem hellen Licht, das Ähnlichkit mit einem Sternenflimmern aufwies. Die Gestalt war bleich, weil sich der unnatürliche Schein auf dem Körper und ebenfalls auf dem Gesicht abzeichnete. Sie wirkte wie ein Toter. Es war ein Mann, der mich hätte erkennen müssen, aber Suko tat so, als wäre ich für ihn ein Fremder… *** Nora Shane saß in der Mitte ihres Zimmers! Sie saß auf ihrem Drehstuhl vor dem Computer. In der heutigen Zeit kein unnormales Bild, denn vielen Jugendlichen, ob Mädchen oder Jungen, war der Computer inzwischen zum besten Freund geworden. Trotzdem war es hier anders, und zwar schlimm anders.
Über den Bildschirm huschten die grellen Lichtblitze. Sie sahen so aus, als wollten sie den Monitor zertrümmern, denn immer wieder zersprühten sie und strahlten genau in diesen Augenblicken ihre größte Intensität ab. Das blonde Mädchen rührte sich nicht. Falls Nora Sukos Eintritt aufgefallen war, hatte sie sich zumindest so gut in der Gewalt, daß sie sich nichts anmerken ließ. Sie hatte eine sehr gerade Haltung eingenommen und macht auf Suko den Eindruck einer großen Puppe. Etwas ringelte von verschiedenen Seiten herkommend über den Boden und spannte sich in die Höhe, als es Noras Stuhl erreicht hatte. Das Geringel erinnerte Suko an starre Schlangen von unterschiedlicher Farbe. Allerdings nur beim ersten Hinschauen. Sah er genauer hin, dann erkannte er schon die Kabel, an die das Mädchen angeschlossen war. Sie hatte sie sich in die verschiedene Körperöffnungen gesteckt, in die Ohren ebenso wie in ihre Nasenlöcher, und somit pumpte sie die Energie in sich hinein. Suko hielt den Atem an. Ein derartiges Bild hatte er noch nicht gesehen. Da war ein Mädchen mit einem Computer verbunden worden, doch das war nicht alles. Sie zapfte die Energie aus dem Computer ab, und sie bekam sie stets in neuen Stößen, die ihren Körper durchflirrten. Der Drucker meldete sich mit einem leisen Tacken. Suko wartete noch einen Moment, bevor er hinging. Das Mädchen hatte noch keinen Kontakt mit ihm aufgenommen, es interessierte sich nicht dafür, was hinter seinem Rücken ablief. Suko blieb neben dem Drucker stehen. Er konnte in Noras Gesicht sehen. Ihm fiel sofort die Haut auf. Sie war bleich und dünn. Es lag daran, daß Nora immer wieder von neuen Energien durchdrungen wurde. Stoßweise bekam sie die Stromstöße mit, und dann erhellte sich jedesmal ihr Gesicht. Das Filigran der Knochen erschien nicht, dafür strahlten das Gesicht, der Hals und ein Teil ihrer Schultern auf, und sie verwandelte sich immer dann in eine Leuchtgestalt. Ihre Arme hatte sie angehoben. Die Finger lagen auf der flachen Tastatur. Sie wirkten dort wie festgeklebt oder wie kleine Stecker, die Energie aus dem Apparat saugten. Lebte sie noch wie ein normaler Mensch, oder war sie längst zu einem Überwesen geworden? Suko dachte auch an die Schüssel auf dem Dach. Sie war der Mittler zwischen Nora Shane und dem anderen. Wahrscheinlich zeichneten sich die unerklärbaren Energien auf dem Monitor ab, bevor sie an das Mädchen weitergegeben wurden. Sie sprach nicht. Ihr Blick war starr auf die Lichtblitze des Monitors gerichtet. Immer dann, wenn sie einen neuen Stoß erhielt, zuckte sie allerdings zusammen. Suko kam es auch so vor, als wollte sie eine Unmenge an Informationen sammeln, um sie anschließend für sich
einsetzen zu können. Der Gedanke, ob sie ein Mensch oder bereits zu einer Mensch-Maschine geworden war, beschäftigte ihn ebenfalls. Wenn das Mädchen schon den Wechsel zu einer Maschine hinter sich hatte, konnte es dann noch normal reden, oder hörte es nur auf die Kräfte, die sich auf dem Bildschirm austobten und den schmalen Körper immer stärker aufluden? Der Drucker tickte nicht mehr. Suko schaute hin und sah das Papier wie eine breite Zunge aus ihm hervorhängen. Eine Nachricht? Er hatte sich mittlerweile an die Szenerie gewöhnt. Normales Licht erwischte ihn nicht. Es war zu künstlich, und es stammte zumeist vom Bildschirm des Computers, den es als geheimnisvolle fluoreszierendes Leuchten verließ. Zum Glück reichte es aus, um die Botschaft auf dem Gedruckten lesen zu können. Suko riß das lange Blatt ab. Er las den ersten Satz. WER BIST DU? Suko schaute auf Nora Shane. Sie bewegte sich nicht und gab sich nur mit ihrem Spielzeug ab. Weiterlesen! WAS WILLST DU HIER? WARUM BIST DU GEKOMMEN? DU BIST FREMD! ICH WILL DEINEN NAMEN WISSEN! WIE HEISST DU? Der Inspektor gab zum erstenmal eine Antwort. »Ich bin Suko«, sprach er in die Stille des Zimmers hinein. Nora Shane nickte nur. Ansonsten zeigte sie keine Reaktion. Sie drehte sich auch nicht um. Suko nahm dies als Aufforderung hin, weiter zulesen. KOMMST DU AUCH WEGEN IHNEN? STEHST DU MIT IHNEN IN KONTAKT? KENNST DU SIE? HABEN SIE DIR AUCH EINE NACHRICHT HINTERLASSEN? WUSSTEST DU, DASS ES HEUTE SOWEIT IST? »Ich dachte es mir…« Nora Shane beugte ihren Kopf vor. Es standen keine weiteren Fragen mehr auf dem Papier. Suko rechnete damit, daß sie welche stellen würde, was sie auch tat, aber sie brauchte nicht ihre Finger zu bewegen, um die Worte einzugeben. Nora schaffte dies durch ihre geistige Kraft. Sie hatte eine Verbindung zu den Gewalten auf dem Bildschirm hergestellt, und wieder fing der Drucker an zu arbeiten. Suko spürte noch immer den dumpfen Druck im Kopf. Er preßte seine Fingerspitzen gegen die Schläfen wie jemand, der über ein bestimmtes Problem nachdachte, damit aber nicht zurechtkam. Trotzdem mußte er nachdenken, denn er hatte unter anderem eine sehr wichtige Information erhalten.
Wer waren denn SIE? Mit wem sollte er in KONTAKT stehen? Suko war es gewohnt, sich beim Denken über gewisse Schemata hinwegzusetzen, das tat er auch jetzt, und da störten ihn nicht die Kopfschmerzen oder die andere Beeinflussung. Das Mädchen mußte damit die anderen Mächte gemeint haben. Wahrscheinlich diejenigen, die für den normal Sterblichen nicht sichtbar waren, sondern nur für sie. Aber auch nicht als Gestalten, sondern nur als ein tiefes Gefühl, als bohrende Geister, die sich in ihre Seele hineindrückten und sie so zu ihren Informationen kam. Das war schon unglaublich… Der Drucker verstummte. Blitzschnell griff Suko zu und riß das Blatt ab. Wieder sah er die Fragen. Für einen Moment verschwammen die Worte vor seinen Augen, was wohl an seinem nicht eben topfiten Zustand liegen mußte. Er wischte über seine Augen, atmete noch einmal tief durch und hielt das Blatt schräg, damit er die Buchstaben entziffern konnte. SIE SAGEN, DASS DU NICHT GUT BIST! SIE KENNEN DICH NICHT! SIE MÖGEN DICH AUCH NICHT! DU GEHÖRST NICHT ZU UNS! DU BIST KEINER VON IHNEN! DU BIST SEHR FREMD! WAS WILLST DU? Suko ließ das Blatt sinken. Ja, was wollte er eigentlich? Er war nach Weldon gekommen, um John zu suchen. Er hatte ihn nicht gefunden. Das wiederum brachte ihn auf eine Idee. »Ich suche einen Freund!« Er hatte Nora bewußt angesprochen und ziemlich laut dabei geredet. Zunächst blieb sie sitzen. Zwei Sekunden später meldete sich wieder der Drucker. Diesmal riß Suko das Papier nicht ab. Er las die Frage. WIE HEISST DEIN FREUND? »John Sinclair.« Abermals nahm Nora über den Drucker Kontakt mit ihm auf. Diesmal dauerte die Antwort länger. WIR KENNEN IHN NICHT! ER GEHÖRT NICHT ZU UNS! ER IST EIN ANDERER! ER IST FREMD! WIR WOLLEN KEINE FREMDEN HIER HABEN! WIR WOLLEN AUCH DICH NICHt! MEINE FREUNDE SAGEN, DASS DU IHNEN NICHT GEFÄLLST! SIE TRAUEN DIR NICHT! DU BIST NICHT WIE DIE BEWOHNER HIER! DU STEHST NICHT AUF UNSERER SEITE… Vorbei. Keine Antwort mehr. Suko schluckte den bitteren Geschmack runter. Die letzte Antwort hatte ihm bewiesen, daß er nicht eben ein willkommener Gast war. Im Gegenteil, er wurde als Feind angesehen. Was tun? Den Namen John Sinclair hatte er erwähnt, aber so gut wie keine Reaktion erhalten. Plötzlich verdichtete sich bei ihm der Eindruck,
in einer Falle zu stecken. Zwar tat das Mädchen nichts, doch es strahlte eine derartige Sicherheit aus, daß sie auch nichts tun mußte. Allein Noras Anwesenheit und ihre Andersartigkeit war schon Bedrohung genug. Dieses Zimmer hatte sich in eine Hölle verwandelt. Hier waren verschiedene Kräfte aufeinandergetroffen. Magische und meßbare. Statt sich gegenseitig aufzuheben, hatten sie sich zu einer unheimlichen Allianz verbunden, in deren Mittelpunkt nicht nur Nora Shane stand, sondern auch Suko, und der wiedrum fühlte sich nicht wohl. Er wußte zudem nicht, was er noch tun sollte. Die Waffe ziehen und sie zwingen, ihren Platz zu verlassen? Erstens glaubte er nicht daran, daß es Sinn gehabt hätte, und zweitens hatte sie ihm auch keinen Anlaß dazu gegeben. Er befand sich in einer Zwickmühle. Der Drucker schwieg. Auch Nora rührte sich nicht. Über ihr Gesicht huschten die Reflexe des grellen Scheins, den der Monitor ausstrahlte. Und jeder Blitz kam ihm vor wie eine Botschaft, die haargenau traf und sie immer stärker gegen ihn einstellte. Durch das sich im Zimmer ausbreitende fahle Leuchten kam sich der Inspektor vor, als wäre er von einer Armee aus Geistern umgeben, die nur daraufwarteten, daß er etwas Falsches tat, um dann richtig zuschlagen zu können. Er war ins Schwitzen geraten. Der Druck in seinem Kopf hatte ebenfalls nicht nachgelassen. Manchmal empfand er den Schmerz wie die scharfen Stiche von Rasierklingen, die in sein Gehirn schnitten, als wollten sie dort alles zerstören. Selbst die Tür kam ihm nicht mehr wie ein Ausweg vor. Hier hatte Nora Shane die Macht übernommen, und sie verließ sich voll und ganz auf ihre anderen Freunde, die Sukos Meinung nach aus einer jenseitigen Welt stammten. Das aber wollte er genau wissen, und deshalb ging er auf Nora zu. Er wußte nicht, ob er damit einen Fehler beging. Er war sich nur sicher, daß er es tun mußte. Dicht hinter ihr blieb er stehen. Über den Kopf hinweg konnte er auf den Bildschirm schauen. Dort zuckten und tanzten die Blitze, die für Nora Botschaften waren, nicht für Suko. Er wurde von ihnen geblendet, aber sie prallten nicht von ihm ab. Sie erwischten ihn. Sie drangen in seinen Schädel. Dort breiteten sie sich aus. Sie wurden zu einem kleinen Inferno und überlagerten sein Denken. Suko ging nicht weg. In etwa blieb er sogar freiwillig stehen, nicht, weil er Masochist gewesen wäre, nein, er rechnete damit, daß diese Blitze auch Botschaften für ihn hatten, die ungemein wichtig werden konnten.
Das waren eben die anderen, und er wollte wissen, wer sich hinter ihnen verbarg. Woher sie stammten, von welch einem Pandämonium Nora die Grenzen eingerissen hatte. Bekam er Antworten? Oder mußte er sich ebenso verhalten und sich wie Nora selbst verkabeln lassen? Das weitere Geschehen wurde Suko aus den Händen genommen, denn Nora drehte sich um. Der Stuhl bewegte sich mit. Suko hörte nicht den leisesten Laut. Es kam ihm vor, als wäre Nora selbst zu einem geisterhaften Wesen geworden. Sicherheitshalber trat er zurück. Nur einen kleinen Schritt, dann blieb er stehen. Sie schaute ihn an. Er blickte auf das sitzende Mädchen nieder. Suko interessierten dabei besonders die Augen, denn in ihnen glaubte er, eine Botschaft zu lesen, die an ihn gerichtet war, auch wenn er sie nicht verstand. »Wer sind die anderen?« flüsterte er Nora entgegen. Ihm fiel dabei auf, daß er nur mühsam die Worte hervorbrachte. So etwas wie eine nicht erklärbare Trägheit hatte ihn überkommen. Hinzu kam, daß ihn die Blitze nervös machten. Sie verursachten auch Kopfschmerzen. Suko mußte sich schon sehr konzentrieren, und er hörte auch zu, wie Nora ihm die Antwort zuflüsterte. Sie hatte dabei ihre Hände auf die Oberschenkel gelegt und die Position eines braven Schulmädchens eingenommen. »Es sind meine Freunde.« »Ich kenne sie nicht.« »Es sind Geister«, sprach sie voller Stolz. »Die Geister der Luft, der Natur. Ich kann sie verstehen. Ich habe sie schon als kleines Kind geliebt, denn sie sind in mich hineingerast. Ich bin nicht so, wie du es dir vorstellst. Ich bin ein Mensch, okay, aber ein besonderer. Mich haben sich die Geister als ihren menschlichen Freund ausgesucht, und sie werden mich nie wieder loslassen.« Suko runzelte die Stirn. Was diese Person da gesagt hatte, mußte er zunächst mal sortieren, was ihm wegen seiner immer stärker werdenden Kopfschmerzen nicht leichtfiel. »Warum gerade du?« fragte er leise. »Es liegt schon lange zurück.« »Wie lange?« »Jahre…« »Aber was liegt zurück?« Sie lächelte plötzlich. Dann leuchtete sie von innen her auf, doch dieses falsche Licht verschwand sehr bald, und Suko sah es nur mehr auf ihren Lippen leuchten, die sich nun bewegten, als sie anfing zu sprechen. »Damals war ich draußen. Es war Sommer, es war August. Schon die ganzen Tage zuvor war es sehr heiß und schwül gewesen. Es mußte einfach zu einem Gewitter kommen. Auch ich wußte es, aber ich bin nicht im Haus geblieben. Ich lief nach draußen, um es zu erleben. Nicht
weit von uns lag das Feld. Das Korn war schon eingefahren, alles war frei. Ich stellte mich hin, dann kam das Gewitter mit einer wahren Urgewalt. Ich sah die Blitze, die so wunderbar waren, die den ganzen Himmel ausfüllten, die auch zur Erde rasten…« »Von einem Blitz bist du getroffen worden, nicht?« Nora Shane schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nur von einem Blitz, von vielen Blitzen. Ich war wie ein Magnet für sie. Ich zog sie an, und sie nahmen mich als Ziel. Sie jagten in mich hinein, sie waren wie Speere, sie glühten in mir, aber ich verbrannte nicht. Ich wurde nur aufgeladen, und als das Gewitter vorbei war, fühlte ich mich besser, viel besser. Ich ging nach Hause.« Das mußte Suko zunächst verdauen. Es klang unwahrscheinlich, aber nicht unglaublich. »Die Blitze also«, flüsterte er und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden. »Warum du? Warum ausgerechnet du, Nora? Sie hätten dich zerstören müssen.« »Nein, niemals!« rief sie jetzt. »Warum denn nicht?« Ihre Aufgeregtheit verschwand, und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Weil ich sie liebte. Ich liebte die Blitze, ich liebte die Energie, und sie machten mich zu einer der ihren. Ich war von nun an mit ihnen verwachsen, ich brauchte vor der Elektrizität oder vor dem elektrischen Strom keine Furcht mehr zu haben. Ich liebte ihn, ich konnte mit ihm spielen, ich kann mich anschließen lassen, denn ich weiß, daß die Blitze, die mich trafen, etwas Besonderes waren und mich allein auserwählt haben. Es waren Geister aus anderen Welten, und ich bin ihr Vertreter hier.« Suko wußte nicht genau, was er von ihren Worten halten sollte. Er mußte sie akzeptieren. Zumindest wäre ihm keine andere Lösung eingefallen. Nora Shane war dieses unheimliche Medium, der Mittler zwischen den Welten, kein Kind aus dem Geisterreich, sondern ein fast schon normaler Teenager mit einem besonderen Schicksal. Konnte man ihr helfen? Er wußte es nicht, er hatte auch keine Idee, weil es einfach zu schwer für ihn war, logisch zu denken. Die Atmosphäre in diesem Raum ließ es einfach nicht zu. Da war er mit seinen menschlichen Kräften den anderen unterlegen. Was war Nora? Ein Mensch, ein Kunstgeschöpf? Eine Mischung aus beiden? Hatte damals, als die Blitze sie trafen, die Natur mit den Menschen gespielt und ihnen bewiesen, wer mächtiger war? Jetzt war sie ein Teil dieser anderen Welten, und sie schaffte es als Medium auch, die normalen Menschen zu beeinflussen.
Sie bewegte sich, wollte aufstehen. Dabei versuchte sie in das Gesicht des Inspektors zu schauen, denn sie wollte den Mann unter Kontrolle haben. Suko wich dem Blick nicht aus. Sein Blick bohrte sich in die Augen des Mädchens. Er dachte darüber nach, ob sie noch ein normales menschliches Aussehen hatte oder ob sich die Pupillen schon in seelenlose Computer-Chips umgewandelt hatten. Nein, das war nicht der Fall. Aber er sah den Glanz. Er strahlte die intensive Kälte der Sterne aus. So anders, so grausam, gefüllt vom Licht zahlreicher Blitze, die in den beiden Augen eine neue Heimat gefunden hatten. Nora blieb vor ihm stehen. Ihr Haar umfloß das Gesicht wie goldgelbes Wasser. Die Haut war bleich und gleichzeitig auch lichterfüllt. Sie bewegte die blassen und trotzdem leicht glänzenden Lippen und sagte dann: »Ich habe dir viel erzählt, aber ich habe dich nicht überzeugen können. Das merke ich.« »Es stimmt!« »Du gehörst nicht zu mir.« »Richtig.« »Du bist gekommen, um mich zu stoppen!« »Auch das stimmt.« Sie redeten schnell, fast ohne Pause. Suko wußte auch, daß es keinen Sinn hatte, zu lügen. Er war ein Gefangener ohne Fesseln und fühlte sich trotzdem angebunden. Er lief an der langen Leine… Sie berührte ihn. Suko hätte eigentlich damit rechnen müssen. Es war aber zu schnell erfolgt, und plötzlich spürte er den Stromstoß, der durch seinen Körper huschte. Das Kribbeln jagte hoch bis in seinen Kopf, und es breitete sich sogar in den Haaren aus. Ein Stromschlag hatte ihn erwischt, die Berührung war doch zu riskant gewesen. Sie faßte noch einmal zu. Diesmal länger. Ihre Finger hielten sein Handgelenk fest. Suko drückte sich in die Knie. Er riß den Mund auf. Er schrie. Der Strom durchschoß seinen Körper. Beide machten ihn zu einer Marionette in der Hand dieses ungewöhnlichen Teenagers, der ihn noch immer nicht losließ und Suko mit Erstaunen feststellte, daß sich ihr Körper erhellte wie eine Lampe. Sie war da, aber sie war nicht mehr dieselbe Person. Auf Suko machte sie den Eindruck eines Kunstgeschöpfes. »Los… lassen…«, ächzte er. Er hörte das Lachen.
Sein rechter Arm brannte. Nora hielt zwar nur sein Gelenk fest, doch das Brennen breitete sich aus bis zum Oberarm und tobte in der Schulter. Schließlich erlöste sie ihn. Selbst in der knienden Stellung konnte Suko sich nicht mehr halten. Er kippte nach vorn und fiel zu Boden. Beinahe noch hätte er mit seinen Lippen die Schuhe der Person berührt. Er krümmte sich. Es gab keine Stelle mehr an seinem Körper, die nicht in Mitleidenschaft gezogen war. Die Schmerzen kamen in Wellen, und jede Welle riß an seinen Muskeln, so daß sie zuckten wie die Schenkel eines Froschs. Erst als die Person härter gegen seine Schulter trat, spürte der Inspektor die Berührung. »Willst du hier liegenbleiben?« »Nein!« Er würgte die Antwort trocken hervor. »Dann hoch mit dir!« »Kann nicht… zu schwach…« Nora lachte ihn aus. »Und so etwas wie du ist gekommen, um mich zu stoppen! Ich habe dich gesehen, ich habe dich draußen schon bemerkt. Die Gefahr bildete sich als Schatten auf meinem Computer-Monitor ab. Du warst dort nicht mehr als ein Umriß, aber ich wußte genau, daß du dich mir nähern wolltest. Dein Pech, mein Lieber. So wirst du das erste Opfer sein, und die Menschen hier in Weldon können zuschauen, wenn ich ihnen eine Demonstration meiner Macht gebe.« Nein, dachte Suko, so spricht keine Zwölfjährige. Das ist unmöglich. Dieses Mädchen ist erwachsen. Es ist verändert und zu eine andere Person geworden, und ich kann nichts mehr tun. »Steh auf!« Es gefiel Suko auch nicht, einfach auf dem Boden liegenzubleiben. Er zog die Arme an und stemmte sich in die Höhe. Er kam zwar auf die Beine, torkelte aber nach vorn und suchte Halt, um auf den Füßen zu bleiben. Das schaffte er soeben noch, weil ihm die Wand zugleich eine Stütze war. Er lehnte sich dagegen. Nicht weit entfernt hing ein Plakat von Michael Jackson. Sein Motiv war irgendwie bezeichnend. Er stand auf einer Bühne, umgeben von zahlreichen funkelnden Lichtblitzen, die Ähnlichkeit mit einem Sternengewitter aufwiesen. Er brauchte Zeit. Nora wollte sie ihm nicht geben. »Du brauchst keine Angst zu haben, daß wir uns noch länger hier aufhalten werden. Das habe ich nicht vor. Ich möchte mit dir weg.« »Wohin?« »Nur auf die Straße. Meine Kraft hat gewirkt, die Menschen hocken nicht mehr in ihren Häusern. Sie haben die Wohnungen verlassen und sind hinaus in die Nacht getreten. Sie gehören jetzt zu mir, wenn du
verstehst. Sie sind meine Freunde, meine Diener. Ich werde ihnen dabei helfen, die Wege in andere Welten zu finden.« »Nein, du wirst sie vernichten!« Suko hatte sich bei dieser Antwort umgedreht. Er sah die Gestalt jetzt vor sich. Das Mädchen stand da und schaute ihn an. Ihre Augen waren anders. Sterne? Oder Rundungen, in denen sich das Blitzgewitter austobte wie in einem Mikrokosmos? Ihre Gestalt war sehr hell. Sie leuchtete von innen. Kaum meßbare Energien tobten sich in ihrem Körper aus. Nora war zu einem menschlichen und lebenden Kraftwerk geworden, die es allerdings schaffte, ihre außergewöhnlichen Kräfte unter Kontrolle zu halten. Sie machte Suko einen Vorschlag. »Zweimal habe ich dich berührt. Ich habe dabei meine Kräfte kontrollieren können. Das aber kann ich nicht garantieren, du verstehst. Wenn du dich weiterhin gegen mich stellst und ich dich ein drittes Mal berühre, ist es vorbei. Dann hast du keine Chance mehr, dann wirst du zersprühen wie ein Stern, der von unheimlichen Gewalten erwischt wurde.« Er glaubte ihr jedes Wort. Er wußte auch, daß es keinen Sinn hatte, sich gegen Nora zu stellen. Auf ein Wunder wollte Suko nicht hoffen, aber der Name seines Freundes war ihm nicht aus dem Sinn gegangen. John war nicht dumm. Wenn er sich in Weldon aufhielt, mußte er längst bemerkt haben, was hier ablief. Deshalb ging er vor, und er hörte die Stimme des Mädchens in seinem Rücken. »Den Weg kennst du ja!« Er war ihm bekannt. Nur hatte er es bei seiner Ankunft leichter gehabt. Als er durch den Flur schritt, fiel ihm die verdammte Schüssel oben auf dem Dach ein. Er fluchte über sie. Genau dieses runde Ding hätte zerstört werden müssen. Er ärgerte sich, daß er sich nicht zuvor an die Arbeit gemacht hatte. Durch sie fing Nora die anderen Energien auf, die anschließend durch den Computer in ihren Körper hinein weitergeleitet wurden. Ein irrer Kreislauf… Das Mädchen blieb hinter Suko, er hörte dessen Schritte. Die Treppe lag vor ihm. Sie schwankte. Auf den Stufen hatten sich Wellen gebildet, und es war für Suko nicht einfach, den Fuß auf die erste Stufe zu setzen. Er hatte Angst, aber da war das Geländer, und mit der Rechten schlug er auf den Handlauf. Er hielt sich fest. Tief saugte er die Luft ein. Schwindel überkam ihm. Es war schwer für ihn, sich zu halten, und hinter ihm drängte das Mädchen. »Du mußt gehen, sonst stirbst du auf dieser Treppe.«
»Okay.« Suko brachte nicht mehr als ein Keuchen heraus. Er ging auch, und er hatte weiterhin das Gefühl, über die schwammigen Stufen hinwegzusegeln. Irgendwann hatte er sie hinter sich gelassen. Seine Knie waren weich. Wenn er gehen wollte, dann trabte er nur voran. Die Wände bewegten sich noch immer, eine ungewöhnliche Kälte kroch in seinen Körper, der Kopf erinnerte ihn an einen Druckkessel, der kurz vor dem Platzen stand. Als er Luft holte, schmerzte sein Mund. Alles war plötzlich so anders geworden, die Welt hatte sich verändert, den Druck konnte er nicht mehr ertragen. »Da ist die Tür! Öffne sie!« Suko fiel dagegen und war froh, sich an der Klinke abstützen zu können. Er zog sie auf. Dann verließ er das Haus! *** Ich hatte meinen Freund gesehen, wußte aber nicht, ob er mich erkannt hatte, denn sein Gesichtsausdruck zeigte nur mehr einen Schrecken, den ich von ihm nicht kannte. Gleichzeitig wunderte ich mich über die Leere in seinen Augen – Suko war nur mehr eine Marionette, die unter der Kontrolle einer anderen Person stand – und die ging hinter ihm. Das mußte Nora Shane sein. Ein Kind? Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie war zwar erst zwölf, wirkte aber trotzdem erwachsen, als gäbe es nichts auf dieser Welt, das sie noch aus der Fassung bringen könnte. Sie war die Sicherheit, sie trieb Suko voran, und ich unternahm auch nicht den Versuch, ihn zu stoppen. Ich trat sogar zur Seite, damit mich diese Hülle auf zwei Beinen passieren konnte. Dann standen wir uns gegenüber. Eigentlich hatte Nora weitergehen wollen, aber etwas mußte sie wie eine Warnung erreicht haben. Ein Strom, der von meiner Person ausging. Oder vom Kreuz! Das war sehr viel wahrscheinlicher. Dieses >Kind?< stand unter einem anderen Einfluß. Ich hatte noch immer nicht herausfinden können, wer es war, der sie in den Klauen hielt, jedenfalls waren es meine Gegner, die sich vor dem Kreuz fürchteten. Ich wartete. Nur kurz schaute ich über die rechte Schulter zurück, um zu sehen, was mit Suko passierte. Zum Glück nichts. Er war weitergegangen und hatte es geschafft, seinen tapsigen Gang dicht vor dem weißgestrichenen Zaun zu stoppen. Dahinter tat sich etwas, denn die Menschen, die nicht mehr in den Häusern waren, hatten sich zusammengerottet. Als Gruppe waren sie
auf das neue Ziel zugekommen, begleitet von der laut blökenden Schafherde. Das alles war für mich Kulisse. Ich interessierte mich ausschließlich für Nora Shane. Einen schnellen Blick gönnte ich der Schüssel oben am Dach. Von ihr strahlte noch immer die Lichtwolke, die sich mit Sternenstaub vergleichen ließ. Sie flirrte, sie zitterte in sich selbst, aber sie traf keinerlei Anstalten, ihren Standort zu verändern. Sie füllte das Oval der Schüssel aus, als wäre sie darin festgeklebt worden. Nora war völlig normal angezogen. Jeans, ein Pullover, Turnschuhe, nichts, was sie auf den ersten Blick von anderen Mädchen ihres Alters unterschieden hätte. Wohl auf den zweiten! Da sah ich ihr Haar, das den Kopf wie goldener Flaum umrahmte. Da war das Gesicht mit der sehr hellen Haut, als würde hinter ihr ein besonders intensives Licht leuchten und eine Kraft ausstrahlen, die nicht von dieser Welt stammte. Und die Augen! Sterne? Nein, Sterne funkelten oft. Ich entdeckte in den Pupillen das kalte Licht eines Planeten, in dem überhaupt kein Gefühl zu lesen war. Nora Shane stand im wahrsten Sinne des Wortes unter Strom. Sie war bis in die Haarspitzen hinein aufgeladen. Ich blieb ruhig. Sie ebenfalls, doch es war deutlich zu spüren, wie sie innerlich zitterte und aufgebracht war. Andere Kräfte hatten zugeschlagen und dieses junge Mädchen in ihren Besitz genommen. Sie sprach mich an. »Geh mir aus dem Weg!« Es war nur ein Satz. Doch der Klang ihrer Stimme sagte genug. Sie war eisig, sie kannte keine Rücksicht, sie war nicht zu stoppen. Wenn ja, dann mußte schon Gewalt angewendet werden, dazu war ich bereit, auch wenn Nora noch jung war. Hinter mir war eine Mauer des Schweigens entstanden. Nichts rührte sich. Ich hörte keine Stimme, nicht einmal ein Wispern oder Flüstern, und auch das Blöken der Schafe war verstummt. Die eisige Ruhe vor dem Sturm! Sie sprach wieder. Das Gesicht blieb dabei unbewegt. Wie aus lichterfülltem Eis gemeißelt. »Hast du nicht gehört, was ich dir sagte?« »Schon!« »Dann geh!« »Ich bleibe!« Meine Antwort hatte Nora nicht einmal überrascht. Wahrscheinlich wäre sie auch enttäuscht gewesen, wenn sie anders gelautet hätte. Sie nickte mir zu, die Lippen zogen sich in die Breite, und sie deutete ein kaltes Lächeln an. Es würde etwas passieren.
Worauf verließ ich mich? Es gab nur eine Möglichkeit: auf das Kreuz vor meiner Brust. Die Wärme war geblieben, sie hatte sogar noch etwas zugenommen, was mir wiederum das Gefühl der Beruhigung gab. Ich ließ sie nicht aus den Augen, tastete jeden Millimeter ihres Gesichts ab und wartete auf den Punkt, wo sie sich dazu entschlossen hatte, mich endlich aus dem Weg zu räumen. Noch zögerte sie. Was war der Grund? Traute sie mir nicht? Oder traute sie plötzlich ihren eigenen Kräften nicht mehr? Ich konnte es nicht sagen, ich mußte einfach warten, denn ich selbst wollte nicht beginnen. Hinter mir standen die Menschen. Nora hatte ihren Bann über sie gelegt, und sie konnte sich einfach keinen Rückzieher mehr leisten. In ihren Augen funkelte es. Das war der Beginn. Sie nickte. »So«, sagte sie. Und einen Augenblick später griff mich Nora Shane mit geballter Kraft an… Vor meinen und aller Augen explodierte das Mädchen und wurde zu einer wahren Lichtwolke, die keinen Kontakt mehr mit dem Erdboden hatte. Eine strahlende Erscheinung, aber keine Mutter Gottes. Wir befanden uns auch nicht in Lourdes, sondern in England, und sie war einfach mein Feind. Mein Kreuz, wenn ich es aktiviert hatte, verwandelte sich ebenfalls in eine Lichtbombe. Bei Nora geschah nur ungefähr das gleiche. Sie hatte sich in ein Inferno von Blitzen verwandelt, so daß ich den gleichen Effekt erlebte wie bei meiner Ankunft, nur diesmal aus unmittelbarer Nähe und als Beteiligter. Die Blitze jagten durch den Körper. Sie sprengten ihn, sie lösten ihn auf, zumindest hatte ich den Eindruck, aber sie fanden auch andere Wege und schössen wie blanke, krumme Lanzen in die Höhe, dem Dach und der Schüssel entgegen. Dort trafen sie das Gerät mit vehementer Wucht. Sie bliesen hinein, sie durchtobten das Oval, sie waren einfach nicht mehr zu steuern, und sie luden sich dort auf. Die Schüssel und das Mädchen waren eine Verbindung eingegangen. Gegenseitig gaben sie sich die Kraft, um sich zu erneuern. Ich hörte keinen Laut, aber die Luft in meiner unmittelbaren Nähe veränderte sich abermals und roch wie bei einem Gewitter. Ja, nach Energie, nach Strom! Welche Stromstärke dieses Wesen durchfloß, war mir unbekannt. Für mich kam es einzig und allein darauf an, das Medium zu stoppen und es zu befreien.
Ich wollte Nora nicht töten, ich mußte nur versuchen, die andere Kraft aus ihrer herauszuziehen, wobei ich nicht einmal wußte, in welch einem Zusammenhang sie mit den Kräften in der Schüssel stand. Deshalb ging ich vor, um nach zwei Schritten die Grenzen des Infernos zu erreichen. Plötzlich wurde es taghell. Das Inferno begann, nein, es wiederholte sich. Ich erlebte das, was ich schon einmal aus der Ferne als Zeuge beobachtet hatte. Von der Schüssel aus und nicht von Nora fegte der Strom aus Licht und Blitzen nach allen Seiten weg. Vor allen Dingen schräg in die Höhe, um den dunklen Himmel zu spalten. Der schwarze Vorhang hatte keine Chance. Die flirrende Helligkeit zerstörte ihn, sie malte ein Netz in die graue Schwärze hinein, aber die Blitze verendeten nicht in der Unendlichkeit des Alls, sondern jagten wieder zurück auf die Erde. Sie tobten über den Ort, sie setzten ihre Kraft ein, fanden die ersten Ziele. Vögel verbrannten in der Luft. Sie glühten nur kurz auf, dann fiel ihre Asche zu Boden. Ein Haus wurde getroffen. Es stand nicht weit entfernt, ich konnte es aus dem linken Augenwinkel sehen. Als die grelle Lanze es traf, da sah es so aus, als wäre es durch einen breiten Zacken in zwei Hälften geschnitten worden. Sie krachten allerdings nicht auseinander, sondern hielten sich. Dann sprühte Feuer hoch. Der Zaun hinter mir brannte plötzlich, weil ein Blitz waagerecht über ihn hinweggeglitten war und ihn in Brand gesteckt hatte. Ich hörte Sukos fluchende Stimme, dachte an die Menschen, die sicherlich nicht verschont wurden, und mußte einfach etwas tun. Ob der Gegner zwölf Jahre oder zehnmal so alt war, durfte jetzt keine Rolle mehr spielen. Ich griff das Mädchen an. Es war der Sprung, der mich direkt in das Zentrum brachte. Aber nicht nur mich, sondern auch mein Kreuz, und das aktivierte ich, indem ich die Formel sprach. »Terra pestem teneto – Salus hic maneto!« Es war das letzte Mittel. Und es half! *** Der Widerstand des anderen Körpers löste sich so plötzlich auf, als wäre er weggeschmolzen. Ich wunderte mich, denn ich stolperte bis zur Treppe vor, fing mich dort und stürzte mich noch für einen Moment mit der linken Hand am Boden ab. Dann drehte ich mich um. Waren es Blitze? Nein, diesmal erinnerte mich das Licht an eine sichtbar gewordene Radarkeule, die von meinem Kreuz ausstrahlte und nicht nur in den
dunklen Himmel hineinjagte, sondern direkt in das Zentrum des Infernos, in die Schüssel. Darauf hatte ich gewartet. Die Kraft des Kreuzes hatte die Schüssel mit einer kaum beschreiblichen Intensität erwischt. Sie spielte mit ihr, sie tötete die Magien aus den anderen Welten ab. Die Blitze vereinigten sich zu einem nebligen Karussell, und für einen Moment verwandelten sie sich zu gräßlichen Fratzen, als hätten sich jetzt die wahren Geister gezeigt, als wären die Blitze nur verkleidet gewesen. Die Schüssel explodierte. Ihr Material hatte dem Ansturm nicht länger standhalten können. Als Scherbenreigen flog sie auseinander und landete irgendwo hinter dem Haus im Garten. Damit war die Verbindung zu Nora Shane gerissen. Und sie? Ich sah sie genau, aber war sie noch ein Mensch? Über mir schwebte schräg eine blanke, eisigkalte, lichtdurchflutete Gestalt, die aussah, als wäre mir ihr Bild durch einen Zerrspiegel wiedergegeben worden. Sie war viel größer geworden, aber auch schmaler und krummer. Nora hatte sich in einen Blitz verwandelt oder in reine Energie, mit der sie ja gefüllt gewesen war. Ein unheimlicher und lautloser Tanz begann. Es gab nur mehr diesen einen Blitz, ansonsten waren Himmel und auch die Erde wieder dunkel geworden. Doch dieser Blitz hatte es in sich. Er tanzte. Er schnellte hoch, er zuckte zurück, er drückte sich zur Seite, er kam wieder, er huschte als Schattenlicht über den Boden, er schlug eine Kurve, und zahlreiche Zuschauer sahen, wie er an der Hauswand in die Höhe glitt und sich dort das Gesicht und der Körper der Nora Shane abmalten. Ein kalter, funkelnder Reflex, mehr nicht. Bis auch er verschwand. Er wurde zerrissen, zerfetzt, und es blieb nicht einmal der schwächste Widerschein zurück, nur das Mauerwerk. Ich atmete auf. Die Nacht des Unheils war vorbei! *** Suko grinste mich an. Zu mehr war er nicht fähig. Später drückte er mir schweigend die Hand. Die Menschen gingen wieder. Auch der Schäfer zog sich mit seiner Herde zurück. Kein Bewohner stellte eine Frage. Sie alle verschwanden in ihren Häusern, so daß Suko und ich allein im Vorgarten standen. »Kannst du es begreifen?« fragte ich ihn. »Ja.« Ich wunderte mich. »Wieso?« »Weil sie es mir gesagt hat.«
»Und?« Er legte mir mit einer schweren Bewegung die Hand auf die Schulter. »Hat das nicht Zeit, bis wir mit Noras Verwandten sprechen?« »Sicher«, sagte ich. »Sicher…« Dann gingen wir ins Haus.
ENDE