Christian Montillon
Das Mord-Medium Professor Zamorra Hardcover Band 22
Zaubermond Verlag
Ein anonymer Brief führt ...
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Christian Montillon
Das Mord-Medium Professor Zamorra Hardcover Band 22
Zaubermond Verlag
Ein anonymer Brief führt Professor Zamorra und Nicole Duval in die USA. Der Parapsychologe besucht inkognito eine Séance des obskuren Mediums Elvira Montgomery. Dort geht alles mit allzu rechten Dingen zu – jedenfalls nicht mit Magie. Und doch gibt es bald einen Toten. Lange überlegt Zamorra, ob er sich in diesen Fall einmischen soll, denn er hat mit dem Kampf gegen Dämonen gerade genug zu tun. Muss er da auch noch den New Yorker Cops die Arbeit abnehmen? Schon bald mehren sich allerdings die Hinweise, dass es sehr wohl einen Dämonenjäger braucht, um diesen Fall zu lösen: Nicht nur entwickeln Waffen mitunter ein geheimnisvolles, tödliches Eigenleben – auch die Gegner, mit denen Zamorra es zu tun bekommt, sind … nun ja, anders als alles, was er bisher gewohnt war. Leider erkennt der Meister des Übersinnlichen, der sich zunächst allein auf seinen kriminalistischen Spürsinn verlässt, die wahren Hintergründe erst viel zu spät …
1. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Frank del Borges rammte die Tür auf und taumelte in die Wohnung, verschwitzt, verdreckt, das Hemd bis zum Bauchnabel aufgerissen. Er presste die Hände an die nackte Brust, zwischen den Fingern einen Schlüssel. Den Schlüssel zu einem besseren Leben. »Geschafft, Jenny!«, stieß er mit letzter Kraft hervor. »Wir haben es geschafft! … Verdammt noch mal, ich hab sie tatsächlich alle … alle zum Narren gehalten …« Er stockte. »Jenny …?« Aus dem Wohnzimmer drang ein Keuchen. Franks Kehle wurde schlagartig heiß und trocken. »Jenny!«, flüsterte er. Er wollte über den Flur laufen, die Tür zum Wohnzimmer aufreißen, aber seine Schuhe waren auf einmal so schwer, als wären sie mit Blei gefüllt. Er schleppte sich über den Dielenboden. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Durch den Spalt sah er einen umgestürzten Schrank. »O nein, Jenny …« Er drückte die Tür auf und fand sich im Chaos wieder: Jemand hatte den Wohnzimmertisch gegen die Wand geschleudert. Die Platte war zerbrochen, die Beine lagen wie abgerissene Stümpfe auf dem Boden. Eine Spur der Zerstörung zog sich über die Regale bis zur Sitzecke. Auf dem einzigen Stuhl, der unzerstört geblieben war, saß Jenny. Sie hatten ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie geknebelt. Über ihre nackten, blassen Brüste rann der Schweiß. Ihre Hände krampften sich um Paul, der auf ihrem Schoß saß. Dünne, bräunlich glänzende Tentakel verliefen über Arme und Beine. Und über Pauls Hals. Als Jenny Frank erblickte, hörte sie auf zu wimmern. Jenny, formten seine Lippen. Sein Blick sank von ihrem Gesicht herab zu Pauls und weiter zu dem finsteren, formlosen Wabern vor
Pauls magerer Brust. Aus dem Wabern zuckten irisierende Lichtfetzen, und von ihm gingen pulsierende, tentakelartige Arme aus. Frank blinzelte, weil er es nicht begreifen wollte. Im Raum breitete sich absolute Stille aus, nur unterbrochen von einem leisen Schmatzen, das deutlich hörbar aus der Finsternis vor Pauls Brust drang. Frank löste sich aus der Erstarrung, bahnte sich einen Weg durch das Chaos zu Jenny und Paul und riss ihr den Knebel aus dem Mund. Das unheimliche, dunkle Wabern ignorierte er, soweit es möglich war. Er achtete nur darauf, es nicht zu berühren. Paul begann wieder zu wimmern; zum Schreien fehlte ihm offenbar bereits die Kraft. Aus seinen Augen war der Glanz verschwunden, sie blickten stumpf und leblos und versuchten zu begreifen, was mit zwei Lebensjahren niemals zu begreifen war. »Wie lange?«, fragte Frank. »Zwei … zwei Stunden …« Ihre Stimme klang leer und hohl wie aus dem Innern eines tiefen Brunnenschachts. Ihr Oberkörper war von Striemen übersät, die dieselbe Dicke aufwiesen wie die Tentakel, die sich hin und wieder verschoben. Die schwarzen Haare, die sie sonst gelegentlich so anmutig aus der Stirn pustete, klebten jetzt an ihren Schläfen. »Frank … warum … warum warst du nicht da …?« Er hob einen Tentakel von ihren Schultern, dann von ihren Armen. Sie wanden sich in seinen Händen, und er musste alle Kraft aufwenden, um sie zu verschieben. Mit der Bewegungsfreiheit kam das Leben in Jennys Körper zurück. »Ich konnte nichts tun, Frank. Sie waren zu viele, und sie standen plötzlich mitten in der Wohnung. Ich habe keine Ahnung, wie …« »Schsch.« Er blickte die Tentakel an und zwang sich, dem leisen Schmatzen nicht zuzuhören. Er wusste, was er vor sich hatte. Eine magische Zeitbombe, die diese Wahnsinnigen nach dem Vorbild einer echten, mechanischen Höllenmaschine gebaut hatten. Eine perfide Idee, die genau zu ihnen passte. Es gab nur einen Grund dafür: Sie wollten ihn quälen. Ihn und Jenny. Und am Ende würde dieses finstere Wabern nicht explodieren, sondern schnappende,
gierige Mäuler aus der Finsternis entlassen. Die Mäuler der alten Kreaturen. »Wie viel Zeit bleibt uns?« Sie schluckte nervös. »Ich weiß nicht. Sie sagten was von einer Viertelstunde.« »Wann war das?« Sie schloss die Augen. »Ich weiß nicht.« »Jenny!« »Vor zehn oder elf Minuten.« »Zehn oder elf? Jenny, es ist wichtig!« Ihr Blick suchte die Standuhr an der Wand, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. »Elf Minuten, glaube ich.« Er stoppte die Zeit auf seiner Armbanduhr. Noch vier Minuten. »Okay, ich versuche, euch jetzt von dem Ding loszumachen.« »Nein, Frank. Sie haben gesagt, wenn ich aufstehe, geht die Bombe hoch!« »Jenny. Ich werd's tun. Wenn ich's nicht tue, seid ihr in vier Minuten sowieso tot.« Zwei der Tentakel führten Jennys Beine hinauf und um ihren Körper herum. Sie umringelten ihre Waden und Oberschenkel. Paul zuckte, versuchte die Arme zu bewegen. Er begann zu weinen. »Ruhig, Paul«, flüsterte Jenny. »Frank holt uns hier raus.« Paul weinte noch lauter. Franks Blicke wollten die Dunkelheit vor Pauls Brust durchdringen. Dafür bringe ich euch um. Dafür bringe ich euch alle um. Er zückte sein Messer aus geweihtem Silber, das er stets bei sich trug, seit er in diese verrückte Sache gezogen worden war, und setzte es an den ersten Tentakel. Die durchtrennten Hälften fielen schlapp nach unten. Jenny stöhnte auf. Das blieb das einzige neue Geräusch. Das Schmatzen tönte leise wie zuvor. Jetzt der zweite Tentakel. Frank sah wieder auf seine Armbanduhr. Noch zweieinhalb Minuten. Vielleicht ist die gesamte Bombe eine Attrappe, dachte er. Um uns
Angst zu machen. Uns klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben. Aber so tickten die anderen nicht. Sie hatten bereits versucht, ihm Angst zu machen. Tagelang. Wochenlang. Das hatte nicht geklappt, und deshalb hatten sie sich Jenny und Paul geschnappt. Auf diese Weise ergaben all ihre Zugeständnisse während der letzten Stunden einen Sinn. Jetzt wunderte es ihn nicht mehr, dass sie ihn mit dem Geld hatten ziehen lassen. Dass sie ihn nicht verfolgt hatten, als er auf Umwegen zur Grand Central Station gefahren war, um den Koffer in ein Schließfach zu sperren. Zwei Millionen Dollar, die schleppt kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, einfach so mit sich herum. Dafür bring ich euch um. Ich bring euch um. Ich bring euch um. Er hatte ihnen von Anfang an nicht getraut. Nur dass jetzt alles noch schlimmer geworden war, als er befürchtet hatte. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn erledigen würden. Ihn ja. Aber nicht Paul und Jenny. Die Klinge berührte den nächsten Tentakel. Gekappt. Noch anderthalb Minuten. Wenn Jennys Zeitgefühl stimmte. Sie hatte Todesangst, da konnte man sich schon mal verschätzen. Vielleicht waren sie früher gegangen. Vielleicht fraß die magische Bombe sie schon im nächsten Augenblick. Die beiden Tentakel, die sich um Jennys Rücken schlangen, zerrte er beiseite. Sie führten einmal um den Stuhl herum und dann zu Pauls Brust, wo sie in dem dunklen Wabern verschwanden, das genau über Pauls Herzen saß wie ein fetter Käfer auf seiner Beute. »Was soll das?«, flüsterte sie. »Steh auf, Jenny. Langsam.« Sie verstand nicht. »Das … Dunkelfeld der Bombe hängt an diesen beiden Tentakeln, die zu Pauls Brust führen. Es ist nur mit ihm verbunden. Nicht mit dir.« Ihre Augen wurden groß, als sie begriff, was das bedeutete. »Nein, ich werde nicht zulassen, dass Paul …«
»Steh auf! Und dann steigst du aus diesem Gewirr und gehst zur Tür. Du wirst dich in Sicherheit bringen, verstanden?« »Aber …« »Los jetzt!« Er brüllte sie an. Das hatte er noch nie getan. Nicht sie. Sie gehorchte. Langsam stand sie auf, hob den linken Fuß und schlüpfte aus der Schlinge, die die Tentakel bildeten. Dann der rechte. Dabei hielt sie Paul an ihre Brust gepresst, als wollte sie ihn niemals wieder loslassen. »Und jetzt setz Paul auf den Stuhl.« Noch eine Minute. »Setz Paul auf den Stuhl, verdammt noch mal!« Paul gefiel es nicht, auf den Stuhl gesetzt zu werden. Er begann wieder zu weinen. Frank starrte das Wabern an. Was sollte er tun? Wie konnte er den kleinen Paul befreien? Die wabernde Dunkelheit stellte nichts als eine perfide, widerliche Gemeinheit dar. Frank begriff, dass sie damit gerechnet hatten, dass er rechtzeitig nach Hause kommen würde. Dass sie damit gerechnet hatten, dass er versuchen würde, Jenny zu befreien. Er drehte sich um und las das Verstehen in Jennys Augen. »Geh zur Tür«, sagte er mit fester Stimme. »Nein!«, keuchte sie. »Ich werde Paul nicht alleinlassen!« »Ich werde Paul retten, aber du verschwindest jetzt aus diesem Zimmer!« Er blickte zu Boden, denn sie hätte ihm angesehen, dass er log. Sie schluchzte und stolperte ein paar Schritte rückwärts Ihre Augen waren auf Paul geheftet, der ihren Blick verständnislos erwiderte. »Paul!«, hauchte sie und stützte sich mit beiden Händen am Türrahmen ab. Frank verharrte immer noch, erstarrt in panischem Entsetzen. Hau ab!, zischte eine Stimme hinter seiner Stirn. Du kannst ihn nicht mehr retten. Noch dreißig Sekunden. Höchstens. Eher zwanzig. Hau ab!
Sein Herz führte einen wilden Tanz auf, irgendwo unterhalb seines Kehlkopfes. Es hämmerte gegen seine Rippen, dass er glaubte, sein Brustkorb müsste zerspringen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er bekam keine Luft mehr. Nur die magische Bombe schmatzte weiter, leise, kaum hörbar. Und in seinem Geist tönte eine hämisch flüsternde Stimme, die Stimme von Elvira Montgomery: Hast du es denn nicht die ganze Zeit gewusst? Er griff nach Paul und fasste in das substanzlose Wabern. In wenigen Sekunden war es zu spät! Er spürte nichts außer Kälte. Er berührte Pauls Brust. Die Armbanduhr piepste. Ende des Countdowns. Das Piepsen löste eine Kurzschlusshandlung bei Jenny aus. Sie schrie Pauls Namen und sprang zu ihrem Sohn. Das Schmatzen in der Dunkelheit endete, und die irisierenden Lichtfunken verstärkten sich. Dann stieß eine unheimliche Macht aus der Dunkelheit. Schnappende, fressende Mäuler verschlangen alles, verschlangen die abgebrochenen Stuhlbeine, die Schränke, die Regale und anschließend Pauls Weinen. Frank hörte Jenny schreien und spürte noch den Schmerz, als sich etwas in seinen Körper bohrte, dann löschte Dunkelheit sein Bewusstsein aus.
2. »Un' 'ne Flasche Wa-Walker!« »Johnny Walker?« »Mhm!« Ungefähr ein Jahr, nachdem eine magische Bombe, deren schreckliche Hinterlassenschaften von der Polizei für das Chaos einer herkömmlichen Bombe gehalten worden war, in einem Apartment in Downtown Manhattan drei Menschen in den Tod gerissen hatte, stützte ein breitschultriger, blonder Mann namens Warren Murdock beide Ellenbogen auf die Theke von Jimmy's Grocery Store in der Zweiunddreißigsten, Ecke Third Avenue, und ließ ein helles, unschuldiges Kinderlachen hören. Vergnügt sah er zu, wie Jimmy Crawford, der von seinen Kunden nur der dicke Jimmy genannt wurde, eine Flasche Orangensaft aus dem Regal zog und zu den anderen Lebensmitteln in die Papiertüte stopfte, die auf der Ladentheke stand. Warren Murdock war ein Mann in mittleren Jahren, aber niemand wäre ernsthaft auf die Idee gekommen, ihn wie einen Erwachsenen zu behandeln. Aus seinem Mundwinkel lief ein dünner Speichelfaden und versickerte in den schwarzen Strähnen seines Bartes. Warren Murdock lachte oft, weil ihm die dunklen Seiten des Lebens fremd waren. Sein Herz war rein, weil es nicht mehr Geheimnisse hütete als das eines durchschnittlichen Vierjährigen. »Für deine Mutter?«, erkundigte sich der dicke Jimmy. Die Frage war Teil des Rituals. Warren Murdock grinste. »Für Ma!«, bestätigte er und zeigte Jimmy den Einkaufszettel, den Helen Murdock ihm geschrieben hatte. Jimmy sah die Positionen durch und nickte. »Ist alles dabei. Die Tüte ist ziemlich schwer. Soll ich dir tragen helfen?« Warren schüttelte den Kopf. »Allein tragen! Trag ich ganz allein.«
Warren besaß den Körperbau eines Riesen. In den ausgebleichten Jeans und dem karierten Holzfällerhemd sah er aus wie ein Waldarbeiter, der Bäume der Einfachheit halber ausriss, anstatt sie zu fällen. »Klar bist du groß und stark, Warren. Aber die Tüte nicht.« Der dicke Jimmy zog eine zweite Tüte unter der Theke hervor und verteilte die Last. Warren krähte begeistert, und Speichel sprühte auf die Theke. »He, Mann, geht das vielleicht auch ein bisschen leiser?«, röhrte eine tiefe Stimme von den Stehtischen herüber. Dort standen zwei Männer, die in ein Gespräch vertieft gewesen waren. Der größere von ihnen, ein bulliger Kerl mit struwweligen schwarzen Haaren, starrte Warren verächtlich an. Er trug eine braune, abgewetzte Lederjacke und blaue Tommy-Hilfiger-Jeans, die über dem rechten Knie aufgerissen waren. Seine Füße steckten in schwarzen Cowboystiefeln. Er war wie Warren groß und breitschultrig, und sogar ihre Gesichtszüge ähnelten sich bis zu einem gewissen Grad. Dennoch schien er für den behinderten Mann nur Verachtung zu empfinden. Sein Begleiter war das genaue Gegenteil: gepflegt, distinguiert wirkend, mit schlohweißen, streng zurückgekämmten Haaren. Er trug einen billigen Anzug von der Stange und legte dem Schwarzhaarigen die Hand auf den Arm. »Bleib ruhig, Max. Wir wollen keinen Ärger.« Der Schwarzhaarige knurrte unwillig. »Ich lasse mir wegen dieses Bengels doch nicht den Mund verbieten.« Der dicke Jimmy lehnte sich vor, sodass sein Schmerbauch halb über die Ladentheke rutschte. »Der Bengel heißt Warren Murdock, wenn du's genau wissen willst. Er hat ungefähr den IQ einer Ananas und ist mein bester Kumpel. Wenn du ein Problem damit hast, muss ich dich leider aus meinem Laden schmeißen.« Der Schwarzhaarige starrte ihn feindselig an. »IQ wie eine Ananas!«, rief Warren begeistert in die Stille. »Wir haben kein Problem damit«, sagte der Distinguierte ruhig. »Bitte entschuldigen Sie den Zwischenruf meines Freundes. Er
wusste nicht, dass Ihr Freund geistig zurückgeblieben ist.« »Scheißkrüppel!«, murmelte der Schwarzhaarige so laut, dass der dicke Jimmy es gerade noch hören konnte. »Die gehören alle vergast!« »Halt endlich den Mund, verdammt noch mal!« Warrens Mund stand offen, und der Speichel floss wie aus einem Springbrunnen in seinen Bart. »Vergast.« Er starrte Jimmy an. »Was ist ›vergast‹?« Der dicke Jimmy winkte ab. »Ist 'n schlimmes Wort, das man lieber nicht kennen sollte.« »Schlimmes Wort, schlimmes Wort«, murmelte Warren nachdenklich. Jimmy schob ihm die Tüten rüber. »Macht 25 Dollar und 90 Cent. Willst du anschreiben lassen?« »Nicht anschreiben. Bezahlen!« Er kramte in seiner Tasche und zog einen zerknitterten Fünfzig-Dollar-Schein heraus. »Jimmy, behalten. Kein Wechselgeld! Rest für nächstes Mal.« »Sag deiner Mutter einen lieben Gruß von mir.« Der Schwarzhaarige an dem Stehtisch verfolgte mit finsterer Miene, wie Warren die Papiertüte anhob und auf den Ausgang zutrabte. Warrens Gang war schleppend, er zog das linke Bein nach, das hatte er sich von Clint Eastwood abgeguckt. Clint war verletzt gewesen, aber Warren fand es einfach nur cool, wie er das Bein nachzog. Er wischte sich mit der Linken den Speichel vom Gesicht und fasste nach der Türklinke. »Ja, zisch ab, Kleiner«, knurrte der Schwarzhaarige. »Nach Hause zu Mama, wo du hingehörst.« Jimmy wuchtete seinen Bauch hinter der Theke hervor. Sein Gesicht hatte sich in eine grimmige Maske verwandelt. »Ich habe dich gewarnt, Freundchen. Ihr beide verschwindet sofort aus meinem Laden!« Der Schwarzhaarige spuckte aus. »Was für ein Scheißland! Diese Krüppel werden durchgefüttert, aber 'n echter Kerl muss sich den Arsch aufreißen lassen, wenn er ehrlich bleiben will.« Er zog den
Mundwinkel herab und äffte Warren nach: »Jimmy, behalten. Kein Wechselgeld! Rest für nächstes Mal. – Mann, was für ein Schwachkopf!« »Jetzt reicht's«, knurrte Jimmy und hob seine fleischigen Hände. »Aus dir mach ich Salat, Freundchen!« Warren presste die beiden Tüten vor seine Brust und rief: »Kein Problem, Jimmy. Nicht streiten. Bin schon draußen, Jimmy, schon draußen!« Aber der dicke Jimmy war nicht mehr zu bremsen. Er packte den Schwarzhaarigen am Kragen. »Raus hier, oder ich vergess mich, du mieser kleiner …« Seine Worte gingen im Splittern von Glas unter. Ein Scherbenregen ergoss sich in den Raum, als Warren, der die Tür gerade hinter sich geschlossen hatte, rückwärts durch die Glastür stürzte. Die Papiertüte flog durch die Luft. Der Kopf des dicken Jimmys zuckte gerade noch rechtzeitig zur Seite, um der Flasche Orangensaft zu entgehen, die über ihn hinwegraste und an der Wand zerplatzte. Mit einem dumpfen Laut krachte Warrens Körper auf den Boden. Jimmy ließ den Schwarzhaarigen los. Scherben knirschten unter seinen Schuhen, als er neben Warren in die Knie ging. »Warren. – Warren!« Warrens Mund war aufgerissen, doch jetzt floss kein Speichel mehr aus seinen Mundwinkeln. Sein Blick war starr an die Decke gerichtet, und mitten zwischen seinen Augen, direkt auf der steilen Stirnfalte, befand sich ein kleiner, dunkler Punkt, aus dem ein dünner Blutfaden sickerte. Für einen Augenblick glaubte der dicke Jimmy, eine wimmelnde Bewegung in der Wunde zu sehen, aber zweifellos hatte er sich getäuscht.
New York, South Bronx
Elvira Montgomerys Brustkorb hob sich unter einem tiefen Atemzug. »Und jetzt, meine Brüder und Schwestern«, krächzte sie mit einer Stimme, die sich anhörte, als spräche sie durch ein Abflussrohr, »fassen wir uns alle an den Händen und konzentrieren uns auf unsere Freundin Jacky, die in diesem Augenblick in der jenseitigen Welt sehnsüchtig unseren Ruf erwartet!« Ihre wulstigen Lippen schlossen sich, und sie streckte die Hände zu beiden Seiten des Tisches aus. Das Fleisch an ihren Oberarmen wabbelte wie Pudding, und die kurzen aufgequollenen Finger standen von ihren Handflächen ab wie die Zacken eines Seesterns. Rechts neben Elvira Montgomery saß eine zierliche Frau in einem Blumenkleid, die schüchtern ihre Linke in Elviras Hand drückte. Auf der anderen Seite des Mediums starrte ein hagerer Mann mit Halbglatze stirnrunzelnd auf die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, als müsste er erst abwägen, ob es nicht gefährlich sei, sie zu ergreifen. »Schließen Sie den Kreis, Jonathan!«, forderte Elvira Montgomery ihn auf. »Nur so können wir mehr über das Schicksal Ihrer Schwägerin erfahren.« Jonathan verzog das Gesicht und gehorchte. Es war ihm anzusehen, dass er die ganze Sache für einen Riesenschwindel hielt. »Nun Sie, Mr. Barnes«, rief Elvira Montgomery dem Mann neben Jonathan zu, einem Kerl in einem karierten Hemd, das sich über breite, kräftige Schultern spannte. Dieser nickte und packte Jonathans Hand, als wollte er sie zerquetschen. Dann blickte er auf die letzte Person am Tisch, die noch ohne festen Anschluss war. Diese Person trug einen weißen Anzug, der den durchtrainierten Oberkörper betonte. Sie hatte graue Augen und blonde Haare. »Schließen Sie den Kreis, Mr. Zamorra!«, vibrierte die kehlige Stimme Elvira Montgomerys in den Ohren des Parapsychologen und Dämonenjägers, und Zamorra griff rasch nach der Hand des Blumenmädchens und nach der knochigen Linken von Mr. Barnes. »So ist es gut«, krächzte die Montgomery. »Nun können wir mit
der Séance beginnen.« Eine eigenartige Spannung lag plötzlich über dem Raum. Die runzelige 20-Watt-Birne über dem schweren Eichentisch flackerte und erlosch. Die einzige Lichtquelle war jetzt eine dicke, rote Kerze in der Mitte des Tisches, um deren Docht eine lange, rußende Flamme tanzte. Im Raum herrschte Totenstille – bis Elvira Montgomery plötzlich einen getragenen Singsang anstimmte, mit dem sie den Geist der verstorbenen Jacky Bloome beschwor. »Jacky … Jacky … kannst du uns hören …?« Der Rest des Singsangs ging in ein unverständliches Murmeln über. Zamorras Blicke huschten zwischen den Teilnehmern der Séance hin und her. Jonathan und das Blumenmädchen, das sich zuvor als Betty Jones vorgestellt hatte, verfolgten das Geschehen mit unterschiedlichem Interesse. Während Bettys Blick sich förmlich an der tanzenden Flamme festsog, machte Jonathan ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Der Meister des Übersinnlichen wusste von Betty, dass sie sich über Elvira Montgomery Kontakt zu ihrer verstorbenen Schwester erhoffte, denn der Montgomery eilte der Ruf eines exzellenten Mediums voraus. Max Barnes, der breitschultrige Mann neben Zamorra, hielt die Augen geschlossen. Er hatte sich als arbeitsloser Tischler vorgestellt und angegeben, schon des Öfteren Kontakt zu seinem toten Vater aufgenommen zu haben. Dieser habe ihm dazu geraten, in Kalifornien sein Glück zu versuchen, wo man das Handwerk eines einfachen Mannes noch zu schätzen wisse. Aber Max Barnes hatte Flugangst, und jetzt wollte er seinen Vater fragen, ob er nicht auch mit dem Zug nach San Francisco fahren könne. Während Barnes diese alberne Geschichte vortrug, hatte sich Zamorra nicht anmerken lassen, dass er den wahren Grund für seine Anwesenheit bei der Séance kannte. Und seinen wirklichen Namen. Er hieß in Wirklichkeit Samuel Davery und arbeitete mit Elvira Montgomery zusammen. Er sollte die Inszenierung nach Kräften unterstützen. Davery war ein Schwindler, der bereits mehrfach wegen Betrugs und Diebstahls straffällig geworden war.
Er war lediglich auf Bewährung draußen und stand unter Verdacht, einige Morde begangen zu haben. Zamorra ging es allerdings nicht darum zu beweisen, dass er die Montgomery dabei unterstützte, das einfältige Ehepaar Jones nach Strich und Faden auszunehmen. Um solche Trickbetrügereien sollte sich die Polizei kümmern. Der Meister des Übersinnlichen war aus einem anderen Grund nach New York gekommen. Er nahm an der Séance teil, weil vor zwei Tagen ein Brief ins Château Montagne geflattert war, durch den ihn ein unbekannter Absender auf das Medium Montgomery und die Vergangenheit des Samuel Davery aufmerksam gemacht hatte. Sie kooperierten angeblich mit Dämonen und bereiteten eine große Sache vor, was immer das auch bedeuten sollte. Es sei dringend geboten, ihre Machenschaften zu stoppen. Zamorra, von Natur aus neugierig, hatte sich nach einigem Hin und Her entschieden, dem Fall nachzugehen; die nicht geringe Menge Bargeld, die sich im Brief befunden hatte, war dabei allerdings nicht ausschlaggebend gewesen. Bestechen ließ er sich nicht, aber wenn es die Möglichkeit gab, gegen dämonische Aktivitäten vorzugehen, war er gleich bei der Sache. Außerdem war Nicole hocherfreut gewesen, mal wieder in New York shoppen zu gehen … Also hatte Professor Zamorra dem Medium eine von vorne bis hinten erfundene Geschichte aufgetischt, um an der Séance teilnehmen zu können. Er gab vor, ein Börsenmakler von der Wall Street zu sein, der ein Vermögen mit Aktienspekulationen verdient hatte. Vor vier Jahren habe er Ellen Fitzgerald geheiratet, seine große, blonde und blendend aussehende Liebe, die als Model für verschiedene Männermagazine vor der Kamera gestanden hatte. Wegen Ellen sei er auch vor fast zehn Jahren von Frankreich nach Amerika gezogen, um hier sein Glück zu versuchen – mit durchschlagendem Erfolg. Vor zwei Wochen sei seine geliebte Ellen schließlich von einem Unbekannten nachts auf dem Broadway angefahren worden und noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben, und der Börsenmakler Frederique Zamorra (er hatte es sich nicht nehmen lassen, einen falschen Vornamen anzugeben) war,
vor Entsetzen gelähmt, völlig aus der Bahn geraten. Er betrank sich sinnlos, erschien nicht mehr zur Arbeit und kannte nur noch ein Ziel: wenigstens noch ein einziges Mal mit Ellen Fitzgerald zu sprechen, um sich anständig von ihr zu verabschieden. Allerdings fragte sich der Parapsychologe und Dämonenjäger inzwischen, ob das alles die Mühe wert gewesen war. Was Elvira Montgomery hier abzog, war nichts als eine gut inszenierte Show. Nichts Übernatürliches war im Spiel, und Merlins Stern verhielt sich völlig passiv, was den Schluss doppelt nahelegte, dass keine dämonischen Aktivitäten mit hineinspielten. »Ich spüre den Hauch des Jenseitigen«, röhrte die kehlige Stimme der Montgomery. »Haltet den Körperkontakt, meine Freunde, denn bald wird der Geist von Jacky Bloome erscheinen und uns den Weg weisen, um unsere Freunde und Bekannten auf der anderen Seite des Flusses wiederzufinden …« Auf der anderen Seite des Flusses. Damit meinte sie wohl das Jenseits. Jacky Bloome, so hatte Elvira Montgomery die Teilnehmer der Séance aufgeklärt, war selbst ein unruhiger Geist, der dort umherstromerte und ab und zu als eine Art Orientierungshilfe für das Medium Montgomery diente. Diese Jacky schien drüben ziemlich weit rumgekommen zu sein. Wen immer Elvira Montgomery zu sprechen wünschte, Jacky Bloome stellte den Kontakt her. Die rußige Kerzenflamme flackerte jetzt stärker. Es wurde plötzlich kalt im Raum. Ein Zischen erklang, das vermutlich das Surren einer versteckten Klimaanlage übertönen sollte, und weißer Nebel stieg unter dem Tisch auf. Der Geruch von Trockeneis stieg Zamorra in die Nase. In Gedanken war der Meister des Übersinnlichen nahe daran, dem unbekannten Absender des Briefes, der ihn erst hierher geführt hatte, einen Fluch zu schicken. Sehnsüchtig dachte er daran, dass er in genau diesem Augenblick auch im Swimmingpool von Château Montagne sitzen und einen Cocktail schlürfen könnte, während Nicole sich nackt am Rand räkelte und die Sonnenstrahlen Frankreichs genoss.
Er spürte, wie Betty Jones' Hand in der seinen zuckte. Sie hielt die Lider geschlossen, doch ihre Augäpfel darunter wischten unruhig hin und her. Auf ihrer Miene spiegelte sich bange Erwartung. Auch Sam Davery hatte die Augen geschlossen und schien es kaum noch erwarten zu können, bis sich Jacky Bloome aus dem Jenseits meldete. Nur Jonathan starrte wütend auf die Kerzenflamme. Sein Blick irrte umher, doch Zamorra hatte die Lider so weit gesenkt, dass Jonathan seinen Blick nicht bemerkte. Der Meister des Übersinnlichen wollte sich keine Blöße geben. »Jacky.« Elvira Montgomery ließ die Unterarme kreisen, sodass die kiloschweren Fettpakete oberhalb ihrer Ellenbogen zu zittern begannen. Dabei hielt sie Bettys und Jonathans Hand weiter fest umklammert. »Jacky Bloome, hörst du uns?« Ein Bassgrollen rollte durch den Raum. Der Boden schien plötzlich zu zittern. Dann fuhr ein Windhauch über Zamorras Kopf, wischte über die Kerze hinweg und ließ die Flamme verlöschen. Dunkelheit breitete sich aus. Der Dämonenjäger hätte über dieses Spektakel am liebsten gelacht. »Jacky – erscheine!« Es leuchtete auf, als ob ein Blitz die Decke des Raumes teilte. Professor Zamorra konnte die Lichtquelle nicht erkennen, aber er sah, dass Nebel an der Stelle des Tisches emporquoll, an der eben noch die Kerze gestanden hatte. Elvira Montgomery verstand ihr Geschäft, das musste man ihr lassen. Betty Jones starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Nebel, und selbst auf Jonathans Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab. Samuel Davery lächelte scheinbar selig. »Elvira … hier bin ich …«, drang eine zarte Frauenstimme durch den Raum. Zamorra musterte die Montgomery scharf. Sie war es nicht, die gesprochen hatte. Es war auch kaum vorstellbar, dass sie mit ihrem zerkratzten Organ die Sopranstimme von Jacky Bloome imitierte. Offenbar besaß sie weitere Helfer. Einen davon hatten die SéanceTeilnehmer vorhin kennengelernt: einen hageren, gelackten Typen namens Ray Vincennes, der alle an der Tür empfangen hatte.
»Jacky!« Elvira seufzte erleichtert. »Endlich haben wir den Kontakt hergestellt. Wo befindest du dich gerade?« »Dunkel … Finsternis … Ich sehe unheimliche Gestalten …« Die angebliche Jacky Bloome heulte ein paar Mal auf. Es klang wie ein Sturmwind, der um die Türme eines Spukschlosses pfiff. »Ich sehe jemanden. Eine Frau. Es ist … Rita Jones!« Betty Jones schrie freudig erregt auf. Elviras Hand drückte fester zu. »Ruhig, mein Kind, wir dürfen den Kontakt nicht aufs Spiel setzen. Wie geht es Rita Jones, Jacky?« »Nicht gut. Sie ist einsam. Verloren. Sie vermisst ihre Schwester sehr.« Betty schluchzte hemmungslos. Alles in Zamorra sträubte sich gegen diesen Mummenschanz. Er empfand Mitleid für Betty Jones, die einem bizarren Schwindel zum Opfer fiel, aber er durfte seine Identität nicht lüften. »Bring sie zu uns, Jacky!«, gebot Elvira. »Wir wollen mit Rita Jones sprechen.« »Es geht nicht … Sie will nicht … Jetzt geht sie fort. Ich kann sie nicht halten, Elvira … Aber da ist jemand anderes, der mit euch sprechen möchte …« »Ellen Fitzgerald?«, fragte sie. Der Meister des Übersinnlichen zuckte pflichtbewusst zusammen, um Samuel Davery und Elvira davon zu überzeugen, dass er vom Auftauchen seiner toten Ehefrau ergriffen wäre. »Nein«, erwiderte Jacky. »Es ist – George Barnes!« Das war der angebliche Vater von Max Barnes. Zamorra war gespannt, was er zu sagen hatte. Vielleicht, dass sein Sohn den Hintern zusammenkneifen und endlich in das Flugzeug steigen sollte, weil das FBI in Los Angeles schon sehnsüchtig auf ihn wartete, um ihn wegen Mordes hinter Gitter zu bringen. »Jacky?«, fragte Elvira, als plötzlich Stille einkehrte. Jackys Stimme wurde noch dünner. Sie klang wie ein verwehender Hauch. »Der Kontakt … ist schwierig … droht abzureißen … Wo ist Max Barnes?« »Ich bin hier«, sagte Samuel Davery alias Barnes, und der
Parapsychologe glaubte, eine gewisse Verwirrung aus seiner Stimme herauszuhören. Offenbar verlief die Séance anders, als er es mit Elvira Montgomery abgesprochen hatte. War es am Ende doch lohnenswert gewesen, hier aufzutauchen? Waren tatsächlich höllische Mächte im Spiel? Das Amulett an der dünnen Silberkette um Zamorras Hals blieb allerdings nach wie vor inaktiv. Es hätte auf höllische Einflüsse eigentlich reagieren müssen. »Max?«, ertönte eine tiefe Stimme. Davery zögerte. »Vater?« »Du hast dich geweigert, meinen Rat anzunehmen, Max«, grollte die Bassstimme. »Du bist nicht nach San Francisco geflogen. Das war ein schwerer Fehler, Max.« Daverys Hand zuckte in derjenigen von Zamorra. Er wirkte plötzlich unsicher. Der Parapsychologe spürte, wie seine Handfläche feucht wurde. »Was meinst du damit, Vater?« Zamorra war sich plötzlich sicher, dass Montgomery das Drehbuch abgeändert hatte. Was bezweckte sie damit? »Ich sehe schreckliche Dinge auf dich zukommen, Max!«, rief der angebliche George Barnes. »Ich sehe einen Unfall … Ich würde dir gern helfen, aber alles, was dir geschieht, hast du jetzt selbst zu verantworten.« Da sprang Davery auf. Der Stuhl fiel polternd zu Boden. »Nein, das könnt ihr nicht machen – nein!« Die Anwesenden hatten die Augen aufgerissen, als ein erneuter Blitz die Finsternis in zwei Hälften teilte und Daverys schweißüberströmtes Gesicht zeigte. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann warf er sich herum und floh aus dem Zimmer. »Er hat den Kreis gebrochen!«, klagte Elvira Montgomery. »Jetzt ist der Kontakt dahin!« Sie sank in sich zusammen, und die 20-Watt-Birne über dem Tisch glomm auf. Die Kerze stand plötzlich wieder auf dem Tisch, und der Trockeneisnebel war verschwunden, abgesaugt von der versteckten Klimaanlage. Was wurde hier gespielt? War das tatsächlich noch Inszenierung,
oder war echte Magie im Spiel? Daverys Entsetzen war echt gewesen … Zamorra sah gerade noch, wie Davery aus der Tür stürzte, und sprang ebenfalls auf. »Nicht, Mr. Zamorra!«, rief Elvira Montgomery. Das Medium war dem Meister des Übersinnlichen im Augenblick herzlich egal. Es war nicht sein Job, ihren Schwindel auffliegen zu lassen. Er erreichte die Tür gerade in dem Augenblick, in dem Davery durch den Vorderausgang auf die Straße stürmte. Die Wohnung, in der Elvira Montgomery ihre Séancen abhielt, lag in einer jener heruntergekommenen Nebenstraßen der South Bronx, in denen selbst die Cops nachts ihre Streifenwagen nicht verlassen. Umgestoßene Mülltonnen säumten die Straße, deren Fahrbahn von Schlaglöchern übersät war. Aus einem verstopften Gully neben dem Hauseingang stieg Fäulnisgestank auf. Max Barnes sprang die Stiege vor dem Haus hinunter und rannte auf die Straße. »Davery!«, rief Zamorra. »Bleiben Sie stehen!« Irgendein Ereignis während der Séance hatte Samuel Davery so in Angst versetzt, dass er Hals über Kopf aus dem Haus gestürmt war. Das Auftauchen seines angeblichen Vaters? Aber das hatten Elvira Montgomery und er doch bestimmt schon hundert Mal durchgespielt, um irgendwelche abergläubischen Kunden auszunehmen. Diesmal hatte es eben Jonathan und Betty Jones getroffen, was machte das für einen Unterschied? Rechts von Zamorra dröhnte eine Autohupe. Ein rosa Chevrolet näherte sich mit überhöhter Geschwindigkeit, gerade in dem Augenblick, als Davery auf die Straße rannte. Er schien den Caddy überhaupt nicht wahrzunehmen. Ich sehe einen Unfall … »Davery!«, schrie der Dämonenjäger. Doch es war zu spät. Bremsen quietschten. Professor Zamorra sah wie in Zeitlupe, wie der Fahrer am Lenkrad des Cadillac kurbelte, doch es dauerte zu lange, bis die Mechanik die Richtungsänderung übersetzte. Der Wagen neigte sich zur Seite und erwischte Davery
mit dem linken Kotflügel. Er wurde durch die Luft geschleudert wie eine Schaufensterpuppe, flog über das Dach und prallte mit dem Schädel zuerst auf den Asphalt. Der Cadillac kam mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Der Fahrer stürzte aus dem Wagen. Zamorra rannte zu Davery, der in verkrümmter Haltung auf dem Asphalt lag. Sein Gesicht war blutüberströmt, der Kopf stand seitlich vom Hals ab. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass das Genick gebrochen war. Der Brustkorb war eingedrückt. »Das darf … das darf nicht …«, würgte eine Stimme. Der Parapsychologe drehte sich um und erblickte den Fahrer des Cadillac, der sich auf den Kofferraum seines Wagens stützte. Langsam sank er auf die Knie und übergab sich. Ich sehe einen Unfall … Daverys Leiche hatte den Mund zu einem angsterfüllten Schrei aufgerissen, und seine Augen starrten wie blutige Glasperlen in den Himmel.
New York, ein Hotelzimmer »Verflixt, Cheri – wie konnte das passieren?« Nicole Duval, Zamorras Geliebte und Kampfgefährtin, lag im Bett des gemeinsamen Hotelzimmers und machte sich nicht die Mühe, die Decke über den nackten Körper zu ziehen. »Ich bin ratlos, Nici. Niemand konnte vorausahnen, dass Samuel Davery so reagieren würde.« »Was konnte ihn so in Panik versetzen? War nun Magie im Spiel oder nicht?« »Ich bin nicht sicher. Unmittelbar bevor Davery flüchtete, meldete sich sein angeblicher Vater aus dem Jenseits. Natürlich handelte es sich um einen Trick, denn ein Mann namens George Barnes hat schließlich nie existiert. Er war eine Erfindung von Davery und der Montgomery.« Zamorra berichtete noch einmal in allen Details von
der Séance und endete mit der Warnung, die der tote George Barnes ausgestoßen hatte: Ich sehe einen Unfall … »Hört sich an wie eine Warnung«, sagte Nicole nachdenklich. »Eine versteckte Drohung an Samuel Davery. Allerdings ist das irgendwie gar nicht die Art unserer dämonischen Feinde. Wenn hier keine Magie mit reinspielt, ist das ein Fall für die Cops. Wer immer uns mit dem anonymen Brief auf den Fall aufmerksam gemacht hat, hat sich getäuscht. Er hätte sein Geld besser anlegen sollen.« »Eine Warnung?«, fragte Zamorra. »Wer sollte ihn warnen wollen? Elvira Montgomery? Die beiden arbeiteten zusammen.« »Es muss einen Zusammenhang geben, Chef. Vielleicht hat die Montgomery ja tatsächlich übersinnliche Kräfte, ohne dass du oder das Amulett etwas bemerkt haben.« Die goldenen Tüpfelchen in den Iriden zeigten Zamorra, dass sie sich voll in die Sache hineindachte – sie traten nur auf, wenn Nicole besonders erregt war. Und in diesem Moment hatte sie zweifellos das Kampfesfieber gepackt. Sie witterte eine dämonische Verschwörung … Zamorra hingegen blieb skeptisch. »Du hättest die billigen Effekte sehen sollen. Das bekommt jeder Schüler mit einem Tonbandgerät und einer Lichtorgel hin.« »Und der Nebel, der aus dem Tisch aufströmte? Das Verschwinden der Kerze?« »Trockeneis. Dazu passt auch, dass es mir für einen Augenblick verdammt kalt um die Füße wurde. Vielleicht hat Elvira auch eine versteckte Klimaanlage eingesetzt. Glaub mir, Nici, das war Hokuspokus.« »Tödlicher Hokuspokus allerdings und dazu ein allzu seltsamer Zufall, dass der Flüchtende gerade in diesem Moment überfahren wurde. Hinter der Sache steckt mehr, Cheri. Lass uns Elvira Montgomery genauer unter die Lupe nehmen. Ich fühle es in meinem linken großen Zeh, dass diese Frau Dreck am Stecken hat.« »Naja«, meinte Zamorra. »Bezahlt worden sind wir ja schon. Nicht, dass wir es nötig hätten oder dass ich auch nur die geringste Lust verspüre, mich anstellen zu lassen wie ein Privatdetektiv … aber inzwischen interessiert mich das alles auch. Vor allem will ich
wissen, wer glaubte, sich an uns wenden zu müssen. Und wenn es sein muss, nehmen wir den New Yorker Cops eben die Arbeit ab und lösen einen normalen Kriminalfall.«
Elvira Montgomerys Séancen-Zimmer »Setzen Sie sich, Mr. Zamorra.« Ray Vincennes deutete auf einen freien Stuhl. Er trug eine aufgesetzte Gelassenheit zur Schau. Zamorra musterte ihn: Ein schmales, eingefallenes Gesicht. Das Haar lichtete sich bereits und war streng nach hinten gekämmt, sodass es breite Geheimratsecken preisgab. Vincennes besaß blassgraue, leblose Augen, die starr einen imaginären Punkt im Raum fixierten. Er trug einen billigen grauen Anzug und eine schwarze Krawatte, die er vermutlich im Sonderangebot erstanden hatte. Das schwarze Einstecktuch in seiner Brusttasche sollte ihm wohl den Eindruck von Würde und Unnahbarkeit verschaffen, aber für den Meister des Übersinnlichen sah er nur aus wie ein Clown, der den Absprung verpasst hatte und sich jetzt mit kleinen Betrügereien über Wasser halten musste. »Es ist sehr nett von Ihnen und Miss Montgomery, dass Sie sich bereit erklärt haben, mir einige Fragen zu beantworten, obwohl …« »Obwohl die Cops uns schon tausend Sachen gefragt haben«, unterbrach Vincennes derb. »Ich mag Sie nicht, Zamorra, das will ich offen sagen, aber Elvira Montgomery ist von Natur aus freundlich und aufgeschlossen. Sie haben es ihr zu verdanken, dass Sie hier sein dürfen, nachdem Sie uns eine Lügengeschichte aufgetischt hatten. Sie sind also ein Dämonenjäger, so so.« In den letzten Worten lag überdeutlicher Spott. Zamorra achtete nicht darauf. Er war Anfeindungen gewohnt. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Nichts weiter.« Vincennes' Blick ging weiter geradeaus. »Dann legen Sie endlich los. Ich hab noch was anderes zu tun, als den ganzen Tag erst mit den Bullen und dann mit einem französischen Spinner zu sprechen.
Was wollen Sie wissen?« »Sie arbeiten als Hilfskraft für Elvira Montgomery.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Das ist korrekt.« »Sie helfen ihr, die Inszenierungen vor ihren Gästen vorzubereiten und durchzuführen?« »Die Inszenierungen?«, dehnte er. »Die Séancen.« Seine Wangenmuskeln arbeiteten. »Mr. Vincennes«, fuhr Zamorra fort. »Miss Montgomerys Fähigkeiten als Medium stehen für mich nicht zur Debatte. Noch nicht. Ich weiß, dass es das Übersinnliche gibt. Vielleicht weiß ich es sogar besser als Sie. Allerdings bezweifle ich, dass es bei Ihren Séancen eine Rolle spielt. Ich möchte nur wissen, weshalb Max Barnes alias Samuel Davery heute Nachmittag so überstürzt aus Miss Montgomerys Haus geflohen ist. Wie sieht Ihre Arbeit für Miss Montgomery aus?« »Ich führe ihre Bücher. Außerdem bin ich bei den Vorbereitungen zu ihren Séancen behilflich, wie Sie selbst gesehen haben. Sie vertraut mir.« Er sagte es mit einem Anflug von Stolz. »Wie sehen diese Vorbereitungen aus?« »Ich organisiere die Termine, gebe die Einladungen aus, spreche mit den Kunden … so was in der Art.« »Bereiten Sie auch die Séancen selbst vor?« »Ich verstehe nicht.« »Dann will ich es Ihnen erklären. Bereiten Sie die Effekte vor, die während der Séancen zum Tragen kommen? Das Trockeneis. Die Klimaanlage.« »Die Klimaanlage?«, echote er verständnislos. »Woher kommen die Stimmen der Toten, Ray?« »Aus dem Jenseits.« »Und Jacky Bloome ist einer dieser Geister?« »Sie war ein Medium, ähnlich wie Miss Montgomery, allerdings von bescheidenerem Talent. Sie starb vor einem Jahr. Miss Montgomery ist es gelungen, den Kontakt nach Jackys Tod
aufrechtzuerhalten.« Der Meister des Übersinnlichen seufzte. Nicht dass er es nicht für möglich hielt, aber er war nicht bereit, diese offensichtliche Farce mitzuspielen. »Schön, nehmen wir für eine Sekunde an, Sie hätten recht. Woher wusste der Geist von Jacky Bloome, dass Samuel Davery einen Unfall haben würde?« »Das ist die Macht der Vorsehung. Viele Geister können in die Zukunft sehen. Das macht den Kontakt mit ihnen so wertvoll.« »Und wenn die Drohung, die während der Séance ausgesprochen wurde, erst Daverys Fluchtreflex ausgelöst hat? Dann hätten wir es hier gewissermaßen mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun.« Zamorra wusste, dass es so etwas durchaus gab – und er traute der Montgomery ein solches raffiniertes Psychospiel zu. »Ich verstehe nicht.« »Dann will ich es Ihnen erklären. Davery glaubt tatsächlich, die Stimme des toten George Barnes zu hören. Sie prophezeit ihm, dass er bei einem Unfall sterben wird. Er wird panisch, flieht – und läuft vor ein Auto. Wie finden Sie das?« »George Barnes sprach nicht davon, dass er sterben würde. Er sagte nur: Ich sehe einen Unfall.« Damit hatte er recht, und Professor Zamorra wusste nichts mehr zu sagen.
Fünf Minuten später, derselbe Ort Elvira Montgomery ruhte auf dem Stuhl wie eine Qualle, die man aus dem Wasser gezogen hatte. Ein hässliches, eng anliegendes lilafarbenes Kleid mit langen Rüschen zeichnete jede Falte ihres gedrungenen Körpers nach. Um ihren Hals hing ein großes Ankhkreuz, das sie bei der Séance nicht getragen hatte. Sie warf Zamorra einen eisigen Blick zu. Er wusste jetzt schon, dass sie noch eine Nummer schwieriger zu knacken sein würde als Ray Vincennes – und er dachte daran, dass Vincennes gemeint hatte, sie sei von
Natur aus freundlich. Diesen Eindruck erweckte sie ganz und gar nicht. »Ein hübsches Schmuckstück haben Sie da«, sagte Zamorra und deutete auf das Kreuz. »Es ist ein Symbol des Guten«, erklärte sie salbungsvoll. »Ich nehme es nur ab, wenn ich mit den Toten in Kontakt trete, denn sie könnten sich von seiner Ausstrahlung irritiert zeigen.« Sie musterte dem Meister des Übersinnlichen mit ihren kleinen, wachen Schweinsäuglein, und ein kaum merkliches Lächeln lief um ihre spitzen Mundwinkel. Es drückte alle Verachtung aus, zu der ein Mensch nur fähig sein konnte. Zamorra war sich im Klaren darüber, in Elvira Montgomery eine neue Feindin gewonnen zu haben. Offenbar machte sie ihn dafür verantwortlich, dass die Séance in einer Katastrophe geendet war. »Sie heißen Elvira Montgomery«, begann Zamorra, »sind 52 Jahre alt, amerikanische Staatsbürgerin und leben seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr in New York.« Sie blinzelte einmal, was vermutlich Zustimmung signalisieren sollte. »Haben Sie kein schlechtes Gewissen, Miss Montgomery?« »Weshalb sollte ich? Vielleicht, weil ich so freundlich war, Sie ein zweites Mal in meinem Haus zu empfangen?« Zamorra setze alles auf eine Karte. Wenn er in den nächsten Sekunden hochkant aus dem Haus flog, sollte es eben so sein. »Weil Sie arglosen Kunden das Geld aus der Tasche ziehen. Sie sind ein Scharlatan, eine Betrügerin.« »Ihnen fehlt das Verständnis für meine Berufung, Mr. Zamorra. Das wundert mich, wo Sie doch selbst bei mir Hilfe suchten. Ach, ich vergaß«, ergänzte sie gekünstelt. »Sie taten ja nur so, als ob. Aber als …« Ein Räuspern. »… Dämonenjäger müssten Sie doch erst recht über das Übernatürliche Bescheid wissen. Wie dem auch sei, ich gebe meinen Kunden das Glück und die Sicherheit, die sie im Leben brauchen.« So konnte man es auch ausdrücken. »Sie haben mir bisher keinen überzeugenden Beweis für irgendwelche übersinnlichen Aktivitäten
geliefert, Miss Montgomery.« »Und Sie mir keinen dafür, dass ich eine Betrügerin bin.« Damit hatte sie Zamorras wunden Punkt getroffen. Er hatte mit Montgomerys Erlaubnis das gesamte Zimmer und auch die angrenzenden Räume nach versteckten Leitungen, Lautsprechern und elektronischen Anlagen durchsucht. Ohne Ergebnis. Sie schien tatsächlich über besondere Fähigkeiten zu verfügen. Zumindest konnte sie belastendes Beweismaterial wegzaubern, und diese Vorstellung war beunruhigend genug. Dennoch glaubte Zamorra nach wie vor, dass sie eine Betrügerin war. Sein Instinkt sagte es ihm – und die jahrelange Erfahrung im Umgang mit teuflischen Mächten. Diesmal war etwas anders; völlig anders. »Welche Rolle spielt Ray Vincennes bei Ihren Séancen?« »Er ist für die Organisation zuständig. Er ist mein Helfer, der sich um jene Dinge kümmert, für die mir aufgrund meiner Berufung die Zeit fehlt.« »Geht es auch etwas konkreter?« Sie nickte, diesmal zögernd. »Gut, ich will Ihnen etwas erzählen, damit Sie es mir später nicht vorhalten, wenn Sie es irgendwie herausfinden. Er hat eine kaufmännische Ausbildung absolviert, war einige Jahre arbeitslos und hat sich mit mehr oder minder zwielichtigen Jobs über Wasser gehalten. Unter anderen ist er als Stimmenimitator in einem Kabarett in Philadelphia aufgetreten.« Die Blicke ihrer Schweinsäuglein schienen Zamorra durchbohren zu wollen. Zamorra beschloss, das Thema zu wechseln. »Man könnte vermuten, dass Sie Samuel Davery in den Tod getrieben haben.« »Ich kenne keinen Samuel Davery«, behauptete sie. »Bei der Séance hat er sich als Max Barnes vorgestellt. Aber das war nicht sein richtiger Name. Er wurde vom FBI wegen Mordes gesucht.« »Davon wusste ich nichts.« »Sie haben Davery gedroht. Daraufhin ist er auf die Straße gerannt.« »Wo zufällig ein Anwalt aus Wisconsin darauf lauerte, ihn
niederzufahren. Ist es das, was Sie mir vorwerfen wollen? Wie kommen Sie überhaupt dazu, sich wie ein Cop aufzuführen? Glauben Sie mir, ich habe mit genügend Polizisten gesprochen, die mir nach dem bedauerlichen Todesfall viele, viele Fragen gestellt haben.« »Woher wissen Sie, dass der Fahrer Anwalt war?« »Ich habe meine Verbindungen.« Sie zuckte die Achseln, sodass weiche Wellen über ihre Speckarme liefen. »Übrigens wusste ich nicht, dass Max Barnes nicht sein richtiger Name war. Sie wissen ja, wie das ist. Es gibt viel zu wenig ehrliche Menschen auf der Welt. Sogar Sie tischten mir schließlich eine Lügengeschichte auf.« »Wie kommt es, dass Sie Daverys Lügen nicht durchschaut haben? Hätten Sie nicht vielleicht seine Gedanken lesen können oder so etwas?« Sie lächelte milde. »Dann hätte ich ja auch Sie durchschauen müssen.« Sie war härter als ein Findling und lag Zamorra ungefähr genauso schwer im Magen. »Wie lange kannten Sie Sam Davery?« »Er nahm vor ungefähr zwei Jahren Kontakt zu mir auf. Er war bei einigen Séancen anwesend, weil er den Kontakt zu seinem Vater nicht abbrechen lassen wollte.« »Dann leugnen Sie also, dass er für Sie gearbeitet hat?« »Er war ein Kunde wie alle anderen Teilnehmer der Séance auch. Abgesehen von Ihnen, Mr. Zamorra. Warum Sie da waren, frage ich mich immer noch. Ein Dämonenjäger … nein, so was. Sie führen sich auf wie ein Privatdetektiv.« So kam sich Professor Zamorra auch vor, und langsam gefiel er sich in dieser Rolle. »Was vielleicht daran liegt, dass Ermittlungen zu meinem Tagesgeschäft gehören. Auch ich muss Informationen sammeln und Schlussfolgerungen ziehen. Woran ist Daverys Vater gestorben?« »Lymphdrüsenkrebs.« »Eines verstehe ich nicht, Miss Montgomery. Wenn Sam Davery sich Ihnen als Max Barnes vorgestellt hat, wie konnten Sie dann seinen Vater George Barnes aus dem Jenseits anrufen?«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Wahrscheinlich hat es tatsächlich einen Max Barnes gegeben. Wenn Davery nur seine Identität angenommen hat, könnte er mich und die Geister des Jenseits leicht täuschen.« Nicole hatte ein wenig im Internet recherchiert, ehe Zamorra aufgebrochen war. Tatsächlich hatte es einen echten Tischler namens Max Barnes gegeben, dessen Vater an Lymphdrüsenkrebs gestorben war. Er war vor über einem Jahr bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, was einige Schlagzeilen in den lokalen Blättern verursacht hatte. Die Presse hatte den Fall breitgetreten. Zamorra wollte das angebliche Medium mit seinem Wissen konfrontieren. Er war auf die Reaktion der Montgomery gespannt. »Das genügt mir nicht. Dass jemand wie Sie auf den falschen Max Barnes hereinfällt, will mir ja noch einleuchten – aber der Geist seines Vaters? Immerhin müsste da drüben im Jenseits ja auch sein Sohn Max herumschweben, nachdem ihm vor fünfzehn Monaten in einem Sägewerk der rechte Arm abgetrennt wurde und er am Blutverlust starb.« Sie zuckte die Achseln und zeigte sich wenig überrascht. »Wenn Max und sein Vater George sich in unterschiedlichen Sphären der Jenseitswelt aufhalten, sind sie sich vielleicht noch nie begegnet.« Offenbar hatte sie auf alles eine passende Antwort. »Woran ist Jacky Bloome, Ihre Geistführerin, gestorben?« »An einem Herzinfarkt.« »Und seitdem arbeitet Jacky Bloome im Jenseits für Sie«, stellte Zamorra spöttisch fest. »Jacky hat ihre Fähigkeiten nach dem Tod weiterentwickelt. Sie hat Kontakte in jede Sphäre.« Es klopfte an der Tür. Ein Mann um die fünfzig trat ein. Er trug einen schwarzen Dreiteiler und eine dunkelgrüne Krawatte ohne Muster. Seine schwarzen Haare waren korrekt gescheitelt. Ein Leberfleck auf der rechten Wange war der einzige Schönheitsfehler in einem ansonsten makellos geschminkten Gesicht. Seine feingliedrigen Finger umspannten den Griff eines schwarzen Diplomatenkoffers, den er
mit schwungvoller Geste neben dem Tisch abstellte. »Sie haben Besuch, Miss Montgomery?«, fragte er. Das Medium lächelte gönnerhaft. »Darf ich vorstellen? Professor Zamorra aus Frankreich, von Beruf Dämonenjäger.« Sie wies auf den Neuankömmling. »Und dies ist Dr. Alan Thomlin. Er ist mein Anwalt.« Und dieser Funktion kam Thomlin ohne Umschweife nach. »Ich weise Sie darauf hin, dass sämtliche Aussagen Miss Montgomerys, die in meiner Abwesenheit getätigt wurden, nicht vor Gericht verwendbar sein werden.« Zamorra grinste. »Das ist nicht nötig. Ich bin kein Polizist. Ihre Anwesenheit ist überflüssig, Mr. Thomlin.« »Dr. Thomlin«, verbesserte er und setzte mit einem spöttischem Lächeln hinzu: »Und wenn Sie ein Polizist wären, würde es auch keinen Unterschied machen. Ich weiß nur, dass ein Mann von einem Chevrolet überfahren worden ist. Das ist tragisch, doch einen Straftatbestand kann ich beim besten Willen nicht erkennen.« Dann räusperte er sich vernehmlich. »Wie war das? Sie sind ein …« »Dämonenjäger«, sagte Zamorra cool. Thomlin grinste und zückte ein silbernes Etui. Er bot Zamorra eine Zigarette an. Der Meister des Übersinnlichen winkte ab. »Ich rauche nicht. Es gefährdet die Gesundheit.« Thomlin steckte das Etui wieder weg. »Natürlich. Es gibt Regeln, an die man sich halten sollte.« »Glauben Sie an die Vorsehung, Dr. Thomlin?«, fragte Zamorra. Dieser lächelte arrogant. »Der Einzige, der sich vorsehen sollte, sind Sie, wenn Sie hier weitere Fragen stellen, ohne die Befugnis dafür zu besitzen. Lassen Sie meine Mandantin in Ruhe.« »Ich glaube an die Vorsehung«, sagte der Meister des Übersinnlichen und grinste erneut. »Ganz fest sogar.«
Zamorras Hotelzimmer
Am Abend desselben Tages Zamorra lag neben Nicole im Bett des Hotelzimmers und starrte die Decke an. »Willst du die Wahrheit hören, Nici?« »Nicht unbedingt.« »Kann ich mir vorstellen. Das ist nämlich nichts als eine Menge heiße Luft. Alles spricht dafür, dass Samuel Davery tatsächlich durch einen Unfall gestorben ist. Das alles mag vielleicht interessant sein, aber es ist kein Fall für uns.« Dennoch gefiel ihm der Gedanke gar nicht, dass Elvira Montgomery bereits wieder in ihrem Haus in der South Bronx war und den nächsten Hokuspokus vorbereitete. Er dachte an Jonathan und Betty Jones. Betty blieb weiterhin davon überzeugt, über Elvira Montgomery Kontakt zu ihrer toten Schwester bekommen zu können. Der Meister des Übersinnlichen wusste, dass sie bereits einen Termin für eine weitere Séance gebucht hatte. Nicole drehte sich auf den Bauch. »Dann ist es also vorbei? Es ging darum, ob dämonische Aktivitäten im Spiel sind oder eben nicht. Dein Ergebnis lautet Nein. Dennoch gefällt es dir nicht, dass der Fall vorzeitig abgeschlossen ist. Du hättest gern mehr über die Beziehung zwischen Sam Davery und Elvira Montgomery in Erfahrung gebracht.« Professor Zamorra setzte sich auf und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Sie war kalt und erinnerte ihn an das Trockeneis unter Elvira Montgomerys Zaubertisch. »Kann denn inzwischen jeder Gedanken lesen?«, brummte er. Nicole flötete: »Das ist nicht nötig. Ich kenne dich, mein Herz, vergiss das nicht.« Sie atmete tief aus und sagte: »Was ist mit Betty und Jonathan Jones?« »Mit den beiden habe ich mich ebenfalls unterhalten.« Zamorra seufzte. »Betty Jones ist eine harmlose junge Frau, die fest an die Existenz von Geistern und Teufeln glaubt. Sie ist von Montgomerys Fähigkeiten überzeugt und hält mich für einen Störenfried, der den Geist von Jacky Bloome vergrault hat.« Nicole kicherte. »Gerade du.« Sie verdrehte die Augen. »Diese
armen Leute werden das Opfer von Scharlatanen.« Zamorra wusste genau, warum Nicole keine Ruhe gab. Sie wollte, dass sie dranblieben an diesem Fall. Und irgendwie ging es ihm genauso. »Ich habe nachgedacht. Dieser Davery nannte sich Max Barnes, lief aber immer noch mit demselben Gesicht rum. Was, wenn ihn einer seiner früheren Kumpels erkannt hätte? Ziemlich riskant, findest du nicht?« »Das muss nichts zu bedeuten haben. Viele Leute lassen ihre Namen ändern.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Der echte Max Barnes ist tot. Davery nahm seine Identität an. Außerdem wird er vom FBI wegen Mordes gesucht. Wenn du mich fragst, ist das ein Fisch, der so sehr stinkt, dass sich einem die Nasenflügel aufrollen.« »Er stinkt, weil er tot ist, Cheri«, erinnerte Nicole. Sie kraulte seine Haare. »Aber ich merke, dass ich dich erst gar nicht mehr überzeugen muss. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck bei dir, mein Bester. Du hast Blut geleckt, Dämonen hin oder her.« »Ich habe Blut geleckt«, bestätigte Zamorra.
3. Ein Speiselokal in New York, Midtown East Am nächsten Tag Robert Trush schien so etwas wie der Koloss von Rhodos unter den New Yorker Cops zu sein, und zwar im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn. An seinen Oberarmen wucherten Muskelstränge wie Efeuranken an einer deutschen Eiche. Wer das Pech hatte, zwischen seine mülleimerdeckelgroßen Hände zu geraten, bekam zweifellos das Gefühl, den Kopf in eine Schraubzwinge gesteckt zu haben. Trushs Blick war hart und doch kristallklar. Wer diesen Mann jedoch allein auf seine Körperkraft reduzierte, machte einen verhängnisvollen Fehler. Trushs Kopf war die eigentliche Waffe, die ihm das Überleben in einer Stadt wie dem Big Apple garantierte. New York war ein Schmelztiegel, und Leute wie Robert Trush sorgten dafür, dass er nicht überkochte. So hatte er sich wenigstens mit geradezu einschüchterndem Selbstbewusstsein vorgestellt. Professor Zamorra saß ihm gegenüber in einem chinesischen Lokal im Stadtteil Midtown East und sah zu, wie Trush die letzten Reste des T-Bone-Steaks vernichtete, das der Kellner gerade erst serviert hatte. Während er sein halbes Rumpsteak mit einer Sorgfalt auseinandernahm, die den Archäologen bei der Ausgrabung von Tutenchamun zur Ehre gereicht hätte, erinnerte ihn Trush an einen Industriestaubsauger, der alles verschlang, was ihm in die Quere kam. Der Meister des Übersinnlichen wunderte sich, dass sein Gegenüber nicht auch noch die Knochen zermalmte. Nachdem Trush den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, spülte er mit einem Schluck Budweiser nach und lehnte sich zufrieden zurück. »Sehr großzügig von Ihnen, mich einzuladen, das
muss ich schon sagen.« »Es gibt jemanden, der die Spesenrechnung übernimmt«, sagte Zamorra und dachte an den anonymen Briefeschreiber und das dicke Geldscheinbündel, das sich in dem Umschlag befunden hatte. Dieses Treffen mit dem Cop Robert Trush schien es wert zu sein, das Bündel ein wenig zu dezimieren. Trush seufzte. »Die meisten Leute haben keine Ahnung, worauf man als Staatsangestellter alles verzichten muss.« Er prostete dem Meister des Übersinnlichen zu, trank, stellte das Glas ab und winkte den Kellner herbei. Zamorra befürchtete schon, er würde einen dritten Teller ordern. »Noch ein Bud, bevor ich endgültig zu Staub zerfalle, Kumpel.« »Es hat mich überrascht, dass Sie mit mir sprechen wollten«, kam Zamorra zur Sache. Trush nickte. »Dachte ich mir, dachte ich mir.« Er blickte dem Kellner hinterher, als ginge es dann schneller. »Die Sache ist die, dass ich im Zuge meiner Ermittlungen im Todesfall Max Barnes alias Sam Davery nicht umhinkam, festzustellen, dass ein französischer Parapsychologe wie die Faust aufs Auge zu dieser komischen Séance passte.« Er grinste breit. »Allerdings wunderte ich mich, als ich ein bisschen recherchierte und herausfand, dass Sie, mein lieber Professor, nicht nur Parapsychologe, sondern auch Dämonenjäger sind, der Vampire, Werwölfe und sonstiges Geschmeiß geradezu reihenweise abserviert.« »Und das wundert Sie nicht? Sie nehmen das einfach so hin?« »Ich habe meine Gründe«, antwortete Robert Trush orakelhaft. »Und Sie können sich die Mühe sparen, nachzufragen, ich offenbare diese Gründe nicht. Aber ab sofort brauchen Sie sich nicht mehr allein mit diesem Fall herumzuschlagen, sondern haben mich als Partner.« Professor Zamorra legte die Stirn in Falten. »Das New York Police Department will mich als Partner?« »Ich will Sie als Partner. Offiziell sind und bleiben Sie ein Niemand, Professor. Okay?« Er streckte ihm seine massige Hand entgegen.
Zamorra dachte nicht lange nach und schlug ein. »Okay.« Eine solche Partnerschaft war zwar ungewöhnlich, konnte aber durchaus nützlich sein. Und fürs Erste wollte er sich damit zufriedengeben, dass Trushs Motivation im Dunkeln blieb. Irgendwann gewöhnte man sich daran, mit Geheimniskrämern zusammenzuarbeiten. Der Zauberer Merlin war nur ein Beispiel dafür. Aber früher oder später würde Zamorra das Geheimnis des Cops Robert Trush lösen. Momentan war er nur froh, einen kompetenten Partner zu bekommen, der durch die offiziellen Polizeikanäle sicher an weitreichende Informationen gelangen konnte, die Zamorra sonst nie erhalten hätte. »Was wissen Sie?«, fragte Trush. »Der Name des Toten lautet Sam Davery, aber hier in der Stadt hat er sich als Max Barnes ausgegeben.« Trush zuckte die Achseln. »Weiter.« »Davery hatte Kontakt zu einem geschäftstüchtigen Medium namens Elvira Montgomery.« Da er annahm, dass Trush ohnehin wusste, dass Zamorra über weitere Informationen verfügte, beschloss er, wenigstens selbst nicht allzu geheimniskrämerisch zu sein. »Außerdem wurde er wegen Mordes gesucht.« Der massige Cop schnalzte mit der Zunge. »Volltreffer.« Danach widmete er sich dem neuen Budweiser, das der Kellner eben vor ihm abstellte. »Geisterbeschwörungen. Zauberei. Hokuspokus«, murmelte er zwischen zwei riesigen Schlucken. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Ist doch Blödsinn.« Diese Äußerung passte nicht gerade dazu, dass sich Trush noch vor Sekunden sehr aufgeschlossen für Zamorras Dämonenjägerei gezeigt hatte. Welches Geheimnis hütete dieser Mann? »Diese Montgomery ist groß im Geschäft. Sie glauben gar nicht, wie viele Leute man mit der Aussicht locken kann, noch einmal ihre toten Eltern an den Hörer zu bekommen. Elvira Montgomery ist nicht ganz sauber, so viel steht fest. Aber wir müssen herausfinden, ob Davery alias Barnes an der Sache beteiligt war.« Trush stellte das Glas geräuschvoll ab. »Wir haben also einen Autounfall, der wenige Minuten zuvor von einem Geistwesen aus dem Jenseits angekündigt
wurde? Was halten Sie als … Parapsychologe davon?« Zamorra spielte gedankenverloren mit Merlins Stern, seinem Amulett, das seit seiner Ankunft in New York keinerlei Aktivität gezeigt hatte. »Von einem Autounfall hat dieser Bloome-Geist nichts gesagt.« »Stimmt, er sprach nur von einem Unfall, das sagten auch die anderen Zeugen. Trotzdem stinkt die Sache gewaltig.« »Sie meinen, Montgomery wollte diesen Sam Davery loswerden?« Zamorras Gedanken waren natürlich auch schon in diese Richtung gegangen. »Vielleicht hat er sie erpresst. Vielleicht wollte er sie auffliegen lassen, ihre Tricks publik machen.« Der Meister des Übersinnlichen lehnte sich zurück. »Vielleicht ist Kennedy in einem Schlauchboot auf dem Pazifik gekentert. Vermutungen bringen uns nicht weiter.« »Wir sind uns also einig«, sagte Robert Trush und leerte das Bierglas mit einem letzten, gewaltigen Zug. »Ich melde mich, sowie die polizeilichen Ermittlungen etwas Neues ergeben. Ich spüre es in meinem arthritischen Knie, dass Sie noch wertvoll für mich werden, Professor.« Zamorra sah seinen neuen Partner lange an. Die Entwicklung gefiel ihm, denn es konnte nie schaden, auf die Möglichkeiten des Polizeiapparats zurückgreifen zu können – aber es war allzu ungewöhnlich. Etwas war faul. Sie verabschiedeten sich, und Zamorra machte sich zu Fuß auf den Weg ins nur wenige Blocks entfernte Hotel. Er wollte die Zeit nutzen, um noch einmal über alles nachzudenken. Der Gedanke an Elvira Montgomery und Sam Davery wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Irgendetwas hatte den Parapsychologen an dem selbst ernannten Medium von der ersten Minute an irritiert. Ein winziges Detail, das nicht zu ihrem übrigen Erscheinungsbild passte; aber ihm wollte einfach nicht einfallen, was es war. Er erreichte das Hotel, erwiderte den überaus höflichen Gruß des Portiers und drückte den Rufknopf für den Aufzug.
»Monsieur Zamorra!«, rief der Portier, ein dürrer Kerl mit beginnender Glatze. »Da ist ein Brief für Sie angekommen!« Der Meister des Übersinnlichen fragte sich, wer ihm hierher schreiben könnte, kehrte um und nahm einen braunen Umschlag in Empfang. Er wies keinen Absender auf. »Danke«, murmelte Zamorra und hastete zu dem Aufzug, dessen Türen sich in diesem Moment öffneten. Er stieg in den Lift und drückte den Knopf für die achte Etage. Während er nach oben fuhr, betrachtete er den Umschlag. Er war in einem Postamt in Downtown abgestempelt und fleckig, als hätte er stundenlang im Regen gelegen. Die Anschrift, die in Großbuchstaben auf der Vorderseite stand, war verschmiert. Er erkannte die Handschrift sofort. Sie stammte von demselben, der auch den Brief ins Château Montagne geschickt und diesen Fall überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte … Der Meister des Übersinnlichen war gespannt, was er zu lesen bekommen würde. Da der Aufzug stoppte, stieg er aus und wollte erst einmal in das Zimmer gehen. Zu seiner Freude war Nicole ebenfalls anwesend; auf dem geräumigen Schreibtisch stapelten sich neben dem Fernseher Einkaufstüten, die den Aufdruck von einigen Nobelgeschäften aufwiesen. Zamorra wollte gar nicht erst an die Summen denken, die von seinen Kreditkarten abgebucht werden würden. Die Begrüßung fiel stürmisch aus. Nicole war bester Laune, und einige Sekunden vergaß Zamorra sogar den Umschlag. Dennoch war er nicht recht bei der Sache, als Nicole etwas fordernder wurde. Sie merkte es gleich und stellte ihn zur Rede. Er berichtet in aller Kürze von seinem Treffen mit Robert Trush und dem seltsamen Angebot, das ihn zum geheimen Partner eines Cops des NYPD machte, dem New York Police Department. »Außerdem geht mir etwas anderes nicht aus dem Kopf. Die Montgomery hat ein paar Aussagen gemacht, die mir übel aufgestoßen sind. Ich bin mir sicher, dass sie lügt.« »Das gehört zu ihrem Beruf, du alter Brummbär«, meinte Nicole. »Und gerade das macht mich misstrauisch. Wenn jemand so
gewieft ist und sich trotzdem in Widersprüche verwickelt, dann nur, weil sie ihre Aussage mit heißer Nadel stricken musste.« Zamorra starrte aus dem Fenster. Er dachte an den Anwalt aus Wisconsin, der den Chevy gefahren hatte. Zwischen ihm und der Montgomery bestand keine offensichtliche Verbindung. Alles deutete darauf hin, dass Davery tatsächlich einem Unfall zum Opfer gefallen war. Im falschen Augenblick auf die Straße gelaufen. So was passiert. Plötzlich erinnerte er sich an den Briefumschlag, den er achtlos zur Seite gelegt hatte, als Nicole ihm um den Hals gefallen war. Er riss die Lasche auf und zog ein weißes Blatt Papier im normalen Letterformat heraus, das zwei Mal gefaltet war. Er faltete es auseinander. Es standen nur zwei Sätze darauf. Hallo Professor, denkst Du unablässig an Samuel Davery? Ich auch.
In den Hudson Piers von New York New York ist nicht nur ein Schmelztiegel der Nationen, ein Ziel, das während der vergangenen Jahrhunderte Millionen Menschen, mit Hoffnungen und Sehnsüchten befrachtet, den beschwerlichen Weg in die Neue Welt auf sich nehmen ließ. New York ist nicht nur ein Geflecht aus Häusern, Straßen und Flüssen, die, wie tausend Facetten zusammengesetzt, das Auge der Welt ergeben. New York ist vor allem Veränderung. Es gibt kaum einen Punkt in Manhattan, der sich im Laufe der letzten dreißig Jahre nicht grundlegend gewandelt hätte. Manchmal scheint es, als atme und pulsiere die Stadt wie ein lebendiges Wesen, das sich in bestimmten Abständen einer notwendigen Häutung unterzieht. Einer der Punkte, die exemplarisch für diese Veränderung stehen, sind die Grünanlagen an den Ufern des Hudson River. Nicht einmal fünfzig Jahre ist es her, dass an den Hudson Piers die großen Passagierdampfer aus Europa anlegten. Wenig später aber
überquerte der erste Düsenflieger im interkontinentalen Linienflug den Atlantik und verurteilte die alten Schifffahrtsgesellschaften, den Hudson Pier und die Passagierdampfer selbst zum Tode. Die Zeiten ändern sich eben, davon hätte auch Garry Baldwin ein Lied singen können. Er saß auf einer Bank am Westufer von Manhattan, in Höhe der 30. Straße, genau an der Stelle, an der vor vierzig Jahren die Passagiere aus dem Bauch der Rotterdam an Land geströmt waren. Die Piers waren verschwunden und hatten einer kilometerlangen Grünanlage Platz gemacht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hudson schimmerten die Lichter von New Jersey. »Träumst du auch manchmal von der Vergangenheit, Tom?«, murmelte Garry und stieß seinen Nachbarn an, der, in einen Schlafsack gehüllt, leise Schnarchlaute von sich gab. Ein Grunzen war die Antwort, dann schnarchte Tom weiter. »Ich träume oft davon«, sagte Garry und nahm einen Schluck aus der Pulle billigen Fusels, den er sich zwei Straßen weiter bei einem 7-Eleven gekauft hatte. »Ich hatte 'nen verdammt guten Job gemacht an den Piers, aber irgendwann war eben Schluss, und wer wollte schon ein altes Schwein wie mich übernehmen?« Er zupfte am Schlafsack. »Tom? Tom, schläfst du schon?« »Ja, verdammt.« »Ich kann's hören, wie du schnarchst. Du solltest lieber wach bleiben und den Blick auf den Hudson genießen. Das Wasser ist meine Heimat, weißt du? Ich war nie gern an Land. Aber was soll man machen, wenn sie einen einfach vor die Tür setzen, Alter. Weißt du, warum das Wasser mein Freund ist, Tom? Weißt du's?« Tom stöhnte. »Warum, Garry?« »Weil's sich noch schneller verändert als die Menschen. Die Menschen denken immer, sie sind die Besten. Aber das Wasser ist noch viel besser. Du wirfst 'n Stein rein, und es macht ihm Platz. Über dem Stein schließt es sich wieder, und alles ist wie früher.« Er nahm einen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Mit einem gluckenden Geräusch verschwand er unter der Oberfläche. »Hörst du? Hörst du, wie's plätschert, Tom?«
Tom ließ ein Knurren hören. »Ich würd's verdammt noch mal nich' hören, wenn du mich endlich schlafen lassen würdest, Mann!« Garry nahm einen weiteren Schluck. »Weißt du, was die Wetterfrösche sagen, Tom. Irgendwann schmilzt das ganze Eis am Pol, sagen sie, und dann heißt es Auf Wiedersehen, Manhattan. Das weiß jeder, der nur mal die Augen aufsperrt. Der Stein verschwindet, als ob er nie da gewesen wäre.« »Du bist 'n echter Poet, Garry, weißt du das?« Garry wiegte den Kopf. »Ich finde den Gedanken, dass nichts zurückbleibt, tröstlich.« Er blickte nachdenklich in den nachtschwarzen Himmel. Irgendwo hinter ihnen brandete das Rauschen des Autoverkehrs wie das Geräusch sich brechender Wellen. Der Schlafsack raschelte. Tom richtete sich auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Hudson. »Ich glaub, du täuschst dich, Garry.« »Was meinst du?« »Du hast doch gesagt, der Stein verschwindet.« »Er ist einfach weg. Für immer.« »Und was ist dann das Schwarze da, Mann?« Garry blinzelte. Tom deutete mit der Linken auf das Wasser. »Da – genau dort, wo du den Stein reingeworfen hast. Da ist doch was Schwarzes.« Er runzelte die Stirn. »Das is' kein Stein, Mann. Is' viel zu groß dafür.« Garry erhob sich schwerfällig und trottete auf das Ufer zu. »Eben war's jedenfalls noch nicht da«, rief Tom ihm nach. »Du hast es hochgetrieben.« Garry hatte das Ufer fast erreicht. Das schwarze Etwas im Wasser war größer geworden, es sah jetzt aus wie eine Tonne oder ein Stück Holz, das jemand ins Wasser geworfen hatte. Ein verdammt großes Stück Holz, fast so groß wie eine Tür. Und drum herum schwammen Stofffetzen. »Tom?« »Ja, Garry.« »Das ist kein Stein.«
»Hab ich doch gesagt, Garry. Is' viel zu groß dafür. Ich will jetzt schlafen.« »Tom, guck doch mal, das Ding hat Kleider an. Und Arme und einen Kopf hat es auch.« Garry nahm einen Stock und stocherte an dem schwarzen Ding herum, bis es sich auf die Seite drehte. Garry keuchte auf. Das, was er als Kopf bezeichnet hatte, war nur noch ein glatter, haarloser Schädel, der bis auf den Knochen abgefressen war. Die Kiefer der Leiche waren wie zu einem qualvollen Schrei aufgerissen.
Zamorras Hotelzimmer Eine halbe Ewigkeit war es her, dass sich Zamorra an den Tisch gesetzt hatte, vor sich das weiße Blatt Papier, auf dem der Unbekannte die kurze Nachricht »Hallo Professor, denkst du unablässig an Samuel Davery? Ich auch« gekritzelt hatte. Er war immer noch keinen Schritt weiter, was den Urheber der Botschaft anging. Nur eins stand fest: Es war derselbe anonyme Absender wie zuvor. Der Unbekannte kannte ihn – und er wusste um seine Profession als Dämonenjäger. Das traf auf Tausende Leute zu, auch auf eine Menge Menschen, die er während dieses Falles kennengelernt hatte. Vielleicht war der Unbekannte ja einer der Teilnehmer der Séance? Etwa Betty oder Jonathan Jones, Elvira Montgomery oder ihr Helfer Ray Vincennes, wobei er sich gerade Letzteres nicht vorstellen konnte – aber alles war so verzwickt, dass Zamorra nichts ausschließen wollte. Vielleicht waren die, die er unwillkürlich für Übeltäter hielt, selbst nur Opfer. Trotzdem störte ihn die Anrede in dem Brief. Du kennst mich nicht, Kumpel, aber ich kenne dich, schien der Brief sagen zu wollen. Der Meister des Übersinnlichen fühlte sich auf einmal beobachtet. Es kribbelte in seinem Nacken, doch als er sich umdrehte, war dort nichts als das Fenster des Hotelzimmers und dahinter das
märchenhaft glitzernde Panorama einer niemals schlafenden Stadt. Nicole hatte sich mit den Worten »Grübeln kann ich auch dort« ins Badezimmer zurückgezogen, um ein ausgiebiges Vollbad in der herrlich breiten Wanne zu nehmen. Zamorra schaltete den Fernseher ein, zappte lustlos herum und schaltete ihn schließlich wieder aus. Es war kurz vor Mitternacht. Er überlegte, sich beim Zimmerservice noch einen Whiskey zu ordern, und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er sollte besser schlafen gehen. Morgen würde ein schwerer Tag werden. Er wollte gerade nach Nicole sehen, als das Telefon klingelte. »Zamorra«, rief eine vergnügte Stimme, eingebettet in Musik und Gelächter, »ich hoffe, ich habe Sie nicht aus dem Schlaf gerissen.« »Robert Trush«, stellte er elektrisiert fest. Das Kribbeln war wieder da, als er die Stimme seines geheimnisvollen Partners beim NYPD hörte. »Was gibt's?« »Ich bin im Nite Fever. Das ist so 'ne heruntergekommene Kaschemme in Brooklyn, in die kein anständiger Bürger seinen Fuß setzen würde. Eine üble Baracke am Ostufer des East River, in der sich Gestalten herumtreiben, die selbst bei den Schmugglerbanden vor Long Island keinen Job mehr bekommen.« Trush schien bester Laune zu sein. Seine Stimme klang entspannt und fröhlich. »Ich hab hier einen Kerl namens Terry Norton aufgetrieben, der behauptet, Max Barnes zu kennen.« »Hat er auch gesagt, woher?« »Im Augenblick fällt ihm das Sprechen ein wenig schwer.« »Wie meinen Sie das?« »Können Sie herkommen?«, fragte er statt einer Antwort.
Vor dem Nite Fever in Brooklyn Im Klub war mächtig Betrieb. An der Bar tummelten sich ein paar breitschultrige Kerle, unter denen selbst Robert Trush auf den ersten Blick kaum hervorstach. Die meisten trugen hautenge T-Shirts, von
denen der Schweiß tropfte und die den Blick auf imposante Muskelberge freigaben. Aus zwei rostigen, von Tabakqualm umwölkten Bose-Boxen an der Decke seufzte Shakira, doch ihre rauchige Stimme wurde fast vollständig vom Gelächter und Gebrüll, das an den Tischen aufbrandete, geschluckt. Professor Zamorra bahnte sich einen Weg zu Robert Trush, der zwei Hocker weiter einen Platz für ihn freigehalten hatte. Zwischen ihnen saß ein Kerl in einem geschmacklosen Hawaiihemd mit einem breiten Gesicht und einer noch viel breiteren Hüfte, um die ein schwerer Speckring wogte. Er hatte das Haar zu einer lächerlichen Elvistolle hochgegelt, besaß ein fliehendes Kinn, eine fliehende Stirn und sah auch ansonsten wenig vertrauenerweckend aus. Um sein linkes Auge herum blühte gerade ein Veilchen auf, und er wirkte blass und geradezu blutleer, sodass Zamorra unwillkürlich an ein Vampiropfer denken musste. Doch die Zähne, die seine angeschwollene Oberlippe präsentierte, waren alles andere als spitze Blutsaugerhauer. »Guten Abend, Professor«, sagte Trush. »Darf ich vorstellen – Terry Norton. Terry, das ist Professor Zamorra. Er trat neulich als Frederique auf, aber einen echten Vornamen hat er offenbar nicht.« »Hab ich schon«, meinte Zamorra und besah sich noch mal das geschundene Gesicht Terry Nortons. Das also hatte Trush gemeint, als er sagte, das Sprechen fiele diesem Kerl momentan schwer. Ob Trush ihn höchstpersönlich in die Mangel genommen hatte? Seine Dreschflegel-Hände legten diese Vermutung nahe … doch für einen Cop wäre das ein äußerst seltsames Verhalten. Zamorra wollte gar nicht erst lange darüber nachdenken und machte gute Miene zum bösen Spiel. Vor Terry Norton und Robert Trush stand jeweils ein doppelter Scotch mit Eis. Als der Wirt auftauchte, bestellte er für sich dasselbe. Trush deutete dem Wirt hinterher, als dieser den Scotch holen ging; es war ein langer, hagerer Typ mit verschlagenem Gesicht und einem viel zu kleinen, haarlosen Schädel, der aussah wie eine Billardkugel, die man auf eine Zeltstange gesteckt hatte. »Er ist der Inhaber des Nite Fever und verbirgt eine geladene Schrotflinte vom
Typ Remington 81 unter seiner Ladentheke. Er hat sie noch nie benutzt, weil er das Talent besitzt, selbst geistig weniger gesegnete Streithähne – von denen es hier mehr als genug gibt – mit salomonischer Weisheit zu trennen. Sonst wäre hier täglich die Hölle los.« Zamorra warf Trush einen skeptischen Blick zu. »Was ist mit Terry Nortons Gesicht passiert?« Der Cop zuckte die Achseln. »Terry hatte keine Lust, sich mit mir zu unterhalten, und wollte mir stattdessen eine Kugel in den Schädel jagen.« »Das ist verdammt noch mal nich' wahr!«, nuschelte Terry und rutschte auf seinem Sitz hin und her. Zum ersten Mal sah der Meister des Übersinnlichen Nortons Hände – auch sie wirkten blass, als habe er eine Menge Blut lassen müssen. Es überlief ihn kalt … hatte er es tatsächlich mit einem Vampiropfer zu tun? War seine erste Assoziation richtig gewesen? Doch wie zurzeit immer verhielt sich Merlins Stern völlig passiv, als handelte es sich bei Terry Norton um einen Menschen und keine vampirische Kreatur. Vielleicht war er nur angefallen worden, ohne dass der Vampirkeim übertragen worden war? Und vielleicht suche ich mit aller Kraft nach irgendwelchen dämonischen Verstrickungen, um vor mir selbst zu rechtfertigen, dass ich immer noch hier bin und nicht wieder die französische Heimatsonne genieße. Also hör auf, dich verrückt zu machen, Monsieur le Professeure. »Ich hab Sie nich' bedroht«, behauptete Terry Norton erneut. »Ach ja«, knurrte Trush und legte eine kleinkalibrige Smith & Wesson auf den Tisch, sodass der Lauf direkt auf Nortons Brust zeigte. »Und was ist das hier? Vielleicht ein Gasfeuerzeug?« »Lassen Sie es gut sein, Mr. Trush.« Zamorra hatte Mitleid mit Norton. Einen Kerl wie Robert Trush mit einer Knarre zu bedrohen, war wirklich keine gute Idee. »Wie lautet Ihr richtiger Name, Terry? Terrance?« Er tastete über seine geschwollene Oberlippe und grinste. »So hat mich außer meiner Mutter nie einer genannt.« »Sind Sie öfter im Nite Fever, Terry?«
»'n paar Mal in der Woche. Ich hab zurzeit keinen Job, wissen Sie? Die Zeiten sind hart, und Leute wie ich werden nicht mehr gebraucht.« »Leute wie Sie?« »Ehrliche Arbeiter«, erwiderte Terry. Trush prustete in sein Glas. »Sie sind die Ehrlichkeit in Person, Terry. Zwei Anklagen wegen Drogenbesitzes, ein Jahr gesessen wegen fünf geladener Revolver und einer MP5, die Sie unangemeldet im Kofferraum durch die Gegend kutschierten.« Terry wand sich unruhig. »Ich hab mich bedroht gefühlt.« »Muss ja eine ganze Gangsterhorde gewesen sein, die es auf Sie abgesehen hat«, meinte Zamorra. »Wahrscheinlich hat eine Stimme aus seinem Kühlschrank zu ihm gesprochen«, sagte Trush trocken. »Das würde zu diesem Fall prima passen.« Terry schaute sich nervös um. »Kein Kühlschrank, Mann! Da … da war 'n Typ. Mit 'ner Knarre. Er wollte mich alle machen, und um mich zu schützen, hab ich 'ne Waffe besorgt.« »Ein Typ mit 'ner Knarre, wow«, sagte Zamorra. »Mr. Trush, welche Feuergeschwindigkeit hat eine MP5 noch gleich?« »Weiß nicht genau, 'n paar hundert Schuss die Minute werden es aber sein. Wen wollten Sie damit umlegen, Terry? The incredible Hulk?« Terrys Hände krampften sich um das Glas. Trush sagte beruhigend: »Ich bin nicht hinter Ihnen her, Terry. Beantworten Sie einfach meine Fragen, und ich bin schneller wieder weg, als Ihnen der Schweiß ausbrechen kann.« Er lehnte sich zurück. »Also?« Terry holte tief Luft. »Ich hab mitgeholfen, 'n Ding zu drehen. Nur 'ne kleine Sache. Aber plötzlich gab's 'ne Leiche, wissen Sie? Keiner wollte Zeugen, und deshalb haben sie versucht, auch mich umzulegen. Ich musste Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.« »Was war das für ein Ding, Terry?« Er schwieg. »Okay, was waren das für Typen?«
Der blutarme Terry breitete die Handflächen aus. »Keine Ahnung, Mann. Die haben keine Namen genannt. Nicht mal falsche. Wir sollten einen Schnapsladen hochnehmen. Vielleicht ging's um Schutzgeld. Ziemlich seltsame Aktion, wenn Sie mich fragen. Aber dann ist alles aus dem Ruder geraten. Ein Kunde, der zufällig im Laden war, wurde erschossen. Danach wurde die Aktion abgebrochen.« »Haben Sie den Mann getötet?«, fragte Trush. »Nein, Mann. Ich war's nicht. Ich schwör's bei allem, was mir heilig ist!« Trush schüttelte den Kopf. »Terry, wenn Sie schwören, dass es im Amazonas keine Piranhas gibt, würde ich mir sofort die Klamotten vom Leib reißen und reinspringen.« »Danke, Mr. Trush.« Zamorra, der in den letzten Minuten nur beobachtet hatte, mischte sich wieder ins das Gespräch ein. »Erzählen Sie mir was über Max Barnes.« »Er war 'n brutaler Kerl, 'n Schläger. Ist … ist 'n paar Mal hier aufgetaucht, aber er hat nie gesagt, womit er sein Geld verdiente.« »Hatte er Freunde?« »Nicht … nicht, dass ich wüsste. Er war 'n Einzelgänger. W-wer ihm dumm kam, der bekam auf die Fresse. Aber er hatte 'ne Braut, die war Spitzenklasse, kann ich Ihnen sagen. Blasses Gesicht, dunkle Augen und lange schwarze Haare. So was gibt's hier im Fever nur selten.« »Hat diese Braut auch einen Namen?« Er zuckte die Achseln. »Wir … Ich meine, ich nannte sie immer Angie. Wegen der Sängerin. Na, Sie wissen schon. Angie Morisette.« Trush und Zamorra blickten sich an. »Alanis Morisette«, sagte Trush schließlich. Terry Norton zog die Stirn in Falten, als versuche er zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte. »Diese Frau sah also aus wie Alanis Morisette, Terry«, knüpfte Zamorra an. Er nickte.
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal hier gesehen?« »Ich weiß nicht, vor 'nem Jahr ungefähr.« »Beide?« »Barnes kam … er kam … kam noch öfter. War vor ein oder zwei Wochen zuletzt hier.« Wahrscheinlich hatte er längst eine neue Freundin gehabt, die sich geweigert hatte, einen Fuß in eine Spelunke wie das Nite Fever zu setzen. Trotzdem würde es sich vielleicht lohnen herauszufinden, wer die namenlose schwarzhaarige Schönheit war, die Terry auf den Namen Angie getauft hatte. Eine weitere Frucht der Kooperation zwischen Zamorra und Trush – dem Cop würde es hoffentlich ein Leichtes sein, deren Identität ausfindig zu machen. Er konnte auf ganz andere Hilfsmittel zurückgreifen als Zamorra. »Wer ist wir, Terry?«, bohrte der Meister des Übersinnlichen weiter. Er blickte ihn verständnislos an. »Sie sagten eben: ›Wir nannten sie immer Angie.‹ Also, wer ist wir, Terry?« »Hm, keine Ahnung, da muss ich mich wohl versprochen haben.« Robert Trush begann beiläufig mit dem Revolver zu spielen. Zamorra warf ihm einen Blick zu, und er zog die Hand zurück. Aber Terry Norton war die Geste nicht entgangen. »Hören Sie mal gut zu, Terry«, sagte Trush sanft. »Bis jetzt bin ich sehr zufrieden mit unserer Unterhaltung. Aber das kann sich schnell ändern. Die Leute, vor denen Sie sich fürchten, haben vielleicht Ihre Spur verloren. Aber sie könnten sie ja wiederfinden, Terry, und dann sind Sie wahrscheinlich froh, wenn jemand bei den Bullen etwas für Sie tun kann, nicht wahr?« »Sie würden mich schützen, Mr. Trush?« »Kommt drauf an, was Sie mir anbieten, Terry.« Er schluckte. Die Finger umkrampften das Glas jetzt fester. »Sein Name ist Parker Jackson. Er war mein Kumpel. Wir haben beide bei dieser … Sache im Schnapsladen mitgemischt, wissen Sie. Jackson wurde danach der Boden zu heiß. Er hat New York verlassen.« »Wo wohnt er jetzt?« »Ich hab keine Ahnung. Ehrlich, ich schwör's! Er hat sich einfach
nicht mehr gemeldet. Hat mich im Stich gelassen, das Schwein, obwohl ich dachte, er wär mein Freund.« Trush zog zwei Visitenkarten aus der Tasche. Die eine steckte er Norton in die Brusttasche seiner Jacke, die zweite legte er verkehrt herum vor ihm hin und drückte ihm einen Kugelschreiber in die Hand. »Schreiben Sie mir die Nummer auf, unter der wir Sie erreichen können.« Er sah ihn gequält an. »Meine Adresse steht doch bei euch im Computer, Mann …« »Ich will die Nummer, unter der wir Sie wirklich erreichen können, Terry. Ich meine, jederzeit.« Terry schloss die Augen, öffnete sie wieder und ergriff den Kugelschreiber. Seine Finger zitterten, während er eine Handynummer auf die Karte kritzelte. »Danke, Terry.« Trush steckte die Karte ein und warf einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen. »Was ist mit Ihrem Auge? Sollen wir Sie zu einem Arzt fahren?« »Geht schon, Mann.« Terry wischte sich über den Mund. Zamorra schob sich vom Hocker, und der Cop folgte ihm. »Was halten Sie von ihm?«, fragte Trush, sobald die beiden außer Hörweite waren. Der Meister des Übersinnlichen wartete mit der Antwort, bis sie draußen waren, wo ihnen klare, kalte Nachtluft entgegenschlug. Bevor die Tür ins Schloss krachte, warf er einen schnellen Blick zurück zur Theke. Der Platz, an dem Terry Norton gesessen hatte, war leer. Er hatte nichts anderes erwartet. »Ich schätze, er hat die Wahrheit erzählt.« »Jedenfalls das, was er für die Wahrheit hält«, murmelte Trush. Zamorra stellte sich eine ganz andere Frage. Die Frage, ob eine derart geschwollene Oberlippe nach einem Faustschlag mit Mülleimerdeckelhänden wie die von Robert Trush nicht hätte bluten müssen. Doch da war kein einziger Tropfen gewesen, und auch kein Anzeichen dafür, dass Terry vorher geblutet hatte. »Es sieht aus, als hätten wir da ein ziemlich großes Puzzle vor uns«, sagte Trush. »Ein toter Schwerverbrecher, der unter falschem
Namen in New York lebte, eine undurchsichtige Hellseherin und die Aussage eines kleinen Gauners, der Davery alias Barnes öfter im Nite Fever gesehen hat. Wo sehen Sie die Verbindung, Zamorra?« »Ich bin davon überzeugt, dass Terry Norton Davery besser kannte, als er zugeben wollte. Auf meine Intuition kann ich mich in solchen Fällen verlassen. Außerdem kam Norton jedes Mal ins Stottern, wenn die Rede auf Davery kam.« »Ich glaube, dass Sie recht haben«, gab Trush seine Meinung kund. »Ich habe dasselbe Bauchgefühl, wissen Sie? Nur, was tun wir jetzt?« Zamorra wunderte sich darüber, dass ein erfahrener Cop wie Trush diese Frage stellte. Die nächsten Schritte lagen auf der Hand. Vielleicht wollte er einfach Zamorras Kombinationsgabe prüfen. Da wird er aber staunen, dachte der Dämonenjäger, wie gut ich mich als Privatdetektiv eignen würde. »Terry hat den Namen seines Freundes genannt – Parker Jackson. Können Sie nicht ein paar Verbindungen spielen lassen, damit wir ihn zu fassen kriegen? Außerdem ist da diese schwarzhaarige Frau …« »Angie. Leider ist ihr richtiger Name nicht bekannt.« »Wird sie in Daverys Akte nicht erwähnt?« »Kein Wort. Und wenn Davery in einer dauerhaften Beziehung gelebt hätte, hätten wir das wissen müssen. Immerhin war er kein unbeschriebenes Blatt, wenn die Kollegen in L.A. seiner auch nicht habhaft werden konnten.« »Aber wenn er Angie unter dem Namen Max Barnes in New York kennengelernt hat, sieht es anders aus. Ich habe das Gefühl, dass wir erst am Anfang einer viel größeren Sache stehen. Wir kennen erst die Spitze des Eisbergs.« Und wenn diese Spitze erst mal weggeschmolzen ist, frage ich mich, was darunter zutage kommt. Ein Verbrecher? Oder ein ganzes Nest voller Dämonen?
Das Erste, was Nicole ihm entgegenstreckte, als er in sein Hotelzimmer zurückkehrte, war ein brauner Umschlag ohne Absender. Diesmal war er trocken und ohne Flecke, aber die Schrift,
in der sein Name in das Adressfeld geschrieben worden war, erkannte er sofort wieder. »Ein Bote«, sagte Nicole. »Er hat den Umschlag an der Rezeption abgegeben. Natürlich hab ich dort nachgefragt; es war ein Junge, höchstens fünfzehn Jahre alt. Er hat seinen Namen nicht genannt. Er sagte, er hätte zehn Dollar bekommen, um den Brief für dich abzugeben.« Der Junge war höchstwahrscheinlich unwichtig. Nur ein Kind, das sich ein bisschen Kleingeld verdienen wollte. »Hast du ihn noch nicht aufgemacht?«, fragte Zamorra. »Ich hab auf dich gewartet.« Schwungvoll riss sie ihn auf. Heraus fiel ein weißes Blatt Papier. »Wird doch kein Liebesbrief sein?«, fragte Nicole und grinste. »Wohl kaum.« Zamorra faltete das Papier auseinander und breitete es auf dem Tisch aus. Wieder waren es nur zwei Sätze, knapp, prägnant, ohne Floskeln, ohne Absender: Hallo, Professor. Erinnerst Du dich noch an Sheryl Clarke? »Wer ist Sheryl Clarke?«, murmelte Zamorra. Ihm kam der Name entfernt bekannt vor, aber der Groschen fiel nicht. »Du Kulturbanause«, brauste Nicole auf. »Statt immerzu alte magische Folianten zu wälzen, solltest du mal eine Klatschzeitschrift in die Hand nehmen. Sheryl Clarke, die Schauspielerin!« »Wie bitte?« »Sheryl Clarke – die Schauspielerin, die ungefähr vor einem Jahr an einer Überdosis gestorben ist. Man hat ihre Leiche irgendwo in der Nähe des Hollywood Boulevard in Los Angeles in einem Müllcontainer gefunden. Gab doch eine Menge Schlagzeilen. Sag bloß, das hast du alles verpennt?« Jetzt erinnerte er sich. Die Zeitungen hatten ein paar Tage groß über den Fall berichtet. Eine Mordkommission hatte ermittelt, weil man davon ausging, dass Sheryl Clarke sich den goldenen Schuss nicht selbst gesetzt hatte. Wer setzt sich schon in eine Mülltonne, um sich umzubringen? Aber als es nach ein paar Tagen immer noch keine verwertbaren Spuren gab, verloren die Medien das Interesse. »Was kann diese Schauspielerin mit der Sache zu tun haben?
Langsam habe ich das Gefühl, dass uns da jemand kräftig …« Zamorra räusperte sich. »… verarscht.« Nicole tippte sich gegen die Stirn. »Mein armes Frauenhirn ist weniger damit beschäftigt, nach dem passenden Fluch zu suchen, als vielmehr damit, Kombinationen anzustellen. Denk doch mal nach, Cheri! Der tote Samuel Davery hat in L.A. gelebt, wenn er sich nicht gerade unter falschem Namen in New York aufhielt.« »Stimmt … Es muss doch mit dem Teufel zugehen, wenn da nicht ein Zusammenhang bestand.« »Lass Assi aus dem Spiel«, fauchte Nicole. Der Fall wurde immer mysteriöser, und statt ein paar Antworten tauchten mit jeder Stunde neue Fragen auf. Und den beiden wurde nicht mal die nötige Ruhe gegönnt, über die neuste Entwicklung nachzudenken. Das Telefon klingelte. Robert Trush war am anderen Ende der Leitung. »Es ist zwar mitten in der Nacht, aber ich hab da eine Leiche, die Sie ganz bestimmt interessieren wird.« »Hat man vor Ihnen nie Ruhe?«, ächzte Zamorra gespielt. »Wir haben uns doch gerade eben erst in Kneipen rumgeschlagen, und schon warten Sie mit einer Leiche auf?« Für eine Sekunde herrschte Schweigen, dann sagte Trush mit einem Hauch von Unsicherheit: »Das war ein Scherz, nicht wahr?« »Scherz«, bestätigte Zamorra. »Also, raus mit der Sprache!« »Ein Junge wurde erschossen. Ein ziemlich großer Junge. Sein Name: Warren Murdock. Siebenunddreißig Jahre alt, aber mit dem Gehirn eines Vierjährigen. Er kam vorgestern Morgen mit zwei Einkaufstüten bepackt aus dem Lebensmittelladen, in dem er jeden Tag einkauft – wumm! Ein Sturmgewehr, Kaliber 9 mm Parabellum. Die Kugel traf ihn mitten in die Stirn.« »Ich nehme an, der Clou kommt noch«, sagte Zamorra, »denn so tragisch das ist, weiß ich nicht, was das mit unserem Fall zu tun hat.« Trush stieß ein unwilliges Brummen aus. »Es gab ein paar Zeugen, unter anderem einen Mann namens Jimmy Crawford. Sie nennen
ihn alle nur den dicken Jimmy. Ihm gehört das Lebensmittelgeschäft. Er kennt den Jungen schon seit Jahren. Warren Murdock hat jeden Tag bei ihm eingekauft, aber das habe ich ja schon gesagt. Der Junge lebte nämlich allein mit seiner Mutter, einer Rentnerin, die aber noch ganz gut auf den Beinen ist und ihn allein pflegt.« Der Meister des Übersinnlichen hoffte, dass sein ungewöhnlicher Partner bald zur Sache kam. »Die anderen Zeugen waren Gäste. Das Geschäft hat nämlich ein paar Stehtische, an denen man Kaffee trinken und Donuts essen kann. Da standen die Leute also und haben zugesehen, wie der arme Junge durch die Frontscheibe gepustet wurde. Einer der Zeugen war ein Mann namens Ray Vincennes. Na, klingelt es jetzt bei Ihnen, Prof?« Das Hotelzimmer um ihn schien auf einmal zu schrumpfen. »Sagen Sie das noch mal, Mr. Trush.« Er kicherte, was ungefähr so klang, als würde die Hudson Bay von einem Orkan heimgesucht. »Dachte mir doch, dass Sie das interessiert.« »Ray Vincennes, der Helfer des Mediums Elvira Montgomery. Bei ihr scheinen irgendwie alle Fäden zusammenzulaufen.« »Um diesen Vincennes kümmern wir uns morgen früh – ich mach mich auf den Weg und schau mir den toten Warren Murdock an. Nachts in der Leichenhalle der Gerichtsmedizin, brr … Aber Sie sind da wohl zu Hause als Dämonenjäger, was? Wollen Sie auch noch vorbeikommen?« »Da fragen Sie noch?«, rief Zamorra und war in der nächsten Sekunde mit Nicole im Schlepptau unterwegs.
Gerichtsmedizin, Kühlkammer Knapp anderthalb Stunden später betraten Zamorra, Nicole und Robert Trush hinter dem Gerichtsmediziner der Nachtschicht, einem
alten glatzköpfigen Mann, der sein letztes Haarbüschel quer über den Schädel gekämmt hatte, die mit blauen Fliesen ausgelegte Kühlkammer. Es roch nach Desinfektionsmittel und nach Tod. Die Rollen knirschten auf der Schiene, als der Mann die Lade aufzog. »Passiert selten«, murmelte er. Er hatte seinen Besuchern keine Aufmerksamkeit gewidmet, nicht mal Nicole, der sonst nahezu jeder Mann, gleich welchen Alters, einen zweiten Blick zuwarf. »Was passiert selten?«, hakte Zamorra nach, als er nicht weitersprach. »Dass nachts drei Leute auftauchen und sich eine zwei Tage alte Leiche ansehen wollen?« »Das ist Alltag«, brummte der Gerichtsmediziner, ohne uns anzusehen. »Ich mein, dass einer ganz normal aussieht, mein ich, jawoll.« Er schien ein verschrobener Typ zu sein; vielleicht, weil er sein ganzes Leben mit Leichen zu tun gehabt hatte. Er schlug das Tuch zurück. »Die meisten Opfer sehen aus, als hätte man sie durch eine Bügelwelle gedreht. Ratzfatz. Vom Auto überfahren, mit einer .45er erschossen, mit einem Messer ausgeweidet und lauter solches Zeug. Ich hab schon eine ganze Menge gesehen. Aber dieser Kerl hier – wenn der kleine Fleck zwischen den Augenbrauen nicht wär, könnt man glauben, er würd schlafen.« Er hatte recht. Das Gesicht des Toten zeigte einen beinahe zufriedenen Ausdruck. Die meisten Menschen, die durch einen Unfall aus dem Leben gerissen werden, tragen neben der Überraschung jenes Gefühl zur Schau, das ihr Leben geprägt hat. Das kann Fröhlichkeit oder Trauer sein, bei manchen auch Habgier, Neid oder Hass. Warren Murdock war einem kaltblütigen Mörder zum Opfer gefallen. Trotzdem sah er aus, als ob er bis zur letzten Sekunde voller Lebensfreude gewesen wäre. Zamorra hatte nicht die Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen, trotzdem überkam ihn in der Kühlkammer der Drang, seinen Mörder unbedingt zu fassen. Der Gerichtsmediziner tippelte unruhig und blickte auf seine Uhr, als ob er noch einen Termin hätte. »Ich geh mal austreten. Danach steh ich für Fragen zur Verfügung.« Er drehte sich um und ging los. »Muss halt sein.« »Was muss sein?«, rief Trush ihm nach. »Urinieren oder lästige
Fragen beantworten?« »Beides«, knurrte der Alte und zog sich durch die Tür zurück. Der Cop schüttelte den Kopf. »Der geht pinkeln und lässt uns hier in der Kälte stehen mit einer Leiche. Makabrer Humor.« Nicole lachte leise. »Mir gefällt er.« Zamorra blickte erneut auf den Toten und besah sich die unscheinbare Wunde über der Nasenwurzel. »Das war ein Präzisionsschuss, und …« Er stockte. »Was ist?«, fragte Trush. Das fragte sich der Meister des Übersinnlichen selbst. Hatte er sich getäuscht, oder war da wirklich eine Bewegung gewesen – mitten in dem Einschussloch? »Ich bin mir nicht sicher.« »Sollten sich Wissenschaftler nicht immer und überall sicher sein?«, fragte Trush. »Ich meine – die Parapsychologie ist doch eine Wissenschaft, oder? Eine richtige Wissenschaft?« »Allerdings«, antwortete Zamorra leicht amüsiert. »Früher war ich mir da auch nicht so sicher«, ergänzte Nicole. Der Meister des Übersinnlichen hörte kaum zu … denn er hatte erneut etwas bemerkt. In dem kleinen Loch über der Nasenwurzel wimmelte etwas. Eine kleine, schattenhafte Bewegung. Doch Merlins Stern zeigte keine Reaktion. Er erwärmte sich nicht, als sei da nichts, das auf schwarzmagische Aktivität hinwies. Zamorra zeichnete mit dem Zeigefinger über dem Gesicht des Toten ein magisches Symbol und murmelte dazu eine weißmagische Bannformel. Jetzt würde er Nägel mit Köpfen machen! Er wollte endlich wissen, woran er war. Sein Zauber zeigte sofortige Wirkung. Die bisher eher zu erahnende Bewegung intensivierte und verdichtete sich. Etwas quoll aus der Einschusswunde hervor. Ein fingerartiges, braunes Etwas, gerade so groß wie die kreisrunde Wunde – als hätte dieses Ding das Einschussloch selbst geschlagen. Es verlängerte sich, nahm dabei an Masse zu, formte sich zu einem mindestens handspannenlangen tentakelartigen Wurm. Der Dämonenjäger handelte sofort und zuckte zurück. Er sagte
laut eine weitere Bannformel auf und rief das Amulett. Es materialisierte zuverlässig in seiner rechten Hand, aber es blieb ein funktionsloses Stück Metall. Mit fliegenden Fingern verschob er einige der scheinbar fest sitzenden Hieroglyphen, um das Amulett auf diese Weise zu einem Angriff auf das tentakelartige Ding zu zwingen, das sich immer noch aus der Stirn der Leiche schob, dabei länger und länger wurde. Nichts. »Was … was machen Sie da, Professor?«, rief Robert Trush angeekelt. »Nichts mache ich«, meinte Zamorra und steckte Merlins Stern weg. Er würde mit diesem Auswuchs, aus dessen Oberfläche glänzende Schleimtropfen quollen, auf andere Art und Weise fertig werden müssen. Er zog den Dhyarra-Kristall, die einzige Waffe, die er neben dem Amulett mit nach New York genommen hatte. Nicole war ebenfalls mit einem dieser Sternensteine ausgerüstet. Zunächst einmal wollte der Parapsychologe abwarten, ob dieser Tentakel sich überhaupt zu einer Gefahr entwickelte. Das tat er nicht. Zumindest nicht direkt. Endlich endete das gespenstische Wachstum; ein spitz zulaufendes hinteres Ende schob sich aus der unscheinbaren Wunde, das wurmartige, etwa einen halben Meter lange Ding wand sich über den Brustkorb der Leiche, kroch über das rechte Bein und ringelte sich vom Fuß aus nach unten. Es plumpste auf den Boden, zog sich zusammen – und teilte sich. Plötzlich waren da zwei Würmer … und dann vier! Sie formierten sich und gingen zum Angriff über. Zwei wandten sich Zamorra zu, einer Nicole und einer dem fassungslosen Cop. Sie sausten erstaunlich schnell über den Boden. »Zurück«, rief Zamorra. Um den Dhyarra-Kristall einzusetzen, fehlte ihm die nötige Ruhe. Die besondere Magie dieser Kristalle basierte darauf, konkrete Gedankenbilder ihrer Besitzer in die Wirklichkeit umzusetzen – und dazu war höchste Konzentration nötig. Der Meister des Übersinnlichen sprang zurück, wartete eiskalt ab und rammte seinen Absatz auf einen der beiden Würmer, die ihn angriffen.
Er fühlte einen kurzen Widerstand, dann knackte etwas widerlich, und schleimige Batzen spritzen unter seinem Fuß zur Seite. Der andere Wurm schnellte sich vom Boden hoch und klatschte gegen Zamorras Brust. Der Meister des Übersinnlichen packte zu und fühlte feuchte, gallertartige Kälte. Er zerrte den sich windenden Wurm von sich und riss ihn glatt in der Mitte durch. Die eine Hälfte erschlaffte in seiner Linken, doch in seiner Rechten zeigte sich die Kreatur wenig beeindruckt. Dort ist die Kopfsektion, erkannte Zamorra. »Zermalmt die Köpfe, dann sind sie tot«, informierte er die anderen, schleuderte den halben Wurm zu Boden und rammte sofort erneut den Fuß nach unten. Mit lautem, schmatzendem Geräusch zerplatzte der schleimige Kopf. Nicole hatte ihren Gegner ebenfalls erledigt, und auch Robert Trush erwies sich als besonders beherzt. Mit versteinertem Gesicht, die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammengepresst, ruhte sein Fuß auf einem zerquetschten Wurm. Neben dem Schuh breitete sich eine bräunlich-schleimige Masse aus. Nicole zeigte ein gequältes Grinsen. »Fragt sich, wie wir das dem alten Gerichtsmediziner erklären sollen.« »Das wird wohl nicht nötig sein«, erwiderte Zamorra. Die Überreste der Wurm-Dinger verkrusteten schnell, überzogen sich mit grauem, pulvrigem Staub und lösten sich restlos auf. »Wir sollten ihn erst gar nicht damit belästigen. Er würde uns ohnehin nicht glauben.« »Wird wohl das Beste sein«, murmelte Trush. Zamorra fragte sich, wie verwundert der Cop tatsächlich war. Wusste er um die Existenz der Dämonen? Einiges sprach dafür … und diese Dinger waren wohl dämonischen Ursprungs, was spätestens dadurch bewiesen war, dass sie sich nach ihrem Tod auflösten. Zuerst hatte er an eine außerirdische Lebensform gedacht, eine Art Parasit, weil Merlins Stern keine Reaktion gezeigt hatte. Aber welche letztlich biologische Kreatur verschwand nach ihrem Tod schon spurlos, ohne dass Magie im Spiel war? Magie …, dachte Zamorra. Das ist womöglich des Rätsels Lösung. Es
ist durchaus Magie, aber nicht unbedingt schwarze Magie. Länger konnte er nicht nachdenken, denn der Gerichtsmediziner hatte sein Geschäft erledigt und kehrte zurück. »Gab es irgendwelche Besonderheiten bei der Leiche?«, fragte Zamorra, als wäre nichts geschehen. »Krankheiten? Körperliche Auffälligkeiten?« Der Alte zuckte die Achseln und tippte sich an die Stirn. »Wie ich gehört habe, soll der Junge da oben einen ziemlichen Schaden gehabt haben. Wie auch immer, körperlich war er jedenfalls vollkommen gesund.« Der Tote besaß scharfe, knochige Züge. Er war nicht gerade gut aussehend gewesen, aber sein Gesichtsausdruck war markant und blieb haften. Eng beieinanderstehende Augen, eine lange, hakenförmige Nase. Nun, da er wieder Ruhe hatte, überkam Zamorra das Gefühl, dieses Gesicht oder ein ähnliches schon einmal gesehen zu haben, aber er konnte sich nicht erinnern, wo. »Hat er einen zweiten Schuss abgekriegt?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Nur ein Schuss, mitten in die Stirn. Peng. Ein Meisterschütze, würde ich sagen.« Er strich sein Haarbüschel glatt und sah wieder auf seine Uhr. »Ein Schuss mit einer ganz normalen Kugel?« Zamorra fragte sich, ob diese Wurmkreatur in ihrem Urzustand die Funktion einer Gewehrkugel erfüllt hatte und sich erst im Kopf der Leiche … weiterentwickelt hatte. Ein makabrer Gedanke, der angesichts der letzten Ereignisse eine gewisse Logik nicht entbehrte. »Was denn sonst?« Der Gerichtsmediziner verschränkte die Arme vor der Brust. »Noch Fragen?« Zamorra zermarterte sich das Hirn. Wo hatte er Murdocks Gesicht schon einmal gesehen? »Danke, wir sind fertig.« Der Alte seufzte vor Erleichterung und schob Murdocks Leichnam auf quietschenden Rollen zurück ins Kühlfach.
4. Vor dem Hingang eines Polizeireviers Am nächsten Morgen Zamorra wurde bereits von Detective Sergeant Barnaby erwartet, einem spindeldürren Mann. »Der Parapsychologe Professor Zamorra«, pfiff Barnaby mit Bronchitis-Stimme und fügte ohne jede Ironie hinzu: »Mein Chef Robert Trush hat mich bereits vorgewarnt. Ich bringe Sie zu ihm, er erwartet Sie.« »Herzlichen Dank«, sagte Zamorra artig. Er war allein gekommen, weil Nicole in diesen Augenblicken bereits im Flugzeug in Richtung Los Angeles saß. Sie hatten beschlossen, sich zu trennen und den Spuren losgelöst voneinander nachzugehen. Nicole wollte sich um die tote Schauspielerin Sheryl Clarke kümmern; Robert Trush wiederum war von dieser Idee sehr angetan gewesen und hatte versprochen, einen Kollegen in L.A. ausfindig zu machen, der Nicole tatkräftig unterstützen würde, ähnlich wie er selbst es mit Zamorra tat. Barnaby drehte sich um und tänzelte vor Zamorra her, bis er ihn zu Trush geführt hatte, der im Nachbarzimmer eines Verhörraums stand. Durch einen Einwegspiegel konnte man in den Verhörraum blicken, ohne von dort wahrgenommen zu werden. Trush nickte dem Meister des Übersinnlichen knapp zu und deutete auf Vincennes, den Mitarbeiter des angeblichen Mediums Montgomery. »Er ist ein harter Bursche, Professor. Wir haben ihn ein bisschen in die Mangel genommen, aber er sagt nur, was er sagen will.« »Gibt es Hinweise, dass er mit dem Mord an Warren Murdock in Verbindung steht?« Der massige Cop zuckte die Achseln. »Er sagt, er sei allein in dem
Laden gewesen, als der Mord geschah. Der Ladenbesitzer, der dicke Jimmy, behauptet aber, dass Vincennes sich mit einem anderen Mann unterhalten habe: groß, breitschultrig, mit einem Holzfällerhemd bekleidet. Es gab wohl ein Streitgespräch zwischen Jimmy und diesem anderen Kerl, weil der sich über Murdocks Behinderung lustig gemacht hätte. Jedenfalls ist der Kerl nicht aufzufinden.« Ray Vincennes saß im weiß gestrichenen Verhörzimmer und starrte Zamorra durch den Einwegspiegel an, als hätte er den Röntgenblick. Er trug denselben Anzug wie gestern, sogar das Einstecktuch war identisch. Er saß da wie eine Statue, nur das Zucken seiner Augenlider verriet, dass er überhaupt am Leben war. Trush postierte sich neben Zamorra. »Er behauptet steif und fest, allein in den Laden gekommen zu sein.« »Und dieser andere Kerl?« »Er sagt, der hätte nur zufällig am selben Tisch gestanden, und da hätten sie sich eben ein wenig unterhalten. Nachdem der Schuss fiel, habe er nicht mehr auf den Mann geachtet, und als die Polizei eintraf, war er bereits verschwunden.« »Dann ist also dieser andere Mann das Problem, und nicht Vincennes.« Robert Trush verzog das Gesicht. »Der dicke Jimmy Crawford sagt, die beiden haben sich so intensiv unterhalten, als ob sie sich seit Jahren kennen. Außerdem hat Ray Vincennes den anderen Typen seinen Freund genannt.« Vincennes rümpfte im Nebenzimmer passgenau die Nase, zog ein Taschentuch und schnäuzte sich lautstark, als wollte er sich gegen diese Behauptung verwehren. »Die Klimaanlage ist defekt«, sagte Trush. »Irgendein Regler ist kaputt. Sie sollten sich besser eine Skimaske besorgen, bevor wir da reingehen, Zamorra.« »Es wäre mir recht, wenn ich erst einmal alleine mit Vincennes sprechen könnte.« Der Cop schien nicht sonderlich überrascht zu sein. »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich lehne mich hier im Stuhl zurück und höre
Ihnen zu. Ist entspannender, als selbst mit hineinzugehen.« Zamorra war zufrieden. Er zog die beiden anonymen Briefe aus der Tasche, die er im Hotel erhalten hatte. »Ehe ich reingehe, noch eine Bitte. Können Sie diese Briefe unter die Lupe nehmen?« Er setzte seinen Partner knapp über die Hintergründe in Kenntnis. »Vielleicht gibt es ja Fingerabdrücke auf den Seiten.« »Wir werden es überprüfen«, versprach Trush. Zamorra bedankte sich, trat in das Verhörzimmer ein, schloss die Tür hinter sich und setzte sich gegenüber von Vincennes auf einen Stuhl. Dieser wirkte nicht erstaunt, ihn zu sehen. »Sie trifft man auch überall, Mr. Dämonenjäger.« »Guten Tag, Mr. Vincennes. Sie können sich vielleicht meine Überraschung vorstellen, als ich hörte, dass Sie hier sind. Sie wissen vielleicht, dass ich inzwischen mit Mr. Trush vom Police Department zusammenarbeite?« Er hob die Augenbrauen, schwieg jedoch. »Weshalb haben Sie von dem Mord an Warren Murdock gestern nichts erzählt?« »Sie haben mich nicht danach gefragt. Sie nicht, und die Cops genauso wenig.« »Man könnte Ihnen das als Behinderung der Justiz auslegen.« Er lächelte sanft. »Ich bin Zeuge, nicht der Mörder.« »Kannten Sie Warren Murdock?« »Ich war ein paar Mal in dem Laden, aber ich glaube kaum, dass der dicke Jimmy sich an mich erinnert. Dieser behinderte Junge hat dort regelmäßig eingekauft. Sie können mir glauben, dass ich seinen Tod sehr bedaure.« »Sie waren nicht allein dort.« Seine Mundwinkel zuckten. »Darüber habe ich Ihren Freunden von der Polizei schon alles gesagt.« »Was sagen Sie zu Jimmy Crawfords Behauptung?« »Dass ich den Fremden kannte? Ich weiß nicht, wie er darauf kommt. Wir haben uns nur oberflächlich unterhalten.« »Sie haben ihn ihren Freund genannt.«
Wieder lächelte er. Das ging Zamorra langsam auf die Nerven. »Er schien ganz in Ordnung zu sein. Als der dicke Jimmy auf ihn losgehen wollte, nahm ich ihn in Schutz. Was spricht dagegen? War das nicht eine gute Tat? Werde ich deshalb hier festgehalten?« Der Meister des Übersinnlichen kam sich einmal mehr selbst wie ein Cop vor und war nahe daran, Vincennes seine Rechte zu zitieren. Er konnte sich gerade noch beherrschen. »Es gibt zwei Tote, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Und beide Male sind Sie als Zeuge anwesend. Finden Sie das nicht ungewöhnlich?« »Ich habe nicht gesehen, wie Max Barnes überfahren wurde.« »Hat dieser angebliche Fremde in dem Laden Ihnen gesagt, wie er heißt?« »Ich war nicht so unhöflich, ihn zu fragen.« »Ist Ihnen sonst etwas Besonderes an ihm aufgefallen?« Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Warum interessieren sich alle so für diesen Kerl? Er hat schließlich nicht abgedrückt. Und warum fragen Sie mich all das?« Seine Stimme nahm einen spöttischen Tonfall an. »Ich dachte, Sie jagen Dämonen oder so. Sollten Sie da nicht irgendwelche Beschwörungen durchführen oder so ein Krimskrams?« So läuft das eben nicht immer, dachte Zamorra. Manchmal leiste ich ganz normale Detektivarbeit. Und hin und wieder arbeite ich sogar mit der Polizei zusammen. Zumindest, wenn es mir nützlich erscheint, so wie in diesem Fall. »Beantworten Sie einfach meine Frage.« »Nein, mir ist nichts Besonderes an ihm aufgefallen. Er schien ein ganz normaler Typ zu sein.« »Beschreiben Sie ihn?« »Die Cops haben inzwischen sogar eine Zeichnung angefertigt. Sehen Sie sich die doch an.« Vincennes breitete die Arme aus. »Also, wenn Sie keine weiteren Fragen haben, Mr. Zamorra, würde ich gern gehen. Sagen Sie das Ihrem Freund Trush.« »Dringende Termine?«, fragte der Parapsychologe spöttisch. »Miss Montgomery wird heute Abend eine weitere Séance abhalten.« Zamorra stand auf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich werde ein
gutes Wort für Sie einlegen. Ach ja, und eines noch.« »Ja?« »Ich hoffe nicht, dass wir uns demnächst bei einem dritten Mordfall wiedersehen.« Ray Vincennes sah Zamorra an, als hätte der ihn gefragt, ob er ihm ein Bein abschneiden dürfe.
Vor dem Verhörraum Zamorra wollte sich gerade mit Robert Trush austauschen, da betrat Sergeant Barnaby den Raum, der ihn schon am Eingang des Reviers in Empfang genommen hatte. »Es gibt einen neuen Hinweis auf den Täter im Mordfall Murdock«, informierte Barnaby. »Gerade haben wir die Aussage eines Hausmeisters aufgenommen, der in dem Gebäude gegenüber von Jimmy's Grocery Store arbeitet. Er war schon Tage vor dem Mord in Urlaub gefahren und konnte deshalb erst jetzt befragt werden. Er gibt an, einen Tag vor seinem Urlaub eine Wohnungsbesichtigung durchgeführt zu haben. Es ging um die Dachgeschosswohnung. Von dort ist der tödliche Schuss abgefeuert worden.« Barnaby blickte auf seinen Vorgesetzten, dann auf Zamorra und dann wieder auf Trush. Dieser gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er fortfahren sollte. »Die Wohnung steht leer und ist bereits von den Leuten des Spurendienstes auf den Kopf gestellt worden. Man fand Fußabdrücke im Staub und Abdrücke von Lederhandschuhen, aber nichts, was Aufschluss über die Identität des Schützen hätte geben können.« »Weiter, Sergeant«, pfiff Trush ihn an. »Wie wir wissen, befindet sich die Dachwohnung in einem katastrophalen Zustand. Der Vermieter weigert sich zu renovieren und verlangt eine absurd hohe Miete, von den nicht erfüllten Auflagen des Bauamtes mal ganz abgesehen. Über fünfzig Besichtigungen in achtzehn Monaten, aber niemand konnte sich
dazu durchringen, die Wohnung zu mieten. Nicht gerade das, was man sich unter einer Top-Immobilie vorstellt, wenn Sie mich fragen.« »Sergeant!« Trush keuchte. »Kommen Sie zur Sache!« Barnaby schluckte. »Es geht um die Besichtigung vor acht Tagen. Der Interessent war ein Mann namens Walker. Er hat die Wohnung sofort genommen.« Robert Trush kniff die Augen zusammen. »Das heißt, die Wohnung war zum Zeitpunkt des Mordes vermietet? Wieso hat uns niemand darüber in Kenntnis gesetzt, verdammt!« »Wie ich schon gesagt habe, der Hausmeister war im Urlaub. Die Anwohner wussten nichts von dem neuen Mieter, und der Vermieter kümmert sich einen Dreck um die Wohnung. Die Mieten werden von einer Verwaltungsgesellschaft eingezogen, deren Sachbearbeitung wegen einiger Krankheitsfälle mit der Bearbeitung ein paar Wochen hinterherhinkt.« Zum ersten Mal mischte sich Zamorra in das Gespräch ein. »Hat dieser Walker auch einen Vornamen?« »Bernhard. Er hat die Miete noch am Tag der Besichtigung für einen Monat im Voraus bezahlt.« »Wie lautete die bisherige Adresse?«, fragte Trush. Der Sergeant zuckte die Achseln. Trush erlitt einen Hustenanfall. »Ich will, dass Sie alle Bernhard Walkers dieser Stadt ausfindig machen, Sergeant. Stellen Sie ein Team zusammen, das die Befragungen durchführt. Ich will, dass die Ergebnisse bis morgen Vormittag auf meinem Schreibtisch liegen.«
Mitten im stockenden Verkehr New Yorks »Nicole?« »Cheri! Wo steckst du? Mein Flug geht in einer Stunde.« »Dein Flug?« »Nach L.A. – Sheryl Clarke. Schon vergessen, Chef?«
Natürlich hatte er es nicht vergessen, aber er war in Gedanken woanders gewesen. Zamorra saß in Robert Trushs Dienstwagen, der sich durch die verstopften Straßen schlängelte. Er presste das Handy fester ans Ohr und schilderte in aller Kürze, was er erfahren hatte. »Es bleiben einige Fragen. Was hatte Ray Vincennes am Tatort zu suchen? Wer ist der Unbekannte, mit dem er sich unterhalten hat? Warum hat Vincennes gestern nichts von dem Mord erzählt? Weil er ein schlechtes Gewissen hat?« »Wenn du mich fragst, haben Kerle wie Vincennes überhaupt kein Gewissen«, sagte Nicole. »Und das Wichtigste: Ich habe dir die ganze Zeit nichts davon gesagt, aber seit wir gestern Nacht im Leichenschauhaus waren, glaube ich, dass ich Warren Murdock kenne. Ich habe ihn irgendwo schon mal gesehen.« »Hm. Aber du erinnerst dich nicht, wo?« »Eben nicht, und das ist seltsam.« »Wie ist dein weiterer Plan? Ich meine, was versprichst du dir überhaupt von dieser Sheryl-Clarke-Geschichte? Irgendwie gefällt es mir nicht, dass wir uns von diesem anonymen Briefeschreiber dirigieren lassen wie Marionetten. Vielleicht lenkt er uns nur auf eine falsche Spur. Dann wäre mein Flug nach L.A. Zeitverschwendung.« Zamorra sprach zum ersten Mal aus, was ihm sein Bauch schon seit Stunden sagte. »Der Absender der Briefe ist der Mörder, Nici. Daran hege ich keinen Zweifel.« »Auf die Erklärung bin ich gespannt!« »Die ganze Sache ist verdammt viel komplizierter, als wir annehmen. Dank dieser komischen Würmer, die aus der Leiche des armen Murdock gekrochen sind, wissen wir, dass tatsächlich Übernatürliches im Spiel ist. Dämonisches vielleicht … wenn es auch seltsam ist, dass das Amulett absolut nicht reagiert.« »Das erklärt nicht deine Annahme, unser anonymer Freund sei der Mörder. Ein Mörder, der selbst zur Aufklärung der Fälle beträgt. Das ist kompliziert, wenn du mich fragst.« »Ich glaube es gerade deswegen, weil das Übernatürliche so
verdeckt zum Tragen kommt. Ich bitte dich – alle Welt glaubte, Murdock sei erschossen worden, aber in Wirklichkeit handelte es sich nicht um ein normales Schussprojektil. Hier kommt das Übernatürliche durch die Hintertür, und unser Mörder hat es mit der Angst zu tun bekommen. Was er irgendwie heraufbeschworen hat, wächst ihm über den Kopf, und deswegen sucht er sich professionelle Hilfe … von uns. Freilich will er sich nicht zu erkennen geben, weil er genau weiß, dass wir ihn der Polizei ausliefern würden. Also will er uns indirekt benutzen, damit wir ihm die Dämonen oder Was-auch-immer vom Hals schaffen.« »Klingt gar nicht nett«, meinte Nicole trocken. »Ich muss Schluss machen. Muss durch die Kontrolle im Flughafen.« Sie unterbrach die Verbindung. »Genug geflirtet?«, fragte Robert Trush bissig; offenbar ging es ihm auf die Nerven, sich durch den Verkehr zu quälen. Zamorra ging erst gar nicht darauf ein, sondern brachte etwas auf den Tisch, das ihm unter den Nägeln brannte. »Ich möchte Sie bitten, die Exhumierung von Jacky Bloomes Leiche in die Wege zu leiten.« Trush sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Jacky Bloome? Dieses andere komische Medium, oder was die war? Diese … Geistführerin der Montgomery?« »So ist es«, bestätigte Zamorra. »Sie war eine Art Vorgängerin unserer speziellen Freundin Elvira Montgomery, und angeblich ist sie diejenige, die im Jenseits alle nötigen Kontakte herstellt.« Der Cop zeigte sich wenig begeistert. »Was versprechen Sie sich davon?« Der Meister des Übersinnlichen hatte die Frage erwartet und sich bereits eine Antwort zurechtgelegt. Was hätte er schon sagen sollen? Dass er ein ungutes Gefühl hatte, was Jacky Bloomes Tod anging? Es gab keine Hinweise, dass das Medium eines unnatürlichen Todes gestorben war. Aber schließlich hatte damals auch niemand genauer nachgesehen. Ihm fiel auf der Stelle eine Person ein, die entscheidend von Jacky Bloomes Tod profitiert hatte: Elvira Montgomery, die nach Bloomes Tod deren gesamten Kundenstamm
übernommen hatte. Und natürlich Ray Vincennes, ihr undurchsichtiger Helfer. Er war nicht sicher, dadurch eine neue Spur zu gewinnen, aber in diesem Fall gab es so viele lose Enden, dass es sich lohnte, einige der Fäden auf einen reinen Verdacht hin aufzurollen. Noch vertrackter konnte es kaum werden. »Wir haben drei Tote«, sagte Zamorra. »Samuel Davery, Warren Murdock und Jacky Bloome. Von Warren Murdock wissen wir, dass er ermordet wurde. Sam Davery starb unter ungeklärten Umständen, ebenso wie Jacky Bloome.« »Laut Aussage des Arztes, der den Totenschein ausstellte, erlitt sie einen Herzanfall«, widersprach Trush und erwies sich damit als erstaunlich gut informiert. Offenbar war seine Überraschung, als Zamorra den Namen vor wenigen Sekunden erwähnt hatte, nur geschauspielert gewesen. »Wie hieß dieser Arzt?« »Dr. Stan Marshal. Er führte eine Praxis in L.A. und ist vor einigen Monaten nach San Diego gezogen. Ich habe ihn überprüfen lassen. Marshal ist ein unbeschriebenes Blatt, ein absolut unbescholtener Bürger.« »Ich sage ja nicht, dass er böse Absichten hegte. Vielleicht war es kurz vor Feierabend, als er Jacky Bloomes Leiche untersuchte. Er war in Gedanken schon bei seiner Golfrunde und hat schnell den Totenschein ausgestellt.« »Ich sehe trotzdem keinen Zusammenhang.« »Jacky Bloome war ein Medium und hat mit Elvira Montgomery zusammengearbeitet. Als Jacky starb, hat die Montgomery ihren gesamten Kundenstamm übernommen. Samuel Davery starb, nachdem er bei einer Séance von Montgomery eine fingierte Drohung erhalten hatte, vielleicht weil er aus dem schmutzigen Geschäft aussteigen wollte. Und Warren Murdock …« »Moment, Professor, langsam! Auch Elvira Montgomery konnte nicht wissen, dass Davery in Panik geraten und vor ein Auto laufen würde. Jedenfalls, wenn wir davon ausgehen, dass diese Sache mit der Hellseherei absoluter Mumpitz ist.« »Wer weiß«, meinte Zamorra. Gerade daran hegte er inzwischen
erheblichen Zweifel, seit bewiesen war, dass dies alles andere als ein gewöhnlicher Kriminalfall war. »Vielleicht wollte sie Davery sowieso töten. Der Unfall kam ihr da nur gelegen.« »Und wie passt Warren Murdock in die Geschichte?« Trush lachte. »Verrückte Fragerei … eigentlich bin ich doch der Cop.« Der Meister des Übersinnlichen grinste schmallippig. »Murdock starb vor den Augen von Elvira Montgomerys Helfer Ray Vincennes. Mehr weiß ich darüber auch noch nicht, aber bei allem Respekt, da muss es einen Zusammenhang geben.« »Bei allem Respekt – das hört sich an, als wollten Sie sagen, dass ich Tomaten auf den Augen habe.« »Bei allem Respekt, das wollte ich nicht sagen.« Er seufzte. »Sie bekommen Ihre Exhumierung, Professor, dafür sorge ich. Aber zuvor habe ich auch noch Neuigkeiten für Sie, die ich erhalten habe, als Sie mit Vincennes gesprochen haben. Wir haben Parker Jackson gefunden.« Parker Jackson – Zamorra brauchte einige Sekunden, bis ihm einfiel, wer sich hinter diesem Namen verbarg. Jackson war der Kumpan des seltsam blutleeren Terry Norton, den er zusammen mit Robert Trush im Nite Fever befragt hatte. Jackson war Terrys Kumpel gewesen, der nach dem Ding, das die beiden vor einem Jahr gemeinsam gedreht hatten, spurlos verschwunden war. Der Dämonenjäger war sich nicht sicher, ob er ihnen in dieser Sache weiterhelfen konnte, aber seine Aussage konnte zumindest nicht schaden. »Wann können wir ihn in die Mangel nehmen?« »Leider überhaupt nicht mehr«, sagte Trush in einem Tonfall, der Zamorra eine Gänsehaut den Nacken hinauftrieb. »Er wurde gestern Abend aus dem Hudson gefischt. Um sein linkes Bein war ein halb verrottetes Seil gebunden.« »Wie lange lag er bereits dort unten?« »Das Labor möchte sich nicht festlegen. Zwischen acht Monaten und einem Jahr. Die Identifizierung ist mittels DNS-Analyse erfolgt.«
Jimmy's Grocery Store Es gibt Tage, an denen fühlt man sich wie ein Fremder. Fremd unter den Menschen, die einem an anderen Tagen ähnlich und vertraut erscheinen. Zamorra überkam dieses Gefühl der Einsamkeit, wenn er die Opfer der Dämonen sah, die Toten oder Verzweifelten, deren Leben von höllischen Machenschaften zerstört worden war. Gerade weil es solche dämonischen Übergriffe offiziell nicht gab, blieben die Opfer in ihrem Schmerz und in ihrer Angst oft allein. Diesen Schmerz teilte auch der dicke Jimmy, wie Zamorra an seinem Blick erkennen konnte. Der Ladenbesitzer wischte sich die fleischigen Finger an der Kittelschürze ab und schüttelte die Hand seines Gastes. Zamorras Magen knurrte, während er die Auslagen in Jimmy's Grocery Store betrachtete. Er hatte lange nichts mehr gegessen und das Frühstück nur rasch heruntergewürgt, um keine Zeit zu verlieren. Jimmy drehte Trushs Dienstmarke in den Händen, als gäbe es in der Ledertasche ein verborgenes Geheimfach zu entdecken, dann drückte er sie dem Cop wieder in die Hände und grinste entschuldigend. »Nicht übel nehmen … ich bin 'n misstrauischer Mensch. Laufen 'ne Menge sonderbarer Gestalten in der Stadt herum. Haben Ihre Kollegen wenigstens schon eine Spur?« »Ich habe nur ein paar Fragen an Sie, Mr. Crawford. Es tut mir leid, dass Warren Murdock gestorben ist. Ich interessiere mich allerdings mehr für die Leute, die zum Zeitpunkt des Todes in Ihrem Geschäft anwesend waren.« Der dicke Jimmy seufzte. »Warren war 'n feiner Kerl. Seine Mutter war Kundin bei mir. Kannte die beiden seit fast vierzig Jahren, seit Brenda Murdock hier in die Gegend gezogen ist.« Ein wehmütiger Ausdruck trat auf sein Gesicht, während er die Ladentheke wischte. »Warren war nich' besonders helle, wissen Sie, aber er war brav. Seine Mutter hat ihm immer genau aufgeschrieben, was er kaufen sollte. Milch, Sandwiches, Johnny Walker, es war jeden Tag
dasselbe.« »Johnny Walker?« Der dicke Jimmy kicherte verschmitzt. »Das war 'n Scherz zwischen uns beiden. Warren wusste, dass er bei mir keinen Alkohol bekam. Immer wenn er Johnny Walker verlangte, wusste ich, er wollte Orangensaft. Warren liebte Orangensaft über alles.« Er stützte sich auf die Unterarme und beugte den Oberkörper vor, dass Zamorra Angst hatte, der Tresen würde unter dem Gewicht zusammenbrechen. Er schluckte. »Warren war der beste Mensch auf der ganzen Welt. Warum wird so einer erschossen?« Zamorra wünschte, er hätte ihm darauf eine Antwort geben können; doch selbst wenn er irgendwann die Wahrheit herausfand, würde er sie Jimmy gegenüber wohl kaum erwähnen; der Ladenbesitzer brauchte von den magischen Hintergründen nichts zu erfahren. »Sie erinnern sich an Ray Vincennes?«, fragte er ausweichend. Jimmy runzelte die Stirn, dann verdunkelte sich sein Gesicht. »Dieser feine Pinkel mit dem Einstecktuch, nich' wahr?« »Sie haben ausgesagt, er hätte sich mit jemandem unterhalten, als der Schuss fiel.« »Stimmt. Da war so 'n anderer Typ. Hat sich über Warren lustig gemacht, und das machte mich rasend. Ich sag immer, wären alle Menschen so harmlos und gutmütig wie Warren, hätten wir auf dieser Welt keine Probleme.« Er kratzte sich an der Stirn. »Keiner hat das Recht, über Warren zu feixen. Keiner. Ich war gerade dabei, dem Kerl eine zu verpassen, als … als …« Zamorra sah, wie sich das Wasser in den Augen des Dicken sammelte. »Beschreiben Sie mir diesen anderen Mann, Mr. Crawford«, forderte Trush. Er zuckte die Achseln. »Er war groß, breit. Ein echter Schrank, wie übrigens auch Warren. Aber während Warren in Ordnung war, war dieser Kerl da 'n Arsch. Hat sich über Warren lustig gemacht, grad wo er erschossen wird. Das werd ich nie vergessen.« Zamorra trat zum Fenster und blickte auf das gegenüberliegende Haus, während er an den Wurm-Tentakel dachte, der aus dem
Einschussloch des toten Warren gekrochen war. Wenn Jimmy davon wüsste, würde sein Zorn überkochen, und er würde endgültig daran verzweifeln, was man seinem Freund angetan hatte. »Sehen Sie die Dachgeschosswohnung, Mr. Crawford?« Er nickte. »Von da ist die Kugel gekommen, hat die Polizei gesagt.« »Sie wurde vor ein paar Tagen neu vermietet. Sagt Ihnen der Name Bernhard Walker etwas?« »Is' das etwa der Mörder?« »Wir wissen nicht, wer der Mörder war.« Jimmy Crawford presste die Lippen zusammen. Dann ließ er einen tiefen Seufzer hören. »Wenn Sie ihn finden, dann sagen Sie mir nicht, dass Sie ihn geschnappt haben. Ich würd sonst kommen und ihm den Hals umdrehen. Ehrenwort.« Zamorra glaubte ihm auf Anhieb. Er ging zur Tür. »Was haben Sie jetzt vor?« Trush antwortete an Zamorras Stelle. »Als Erstes gehen wir was essen, und dann schauen wir uns die Dachgeschosswohnung an.« »Tun Sie mir 'n Gefallen. Nehmen Sie sich aus meinem Sortiment, was Sie wollen. Die Rechnung geht aufs Haus.«
Das Flugzeug, das um Viertel nach acht auf dem JFK-Airport in New York gestartet war, reiste mit der Sonne in Richtung Kalifornien und setzte um 8.30 Uhr Ortszeit auf der Landebahn des Los Angeles International Airport auf. Die heiße, trockene Luft erwischte Nicole wie ein Schlag, als sie aus dem Flieger stieg, doch die Hitze machte ihr nichts aus. Sie war einiges gewöhnt. Die Schatten standen senkrecht, und die Sonne brannte gnadenlos vom azurblauen Himmel herab. Noch bevor sie sich durch die Passkontrolle quälte, trat ein schlanker junger Mann auf sie zu und lächelte sie selig an. »Nicole Duval … Trush hat nicht übertrieben, als er Sie mir schilderte.« Sie erwiderte das Lächeln. »Wo Sie recht haben, haben Sie recht – aber wer sind Sie?«
»Philip Archer.« Er streckte ihr seine sehnige Hand entgegen. »Mein Kollege Robert Trush aus New York hat Sie mir angekündigt und mich über alle Details informiert. Ich bin sein …« Er grinste jungenhaft. »… sein Stellvertreter, was den Platz an Ihrer Seite angeht, solange Sie in Los Angeles weilen. Ein Job, den ich nicht nur im Zuge der guten kollegialen Zusammenarbeit mit den Kollegen aus New York gerne erfülle.« Das kann ich mir denken, dachte Nicole und störte sich nicht daran, dass der junge Cop sie mit Blicken auszog. Das war sie gewöhnt, und solange Archer nur Trush ersetzen wollte und nicht Zamorra, sollte es ihr recht sein. Philip Archer zog ein zusammengequetschtes Baseballcap aus seiner Tasche und drückte es Nicole in die Hand. »Hier. Hilft gegen die Sonne.« Sie nahm die Mütze und hielt sie in der Hand. »Brauche ich nicht.« Wenig später stopfte sie das Cap ins Handschuhfach eines dunkelblauen Lexus, zu dem Archer sie geführt hatte. Er startete den Wagen. »Ich habe einen Besuch bei Gordon Carver organisiert.« »Gordon Carver?« »Er war der Manager der toten Sheryl Clarke.« Es dauerte eine Stunde bis nach Hollywood. Nach fünf Minuten klappte Nicole den Sichtschutz auf der Beifahrerseite herunter, und nach einer Viertelstunde zog sie die Baseballkappe aus dem Handschuhfach und setzte sie auf. Philip Archer nahm es sichtlich zufrieden zur Kenntnis. »Steht Ihnen gut, Nicole.« Er berichtete, was er über Samuel Davery herausgefunden hatte. Das meiste davon wusste Nicole aus dem anonymen Brief, der sie überhaupt erst nach Amerika geführt hatte. Aber Archer brachte einige weitere Informationen. »Samuel Davery war ein knallharter Typ. Ein Kerl ohne Gewissen, der jeden Auftrag ausgeführt hat. Im Hafen hat er die miesesten Jobs angenommen, dann war er Rausschmeißer in einer Disco, bis er ein paar Cops krankenhausreif geschlagen hat und entlassen wurde. Zwei Jahre, davon eins auf Bewährung. Aber damit fing es erst richtig an.«
Nicole war froh, dass Archer sie offenbar als vollwertige Partnerin ansah und nicht dabei stehen blieb, sie als attraktives Püppchen zu betrachten. Sie dachte an den Samuel Davery, den Zamorra in New York bei Elvira Montgomerys Séance kennengelernt hatte – ein Mann, der nervös und verängstigt war, der sich vor seinem eigenen Schatten erschreckt hätte. Wie konnte ein Mann sich in so kurzer Zeit so radikal verändern? »Was ist ihm zugestoßen?«, murmelte Nicole. »Wenn Sie mich fragen, hat er einfach mit den falschen Leuten zusammengearbeitet. Es gibt Hinweise – allerdings nichts Handfestes –, dass er in Los Angeles und New York als Auftragskiller gearbeitet hat. Nur ein Mord ist ihm zweifelsfrei nachgewiesen, weshalb er auch fieberhaft gesucht wurde.« Nicole schüttelte den Kopf. »So einer ändert sich doch nicht von heute auf morgen und wird zum Hasenfuß. Kannte Davery Elvira Montgomery aus New York?« Philip Archer zuckte die Schultern. »Ich habe von Trush zum ersten Mal von dieser Hellsehernummer gehört. Ich kannte keine Frau namens Montgomery, und sie taucht in keiner Akte im Zusammenhang mit Davery auf.« Sie fuhren über den Hollywood Boulevard hinauf nach Beverly Hills. Unterwegs beschlich Nicole minutenlang das Gefühl, dass ihnen ein schwarzer Ford Mustang folgte. Aber ein paar Straßenecken vor ihrem Ziel bog er ab. Offenbar hatte er nur zufällig dasselbe Ziel gehabt. Gordon Carver, der Filmproduzent und frühere Manager von Sheryl Clarke, besaß ein Haus in der Nähe des Mullholland Drive, ein Traum aus weißem Backstein, mit einem fußballfeldgroßen Zierrasen davor, der von einem Marmorspringbrunnen bewässert wurde und von einer brusthohen Steinmauer eingefasst war. Archer ließ die Scheibe auf der Fahrerseite herunter und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage am Tor. Eine Kamera im Augenwinkel surrte herum. Der junge Cop blickte auf die Uhr. »Kurz nach halb vier«, flüsterte er Nicole zu. »Wir sind ein paar Minuten zu spät.«
»Ja, bitte?«, knarrte es im Lautsprecher. »Philip Archer und Nicole Duval. Wir sind mit Mr. Carver verabredet.« Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann fuhren die Torflügel auseinander. Archer beschleunigte den Wagen. Der Weg war mit weißen Sandsteinplatten ausgelegt und führte zu einem breit angelegten Haus mit einem Parkplatz davor, auf dem ein Rover, ein Jeep Cherokee und ein weißer Mercedes standen. Nicole stieg aus und zog die Baseballkappe tiefer in die Stirn. Sehnsüchtig warf sie einen Blick auf die Springbrunnen. Sie hätte zu gern ein Nacktbad im Wasser genommen. Sie hatte erwartet, von einem Butler empfangen zu werden, aber Carver persönlich öffnete ihnen. »Mein Herr und die Dame«, sagte er umständlich und blickte sie beide nur Sekundenbruchteile lang an, ehe er die Tür freigab. »Bitte kommen Sie doch herein.« Er war ein Mann Mitte vierzig, der mithilfe von Schminke, Puder und Haarfestiger versuchte, zehn Jahre jünger auszusehen. Um den Hals trug er eine goldene Kette mit einem Kreuz. Eine ähnliche Kette baumelte um sein Handgelenk, und der unruhige Blick, mit dem er abwechselnd auf seine Besucher und die schwere Casio G-Shock an seiner Hand blickte, verriet, dass er ihnen am liebsten sofort wieder die Tür gewiesen hätte. Er führte sie in sein Büro, das komplett in Schwarz gehalten war. Ein nierenförmiger Schreibtisch nahm das Zentrum ein, dahinter stand ein Designer-Chefsessel vor einem mahagonifarbenen Aktenschrank. Carver wies dem Cop und Nicole zwei zierliche Besuchersessel zu, in denen sie fast unter dem riesigen Schreibtisch verschwanden. »Sie sind fünf Minuten zu spät«, sagte Carver. »Ich habe um Viertel vor vier einen Telefontermin. Bitte stellen Sie Ihre Fragen.« Nicole ergriff die Gelegenheit. »Wie lange haben Sie für Miss Clarke gearbeitet, Mr. Carver?« Er lächelte indigniert. »Sie meinen wohl, wie lange Sheryl für mich gearbeitet hat, mein hübsches Kind. Nun, etwa fünf Jahre lang. Ich
habe ihr die Steigbügel gehalten, sie durch alle Talkshows geschleift. Ich habe einen Star aus ihr gemacht, und sie hat es mir gedankt, indem sie sich nach ihrem ersten großen Kinofilm den goldenen Schuss verpasste.« »Sheryl Clarkes Tod war demnach ein schwerer Schlag für Sie, Mr. Carver?«, hakte Nicole nach. »Ich habe eine Menge Geld in sie gesteckt, ganz richtig. Persönlich war sie mir völlig gleichgültig. Ein dummes naives Mädchen vom Lande, das in Hollywood das Glück finden wollte. Ich habe dafür gesorgt, ihr diesen Traum zu erfüllen. Das ist mein Job, wissen Sie. Ob Sheryl sich dabei wohlfühlte oder nicht, hat mich nie interessiert.« Wenigstens ist er ehrlich, dachte Nicole. »Könnte es sein, dass der Druck für sie einfach zu groß war?« Carver ließ verächtlich die Luft entweichen. »Die Welt ist, wie sie ist, und ich kann sie nicht ändern.« Seine Mundwinkel zuckten, als er Nicoles funkelnden Blick bemerkte. »Ich sehe, dass Sie von meiner Einstellung nicht gerade begeistert sind, aber das ist mir offen gesagt scheißegal. Sie sind … naja, was auch immer, die Begleiterin eines Cops, ich habe nicht weiter nachgefragt, weil ich Besseres zu tun habe. Ich bin Filmproduzent. Sie verstehen meine Welt nicht, und deshalb können Sie auch nicht ermessen, wie viel Geld ich durch Sheryls Tod verloren habe.« »Ich kann ermessen, dass ein Mensch gestorben ist«, sagte Nicole und wunderte sich, dass Philip Archer sich völlig in Hintergrund hielt und ihr die Gesprächsführung überließ. Carver zuckte die Achseln. »Ich habe Sheryl nicht getötet. Abgesehen davon leite ich ein Medienunternehmen und keine Sozialstation. Haben Sie noch weitere Fragen?« Nicole säuselte so höflich, wie es ihr möglich war: »Hat Miss Clarke vor ihrem Tod angedeutet, dass es ihr nicht gut ging? Hat sie vielleicht sogar um Hilfe gebeten?« »Sie hat um Dollars gebeten, wenn Sie das meinen, und zwar nahezu jeden Tag.« »Gab es einflussreiche Freunde?«, mischte sich Archer erstmals
ein, vielleicht weil es nun um ein Thema ging, das ihn brennend interessierte. »Irgendwie muss sie doch an das Rauschgift gelangt sein.« »Hören Sie, Mr. Archer, Sie scheinen noch ziemlich grün in Ihrem Geschäft zu sein, wenn Sie so fragen. Heroin bekommen Sie in Hollywood an jeder Ecke. Es gibt täglich mindestens ein Dutzend Partys, da baden die Leute förmlich in dem Zeug.« Carver kratzte sich am Kopf. »Ehrlich gesagt, ist das Thema Clarke für mich längst beendet. Ich habe jetzt ein paar neue Pferde im Stall, um die ich mich kümmern muss. Hadere nicht mit der Vergangenheit, sage ich immer. Befasse dich mit der Zukunft.« Er wollte aufstehen, aber zu Nicoles Überraschung sprang Archer auf und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf den Sessel zurück. »Ich sage dir, wenn wir fertig sind, Freundchen.« »Verdammt, was soll das?«, knurrte Carver. »Sie haben mich um ein Gespräch gebeten, ich habe ihnen gesagt, was ich von Sheryl wusste. Wenn Sie keinen Durchsuchungsbefehl haben, sollten sie jetzt auf der Stelle mein Haus verlassen!« Archer schlug die Beine übereinander, als hätte er Carvers Einwand nicht gehört. Er begann Nicole zu imponieren … offenbar war er alles andere als grün in seinem Geschäft, wie der Filmproduzent vermutet hatte. »Sagt Ihnen der Name Elvira Montgomery etwas?« Garver runzelte die Stirn. »Nie gehört.« »Ray Vincennes?« Dieser Name kam, wie aus der Pistole geschossen. »Auch nicht.« Carver starrte demonstrativ auf seine Uhr. »Wer soll das überhaupt sein?« »Elvira Montgomery und Ray Vincennes geben sich in New York als Hellseher aus«, erklärte Nicole. »Sie veranstalten Séancen, legen ihren Kunden die Karten und so weiter. Hatte Sheryl Clarke vielleicht auch ein Faible für solche Dinge?« »Woher soll ich denn das wissen?«, fauchte Carver. Dann besann er sich und fügte etwas leiser hinzu: »Ja, ich erinnere mich da an einige Dinge. Ich hatte sie mal bei mir zu Hause, ganz am Anfang
ihrer Karriere, um sie zu testen … na, Sie wissen schon.« Er kicherte schmierig, doch dann erlosch sein Grinsen, als er wohl bemerkte, dass Nicole nahe daran war, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. »Sie hat den ganzen Abend nur von Ihrem Horoskop geredet, verdammt, können Sie sich das vorstellen? Ich liege im Bett mit einem Rohr wie ein Elefant, der nach zwölf einsamen Jahren in der Savanne zum ersten Mal auf eine Elefantendame trifft, und dieses dumme Ding quatscht mich voll, dass es Ihre Bestimmung sei, Filmstar zu werden.« »Wie haben Sie reagiert?« »Ich hab sie reden lassen, was sollte ich sonst machen? Natürlich hielt ich sie für komplett gaga, aber wenigstens, sagte ich mir, wird diese Sache mit der Vorsehung später in der Presse eine gute Story abgeben.« »Dann hat Miss Clarke sich also öfter ihre Zukunft voraussagen lassen?« Er zuckte die Achseln. »Manchmal kam eine Frau zu ihr, so ein abgebrochenes Etwas mit schwabbelnden Oberarmen. Hässliches Weib! Sie erzählte Sheryl laufend Sachen, von denen ich kein Wort verstanden habe. Ich glaube, sie hat ihr auch die Karten gelegt.« »Und Miss Clarke richtete sich nach den Vorhersagen?« »Einmal wäre fast ein Fernsehauftritt geplatzt, weil in ihrem Horoskop stand, dass sie an diesem Tag in kein Auto steigen sollte. Ich hab das gesamte PR-Corps meiner Firma rotieren lassen, und wir haben irgendwo auf einem Privatflughafen einen Hubschrauber aufgetrieben. Eine Rostlaube aus den Sechzigern, die kaum noch flugtüchtig war. Aber Sheryl hat sich reingesetzt, denn von einem Helikopter stand in ihrem Horoskop nichts.« Das alles brachte Nicole keinen Schritt weiter. Sie hatte das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. »Wenn Sie mich fragen«, sagte Carver und lehnte sich zurück, »dann sind Mädchen wie die Clarke einfach zu weich für den Job – und zu dämlich.« »Sie fragt aber keiner«, ätzte Philip Archer. Carver musterte ihn mit einem kühlen Blick. »Sie hatte einen
Freund, einen Typen namens Frank del … hm, del Borges oder so. Ziemlich undurchsichtiger Kerl, aber Sheryl hat gemacht, was er wollte. Er hatte sie zugeritten wie ein Cowboy sein Pferd, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es war del Borges, der Sheryl und diese Wahrsagerin zusammengebracht hat.« »Wollen Sie damit sagen, er hat sie in den Tod getrieben?« Carver schüttelte den Kopf. »Sheryl hat ihren Untergang selbst zu verantworten. Es ist immer dasselbe. Ein Mädchen kommt mit einer Menge Flausen im Kopf in die Stadt, und dann zerschellen die Träume an der harten Wirklichkeit. Während der letzten Monate ihrer Karriere war Sheryl körperlich ein Wrack. Irgendwann hatte auch del Borges genug von ihr und verließ sie. Von da an lungerte sie nur noch mit irgendwelchen halbseidenen Typen herum und war scharf auf den nächsten Schuss. Ihre einzige Freundin war ein Mädchen namens Brenda Rain, das selber an der Nadel hing.« »Kennen Sie Brendas Adresse?« »Ich habe eine Telefonnummer. Von 'nem Handy.« Er griff nach seinem Palm, nannte die Nummer und schnaufte. »Ich glaube nicht, dass sie noch aktuell ist. Ich glaube nicht mal, dass Brenda Rain noch aktuell ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Haben Sie sie gekannt?« Er schüttelte den Kopf. »Sheryl hat manchmal von ihr erzählt. Ich lehne es ab, mich mit den Freundinnen meiner Starlets abzugeben. Wenn Dummheit schon nicht ansteckend ist – Armut ist es auf jeden Fall.« Er grub in einer Schublade und zog ein aufgeschlagenes TimeMagazin hervor. Auf der linken Seite war eine Frau in einem blauen Seidenkleid abgebildet, wie sie über einen roten Teppich stolzierte. »Das war Sheryl bei der Oscarverleihung vor fünf Jahren. Sie war nominiert und hat den Preis nur knapp verfehlt.« Er wollte das Magazin zurück in die Schublade stecken. »Dürfen wir das Foto mitnehmen?«, fragte Archer. Carver zuckte die Achseln. »Meinetwegen, aber die Sheryl von damals hat nichts mit dem Mädchen zu tun, das sich vor einem Jahr umgebracht hat. Sie hätten sie nicht wiedererkannt. Wissen Sie, ich hab zwar ein paar tolle Maskenbildnerinnen in meinem Team, die
sie immer wieder aufgemöbelt haben, aber als dann die ersten Paparazzi-Fotos Sheryls wahres Gesicht zeigten, war sie erledigt. Der goldene Schuss war das Einzige, was ihr noch blieb.« Nicole lächelte wie ein Werwolf in der Sekunde vor der Verwandlung. »Immer schön, wenn sich ein Problem von selbst erledigt.« Carver kniff die Augen zusammen. »Sie halten mich für einen Zyniker, und ich werde meine Energien nicht darauf verschwenden, Ihnen das Leben zu erklären, wenn Sie es nicht selbst kennengelernt haben, mein Kind.« Archer sagte: »Wir brauchen die Namen aller Personen, mit denen Sheryl Clarke während ihres letzten Lebensjahres Kontakt hatte – privat wie beruflich.« »Das wird 'ne verteufelt lange Liste, würde ich sagen.« »Wir brauchen vor allem den Namen der Wahrsagerin. Vielleicht können wir auf diesem Wege eine Verbindung zu Elvira Montgomery herstellen.« Der Filmproduzent stand auf und öffnete die Aktenschranktür. »Ich hab noch eine alte Visitenkarte von dieser Irren hier. Sheryl hat sie mir gegeben, damit ich sie im Notfall erreichen konnte. Verdammt, wo ist sie bloß. Ach, da hab ich sie ja.« Er gab Nicole die Karte. Nicole drehte sie in der Hand herum. In die Vorderseite war ein Yin-Yang-Symbol gestanzt und darunter drei Tarotkartensymbole. Der Turm, die Sonne und der Tod. Nicole hatte selten eine kitschigere Karte gesehen, aber was sie elektrisierte, waren nicht die lächerlichen Zeichen, sondern der Name, der in goldenen Kapitälchen darüber eingestanzt war. Jacky Bloome.
Das Handy meldete sich in dem Augenblick, als Zamorra und Trush Jimmy's Grocery Store verließen. Der dicke Jimmy hatte sie mit Sandwiches und Cola vollgestopft, bis sie das Gefühl hatten zu platzen.
Die Nummer auf dem Display des TI-Alpha kannte Zamorra auswendig. Sie gehörte Nicole. »Was gibt's?« Im Hintergrund vernahm er das Fahrgeräusch eines Wagens. »Trushs netter Kollege Philip Archer chauffiert mich gerade durch Los Angeles, und da dachte ich mir, ich nutze die Zeit, um dich anzurufen und über unser Gespräch mit Gordon Carver zu informieren, dem ExManager der toten Sheryl.« In diesem Moment schoben sich dunkle Wolken vor die Sonne und warfen Schatten auf die Straßenschluchten von Manhattan. Es schien nur noch eine Frage von Minuten zu sein, bis der Regen einsetzte. Zamorra wechselte die Straßenseite und ging auf den Eingang des Wohnhauses zu, aus dem auf Warren Murdock geschossen worden war. »Nur zu, du rufst im richtigen Moment an.« Nicole pfiff durch die Zähne. »Das Grundstück hättest du sehen sollen, Chef. Dafür muss der gemeine Mann fünfhundert Jahre arbeiten. Ach was, eher tausend.« »Was hat dieser Carver gesagt?« »Sheryl Clarke hat mein Mitleid, dass sie mit diesem Arschloch zusammenarbeiten musste. Er hat uns die Nummer einer Freundin von Sheryl gegeben – eine Brenda Rain. Wir … Warte mal, Cheri.« Zamorra vernahm eine ihm unbekannte Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Offenbar handelte es sich um diesen Philip Archer. »Bist du sicher?«, hörte er Nicole fragen. Wieder Archers Murmeln. »Irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Zamorra. »Da ist ein schwarzer Ford Mustang hinter uns. Er hat uns schon auf der Hinfahrt verfolgt.« »Vielleicht ein heimlicher Verehrer«, versuchte der Meister des Übersinnlichen zu scherzen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. »Er kommt näher. Jetzt hat er sich direkt dran gehängt. Die Scheiben sind verspiegelt.« »Gib mir das Kennzeichen. Trush steht direkt bei mir, er wird den
Wagen sicher für euch checken lassen.« »Keine Chance. Es ist total verdreckt. Ich glaube, wir sollten …« Ein Klirren riss Nicole die Worte von den Lippen. Es klang, als ob eine Scheibe geplatzt wäre. »Nicole!«, rief er. »Alles okay?« »Chef, der Kerl schießt auf uns!« »Wie viele sind es?« »Ich sehe nur die Knarre am Beifahrerfenster. Eine MPi.« Wie um Nicoles Worte zu bestätigen, knatterte es plötzlich im Handy. Nicole schrie auf. Wieder splitterte Glas. »Cheri, die Kerle wollen's wirklich wissen.« Nicole fluchte. »Und eine Kugel ist in die Rückbank geschmettert – die verwandelt sich in einen dieser verdammten Tentakelwürmer.« »Zerquetsch ihn«, ächzte Zamorra. Im selben Moment spürte er, wie sich Merlins Stern an der Kette um seinen Hals auflöste. Nicole hatte das Amulett gerufen, und es war augenblicklich in ihrer Hand materialisiert … nur würde es ihr wohl nichts nützen, genauso wenig wie zuvor. Sie hatte wohl eher aus einer Art Reflex gehandelt. Nicoles Antwort spiegelte all die Hektik wider, die sie weit entfernt umtrieb. »Leicht gesagt. Hier ist die Hölle los, und das Amulett bringt gar nix.« »Sag mir, wo ihr seid! Ich schicke euch Hilfe.« »West Hollywood. Auf dem Hollywood Freeway …« »Wo genau?« »Richtung Zentrum … Ich …« Das Knattern wiederholte sich, dann polterte es. »Nicole!«, schrie Zamorra. »Verdammt noch mal, rede mit mir!« Keine Antwort. Er hörte noch, wie Archer irgendetwas rief, dann brach die Verbindung ab. Erste Tropfen platschten auf Zamorras Stirn. Er wandte sich an Trush und setzte ihn mit knappen Worten in Kenntnis. Der Cop verfiel sofort in fieberhafte Aktivität, zückte sein eigenes Handy und telefonierte, um Nicole und Archer Hilfe zu schicken. Zamorra versuchte es noch einmal bei Nicole, aber eine kühle
computeranimierte Frauenstimme sagte ihm, dass der Gesprächspartner nicht erreichbar sei. Platzregen setzte ein. Um sie herum zogen Leute das Jackett über den Kopf und flüchteten in die Hauseingänge. Die Regentropfen hämmerten auf den Meister des Übersinnlichen ein, doch er blieb auf der Straße stehen wie betäubt.
»Kopf runter!«, schrie Philip Archer. Er rammte den zweiten Gang rein. Der Motor brüllte auf, und der Wagen machte einen Satz auf die rechte Fahrbahn, wo er sich Millimeter vor der Schnauze eines roten Trucks einfädelte. Der Fahrer hupte wie verrückt und zeigte ihnen einen Vogel. Aber der Fahrer des schwarzen Ford Mustang ließ sich nicht so leicht narren. Er gab Gas, bis er auf gleicher Höhe mit dem Truck war. Nicole warf den Kopf herum und sah gerade noch, wie der Typ auf der Beifahrerseite sich aus dem Fenster schob und die MPi anlegte. Mündungsfeuer blitzte auf. Archer presste den Fuß aufs Gas. Der Motor des Lexus röhrte gequält auf. Die Garbe hämmerte in die Fondtür. Eine Scheibe ging zu Bruch. Zwei Kugeln blieben in der Rückbank stecken und verwandelten sich blitzartig in schleimige Würmer. Nicole hatte sich längst abgeschnallt und drehte sich herum. Wie schon Sekunden zuvor rammte sie die Faust in die Kopfsektionen dieser magischen Viecher. Unter ihren Fingern barst es, und die gallertartige Körpersubstanz spritzte zur Seite weg. »Was …«, schrie Philip Archer, doch Nicole ließ ihn nicht aussprechen. »Nicht drum kümmern«, rief sie. »Bring uns hier raus, ich kümmre mich um den Rest.« Was sie tun musste, ekelte sie, aber zugleich war sie heilfroh, dass diese Würmer offenbar schwache Kreaturen waren. Einer tauchte plötzlich zwischen Rückenlehne und Kopfstütze auf und ringelte sich um ihren Hals. Blitzartig wurde ihr die Luft abgeschnürt. Sie packte zu und quetschte die Finger um die
schleimige Masse, zerfetzte das Ding und rammte es gegen die Seitenwand. Der Wurm zerfloss und löste sich auf. Nicole blickte sich hastig um. Nichts mehr zu sehen. Philip Archer schlug das Steuer nach rechts, bremste und zog den Kopf ein. Dann hatte er es geschafft, und der Lexus verschwand hinter dem Truck. Der junge Cop stieg weiter in die Eisen und ließ sich zurückfallen. »Was hast du vor?«, keuchte Nicole, während sie die neu entstehenden Würmer auf dem Cockpit zerquetschte, noch ehe sie eine Bewegung machen konnten. Eine makabre Arbeit. »Raus mit der Windschutzscheibe!« Philip Archer stieß das zerstörte Glas mit zwei, drei Hieben aus dem Rahmen. Die Scheibe flog über das Dach des Lexus und knallte hinter ihnen auf die Fahrbahn, wo sie von einem alten Pick-up überrollt wurde. Dem fetten Fahrer, der sich gerade ein zweites Mittagessen in den Mund stopfte, rutschte die Frikadelle aus dem Sandwich. Archer zückte eine Waffe. »Den Kerlen werden wir es zeigen!« Er ließ den Lexus weiter zurückfallen, bis sie das Heck des Trucks erreicht hatten. Kurz vor dem Pick-up fädelte er sich ein. Der Fahrer brüllte irgendwas und hupte. Das Sandwich flog aus dem Fenster und prallte gegen ein Baustellenschild, das eine Absperrung in einer Meile Entfernung ankündigte. Archer schob sich weiter nach links, hinter dem Truck hervor. Zwanzig Meter weiter vorn fuhr der Mustang immer noch gleichauf mit der Zugmaschine. Der Typ im Beifahrerfenster riss den Kopf herum, als der Schatten des Lexus plötzlich hinter ihm auftauchte. Die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen. Er wollte die MPi herumreißen, aber da zuckte bereits die Dienstwaffe in Archers Hand; das Steuer hielt er nur noch mit der Linken. Die Kugel traf den Unterarm. Der Kerl schrie auf, und die MPiGarbe hackte in die Ladeplane des Trucks. Der Koloss kam plötzlich ins Schleudern, der Anhänger neigte sich nach links. Nicole sah den Schatten über sich, doch Philip Archer konnte den Lexus gerade noch unter dem umstürzenden Anhänger hervorziehen. Hinter ihnen knallte der Anhänger auf die Straße, und die Plane riss wie
die Schale eines überreifen Pfirsichs. Tausende Limoflaschen und Dosen platzten und ergossen ihren Inhalt über die Straße. Im Handumdrehen war die Fahrbahn blockiert. Nicole hörte nur noch das metallische Kreischen, mit dem die nachfolgenden Fahrzeuge ineinanderkrachten. Der Fahrer des Mustang hatte ebenfalls rechtzeitig reagiert. Jetzt schleuderte er auf die linke Fahrbahn, und der Typ auf der Beifahrerseite legte neu an. Archer feuerte das gesamte Magazin seiner Waffe leer, aber diesmal war ihm das Glück nicht hold. Die Kugeln hackten in die Karosserie des Mustang und zerfetzten die Fondscheibe auf der Beifahrerseite. »Schieß auf die Reifen!«, rief Nicole. Archer zog den Lexus nach links, aus dem Schussbereich der MPi. Das leere Magazin fiel wie ein Stein aus seiner Waffe. Als es zwischen Nicoles Füßen landete, hatte er bereits ein neues eingeschoben. Er feuerte drei Mal. Eine Kugel traf den Kotflügel des Mustang und jaulte als Querschläger davon. Das nächste Schild. Noch eine halbe Meile bis zur Baustelle. Da beschleunigte der Fahrer. Der Mustang machte einen Satz und schob sich vor einen Lieferwagen, der Archer jede Schussmöglichkeit nahm. Er drückte aufs Gas, aber der Fahrer des Lieferwagens bremste abrupt ab und hätte den Lexus fast gerammt. Im letzten Moment riss Archer das Steuer herum. Der Lexus kam ins Schleudern und stellte sich quer. Der junge Cop kurbelte am Lenkrad und trat das Gaspedal durch. Der Lieferwagen war jetzt über hundert Yards entfernt, und irgendwo dahinter rollte der Mustang. Die Gegner hatten erkannt, dass ihr Überraschungsmoment vorbei war. »Verdammt, wieso ist diese Kiste so langsam?«, rief Archer. »Wenn sie uns jetzt entwischen, sehen wir sie nie wieder.« »Du kriegst sie«, erwiderte Nicole zuversichtlich. Sie bewunderte seine Leistung und vor allem, dass er angesichts der Wurmkreaturen die Nerven behielt. Vielleicht hatte sein Kollege Robert Trush ihn vorgewarnt. Philip Archer holte das Letzte aus dem Lexus raus und erreichte
den Lieferwagen in weniger als zwanzig Sekunden. Der Fahrer hob die Hände zum Zeichen, dass er mit der ganzen Sache nichts zu tun haben wollte. Der Lieferwagen driftete auf den Seitenstreifen ab. »Da vorn!«, rief Nicole. Gerade bog der Mustang auf die Baustellenabfahrt ein und durchbrach das Absperrband. »Was hat der Kerl vor?« Zehn Sekunden später hatte der Lexus die Abfahrt erreicht. Sie kamen dem Mustang jetzt immer näher. »Der wartet auf uns«, sagte Nicole. Ihr Misstrauen war geweckt – aber dann sah sie, dass der Mustang unrund lief. Irgendetwas mit der Hinterachse war nicht in Ordnung. Vielleicht hatte Archer einen Zufallstreffer gelandet. An der rechten Seite der Fahrbahn parkten Baustellenfahrzeuge. Ein Bagger hatte einen Teil des Asphalts aufgerissen. Bauarbeiter gestikulierten und sprangen zur Seite, als die beiden Wagen an ihnen vorüberrasten. Nicole wandte den Kopf zur Seite. »Weißt du, wie lang der Bauabschnitt ist?« »Das ist eine neue Trasse. Die bauen seit Jahren dran. Vielleicht anderthalb Meilen.« Nicole streckte die Hand aus. »Gib mir deine Waffe, dann kannst du dich aufs Fahren konzentrieren«, forderte sie. »Glaub mir, ich kann damit umgehen.« Sie ärgerte sich, dass sie den Laserstrahler der Dynastie der Ewigen nicht mit sich führte. Sie hatte nur ihren Dhyarra-Kristall dabei, und um ihn einzusetzen, fehlte ihr die nötige Ruhe. Ansonsten hatten sie sich auf das Amulett verlassen … ein Fehler. Doch nun war es zu spät, ihn auszubügeln. »Okay«, sagte Archer und reichte ihr die Pistole. Die umliegenden Häuser schienen mit jedem Meter, den sie zurücklegten, zu schrumpfen. Da begriff Nicole, dass es die Fahrbahn war, die in die Höhe ging. Sie verlief auf Pfeilern und führte in einem Bogen in Richtung des Golden State Freeway. Sie waren noch fünfzig Yards vom Mustang entfernt, als erneut der Typ mit der MPi im Beifahrerfenster erschien. Nicole feuerte sofort. Beidhändig durch das
windschutzscheibenlose Frontfenster. Die Heckscheibe des Mustang fiel in sich zusammen. Der Wagen schleuderte, kam aber wieder in die Bahn. Die MPi blitzte auf, und Archer wich zur Seite aus. »Verflucht, wie viele Magazine hat dieser Kerl eigentlich?« Nicht weit vor dem Mustang endete die Trasse. Von wegen anderthalb Meilen. »Komm schon«, rief Archer und raste weiter, stur geradeaus. »Dich krieg ich!« Nicole zielte erneut. Die Kugeln stanzten eine Kette von Dellen in das Kofferraumblech des Mustang, die langsam zur Heckscheibe hinaufwanderte. Der Typ mit der MPi sah das Unheil noch kommen, dann wurde er auch schon herumgerissen. Die MPi segelte durch die Luft und landete auf dem Asphalt. Aus dem dunklen Loch, in dem einmal die Heckscheibe des Mustang gesessen hatte, zuckten weitere Blitze auf. Die Kugeln fraßen sich in die Motorhaube des Lexus. Verdampfendes Kühlwasser schoss aus den Löchern. Einige Wurmkreaturen wurden vom Fahrtwind zur Seite gedrückt und flogen davon. Nicole glaubte zu sehen, wie sie sich in der Luft zurück in starre Metallkugeln verwandelten. Archer riss das Steuer herum. »Runter!« Nicole duckte sich auf dem Beifahrersitz, da hackten die Projektile auch schon in die Kopfstütze und weiter in das Blechdach. »Verdammte Scheiße«, knurrte Archer, »die haben ein ganzes Waffenlager da drin.« Nicole kam kaum mehr nach, die neu entstehenden Viecher zu killen. Ihre Fäuste hämmerten wieder und wieder zu. »Die sind uns über«, keuchte Archer und nahm den Fuß vom Gas. »Nein, fahr weiter!« Nicole richtete sich auf. Sie hatte alle Würmer erledigt und hob wieder die Waffe. »Ich krieg die Kerle. Verlass dich drauf.« »Sei kein Dummkopf. In deiner Waffe ist nicht mal mehr ein halbes Magazin.« »Vertrau mir einfach, okay?« Nicole war hin- und hergerissen.
Eine Viertelmeile vor dem Mustang endete die Straße. Der Typ saß in der Falle. Das bedeutete, er würde umdrehen, und damit wurde ihr Blatt noch schlechter. Ein paar Schuss gegen mindestens eine automatische Waffe. Archer warf den dritten Gang ein und drückte aufs Gas. Der Motor des Lexus röhrte gequält, aber der Wagen machte noch einmal einen Satz nach vorn. Im zerstörten Heckfenster des Mustang blieb es schwarz. Der Typ schien gerade das Magazin zu wechseln. Sekunden, die den Unterschied ausmachten. Dreißig Yards zwischen Mustang und Lexus, höchstens noch zweihundert Yards Asphalt vor dem Mustang. Archer presste das Gaspedal fast bis durch das Wagenblech. Alles oder nichts. Zehn Meter bis zum Mustang. Wenn der Fahrer jetzt bremste oder die MPi losknatterte … Nicole schoss. Die Projektile tanzten über das Kofferraumblech des Mustang. Nicole sah einen Schatten im Fond auftauchen. Ein blasses Gesicht, der Lauf einer MPi. Der Kerl wollte auf sie anlegen, da wurde er von einer Kugel aus Nicoles Waffe herumgerissen. Sie hielt nicht inne, sondern nahm den Fahrer aufs Korn. Der Mustang versuchte auszuweichen, geriet aber aus der Bahn und raste unkontrolliert auf das Fahrbahnende zu. Die Entfernung betrug höchstens noch fünfzig Yards. Nicole hielt die Luft an. Sie wartete darauf, dass der Mustang an Geschwindigkeit verlor, aber anscheinend war der Fahrer vollständig außer Gefecht gesetzt. Ungebremst raste das Fahrzeug auf die Kante zu. Der Mustang sauste über das Ende der Straße und fiel. Archer bremste den Lexus wenige Schritte vor der Kante ab und sprang aus dem Wagen; Nicole folgte. Ein dumpfer Knall drang herauf und trieb ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Hinter ihr trat der junge Cop an den Abgrund. Ungefähr vierzig Yards unter ihnen lag der Mustang hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken, das Wagendach wie von einer Riesenfaust zusammengedrückt. Die Räder drehten ins Leere.
»Ruf einen Rettungswagen«, sagte Nicole tonlos. Sie hörte, wie Archer sich entfernte, und wartete, ob sich an der Fahrerseite des Mustang etwas bewegte. Aber es war nichts zu sehen. Unwahrscheinlich, dass einer der Insassen den Sturz überlebt hatte. Nach einer Minute kehrte Nicole zum Lexus zurück. Der Wagen war durchlöchert wie ein Schweizer Käse, alle sechs Scheiben waren zerstört. Sie machte noch drei Wurmkreaturen ausfindig und zerquetschte sie. Plötzlich sprang sie eins der schleimigen Wesen von der Seite an und wieselte unter ihr Top, ringelte sich zwischen den Brüsten hindurch und schloss sich blitzschnell um den Hals. Nicole würgte, packte zu – doch diesmal gelang es ihr nicht, das Biest einfach zu besiegen. Es zog sich kraftvoll zusammen. Ihr blieb die Luft weg. Ihre Finger krampften sich in den Wurm. Sie spürte eine warme, schleimige Masse unter den Fingernägeln. Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie wollte um Hilfe schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Archer blickte noch immer nach unten, zu dem abgestürzten Mustang. Nicole löste den Griff, versuchte anderswo Zugang zu finden, um den Wurm von ihrem Hals zu lösen. Gleichzeitig berührte etwas ihre Beine, wand sich um den Knöchel, quetschte schmerzhaft zu und glitt an den Schenkeln nach oben. Sie ertastete die Kopfsektion des Wurmes, der sie würgte. Sie bohrte beide Daumen tief in die Masse, knickte sie und zerrte sie auseinander. Der Wurm verendete, der Würgegriff löste sich. Nicole saugte Luft ein, schlug ihr Bein gegen den Wagen, in der Hoffnung, den zweiten Wurm zu zerquetschen. Archer wurde auf den Lärm aufmerksam, drehte sich um. Seine Augen weiteten sich, er rannte los, um Nicole zu helfen. Sie atmete schwer, hatte das Gefühl, ihr Kehlkopf wäre zermalmt worden. Archer ging neben ihr auf die Knie, packte zu und riss die Kreatur von Nicoles Bein. Angeekelt schleuderte er den Wurm zur Seite, kam auf die Füße und trat zu. Es knackte, als die Schädelsektion platzte.
Erst jetzt begriff Nicole, was für ein Wunder es war, dass sie überhaupt noch lebten. »Alles in Ordnung«, sagte sie und massierte ihren Hals. »Gerade noch.« Archer starrte auf die schleimigen Überreste, die sich eben in Luft auflösten. Er blieb zurück, um auf den Rettungswagen zu warten. Nicole ging los, um nachzuschauen, ob sie noch irgendwelche dieser Höllenwürmer erwischte. Wenn sich alle fehlgegangenen Kugeln in solche Viecher verwandelt hatten … nicht auszudenken, wie viele dann an der ganzen Strecke herumkrochen. Sie konnte nur hoffen, dass sich nur solche Kugeln verwandelt hatten, die zielgerichtet die anvisierten Opfer angreifen hätten können. Ihre Beobachtung, als einige vom Fahrtwind weggerissen wurden und sich in Projektile zurückverwandelten, sprach dafür. Kaum hatte sie sich einige Schritte vom Lexus entfernt, entsann sie sich an Zamorra und informierte ihn darüber, dass alles gut ausgegangen war … wenigstens was Nicoles Leben betraf.
5. Als Nicole ihn per TI-Alpha informierte, dass sie den Angriff der noch immer Unbekannten überlebt hatte, fiel eine Tonnenlast von Zamorras Schultern. Bis auf die Haut durchnässt, erreichte er den Hauseingang gegenüber von Jimmy's Grocery. Warrens Mutter wohnte in der zweiten Etage. Der Meister des Übersinnlichen und sein Partner Robert Trush statteten ihr einen Besuch ab, erfuhren aber wenig Neues. Warren Murdocks Tod passte nicht zu den anderen Morden. Nichts deutete darauf hin, dass Ray Vincennes oder Elvira Montgomery ihn gekannt hatten. Ein geistig behinderter Mann wäre wohl auch kaum ein interessanter Kunde für sie gewesen. Sie gingen weiter nach oben. Im Treppenhaus roch es nach Schimmel und Urin. Von den Wänden blätterte die Farbe, die Decke war übersät mit Wasserflecken. Irgendwo schrie ein Kind und wurde gleich darauf von seiner Mutter übertönt. Die Treppenstufen knarrten unter ihren Schuhen. Im obersten Stockwerk wurde die Treppe noch einmal schlechter. Die Stufen bogen sich durch, einige wiesen Löcher auf. Zamorra hatte Sorge, die Treppe würde unter ihm zusammenbrechen. Es befand sich nur eine einzige Tür im obersten Stockwerk. Sie war versiegelt, aber das Siegel war aufgebrochen. Die Tür stand offen. Trush zog seine Dienstwaffe aus dem Holster. »Ich geh zuerst.« Zamorra widersprach nicht und folgte dem Cop, der jedoch auf keinerlei Widerstand stieß. Die Luft in der Wohnung war abgestanden und roch nach Bier und altem Schweiß, als hätten die Zimmer jahrelang als Schlupfwinkel für Obdachlose gedient. Die Risse in den Wänden zogen sich von der Decke bis zum Boden. Stumpfe, verzogene Holzdielen bogen sich unter ihren Füßen. Ein
Durchgang, dessen Türzarge wie von einem Geschoss zersplittert war, führte in einen Raum, dessen Fenster zur Straße zeigte. Nur ein schummriger Lichtstreifen fiel durch die schmutzige Scheibe, obwohl es draußen taghell war. Die Fensterbank war von einer Staubschicht bedeckt, die jedoch an drei Stellen fortgewischt war – Abdrücke des Dreibeins, auf dem der Lauf des Sturmgewehrs geruht hatte. Also wurde tatsächlich aus einem Gewehr gefeuert, dachte Zamorra. Dieser seltsame Kugelwurm stammte aus einer Waffe … und war wohl anfangs ein scheinbar ganz normales Projektil. Das passte genau zu dem, was Nicole berichtet hatte. Ein extrem ungewöhnlicher Vorgang; der Meister des Übersinnlichen konnte sich nicht erinnern, je zuvor etwas Ähnliches gehört zu haben. Die Gestalt hatte sich so weit in den Schatten neben der Tür zurückgezogen, dass nur Zamorras Instinkt ihn warnte. Trush bemerkte den anderen im selben Augenblick. Ruckartig fuhr seine Hand mit der Waffe herum. »Polizei! Keine Bewegung.« Die Mündung zeigte auf einen Mann von schwer bestimmbarem Alter. Er konnte dreißig sein oder auch vierzig und trug einen abgewetzten Mantel und schwarze Lederschuhe. Seine Gestalt war schmächtig und steckte in einem beigefarbenen Cashmere-Mantel. Er hatte ein kantiges Kinn und lange Koteletten, wie sie vor einigen Jahren wieder in Mode gekommen waren. Die Augen konnte Zamorra nicht sehen, da sie hinter einer getönten Sonnenbrille verborgen waren. Seine Hände steckten in den Manteltaschen, und Trushs Waffe ruckte automatisch nach oben, als er sie hervorzog. »Ganz sachte!«, mahnte der Cop. Der Unbekannte drehte ihm die Handflächen zu und lächelte. Seine Lippen waren schmal wie Papier und seine Zähne gelb, als hätte er sich seit seinem elften Lebensjahr ausschließlich von Kaffee und Zigaretten ernährt. »Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte Zamorra. »Das sollte ich wohl besser Sie fragen. Schließlich ist das hier meine Wohnung. Sie hätten sich wenigstens die Schuhe ausziehen können nach dem Regenguss.«
»Sie sind Bernhard Walker?« Er nickte. »Ich war ein paar Tage nicht da. Offenbar ist in der Zwischenzeit einiges geschehen.« Zamorra kniff die Augen zusammen. »Sie sind Hauptverdächtiger in einem Mordfall, Mr. Walker.« »Wen soll ich ermordet haben?« »Einen Mann namens Warren Murdock. Mit einem Sturmgewehr. Von diesem Fenster aus.« Zamorra trat auf ihn zu. Trush zielte weiterhin mit der Waffe auf ihn. »Ich muss Sie mit zum Revier nehmen.« Walker zeigte sich wenig beeindruckt. »Ich kann diesen Mann unmöglich erschossen haben.« »Sie können Ihre Aussage auf dem Revier zu Protokoll geben.« »Sie verstehen nicht. Ich kann Warren Murdock nicht erschossen haben. Wie hätte ich das anstellen sollen?« Er nahm die Sonnenbrille ab. Dort, wo sich die Augen hätten befinden müssen, war nichts als graues, vernarbtes Bindegewebe zu erkennen. Bernhard Walker war blind.
Sie verließen das Wohnhaus. Trush fluchte unablässig. »Ich werde diesen Barnaby kreuzigen! So was schimpft sich Sergeant und mein Untergebener! Wenn er und seine Leute ein bisschen besser recherchiert hätten, hätten wir uns den peinlichen Auftritt sparen können. Walker hat recht – er kann unmöglich der Killer sein.« Obwohl es ganz danach aussah, zweifelte Zamorra tief in seinem Inneren daran. Wenn Magie im Spiel war, war alles möglich … selbst die Möglichkeit, dass Walker trotz der fehlenden Augen nicht blind war, ließ sich nicht ausschließen. Doch noch wollte er nicht so weit denken. Selbst ihm erschien diese Erklärung zu haarsträubend. »Es war jedenfalls eine ziemliche Blamage.« »Wenn Sie mich fragen, Professor, befinden wir uns hier auf einer toten Spur. Vielleicht war Ray Vincennes tatsächlich nur zufällig am Tatort.« Trush zog mit entschuldigendem Grinsen sein Handy, als es
in der Tasche zu dudeln begann. Er hörte lange zu und brummte dann: »Gut, Barnaby … aber mit Ihnen hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen!« Ohne weitere Erklärung beendete er die Verbindung. Der Parapsychologe konnte sich nur zu gut vorstellen, wie dem Sergeant in diesem Moment das Herz in die Hose rutschte. »Gute Nachrichten«, sagte Trush. »Es gibt neue Erkenntnisse über die Briefe, die Ihnen geschickt wurden, Zamorra. Die Fingerabdrücke wurden identifiziert. Sie gehören einem Mann namens Frank del Borges, straffällig geworden wegen Erpressung und Betrugs. Das war vor fünf Jahren. Damals wohnte er in Downtown Manhattan.« »Und jetzt?« »Jetzt ist er tot. Er starb vor dreizehn Monaten bei der Explosion einer Bombe, die nicht nur ihn, sondern auch seine Freundin und ein Kleinkind in den Tod riss.« Zamorra sah dem Cop in die Augen. »Also hat mir ein Toter die Briefe geschickt?« »Barnaby versucht zurzeit, alles über del Borges herauszufinden, was die Computer hergeben. Er wurde vor 37 Jahren in Boston geboren und zog später mit seiner Familie nach New York. Er hatte einen ziemlich geregelten Lebenswandel bis zu seinem 19. Lebensjahr. Dann tauchte er unter. Wir wissen, dass er nie verheiratet war, aber er hatte offenbar diverse Liebschaften. Es gibt keine Hinterbliebenen.« »Was hat del Borges in New York gemacht?« »Eben das wissen wir nicht. Alles, was wir haben, ist eine Sozialversicherungsnummer. Keine Jobs, keine Kredite, keine Bausparverträge. Der Mann ist ein weißes Blatt Papier.« Trush seufzte tief. »Außerdem hat sich Barnaby kundig gemacht wegen dem, was Ihre Freundin Nicole berichtet hat. Vor einer Viertelstunde wurde dem LAPD eine Schießerei auf dem Hollywood Freeway gemeldet. Es gab einen umgestürzten Truck, eine Massenkarambolage und mehrere Schwerverletzte. Rettungshubschrauber sind unterwegs.«
»Wenigstens haben Nicole und Ihr Kollege, dieser …« »Philip Archer. Ist ein guter Junge. Ich habe ihn vor einem Jahr kennengelernt.« »Wenigstens haben die beiden überlebt.« Trush nickte. »Da ist noch etwas, das Sie interessieren dürfte.« Er machte eine Pause. »Barnaby hatte einiges zu vermelden. Halten Sie sich gut fest. Ray Vincennes ist vom Revier geflohen.« »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« »Vincennes musste nur noch das Protokoll unterzeichnen, dann hätten ihn die Kollegen gehen lassen. Aber er musste ja den starken Mann spielen, einem von meinen Männern die Nase brechen und sich durch den Hinterausgang davonmachen.« »Er hat einem Cop die Nase gebrochen?« Zamorra konnte sich partout nicht vorstellen, wie der hagere Vincennes so viel Kraft entwickelt haben sollte. »Und die versammelte Mannschaft war nicht in der Lage –« »Stopp, Professor!«, raunzte Trush. Seine Laune sank sichtlich in den Keller. »Ich weiß genau, was Sie sagen wollen. Meine Leute haben Mist gebaut, und einige von denen werden ab morgen die Herrentoilette schrubben.« »Wo ist Vincennes?« »Haben Sie nicht zugehört? Er ist weg. Auf und davon. Hat sich in Luft aufgelöst, verdammt noch mal.« Wenn Trush mit normaler Stimme sprach, hatte man schon das Gefühl, in einen Tornado zu geraten. Jetzt fühlte sich der Meister des Übersinnlichen wie im Zentrum einer Sonneneruption. »Hat man einen Fahndungsbefehl rausgegeben?« »Glauben Sie, meine Leute sind absolut dämlich?« Erneut klingelte Trushs Handy. »Nicht schon wieder«, knurrte er und ging ran. Zamorra beobachtete ihn gespannt – welche Neuigkeiten würde es jetzt schon wieder geben? Trush verdrehte die Augen und sagte drei Mal in kurzer Folge »Ja«, gefolgt von einem »Ja, Sir«. Dann legte er auf und ließ das Handy wieder verschwinden. »Vincennes ist nur ein einfacher Gauner, und nicht einmal das wissen wir so genau. Aber kaum haut
er ab, schon klebt irgendein Wasserträger des Bürgermeisters am Telefon und macht mir die Hölle heiß. Sogar irgendeinen Typen von der Presse will er vorbeischicken, um Schadensbegrenzung zu betreiben. So ein Idiot … profilieren will der sich, sonst nichts. Werde mich weigern, mit dem zu sprechen. Pressefritzen! Alles Mistmaden.« Zamorra verfolgte den Wutausbruch halb amüsiert. So hatte er Trush noch nicht kennengelernt. Offenbar steckte eine tief cholerische Ader in ihm. »Wohin könnte Vincennes geflohen sein?« »Sie wollen eine ehrliche Antwort? Ich habe keinen blassen Schimmer. Wir haben zwar seinen Wohnsitz, aber er müsste ja mit dem Klammerbeutel gepudert sein, um dort aufzutauchen. Wir werden das Verhörprotokoll nach einem Hinweis durchgehen.« Zamorra dachte daran, wie er Vincennes vor wenigen Stunden gegenübergesessen hatte. Er hatte nervös gewirkt, aber trotz allem gefasst. Jetzt wusste der Dämonenjäger, dass Vincennes Angst hatte. Angst vor dem Mörder, dem bereits Warren Murdock und Sam Davery zum Opfer gefallen waren. »Ich denke, Sie haben erst mal genug zu tun, um der Bürokratie Herr zu werden und den Bürgermeister und seine Leute ruhig zu stellen.« Er grinste. »Und um Barnaby anzupfeifen. Wenn es Ihnen recht ist, trennen wir uns erst mal.« Trush nickte. »Aber wir bleiben in Verbindung. Halten Sie Ihr Handy ständig auf Empfang. Und sowie es etwas Neues gibt, melden wir es dem anderen.«
Zamorra ließ das Taxi zwei Straßen von Elvira Montgomerys Haus entfernt in der South Bronx anhalten. Ray Vincennes hatte den Kopf verloren. Und an wen wendet man sich, wenn man den Kopf verliert? An den Menschen, dem man am meisten vertraut. Das TI-Alpha meldete sich, als er ausstieg. Auf dem Display tauchte Nicoles Nummer auf. »Wo bist du?«, fragte er seine Geliebte. »Ist alles in Ordnung mit dir und Philip Archer?« Ihre Stimme klang müde. »Ein paar Kratzer von den Scherben,
aber sonst sind wir beide heil geblieben. Wie's aussieht, kriechen auch nirgends welche von diesen Höllenwürmern herum – die scheinen sich zielgerichtet nur dann auszubilden, wenn sie einen speziellen Auftrag haben … und der lautet wohl, uns anzugreifen. Sie sind allerdings nicht besonders gefährlich.« »Zumindest nicht für uns, weil wir mit solchen Viechern umgehen können«, schränkte Zamorra ein. »Im Prinzip könnte jeder sie zerquetschen, aber ich glaube nicht, dass ein … hm … normaler Mensch vor lauter Entsetzen dazu fähig wäre.« Nicole ließ ein leises Lachen hören. »Philip Archer hat sich als überaus beherzt erwiesen. Vielleicht hat Trush ihn im Vorfeld geimpft, vielleicht steckt auch mehr dahinter. Er lenkt immer ab, wenn ich das Gespräch darauf bringe. Genau wie Trush selbst übt er sich in Schweigen. Übrigens hat es unsere Verfolger schlimmer erwischt. Ihr Auto ist fünf Etagen in die Tiefe gestürzt und auf dem Dach gelandet.« »Gibt es Überlebende?« »Kann ich von hier oben nicht sehen. Die Rettungskräfte ziehen gerade etwas aus dem Fond. Chef, ich glaube nicht, dass jemand diesen Sturz überlebt hat.« »Lass Archer die Identitäten der Toten feststellen. Vielleicht ist jemand darunter, mit dem wir was anfangen können.« Er lachte leise. »Irgendetwas muss es ja bringen, mit den Cops zusammenzuarbeiten.« »Was hat dein Besuch bei diesem Walker ergeben?« Der Meister des Übersinnlichen trat in eine Pfütze; Schmutzwasser befleckte seine Hosenbeine. »Walker ist blind. Er kann Warren Murdock also kaum erschossen haben.« »Aber seine Wohnung wurde benutzt. Vielleicht hat er was mit der Sache zu tun.« »Nici, er hat die Wohnung vor einer Woche gemietet. Sie ist nicht renoviert. Es befanden sich keine Möbel drin. Wenn du mich fragst, sind wir da in einer Sackgasse gelandet.« »Was schlägst du vor?« »Kümmert ihr beide euch um diese Brenda Rain, die mit Sheryl
Clarke befreundet war. Ich glaube zwar nicht, dass ihr etwas Neues erfahren werdet, aber wo du schon mal in der Sonne bist, kannst du deinen Urlaub auch noch um ein paar Stunden verlängern.« »Urlaub nennst du das?« Zamorra konnte förmlich sehen, wie ihre Augen funkelten. »Vielen Dank, Chef. Lass du dich mal mit einer MPi zusammenschießen und dein Auto halb auseinanderrasieren. Wo bist du jetzt?« »Auf dem Weg zu Montgomerys Haus. Ray Vincennes ist vom Revier geflohen.« »Sag das noch mal.« »Frag einfach nicht, okay? Ich muss Schluss machen.« Zwei Jungen, beide nicht älter als acht Jahre, hockten in Zamorras Nähe auf dem Kantstein. Sie trugen schmutzige T-Shirts und aufgerissene, weite Jeans, die ihnen in Rapper-Manier in den Kniekehlen hingen. Der linke der beiden hatte sein Baseballcap verkehrt herum aufgesetzt. Der andere trug ein Stirnband und hatte mehr Sommersprossen auf der Nase als Haare auf dem Kopf. Sie grinsten ihn an, und der mit der Baseballkappe fragte: »Was kostet denn so 'n feiner Anzug, wie du ihn anhast, Alter?« »Mehr als deine Hosen, Kleiner.« Der Junge starrte Zamorra empört an. »Ich werd nächsten Monat fünfzehn, Mister.« »Klar, und ich werd fünfundneunzig.« »Wahrscheinlich höchstens dreißig Dollar«, sagte der andere. Sein Kumpel warf ihm einen Blick zu. »Nee, mehr.« »Wollt ihr euch ein paar Dollar verdienen?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. »Seht ihr das Haus dahinten?« »Das von der Hexe – klar, Alter.« »Ihr kennt sie?« »Wer kennt die nicht, Mann! Die ist schräg drauf. Schräger als die Mutter von Eminem.« Zamorra runzelte die Stirn. Dabei musste er ziemlich blöd ausgesehen haben, denn die beiden starrten sich an und kicherten. »Der kennt Eminem nicht«, sagte der mit dem Baseballcap. »Ich glaub, der is' wirklich fünfundneunzig.«
Der Sommersprossige wippte mit dem Oberkörper. »Die Hexe is' komisch drauf, Alter. Mixt Kräuter und so 'n Zeug. Sagt Leuten die Zukunft voraus.« »Zwei Dollar, wenn ihr an ihrer Tür klingelt.« »Und was soll'n wir ihr sagen?« »Ihr lauft einfach weg. Ist nur ein Klingelstreich.« Der Sommersprossige verschränkte die Hände vor der Brust. Er wirkte plötzlich unsicher. »Die verhext uns vielleicht. Dann werden wir zu Stein wie diese Schlangenfrau. Medusa.« Offenbar hatte der Junge nur äußerst verschwommene Vorstellungen der griechischen Mythologie und brachte einiges durcheinander. »Euch passiert nichts, ich gebe euch mein Wort drauf. Ich will nur wissen, ob die Frau zu Hause ist.« »Die ist immer zu Hause. Aber sie macht nie die Tür auf. Nicht tagsüber. Das ist wegen dem Sonnenlicht. Sie zerfällt dann zu Staub, Mann.« Ganz sicher schien er sich dabei allerdings nicht zu sein. »Okay, für zehn Dollar machen wir's. Ist 'n gutes Geschäft, Mann.« »Fünf.« »In Ordnung.« Zamorra gab ihnen eine Fünf-Dollar-Note und schickte sie los. Er selbst ging um das Haus herum. Ein Plattenweg führte nach hinten. Die Platten waren zersprungen und glitschig vor Moos. Hinter dem Haus wuchs ein riesenhafter Kirschbaum, der gerade in voller Blüte stand. Ein Holzzaun grenzte das Grundstück ein, aber die meisten Latten lagen verfault auf dem Boden. Das Haus besaß eine Terrasse, auf der ein paar leere Blumenkübel standen. Keine Tische, keine Stühle. Vielleicht war Elvira Montgomery ja tatsächlich allergisch gegen Sonnenlicht … dieser Gedanke, den die beiden Jungen in ihrem kindlichen Aberglauben vorgebracht hatten, ließ Zamorra nicht mehr los. War die Montgomery am Ende selbst eine magisch-dämonische Kreatur? Aber warum war Merlins Stern dann inaktiv geblieben? Er konnte das Wohnzimmer gut einsehen, als er hörte, wie die Jungen vorne klingelten. Nichts rührte sich. Er drückte die Klinke herab. Die Tür war nicht verschlossen, also
betrat er das Wohnzimmer. Alles war so, wie er es von der Séance in Erinnerung hatte. In der Mitte des Raumes stand der ebenholzfarbene Tisch, an dem sie gesessen hatten. Schwere Vorhänge, Brokatimitate, rahmten die Fenster ein. Auf einer Kommode standen ein paar seltsame Figuren. An der Wand hingen orientalische Masken und afrikanische Amulette. Neben der Tür zum Flur hing eine Totenmaske, wie aus einem Katalog des National Geographic. Zamorra tippte auf Papua-Neuguinea. Fünfzehn Minuten später hatte er das Haus bis auf den letzten Winkel durchsucht. Es war niemand da, aber das hatte er auch nicht anders erwartet. Die Kleiderschränke im Schlafzimmer waren bis unter die Decke gefüllt, er fand zwei leere Reisekoffer in einer Abseite. Nichts deutete darauf hin, dass Elvira Montgomery verreist war. Der Meister des Übersinnlichen fragte sich zum wiederholten Mal, warum Ray Vincennes geflohen war. Waren sie nah an der Lösung des Rätsels? So nah, dass die Beteiligten Panik bekamen? Hatte Vincennes ebenso den Kopf verloren wie Elvira Montgomery, die ebenfalls verschwunden war? Oder war noch etwas ganz anderes im Spiel? Unten drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Zamorra warf einen Blick über die Brüstung des Treppengeländers. Die Haustür öffnete sich. Eine Gestalt schlüpfte herein und warf die Tür hinter sich ins Schloss. »Elvira!« Es war Ray Vincennes' Stimme. »Elvira, verdammt, wo steckst du?« Zamorra ging zur Treppe und stieg die Stufen hinunter. Die Gestalt im Flur drehte sich um. »Na endlich, ich hab schon gedacht, du bist abgehauen. Die Polizei wird bald hier sein, und mit ihr wahrscheinlich dieser Parapsychologe, der überall herumschnüffelt. Wir müssen sofort von hier verschwinden.« Er stockte. »Elvira?« »Daraus wird leider nichts, Ray. Der schnüffelnde Parapsychologe ist nämlich schon da.«
Los Angeles Der verrottete Bungalow befand sich am Rande eines Trailor Parks im Nordwesten der Stadt. Ein schlammiger Weg führte zur Eingangstür. Zu beiden Seiten stapelten sich Müllsäcke. Nicole sah sich um. Die anderen Bungalows sahen nicht besser aus. Überall morsches Holz, verrottete Zaunpfähle und Fensterläden, die, halb aus den Scharnieren gerissen, im Wind pendelten. Dies war der Teil von Los Angeles, der niemals in irgendeinem Werbeprospekt erscheinen würde. Sie klopfte. »Miss Rain?« Ein Hund begann hinter der Tür zu kläffen. Philip Archer deutete zum Nachbargrundstück hinüber, wo der Kopf einer Frau in einem Fenster erschien. Sie trug Lockenwickler, und die letzten dreißig Jahre, in denen Jack Daniels ihr einziger Freund gewesen war, hatten sich tief in ihr Gesicht gegraben. »Guten Tag, Ma'am. Archer, Los Angeles Police Department. Wohnt Miss Rain hier?« »Na endlich. Wurde auch Zeit, dass Sie kommen. Hab die Schlampe doch schon vor 'ner ganzen Woche angezeigt.« »Angezeigt? Warum?« »Wegen dem Köter. Scheißvieh. Bellt den ganzen Tag und die ganze verdammte Nacht. Ich würde ihn erschießen, wenn ich nahe genug rankäme.« »Wir sind nicht wegen der Anzeige hier. Wir möchten Miss Rain nur ein paar Fragen stellen.« Da erklangen schleppende Schritte hinter der Tür. »Höllenochmal, wer issenda?« »Archer, Los Angeles Police Department«, ließ er erneut seinen Spruch vom Stapel. Nicole stellte sich brav neben ihn, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Die Tür öffnete sich. Eine Frau mit strähnigen schwarzen Haaren erschien. Sie trug einen grünen Bademantel und mochte vielleicht
fünfundzwanzig Jahre alt sein, aber ihr Blick war stumpf und ihre Stimme mindestens fünfzehn Jahre älter als ihr Körper. Ihr linker Ärmel war aufgekrempelt. Sie machte sich nicht die Mühe, die vernarbte Haut in der Armbeuge zu verdecken. Zwischen ihren Beinen wieselte ein Pinscher umher, der die Besucher misstrauisch beäugte. »WaswollnSievonmir, Mister?« Brenda Rain bewegte den Mund kaum, wenn sie sprach, sodass Nicole sich bemühen musste, um die Worte zu verstehen. »Brenda!«, schrie die Frau vom Nachbargrundstück. »Sag deinem Scheißköter, er soll sein Maul halten.« »HaltselbstdeinMaul«, nuschelte Brenda zurück und starrte wieder Nicole an. »Wir haben ein paar Fragen an Sie«, sagte Archer und hielt es nicht für nötig, zu erklären, wer seine Begleiterin war. Sollte die abgehalfterte Person sie doch für seine Dienstpartnerin halten. »Dürfen wir reinkommen?« »KeineZeitjetzt.« »Es wird nicht lange dauern, Miss Rain.« Ihre Kiefer mahlten, dann winkte sie ab und gab die Tür frei. Der Gestank von Kot und verfaulten Eiern traf Nicole wie ein Schlag. »He!«, rief die Frau vom Nachbargrundstück. »Was ist denn jetzt mit meiner Anzeige?« »Wir werden uns darum kümmern.« »Scheißbullen!« Er betrat das Haus, und Nicole folgte ihm. Sie versuchte, möglichst flach zu atmen. »WasfürFragen?«, krächzte Brenda ungehalten und warf sich auf einen blassrosafarbenen Stoffhaufen, der früher mal ein Sofa gewesen sein mochte. Der Pinscher sprang auf ihren Schoss. Als Nicole ihn anblickte, bleckte er die Zähne. »Braver Hund«, sagte Nicole. Vor dem Sofa stand ein Tisch, der mit schmutzigem Geschirr übersät war. Dazwischen lagen auch ein Heroinbesteck, ein Feuerzeug und eine Venenpresse. Das erklärte auch, weshalb
Brenda nicht besonders scharf drauf gewesen war, Besuch zu empfangen. »Es geht um eine frühere Freundin von Ihnen«, sagte Nicole. »Sheryl Clarke.« Der Gestank kam aus der Küche. Dort regte sich jetzt etwas. Ein Schatten erschien in der Tür. Ein glatzköpfiger Mann, der einen Kopf kleiner als Archer war, aber die gedrungene Figur eines Bodybuilders besaß. Seine Hände, die sich unentwegt öffneten und schlossen, waren groß wie Schaufelräder. »Wer zur Hölle ist das denn, Brenda?« Er wollte auf Nicole zugehen, aber Archer trat ihm in den Weg und hielt ihm seine Marke vor die Nase. »Ganz ruhig, Rambo.« Eine Faust, so groß wie eine Melone, schoss nach oben. Die Marke flog durch die Luft. Nicole packte seinen Arm, doch Rambo riss sich los. Sein zweiter Schlag, der eigentlich auf Nicoles Gesicht zielte, wischte über sie hinweg, weil sich Nicole blitzschnell duckte. Sie riss den Gegner mit einem Tritt gegen das Knie von den Beinen. Rambo stieß einen Klagelaut aus und stürzte zu Boden, wo er in einem Haufen alter Pizzaverpackungen verschwand. Noch bevor er sich aufrappeln konnte, spürte er Archers Dienstwaffe unter seiner Nasenspitze. »Lust auf einen Nachschlag, Freundchen?« »Schon gut, Mann! Bleib cool.« »Na prima. Wir wollen deiner Freundin nämlich nur ein paar Fragen stellen.« Rambo verzog das Gesicht. »Seh ich aus, als wär die Schlampe meine Freundin? Ist meine Schwester, verdammt!« »Und wenn sie deine Urgroßmutter wäre«, sagte Archer. »Du wirst dich jetzt hier auf den Boden setzen, und zwar kerzengerade. Wir wollen ja nicht, dass du Rückenschmerzen bekommst. Die Hände hältst du so, dass ich sie sehen kann. Dann hältst du so lange die Klappe, bis wir von deiner Schwester erfahren haben, was wir wissen wollen. Hast du das kapiert, oder war das zu viel auf einmal?« Rambo setzte sich auf den Hosenboden und wischte sich einen
Spritzer Tomatensoße vom Kinn. »Bleib cool, Mann«, flüsterte er wieder. Der junge Cop steckte die Waffe ein. Aber seine Haltung ließ keinen Zweifel daran, dass er Rambo jederzeit im Auge behielt. Er nickte Nicole anerkennend zu. Hast ihn gut von den Beinen geholt. Nicole wandte sich wieder an Brenda, die das Gerangel mit völligem Desinteresse verfolgt hatte. »Sheryl Clarke«, wiederholte sie. Brenda Rain kicherte und entblößte dabei gelbe, ungepflegte Zähne. »Sherry. Shitshitshit, isdaslangher.« Sie lehnte sich zurück und zog einen Schmollmund. »Sherryisttot. Begrabenunvergess'n.« »Sie war Ihre beste Freundin«, warf Nicole ein. Brenda linste sehnsüchtig zu dem Besteck hinüber. »Brenda«, sagte Nicole. »Beantworten Sie einfach unsere Fragen, dann sind Sie uns ganz schnell wieder los. Woran ist Sheryl gestorben?« »Hat sich'ngoldenen Schussgesetzt, Mister«, kicherte Brenda. Ihre Nasenflügel zuckten. Dann rann plötzlich eine Träne über ihre Wange. »ArschlochdieSherry. Hatmicheinfach sitz'nlass'n.« »Brenda, sagt Ihnen der Name Jacky Bloome etwas?« Brenda schniefte und zog die Nase hoch. »Kennichnich.« »Frank del Borges?« Ihr Blick flackerte. »LassnSiemich in Ruhe. Ichwill alleinsein.« »Sie braucht ihren Stoff«, wandte Rambo ein. Archer warf ihm einen warnenden Blick zu, dann ging er um den Tisch und setzte sich neben Brenda. Sie rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. Mit der Linken schob er das Heroinbesteck zur Seite. »Wünsch dir was war gestern, meine Teure. Heute beantwortest du einfach nur unsere Fragen. Oder ich kippe das Zeug hier in den Müll. Willst du das?« Sie stöhnte. »Bittenich, Mister. Ichbrauchdas. Wirklich.« »Was ist mit Jacky Bloome?«, fragte Nicole. »Jacky …«, flüsterte Brenda. Weitere Tränen flossen. »Sie … siewar SherrysFreundin. Hat ihr dieZukunftgeles'n un' so. War 'ne starkeZauberin.«
»Hatte sie großen Einfluss auf Sheryl?« Brenda atmete tief ein. »Jackywar'ne Schlampe. Hieltsich fürwas Besseres. Sherry hat allesgemacht, wasJackysagte.« »Und Frank del Borges?« Als sie nicht antwortete, schob Archer das Besteck so weit fort, dass es fast über die Tischkante fiel. »Del Borges war Sheryls Freund«, sagte er, »und zwar bis zu ihrem Tod. Sie müssen ihn gekannt haben.« Ihre Hände zitterten jetzt. Sie streckte die Finger nach der Spritze aus. »BitteMister …« Nicole bedeutete Archer mit einem Blick, einen Gang runterzuschalten. Sie kniete sich vor dem Sofa hin, sodass sie auf Augenhöhe mit Brenda war. »Warum haben Sie Angst vor del Borges, Miss Rain?« Brenda starrte sie an und schien überhaupt nicht zu begreifen, was sie sagte. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und schüttelte den Kopf. Schließlich flüsterte sie kaum hörbar: »Erbringtmichum. Ganzsicher tuterdas.« »Frank del Borges kann Sie nicht mehr umbringen«, sagte Nicole. »Er ist tot. Er starb ein paar Wochen nach Sheryl, bei einer Explosion.« Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder. Die Tränen waren fort, aber ihre Lider waren geschwollen. Sie schluckte, und ihr Blick irrte wieder zu der Spritze. »Er ist bestimmtnichttot.« »Wie meinen Sie das, Miss Rain?«, fragte Nicole. »HamSiedie Leichegeseh'n?« »Wir haben den Bericht gelesen.« »WennSiedie Leichenich gesehnham, isserauchnich tot.« Eine Weile herrschte Schweigen. Rambo raschelte zwischen den Pizzapappen, aber als Archer ihm einen kalten Blick zuwarf, wurde er sofort wieder still. »Miss Rain«, sagte Nicole, »warum haben Sie Angst vor del Borges? Was hat er Ihnen und Sheryl getan?« »Er … Er …« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr Körper zuckte. »Sieverstehndasnicht!« Sie sprang auf. Ihr Gesicht war
plötzlich vor Wut verzerrt. »Frankie warn Schwein! Derhatmichangefasst, verstehnsie? Und Sherry haterauchangefasst – auchwennsie nichwollte! Er hat …« Der Rest ging in einem Weinkrampf unter. Sie murmelte etwas Unverständliches. Nicole versuchte, einen Zusammenhang zu erkennen. Einen Zusammenhang zwischen Jacky Bloome, Elvira Montgomery und Frank del Borges. Wo war die Klammer, die alles zusammenhielt? »Hat del Borges für Jacky Bloome gearbeitet?«, fragte Archer. Als Nicole ihn zweifelnd anblickte, sagte er: »Könnte doch alles nur Show gewesen sein, die Sache mit Sheryl Clarke. Vielleicht sollte er sie ein bisschen unter Kontrolle halten.« Brenda heulte noch immer. Zwischen den Pizzapappen raschelte es wieder. »Die kann Ihnen nichts sagen«, brummte Rambo verächtlich. »Dich hat keiner gefragt, Freundchen«, knurrte Archer. Rambo verdrehte die Augen. »Mann, Kumpel, siehst du nicht, dass sie völlig fertig ist? Die könnte euch nicht mal sagen, wer gerade Präsident ist.« »Aber du kannst das, wie?« »Geben Sie ihr die Spritze. Sie braucht dringend einen Schuss.« Archer und Nicole wechselten einen Blick. Jeder von ihnen dachte dasselbe. Sie konnten nicht zulassen, dass Brenda Rain sich vor ihren Augen mit Heroin vollpumpte. »Geben Sie ihr die Spritze«, beharrte Rambo. »Sehen Sie Brenda doch an. Sie braucht Hilfe. Einen Entzug. Ich habe Freunde, die ihr helfen können. Deshalb bin ich hier.« Archer baute sich vor ihm auf. »Denk dir lieber 'ne bessere Geschichte aus. Eben hast du uns gesagt, Brenda ist dir scheißegal, und jetzt bist du auf einmal ihr Sozialarbeiter.« Rambo drehte den Kopf zur Seite. »Sie ist vielleicht 'n verdammter Scheißjunkie, aber sie ist immer noch meine Schwester.« »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Archer. »Stephen. Stephen Gael.« »Wie kommt es, dass Sie so gut über del Borges Bescheid wissen?« In Gaels Augen blitzte Hass auf. »Er hat sie an die Nadel gebracht,
Mann. Ich hab ihr immer gesagt, dieser Typ ist Gift für dich, Brenda. Genauso wie für Sherry. Ihr müsst ihn loswerden. Aber sie wollten nicht auf mich hören.« »Also war del Borges ein Dealer?« Gael zuckte die Achseln. »Kein Mensch weiß, was er wirklich war. Er hat nie über sich gesprochen. Aber er hatte immer ein bisschen ›H‹ bei sich, wenn Brenda danach verlangte.« »Wie lange waren Sheryl und er zusammen?« »Drei Jahre, vielleicht vier.« »Hat er sie geschlagen?« Gael schnaufte. »Es gibt kaum was, das er nicht getan hat. Wenn ich ihn heute in die Finger kriegen würde, wäre er tot besser dran als lebendig!« »Von wem bekam del Borges den Stoff?« »Da müssen Sie Brenda fragen.« Sie hob den Kopf. Ihr Blick flackerte. »Brenda«, sagte Nicole, »woher bekam del Borges den Stoff, den er Ihnen gab?« »Da … da warn Typ«, stotterte sie, »zudemer immer fuhr … 'n Arzt.« »Der Name?« »Stan … oder so ähnlich.« »Stan wie?«, fragte Archer. Stephen Gael stand auf. Archer ließ ihn gewähren. »Geben Sie ihr die Spritze«, sagte Gael, »und ich sage Ihnen alles über Frank del Borges, was ich weiß.«
New York Im Haus von Elvira Montgomery »Zamorra, verdammt!«, entfuhr es Ray Vincennes. Es war das erste Mal, dass der Parapsychologe ihn wirklich außer Fassung geraten sah. Sein Seidenanzug sah auf einmal reichlich
zerknittert aus, und sein Gesicht war so weiß wie das Einstecktuch in seiner Brusttasche. »Was haben Sie hier verloren?«, knurrte er. »Ich dachte mir, Sie kommen vielleicht vorbei«, sagte Zamorra lapidar. »Mit den Cops im Revier wollten Sie ja nicht mehr reden.« »Sie haben kein Recht, hier zu sein! Das ist Hausfriedensbruch.« »Rufen Sie 911 an«, schlug der Meister des Übersinnlichen vor. Vincennes schnaubte und verzog das Gesicht. »In Ordnung, was wollen Sie? Sind Sie gekommen, um mich den Bullen auszuliefern?« Zamorra drängte ihn ins Wohnzimmer. Er ließ sich auf einmal widerstandslos führen wie ein abgerichteter Hund. Seine Arme hingen lang und kraftlos herab, als hätte jemand Bowlingkugeln daran gekettet. Er setzte sich auf einen Stuhl; Zamorra nahm ihm gegenüber Platz. »Ich weiß nichts«, sagte Vincennes tonlos. »Worüber?« »Über alles.« »Falsche Antwort.« Der Dämonenjäger lehnte sich zurück. »Von mir aus können wir hier noch zwei Tage herumsitzen. Aber ich denke mir, Sie haben es vielleicht ein bisschen eiliger. Mein neuer bester Freund Robert Trush hat ihr Konterfei bestimmt schon an sämtlichen Flughäfen und Bahnhöfen aushängen lassen. Flucht aus Polizeigewahrsam, Vertuschung einer Straftat, Beihilfe zum Mord. Das gibt eine schöne Liste. Aber wenigstens brauchen Sie dann nicht mehr Miss Montgomery, um in die Zukunft zu schauen, Ray. Im Knast ist nämlich ein Tag wie der andere, und die wenigsten davon sind besonders angenehm.« Zamorra lächelte ihn an. »Sie können natürlich auch mit mir zusammenarbeiten. Dann sieht die Sache etwas freundlicher für Sie aus. Mein Wort zählt inzwischen etwas bei den Verantwortlichen der Polizeidienststellen.« Vincennes blinzelte. »Sie – wollen mich gehen lassen?« Der Meister des Übersinnlichen zuckte die Achseln. »Ich bin widerrechtlich in dieses Haus eingedrungen. Sagen Sie mir einfach, was ich wissen will, Ray, und anschließend sind wir beide nie hier gewesen.«
Er schloss die Augen und seufzte. »Ich kann Ihnen nicht helfen.« »Schade. Ich dachte nämlich, ich könnte Ihnen helfen.« Zamorra zückte das Handy. »Warten Sie, Professor!« Vincennes' Schultern hingen plötzlich herab wie die Äste einer Trauerweide. »Jetzt ist es sowieso egal. Was wollen Sie von mir wissen?« »Wer hat Warren Murdock umgebracht?« »Ich schwöre Ihnen, Zamorra …« »Ray«, unterbrach der Parapsychologe ihn. »Schwören können Sie vor dem Richter. Hier will ich Antworten.« »Ich weiß es nicht. Ich schwöre … ich meine, ich weiß es wirklich nicht.« »Warum waren Sie am Tatort?« »Ich habe gefrühstückt.« Zamorra wählte 911. »Okay, okay. Ich wollte mich in Jimmy's Grocery Store mit jemandem treffen.« »Mit wem?« Vincennes schluckte wieder. »Sie werden mich umbringen.« »Wer?« »Montgomery, wer denn sonst. Sie und die anderen.« »Warum sollten Sie das tun?« Vincennes lachte auf und schüttelte den Kopf. »Sind Sie wirklich so naiv? Glauben Sie wirklich, es geht bei diesem ganzen Hokuspokus darum, irgendwelche Toten anzurufen? Außerdem …« Er presste die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen. »Außerdem ist es schon lange kein reiner Hokuspokus mehr.« Er sah sich panisch um. »Shit, darüber darf ich nicht reden.« Endlich war Zamorra nahe dran, mehr über das zu erfahren, was ihn wirklich interessierte. »Erzählen Sie mir mehr. Welche Magie hat sich eingemischt? Wer hat …« Ein Schuss ins Blaue: »… die Hölle angerufen? Elvira Montgomery?« »Es geht um Geld. Um verdammt viel Geld.« Er holte tief Luft. »Die Séancen, die Geisterbeschwörungen … Das ist alles nur Show, immer noch. Die Leute sind naiv. Sie wollen glauben, dass Elvira
Montgomery ein Medium ist. Wir suchen uns die Leute aus. Vermögend müssen sie sein. Wenn möglich, außerdem alleinstehend. Falls mal was passiert … Sie wissen schon.« »So wie bei Sheryl Clarke, der Hollywood-Actress.« Er nickte stumm. »Ray, ich will Namen. Wer ist an der Sache beteiligt? Und wo kommt echte Magie ins Spiel?« »Montgomery hat sich einen großen Anteil am Gewinn gesichert. Neben diesem Haus, das nur für die Séancen genutzt wird, besitzt sie noch ein Anwesen in der Nähe des Lincoln Park.« Er nannte die Adresse. »Trotzdem ist sie selbst nur eine Schachfigur, genauso wie ich. Wir müssen tun, was er uns sagt.« »Er? Von wem sprechen Sie?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« »Sie stecken ziemlich tief drin, Ray.« »Sie haben ja keine Ahnung. Ich will Garantien.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Garantien bekommen Sie, wenn ich weiß, was Sie zu sagen haben. Oder auch nicht. Wenn es nämlich nicht so interessant ist, wie Sie mir glauben machen wollen, habe ich bloß meine Zeit mit Ihnen verschwendet.« Er zögerte. »Okay, fangen wir mal ganz am Anfang an. Warum musste Parker Jackson sterben?« »Ich kenne keinen Mann dieses Namens.« »Das ist nicht die Antwort, die ich hören will, Ray. Versuchen Sie's noch mal.« »Okay, okay. Ich hab mal von ihm gehört. Er hat für denselben Menschen gearbeitet, für den Elvira und ich arbeiten. Aber dann ist er irgendwann spurlos verschwunden. Ich wusste nicht, dass er tot ist.« Zamorra beschloss, die harte Tour zu fahren. »Er lag auf dem Grund des Hudson, Ray, und zwar seit über einem Jahr. Sie können sich vorstellen, dass er nicht mehr besonders gut aussah, als er hochgetrieben ist.« »Jackson war einer der Leute fürs Grobe. Genauso wie Frank del Borges und dieser Davery.«
»Und genau wie Jackson sind auch die beiden anderen tot. Ob das vielleicht ein Zufall ist?« Das stimmte nicht ganz, auch wenn Frank del Borges angeblich bei einer Explosion vor einem Jahr ums Leben gekommen war. Aber er hatte Zamorra die Briefe geschrieben, also war er ganz offensichtlich noch am Leben. Etwas hielt Zamorra davor zurück, Ray Vincennes davon zu erzählen. Er wollte seine Karten nicht zu früh auf den Tisch legen. »Davery starb bei einem Autounfall«, sagte Vincennes. »Sie selbst waren Zeuge.« Der Meister des Übersinnlichen nickte. »Und ich war ebenfalls Zeuge, wie er ein paar Minuten zuvor von Elvira Montgomery bei der Séance eine versteckte Drohung erhielt. Vielleicht sollte er ja sterben, Ray. Vielleicht nahm der Autounfall ja nur vorweg, was früher oder später sowieso passiert wäre.« Vincennes' Blicke huschten durch den Raum. Sein Gesicht war bleich. Schweißperlen tropften von seiner Stirn. »Davery hatte damit gedroht, zur Polizei zu gehen. Er wollte aussteigen und den Cops alles über Elviras Machenschaften erzählen. Elvira erkannte, dass er ein Risiko darstellte, das sie ausschaltete.« »Indem sie ihn tötete.« »So … so war es wohl. Ich weiß das nicht genau. Aber … aber diese … verdammte Magie ist sicher dazu in der Lage, den Fahrer zu übernehmen und ihn als Henker zu missbrauchen. Ein paar Sekunden weiß der Kerl nicht, was er tut, und schon ist Davery tot.« Genau diese Überlegung hatte Zamorra inzwischen auch angestellt, und er ärgerte sich maßlos, dass er den Fahrer damals nicht näher unter die Lupe genommen hatte. Aber damals hatte er noch geglaubt, es nicht mit einem magischen Verbrechen zu tun zu haben, sondern mit einem Unfall. »Und die anderen? Parker Jackson? Frank del Borges? Sie starben beide vor einem Jahr, wie auch Jacky Bloome, das andere Medium in Kalifornien. Was ist vor einem Jahr passiert, Ray?« »Ich … ich kann es Ihnen nicht sagen.« »Dann sagen Sie mir, wer der Mann an der Spitze ist. Der Mann, für den Elvira Montgomery arbeitet. Ist er ein Dämon?« Aber wenn
ja, warum sollte er sich um Geldgeschäfte kümmern? Vincennes lachte humorlos und voller Angst. Er lockerte seinen Krawattenknoten. »Ich will eine Garantie«, wiederholte er. »Ich will straffrei ausgehen.« »Das ist nicht zu machen. Das einzige Versprechen, das ich Ihnen geben kann, ist, bei Robert Trush ein gutes Wort für Sie einzulegen.« »Dann werden Sie niemals erfahren, wer dahintersteckt.« Zamorra verschränkte die Hände vor der Brust. »Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, dass es diesen ominösen Oberboss gar nicht gibt. Sie haben ihn erfunden, um von sich abzulenken.« »Das stimmt nicht!« »Dann überzeugen Sie mich endlich!« Vincennes wand sich. Dann sagte er mit stockender Stimme: »Die Sache reicht weit zurück. Ungefähr zehn Jahre. Damals überlegte sich Elvira Montgomery, dass die Hellseherinnen-Nummer eine gute Möglichkeit wäre, um an schnelles Geld zu kommen. Zunächst lief es auch nicht schlecht. Aber sie hat die Schwierigkeiten, die die Zeit mit sich bringen würde, unterschätzt. Um an wirklich großes Geld herauszukommen, müssen Sie nämlich auch ein großes Risiko eingehen.« »Ich verstehe nicht ganz.« »Elvira brauchte Hilfe. Leute, auf die Sie sich verlassen konnte. Leute, die es verstanden, die Kunden bei der Stange zu halten, solange noch Geld aus ihnen herauszupressen war. Und da kam ihr diese verrückte Idee mit den …« Die Wohnzimmerscheibe hinter Ray Vincennes zersplitterte. Sein Oberkörper wurde nach vorn geschleudert, sodass er mit dem Gesicht auf den Tisch knallte. »In Deckung!«, schrie Zamorra und riss ihn herunter, während er sich selbst unter den Tisch fallen ließ. Eine zweite Kugel zischte haarscharf über Vincennes hinweg. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses bewegte sich ein Schatten. Ein Kerl in schwarzer Kleidung, mit kurzen, schwarzen Haaren. Er rannte über das Dach und verschwand auf der Rückseite.
»Ray, alles in Ordnung? – Ray!« Vincennes' Gesicht war blutüberströmt. Seine Nase war gebrochen – wahrscheinlich durch den Aufprall auf den Tisch. Aber das war nur die bessere von zwei schlechten Nachrichten. Die andere war die kreisrunde Austrittswunde auf Vincennes' Stirn. Der unbekannte Schütze hatte sein Opfer mit einem einzigen Schuss erledigt. Zamorra riss die Terassentür auf und rannte durch den Garten. Von dem Schützen war nichts mehr zu sehen. Er musste sich auf der Rückseite des Nachbarhauses befinden. Der Meister des Übersinnlichen erreichte das Nachbarhaus. An der Nordseite blieb er stehen und lugte vorsichtig um die Ecke in den Garten hinter dem Haus. Alles war ruhig. Da vernahm er ein Rascheln, als wenn jemand durch eine Hecke von dicht stehenden Sträuchern bräche. Gleichzeitig steckte ein dürrer Mann mit breitem Mund und eingefallenen Wangen seinen Kopf aus dem Fenster. »Wo ist er hin?«, rief Zamorra den arglosen Nachbarn. Der Mann zeigte auf die Koniferenhecke auf der anderen Seite. Tatsächlich führte eine Spur im Gras auf die Hecke zu. Zamorra wetzte hinterher. Hinter der Hecke zog sich ein Metallzaun entlang. Dahinter verlief der Bürgersteig. Hastige Schritte entfernten sich. Zamorra drang durch die Hecke und flankte über den Zaun. Der Typ im schwarzen Anzug lief die Straße nach Süden entlang. Das Gewehr hatte er weggeworfen. Er trug noch eine leichte Waffe in der Rechten. Er hatte einen ordentlichen Vorsprung, und er schien verdammt durchtrainiert zu sein. Zamorra holte alles aus sich heraus. Es pochte hinter seiner Stirn, seine Lungen begannen zu brennen. Der Schwarzgekleidete blieb stehen und sah sich um. Er erkannte, dass er es wohl nicht bis zur Hauptstraße schaffen würde, sprang über einen alten Holzzaun und verschwand auf einem Grundstück hinter einem verwahrlosten Haus, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren. Kinder spielten am Vordereingang und starrten mit großen Augen auf Zamorra, als er den Zaun erreichte.
»Wo ist er hin?« Sie deuteten hinter das Haus. Der Meister des Übersinnlichen lief zum Eingang und presste sich gegen die Hauswand. Das Gelände war unübersichtlich – Sträucher, hohe Gräser. Hinter dem Haus ragte eine mächtige Kastanie empor. Er schob sich bis zur Ecke der Hauswand und riskierte einen Blick auf den hinteren Teil des Grundstücks. Niemand zu sehen. Er ging voran. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Kerl konnte hinter jedem Strauch hocken, oder vielleicht hatte er sich auf der anderen Seite des Hauses versteckt. Zamorra fuchste es, dass er keine Schusswaffe bei sich trug – er musste sich über Trush dringend eine besorgen. Das Amulett und ein Dhyarra-Kristall waren in diesem Fall einfach nicht die richtigen Waffen. Er näherte sich der Hausecke, die zur Rückseite führte. Er sprang nach vorne, rollte sich ab und kam wieder auf die Füße. Niemand war zu sehen. Die Rückseite des Hauses war noch verfallener als der Eingang. Steine waren aus der Wand gebrochen, die Fensterscheiben blind und ein Teil der Bretter herausgerissen. Die leeren Fenster starrten ihn an wie Augenhöhlen. Er kniff die Augen zusammen, aber das Innere des Hauses blieb ein schwarzes Loch. Er lief zurück an die Hauswand, immer in Bewegung bleibend. So bot er wenigstens kein leichtes Ziel. Seine Blicke flogen über das Grundstück. Auf der rechten Seite schloss sich eine Rasenfläche an, ebenfalls nicht sonderlich gut gepflegt. Aber das Haus dahinter war bewohnt. Ein alter Mann mit weißen Haaren lugte neugierig aus dem Dachfenster. Auf der anderen Seite war eine Baracke mit vernagelter Eingangstür. Keine Sträucher, keine Bäume, und damit auch keine Deckung für Zamorras Gegner. Wenn er irgendwo verschwunden war, dann durch die zerstörten Fenster in das Innere dieses Hauses. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und lauschte. Er ist weg, hämmerte es hinter seiner Stirn. Du glaubst, er hat sich im Haus verschanzt, aber er ist längst auf und davon. Er tastete sich zu einem der Fenster vor. Im Gras unter dem
Fenster waren keine Fußabdrücke zu sehen. Vor dem anderen Fenster ebenso wenig. Am anderen Ende der Hauswand pendelte eine Holztür im Wind. Er drückte sie langsam auf. Rasch wechselte er von einer Seite der Tür auf die andere. Der Innenraum der Baracke war voller Gerümpel und schlecht zu überblicken. Trotzdem riskierte er es. Mit einem Satz sprang er hinein. Er sah einen alten Kleiderschrank ohne Türen, ein Sofa, aus dem die Polster herausgerissen waren. Ein umgestürzter Tisch, dem zwei Beine abgebrochen waren. Von der Decke hing eine alte Glühbirne ohne Lampenschirm. Zamorra tastete nach dem Lichtschalter. Kein Strom. Er wagte sich in die Mitte des Raumes vor. Die Schatten in den Ecken des Raumes schienen zu leben. Der Kerl konnte überall auf ihn lauern. Da vernahm er ein Knacken hinter dem Sofa. Er näherte sich dem Sofa und trat gegen die Lehne. Es kippte nach hinten. Der Platz dahinter war leer. Im selben Augenblick spürte er einen Pistolenlauf in seinem Nacken. »Keine Bewegung, Professor.« Eine Frauenstimme, leise und ruhig. Sie klang weder panisch noch nach einer Frau, die gerade eine halbe Meile durch die Stadt gehetzt war. »So ist es gut«, sagte sie. »Drehen Sie sich nicht um, Zamorra. Wenn Sie sich umdrehen, sind Sie ein toter Mann.« Er schnaufte. »Warum haben Sie Ray Vincennes umgebracht?« »Sind Sie allein?« Der Meister des Übersinnlichen zögerte mit der Antwort, und der Druck in seinem Nacken wurde stärker. »Ja, ich bin allein.« »Musstest wohl den Superhelden spielen.« »Bisher lebe ich noch, Miss Unbekannt.« Ihre Stimme war jetzt ganz nah an seinem Ohr. »Ja, weil ich noch nicht abgedrückt habe.« Zamorra wog seine Chancen ab. Vielleicht konnte er sie überraschen. Vielleicht auch nicht. Er entschloss sich, es nicht darauf ankommen zu lassen. Der Ton, in dem sie mit ihm sprach, machte
deutlich, dass sie ihm etwas erklären wollte. Sie wollte ihn nicht umbringen. Jedenfalls hoffte er das. »Wer sind Sie?«, fragte er. »Sie sind nicht Frank del Borges, der mir die Briefe geschrieben hat. So viel hab ich selbst mitbekommen. Hat er Sie engagiert?« »Ich weiß von keinen Briefen«, sagte sie. »Warum geben Sie nicht einfach auf? Die Cops werden Sie früher oder später kriegen. Sie haben keine Chance.« »Sie verstehen nicht. Hier geht es um mehr als ein paar Menschenleben. Manchmal sind die Opfer in Wirklichkeit die Täter.« »Wollen Sie damit sagen, dass Sie auf einem Rachefeldzug sind?« Vielleicht war sie eine von Elvira Montgomerys Kunden und fühlte sich über den Tisch gezogen. Aber das war wohl kaum ein Grund dafür, einen nach dem anderen aus Elviras Team zu töten. »Haben Sie auch Parker Jackson umgebracht? Und Warren Murdock? Und was sind das für überaus seltsame Waffen, die Sie und Ihre Kumpels benutzen? Kugeln, die zu Tentakelwürmern werden.« »Sie stellen zu viele Fragen. Das ist ungesund.« »Sie sollten sich stellen. Mord ist niemals eine Lösung.« »Es ist kein Mord«, zischte sie, und der Druck verschwand aus Zamorras Nacken. »Es ist einfach nur Gerechtigkeit.« Der Meister des Übersinnlichen schloss die Augen in der Erwartung, dass sie abdrücken würde. Er hatte dem Tod schon oft ins Auge gesehen. Es war das schrecklichste Gefühl, das er kannte. Bisher war er jedes Mal davongekommen. Aber es gibt für alles ein letztes Mal. War es heute gekommen? »Wenn Sie mich umbringen, kleben morgen noch mehr Cops an Ihrem Hintern. Robert Trush ist mein Partner, das wissen Sie wohl.« Er hatte gehofft, dass sie antworten würde. Dass er Zeit gewinnen konnte. Stattdessen drückte die Killerin fester zu und nahm die Waffe zurück. »Das war's, Professor. Ende des Gesprächs.« »Verdammt, hören Sie auf! Reichen die Toten, die Ihnen bereits jetzt das Gewissen schwer machen, nicht aus?« Seine Gedanken rotierten. Es ist nur Rache, hatte sie gesagt. Wessen Rache? Und
wofür? »Hören Sie zu. Ich werde nicht um mein Leben betteln. Ich will nur das Beste für Sie und mich. Wenn Sie mich am Leben lassen, haben Sie vielleicht noch eine Chance …« Das war Unsinn, und sie wusste es bestimmt auch. Für den Richter würde es kaum einen Unterschied machen, ob sie drei oder vier Menschen auf dem Gewissen hatte. Er wartete auf den Schuss. Und wartete. Nach zehn Sekunden schöpfte er Hoffnung, dass sie sich anders entschieden hatte. Nach fünfzehn Sekunden war er davon überzeugt, dass seine Zeit auf Erden doch noch nicht abgelaufen war. Er drehte sich um, weil er auf einmal spürte, dass er nichts mehr zu befürchten hatte. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Die Killerin war fort.
6. Das schlechte Wetter, das sich gestern bereits angekündigt hatte, war nun vollends über den Big Apple hereingebrochen – als hätte eine höhere Macht den Vorsatz gefasst, die Exhumierung von Jacky Bloomes Leiche mit allen Mitteln zu vereiteln. Zamorra stand ein paar Meter vom Grab entfernt und beobachtete, wie die Totengräber unter der Aufsicht des Friedhofswächters eine Schaufel schlammiger Erde nach der anderen aus der Grube hoben. Der Friedhofswächter war mindestens sechzig Jahre alt, die beiden Totengräber nur unwesentlich jünger. Sie alle drei waren knorrige, verhärmte Kerle, die die Arbeit im Freien gewohnt waren. In ihren schwere Öljacken und mit den feucht glänzenden Regenmützen auf den Köpfen wirkten sie wie Nordseefischer, die einem Gemälde von Caspar David Friedrich entsprungen waren. Zamorra hatte in dieser Nacht nicht besonders gut geschlafen. Immer wieder fand er sich in der schwarzen Baracke wieder, spürte den Druck des Pistolenlaufs in seinem Nacken. Dann flüsterte die Killerin ihm ins Ohr, er solle aus dem zerstörten Fenster sehen. Er tat es und erblickte Nicole und den ihm unbekannten Philip Archer, wie sie mit seinem Dienstwagen von einer Autobahntrasse stürzten. Der Wagen schlug auf dem Dach auf und fing sofort Feuer. Es ist kein Mord, sagte die Killerin, es ist einfach nur Gerechtigkeit. Das war der Augenblick, in dem der Meister des Übersinnlichen jedes Mal schweißgebadet erwachte. Um drei Uhr war er aufgestanden und hatte sich am Automaten einen Kaffee gezogen. Er schmeckte nicht, vor allem, weil Nicole nicht dabei war, sondern noch immer in Los Angeles weilte, aber er half ihm, einen klaren Kopf zu bekommen. Den Rest der Nacht saß er am Tisch in seinem Hotelzimmer, vor sich einen Stift und einen Notizblock, und versuchte, die Fakten des Falles in einen logischen Zusammenhang zu bringen.
Um halb acht erreichte ihn Robert Trushs Anruf. Der Cop hatte mittels seiner Beziehungen eine rasche Exhumierung und Autopsie der Leiche von Jacky Bloome durchgesetzt. Und genau deswegen stand Zamorra jetzt im strömenden Regen auf dem Friedhof. Er war so schnell aufgebrochen, dass er sich nicht mal Zeit genommen hatte, eine Regenjacke überzuwerfen, und jetzt stand er frierend zwischen den drei Gestalten und fühlte sich wie eine Statue aus Salzgebäck, die langsam vom Wasser aufgeweicht wird. Mit dem Fuß tippte er gegen Jacky Bloomes Grabstein, den die Totengräber aus der Erde gewuchtet und achtlos neben der Grube hingeworfen hatten. Zum dritten Mal las er die Botschaft, die in verwitterten Buchstaben darauf geschrieben stand. Geburt und Tod sind nicht zweierlei Zustände, sie sind zwei Aspekte desselben Zustands. Das Zitat stammte von Mahatma Gandhi, aber der Parapsychologe konnte sich nicht vorstellen, dass er damit Jacky Bloomes und Elvira Montgomerys Geschäftsmodell gemeint hatte: die Lebenden auszunehmen, indem man ihnen weismachte, mit den Toten in Kontakt zu treten. Dass Jacky Bloomes Seele jetzt im Jenseits umhergeisterte und als Agent für Elvira Montgomery funktionierte, konnte er sich jedenfalls nicht vorstellen. Schon allein deswegen nicht, weil er sein Château darauf verwettet hätte, dass Elvira Montgomery an Jacky Bloomes Tod nicht unschuldig war. Zu groß waren aus seiner Sicht die Vorteile für die Montgomery gewesen, zu verlocken die Aussicht auf eine Verdoppelung ihres Kundenstamms. Aber er musste sich in Geduld üben, bis die Autopsie der Leiche abgeschlossen war. Der Friedhofswächter sah Zamorra und Trush unter dem Rand seiner Regenmütze hindurch an. »Wir sind so weit.« Die beiden Totengräber kletterten gerade aus der Grube. Zamorra fragte sich, ob die tiefen Kerben an ihren Mundwinkeln von ihrer trostlosen Arbeit herrührten – oder von der Tatsache, dass er sie an einem verregneten Samstagmorgen zu Überstunden zwang. Er nickte ihnen zu. »Lassen Sie uns den Sarg herausheben,
Gentlemen.« Sie stellten sich in Paaren gegenüber und zogen an den Seilen. Zentimeter für Zentimeter hob sich der Sarg nach oben. Es war ein Modell aus Eichenholz, mit schweren Griffen aus Eisen, die in der feuchten Erde korrodiert waren. Sie stellten den Sarg neben der Grube ab, und der Friedhofswächter schöpfte entkräftet Atem. Dabei hatten sie noch einiges vor sich. Der Transporter, mit dem die Leiche in die Gerichtsmedizin überführt werden sollte, parkte am Friedhofstor, knapp zweihundert Meter entfernt. »Das ging ja ziemlich leicht«, murmelte einer der Totengräber. »Leicht?«, ächzte der Friedhofswächter, die Hände auf die Knie gestützt und um Atem ringend. Zamorra fand ebenfalls, dass der Sarg erstaunlich leicht gewesen war, insbesondere wenn man bedachte, dass er aus Eiche bestand. »Bitte öffnen Sie den Deckel, Gentlemen«, forderte er. Der Friedhofswächter hörte auf zu keuchen, die beiden anderen Männer sahen ihn stirnrunzelnd an. »Wir haben lediglich den Auftrag …« »Sie haben den Auftrag, zu tun, was ich sage«, schnauzte Robert Trush, »und ich stimme Mr. Zamorra zu!« Verdrossen schlugen sie mit den Spaten gegen die Eisenschlösser, die aus dem Holz brachen wie Stahlnägel aus einer morschen Wand. Dann hoben sie den Deckel an. »Teufel auch«, ächzte der Friedhofswächter. »Was sagt man dazu?« Zamorra schnaubte. »Der Teufel kann bestimmt am wenigsten dafür.« Dann befahl er den beiden Totengräbern, den leeren Sarg zu schließen und wieder in der Grube zu versenken.
Nicole Duval und Philip Archer brachen noch vor Sonnenaufgang in Richtung San Diego auf. Der Lexus war nach dem Schusswechsel auf dem Hollywood Boulevard nicht mehr zu gebrauchen, deshalb hatte Archer ein
neues Fahrzeug – einen nagelneuen Jeep Cherokee – aus dem Fuhrpark des Reviers geholt. »Diesmal sollten wir lieber aufpassen, wenn hinter uns ein Irrer mit einer MPi auftaucht«, sagte er, während sie über die Küstenstraße fuhren. »Der Chef bringt mich um, wenn ich den zweiten Wagen innerhalb weniger Stunden zu Schrott fahre.« Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Je höher die Sonne kroch, desto unerträglicher wurde die Hitze. Nicht mal der nahe Ozean brachte eine frische Brise. Als sie den Stadtrand von San Diego erreichten, war Nicoles Top trotz der Klimaanlage des Cherokee bis auf die letzte Faser durchgeschwitzt, und sie wünschte sich nichts sehnlicher als eine Dusche und neue Kleider. Irgendwann ergriff der junge Cop wieder das Wort. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass der Trip wenigstens nicht umsonst ist. Aber ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir diesen Stan Marshal finden werden.« Dr. Stan Marshal – das war der Name, den Brenda Rain ihnen genannt hatte. Angeblich hatte er in L.A. eine Arztpraxis besessen und Frank del Borges regelmäßig mit Stoff beliefert. Vor einigen Monaten dann war er nach San Diego gezogen, und auch dort schien er in seinem Beruf sehr erfolgreich zu sein. Als Nicole unter falschem Namen anrief und einen Termin für eine Behandlung wünschte, wurde sie auf den übernächsten Monat vertröstet. »Vielleicht hat er die Praxis nur zur Tarnung«, sagte Archer, während sie sich dem Stadtzentrum näherten. Nicoles Handy klingelte. Es war Zamorra. »Wie geht's, Nici?« Sie erzählte, was sie bei Brenda Rain erfahren hatten. »Wir wissen jetzt wenigstens, dass wir in ein Wespennest gestochen haben. Sheryl Clarke zu überprüfen, war die richtige Idee. Fragt sich nur, ob wir jetzt auch hier in San Diego weiterkommen.« »Ich habe ebenfalls ein paar Neuigkeiten für dich. Ray Vincennes ist tot.« »Das darf nicht wahr sein!« »Schlimmer noch. Er wurde direkt vor meinen Augen erschossen.
Ich konnte die Killerin nicht fassen. Stattdessen hat sie mich gefasst.« »Die Täterin ist eine Frau?« »So ist es. Sie hat mit mir gesprochen, und dann ist sie verschwunden. Sie verriet mir, dass es bei dieser ganzen Sache nicht um Mord, sondern um Rache gehe. Das waren ihre Worte. Ein feiner Unterschied, nicht wahr? Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, und dann löst sie sich in Luft auf, einfach so.« Er räusperte sich. »Was nicht unbedingt heißen soll, dass sie sich tatsächlich in Luft aufgelöst hat. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie teleportiert, vielleicht auch einfach leise verschwunden.« »Ich weiß nicht, Chef. Ich hab mittlerweile ein übles Gefühl bei der Sache. Jede Antwort wirft zwei neue Fragen auf. Wir graben einen Namen nach dem anderen aus, aber der Faden, den wir aufrollen, will partout nicht enden.« »Und das ist noch nicht alles. Ray Vincennes ist zwar von der Liste gestrichen, aber dafür steht ein anderer Name wieder drauf. Jacky Bloome.« »Das Medium, das hier in Los Angeles gearbeitet hat?« »Ihre Leiche wurde damals nach New York überführt, auf Wunsch von Elvira Montgomery. Aber sie ist niemals angekommen. Jedenfalls nicht in dem Sarg, in dem sie hätte liegen sollen. Nici, der Sarg war leer.« »Ein Zombie?«, fragte Nicole nüchtern. »Glaubst du, sie ist eine Untote?« »Ich denke nicht. Wenn ich es natürlich auch nicht ausschließen kann.« »Also meinst du, dass Jacky Bloome noch unter den Lebenden weilt?« »Vielleicht ist es ja sie, die Rache üben will.« Nicole seufzte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie sich im Kreis drehten, und zwar wie eine Zielscheibe beim Rummelschießen. Und der Gegner feuerte nach Belieben. Gestern waren sie noch einmal mit dem Leben davongekommen, aber vielleicht bereitete er ja gerade einen neuen Anschlag vor? »Was
hast du jetzt vor, Chef?« »Ich spreche noch mal mit dem dicken Jimmy. Warren Murdock ist der einzige Tote, der nicht in das Schema passen will. Außerdem muss es ja einen Grund haben, dass Ray Vincennes aus dem Revier getürmt ist.«
Der dicke Jimmy begrüßte Zamorra bereits wie einen alten Freund. »Sie sind ganz schön nass geworden gestern. Ich hab durch die Scheibe gesehen, wie Sie auf der anderen Straßenseite standen. Haben Sie diesen Walker gesprochen?« Der Meister des Übersinnlichen nickte. »Aber diese Spur scheint eine Sackgasse zu sein.« Er holte sich ein Sandwich mit Schinken und Käse aus dem Kühlbereich und legte eine Dollarnote auf den Tisch. »Vergessen Sie's. Ich spendier Ihnen 'nen ganzen Truck voller Sandwiches, wenn Sie den Kerl fassen, der Warren umgebracht hat.« Der dicke Jimmy lehnte sich auf den Tresen. »Ich wollte früher mal Cop werden. Da war ich noch ein kleiner Junge, wissen Sie? Hab Starsky & Hutch im Fernsehen gesehen und all den anderen Kram.« »Starsky & Hutch war nicht übel«, sagte Zamorra. »Ich hab 'ne ziemlich gute Beobachtungsgabe. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass dieser Vincennes und der andere Typ zusammengehörten. Wenn Vincennes behauptet, dass er den Mann nur zufällig getroffen hat, dann lügt er.« Zamorra nickte langsam. »Wissen Sie, Jim, am Anfang dachte ich, Vincennes könnte hinter allem stecken. Als er auch noch als Zeuge im Fall Warren Murdock in Erscheinung trat, schien das meine Theorie zu stützen.« Der dicke Jimmy zog die Schultern hoch. »Aber Vincennes kannte Warren gar nicht. Auch seinen Freund sah ich an diesem Tag zum ersten Mal.« »Das habe ich mir dann auch gedacht«, sagte der Parapsychologe. »Was sagt Vincennes dazu?« »Nichts mehr. Er ist tot.« Zamorra fragte sich, warum er dem
dicken Jimmy davon erzählte. Aber vielleicht brauchte er auch einmal eine Atempause – und einen Menschen, mit dem er zwischen all den Mord- und Unfällen, zwischen den Begegnungen mit falschen Wahrsagerinnen und dem Aufsuchen leerer Gräber ein paar offene Worte wechseln konnte. Es war frustrierend, seit Tagen auf der Stelle zu treten, während um einen herum die Menschen starben wie die Fliegen. Der dicke Jimmy konnte ihm Nicole nicht ersetzen, aber er nahm die Gelegenheit trotzdem dankbar an. »Und, war es derselbe Mörder?« »Ich vermute es.« »Ich verstehe das alles nicht. Es geht über meinen Verstand, dass ein Mensch einen anderen töten kann.« Zamorra erwiderte nichts. Jim redete weiter; auch ihm schien es gutzutun. »Vielleicht war das der Grund, weshalb ich nicht zur Polizei ging. Weil ich zu feige war. Zu feige, dem Verbrechen ins Gesicht zu schauen. Ich habe meinen Grocery Store, verdiene ein paar Dollar pro Tag, dass es zum Leben reicht, und mache einmal im Jahr meine Steuererklärung. Das ist nicht besonders aufregend, aber wenigstens verliert man dabei auch nicht den Verstand.« »Ich habe meinen Verstand noch nicht verloren«, sagte Zamorra. »Jedenfalls hoffe ich das. Am Ende gibt es immer irgendwo ein Licht. Man muss nur lange genug dafür kämpfen.« »Erzählen Sie das mal Warren!«, meinte Jim bitter. Zamorra wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Klar, es traf oft die Falschen. Die Schwachen, die nichts dafür konnten. Menschen wie Warren, die sich nie im Leben etwas zuschulden hatten kommen lassen. »Haben Sie den Killer gesehen?« »Wie meinen Sie das?« »Den Killer, der Vincennes erschossen hat. Haben Sie ihn gesehen?« »Ja.« Es herrschte einen Augenblick lang Schweigen. »Aber ich konnte ihn nicht festhalten«, fuhr der Meister des
Übersinnlichen fort. »Er ist mir einfach entkommen.« »Sie werden ihn bestimmt erwischen.« Wieder schwieg Zamorra. Er erzählte Jimmy nicht, dass er, wenn die Killerin es anders gewollt hätte, jetzt nicht vor ihm stehen würde. Sie will, dass ich lebe, dachte er. Sie will, dass ich verstehe. Ja, so musste es sein. Damit ergaben auch die Briefe einen Sinn. Aber sie hatte die Briefe nicht geschrieben … »Ich nehme noch ein paar Sandwiches mit.« »Kein Problem. Suchen Sie sich was raus. Was zu trinken?« Er nahm zwei Flaschen Limonade. Der Tag war noch lang. Er griff nach seiner Brieftasche. »Kommt nicht in Frage«, protestierte Jimmy. »Ich bestehe darauf.« Der Meister des Übersinnlichen zückte das Portemonnaie, und dabei fielen die Fotos heraus, die er von Robert Trush erhalten hatte und seit zwei Tagen mit sich herumtrug. Eines davon blieb mit der Porträtseite nach oben auf der Theke liegen. Jims Augen wurden groß. »Das ist er!« »Wie bitte?« »Der Kerl, der zusammen mit Vincennes hier war!« Zamorra betrachtete das Foto. Es zeigte Sam Davery alias Max Barnes. »Kein Zweifel möglich, Jim?« »Ich kann mich auf mein Gedächtnis verlassen. Dieser Kerl ist mir damals schon aufgefallen, weil er Warren so verblüffend ähnlich sieht.« Zamorra sah sich das Foto genauer an. Tatsächlich, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem geistig behinderten Warren Murdock war nicht zu leugnen. Sollte das der Grund gewesen sein, weshalb Warren hatte sterben müssen?
»Bitte beeilen Sie sich, ich habe nicht viel Zeit.« Dr. Stan Marshal schlug die Beine übereinander und strich die Knitterfalten seines Kittels glatt. Er hatte den Mundschutz unter das Kinn geschoben und sah aus wie ein Chirurg, der gerade aus dem Operationssaal
kam. »Sie werden sich Zeit nehmen müssen«, sagte Philip Archer. Dr. Marshal lächelte herablassend. »Ich habe Patienten, die auf meine Hilfe vertrauen. Patienten, die mich brauchen. Ich kann sie nicht einfach warten lassen.« Seine Mundwinkel zuckten nervös, und er fixierte erst den jungen Cop, dann Nicole Duval. »Sie hätten ihren Besuch vorher ankündigen sollen. Ich weiß nicht einmal, worum es geht.« Archer fläzte sich in den Besucherstuhl. »Wir sind hier, weil wir Sie von Frank del Borges grüßen wollen.« Das unverbindliche Lächeln in Marshals Gesicht erlosch. Das Blut wich aus seinem Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« »Wir reden von dem kleinen Drogenumschlagplatz«, entfuhr es Nicole, »den Sie Ihre Praxis nennen. Sie hatten sich früher damit ja einen hübschen Nebenverdienst gesichert. Mich würde interessieren, ob sie noch immer Stoff unter der Hand verkaufen.« »Das ist eine ungeheure Anschuldigung. Ich werde …« Archer unterbrach ihn. »Womit dealen Sie üblicherweise? Gras, Ecstasy, Speed? Wahrscheinlich eher die harten Sachen. Wir haben gehört, Sie verkaufen Heroin von exzellenter Qualität. Außerdem gibt es Gerüchte über … nun, sagen wir, übernatürliche Verstrickungen.« Dr. Marshal sah nach unten und wirkte plötzlich überaus ängstlich. »Wenn das ein Scherz sein soll, kann ich nicht darüber lachen.« »Die Geschichte ist auch nicht zum Lachen. Aber sie hat eine Pointe. Bekanntlich hat Frank del Borges für eine Frau namens Elvira Montgomery gearbeitet. Vor einem Jahr ungefähr hat es ihn dahingerafft, bei einer Explosion in New York, nur wenige Wochen nach Sheryl Clarke, die Sie mit dem Stoff für einen letzten, goldenen Schuss versorgt haben.« Dr. Marshals Gesicht wirkte jetzt nur noch grau und eingefallen. »Das Beste kommt noch«, sagte Nicole und dachte daran, was die Analyse der Fingerabdrücke auf Zamorras anonymen Briefen
ergeben hatte. »Wir haben Hinweise erhalten, dass Frank del Borges noch am Leben ist. Wie würde er wohl reagieren, wenn ich ihm Ihre Adresse hier in San Diego geben würde?« Marshal saß da wie ein Häufchen Elend. »Bitte. Ich habe versucht, das alles hinter mir zu lassen!« »Das können Sie dem Weihnachtsmann erzählen. Weshalb haben Sie sich aus Los Angeles verdrückt?« Marshals Augen wurden schmal. Er hatte den ersten Schock überwunden. »Ihre Vorwürfe sind haltlos und frei erfunden. Sie haben nichts gegen mich in der Hand.« Philip Archer schob sich nach vorn. »Warum so nervös, Dr. Marshal? Wir sind nicht hier, um Ihre Praxis auf den Kopf zu stellen. Wir möchten uns nur nach Ihrer Beziehung zu Frank del Borges erkundigen.« »Ich kenne keinen Mann dieses Namens, das habe ich doch gerade schon gesagt.« »Anfangs, ja. Dann wurden Sie plötzlich bleich, als wir Ihnen eröffneten, dass del Borges noch am Leben ist.« Dr. Marshal druckste herum. »Wir haben mit Brenda Rain in Los Angeles gesprochen«, sagte Nicole. »Sie hat ebenfalls von Ihnen Heroin bezogen, und zwar über Frank del Borges. Sie war die Freundin von Sheryl Clarke.« »Ich kenne diese Brenda Rain nicht, ebenso wenig, wie ich Miss Clarke kannte. Das müssen Sie mir glauben.« Nicole legte den Kopf schräg. »Tja, Brenda hat uns was anderes erzählt. Sie sagt, Sie hätten Sheryl gekannt. Persönlich. Frank del Borges hätte sie beide miteinander bekannt gemacht, ungefähr zwei Jahre, bevor er starb.« »Diese Brenda muss ein ziemlich durchgeknalltes Weib sein, wenn sie solchen Unsinn über mich behauptet.« »Durchgeknallt ist sie«, sagte Nicole und nickte, »aber ich glaube ihr. Sie hat uns ein Foto gezeigt. Von einer Party, die Sheryl ein paar Monate vor ihrem Tod gab. Darauf war sie zusammen mit Brenda, Frank und Ihnen zu sehen. Sie haben ziemlich ausgelassen gefeiert, wenn ich das mal so sagen darf.« Das war zwar rundheraus
gelogen, aber es erfüllte seinen Zweck. Marshal sank in sich zusammen. »Was wollen Sie von mir wissen?« »Die Wahrheit«, forderte Nicole. »Was verband Sie mit Frank del Borges?« »Ich habe Frank Stoff verkauft, ja. Als Arzt hatte ich einige Beziehungen. Ich hab ihm beschafft, was er brauchte. Er hat gut bezahlt.« »Was für Stoff?«, fragte Archer. »Heroin?« Marshal schwieg. »Wie lange läuft das schon so?« »Es lief ein paar Jahre lang. Als Frank in New York starb, nutzte ich die Chance und stieg aus.« »Ich glaube, Sie haben Frank übers Ohr gehauen. Deshalb bekamen sie auch Angst, als sie hörten, dass er noch lebt.« Dr. Marshal stöhnte. »Ich habe nichts Illegales mehr getan, seit ich nach San Diego gezogen bin. Meine Praxis läuft gut. Ich brauche das schmutzige Geld nicht.« Er stockte. »Ja, gut, ich habe Frank übervorteilt. Einmal konnte ich nicht die Mengen liefern, die er brauchte. Ich streckte das Zeug, weil er sonst durchgedreht wäre. Sie wissen ja nicht, was Frank del Borges für ein Typ ist.« »Und Sheryl Clarke ist an dem gepanschten Stoff gestorben!« »Es war ein Versehen«, greinte Marshal. »Ich wollte niemanden umbringen.« Sein Oberkörper zuckte. »Ich dachte, ich könnte die Vergangenheit begraben, aber jetzt sind Sie da. Sie werden mich verhaften. Es ist aus.« »Wir könnten beim Staatsanwalt ein gutes Wort für sie einlegen«, sagte Archer. »Wir könnten ihm erklären, dass Sie ein Dummkopf sind, aber nicht bösartig. Wir könnten ihm sagen, dass Sie kooperiert haben.« »Was … was wollen Sie wissen?« »Zum Beispiel alles über Frank del Borges. Was war er für ein Typ? Wo hat er gelebt?« »Er war ein Killer. Ein skrupelloser Killer. Er hatte den Auftrag, Sheryl Clarke abhängig zu machen. Abhängig von den Drogen und
abhängig von Jacky Bloome.« »Das heißt, er war gar nicht Sheryls Freund?« »Sie glaubte das. Und ein paar andere Mädels, um die er sich kümmerte, glaubten, dass er ihr Freund wäre. Dabei hat er sie nur auf Linie gebracht, ohne dass sie es merkten. Am Ende hingen die meisten von ihnen an Jackys Horoskopen wie ein Junkie an der Nadel. Das hat die Bloome ausgenutzt und einen Batzen Geld kassiert. Sie und Frank haben diese Mädchen ausgezogen bis auf das letzte Hemd.« Er breitete die Arme aus. »Ich hab mich da ehrlich gesagt nie so drum gekümmert. Geht mich ja nichts an, hab ich gedacht.« »Stimmt. Du hast ja auch regelmäßig deine Stillhalteprämie kassiert«, ätzte Archer. »Wie viel war's denn? Hat's ausgereicht, um den Jahresurlaub zu finanzieren?« »Es waren ein paar Tausender im Monat. Damals baute ich gerade meine Praxis auf und hatte eine Menge Schulden. Ich konnte das Geld gut gebrauchen.« Er blickte sich flehend um. »Hören Sie, ich habe alles gesagt. Ich weiß, Sie wollen, dass ich Sie zu Jacky Bloome führe, aber das kann ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt. Sie ist vor ungefähr einem Jahr aus Kalifornien verschwunden – wohl weil ihr nach Sheryl Clarkes Tod der Boden unter den Füßen zu heiß wurde.« »Jacky Bloome ist tot«, sagte Nicole wider besseren Wissens. Zamorras Entdeckung war allzu eindeutig gewesen. »Sie waren es, der den Totenschein ausgestellt hat.« »Sie haben mich gezwungen. Die Bloome wollte untertauchen. Sie haben mir gedroht, meine Drogengeschäfte auffliegen zu lassen. Was hätte ich denn tun sollen?« »Was glauben Sie, wo Jacky jetzt ist?« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass sie immer in mehreren Städten gearbeitet hat, meist unter verschiedenen Namen.« »Wir wissen, dass sie mit Elvira Montgomery, einem Medium aus New York, zusammengearbeitet hat.« Archer fügte hinzu: »Wenn du noch weitere Namen kennst, Doktor, spuck's ruhig aus.«
Stan Marshal starrte sie verwirrt an. »Ich dachte, Sie wüssten das. Elvira Montgomery – ist nur eine weitere von Bloomes Existenzen.« Nicole hatte das Gefühl, mit einem Kübel Eiswasser überschüttet zu werden. »Soll das heißen …?« Der Doktor nickte. »… dass Jacky Bloome und Elvira Montgomery ein und dieselbe Person sind. Ganz genau.«
Noch in Jimmy's Grocery Store nahm Zamorra Nicoles Anruf entgegen. Aufgeregt berichtete sie ihm von den Gesprächen mit Stan Marshal und Brenda Rain. Also war Jacky Bloomes Sarg aus einem ganz irdischen Grund leer gewesen – der Gedanke, sie könnte dem Sarg als Zombie entstiegen sein, schied von vorneherein aus. »Außerdem hat Archer gerade einen Anruf vom LAPD bekommen«, ergänzte Nicole. »Einer der Schützen aus dem schwarzen Ford Mustang wurde identifiziert. Es war Terry Norton.« Terry Norton, der seltsam blutleere Typ, den Robert Trush und Zamorra im Nite Fever befragt hatten. Also hatte Norton ihnen ein hübsches Märchen aufgetischt, als er behauptet hatte, Max Barnes alias Samuel Davery nur flüchtig zu kennen. In Wirklichkeit hatte Terry Norton sogar immer noch selbst für Elvira Montgomery gearbeitet. Wenige Stunden nach dem Gespräch hatte er sich auf ihren Befehl hin in einen Flieger nach L.A. gesetzt, um dort ein Attentat auf Nicole und Archer zu verüben. Das bedeutete auch, dass jemand von Nicoles Reise erfahren hatte. Jemand, der in Montgomerys Syndikat ganz oben stand, womöglich noch über Elvira Montgomery selbst. Ray Vincennes hatte also vielleicht doch die Wahrheit gesagt, als er behauptete, dass eine solche Instanz existierte. »Es passt alles ins Bild«, sagte Zamorra. »Die Montgomery geht seit Jahren in verschiedenen Staaten unter verschiedenen Namen demselben schmutzigen Geschäft nach. Jedes Mal, wenn ihr der Boden unter den Füßen zu heiß wird, verschwindet sie, zum Beispiel, indem sie ihren eigenen Tod inszeniert. Im Fall Jacky Bloome war sie sogar so dreist, diese Kunstfigur später in New York weiter
zu verwenden – als angeblich verstorbenes Medium, das im Jenseits die Geister an die Strippe holt. Wo genau allerdings die Magie ins Spiel kommt, weiß ich immer noch nicht … vielleicht bei jenem unbekannten Oberboss.« Nicole seufzte aus dem Handy. »Das bedeutet, wir haben es mit einem groß angelegten Betrug zu tun. Dafür braucht es gefälschte Identitäten, Sozialversicherungsnummern, künstlich angelegte Lebensläufe … wenn du mich fragst, Chef, ist das mindestens zwei Nummern zu groß für eine zweitklassige Jahrmarkt-Hellseherin wie die Montgomery.« »Deshalb brauchte sie Handlanger wie Sam Davery oder Frank del Borges, die die Drecksarbeit für sie übernahmen: Kunden einschüchtern und kontrollieren. Oder einen Ray Vincennes für die Organisation. Aber ich bin mir sicher, dass da noch jemand anderes sein muss. Jemand, der alle Fäden in der Hand hält. Der Zugriff auf Behördencomputer hat, sodass er Identitäten manipulieren kann – kurz gesagt, jemand, der in der Lage ist, Spuren zu verwischen.« »Also jemand, der noch eine Ebene über der Montgomery angesiedelt ist.« »Genau.« »Und wie willst du den finden?« Der Meister des Übersinnlichen überlegte. »Ich habe da vielleicht eine Idee. Wir sind uns ja wohl darüber einig, dass die Morde an den Mitgliedern von Montgomerys Gang ein Racheakt von Frank del Borges sind. Ich würde meine vier Weisheitszähne drauf verwetten, dass die Explosion, bei der er damals angeblich umkam, in Wirklichkeit ein Anschlag war.« »Ein Anschlag, den die Montgomery initiiert hat? Um ihn loszuwerden?« »Genauso wie vor Kurzem Samuel Davery.« Nicole zeigte ihren Galgenhumor, indem sie lachte. »Sie scheint ziemlich unsentimental vorzugehen, wenn es darum geht, alte Zöpfe aus dem Team abzuschneiden.« »Also wird del Borges uns irgendwann zwangsläufig zu Montgomerys Boss führen.«
»Ja, wenn er ihn erledigt hat«, sagte Nicole sarkastisch. »Aber bei deiner ganzen schönen Theorie hast du eine wichtige Tatsache vergessen.« »Und die wäre?« »Der Killer ist nicht del Borges, sondern eine Frau.« Zamorra rümpfte die Nase. »Das hab ich nicht vergessen, Nici. Ich kann's nur noch nicht einordnen.« »Wie du meinst, Chef.« »Wenn du eine bessere Theorie hast, kannst du sie gerne vorlegen«, knurrte Zamorra. In der Leitung blieb es still. »Na also.« Nicole versprach, die nächste Maschine zurück nach New York zu nehmen. Jetzt, da klar war, dass sich Sheryl Clarke im Netz der Montgomery verfangen hatte und daran zugrunde gegangen war, gab es in Kalifornien nichts mehr für sie zu tun. »Alle Spuren führen zu Elvira Montgomery. Also muss ich nach New York kommen.« »Nicht alle Spuren führen zu dem angeblichen Medium«, widersprach Zamorra. »Einige weisen auch zu der grauen Eminenz, die über ihr steht. Jemand muss die Fäden in der Hand halten. Denk nur an die Handlanger, die die Montgomery beschäftigen musste: Sam Davery und Frank del Borges, um ihre Kunden bei der Stange zu halten, Parker Jackson, Terry Norton, die sich um missliebige Ermittler kümmerten. Und das sind nur die Namen, die wir kennen.« »Es könnte auch Elvira Montgomery selbst gewesen sein, die die Killer auf Philip Archer und mich angesetzt hat.« »Und wie hätte sie davon erfahren sollen, dass du dich in L.A. aufhältst? Komm mir bloß nicht damit, dass sie Hellseherin ist.« »Ich weiß es nicht. Deine Erklärung klingt logisch, das muss ich zugeben.« Sie seufzte. »Hast wohl recht, großer Meister.« Doch Zamorra, einmal in Fahrt gekommen, sortierte seine Gedanken, indem er sie aussprach. »Miss Montgomery arbeitete als Jacky Bloome in Los Angeles, als Elvira Montgomery in New York, und nur der Teufel weiß, unter welchen Namen sie anderswo noch operiert hat. Wie hätte sie Zeit finden können, sich außerdem noch um die übergeordnete Organisation zu kümmern.«
»Ray Vincennes«, schlug Nicole vor. »Vincennes hat sich um die Organisation vor Ort gekümmert. Termine, Kontakte und so weiter. Aber für das Übergeordnete, Große fehlten ihm die Kenntnisse ebenso wie die Intelligenz. Er hat auf dem Revier den Kopf verloren und ist getürmt. So etwas passiert niemandem, der jederzeit die Kontrolle über sich und seine Umgebung behält.« »Und wie passen die Morde ins Spiel?« »Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder lässt der große Unbekannte jedes Mitglied seiner Mannschaft beseitigen, das er für eine Bedrohung hält. Auf diese Weise lässt sich der Tod Sam Daverys erklären. Davery war offenbar nicht nur Handlanger für die Montgomery, er war außerdem abergläubisch und Elvira Montgomery verfallen. Als sie während der Séance den baldigen Tod prophezeite, geschah das, weil man ihn loswerden wollte.« »Samuel Davery wurde von einem Auto überfahren.« »Das ist geklärt, Nici – Ray Vincennes sprach vor seinem Tod davon, dass die Magie, die im Spiel ist, den Fahrer kurzzeitig übernahm und gewissermaßen fernsteuerte. Ob die Montgomery das allerdings verursachte oder der unbekannte Boss, sei dahingestellt.« »Bleibt immer noch die Frage nach dem Motiv«, sagte Nicole. »Was hat Davery getan, das den Zorn der Montgomery erregte?« »Bevor er starb, verriet Ray Vincennes mir, dass Davery zur Polizei gehen und auspacken wollte. Das wäre ein Motiv, ihn zu erledigen. Aber es gibt einen Hinweis, dass es noch jemand anderes auf Samuel Davery abgesehen haben könnte. Am Tag, als der geistig behinderte Warren Murdock vor Jimmy's Grocery Store erschossen wurde, befanden sich Ray Vincennes und Sam Davery im Laden! Der Inhaber, Jimmy Crawford, hat Davery anhand eines Fotos eindeutig identifiziert. Davery und niemand anderes war der unbekannte Mann, mit dem Ray Vincennes zum Zeitpunkt der Tat gesprochen hatte und von dem Vincennes behauptete, dass er ihn im Jimmy's Grocery Store zum ersten Mal gesehen hätte. Sam Davery, davon habe ich mich im Leichenschauhaus selbst überzeugen
können, sieht Warren Murdock zum Verwechseln ähnlich. An jenem Tag trug er sogar ähnliche Kleider.« »Du behauptest …?« »Sehr richtig, Nici – der Tod von Warren Murdock war tatsächlich ein tragischer Unfall, ganz im Gegenteil zu Daverys Ableben. Die Killerin hatte es auf Sam Davery abgesehen. Und zwar dieselbe Killerin, die später Vincennes umbrachte.« »Ein Unfall.« Nicole ächzte. »Sahen denn Davery und Murdock wirklich aus wie eineiige Zwillinge?« »So weit ging die Ähnlichkeit nicht«, sagte Zamorra und machte eine Kunstpause, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. »Die Killerin kannte das Opfer nicht, und sie besaß wahrscheinlich nur eine ungenaue Beschreibung. Eine Beschreibung, die ihr ein Blinder gegeben hatte.« Nicole begriff und atmete hörbar aus. »Bernhard Walker!« »Ich ließ mich davon irritieren, dass er blind ist. Er konnte also nicht selbst geschossen haben. Aber ich bin mir inzwischen sicher, dass er den Mord in Auftrag gegeben hat.« »Und das Motiv?« Zamorra zuckte unwillkürlich die Achseln, obwohl Nicole es nicht sehen konnte. »Offenbar ist Walker der Mann, den wir suchen – vielleicht ein Kunde, der von der Montgomery betrogen wurde und sich an ihr rächen will, indem er alle umbringt, die an dem Betrug beteiligt waren. Ein Amokläufer. Auch Elvira Montgomery steht vermutlich auf der Liste, ebenso die graue Eminenz im Hintergrund. Wir müssen uns also beeilen. Elvira Montgomery schwebt in Lebensgefahr. Ich bin sicher, dass sie die Nächste auf der Liste ist. Vielleicht hat sie die Gefahr sogar schon genauso erkannt wie wir und bereitet ihre Flucht vor.« Dabei wusste er genau, dass sie vorsichtig vorgehen und jedes Wort, das sie der Montgomery gegenüber benutzten, auf die Goldwaage legen mussten, denn ihr schmieriger Anwalt, dieser Alan Thomlin, wartete nur darauf, dass sie einen Fehler begingen. Zamorra sah Thomlin immer noch vor sich, wie er ihm eine Zigarette aus seinem Etui anbot. Natürlich. Es gibt Regeln, an die man
sich halten sollte! Sie beendeten das Gespräch. Eigentlich hätte der Meister des Übersinnlichen über die gelungenen Kombinationen zufrieden sein können. Dennoch – etwas störte ihn nach wie vor. Bernhard Walker ein amoklaufender, früherer Kunde von Elvira Montgomery? Warum hätte er ihm dann die Briefe schicken sollen? Weil er wusste, dass Magie im Spiel war und deswegen Hilfe von jemandem benötigte, der sich auf diesem Gebiet auskannte? Zamorra war sicher, dass irgendetwas fehlte: der entscheidende Hinweis, der aus dem Mosaik ein überzeugendes Gesamtbild machte. Er musste direkt vor seiner Nase liegen, doch sosehr er auch die Augen aufsperrte, er sah ihn nicht.
New York, Manhattan Walkers frühere Adresse lag im Südwesten von Manhattan, nahe der Battery. Eine ziemlich exklusive Gegend, aber das passte genau in das Bild, das sich Zamorra von Walker gemacht hatte. Wahrscheinlich war er ein reicher Unternehmer oder Konzernerbe, der von Elvira Montgomery übers Ohr gehauen worden war. Ihm ging es nicht darum, sein Geld zurückzubekommen. Ihm ging es um Rache. Er besaß eine Penthousewohnung in einem fünfzehnstöckigen Neubau. Zamorra betrat das Haus. Ein Portier blickte ihn misstrauisch an. Zamorra fragte nach Bernhard Walker. Der Portier sah in seinen Unterlagen nach. »Ah ja, da hab ich's. Aber er ist bestimmt nicht zu Hause, Sir.« »Sind Sie sicher?« Er seufzte. »Ist doch eine komische Sache mit diesen neureichen Börsenyuppies. Kaufen sich eine riesige Wohnung, obwohl sie sowieso nie zu Hause sind. Es gibt verdammt viele Leute in der
Stadt, die sich über eine solche Wohnung freuen würden, Sir. Alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern. Arme Leute. Arbeitslose. Eine Schande ist das.« »Wann haben Sie Walker zum letzten Mal gesehen?« Er zog die Augenbrauen hoch, was offenbar bedeutete, dass er intensiv nachdachte. »Der Typ ist wirklich ein komischer Kauz. Er wohnt seit ein oder zwei Jahren hier, aber ich habe ihn in dieser Zeit höchstens fünf Mal zu Gesicht bekommen. Ich glaube, er hat noch ein Haus in New Jersey. Oder war es in Maryland?« Er erwies sich als redselig und war offenbar froh darüber, jemanden für einen Plausch gefunden zu haben. »Wissen Sie, ich kümmere mich nicht besonders um die Belange der Bewohner. Geht mich nichts an, verstehen Sie. Ich hab nur für die Sicherheit zu sorgen, und das tue ich.« Zamorra befürchtete schon, dass der Portier die eigentliche Frage vergessen hätte, da sagte er: »Tja, vor zwei Tagen war er zuletzt hier. Ich weiß es nur so genau, weil es draußen so heiß war und hier die Klimaanlage auf Hochtouren lief, sodass ich mir fast eine Erkältung geholt hab. Und gestern dann kam ja der Regen …« Der Parapsychologe unterbrach ihn. »Hat Mr. Walker gesagt, wann er wiederkommt?« »Wo denken Sie hin. So was sagen diese Herrschaften nie. Sind sich zu fein dazu, mit mir zu reden, wissen Sie? Er tauchte plötzlich auf, und eine halbe Stunde später verschwand er wieder – ohne ein Wort zu sagen.« »War er allein?« »Jemand war bei ihm. Mr. Walker ist ja, hm, ich weiß gar nicht, ob ich das sagen darf …« »Er ist blind.« »Da Sie's sowieso wissen, kann ich es ja auch ruhig sagen. Es stimmt, er ist blind. Und deshalb war jemand bei ihm und hat ihn zum Fahrstuhl gebracht.« »Eine Frau?« »Woher wissen Sie das?« »Ich kenne die beiden gut«, log Zamorra und glaubte nicht, dass der Portier bemerkte, dass er sich selbst mit der nächsten Frage
widersprach. »Wie sah sie aus?« »Hm, ich glaub, sie hatte schwarze, kurze Haare. Sie sah ein bisschen … komisch aus. Ihr Gesicht, meine ich. Als würde damit was nicht stimmen. Aber wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Das Licht vor dem Fahrstuhl ist nicht besonders stark, und ich hab auch nicht richtig hingeschaut.« »Ich würde gern einen Blick in die Wohnung werfen.« Das war dem guten Sicherheitsmann dann doch zu viel. »Wie kommen Sie darauf? Ich kann Sie selbstverständlich nicht einfach so reinlassen!« Zamorra ließ seine Verbindungen spielen und hatte Sekunden später den Cop Robert Trush am Handy, der den Portier aufforderte, Zamorra in allen Belangen zu unterstützen. Obwohl das gesetzlich, weder von vorne noch von hinten betrachtet, irgendwie haltbar war, zeigte sich der Portier schwer beeindruckt. Der Meister des Übersinnlichen lächelte milde. »Ich werde in der Wohnung nichts anfassen. Sie können selbstverständlich mitkommen, wenn Sie möchten.« Wieder zog der Portier die Augenbrauen hoch. Dann griff er nach dem Schlüssel. »Ist schon in Ordnung, wenn die Cops das so wollen. Ich darf meinen Platz leider nicht verlassen. Bringen Sie den Schlüssel einfach wieder zurück.« Zamorra war verblüfft, wie leicht der Portier zu überzeugen gewesen war. Ging das noch mit rechten Dingen zu? War der Sicherheitsmann lediglich ein simples und leicht zu beeindruckendes Gemüt – oder wurde es höchste Zeit, dass sich Zamorra intensiver mit seinem mysteriösen Partner beim NYPD auseinandersetzte? Wer war Robert Trush? Wieso stand er dem Übernatürlichen so offen gegenüber? Was wusste er? Hatte er eben etwa den arglosen Portier mental beeinflusst? Nur ein paar weitere ungelöste Fragen, dachte der Meister des Übersinnlichen und schnappte sich den Schlüssel. Wer auch immer Robert Trush war – es brachte etliche Vorteile, ihn als Partner zu haben. Er fuhr mit dem Aufzug nach oben, orientierte sich und schloss
auf. Walkers Wohnung war traumhaft schön und albtraumhaft aufgeräumt und sauber. Die Möbel sahen aus, als wären sie aus einem Versandhauskatalog bestellt und gestern Morgen angeliefert worden. Keine Kratzer auf den Tischflächen, keine Sitzdellen auf den Stühlen, kein Staub in den Raumecken oder auf den Regalflächen. Ein paar Bücher und DVDs – Ausschussware, teilweise noch eingeschweißt – standen wie drapiert in den Regalen. Die Couchgarnitur besaß einen anthrazitfarbenen Kunstlederüberzug, auf dem man jedes Staubkorn hätte sehen können, wenn es eins gegeben hätte. Fünf Minuten nachdem Zamorra die Wohnung betreten hatte, war er sicher, dass hier niemand wohnte. Dann betrat er die Küche – und erstarrte. Auf der Arbeitsfläche lag ein braungelber Briefumschlag. Die Schrift darauf, die nur aus einem einzigen Wort bestand, kam ihm nur allzu bekannt vor. Zamorra. Doch wie kam ein Brief, den offenbar Frank del Borges geschrieben hatte, in Walkers Wohnung? Wie passte dieses neue Puzzlestück dazu? Oder stammten die Briefe am Ende alle von Walker? Wie kamen dann aber die Fingerabdrücke des angeblich toten del Borges darauf? Zamorra griff nach dem Umschlag. Er war nicht zugeklebt. Das Papier, das herausfiel, war zwei Mal gefaltet, genau wie sonst. Diesmal stand nur ein weiteres Wort darauf. Ein Chiffre oder eine Formel. CH3-CH2-CH3. In diesem Augenblick vibrierte das Handy. Die Nummer sagte dem Meister des Übersinnlichen nichts. »Zamorra«, meldete er sich. »Haben Sie mich also endlich aufgestöbert, Professor. Meinen Glückwunsch.« Zamorra erkannte die Stimme sofort wieder. »Ich halte gerade Ihren Brief in den Händen, Walker. Sehr hübsch.« »Sie hätten ihn schon früher haben können.«
Er widerspricht mir nicht, dachte Zamorra. Also stammen die Briefe tatsächlich von ihm. »Warum sollen die Leute aus Montgomerys Team sterben?« »Unbeglichene Rechnungen sind wie schlechte Schuhe. Sie drücken.« »Elvira Montgomery hat Sie also betrogen«, stellte Zamorra fest. »Um wie viel hat sie Sie erleichtert? Ein paar Tausender? Eine Million? Genug für ein paar Menschenleben, nehme ich an.« »Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie mein Vorgehen nicht gutheißen würden.« »Warum haben Sie mir die Briefe geschickt?« »Ich wusste, dass bei den hiesigen Cops nicht die hellsten Köpfe arbeiten. Ich wollte Sie im Spiel haben und Ihnen eine kleine Hilfestellung geben.« »Ist Montgomery die Nächste auf Ihrer Liste?« Er lachte rau. »Sie werden es nicht verhindern können.« »Wer ist die Frau, die Sie mit den Morden beauftragen?« »Ende der Fragestunde. Ein paar Fakten sollten Sie schließlich noch selbst herausfinden.« »Walker, warten Sie. Ich –« Es klickte. Er hatte die Verbindung unterbrochen. Zamorra rief Robert Trush an. »Schon wieder?«, knurrte der Cop. Der Meister des Übersinnlichen setzte seinen Partner in Kenntnis, wie die Dinge standen – und dass Elvira Montgomery in Lebensgefahr schwebte. »Ich mache mich sofort auf den Weg«, sagte Trush geschäftig. »Wir sollten die Montgomery da rausholen und in Sicherheit bringen.« »Vielleicht ist die Killerin bereits dort und beobachtet sie. Wir müssen vorsichtig sein … ich bin auch unterwegs. Wir treffen uns dort. Wir sollten erst beobachten – das ist die Gelegenheit, die Killerin zu schnappen.« Zamorra beendete das Gespräch und verließ die Wohnung. Eine Minute später saß er in einem Taxi und jagte in Richtung
Lincoln Park, wo sich Montgomerys zweites Anwesen befand. Und er fragte sich, wieso er nicht gleich verstanden hatte. Es gab eine ganz einfache Erklärung dafür, dass sich Frank del Borges' Fingerabdrücke auf den Briefen befanden, die von Bernhard Walker geschickt wurden. Es war ganz ähnlich wie im Fall von Elvira Montgomery, die auch als Jacky Bloome aufgetreten war. Frank del Borges und Bernhard Walker waren ein und dieselbe Person.
7. Es dämmerte bereits, als Zamorra sein Ziel erreichte. Robert Trush hatte ihm per Handy angekündigt, dass er ihn im Garten des schräg gegenüberliegenden Hauses erwartete – kraft seiner Amtsgewalt hatte er den Hausbesitzer dazu verdonnert, seinen Garten zur Verfügung zu stellen. Eine etwa einen Meter hoch aufragende Hecke gab ihnen Sichtschutz. Ehe Zamorra dahinter verschwand, warf er einen Blick über den brusthohen Holzzaun, der sich wie eine Wehr um Montgomerys Grundstück zog. Das villenähnliche Gebäude ragte wie ein Palast in der Mitte des Grundstücks empor. Die weiß getünchte Fassade glänzte. Auf einer großen Veranda standen ein paar Stühle und ein bezogener Gartentisch. Ein Dutzend exotischer Pflanzen zierten den Garten. Trush grinste, als er Zamorra entdeckte. »Hier ist alles friedlich. Von der Killerin keine Spur.« Sergeant Barnaby neben ihm brummte irgendetwas Zustimmendes. »Hübsche Bude«, meinte Trush. »Ob sich die Montgomery mal selbst die Lottozahlen vom nächsten Wochenende vorhergesagt hat?« Barnaby lachte nervös. »Warum hält sie ihre Séancen bloß in dieser Bruchbude in der Bronx ab, wenn sie hier so ein nettes Häuschen stehen hat?« Trush seufzte. »Weil es schlecht fürs Geschäft wäre, mit ihrem Reichtum zu protzen, nehme ich an.« Er hielt Zamorra eine Schusswaffe hin. »Ich hab was für Sie.« Der Meister des Übersinnlichen ergriff die Pistole. »Geht das in New York so einfach?«, fragte er grinsend und verbarg damit seine tatsächliche Skepsis. »Cops teilen Schusswaffen aus?« »Dieser Cop schon«, antwortete Trush, ohne sich weiter zu
erklären. Das passte genau in Zamorras Überlegungen – Robert Trush war kein normaler Cop. Oder eben nicht nur ein normaler Cop. »Immerhin können wir jetzt einige Fäden des Falles verknüpfen.« Der Dämonenjäger berichtete von Walker alias Frank del Borges. Er endete mit der lapidaren Bemerkung: »Vielleicht haben wir es mit einem Killer aus dem Jenseits zu tun.« Barnaby begann eine spöttische Bemerkung, doch Trush schnitt ihm rabiat das Wort ab. »Was ist damals vorgefallen, das die Montgomery gegen Walker alias del Borges aufgebracht hat? Vielleicht wollte er ebenso auspacken wie Samuel Davery. Montgomery wollte sich das nicht gefallen lassen und hat ihm eine Bombe unter das Kopfkissen gelegt.« »Wer sind die Frau und das Kind, die bei dem Anschlag starben?« Trush hatte offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht und die alten Akten noch einmal studiert, nachdem festgestellt worden war, dass die Fingerabdrücke auf Zamorras anonymen Briefen von Frank del Borges stammten. »Jenny Regan und ihr Sohn Paul. Der Kleine war gerade mal vier Jahre alt.« »War del Borges mit Jenny zusammen?« »Ich vermute es. Das würde jedenfalls seine Rachegelüste erklären.« Ein paar Wagen standen am Straßenrand, in den Vorgärten war alles ruhig. Zamorra sah sich um. Er war sicher, dass die Killerin bereits in der Nähe war. Warum hatte sie noch nicht zugeschlagen? Plötzlich meldete sich sein Handy. Zamorra ging dran und lauschte einen Moment. »Frank!«, sagte er bitter. »Was wollen Sie?« »Also haben Sie endlich die Wahrheit herausgefunden«, sagte del Borges alias Walker mit vor Hohn triefender Stimme. »Meinen Glückwunsch. Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie dafür brauchen würden.« »Wo ist die Killerin?« »Ich habe sie angewiesen, auf Sie zu warten. Es kann durchaus noch einige Stündchen dauern, bis sie zuschlägt. Vielleicht dann, wenn Sie müde sind, Professor. Sie und Ihre Begleiter.«
»Sie bluffen. Sie haben keine Chance, an Elvira Montgomery heranzukommen. Wir haben sie abgeschirmt, und Verstärkung ist unterwegs.« Zamorra hatte keine Ahnung, ob Trush noch weitere Cops erwartete. Del Borges kicherte. »So? Wen erwarten Sie denn? Ihre hübsche Freundin vielleicht? Sie soll zumindest hübsch sein, habe ich mir sagen lassen. Außerdem haben Sie nicht gerade die schwersten Geschütze aufgefahren. Robert Trush, so so. Und dieser Kerl, der noch grün hinter den Ohren ist … wie heißt er doch gleich? Barnaby?« Zamorra sah sich unauffällig um. Er wettete darauf, dass sie in diesem Augenblick beobachtet wurden. »Was wollen Sie, Frank? Ist das alles etwa nur ein albernes Spiel für Sie? Und wenn es so ist, was habe ich damit zu tun? Wollen Sie mich ebenfalls erschießen? Warum haben Sie mich überhaupt nach New York gelockt?« »Es ist alles andere als ein Spiel, Professor.« Seine Stimme sprühte auf einmal vor Hass. »Elvira Montgomery hat mir das Augenlicht genommen. Und mehr noch … Ich war tot, kapieren Sie das? Tot, verdammt! Aber ich war so voller Hass, dass die Kreaturen, mit deren Hilfe die Montgomery und ihr elender Boss mich getötet haben, mich nicht tot lassen wollten. Es gefiel ihnen, mich zurückzuschicken, damit ich als Racheengel über diejenigen komme, die meine geliebte Jenny getötet haben! Und den kleinen Paul!« »Warum, Frank?«, fragte Zamorra und konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Del Borges alias Walker war also tot gewesen … er war ein Zombie, der zurück ins Leben geschickt worden war, um seine Rache zu vollenden – doch von wem? Wer waren diese geheimnisvollen Kreaturen, von denen er sprach? Und er schien darüber hinaus ein ungewöhnlicher Untoter zu sein … er war Zamorra wie ein gewöhnlicher Mensch erschienen, als er ihm gegenübergestanden hatte. Hatte er nicht geatmet? Und seine Emotionen waren echt, entsprachen eher denen eines Lebenden als einer unheiligen Kreatur. »Mit welchen Mächten spielt die Montgomery? Welche Wesen haben Sie getötet, Frank?«
Er lachte hämisch. »Die Montgomery weiß es selbst nicht. Sie bedient sich der Mächte, die ihr Boss heraufbeschworen hat.« »Keine Höllenmächte«, sagte Zamorra. Sonst hätte Merlins Stern längst reagiert. »Altägyptische Magie«, erklärte del Borges. »Uralte Wesen, die seit Jahrtausenden ruhen und nicht gerade erfreut darüber waren, gestört zu werden. Doch sie mussten gehorchen, mussten sich als Instrument einspannen lassen, weil ein jämmerlicher Mensch sie zwang, seiner Gier dienlich zu sein. Wie der Boss die Kreaturen unter seiner Kontrolle hält, weiß ich auch nicht. Er muss irgendetwas in der Hand haben, das sie völlig wehrlos macht.« »Deshalb also diese seltsamen Waffen«, murmelte Zamorra. »Die Polizei glaubte, Sie und Jenny und das Kind wären von einer Bombe zerfetzt worden. Es ist ähnlich wie bei diesen Schussprojektilen, nicht wahr? Die alte Magie simuliert herkömmliche Waffen, weil der Boss der Montgomery das so wünscht? Weil er nicht auffallen, sondern als normaler Verbrecher auftreten will?« »Ein Zauber, der Gegenständen Scheinleben einhaucht«, erwiderte del Borges, als sei es die normalste Sache der Welt. »Aber Sie haben recht … die Bombe, die mich damals tötete, simulierte die Wirkung einer normalen Bombe, wie Sie es nennen. Die Polizei untersuchte den Fall, kam zu keinem Ergebnis, und Schluss. Niemand kümmert sich mehr darum. Genau wie der Boss es wollte.« »Warum wendet er dann überhaupt Magie an?« »Das fragen Sie noch, Professor? Es verleiht ihm Macht, große Macht. Er schüchtert damit alle ein, die er einschüchtern will. Erinnern Sie sich noch an den blutleeren Terry Norton? Als er nicht spuren wollte, wurde er als Ritualopfer missbraucht, und die altägyptischen Kreaturen entzogen ihm eine Menge Blut. Danach kuschte er. Er hatte Angst, Zamorra, schlicht und einfach eine Scheißangst. Genau wie ich, und doch habe ich aufbegehrt. Ich war ein Narr … und ich habe den Preis bezahlt. Doch die anderen rechneten nicht mit meinem Hass. Die ägyptischen Wesen erkannten in mir das ideale Werkzeug und schickten mich zurück, weil sie genau
dasselbe wollen wie ich – das Ende der Montgomery und den Tod ihres Bosses. Nur zwingt sie die Beschwörung, dass sie nicht selbst tätig werden konnten. Sie müssen dem Boss gehorchen, weil er sie in seiner magischen Gewalt hat. Die Kreaturen unterstützen mich, indem Sie die Waffen meiner Killerin etwas effektiver machen. Genau auf dieselbe Art übrigens, wie sie auch die Waffen der Gegenseite aufwerten müssen. Nur in meinem Fall tun sie es freiwillig.« »Also sind Sie nur ein Handlanger der alten Mächte, Frank.« Del Borges kicherte. »Natürlich bin ich das, und das weiß ich genau. Aber es stört mich nicht, denn ich will nur eins: Rache. Und genau diese Rache bekomme ich. Wissen Sie, wie schlimm es war, nach meinem Tod wieder zu erwachen? Ich hatte schreckliche Schmerzen, und ich konnte nichts mehr sehen, weil diese Kreaturen meine Augen gefressen haben. Schlimmer aber war noch, dass Jenny und Paul tot waren. Sie waren unschuldig. Sie hatten nie etwas mit Elviras Geschäften zu tun gehabt!« Zamorra traute kaum seinen Ohren. So hatte er noch nie einen Untoten sprechen hören. Hier kam eine ihm gänzlich fremde Art von Magie ins Spiel, die einen Menschen offenbar mit all seinen Emotionen aus dem Grab zurückgeholt hatte. Keine stumpfsinnige Kreatur, sondern ein mit Hass und Rachedurst erfülltes Lebewesen. »Hören Sie auf, den sentimentalen Engel zu spielen. Sie haben für die Montgomery gearbeitet. Sheryl Clarke ist gestorben, weil Sie sie in den Tod gehetzt haben.« »Sie haben recht, Professor. Ich bin verflucht. Es kostete mich übrigens eine Menge Geld und einige Manipulationen, die Welt glauben zu machen, dass ich bei dem Anschlag nicht nur umgekommen bin, sondern dass auch meine Leiche gefunden wurde. Ich wollte Elvira in Sicherheit wiegen. Sie wird ihrer gerechten Strafe nicht entgehen.« In Zamorra stieg eiskalte Wut auf. »Hören Sie auf, von Gerechtigkeit zu schwafeln! Ein unschuldiger Junge ist Ihretwegen gestorben.« »Sie sprechen von Warren Murdock. Ja, das war ein Missgeschick.
Aber vergessen Sie nicht, dass ich in Ihren Augen ein Monster bin. In einem Krieg gibt es immer zivile Opfer, und ich werde wegen Murdocks Tod keine schlaflosen Nächte haben.« »Warum, Frank? Warum hat die Montgomery Sie damals töten wollen?« »Gehen Sie jetzt ins Haus«, sagte er. »Sie haben genug Zeit. Elvira wird nicht sterben, bevor Sie da sind.« »Sie haben das Spiel nicht mehr in der Hand.« »Sie täuschen sich. Ich werde es ihnen beweisen. Vielleicht sollte ich doch nicht mehr warten.« Es klickte, als die Verbindung unterbrochen wurde. Im nächsten Augenblick zerriss ein Schuss die Stille. Robert Trush riss die Waffe aus dem Holster, Barnaby ebenfalls. Zamorra hielt seine neue Pistole noch in der Hand. Sie setzten an der Hecke vorbei – verstecken ergab ohnehin nicht mehr den geringsten Sinn. Die Gegenseite wusste offensichtlich genauestens Bescheid. Sie jagten durch das Halbdunkel mit langen Schritten auf die Haustür zu. Weitere Schüsse folgten. Sie kamen von der Rückseite des Hauses. Trush und Barnaby drangen auf der rechten Seite nach hinten vor. Zamorra nahm die andere Seite. Als er die Rückseite erreichte, vernahm er zwischen kurzen Feuerstößen das Klirren von zerbrechendem Glas. Er konnte die Killerin nicht ausmachen. Das Grundstück war riesig und wurde an der Rückseite von knorrigen Eichen gesäumt, deren Stämme von Buschwerk verdeckt wurden. Er jagte zwei, drei Schüsse an die Stelle, an der er die Killerin vermutete. Das gegnerische Feuer verstummte. »Trush? Barnaby?«, rief er. »Wir sind im Haus«, ertönte Trushs Stimme durch die zerbrochene Scheibe. »Wir sind in Ordnung.« Die Killerin steckte irgendwo in den Sträuchern. Es gab genügend Buschwerk, hinter dem sie Deckung finden konnte – aber auch Zamorra konnte sich darin verbergen und die Killerin vielleicht überwältigen. Er machte einen Schritt nach vorn. Und zuckte sofort wieder
zurück. Eine Garbe von drei, vier Projektilen riss die Rasenfläche vor ihm auf. Sie hatte ihn im Visier! Zumindest hatte der kurze Augenblick gereicht, die Rückseite des Hauses in Augenschein zu nehmen. Die Villa besaß eine ausladende Terrasse mit einer Gartentür und einer großen PanoramaFrontscheibe, von der jetzt nur noch einzelne Scherbenreste im Kitt hingen. Die Terrassenfliesen waren mit Glassplittern übersät. Auch die Fassade hatte reichlich was abbekommen. Im oberen Stockwerk gab es keine Fensterscheibe mehr, die noch im Rahmen saß. Zamorra spähte zur Rückseite des Grundstückes, aber die wenigen Löcher in dem dichten Blattwerk waren so schwarz wie die hereingebrochene Nacht. Trush und Barnaby waren unverletzt, wie es schien. Ihn hatte die Killerin ebenfalls nicht getroffen, obwohl sie ein ausgezeichnetes Schussfeld besaß. Das bedeutete, dass sie ihn nicht verletzen wollte. Es kam ihr allein auf die Montgomery an. Zamorra sprang vor und rannte über die Terrasse. Sofort zischten die Kugeln wieder um ihn herum. Scherben knirschten unter seinen Schuhen. Er hechtete durch das Fenster in den Innenraum und suchte hinter einem umgeworfenen Tisch Deckung. »Prof, alter Knabe!«, rief eine Stimme von links. Es war Trush. Er hockte hinter einer mausgrauen Couch, deren Bezug von Einschlägen durchsiebt war. Das Feuer verstummte. »Wo ist Elvira Montgomery?«, keuchte Zamorra. Trush deutete auf eine Tür. »In der Küche. Barnaby ist bei ihr. Sie haben das Rollo runtergelassen, um kein Ziel abzugeben. Zamorra, sagen Sie's mir, wenn ich mich irre, aber ich hab das Gefühl, diese Frau da draußen ist auf einem verdammten Kriegszug.« Der Meister des Übersinnlichen nickte. »Auf jeden Fall hat sie eine automatische Waffe, vielleicht ein Sturmgewehr. Aber wir haben eine kleine Chance.« Er erzählte ihm von seiner Vermutung, dass die Mörderin ihr Leben schonen wollte. »Warum sollte sie das tun?«, fragte Trush skeptisch. »Das ist unprofessionell. Wir sind Zeugen, die sie belasten können.«
»Vielleicht ist es ihr egal. Del Borges will die Montgomery tot sehen, nicht uns.« »Aber wenn es uns erwischt, wird er deswegen auch keine Tränen vergießen.« Zamorra lehnte sich mit dem Rücken gegen das Sofa und atmete aus. »Wir können nicht einfach hier herumsitzen und warten, bis sie das Haus in Trümmer geschossen hat!« »Was glauben Sie, was dieses Mädchen noch alles für Kaliber in seinem Munitionsdepot hat? Vielleicht hat sie 'ne Bazooka oder so was und jagt gleich das komplette Grundstück in die Luft.« »Hat sie nicht«, sagte Zamorra. »Woher wollen Sie das wissen?« »Wenn sie eine hat, sind wir tot.« Trush grinste. »Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten.« »Und das wäre?« »Del Borges hat von den altägyptischen Mächten erzählt, nicht wahr?« Zamorra nickte stumm. »Ich gehöre zu ihnen«, offenbarte Trush. »Allerdings stehe ich nicht unter der Gewalt von Montgomerys Boss … und nein, ehe Sie fragen, ich weiß nicht, wer es ist, der meine Brüder befehligt. Ich will ihn aber aufhalten und meine Brüder befreien.« Der Meister des Übersinnlichen atmete tief aus. So etwas hatte er sich schon gedacht. »Sie sind also nicht Robert Trush, der Cop?« »Ich bediene mich seines Körpers, mehr nicht. Er erschien mir als gute Wahl. Wenn das alles hier vorüber ist, wird Trush in seinem Bett aufwachen und sich an nichts erinnern. Ich bediene mich auch seines Wissens über diese Zeit.« »Deshalb also kooperieren Sie mit mir«, stellte Zamorra fest. »Sie sind ein guter Mann, und Sie wollen dasselbe wie ich. Das alles soll enden.« Das erklärte alles … deshalb ging ein Cop also ungewöhnliche Wege und hatte auch nichts dagegen, die Dienstvorschriften zu ignorieren. »Und Ihr Kollege in L.A., dieser Philip Archer?« »Ich habe ihn übernommen, genau wie den Körper Robert
Trushs«, erklärte Trush trocken. »Aber wenn Sie dazu fähig sind, zwei Personen gleichzeitig zu kontrollieren, dann …« »Ich weiß«, meinte Trush. »Deshalb erzähl ich's Ihnen ja. Ich bin mit einem zweiten Körper bereits draußen unterwegs.«
Elvira Montgomerys Nachbar arbeitete sich im Schatten der Sträucher Meter um Meter zur Rückseite des Grundstücks vor – gelenkt von einem uralten magischen Wesen. Dort, wo das Wesen die Killerin vermutete, verdeckte ein riesiger Holunderstrauch die Sicht auf die Mauer. Dahinter war auf jeden Fall Platz genug für einen Schützen mit einer MPi oder einem Sturmgewehr, aber die Kreatur sah weder eine Bewegung noch den Schatten eines Gewehrlaufs. Ihre Sinne waren hellwach. Da sah sie den Schatten. Eine unauffällige Erhebung hinter dem Holunder, die ein achtloser Beobachter höchstens für einen Baumstumpf oder einen kleinen Strauch gehalten hätte. Aber aus dem Baumstumpf ragte ein längliches schwarzes Etwas hervor, das die Rückseite des Hauses ins Visier genommen hatte. Die Killerin war höchstens noch zehn Schritte entfernt. Noch immer konnte das Wesen seine Feindin nicht genau erkennen. Ein direkter Angriff war ausgeschlossen, solange es nicht wusste, über welche Waffen sie noch verfügte. Der Gewehrlauf ruckte herum. Doch nicht der Körper des Nachbars geriet ins Visier der Waffe, sondern der seitliche Bereich der Villenfassade. Der Lauf fuhr nach rechts, dann wieder nach links. Sie ist nervös, dachte das altägyptische Wesen. Die Killerin konnte nicht sehen, was im Haus vor sich ging, und sie wusste vermutlich nicht, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun hatte. Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, dass einer von ihnen nur acht Schritte neben ihr hinter einem Rhododendron hockte, zum Angriff bereit? Das Wesen wollte das Überraschungsmoment ausnutzen. Es
wartete ab, bis der Gewehrlauf wieder zurück zur anderen Seite wanderte. Dann sprang es aus seiner Deckung. Mit drei Sätzen war es bei der Gegnerin. Der Augenblick der Wahrheit! Entweder hatte es seine Feindin gleich überwältigt, oder es lag selbst am Boden, mit einer Kugel oder einem Messer in der Brust. Das würde ihm durchaus schaden, weil es mit dem Gastkörper auf höherdimensionaler Ebene verbunden war. Nichts von beidem traf zu. Als das Wesen den Holunder erreichte, wanderte der Lauf des Maschinengewehrs einfach weiter zur linken Seite, scannte die zerschossene Fassade der Villa links neben dem zerstörten Terrassenfenster, und surrte anschließend langsam wieder zurück. »Sie hat uns gelinkt«, sagte Robert Trush in diesem Moment zu Professor Zamorra. »Das Ding ist ferngesteuert!« »Was?« »Sie ist nicht hier. Jedenfalls nicht im Gebüsch. Vielleicht hockt sie irgendwo am anderen Ende der Stadt auf einem Sofa und steuert das Gewehr mit einem Laptop.« Ohne lange zu zögern, trat der Körper des Nachbarn im Vorgarten zu. Die MPi flog zur Seite – und die Gefahr war auf extrem simple Weise gebannt. Doch es gab keinen Zweifel daran, dass die Killerin in der Nähe war, wahrscheinlich sogar bereits im Haus, denn sie musste sichergehen, dass Elvira Montgomery starb.
Trush teilte Zamorra alles mit. Gemeinsam hetzten sie in die Küche, wo Barnaby und Elvira Montgomery warteten. Das angebliche Medium saß auf einem Küchenstuhl und starrte reglos auf den heruntergelassenen Rollladen. Ein Lichtkranz aus Halogenscheinwerfern tauchte ihr versteinertes Gesicht in ein kaltes, grellweißes Licht. Zamorras Blicke huschten über die breiten Arbeitsflächen, den Designerkühlschrank und die goldenen Armaturen über dem edel marmorierten Keramikspülstein. Es gab kein Besteck oder
Küchenmesser in Griffweite, das die Montgomery als Waffe missbrauchen konnte. Auch während die Killerin noch lauerte, mussten sie auf Nummer sicher gehen, denn Elvira Montgomery war eine eiskalte Person, die jede Möglichkeit nutzen würde, um zu entkommen. »Ein hübsches Haus haben Sie sich da zugelegt«, sagte der Meister des Übersinnlichen spöttisch. »Erstaunlich, was man mit ehrlicher Arbeit alles verdienen kann.« Sie erwiderte nichts, sah ihn nicht mal an. Trush lehnte sich vor. »Macht es Sie nicht rasend, dass Ihr Lebenswerk jetzt von heute auf morgen zerstört wird? Erst diese Killerin, dann unsere Ermittlungen. Sie werden den Rest ihres Lebens im Knast verbringen, Miss Montgomery – vorausgesetzt, dass die Killerin da draußen Sie nicht erwischt.« Sie blickte ihn hasserfüllt an. »Sie glauben, Sie könnten uns entwischen und anderswo wieder unter falschem Namen leichtgläubige Leute ausnehmen. Schminken Sie sich das ab. Die Nummer ist für immer vorbei.« »Ich habe Beschützer«, presste sie hervor. »Sie wissen gar nicht, gegen wen Sie sich stellen, Trush. Gegen was Sie sich stellen. Da hilft Ihnen auch der Dämonenjäger nichts.« Ihr Blick suchte Zamorras Augen. »Kapiert, Sie Spinner? All Ihre Erfahrung wird nichts nützen!« »Wer ist der Drahtzieher in der ganzen Sache?«, fragte Trush. Sie drehte den Kopf zur Seite. »Von mir erfahren Sie kein Wort.« »Es geht zu Ende mit Ihnen, Miss Montgomery. Schauen Sie sich ruhig noch mal um. Es ist vielleicht das letzte Mal, dass Sie das alles zu Gesicht bekommen.« In ihre Augen zog etwas Eiskaltes ein. »Sie werden nicht gewinnen, Trush. Und auch nicht Zamorra, der sich so geschickt bei mir eingeschlichen hat. Sie werden alle leer ausgehen, wenn das hier vorbei ist.« Trush lachte kühl. »Ich habe bereits Verstärkung angefordert«, sagte er gelassen. »Wenn die Kollegen hier sind, werden sie die Killerin festnehmen, und dann kümmern wir uns um sie, Miss
Montgomery.« Das war der Moment, in dem das Licht ausging. In derselben Sekunde ertönte das gedämpfte Ploppen eines Schalldämpfers, das Zamorra einen eisigen Schauer im Nacken verursachte. Er sprang auf und hechtete zur Tür. Im Flur sah er gerade noch den Schatten, der aus der Küche zur Haustür wischte. Eine drahtige Frau in einem schwarzen Anzug, die er nur zu gut kannte. Er zielte und schoss. Die Killerin machte eine Rolle vorwärts, die einem Judokämpfer zur Ehre gereicht hätte, und seine Kugel pfiff ins Leere. Er presste sich gerade noch rechtzeitig in den Schatten der Türfüllung. Die schallgedämpfte Waffe in der Hand der Killerin zuckte, und das Projektil schoss hinter Zamorra in die Decke. Eine zweite Kugel folgte. Als er um die Ecke spähte, sah er gerade noch, wie seine Gegnerin aus der Haustür floh. Er feuerte zwei Schüsse ab, die jedoch ohne Wirkung blieben, und drehte sich um. Sergeant Barnaby kniete neben der Hellseherin, die reglos am Boden lag. Elvira Montgomery blutete aus einer Wunde oberhalb des Herzens. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig. Pfeifend entwich die Luft aus ihrem Mund. Er überlegte, der Killerin zu folgen – aber da huschte Robert Trush hinter ihm vorbei und nahm ihm die Entscheidung ab. »Ich schnappe sie mir«, rief er. »Die Würmer habe ich erledigt. Die Montgomery wird sterben – holen Sie vorher alles aus ihr heraus!« Er war aus der Tür, bevor Zamorra etwas erwidern konnte. Zamorra ging neben Elvira Montgomery zu Boden. Die Blutung wurde mit jeder Sekunde schlimmer. »Der einzige Treffer?« Barnaby nickte. »Präzise und absolut professionell. Der erste Schuss ging in die Brust.« »Rufen Sie den Notarzt.« Zamorra presste ein Küchenhandtuch auf die Wunde. Dann machte er seinem Ärger Luft. »Verdammt noch mal, del Borges hat uns alle an der Nase herumgeführt! Können Sie mich hören, Miss Montgomery?«
Ihre Lider flatterten. Die Pupillen wanderten von rechts nach links und wieder zurück, als hätte sie sie nicht vollständig unter Kontrolle. Ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrem Mund. Während Barnaby das Handy zückte, beugte sich Zamorra über Elviras fleischiges Gesicht. Ihr Atem rasselte. Die Wunde war ein glatter Durchschuss. Eine Blutlache breitete sich unter ihr aus. Wenigstens war das Herz nicht getroffen worden. Trotzdem ahnte Zamorra, dass der Notarzt zu spät kommen würde. Elviras Blick verschleierte sich bereits. Immer wieder hustete sie Blut. »Miss Montgomery, sagen Sie mir den Namen«, beschwor Zamorra sie. »Wer steht hinter Ihnen? Wollen Sie, dass Ihr Boss genau so stirbt wie Sie?« Sie suchte Zamorra, doch sie hatte Schwierigkeiten, den Blick zu fokussieren. »Zamorra …«, murmelte sie zwischen Blasen von Blut hindurch und verzerrte ihre Lippen zu einem Grinsen. »Sie … haben versagt …« Der Meister des Übersinnlichen wusste, dass sie es nur sagte, weil sie glaubte, das Sterben auf diese Weise für sich leichter machen zu können. Elvira Montgomerys Existenz neigte sich dem Ende zu, und zwar unerbittlich. Aber sosehr es ihn ärgerte, sie hatte recht. Sie hatten alle versagt. Es war ihnen nicht gelungen, sie vor der Killerin zu beschützen. »Wir können Ihrem Boss helfen! Aber dafür muss ich die Wahrheit wissen. Weshalb haben Sie damals das Attentat auf Frank del Borges verübt? Sie haben die Frau und das Kind töten können, aber del Borges kam von den Toten zurück! Warum haben Sie das getan?« »Frank … Verräter … erpresst …« »Er hat Sie erpresst?« »… musste … sterben …« »Er wollte aussteigen und hat sie erpresst?«, wiederholte Zamorra. Aber Elvira Montgomery hörte ihn schon nicht mehr. Ihr Kopf war zurückgesunken, ihr Blick erstarrt. Die letzten Blutblasen auf ihren Lippen platzten. Elvira Montgomery war tot. »Vielleicht gibt es Unterlagen im Haus«, sagte Barnaby tonlos. »Irgendwo wird sich doch der verdammte Name ihres Bosses finden
lassen!« Zamorra hörte, dass sich draußen Streifenwagen näherten; die Verstärkung, die Trush angekündigt hatte, kam zu spät. Autotüren schlugen, dann erklangen Stimmen und Schritte. Fünf Minuten später kam Robert Trush zurück. Sein Blick sagte Zamorra, dass er keinen Erfolg gehabt hatte. Er hatte es nicht anders erwartet. »Diese Frau ist flink wie eine Katze«, keuchte Trush. Der Meister des Übersinnlichen erwiderte nichts. Was hätte er auch sagen können? Er hatte es schließlich am eigenen Leib erlebt. Der Tatort wurde abgesperrt. Die Spurensicherung durchkämmte das Haus von oben bis unten. Sämtliche Akten und Computerfestplatten wurden auf den Namen des Bosses der Montgomery durchsucht. Rechnungen, Geldtransfers, Konten. Es gab ein Meer von Informationen, durch das sich die Experten graben mussten. Die meisten Leute waren sich nicht darüber klar, welche Spuren sie in jeder Minute ihres Lebens in der wirklichen wie auch in der digitalen Welt hinterließen: Fingerabdrücke, DNS-Spuren, IPAdressen … Elvira Montgomery hingegen war ein Profi gewesen. Sie hatte jahrelang nichts anderes getan, als ihre wahre Identität der Öffentlichkeit gegenüber geheim zu halten. Es gab nicht den kleinsten Hinweis auf einen Drahtzieher hinter Montgomerys dunklen Geschäften.
8. Am dritten Vormittag nach Elviras Tod erwachte Zamorra in seinem Hotelzimmer und sah Nicole an, die neben ihm tief und fest schlief. Er stand leise auf und blickte aus dem Fenster auf die Wolkenkratzer New Yorks, in deren Fenster sich die Morgensonne spiegelte. Gedankenversunken stand er da, bis Nicoles Stimme ihn in die Wirklichkeit zurückholte. »Vielleicht hat die Montgomery dir nur eins auswischen wollen. Ein letztes Rätsel sozusagen. Vielleicht gibt es überhaupt gar keinen Boss.« Zamorra setzte sich auf die Kante des Betts. »Walker alias del Borges hat auch von ihm gesprochen, und er muss es ja wohl wissen.« »Heute ist die Beerdigung«, sagte Nicole. »Vielleicht taucht er da auf.« »Nur wenn er ein kompletter Idiot ist.« Aber wie ein Idiot kam Zamorra dieser Mister X bisher nicht vor. Eher wie ein Phantom, das nicht zu fassen war. Sie gingen gemeinsam ins Bad. Nicole hüpfte gerade unter die Dusche, als das Telefon klingelte. Zamorra blickte ihren schlanken Körper wehmütig an und eilte zum Apparat. »Guten Morgen«, knarrte Trushs Stimme. Zamorra hatte ihm in den letzten beiden Tagen tausend Fragen über seine Herkunft gestellt, ohne auch nur eine einzige Antwort zu erhalten; der Meister des Übersinnlichen wusste nun, dass sich ein altägyptisches, magisches Wesen im Körper des Cops befand – mehr aber nicht. »Was gibt's?« »Dieser Anwalt, Thomlin, hat sich bei uns gemeldet«, sagte Trush. »Er hat sich beschwert oder besser gesagt einen Riesenaufstand gemacht. Er will vor Gericht gehen, weil seine Klientin aufgrund grober Pflichtverletzung unsererseits gestorben sei.«
»Auf die Begründung der Klageschrift bin ich gespannt«, meinte Zamorra. »Gehen Sie zu der Beerdigung?« Zamorra seufzte. Es würde eine Pflichtaufgabe werden, nicht mehr. Dass es Mörder zu den Beerdigungen ihrer Opfer zieht, gab es vielleicht im Kino. Die Wirklichkeit sah meistens anders aus. Keiner sprach es aus, aber beide wussten, dass die ersten Tage nach einer Mordtat entscheidend waren. Wenn man in dieser Zeit keine verwertbaren Spuren fand, wuchs die Gefahr, dass man den Fall ohne Ergebnis abschließen musste. Genau danach sah es im Moment aus. Ob die Killerin noch mal zuschlug oder nicht – wer konnte es wissen, wenn man nicht einmal das Opfer kannte? Zamorra jagte lange genug Dämonen, um zu gelernt zu haben, dass man manchmal mit Niederlagen leben musste, weil sie nicht zu ändern waren. Trotzdem machte ihn der Gedanke rasend, dass die Killerin irgendwo dort draußen frei herumlief und der unbekannte Boss weiterhin magische Praktiken nutzte, um sein Verbrecherimperium zu führen. Auch Frank del Borges war untergetaucht. Sie hatten versucht, die Anrufe auf Zamorras Handy zurückverfolgen zu lassen, doch sie waren über einige Relaisstationen im Internet geschaltet worden. Keine Chance. Die Cops hatten seine Wohnung in Manhattan auf den Kopf gestellt. Nichts. Es war zum Verzweifeln. Die Beerdigung verlief ohne weitere Zwischenfälle. Doch am Abend kam endlich Bewegung in die Geschehnisse. Ein Ereignis trat ein, das Zamorra glatt von den Socken haute. Er fand Frank del Borges. Oder besser gesagt – del Borges fand ihn. Es klopfte an die Hotelzimmertür, Zamorra öffnete, und da stand er. Er trug denselben beigefarbenen Cashmere-Mantel wie bei ihrer ersten Begegnung, und in sein Gesicht war dasselbe herablassende Lächeln eingemeißelt. Er blähte die Nasenflügel, als nehme er Witterung auf. »Wo haben Sie Ihre Geliebte Nicole gelassen?« »Sie ist einkaufen«, sagte der Meister des Übersinnlichen. »Lassen
Sie uns zur Sache kommen. Sie haben mich ganz schön an der Nase rumgeführt. Ich habe schon bei unserer ersten Begegnung in der Dachgeschosswohnung gespürt, dass Sie nicht sauber sind. Aber ich war nicht klug genug, auf mein Gefühl zu hören. Dass Sie allerdings … tot sind, überrascht mich.« Er lachte. »Ich bin wohl kaum der typische Zombie. Ich weiß selbst nicht, wie diese altägyptische Magie mich wiedererweckt hat. Jedenfalls lebe ich, denke und fühle … sogar mein Herz schlägt. Seltsam, nicht wahr? Ich atme, ich esse … und doch war ich tot. Und ich lebe nur, weil ich ein Werkzeug für diese Wesen bin.« Zamorra nahm diese Informationen auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Offenbar befand sich del Borges in Plauderlaune. »Warum haben Sie mir die Briefe geschickt?« »Ich wollte, dass Sie verstehen.« »Was sollte ich verstehen?« »Den Sinn. Die Hintergründe. Ich wollte, dass Sie das Puzzle zusammensetzen. Nicht jetzt, aber vielleicht später einmal, wenn es vorbei ist.« Er verzog das Gesicht. »Ich werde nicht mehr lange leben, und ich werde mich noch im Grab freuen, wenn Sie diesen magischen Wesen eins auswischen, Zamorra. Nur Sie können das.« »Ich stehe dieser Magie hilflos gegenüber. Mein Amulett …« Er schnaubte. »Lassen Sie das. Sie haben noch andere Kräfte in petto, das weiß ich. Sie werden auch damit fertig. Später. Wenn alles vorbei ist. Wenn der Boss erst mal tot ist, ziehen sich die magischen Wesen wieder zurück. Dann ergibt es für sie auch keinen Sinn mehr, mich am Leben zu erhalten. Ich werde wieder sterben … aber ich habe dann meine Rache vollendet. Ich sterbe gerne.« Er lupfte seine Brille, sodass Zamorra einen Blick auf seine vernarbten Augenhöhlen werfen konnte. »Warum sind Sie hier, Mr. del Borges?« Es war ein eigenartiges Gefühl, dieses Wesen so zu nennen. Der Besucher legte eine Kunstpause ein, bevor er den Satz sagte, vor dem sich Zamorra die ganze Zeit gefürchtet hatte. »Meine Komplizin wird noch ein letztes Mal zuschlagen. Dann ist das Werk vollbracht.«
»Wer ist Ihre Komplizin?« »Das tut nichts zur Sache. Sie erledigt ihre Arbeit. Dafür habe ich sie bezahlt.« »Wann wird sie den Boss ermorden?«, presste er hervor. »Das verrate ich Ihnen, wenn Sie sich endlich die Mühe machen zu begreifen.« »Dann erklären Sie es mir.« Er strich mit der Hand über den Tisch, als würde er ein Kind streicheln. Trotz seiner Beteuerung, er habe noch alle seine Gefühle, hatte er sich auf andere Weise zu einem Wesen ohne Moral, zu einem infernalischen Monstrum entwickelt, das alle Menschlichkeit abgestreift hatte. Eine Kreatur, die nur noch einmal dem Grab entstiegen war, um andere mit sich ins Verderben zu reißen. »Ich habe für die Montgomery gearbeitet, aber ich war stets bemüht, andere zu retten. Das war ich wirklich.« »Natürlich. Und wenn ich das Licht ausmache, kann ich vielleicht noch den Heiligenschein um ihren Kopf leuchten sehen.« »Wen interessiert schon, was Sie glauben, Professor? Elvira war wie ein Parasit, der seinem Wirt das Blut aussaugt. Einen toten Kunden kann man nicht weiter ausnehmen. Deshalb hatte niemand ein Interesse daran, dass Menschen starben. Nehmen Sie nur Sheryl Clarke … niemand wollte sie tot sehen. Es kam einfach so.« Zamorra drehte sich der Magen um, diese Kreatur so reden zu hören. »Haben Sie Jenny Regan und den kleinen Paul geliebt?« Del Borges' Gesicht erstarrte zu einer Maske. Es war das erste Mal, dass Zamorra ihn getroffen hatte. »Ich habe sie geliebt, wie man nur zwei Menschen lieben kann.« »Inzwischen weiß ich viel, aber nicht alles. Es wäre nett, wenn Sie mir helfen würden, Mr. del Borges.« Zamorra rief sich die Fakten in Erinnerung, die in der Mappe gestanden hatten, die Trush ihm überlassen hatte. »Jenny Regan, zweiunddreißig Jahre alt, ehemalige Polizistin, dann Mitarbeiterin in einer Sicherheitsfirma. Verwitwet. Mutter eines vierjährigen Sohnes. Name: Paul Regan. Das war vor einem Jahr.« »Jenny war eine von Elviras Kunden«, sagte del Borges tonlos.
»Ich wurde auf sie angesetzt, doch vom ersten Augenblick war für mich klar, dass ich sie niemals behandeln konnte wie die anderen Frauen. An jenem Tag entschied sich, dass ich bei Elvira aussteigen würde.« »Weiter«, forderte Zamorra. »Sie hatte ein paar Monate zuvor ihren Mann bei einem Raubüberfall verloren. Er war in einem Schnapsladen, um Zigaretten zu kaufen. Der Täter war ein Amokläufer. Er überwältigte den Kassierer, dann schoss er John Regan in den Kopf. John war sofort tot.« Diese Geschichte stand auch in den Akten des NYPD. Zamorra wartete ab, was er noch erfahren würde. »Jenny dachte, dass sie bei Elvira Montgomery Trost finden würde. Sie glaubte nicht daran, dass ihr Mann im Jenseits weiterlebte, aber die Séancen, die Rituale … das alles gab ihr die Kraft, mit dem Verlust umzugehen. Außerdem hatte sie ja noch Paul. Er war ihr Grund weiterzuleben.« »Sie haben sich in Jenny verliebt.« »Es war ein beiderseitiges Gefühl. Elvira hatte mich ihr zugeteilt, aber ich brachte es nicht übers Herz, mit anzusehen, wie Jenny von Elvira ausgenommen wurde. Ich klärte sie auf. Wir beschlossen, zusammen mit Paul die Stadt zu verlassen. Jenny hatte schon Wochen zuvor den Polizeidienst verlassen. Sie sah es als ihre Schuld an, dass John gestorben war. Sie sagte, sie hätte ihn retten müssen.« »Sie wollten also ein neues Leben beginnen. Ohne Arbeit? Ohne Geld?« »Jenny hatte genug Geld. Ihr Mann war ein selbstständiger Versicherungsmakler gewesen. Sie war Millionärin. Aber ich wollte nicht von ihrem Geld leben. Also bat ich Jenny um ein Jahr Zeit, meine Angelegenheiten zu regeln.« »Um Elvira Montgomery zu erpressen«, präzisierte Zamorra. »Damit hat das ganze Unheil seinen Anfang genommen.« »Ich habe nur verlangt, was mir zusteht«, behauptete del Borges. »Warum dann dieses Attentat auf Sie vor einem Jahr?« Er machte eine Pause. »Haben Sie vielleicht etwas zu trinken?«
»Später, Mr. del Borges.« Er lachte heiser. »Ich bin vielleicht tot, aber verstehen Sie … ich lebe trotzdem. Komische Sache mit dieser ägyptischen Zauberkraft. Ich habe Durst. Sie wollen doch die ganze Geschichte hören.« Zamorra holte eine Flasche Wasser aus der Minibar. Del Borges nahm einige Schlucke, dann sagte er: »Eins nach dem anderen. Sprechen wir zunächst über Elvira Montgomery.« »In Ordnung. Wie lange haben Sie für sie gearbeitet?« »Ich kam vor zehn Jahren nach New York, nur mit ein paar Dollar in der Tasche. Ich war kräftig, und Elvira brauchte Leute, die kräftig waren. Leute, die keine Fragen stellten.« »Elvira hat Sie eingestellt?« »Zunächst bekamen wir nur ein paar einfache Jobs. Menschen beobachten. Die Profile zukünftiger Kunden ausspionieren, so was in der Art.« »Wer ist wir?« »Ich und ein paar andere, die für Elvira arbeiteten. Dumme, grobschlächtige Kerle. Die meisten davon sind inzwischen tot, weil sie sie weggeworfen hat wie ein Werkzeug, das man nicht mehr braucht.« »Terry Norton, Parker Jackson«, warf Zamorra einige Namen in den Raum. Del Borges nickte. »Mich hatte sie anfangs wohl unterschätzt, aber schon bald merkte sie, dass es mir nicht reichte, die Drecksarbeit zu verrichten. Die meisten von Elviras Kunden waren Frauen, müssen Sie wissen. Labile Frauen. Psychotische Frauen. Frauen, die ohne den Rat einer Wahrsagerin nicht durchs Leben kamen. Diese Kundinnen lechzten förmlich nach einer starken Schulter.« »Sie gaben sich als ihr Freund aus, schmeichelten sich bei ihnen ein. Auf diese Weise sorgten Sie dafür, dass die Umsätze stimmten.« »Ich hielt die Damen bei der Stange, sehr richtig. Bei einigen war es mir ein Vergnügen, bei anderen weniger. Bei Sheryl Clarke zum Beispiel hatte ich von Anfang an ein mieses Gefühl. Sie befand sich in schlechter Gesellschaft. Ein paar Fixerfreunde wie diese Brenda Rain, dann noch dieser schmierige Filmproduzent … Carver hieß er,
glaube ich. Es war klar, dass diese Geschichte kein Happy End nehmen würde.« »Und wenn sie sowieso geliefert war, warum nicht vorher noch ein bisschen abkassieren«, setzte Zamorra hinzu. Del Borges fasste nach seiner Brille, und für einen Moment befürchtete Zamorra, dass er sie erneut anheben würde. Aber er schob sie lediglich zurecht und sagte: »Wir leben in verschiedenen Welten, Sie und ich. Wir werden nie zueinanderfinden.« »Da mögen Sie recht haben. Warum haben Sie Elvira Montgomery getötet?« »Ein paar Jahre lief es gut zwischen uns«, erzählte er weiter. »Das Geschäft funktionierte, es kam regelmäßig Geld rein, was hätte ich mehr verlangen sollen. Aber dann begann mich der Job anzuöden. Zunächst waren es die Kunden, die mich langweilten. Immer dieselben verzweifelten Gesichter, immer dieselben herzerweichenden Geschichten. Ich konnte es irgendwann nicht mehr ertragen. Als mich dann auch noch Elvira selbst zu langweilen begann, beschloss ich, dass es Zeit war auszusteigen.« »Sie wurden Elviras überdrüssig?« »Sie hielt sich für genial. Sie meinte, sie hätte die ultimative Masche gefunden, um Leute auszunehmen. Sie hat bis zuletzt nicht begriffen, dass sie selbst nur ein Rädchen im Getriebe war, eine Marionette in den Händen eines anderen. Eines anderen überdies, der eine alte magische Macht beschworen hatte und dadurch alles bombenfest kontrollierte.« »Und diese Macht ist Ihnen zum Verhängnis geworden«, sagte Zamorra. »Wenn Sie darum wussten, wie konnten Sie dann so dumm sein, sich gegen Montgomery und ihren Magier-Boss zu stellen?« Del Borges' Lippen zitterten. »Ich glaubte, ihnen allen ein Schnippchen schlagen zu können. Ich schlug der Montgomery einen Deal vor. Ich versprach, ein letztes Jahr für sie zu arbeiten, und danach sollte ich eine Abfindung erhalten, die mir ein sorgloses Leben ermöglicht. Ich wollte in den Süden, nach Arizona oder Texas, wo mich kein Mensch kennt, und dort ein neues Leben
beginnen.« »Klingt ziemlich naiv, wenn Sie mich fragen.« »Es war naiv von mir. Ich habe Elviras Gier unterschätzt. Und die magische Macht ihres Bosses. Sie wussten um meine Loyalität, und so warteten sie, bis das versprochene Jahr vorbei war. Sie hatten mir eine Summe von zwei Millionen Dollar versprochen, aber nie die Absicht gehabt, mich auszuzahlen. Der Tag, an dem ich das Geld bekam, sollte zugleich der letzte meines Lebens werden.« Er runzelte die Stirn, als müsste er sich erst der Einzelheiten von damals entsinnen. »Wir trafen uns bei einer alten Fabrikhalle in Brooklyn – Elvira, Terry Norton und einige andere. Der Boss war zu Hause geblieben, weil er sich nicht die Finger schmutzig machen wollte. Elvira gab mir den Koffer. Ich zählte das Geld, ging zurück zu meinem Wagen und fuhr davon. Alles schien in Ordnung.« »Doch als Sie zu Hause ankamen, erwartete Sie eine Überraschung.« »Richtig, Professor«, sagte del Borges und nahm einen weiteren Schluck. »Sie hatten Jenny auf einen Stuhl gesetzt. Der kleine Paul saß auf ihrem Schoß. Sie waren beide nackt und von widerlichen Tentakelarmen umschlungen und gefesselt. Diese Tentakel kamen aus einem finsteren Wabern vor Pauls Brust. Eine magische Bombe, die nur darauf wartete, dass sich jemand daran zu schaffen machte. Dass ich mich daran zu schaffen machte. Der Anblick war so erbärmlich und widerlich. Ich konnte nicht anders. Ich musste versuchen, die beiden zu befreien. Und das war unser aller Tod.« »Sie haben also versucht, sie zu befreien«, stellte Zamorra fest. »Es gelang mir, Jennys Fesseln zu lösen, aber ausgerechnet der kleine Paul war nicht freizubekommen. Ich befahl Jenny, die Wohnung zu verlassen, aber sie gehorchte nicht. Dann war es zu spät.« »Die magische Bombe tötete Jenny und Paul.« »Mäuler schnappten aus der Dunkelheit, und Licht überflutete uns. Ich hatte das Gefühl, in einen gleißenden Abgrund zu fallen. Etwas fraß sich in mein Fleisch, fraß meine Augen. Dann starb ich. Den Rest kennen Sie … mein Hass hat meine Mörder offenbar
beeindruckt, und sie beschlossen, mich zurückzuschicken. Ich sollte für sie den Boss ausschalten, der sie sich durch seine Beschwörung Untertan machte. Die magischen Wesen wollten zurück in die Freiheit und Unabhängigkeit, und das wird ihnen auch in Kürze gelingen. Dann kann ich endlich auch sterben.« Del Borges verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. »Und diesmal werde ich tot bleiben. Niemand wird da sein, der mich zurückschickt.« Zamorra wusste nicht, was er von der Sache halten wollte. In der Stimme seines Gegenübers lag eine Bitterkeit, die ihn glauben machen wollte, dass er die Wahrheit sagte. Aber letzte Zweifel blieben. Del Borges war clever. Für alles, was er sagte oder tat, gab es einen Grund. Er versuchte stets, seine Umgebung zu manipulieren. »Eine hübsche Geschichte. Sie können versichert sein, dass ich Jennys und Pauls Tod bedaure, und Ihren ebenso. Aber im Augenblick gibt es ein dringenderes Problem. Wer ist der Boss? Wer ist das letzte Ziel? Auf wen haben Sie die Killerin angesetzt? Auch ich will diese ganze Sache beenden, aber ich werde nicht zulassen, dass ein weiterer Mensch stirbt. Und egal, was er getan hat, der Boss ist ein Mensch.« Zamorra starrte auf die verspiegelten Gläser von del Borges' Brille und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er ihn ebenfalls beobachtete. Dummes Zeug, sagte er sich. Aber etwas stimmte nicht an del Borges Geschichte. Irgendein Teil passte nicht in das Puzzle, das er entworfen hatte. Der Meister des Übersinnlichen rief sich wieder die Informationen aus der Akte in Erinnerung, die das NYPD über del Borges geführt hatte. Frank del Borges … Verdächtig, ins Prostitutionsgeschäft verwickelt zu sein, außerdem wurden ihm Kontakte zur Drogenszene nachgesagt. Aber er kam jedes Mal mit einem blauen Auge davon. Vielleicht lag es nur an dem gewieften Anwalt, der ihn rausgehauen hatte – Dr. Alan Thomlin. Zamorra kräuselten sich die Fußnägel, wenn er an diesen schmierigen Kerl dachte, der auch als Anwalt der Montgomery aufgetreten war. Es gibt Regeln, an die man sich halten sollte, hatte er gesagt und sein Zigarettenetui aufgeklappt. Und da war noch etwas gewesen … etwas, das mit del Borges'
angeblichem Tod zusammenhing. Plötzlich wurde dem Meister des Übersinnlichen einiges klar. »Noch mal zu Jenny und Paul Regan«, forderte Zamorra. »Sie können sich vorstellen, dass ich am Boden zerstört war, als ich erfuhr, dass Paul und Jenny tot waren. Ich habe Rache geschworen. Die Möglichkeiten dazu hatte ich. An Jennys Geld kam ich zwar nicht ran, aber ich besaß immerhin noch Elviras zwei Millionen, die ich in einem Schließfach aufbewahrt hatte. Geld, das mir zustand und das ich verwenden wollte, um mich an Elvira und ihren Helfern zu rächen.« »Die ersten paar Scheine investierten Sie, um die Ermittlungen nach dem Anschlag zu sabotieren. Sie sorgten dafür, dass Elvira glaubte, es hätte Sie ebenfalls erwischt.« »Ich war blind. Ich brauchte Zeit, um meine Rache vorzubereiten. Die Planungen waren sehr aufwendig. Da ich den Abzug nicht selbst drücken konnte, musste ich einen Killer engagieren. Jemanden, der gut war und außerdem verschwiegen. Ein Jahr lang habe ich auf diesen Tag hingearbeitet, und ich werde nicht zulassen, dass Sie mir alles kaputt machen. Wenn ich das befürchten würde, hätte ich Sie nicht eingeschaltet.« Zamorra grinste kalt und humorlos. »Ich soll für Sie nur noch den Rächer spielen, wenn alles vorbei ist, nicht wahr? Soll die altägyptischen Wesen vernichten? Vergessen Sie's. Ich lass mich nicht benutzen, so wie Sie sich von den Wesen benutzen lassen.« »Oh doch … Sie werden diese Wesen vernichten. Allein deshalb, weil sie existieren.« »Da schätzen Sie mich falsch ein. Diese Kreaturen wollen ihre Ruhe, nicht mehr. Sie wären nie in Erscheinung getreten, wenn sie nicht beschworen worden wären. Ich sehe keinen Grund, sie zu vernichten. All die Morde gingen von Menschen aus. Von Ihnen. Von Montgomery und ihrem Boss. Die Kreaturen sind unschuldige Werkzeuge.« »Aber solange der Boss lebt, können sich diese Wesen nicht zurückziehen und werden weiterhin gezwungen zu morden. Wenn Sie also versuchen, sein Leben zu retten, begehen Sie eine völlig
unsinnige Handlung, Professor.« »Das werden wir ja sehen. Menschenleben«, er sah del Borges an, »Menschenleben stehen für mich immer an erster Stelle, auch wenn Sie das nicht verstehen können. Also los, packen Sie aus! Wen haben Sie engagiert?« »Ich kenne ihren Namen nicht. Ich habe über einen Mittelsmann Kontakt aufgenommen, und wahrscheinlich kennt der sie auch nur über einen Mittelsmann. Echte Profis sind ziemlich vorsichtig, was diese Dinge angeht.« »Wie kontaktieren Sie sie?« »Gar nicht. Sie macht weiter, bis die Mission beendet ist. Ich habe ihr nur die Rahmendaten zukommen lassen. Die Reihenfolge, in der die Objekte erledigt werden sollten. Die Zeitpunkte, die Personenbeschreibungen. Alles andere übernimmt sie.« »Das heißt, Sie könnten sie nicht mal stoppen, wenn Sie wollten?« »Sie haben's kapiert. Ich kann sie nicht stoppen.« Er log. Das wusste Professor Zamorra genau – die Gespräche vor Elvira Montgomerys Tod bewiesen es. »Wenn diese Frau so ein Profi ist, wie Sie sagen, warum hat sie dann versehentlich Warren Murdock erschossen?« »Es war meine Schuld. Sehr ärgerlich. Eine schlechte Beschreibung des Ziels, aber darüber haben wir ja schon gesprochen. He, ich bin blind, kapiert!« Zamorra lehnte sich zurück. »Ein paar Punkte Ihrer Geschichte stimmen, aber die meisten nicht.« Del Borges lächelte, aber seine Nervosität war nicht zu übersehen. »Warum sollte ich Sie anlügen? Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich bin in Kürze tot. Endlich.« »Weil es Ihnen Spaß macht. Weil Sie das alles immer noch für ein Spiel halten.« Der Meister des Übersinnlichen verschränkte die Arme. »Ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte. Unterbrechen Sie mich einfach, wenn Ihnen Teile davon bekannt vorkommen. Eine Frau namens Jenny Regan lebt mit ihrem Mann John und ihrem Sohn Paul zusammen in Downtown Manhattan. John ist Versicherungsmakler und verdient eine Menge Geld, das er unter
anderem dafür verwendet, die Schrullen seiner Frau zu finanzieren. Sie ist nämlich abergläubisch, lässt sich aus der Hand lesen, Horoskope erstellen und so weiter. Nicht nur, dass ihr schmales Gehalt als Cop bei der New Yorker Polizei nicht ausreicht, ihr Hobby zu finanzieren. Dieses Hobby bringt sie darüber hinaus auch noch bei den Kollegen in Verruf. Sie ist einsam, sie wird noch unsicherer, und sie verstrickt sich immer weiter in diese Hokuspokusgeschichte, verliert immer mehr Geld. Ihre Ehe mit John ist am Ende, aber er liebt sie und unterstützt sie weiter. Da lernt sie Elvira Montgomery kennen und über Elvira Montgomery Sie, Mr. del Borges. Sie verkörpern alles, was John Regan nicht ist. Sie sind kräftig, sportlich, zupackend, abenteuerlustig, sie umweht ein Hauch von Gefahr. Jenny verfällt ihnen, und Sie verfallen Jennys Geld. Vielleicht lieben Sie sie tatsächlich, aber zumindest am Anfang geht es Ihnen nur um ihr Vermögen.« »Was soll das?«, unterbrach del Borges. Zamorra ließ sich nicht beirren. »Sie kommen an dieses Geld nicht heran – nicht, solange John Regan noch lebt. Also beschließen Sie, ihn zu töten. Sie beobachten John und stellen fest, dass er sich stets im selben Schnapsladen seine Zigaretten besorgt. Sie schnappen sich ein paar von Elviras Leuten – Parker Jackson, Terry Norton, keine besonders hellen Gestalten, die ihre wahren Absichten nicht durchschauen – und überfallen den Laden. Terry und Parker glauben, dass es um einen kleinen Raubüberfall geht. Sie aber lassen die Sache eskalieren und töten John Regan scheinbar im Affekt. Daraufhin gerät Parker Jackson in Panik. Er will Elvira von der Sache erzählen. Das aber können Sie nicht zulassen. Sie töten ihn und versenken seine Leiche im Hudson. Terry erzählen Sie irgendeine Geschichte, dass Parker die Stadt verlassen hat und so weiter. Parker war keine große Nummer bei Elvira Montgomery, sie wird ihn nicht vermissen. Bleiben noch Jenny und Paul. Jenny ist am Boden zerstört, dass ihr Mann so sinnlos sterben musste. Sie flüchtet sich in Ihre Arme und ist bereit, mit Ihnen aus New York zu verschwinden. Aber Sie haben immer noch nicht genug. Jennys Geld reicht Ihnen nicht. Sie kommen außerdem auf die Idee, Elvira
Montgomery zu erpressen. Zwei Millionen Dollar fordern Sie von ihr, ansonsten wollen Sie zur Polizei gehen und auspacken. Elvira geht zum Schein auf den Deal ein. Sie sacken das Geld ein, fahren nach Haus – und erkennen, dass es in Wirklichkeit Elvira ist, die Sie übers Ohr gehauen hat, indem sie in Ihrer Abwesenheit Jenny und Paul Regan an die magische Bombe gekettet hat.« Einen Augenblick lang herrschte Stille. Frank del Borges' Gesicht war wie in Stein gemeißelt. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe sie geliebt«, sagte er rau. »Ich habe Jenny geliebt. Bedingungslos.« Zamorra nickte. »So sehr, dass ihr Mann John deswegen sterben musste.« »Sie verstehen das nicht, Professor. Sie verstehen nicht, dass ich keine andere Wahl hatte.« »Kannte Jenny die Wahrheit, als sie starb?« »Sie hätte es ebenso wenig verstanden wie Sie.« Er stöhnte. »Wie sind Sie darauf gekommen?« »Ich wusste nur, dass Jenny Regan nie den Polizeidienst verlassen hat. Wahrscheinlich hatte sie nicht mal die Absicht. Sie wollte nicht mit Ihnen weggehen … Außerdem habe ich vor einigen Tagen mit Terry Norton gesprochen – bevor er in L.A. starb. Er erzählte mir von dem Überfall auf den Schnapsladen, den Sie, Parker und er damals ausgeführt haben. Er dachte, es ging um Schutzgelderpressung. Er nannte Ihren Namen nicht, aber plötzlich ergab alles einen Sinn. Den Rest«, setzte er nicht ohne eine Spur Befriedigung in der Stimme hinzu, »habe ich mir gerade erst zusammengereimt.« Del Borges' Mundwinkel hoben sich zu einem bitteren Lächeln. »Nicht schlecht, Zamorra, nicht schlecht. Sie sind doch nicht der Dummkopf, für den ich Sie gehalten habe.« »Danke, Mr. del Borges.« Der Parapsychologe sah, dass sein Gegenüber nach Worten suchte. »Sie sollen wissen, dass alles, was ich über Elvira Montgomery gesagt habe, der Wahrheit entspricht. Sie hat mich aufs Kreuz gelegt. Sie hat die einzigen Menschen getötet, die mir etwas
bedeutet haben, und dafür habe ich mich an ihr gerächt.« »Ihre Rache macht Jenny und Paul nicht wieder lebendig.« »Wenn Sie erlebt hätten, was ich erlebt habe, wenn Sie so viel Schuld auf sich geladen hätten, würden Sie wissen, dass es keine Vergebung gibt. Dass der Hass das Einzige ist, was Sie am Leben erhält. Ich habe gewartet. Tage, Wochen, Monate. Habe Pläne geschmiedet, auf meine Chance gelauert. Und jetzt ist die Stunde der Rache gekommen!« Zamorra schüttelte den Kopf. »Es gibt immer Vergebung, und es gibt immer einen Weg zurück.« Del Borges nahm die Brille ab. »Nicht für mich. Ich bin tot.« Zamorras Kehle wurde eng. »Elvira Montgomery ist tot. Machen Sie es nicht noch schlimmer.« »Sie hat es nicht besser verdient! Ich selbst hätte es nicht besser verdient gehabt damals. Ich hätte statt Jenny und Paul sterben sollen!« »Frank«, beschwor Zamorra ihn. »Es ist Zeit, Ihr Schweigen zu brechen. Wer ist das letzte Opfer?« Del Borges' Finger strichen abermals über den Tisch, ertasteten jede Vertiefung, als wollte er sich auf diese Weise versichern, dass seine Sinne noch funktionierten. »Ihnen geht es doch nur darum, dass alles endet«, behauptete Zamorra. »Ich werde den Boss dazu zwingen, von der Magie zu lassen. Die altägyptischen Wesen können sich zurückziehen, Sie, Frank, können sterben … und der Boss erhält seine Strafe vor einem irdischen Richter.« Ein schmallippiges Lächeln voller Resignation antwortete ihm. Zamorra wusste, dass es ein Abschied war. Del Borges' Abschied von der Welt, in der Zamorra und alle anderen lebten. »Es macht sowieso keinen Unterschied. Sie können die Killerin ohnehin nicht mehr aufhalten. Sie ist bereits unterwegs. Sie sollen erfahren, wer der Boss ist.«
9. »Zeit?«, erkundigte sich Nicole. Zamorra warf einen Blick auf die Uhr. »Noch eine knappe Stunde.« Er wandte sich an den Fahrer. »Schneller, Mann, schneller!« Das Taxi schoss vorwärts, auf die Einfahrt der Queensborough Bridge zu. Der Verkehr stadtauswärts war mäßig um diese Zeit. Nicole war gerade rechtzeitig noch von ihrem Einkauf zurückgekommen, um Zamorra begleiten zu können. Del Borges hatte das Hotelzimmer verlassen, um in Frieden zu sterben – weil er davon ausging, dass die altägyptischen Wesen ihm sein zweites Scheinleben bald entzogen. Genau um Mitternacht … wenn die Kugel der Killerin den Boss erledigte und die Wesen wieder frei waren. Zamorra hatte ihn nicht aufgehalten. »Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte Nicole wieder. Der Meister des Übersinnlichen knurrte: »Davon, dass du ständig fragst, werden wir auch nicht schneller. Wahrscheinlich trifft Robert Trush mit seinen Männern noch vor uns am Ziel ein.« Der Meister des Übersinnlichen hatte seinen ungewöhnlichen, besessenen Partner natürlich sofort informiert. Der Weg führte durch Queens in östlicher Richtung. Je weiter sie aus der Stadt herauskamen, desto flüssiger wurde der Verkehr. Als sie Richtung Elmont fuhren, blieben noch zwanzig Minuten. Nicole lehnte sich zurück. »Glaubst du del Borges inzwischen?« »Fang nicht schon wieder an«, seufzte Zamorra. »Ich meine, glaubst du ihm, dass er die beiden Regans rächen will? Das würde ja beweisen, dass sein fauliges Herz irgendwo ganz tief drinnen noch einen gesunden Kern hat.« »Du hältst Rache für eine gerechte Sache?« »Du weißt, was ich meine, Cheri.« Der Parapsychologe zuckte die Achseln. »Es passt zumindest alles
zusammen. Vielleicht wollte er tatsächlich mit Jenny Regan und ihrem Sohn verduften. Vielleicht hat er sie aber auch nur benutzt. Vergiss nicht, dass Jenny Regan millionenschwer war. So viel Geld hat schon charakterfestere Leute als del Borges in Versuchung geführt.« Ihr Ziel lag in der Nähe des Floral Park. Elvira Montgomerys Boss hatte sich auf Long Island wahrlich eine kleine Oase geschaffen: ein riesiges Grundstück, das von einer hohen Steinmauer gesäumt war. Schwere, eisenverzinkte Torflügel versperrten den Weg auf eine kopfsteingepflasterte Auffahrt, die, umsäumt von einheitlich geschnittenen Koniferen, auf das ausladende Gebäude zuführte. Vor dem Tor erwarteten Zamorra und Nicole tatsächlich zwei Streifenwagen des NYPD. Das Taxi entfernte sich bereits, als Trush auf die beiden Dämonenjäger zukam. Er deutete auf seinen Partner. »Sergeant Barnaby kennen Sie ja bereits.« Aus dem zweiten Streifenwagen stiegen zwei weitere Cops, ein drahtiger Farbiger namens Officer Rockwell und Officer Carter, ein schmächtiger Kerl, der kurz vor der Pension stehen musste. »Haben Sie jemanden das Grundstück betreten oder verlassen sehen?«, fragte Zamorra. Trush schüttelte den Kopf. »Der Mord ist für Punkt zwölf Uhr angekündigt worden.« Trush blickte auf seine Uhr. »Das ist in zehn Minuten.« »Wie ist der Plan?«, fragte Sergeant Barnaby. »Sie werden uns auf das Grundstück folgen«, erläuterte Trush. »Sie, Rockwell und Carter sichern das Gelände. Ich werde mit Professor Zamorra und Nicole Duval ins Haus gehen. Vielleicht können wir die Killerin schnappen, bevor sie überhaupt in die Nähe des Opfers kommt.« »Sir«, sagte Barnaby, »für diese Aktion brauchen wir weitere Verstärkung.« Trush schüttelte den Kopf. »Vorerst möchte ich keinen Massenauflauf. Die Killerin wird verschwinden, wenn sie merkt, dass es hier von Polizisten wimmelt.« »Heißt das, dass Sie das Opfer als Köder benutzen wollen?«
»Es heißt, dass ich die Killerin kriegen will«, gab Trush kühl zurück. »Rufen Sie Verstärkung, Barnaby, aber sagen Sie ihnen, sie sollen vorläufig außer Sichtweite bleiben. Weitere Instruktionen folgen.« Die Cops kehrten in ihren Wagen zurück. Zamorra und Nicole stiegen in Trushs Dienstwagen; Trush ließ ihn langsam vor das Tor rollen. »Donnerwetter«, murmelte Nicole, während sie in die Kamera blinzelten, die vom Torflügel herab die Windschutzscheibe scannte, »vielleicht arbeiten wir doch auf der falschen Seite, Chef. Ich meine, die Villa der Montgomery war ja schon monströs, aber das hier …« Auf einem Monitor, der in die Steinsäule neben dem Torflügel eingelassen war, erschien das hagere Gesicht eines Mannes. »Ja, bitte?« »Trush, NYPD«, schnarrte der Cop. Der Mann runzelte die Stirn, als müsste er erst darüber nachdenken, was diese Buchstaben bedeuteten. Dann nickte er langsam. Die Torflügel glitten lautlos auseinander. Der Weg schlängelte sich bis vor den Haupteingang. Der zweite Streifenwagen folgte. Das dreistöckige Haus besaß einen Grundriss von der Größe eines Footballfeldes. Auf der Veranda, die mit marmorierten Platten ausgelegt war, hätte man eine DC-12 landen können. An die rechte Seite war eine Garage angebaut, in der nebeneinander ein Jeep Cherokee, ein Mercedes Coupe und ein roter Lexus standen, natürlich alle blitzblank poliert und ohne einen einzigen Kratzer im Lack. Der Hagere stand auf der Veranda und beobachtete, wie Trush, Zamorra und Nicole aus dem XKR stiegen und auf ihn zukamen. Hinter ihnen kam der zweite Streifenwagen zum Stehen. Der Mann ließ seinen Blick schweifen und machte ein Gesicht, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte. »Guten Tag, Mr. …«, begann Zamorra. »Hollingsworth.« »Mr. Hollingsworth«, sagte Trush, »wir möchten zu …« »Er hat keine Zeit für Sie, Gentlemen«, unterbrach der Diener. »Er
ist sehr beschäftigt.« »Oh«, machte Nicole. »Er wird bestimmt Zeit haben, wenn Sie ihn darüber informieren, dass ein Mordanschlag auf ihn geplant ist.« Hollingsworth verlangte, Dienstmarken zu sehen. Trush zückte seine, worauf der Diener zufrieden war. Er bat darum, auf der Veranda zu warten. Trush gab Barnaby und den anderen einen Wink, und sie verteilten sich um das Haus. »Misstrauischer Kerl, dieser Hollingsworth«, sagte Zamorra. Hollingsworth kehrte zurück und gab den Besuchern einen Wink. Sie durchquerten eine säulengestützte Eingangshalle, stiegen eine breit angelegte Treppe hinauf, die auf eine Galerie führte, und gelangten in ein Empfangszimmer, dessen Wände mit Gemälden zeitgenössischer Künstler geschmückt waren. Die Namen sagten Zamorra nichts. Da er jedoch von der Geschäftstüchtigkeit des Hausbesitzers überzeugt war, hätte er darauf gewettet, dass jedes dieser Gemälde in dreißig Jahren schwieriger zu ergattern war als ein echter Andy Warhol. »Wenn Sie kurz warten würden, Gentlemen …« Hollingsworth verschwand in Richtung Galerie. Kurz darauf öffnete sich eine Tür, und der Mann trat ein, der seit Jahren eine Verbrecherorganisation führte. Ein Mann, der sich nicht gescheut hatte, Zauberei anzuwenden und altägyptische magische Wesen unter seine Herrschaft zu zwingen. Er wirkte ebenso aus dem Ei gepellt wie bei seiner ersten Begegnung mit Zamorra in Elvira Montgomerys Séancenraum vor einer Woche: ein schwarzer Einreiher, ein weißes Hemd mit eingewobenem Muster und gestärktem Kragen. Aus der Brusttasche ragte wieder das aufgefächerte, weiße Einstecktuch, das jeden anderen Menschen wie eine Karikatur aus einem Chaplin-Film hätte wirken lassen. Das Erste, was er tat, war, mit breitem Grinsen sein silbernes Etui aus der Tasche zu ziehen. »Jetzt vielleicht eine Zigarette, Gentlemen?« »Danke, Dr. Thomlin«, sagte Zamorra. »Wir sind aus einem anderen Grund hier.«
Thomlin führte seine Gäste zu einem mahagonifarbenen Tisch, um den drei Sessel mit blutrotem Bezug gruppiert waren. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Gentlemen.« Trush, Zamorra und Nicole setzten sich. Thomlin runzelte die Stirn. »Barry – das ist Mr. Hollingsworth – sprach von einem Mordanschlag. Ich kann nur annehmen, dass es sich um ein Missverständnis handelt.« »Sie dürfen annehmen, dass wir, wenn wir von einem Mordanschlag sprechen, auch einen Mordanschlag meinen«, sagte Trush. Zamorra beobachtete Thomlin, wie er ein goldenes Feuerzeug hervorzog und aufschnappen ließ. Das Zündrad knirschte, die Flamme glomm auf, und Thomlin nahm einen tiefen Zug. Er war keineswegs so gelassen, wie er sich gab. Zamorra sah, dass sein Hals fleckig vor Aufregung war, und der Puder auf seiner Stirn vermochte nicht die Schweißtropfen zu kaschieren, die am Ansatz seiner perfekt sitzenden Frisur perlten. »Elvira Montgomery ist tot«, sagte der Meister des Übersinnlichen und wartete auf eine Reaktion. Thomlin nickte langsam. »Davon habe ich gehört. Die Nachricht hat mich schockiert.« »Mehr fällt Ihnen nicht dazu ein?«, fragte Nicole. Der Anwalt blinzelte irritiert. »Ich verstehe nicht ganz.« »Fragen Sie sich nicht zum Beispiel, wie Miss Montgomery gestorben ist?« Er lächelte indigniert. »Ich bin … war Miss Montgomerys Anwalt. Schreckliche Sache, aber nicht mehr.« »Warum so nervös, Dr. Thomlin?« »Ich bin nicht nervös.« »Elvira Montgomery hat für Sie gearbeitet«, sagte Zamorra. »Ebenso wie Frank del Borges, Terry Norton und eine Menge anderer Leute. Oder wollen Sie mir etwa weismachen, dass Sie sich diesen Palast vom Mund abgespart haben?« »Anwälte sind teuer«, warf Nicole ein. »Wirklich, die ziehen einem
das letzte Hemd aus.« Zamorra nickte. »Sind Sie so ein Anwalt, Thomlin? Einer, der seinen Klienten das letzte Hemd auszieht?« Thomlins Mundwinkel zuckten vor Verärgerung. Er ignorierte die beiden Dämonenjäger und sah Trush an. »Wenn Sie etwas gegen mich vorzubringen haben, dann tun Sie es – andernfalls betrachte ich das Gespräch hiermit als beendet.« »Wir fangen erst richtig an, Thomlin«, knurrte Trush. Zamorra legte ihm einen Arm auf die Schulter. »Nur immer ruhig bleiben. Dr. Thomlin ist schon verunsichert genug. Er fragt sich nämlich gerade, wie viel wir über seine Machenschaften in Erfahrung gebracht haben.« Thomlin wurde rot vor Zorn. »Ich werde Sie verklagen, darauf können Sie sich verlassen!« »Dr. Thomlin«, sagte Zamorra, »ich würde gern weiter meine Späße mit Ihnen treiben, aber man hat uns Ihre Ermordung angekündigt, und zwar genau für zwölf Uhr.« Er blickte auf seine Uhr. »Das bedeutet, Sie haben noch vier Minuten zu leben, wenn es nach dem Willen der Killerin geht. Wir sind hier, um die Tat zu verhindern. Wir sind auf Ihrer Seite. Haben Sie das verstanden?« Thomlin tippte mit einer fahrigen Bewegung die Zigarette ab. »Was wollen Sie von mir?« »Kooperieren Sie, Dr. Thomlin. Zumindest so lange, bis die Gefahr für Ihr Leben vorbei ist und wir die Killerin dingfest gemacht haben.« »Und dann?« Trush wies mit dem Zeigefinger auf ihn. »Dann werden wir Sie festnehmen wegen mehrfachen Betrugs sowie Anstiftung zum Mord an Jenny und Paul Regan.« »Lächerlich! Sie haben nichts in der Hand gegen mich.« »Dr. Thomlin, die Zeit für Spielchen ist vorbei. Sie werden sehr wahrscheinlich sterben, wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten.« »Wollen Sie mir drohen?« Trush schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sind Sie schwerhörig, Mann? Wir wollen Sie beschützen. Obwohl Sie es nicht verdient
haben, wenn man mich danach fragen würde.« Unwillkürlich fragte sich Zamorra, ob Trush Thomlin tatsächlich schützen wollte – oder spielte er ab sofort sein eigenes Spiel? Schließlich ging es ihm darum, seine Artgenossen, die anderen altägyptischen Kreaturen zu befreien … was mit Thomlins Tod der Fall sein würde. Thomlin lockerte seine Krawatte. Sein Hals war jetzt so fleckig, als hätte er die Masern. Er lachte nervös. »Glauben Sie, ich wüsste nicht, was Sie versuchen? Sie wollen mich verunsichern. Und warum? Weil Sie nichts gegen mich in der Hand haben! Montgomery, Norton, Jackson … alle Zeugen, die Sie gegen mich hätten ins Feld führen können, sind tot. Jetzt stehen Sie ganz schön dumm da, Gentlemen.« »So dumm nun auch wieder nicht, Thomlin«, sagte Trush. »Schließlich haben wir immer noch Frank del Borges. Er ist ganz wild darauf, Sie zur Strecke zu bringen. Wenn er Sie schon nicht töten kann, wird er es sich kaum nehmen lassen, gegen Sie auszusagen.« »Ein Ex-Knacki, den ich selbst mal vor Gericht herausgehauen habe?« Thomlin lachte rau. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Er hat für Elvira Montgomery gearbeitet. Schön. Aber ich hatte mit ihren Machenschaften nichts zu tun. Es dürfte Ihnen schwerfallen, das Gegenteil zu beweisen.« Trush blickte erst Zamorra, dann Nicole an. »Ich glaube, er will uns sagen, dass er nicht gewillt ist zu kooperieren.« »Schade«, sagte Zamorra und zuckte die Achseln. »Hoffentlich machen wir keinen Fehler, wenn es darum geht, ihn zu beschützen.« Thomlin wurde rot. »Wenn Sie zulassen, dass del Borges' Killer mich umbringt, verletzen Sie in grober Weise ihre Bürgerpflichten – ganz zu schweigen von Ihren Dienstvorschriften, Trush!« »Tja, Thomlin, Sie werden uns dann jedenfalls nicht mehr verklagen können, so viel steht fest.« Thomlin atmete schwer. »Sie müssen mich beschützen!« Das sah Zamorra genauso, aber es konnte nicht schaden, ihn noch ein bisschen zappeln zu lassen. Natürlich waren Nicole und er sich
einig, dass sie niemals fahrlässig gehandelt hätten. Thomlin mochte sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, doch deswegen waren sie noch lange nicht seine Richter. »Eine Minute vor zwölf«, sagte Zamorra. »Zeit für ein Geständnis, würde ich sagen.« »Was für ein Geständnis?«, ächzte Thomlin. »Ich habe nichts getan.« »Wir wissen alle, was Sie getan haben. Elvira Montgomery hat für Sie gearbeitet. Sie hat auf Ihre Weisung hin gearbeitet. Sie sind der Kopf der Bande, und dafür werden Sie geradestehen! Ganz zu schweigen davon, dass Sie sich in eine Magie verwickelt haben, deren Konsequenzen Sie nicht mehr überblicken. Die Geister, die Sie riefen, sind Ihnen über den Kopf gewachsen! Die alten magischen Kreaturen haben sich gegen Sie gewandt!« »Vergessen Sie's, Zamorra. Sie sind auf der falschen Spur!« Er wurde von einem Schuss unterbrochen, der draußen vor der Villa fiel. Trush sprang auf. Weitere Schüsse folgten, dann meldete sich sein Handy. »Chef«, rief Barnaby so laut, dass alle anderen ihn auch hören konnten, »Officer Rockwell ist schwer verletzt. Ich brauche sofort Verstärkung.« »Wo ist die Killerin?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube … Ich glaube, sie ist an uns vorbeigekommen …« »Bleiben Sie auf Position.« Er unterbrach die Verbindung. Zamorra wandte sich an Thomlin. »Wie viele Etagen hat das Gebäude?« »Zwei. Nein, drei. Aber die dritte ist nicht vollständig ausgebaut. Es gibt dort nur ein zweites Arbeitszimmer.« »Kann man sich dort oben verbarrikadieren?« »Es gibt nur den Treppenzugang. Und eine Gaube, die gut einsehbar ist.« »Wir gehen hoch«, entschied Zamorra. »Trush, Sie kümmern sich mit Nicole um Barnaby und die anderen. Vielleicht könnt ihr die Killerin erledigen, bevor sie überhaupt in Thomlins Nähe kommt.«
Trush nickte – er sah wohl keinen Sinn darin zu widersprechen. »Das ist Wahnsinn«, sagte Nicole. »Wir haben keine Wahl«, sagte Zamorra. »Wir wissen, wozu die Frau fähig ist. Ich bringe Thomlin ins Obergeschoss, dann komme ich zu euch runter.« »Wie du willst«, seufzte Nicole. »Los, Thomlin, kommen Sie schon!« Der Anwalt ging voraus. Die roten Flecken an seinem Hals waren verschwunden. Er war auf einmal so bleich, als hätte ihn jemand in einen Bottich mit weißer Deckfarbe getaucht. Thomlin führte Zamorra zu einer Treppe, deren Stufen mit rotem Teppichboden ausgelegt war. Am Absatz trafen sie auf den Butler Hollingsworth, der in verrenkter Haltung auf dem Boden lag. Seine Kehle war aufgeschlitzt, eine riesige Lache hatte sich über den Absatz ausgebreitet. Zamorra rief Nicole. »Die Killerin ist im Haus. Sie hat Hollingsworth getötet.« »Ich rufe die Cops zusammen«, gab Nicole zurück und unterbrach die Verbindung. »Vorwärts, Thomlin.« Zamorra ging voraus. Der Raum im Obergeschoss war sauber. Der Anwalt deutete auf einen Durchgang, der in einen dunklen Korridor führte. Der Meister des Übersinnlichen schob seinen Begleiter zur Seite und betätigte den Lichtschalter. Der Flur war leer. »Ich … ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte Thomlin bang. Er war ein skrupelloser Magier und Mörder, woher auch immer er seine Kenntnisse nahm, aber nun, da es ihm selbst ans Leben ging, verlor er offenbar die Nerven. »Sie müssen Ruhe bewahren. Wo ist die Treppe zum Dachgeschoss?« Thomlin deutete den Korridor entlang, der sich um zwei Biegungen schlängelte, bevor sie eine weitere Tür erreichten. Dahinter taten sich ein neuer Korridor und eine neue Tür auf. Dieser Palast war nichts anderes als ein Labyrinth. Endlich erreichten sie die Treppe.
Zamorra drängte Thomlin zur Seite und ging vor. Wie der Anwalt gesagt hatte, war das Obergeschoss nicht vollständig ausgebaut – nur ein großer Raum mit Pappwänden und einem Schreibtisch. Eine Tür führte zu einer Abstellkammer, die mit Kommoden, Haushaltsgeräten und Krimskrams zugestellt war. Er schaltete das Deckenlicht ein. Eine Neonlampe tauchte die Mitte des Raumes in ein grelles Licht. Die Gaube war an der Nordseite. Professor Zamorra blickte aus dem Fenster. Das Dach fiel steil ab. Keine Chance, auf diesem Weg einzudringen. »Okay, Sie bleiben hier, Thomlin«, sagte der Parapsychologe. »Schließen Sie die Tür ab. Lassen Sie niemanden außer Trush, Nicole oder mir herein. Niemanden! Haben Sie das verstanden?« Seine Lippen zitterten. »Verstanden.« Zamorra ergriff die Klinke, als Thomlin ihn an der Schulter packte. »Bitte, Professor – bleiben Sie hier!« »Wir finden die Killerin. Ich will mir schließlich nicht das Vergnügen nehmen lassen, Sie vor Gericht zu sehen.« Er trat auf den Flur und zog die Tür zu. Der Schlüssel drehte sich hinter ihm im Schloss.
Als Nicole und Trush den Haupteingang erreichten, beugte sich Barnaby gerade über sein Funkgerät. Vor dem Wagen lag Officer Rockwell in seinem Blut. Er regte sich nicht mehr. Nicole fühlte den Puls. Rockwell war tot. Barnaby schluckte aufgeregt. »Der Schuss kam von einem der Fenster im ersten Stock. Sie war die ganze Zeit im Haus!« Seine Finger krampften sich um das Funkgerät. »Wagen 43, melde Schusswechsel. Officer schwer verletzt. Alle Einsatzwagen hierher!« Aus dem Lautsprecher kam krächzend die Bestätigung. »Kommen Sie, Sergeant Barnaby«, sagte Trush. »Wir müssen zurück ins Haus. Hier stehen wir wie auf dem Präsentierteller.« »Aber was ist mit Rockwell? Wir können ihn doch nicht einfach …« »Er ist tot. Ihm können Sie sowieso nicht mehr helfen.« Trush zog
Barnaby mit sich. Nicole folgte. Da peitschten über ihnen, aus einem der Fenster im ersten Stock, Schüsse auf. Die Kugeln pfiffen haarscharf über sie hinweg. Trush erwiderte im Laufen das Feuer, aber die Killerin hatte sich rechtzeitig zurückgezogen. Die drei lehnten sich gegen die Hauswand. Hinter dem Haus tauchte Officer Carter auf. Er wurde weiß wie Kalk, als er neben dem Streifenwagen seinen toten Kollegen erblickte. Barnaby erzählte in knappen Worten, wie ihnen die Killerin aufgelauert hatte. »Sie ist im ersten Stock. Sie muss die ganze Zeit im Haus gewesen sein.« Nicole stieß die Tür auf. Barnaby packte sie am Ärmel. »Sind Sie wahnsinnig? Wir müssen auf die Verstärkung warten!« Auch Carter protestierte. »Wir wissen ja nicht mal, wie viele es sind.« »Die Killerin hat bisher immer allein operiert«, sagte Trush. »Ihr Ziel ist Thomlin.« Nicole funkelte die beiden Cops zornig an. »Ich werde Zamorra da drinnen bestimmt nicht allein lassen.« Barnaby presste die Kiefer zusammen, dass seine Wangenknochen hervortraten. Trush sagte: »Ich bedaure Officer Rockwells Tod genauso wie Sie, aber wir ermitteln seit Tagen in diesem Fall. Wir kennen die Killerin. Sie ist uns bereits zwei Mal nur knapp entkommen. Wir wissen, wie sie denkt und arbeitet. Wenn Sie ein Problem mit meiner Vorgehensweise haben, Barnaby, schreiben Sie das in Ihren Bericht – nachdem wir das hier durchgestanden haben. Alles klar?« Barnaby senkte den Kopf. »Sie treffen die Entscheidung, Chef. Ich kann nur hoffen, dass …« Die restlichen Worte wurden von einem Donnerschlag zerrissen. Um Nicole und die Cops schien die Luft zu explodieren.
Professor Zamorra erreichte das Obergeschoss, als die Explosion
den Boden unter seinen Füßen erzittern ließ. Irgendwo an der Vorderseite des Hauses blitzte es gelb auf. Fensterscheiben barsten klirrend. Er zückte das Handy. Nicoles Nummer war in der Kurzwahlliste gespeichert. »Alles in Ordnung, Nici?« »Chéri!«, hörte er sie brüllen. »Officer Rockwell ist tot. Die Killerin hat zwei Sprengladungen am Eingang angebracht. Officer Carter wurde schwer verletzt. Jetzt sind nur noch Trush und Barnaby bei mir.« »Wartet da unten, bis der Notarzt eintrifft! Sichert das Gelände.« »Während die Killerin dich in Fetzen schießt und sich Thomlin holt? Das kann nicht dein Ernst sein!« »Thomlin hat sich verbarrikadiert«, sagte Zamorra. »Sie kann nicht an ihn ran.« »Sie hat gerade das halbe Haus in die Luft gesprengt!« Nicole hatte recht. Zamorras Gedanken rasten. Keiner wusste, was die Killerin noch auf Lager hatte. In diesem verzweigten Labyrinth von Gängen und Zimmern konnte sie mit etwas Glück einen nach dem anderem ausschalten, wie bei einem Guerilla-Kampf. »Okay, Nicole, komm mit Trush hoch. Barnaby soll bei seinem verletzten Kollegen bleiben. Wir werden uns zusammen mit Thomlin verbarrikadieren, bis die Verstärkung da ist. Lass die Handy-Verbindung offen, bis ihr hier seid.« »Alles klar.« Zamorra stöpselte das Headset ein und drückte den Lautsprecherknopf ins Ohr. »Nici?« »Ich höre dich, Chef. Hier unten ist alles Schutt und Staub. Wir sind gleich bei der Treppe.« »Alles klar, ich …« Da fühlte er plötzlich etwas Kaltes im Nacken. »Keinen Laut!«, flüsterte eine kalte Frauenstimme, die ihm nur zu bekannt vorkam. Er gehorchte. »Ich hatte doch gleich das Gefühl, dass wir uns noch mal
wiedersehen, Professor.« Die Killerin sprach so leise, dass Nicole es nicht hören konnte. Ihr Atem strich über Zamorras Nacken. »Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden. Langsam. Und halten Sie Ihre Hände dabei so, dass ich sie sehen kann.« Zamorra gehorchte und legte die Pistole ab, die er von Trush erhalten hatte. Gleichzeitig vernahm er Nicoles Stimme im Lautsprecher. »Alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung«, log er. »Wir haben die Treppe jetzt vor uns«, sagte Nicole. »Gib uns noch zwei Minuten.« »Umdrehen«, hauchte die Killerin. Zamorra gehorchte. Nicole rief: »Bist du noch dran?« Und als er nicht antwortete: »Chef, was ist los? Wieso antwortest du nicht?« »Es ist alles bestens«, sagte Zamorra. Die Killerin grinste. Ihre Lippen formten drei Worte. Weiter so, Professor. Der Meister des Übersinnlichen spürte kalte Wut in sich aufsteigen. Wut auf sich selbst. Er hatte sich im entscheidenden Augenblick übertölpeln lassen. Das war unverzeihlich. »Los«, flüsterte die Killerin. »Führe mich zu Thomlin.« Zamorra bewegte sich langsam auf die Treppe zu. Wo blieben nur Nicole und Trush? Er setzte den Fuß auf die erste Stufe. Dann auf die zweite. »Ein bisschen schneller.« Er hatte die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht, als erneut Nicoles Stimme in seinem Headset ertönte. »Wir haben den Korridor jetzt vor uns. Sag mir, wo du bist.« »Ich bin …« Die Killerin bohrte ihm die Mündung der schallgedämpften Waffe in den Rücken. »Ich bin auf der Nordseite«, sagte er gedehnt. »Auf der Nordseite?«, wiederholte Nicole. »Aber Thomlin hat doch gesagt, dass die Treppe in der anderen Richtung liegt.« Er antwortete nicht.
»Chef, ist sie bei dir?« Zamorra schwieg. »Wir sind gleich da!«, rief Nicole. Der Meister des Übersinnlichen hörte, wie die Killerin hinter ihm schneller atmete. Sie wusste, dass Nicole das Spiel durchschaut hatte. »Schalten Sie das Handy aus«, sagte sie in normaler Lautstärke. Ihre Stimme klirrte wie Glas. Zamorra tat, wie sie ihm befahl. Sie riss ihm den Knopf aus dem Ohr, warf das Handy auf den Boden und kickte es die Treppe hinunter. »Und jetzt weiter!«, sagte sie kalt. Sie erreichten die Tür, hinter der sich Thomlin verbarrikadiert hatte. »Klopfen Sie!« Wieder gehorchte Zamorra. »Wer ist da?«, drang eine unsichere Stimme durch das Türblatt. »Sind Sie es, Zamorra?« »Ja«, sagte er. Die Killerin schob ihn zur Seite. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür schwang auf. Thomlins Gesicht erschien im Rahmen. Er sah Zamorra, dann die Killerin, und seine Augen weiteten sich. Das war der Moment, in dem die Killerin die Waffe herumschwenkte. Zamorra wusste, dass er keine zweite Chance bekommen würde, und warf sich nach vorn. Seine Schulter grub sich in ihren Magen und trieb sie zurück. Ihr Waffenarm wurde zur Seite gerissen, und die Kugel, die aus dem Schalldämpfer ploppte, zischte Zentimeter an Thomlins angstverzerrtem Gesicht vorüber. Zu einem zweiten Schuss kam die Killerin nicht mehr. Zamorra prellte ihr mit einem gezielten Schlag die Waffe aus der Hand. Aber er hatte sie erneut unterschätzt. Sie riss das Bein hoch und verpasste ihm einen schmerzhaften Tritt an die Hüfte. Zamorra glaubte, seinen Beckenknochen singen zu hören. Mit beiden Armen
packte er sie und riss sie zu Boden. Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen von Schmerz und erwies sich als ausgezeichnete Nahkämpferin. Sie ließ Zamorra keine Möglichkeit, sie auszuknocken, und ging sogar zum Gegenangriff über. Ihre Fäuste wirbelten so schnell, dass er den Bewegungen kaum folgen konnte. Einen Schlag gegen die Kehle konnte er abblocken, aber die nächste Attacke gegen den linken Oberarm kam zu schnell für ihn. Sie traf genau auf den Oberarmmuskel, und der Meister des Übersinnlichen keuchte vor Schmerz. Die Killerin nutzte die Sekunde, um nach ihrem Knöchel zu greifen, wo sie ein Messerholster trug. Die fünfzehn Zentimeter lange gezackte Klinge eines Armeemessers blitzte auf. Zamorra stieß sich von ihr ab und trat gegen ihr Handgelenk. Sie hätte den Griff öffnen und das Messer verlieren müssen, doch sie tat es nicht. Aus dem Augenwinkel sah Zamorra, dass Thomlin immer noch wie erstarrt im Türrahmen stand. Drei Meter neben ihm lag die Waffe der Killerin. Er hätte sie nur aufzuheben brauchen. Aber er war offenbar ein Mann, der lieber anderen die Drecksarbeit überließ. Und hinter ihm kroch ein halbmeterlanger Wurm. Er war nur noch wenige Zentimeter von seinen Füßen entfernt. »Hinter Ihnen!«, schrie Zamorra. Zu mehr blieb nicht die Zeit. Die Killerin griff erneut an. Unten hörte er Nicole rufen. Offenbar hatte sie sein Handy gefunden. Er vernahm stampfende Schritte auf der Treppe und war für einen Moment unaufmerksam. Der Schlag traf ihn in die Magengrube. Sofort blieb ihm die Luft weg. Sein Zwerchfell krampfte sich zusammen. Dem Messerhieb konnte er ausweichen, dann aber erwischte ihn die Killerin mit einem Kung-Fu-Tritt an der Schläfe und schleuderte ihn zur Seite. Dieses Weib war gut. Geradezu übermenschlich gut … Sie hatte in den vergangenen Sekunden keinen Laut von sich gegeben. Sie schien nicht mal schneller zu atmen, während Zamorras Atem so
heftig ging, dass er das Gefühl hatte, sein Brustkorb würde zerspringen. Auf der Treppe erkannte er Robert Trush. Wie unvorsichtig!, ging es ihm noch durch den Kopf, als Trush ohne Deckung die letzten Stufen hinaufhastete. Die Killerin sah ihn ebenfalls kommen. Ihre linke Hand fuhr zur Hüfte, wo ein kleiner, handyähnlicher Gegenstand in einer Ledertasche steckte. Sie presste ihre Hand darauf, und im nächsten Augenblick verwandelte sich die Treppe in einen Feuerball. Trush wurde wie eine Puppe durch die Luft geschleudert und knallte gegen die Wand. Der heiße Atem der Druckwelle fetzte über Zamorra hinweg. Nicole!, schoss es ihm durch den Kopf. Aber er hatte keine Zeit, sich um seine Geliebte zu kümmern. Die Killerin war zwar ebenfalls gestürzt und hatte endlich ihr Messer verloren, aber sie raffte sich auf und stieß Zamorra mit einem Fußtritt zurück. Nur zwei Schritte trennten sie von ihrer Schusswaffe. Zamorra wusste, dass er auf sich allein gestellt war und dass sie ihn eiskalt erschießen würde, wenn er sie nicht vorher erreichte. Er zwang sich auf die Beine, obwohl sein Bauch, sein Oberkörper und seine Arme von den Schlägen schmerzten, und setzte zu einem Hechtsprung an. Seine Lungen brannten, er bekam noch immer kaum Luft. Der Korridor war von Rauch erfüllt. Die Tür, in der Thomlin gestanden hatte, war leer. Zamorra konnte nur hoffen, dass er noch lebte und dass er wusste, wie er den Wurm besiegen konnte. Immerhin war er es gewesen, der die dahinter stehende Macht beschworen hatte. Die Killerin schrie auf, als Zamorra ihren Knöchel erwischte. Sie verlor das Gleichgewicht und schlug auf den Boden, wobei sie den Meister des Übersinnlichen mit sich riss. Sterne tanzten vor seinen Augen. Ihm fehlte die Kraft für einen weiteren Nahkampf. Er hieb ihr brutal die Faust in den Rücken. Sie stöhnte auf. Zamorra robbte über sie hinweg und wollte nach der Waffe greifen. Aber so leicht war die Killerin nicht auszuschalten. Sie verpasste ihm einen harten Schlag in die Seite und rollte sich
unter ihm hervor. Wie der Blitz war sie wieder auf den Beinen und hechtete auf die Waffe zu. Zamorra sah, dass er diesmal zu spät kommen würde. Er hatte nur noch eine Chance – er ließ sich einfach durch die offene Tür fallen und trat sie hinter sich ins Schloss. Eine Kugel hackte durch die Füllung, verfehlte ihn aber mindestens um einen Meter. Er drehte den Schlüssel herum und presste sich gegen die Wand. Eine weitere Kugel durchschlug das Holz knapp unterhalb des Türschlosses und grub sich genau dort in den Boden, wo er eben noch gestanden hatte. Dr. Thomlin kauerte an der Hinterseite des Zimmers, die Beine an den Körper gezogen und die Arme vor den Knien verschränkt. In seinen Augen flackerte Todesangst. Vor ihm auf dem Boden waren die schleimigen Überreste des Wurms zu sehen, die sich in diesem Augenblick völlig auflösten. Das immerhin hatte er geschafft. Professor Zamorra fragte sich immer mehr, wie gerade ein Mensch wie Thomlin dazu fähig war, eine magische Beschwörung durchzuführen und uralte Kreaturen unter seine Gewalt zu zwingen. »Sie wird uns umbringen, Zamorra. Sie wird uns alle töten. Ich weiß es!« Der Parapsychologe ging nicht darauf ein. »Haben Sie ein Handy bei sich?« Der Anwalt starrte ihn verständnislos an. »Ein Handy, Thomlin!« Er griff in die Innentasche und zog ein Klapphandy mit vergoldeter Oberfläche hervor. Zamorra riss es ihm aus der Hand und wählte Nicoles Nummer. Zwei weitere Kugeln hieben durch die Tür. »Gehen Sie in Deckung, aber halten Sie nach den verdammten Würmern Ausschau. Die Killerin hat mindestens vier Kugeln in den Raum gejagt, wenn nicht mehr. Das heißt …« »Vier Würmer«, sagte Thomlin tonlos. »Ich weiß.« »Chef!« Zamorra fiel ein Stein vom Herzen, als er Nicoles Stimme vernahm. »Bist du in Ordnung?«
»Ja, verdammt, mir geht es gut, aber Trush hat es erwischt. Er wollte unbedingt die Treppe hinauf, obwohl ich mir schon dachte, dass es eine Falle ist. Du hast mir ja klar zu verstehen gegeben, dass die Killerin dich im Griff hatte.« Trush … war er wirklich tot? Und das Wesen, das in ihm steckte? War es durch den Tod seines Wirtes ebenfalls getötet worden? »Ich hab die Killerin abgeschüttelt. Sie ist auf dem Korridor, aber ich befürchte, dass das Schloss nicht lange standhalten wird.« »Hast du eine Waffe?« »Trushs Pistole hat sie mir abgenommen.« Nicole fluchte leise. »Die Treppe hat sich in Staub und Schutt aufgelöst. Ich kann dir nicht helfen. Der Zugang nach oben ist versperrt.« »Thomlin«, rief Zamorra »Gibt es einen zweiten Zugang nach oben. Eine zweite Treppe?« »I-im Nordflügel.« Im Nordflügel. Nicht zu fassen. »Hast du's gehört, Nici?« »Im Nordflügel. Bin schon unterwegs.« Zamorra unterbrach die Verbindung. Es krachte, als die Killerin gegen die Tür trat. Die Füllung erzitterte, aber das Schloss hielt. An der Tür ertönte ein Rascheln. Thomlin fuhr zusammen. »Haben Sie das gehört, Zamorra?« »Gehen Sie in Deckung, Thomlin. Hinter dem Schreibtisch.« Zamorra selbst postierte sich einen Meter neben der Tür. Wenn die Killerin einen Weg herein fand, galt es, sie schnell zu überwinden. »Sie wird uns töten«, jammerte Thomlin wieder, während er auf allen vieren hinter den Schreibtisch kroch. Zamorra hätte ihm am liebsten eins über den Schädel gezogen, damit er endlich ruhig war. Der Anwalt sagte etwas, aber es ging im Donnern der Explosion unter. Ein Teil der Tür wurde herausgerissen und flog knapp an Zamorra vorbei durch den Raum. Die Tür besaß jetzt ein Loch. Das Schloss aber hatte gehalten. Die Mündung eines Schalldämpfers tauchte auf. Der Lauf zuckte,
und zwei Kugeln hackten in den Schreibtisch, hinter dem Thomlin saß. Zamorra trat mit voller Wucht gegen die Waffe. Es polterte, als sie draußen zu Boden fiel. Aber das verschaffte ihnen höchstens ein paar Sekunden. Gleich darauf gellten zwei weitere Schüsse. Wieder hackten die Kugeln in den Schreibtisch. Thomlin schrie auf. Die Killerin erkannte, dass sie ihn auf diese Weise nicht erwischen würde. Es krachte, als sie gegen die Tür trat. Holzsplitter flogen. Das Loch wuchs mit jedem Schlag. In wenigen Sekunden würde es so groß sein, dass die Killerin hindurchkriechen konnte. Und Zamorra wusste inzwischen, dass er sie nicht mit normalen Mitteln besiegen konnte. Denn es gab nur eine Erklärung für ihre außergewöhnliche Schnelligkeit und Kraft. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Seine Gegnerin war längst tot. Sie schlüpfte in den Raum. Zamorra ließ sich gedankenschnell hinter den Schreibtisch fallen. Zwei Kugeln pfiffen über ihn hinweg. Die Killerin schoss weiter. Zamorra dankte Gott, dass der Schreibtisch aus massiver Eiche bestand. Noch dankbarer wäre er gewesen, wenn er etwas in der Hand gehabt hätte, womit er die Killerin attackieren konnte. Und er schalt sich einen Narren, denn genau das hatte er. Der Dhyarra-Kristall! Er trug ihn bei sich, doch alles war so schnell gegangen, dass er erst in diesem Augenblick daran dachte. Er ergriff ihn, aktivierte ihn und steckte ihn so unter den Hosenbund, dass Hautkontakt bestand, eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Zamorra ihn einsetzen konnte. Und er musste beide Hände frei haben, um die Killerin nicht misstrauisch zu machen. Er konzentrierte sich … versuchte es zumindest. Er brauchte eine genaue bildliche Vorstellung davon, was geschehen sollte; diese Vorstellung würde der Kristall kraft seiner Magie in die Tat umsetzen. Doch wie in aller Welt sollte sich Zamorra angesichts dieses Chaos konzentrieren?
»Geben Sie auf, Professor«, zischte die Killerin. »Dann lasse ich Sie leben.« »Und Thomlin?« »Er wird sterben, daran führt kein Weg vorbei.« »Sie sind es, die aufgeben sollte«, sagte Zamorra. »Hören Sie die Sirenen? Das Haus ist umstellt. Ein Einsatzkommando ist bereits auf dem Weg. Sie können nicht entkommen.« »Ich will gar nicht entkommen.« Zamorra versuchte sie weiter hinzuhalten und seine Konzentration zu sammeln. »Ihr Auftrag hat sich erledigt. Wir haben Frank del Borges geschnappt. Ich weiß, wer Sie sind. Es ist zu Ende!« »Der Auftrag hat sich erledigt, wenn Thomlin erledigt ist«, schnarrte sie. »Na los, Zamorra, kommen Sie schon raus. Ihnen tue ich nichts.« Der Meister des Übersinnlichen schloss die Augen. Er wusste, dass er sie nicht länger hinhalten konnte. Jedenfalls nicht mit Reden. Er stand auf und hob die Hände. In den Augen der Killerin blitzte es auf. Ihr Blick blieb weiter auf Zamorra gerichtet. Die Waffe in ihrer Hand zielte genau auf seine Brust. »Sie haben gewonnen«, sagte Zamorra. »Ich gebe auf – jedenfalls, was meine Person betrifft. Aber ich werde Thomlin verteidigen. Wenn Sie ihn töten wollen, müssen Sie zuerst mich umbringen.« »Denken Sie etwa, das würde ich nicht tun?« »Ich denke, dass Sie kein Profi sind. Ein Profi hätte längst abgedrückt.« Die Waffe in ihrer Hand bewegte sich keinen Millimeter. »Warum tun Sie das, Zamorra?« »Ich tue das, was Sie eigentlich tun müssten, Jenny«, sagte er. »Sie waren selbst einmal Polizistin. Sie sollten die Leute schützen und sie nicht umbringen.« Die Waffe in ihrer Hand begann zu zittern. »Sie wissen nichts über mich!« »Ich weiß, dass Frank del Borges mich belogen hat. Was ist mit
Ihrem Sohn Paul? Hat er ebenfalls überlebt?« Sie keuchte. »Keiner hat überlebt. Keiner! Paul ist tot, endgültig tot! Die ägyptischen Kreaturen haben nur Frank und mich zurückgeschickt. Paul wäre viel zu schwach, um irgendetwas für sie auszurichten. Paul ist tot, verstehen Sie? Und der Kerl da hinter dem Schreibtisch hat ihn getötet!« Zamorra schüttelte den Kopf. »Hat Frank Ihnen jemals die volle Wahrheit gesagt, Jenny?« Ihre Augen wurden schmal. »Wovon reden Sie?« Er hielt die Hände weiter so, dass sie sie sehen konnte. »Ich treibe keine Spielchen mit Ihnen, Jenny. Ich will Ihnen nur die Augen öffnen. Frank hat Ihnen erzählt, dass Ihr Mann John durch einen dummen Zufall getötet wurde. Dabei war es Frank selbst, der den Schnapsladen überfiel.« »Sie lügen!« »Ich lüge nicht, Jenny. Frank hat sie ausgenutzt. Er hat Sie geliebt, das glaube ich ihm sogar, aber seine Liebe war selbstsüchtig und egoistisch. Um an Ihr Geld zu kommen, tötete er Ihren Mann! Und um an Thomlins und Montgomerys Millionen zu kommen, versuchte er, sie mit seinem Wissen zu erpressen. Deswegen musste Ihr Sohn Paul sterben!« »Sie lügen!«, schrie sie wieder. Tränen rannen über ihre Augen. Sie richtete die Waffe auf Zamorras Kopf. »Geben Sie zu, dass Sie lügen, oder ich jage Ihnen eine Kugel in die Stirn!« »Ich sage die Wahrheit«, sagte Zamorra mit fester Stimme, »und Sie wissen, dass es so ist. Tief im Inneren spüren Sie, dass Frank Sie betrogen hat.« Die Waffe zitterte. Ihr Finger krümmte sich um den Abzug. Wie erstarrt stand Zamorra da. Er wusste, dass sie schießen würde, wenn er sich nur einen Zentimeter bewegte. Sogar um den Dhyarra einzusetzen, war es zu spät – Jenny benötigte weniger als eine Zehntelsekunde, um ihn ins Jenseits zu befördern. »Bitte, Jenny«, beschwor er sie. »Geben Sie mir die Waffe.« »Kein Wort mehr, oder Sie sind ein toter Mann!« »Bitte, Jenny«, wiederholte er. »Es ist genau so, wie ich Ihnen
gesagt habe. Ich werde es Ihnen beweisen, wenn wir hier raus sind.« Einen Augenblick lang herrschte eine tödliche Stille. Das Herz schlug Zamorra bis zum Hals. Er sah in die Mündung des Schalldämpfers und fragte sich, ob mit diesem Tag alles zu Ende war. Er konnte Jenny Regan beweisen, dass er recht hatte, aber würde sie ihm die Gelegenheit dazu geben? Interessierte es sie überhaupt, oder war sie letzten Endes doch nur eine konditionierte wandelnde Leiche im Dienste der altägyptischen Wesen? »Bitte, Jenny!« »Schwören Sie es bei Ihrem Leben«, zischte sie. »Ich schwöre es.« »Ich warne Sie, Professor«, sagte sie mit einer Stimme, aus der alle Entschlossenheit der Welt klang. »Wenn Sie mich belogen haben, werde ich eine Möglichkeit finden, Sie zu töten.« »Ich weiß. Geben Sie mir die Waffe.« Sie ließ die Pistole sinken. In diesem Augenblick erschien Nicole vor der Tür. Sie spähte durch das Loch, sah die Waffe in Jennys Hand und legte auf sie an. »Keine Bewegung!« »Nicht, Nici!«, rief Zamorra. »Es ist alles in Ordnung.« Er ging auf Jenny zu. Widerstandslos ließ sie sich die Waffe abnehmen. Jetzt endlich traute sich auch Thomlin hinter dem Schreibtisch hervor. Sein Hemd war schweißnass. Aus seinen Augen sprühte der Hass. »Jenny Regan!«, zischte er verächtlich. »Ich hätte es wissen müssen!« Sie wollte sich auf ihn stürzen, aber Zamorra hielt sie zurück. Er warf Thomlin einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte. Die nächsten Worte fielen dem Parapsychologen unendlich schwer. »Ich weiß, Jenny, dass Sie nicht mehr wollen als Ihre Rache.« »Oh, doch«, flüsterte sie. »Ich will mehr.« Zamorra schluckte schwer. »Ich vergaß … Sie wollen auch noch dasselbe wie Frank del Borges. Sie wollen sterben.« Jenny schüttelte den Kopf. »Ich bin bereits tot. Doch die Kreaturen
halten mich so lange am Leben, wie sie sich in Thomlins magischer Gewalt befinden und ihm gehorchen müssen.« »Es gibt eine einfache Lösung«, sagte Zamorra. »Für Ihre Rache sorgt die Polizei … Thomlin wird hinter Gitter wandern, für immer. Und sterben, Jenny … sterben dürfen Sie auch dann, wenn Thomlin die Kreaturen freigibt und sich nie wieder magischer Mittel bedient.« Schweigen breitete sich aus. »Na los«, rief Zamorra. Er packte Thomlin und schüttelte ihn durch. »Ich habe mein Leben für Sie riskiert, obwohl Sie ein Schwein sind, und jetzt will ich, dass Sie Ihren Verstand einschalten! Schwören Sie der Magie ab und geben Sie die Wesen frei! Jetzt, sofort, auf der Stelle!« Er stieß Thomlin von sich, dass dieser rückwärts gegen die Wand krachte. Thomlins Gesicht war eine ausdruckslose Maske, als er zustimmte.
Thomlin starrte immer wieder Jenny an – voll Hass, voll Verachtung … aber auch voller Angst. Wahrscheinlich war es nur diese Angst, die ihn kooperieren ließ. Er führte Zamorra, Nicole und Jenny in einen Raum, der im ersten Obergeschoss lag. Ein völlig fensterloses Zimmer, an dessen Decke eine nackte Glühbirne baumelte. Der kahle Betonboden war mit magischen Zeichen übersät, und im Zentrum lag ein unscheinbares, gerade einmal handtellergroßes Amulett. »Das ist es«, sagte Thomlin leise. Der Meister des Übersinnlichen bückte sich und nahm das Amulett genauer in Augenschein, ohne es zu berühren. Es war übersät mit Hieroglyphen – altägyptischen Zeichen, die Zamorra nicht auf Anhieb entschlüsseln konnte. Sie schienen eine Stufe älter zu sein als alles, was bisher bekannt war. »Damit haben Sie die Wesen gerufen und gezwungen, Ihnen dienstbar zu sein?« »Es war nicht einfach«, sagte Thomlin, der unverkennbar stolz darauf war. »Aber ja … am Ende mussten sie mir dienen. Sie schützten mich mit ihrer Magie, ich konnte darüber verfügen, wie
ich wollte. Wenn jemand von Montgomerys Kunden skeptisch wurde, gab ich mithilfe dieser echten Magie eine Demonstration. Ich hielt damit auch meine Leute ruhig; keiner wagte, gegen mich aufzubegehren.« »Bis auf Frank del Borges«, sagte Nicole. »Es ist ihm nicht gut bekommen«, ätzte Thomlin. »Und seinem Weib ebenso wenig.« Jennys Faust schoss vor und knallte dem Anwalt gegen das Kinn. »Wage es nicht, auch noch den Namen meines Sohnes in dein schmutziges Maul zu nehmen! Sonst bring ich dich doch noch um.« »Ruhig, Jenny«, rief Zamorra. »Es ist nicht nötig. Sie bekommen, was Sie wollen. Sie dürfen sterben, und Thomlin erhält seine Strafe, indem er hinter Gitter wandert. Für immer. Das wird für ihn schlimmer sein als der Tod.« Thomlin rieb sich das Kinn und spuckte aus. »Wissen Sie was, Sie Schwein?«, fragte Jenny. »Ich habe die alten Wesen dafür verflucht, dass sie mich ins Leben zurückschickten. Ich glaubte, der Schmerz über den Tod meines kleinen Sohnes würde mich innerlich immer wieder umbringen, jede einzelne verdammte Stunde. Aber jetzt bin ich froh, dass sie mich nicht im Tod zurückgelassen haben. Ich bin gerne ihr Werkzeug. Denn jetzt wird abgerechnet. Geben Sie die ägyptischen Wesen frei, und dann verdorren Sie im Gefängnis bis an Ihr Lebensende!« »Aber einen kleinen Triumph können Sie mir nicht nehmen, Jenny«, erwiderte Thomlin leise. »Ich werde Sie sterben sehen.« Damit bückte er sich, packte das Amulett. »Mein Vater hat es mir vererbt … das Amulett und eine alte Geheimschrift. Ich hatte meinen Vater stets verachtet und für einen Schwächling gehalten, weil er sich mit Okkultismus und Spiritismus beschäftigte … aber nach seinem Tod erkannte ich, welches Wissen er zusammengetragen hat. Welche Macht in diesem unscheinbaren Amulett liegt.« Er starrte es mit funkelnden Augen an und zerbrach es. Ein Ächzen drang durch den ganzen Raum. Telepathische Eindrücke überfluteten Zamorra, das Empfinden von Freiheit.
Freiheit und grenzenloser Erleichterung. Die Wesen kehrten in ihre Ruhe zurück. Jenny stöhnte, fasste sich an die Kehle. Sie wankte, brach zusammen. Die Augen schienen ihr aus den Höhlen quellen zu wollen. Dann versteifte sie. Ihr Mund stand halb offen, als sie starb, als hätte sie noch etwas sagen wollen. Und Zamorra wusste, dass Frank del Borges an einem unbekannten Ort genau dasselbe Schicksal erlitt. Erlitt? Wohl kaum. Er würde den Tod freudig begrüßen.
10. Im Flur stieß Zamorra auf Trushs Leiche. Die Explosion hatte ihm beide Beine abgerissen. Der Kopf stand in einem Winkel vom Hals ab, dass sein Genick gebrochen sein musste. Wieder fragte er sich, ob auch das Wesen in Trush gestorben war, oder ob er jemals wieder von ihm hören würde. Minuten später wurde Thomlin aus dem Haus gebracht, in Handschellen. Barnaby hatte ihn verhaftet – der letzte unverletzte Cop. Officer Carter hatte schwer verletzt überlebt. Rockwell und Trush hatten weniger Glück gehabt. »Glaubst du, dass sie Thomlin drankriegen?«, fragte Nicole, die Zamorras bedrückten Gesichtsausdruck richtig deutete. Er zuckte die Achseln. »Das ist der Teil, über den ich nicht nachdenken will. Vielleicht habe ich Jenny letzten Endes belogen. Thomlin ist ein raffinierter Anwalt, und es gibt keine Zeugen mehr, die gegen ihn aussagen können.« Nicole seufzte. »Das macht mir Angst … wenn dieser Kerl am Ende davonkommt, hätten wir Jenny …« »Sag es erst gar nicht, Nici«, unterbrach Zamorra sie. »Selbstjustiz ist keine Antwort. Wir haben getan, was wir tun mussten. Wir mussten Thomlins Leben retten, verstehst du? Und er hat das Amulett zerbrochen. Er kann nicht mehr auf Magie zurückgreifen. Unsere Arbeit ist getan. Der Rest liegt bei den Cops und Richtern. Thomlin wird es nicht schaffen«, sagte er, weniger überzeugt, als er sich gab. »Was ich damit sagen wollte … Wenn ich Jenny Regan wäre …« »Mord bleibt Mord«, sagte Zamorra bestimmt. »Ich meine ja nur, dass ich verstehe, was sie angetrieben hat. Paul Regan war ihr Sohn.« Es begann zu regnen. Zamorras Blicke folgten den Rettungssanitätern, die Trushs zerfetzte Leiche auf eine Bahre
legten. Kurz danach wurde Officer Rockwell abtransportiert. Und wenn Zamorra tausend Mal Verständnis für Jenny Regans Motive hatte – den Familien der toten Cops würde das kaum helfen, genauso wenig wie den Angehörigen der anderen Opfer. »Lass uns fahren, Nici«, sagte Zamorra. »Hier gibt es doch nichts mehr für uns zu tun.«
Frankreich, Château Montagne Monate später Ihre Befürchtungen bestätigten sich. Alan Thomlin suchte sich einen hervorragenden Rechtsbeistand, dem es gelang, ihn von allen Vorwürfen reinzuwaschen. Ein halbes Jahr danach verließ er den Gerichtssaal als freier Mann, dem von der New Yorker Polizei übel mitgespielt worden sei, wie er in mehreren Zeitungsinterviews behauptete. Auf die Frage, weshalb er an dem Tag, bevor Zamorra und die anderen sein Haus betraten, eine Menge Notizen in seinem Büro verbrannt hatte, war er im Verlauf des Prozesses die Antwort schuldig geblieben. Auch die Tatsache, dass zur selben Zeit Dutzende von Dateien auf seinen Rechnern gelöscht worden waren, blieb eine Randnotiz. Nicht prozessrelevant, hatte das Urteil des Richters gelautet. Die Festplatten waren so gründlich formatiert worden, dass nicht einmal die Computerexperten der Staatsanwaltschaft in der Lage gewesen waren, die Daten zu retten. Thomlin blieb ein unbescholtener Bürger. In den Interviews gab er an, sich während der nächsten Wochen eine Auszeit von seinen Anwaltsgeschäften nehmen zu wollen. Der Prozess habe ihn zu sehr geschlaucht. Er brauche dringend einige Wochen Erholung. Frank del Borges und Jenny Regan wurden posthum als Täter festgestellt … und in gewissem Sinn entsprach dies sogar den Tatsachen. Franks Leiche war in einem Stadtpark gefunden worden,
mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Das Killer-Pärchen, wie man sie inzwischen nannte, wurde in einigen Gazetten romantisiert, hatte es doch das Land von einigen schlimmen Verbrechern befreit. »Thomlin ist davongekommen.« Zamorra schüttelte den Kopf, als er in einer Zeitung davon las. »Ich hab da so ein komisches Gefühl. Als wenn die Sache noch nicht vorbei wäre.« »Sie ist noch nicht vorbei«, sagte Nicole. »Die Cops werden Thomlin genau im Auge behalten. Und wenn er noch mal ein einziges krummes Ding dreht – zum Beispiel, wenn er falsch parkt oder nach der Sonntagsmesse Knöpfe statt Münzen in den Klingelbeutel wirft –, werden sie da sein und ihn hochnehmen.« »CH3-CH2-CH3«, sagte Zamorra. »Wie bitte?«, fragte Nicole. »Das stand in Franks und Jennys letztem Brief an mich.« Nicole zuckte die Achseln. »Vielleicht irgendein Hinweis auf einen Teil ihres Plans, den sie nicht mehr ausführen konnten.« »Sie haben ihren Plan ausgeführt, Nici. Bis zum Ende. Bis wir Thomlin retteten.« Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Ich habe mich kundig gemacht, Nici. CH3-CH2-CH3 ist die chemische Formel für Propan.« »Propan?«, hakte Nicole nach. »Das Gas?« »Ja, das Gas.« Ihm kam plötzlich eine Idee. »Thomlin ist frei, und womit heizt er seine Villa, glaubst du?« Nicole runzelte die Stirn. »Mit Gas?« Zamorra nickte langsam. »Sie hatten von Anfang an einen Plan B, für den Fall, dass Jenny scheitern sollte. Sie haben etwas vorbereitet, das ein halbes Jahr auf Thomlin gewartet hat. Mich überkommt das böse Gefühl, Jenny war schon lange im Haus, ehe wir in jener Nacht dort eintrafen. Lange genug, um …« Zamorra unterbrach sich und eilte ans Telefon.
Long Island
Dr. Alan Thomlin bezahlte den Fahrer und blickte dem Taxi nach, bis es von der kopfsteingepflasterten Auffahrt verschwunden war. Die Torflügel schlossen sich automatisch. Alan Thomlin sog die Luft ein. Sechs quälende Monate hatte er auf diesen Tag gewartet. Sechs Monate hatte die Staatsanwaltschaft ihn ins Kreuzfeuer genommen. Aber damit war es jetzt vorbei. Er steckte den Schlüssel in das Schloss der Haustür und drehte ihn langsam herum. Die Fassade hatte der Grundstücksverwalter in seiner Abwesenheit reparieren lassen, aber im Innern war noch alles wie zuvor. Er inspizierte ein Zimmer nach dem anderen. Die Kerle von der Spurensicherung hatten jeden Teppichvorleger umgedreht, jeden Schrank durchwühlt. Aber sie hatten nichts finden können, da er alle Beweise für seine Verbindungen zu Elvira Montgomery zuvor von seinen Festplatten getilgt hatte. Sämtliche schriftlichen Aufzeichnungen hatte er verbrannt. Sie konnten ihm nichts anhaben, das musste am Ende auch die Staatsanwaltschaft einsehen. Bis dahin hatte sie allerdings jede Menge Steuergelder verschwendet und die öffentliche Meinung gegen sich aufgebracht. Er lächelte zufrieden. Da würde eine hübsche Entschädigungssumme fällig werden für seine Haftzeit und für die mutwilligen Zerstörungen an seinem Eigentum. Die Treppe, die ins Dachgeschoss zu seinem zweiten Büro führte, glich immer noch einem Trümmerfeld. Es würde viel Arbeit geben, aber das konnte warten. Diesen Tag wollte er genießen. Er setzte sich in das Büro im Erdgeschoss und dachte an Professor Zamorra, der ihm das Leben gerettet hatte. Er spürte dafür keine Dankbarkeit, denn das war schließlich Zamorras Pflicht gewesen. Thomlin lehnte sich zurück und betrachtete das Chaos. Dann griff er zum Telefonhörer. Hinter ihm ertönte ein leises Zischen, als er den Hörer von der Gabel hob. Aber er war viel zu gut gelaunt, um darauf zu achten. Er wählte die Nummer seines Anwalts. Der Mann hieß Sommerset, und er war wirklich gut gewesen, fast so gut wie Thomlin selbst. Thomlin grinste selbstgefällig. Er konnte es
schließlich beurteilen. Sommerset hatte sich für seine Anstrengung eine hübsche Belohnung verdient, und Thomlin stand vor dem Neuaufbau seiner Geschäfte. Da konnte er zuverlässige Leute gut gebrauchen. Nur Magie wollte er diesmal nicht mehr ins Spiel bringen. Am Ende hatten ihn die altägyptischen Kreaturen doch noch ausgetrickst, indem sie Frank del Borges und Jenny Regan hinterrücks ins Spiel gebracht hatten. »Sommerset.« »Ich bin's«, sagte Thomlin. Im Hintergrund hörte er das typische Klopfgeräusch, mit dem die Telefonanlage signalisierte, dass ein anderer Anrufer in der Leitung war. Thomlin blickte auf das Display und runzelte die Stirn. Eine Nummer aus Frankreich? Egal, er würde später zurückrufen. »Mr. Thomlin«, sagte Sommerset gerade. »Meinen Glückwunsch nochmals. Was kann ich für Sie tun?« »Ich wollte Ihnen für alles danken, Sommerset.« »Ich bitte Sie. Das war mein Job.« Thomlin nickte gedankenverloren, obwohl Sommerset es nicht sehen konnte. »Sehen Sie, und deshalb rufe ich an. Sie sind ein hervorragender Mann. Ich brauche Leute wie Sie in meinem Laden.« »Soll das ein Angebot sein, in Ihre Kanzlei einzusteigen?« »Sie wissen sehr gut, was das für ein Angebot ist, Sommerset.« Er hasste es, um den heißen Brei herumzureden, aber er hätte seinen rechten Arm darauf verwettet, dass irgendein Spitzel in der Leitung klebte. »Ich werde es mir überlegen«, sagte Sommerset langsam. Das Klopfgeräusch im Hörer verstummte. »Tun Sie das«, sagte Thomlin. »Bis dahin genießen Sie das Leben. Mit meinem Honorarscheck in der Tasche sollten Sie in der Lage sein, über den nächsten Winter zu kommen.« Er lachte und legte auf. Er blähte die Nasenflügel, schnüffelte. Es roch komisch in diesem Haus. Wahrscheinlich die abgestandene Luft. Nach sechs Monaten musste eben mal komplett durchgelüftet werden. Thomlin zückte das silberne Zigarettenetui und steckte sich einen
Glimmstängel zwischen die Lippen. Seine Mundwinkel zuckten. Ich bin der Größte, dachte er. Ihr alle kriegt mich nicht. Er ließ das goldene Feuerzeug aufschnappen und drehte das Zündrad. ENDE
Vorschau Brutwelt: Terra von Volker Krämer »Der ist der Herr der Erde, wer ihre Tiefen misst.« So schrieb einst Novalis in seinen Bergmannsliedern. Doch immer wieder war es die Erde, der tiefe Schachtschlund, der bestimmte, wer der wirkliche Herr war. 40 Jahre sind vergangen – und Nicole Duval hatte diese Episode ihrer Jugendzeit beinahe schon vollkommen vergessen. Alles war nur noch eine verschwommene Erinnerung, die mehr und mehr an Wichtigkeit verlor. Doch dann erhält sie eine Nachricht, die alles wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins spült. Es ist die Nachricht vom Tod eines Menschen, den sie einst gut gekannt hatte. Die Gefährtin Professor Zamorras macht sich auf den Weg in ein anderes Land, in eine andere Zeit. Es ist die Reise in eine Welt, in der ein ehernes Gesetz gebrochen wurde – denn die Erde gab zurück, was sie sich für immer geholt hatte …