Das unheimliche Gyrotaxi Zukunftsroman
von James Spencer scanned by Kantiran 04/2009; K-Leser: Thora Wenn Sellars ...
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Das unheimliche Gyrotaxi Zukunftsroman
von James Spencer scanned by Kantiran 04/2009; K-Leser: Thora Wenn Sellars zu Farraday gehen mußte, suchte er ihn nie tagsüber in seinem Büro auf, sondern ging immer abends in seine Wohnung. „Herein mit Ihnen", sagte Farraday, die unvermeidliche Zigarre im Munde. „Und erzählen Sie mir gar nicht erst, daß Sie geflogen sind. Diese prickelnde Neuigkeit habe ich schon gehört. Es wird uns ja immer mitgeteilt, wenn jemand entlassen wird." Er wies einladend auf die Couch und auf Flaschen und Gläser auf dem Tisch daneben. „Bedienen Sie sich und erzählen Sie, was los gewesen ist." Sellars sank auf die Couch und bediente sich reichlicher mit Whisky, als ein Gast es eigentlich tun durfte. „Was los gewesen ist?" sagte er. „Irgendwer war etwas zu mißtrauisch mir gegenüber und hat beschlossen, mich raus zu graulen, Und das ist ihm denn auch gelungen. " „Ich dachte, Sie seien wegen Unachtsamkeit oder so entlassen worden", bemerkte Farraday. „Bin ich auch, wenigstens offiziell. War eine glänzend konstruierte Falle." Er nahm einen kräftigen Schluck. „Ich konnte keinen Krach schlagen, denn dann wäre vielleicht heraus gekommen, daß ich für Sie arbeite — aber wenn das nicht gewesen wäre..." „Erzählen Sie mal", sagte Farraday beruhigend. Sellars erzählte ihm alles, was sich am gleichen Vormittag zugetragen hatte — von Dr. Stanleys argwöhnischem Fragen bis zu seiner Entlassung. „Und Sie sind vollkommen sicher, daß Sie das Dokument zurückgegeben und den Anforderungsschein Stanley zurückgebracht haben?" fragte Farradey, als Sellars geendet hatte. „Absolut sicher! Meine Erinnerungen daran sind so klar, daß ein Irrtum völlig ausgeschlossen ist. Es gibt nur einen einzigen Menschen, der ungehindert Zugang zu den Geheimdokumenten, zur Ablage der
Anforderungsscheine und anderen Teilen der Abteilung Registratur hat. Er ist der einzige, der mich in dieser unglaublichen Weise hat herein legen können. Aber ich habe keine Vorstellung davon, welches Motiv er haben könnte." Farraday nahm seine Zigarre aus dem Mund. „Und dieser Mann ist wer?" „Dr. Miller, Chef der Registratur." „Und warum könnte ihm an Ihrer Entlassung liegen?" „Ich habe nicht die geringste Ahnung." Farraday ließ sich neben ihm auf der Couch nieder. „Sie müssen sich einmal gründlich ausruhen, lieber Freund. Ich habe es Ihnen ja schon einmal gesagt." Sellars unterbrach ihn. „Ich weiß genau, was Sie denken. Männer, die durch Wände gehen. Berühmte Forscher, die an zwei verschiedenen Plätzen zur gleichen Zeit gesehen werden. Ich weiß, ich weiß. Sie denken, die Operation hätte mich verrückt gemacht, und ich wäre jetzt pensionsreif. — Nicht wahr, das denken Sie?“ „Wenn Sie es so direkt sagen wollen — ja, es stimmt. Aber ich glaube, sechs Monate Urlaub zur Behandlung durch Fachärzte werden wieder alles in Ordnung bringen.“ Sellars schüttelte den Kopf und sah seinen Vorgesetzten fest an. „Nein, Sir Sie irren sich. Die Sache mit dem Geheimdokument ist kein Irrtum. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß die Sache so arrangiert worden ist, um mich loszuwerden. Nehmen Sie doch bloß einmal den eigentümlichen Zufall, daß der fehlende Anforderungsschein ausgerechnet der für ein Dokument war, das am gleichen Tage ebenfalls vermißt wurde. Oder die Tatsache, daß die Geschichte sofort passierte, als ich mich wegen Barnes ein bißchen umzuhören begann. Es geht etwas vor, das irgendjemand vor aller Welt verbergen will. Wer dieser Jemand ist, weiß ich nicht. Aber ich bin gewillt, drei Monatsgehälter zu wetten, daß in der Forschungsanstalt Dinge vor sich gehen, die bestimmt nicht passieren sollten." Farraday brummte. Dann sagte er. „Ich wollte, ich müßte Ihnen das jetzt nicht sagen. Aber wenn Sie meinen guten Rat, sechs Monate Urlaub zu beantragen und sich in ärztliche Behandlung zu begeben, nicht annehmen, dann werden Sie keine drei Monatsgehälter bekommen, um damit wetten zu können jedenfalls nicht von uns." Sellars starrte ihn an. „Noch eine Entlassung, Sir?" Farraday zuckte unsicher mit den Schultern. „Ich glaube allen Ernstes, daß Sie Ruhe und ärztliche Behandlung brauchen. Ich kann Sie doch nicht irgend woanders für einen Spezialauftrag unterbringen, wenn ich nicht sicher bin, daß Sie ... daß Sie ..."
„Daß ich nicht verrückt bin?" „Wir sind dafür da, daß nicht der geringste Versager bei der Geheimhaltung passiert, und wenn wir dann Leute die..." „Andere durch die Wand gehen lassen! Ich weiß, ich weiß doch!" rief Sellars. „Es kann ja sein, daß ich damals einen Sonnenstich hatte, das kann jedem passieren! Aber diese Sache ist doch eindeutig und klar —!" Farraday nickte. „Na, schön, Sellars. Bringen Sie Beweismaterial — ich will Sie nicht hindern. Aber kommen Sie nicht um Hilfe zu mir. Von diesem Augenblick an weiß die Sicherheitspolizei nicht mehr, daß Sie überhaupt existieren. Wir haben nie von Ihnen gehört." Er stand auf und gab Sellars die Hand. „Und vergessen Sie nicht — wir können nur mit stichhaltigen Beweisen etwas anfangen." Es sah aus, als sollte dies ein unerfreulicher Kampf eines Einzelnen gegen eine Welt voller Widerstände werden. Sellars erinnerte sich an Pete Foster, einen alten Freund, der eine Privatdetektei im Stadtzentrum besaß. Sellars wußte von früher her, daß Foster oft spät abends noch arbeitete, und beschloß auf der Stelle zu Pete Foster zu gehen. Ein Gyrotaxi brachte ihn im Handumdrehen vor das riesige Bürohaus, in dessen fünftem Stockwerk Fosters Detektivbüro lag. Wie vermutet, war Foster noch an der Arbeit — ein kräftiger, untersetzter Mann Ende der Dreißiger. Mit breitem Grinsen begrüßte er seinen Besucher. „Wer kommt?? — Was seh' ich? — Oh, ihr guten Geister! Mein Harry! Was ''macht das Geschäft?" Sellars brauchte eine gute Stunde, ihm zu berichten, wie schlecht es mit dem ,Geschäft' stand. Foster lauschte. „Wie passe ich in dieses häßliche Bild? Du bist doch nicht bloß hergekommen, um dich an meiner breiten Schulter aus zu weinen, weil du an einem Tage gleich aus zwei Stellungen geflogen bist!" Sellars lächelte. „Ich dachte, wir könnten uns bei dieser Sache zusammentun, Pete. Ich zahle dasselbe wie andere Klienten. Ich kann es mir leisten — in letzter Zeit habe ich ja zwei Gehälter bezogen. Ich brauche Hilfe, Pete, auf die ich mich verlassen kann." „Und was soll ich, genau gesagt, dabei tun?" fragte Pete. „Es interessiert alles, was unnormal ist. Alle Kleinigkeiten — es dürfen auch ernstere Dinge sein — die nicht ganz zum Leben eines geachteten Forschers passen. Willst
du bei dieser Sache mitmachen?" Foster nickte. „Zunächst sieht's freilich etwas mulmig aus. Aber da meine werte Firma nicht gerade in der Lage ist, auf Einnahmen zu verzichten, und da du ein guter alter Freund bist, soll mir's recht sein. Wann willst du anfangen?" Petes beide Mitarbeiter lernte er am nächsten Morgen kennen, als er sich in dessen Büro begab. Obwohl der Mann ein kleiner Riese war und wie ein Boxweltmeister aussah, entging er ungefähr zwanzig Sekunden lang völlig seiner Aufmerk‐ samkeit, da sie von dem Mädchen in Anspruch genommen war. Sie hatte tatsächlich hübsche Beine, das war nicht zu leugnen. Und sie waren außerdem nicht das einzige Hübsche an ihr. Foster stellte vor. „Miß Lyon, Mister Nelson — und das ist Mister Sellars. Oder wenn es euch lieber ist: Janis, Bert — das ist Harry, unser neuer Klient, ein alter Freund von mir. Seid aus beiden Gründen nett zu ihm." Sellars gab ihm den versprochenen Scheck. „Fürs erste", sagte er. „Später mehr." Foster warf einen Blick, den er für unauffällig hielt, auf die Summe, steckte dann den Scheck erschrocken ein und strahlte. „Du bist jetzt nicht nur mein Freund, sondern mein ganz spezieller Freund", verkündete er. „So, und wie wäre es denn nun — wollen wir ein bißchen arbeiten? Wir waren draußen bei der Forschungsanstalt. Da ist eine Kaffee‐Bar mit Glaswänden dicht am Eingang. Es hing ein Schild dort — Hilfe gesucht. Ob Bert dort mal sein Glück versucht? Schöne Aussicht dort auf den Eingang zur Forschungsanstalt und auf den Halteplatz der Gyrotaxis." Sellars nickte zustimmend. „Das ist eine gute Idee." Er holte aus seiner Jacken‐Innentasche ein Bündel Papiere, Notizen Und Ausschnitte. „Das sind ein paar Sachen, die Ihnen sicherlich helfen werden. Das hier sind Seiten alter wissenschaftlicher Zeitschriften mit Bildern. Barnes ist hier drauf und Stanley auf diesen beiden. Von Miller habe ich nirgends ein Bild gefunden, aber hier haben Sie eine, ganz ausführliche Beschreibung von ihm." Er gab dem künftigen Kaffeekellner den ganzen Packen in die Hand. „Oh, und ehe ich es vergesse —", er reichte Foster ein besonderes Blatt, „hier sind die Arbeitszeiten und Mittagspausen, Adressen, Wagen‐ nummern und was ich sonst noch weiß." Foster nickte befriedigt. „Das wird uns sehr nützen. Wenn du genau wüßtest, was wir suchen
sollen, würde es uns noch mehr helfen. Und womit wirst du den Tag verbringen?" Sellars lächelte. „Ich fahr mal kurz an die See. An der Südküste gibt es einen netten, kleinen Ort namens Fyleham. Barnes ist dort aufgewachsen. Die Schule, die er besucht hat, besteht noch, so daß ich dort vielleicht etwas Brauchbares erfahren kann. Wenn ich in Fyleham nichts erfahre, werde ich es, bei dem College versuchen, das er besucht hat, und dann bei der Firma, für die er arbeitete, ehe er vom Staat übernommen wurde." Foster nickte. „Schön, dann schicke ich also Bert zu dem Cafe. Und Janis kann hier bleiben und sich ums Büro kümmern. Ich werde die Adressen benutzen, die du mir gegeben hast, und mir mal ansehen, wie diese Helden wohnen." Er warf einen Blick auf Sellar´s Liste. „Miller ist Junggeselle und hat eine Mietwohnung; Stanley ist verheiratet und hat ein Haus; Barnes ist geschieden und hat eine Wohnung und ein Haus. Aha. Was macht der Barnes eigentlich mit zwei Behausungen, die beide ungefähr gleichweit von seiner Arbeitsstätte entfernt sind?" Fyleham war ein kleiner und trotz aller Modernisierung gemütlicher Ort an der Kanalküste. Sellars fuhr seinen Wagen in den Parkturm und trat dann in den hellen Sonnenschein hinaus. Er ließ sich vom Rollsteig ins Stadtzentrum tragen. Sellars meldete sich im Sekretariat der Schule als Philip Nicols von der Mikrofilm A.G. an und zeigte einen Ausweis vor, der noch aus seiner Sicherheitsdienstzeit stammte. Der Rektor war ein sehr dicker Mann namens Slim. Er streckte Sellars eine fleischige Hand entgegen. „Mr. Nicols? Sie wollten mich sprechen?" „Wenn Sie einen Augenblick Zeit für mich haben, Sir. Ich komme von der Mikrofilm A.G., Wissenschaftliche Abteilung. Wir wollen ein paar Filme herausbringen, Biographien lebender Wissenschaftler, und haben als eine der zu behandelten Gestalten einen Dr. Howard Barnes in Betracht gezogen. Er ist Physiker an der Raumfahrt‐Forschungsanstalt." Der Rektor nickte. „Ganz recht. Barnes war hier Schüler." „Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir etwas Aufschlußreiches über ihn sagen können, vielleicht etwas über Dr. Barne´s Schulzeit" Der Rektor lächelte. „Barnes war freilich vor meiner Zeit hier, und der Rektor von damals, mein Vorgänger, ist nun leider... leider nicht mehr unter den Lebenden. Ich
glaube, die Psychogramme von Barnes werden im Archiv sein. Wann kam das Psychogramm‐System auf? 1980 etwa, nicht wahr? Ja, 1982 war es. Da müßten auch von Barnes welche gemacht worden sein. Kommen Sie doch gleich einmal mit" Er führte Sellars durch einen mit dunkelblauem Gummi ausgelegten Gang zu der Fahrstuhltür die in den Keller führte. Das Psychogramm‐ System diente dazu, die feineren Züge in der Persönlichkeit der Schüler zu ermitteln. Man benutzte dazu ein Analysegerät, das 1980 von einem Spezialisten für Cybernetik erfunden worden und in allen Schulen eingeführt worden war. Aus den Psychogrammen und aus Berufs‐ eignungstesten wurden dann die Abgangszeugnisse der Schüler zusam‐ mengestellt. Es dauerte zehn Minuten, bis die Dokumente aus der Schulzeit Dr. Barnes ans Licht gebracht waren. „Eindeutiger Beweis, daß er den Marschallstab im Tornister hatte", murmelte der Rektor, als er die Papiere überflog. „Ein Junge mit solcher Begabung mußte ja große Erfolge haben." Sellars tat ganz begeistert, als er las und sich eifrig dabei Notizen machte, und er sagte ein paar passende Sprüche wie: „Da, dieses kindliche Interesse an Raketenmodellen, das ist was Geeignetes." Aber die ganze Zeit über dachte er: das ist gerade das, was ich nicht lesen wollte. Ich brauche etwas, das zeigt, daß Barnes als Kind nicht war wie andere Kinder, die große Forscher werden. Ich muß Widersprechendes entdecken. Der Rektor legte die Papiere fort und klappte den Behälter wieder zu. „Wahrscheinlich werden Sie sich gern noch mit den einzigen beiden Lehrern unterhalten wollen, die von damals noch übrig sind. Sie können vielleicht das Bild noch nach der privaten Seite abrunden." „Es sind noch zwei Lehrer von Barnes hier?" „Allerdings. Sie sind im Pensionsalter, ich glaube, im nächsten Jahr treten sie zurück." Die beiden Lehrer bestätigten aufs Wort, was Sellars in den Psychogrammen gefunden hatte. Barnes war vom ersten Schultag an wissenschaftlich Interessiert gewesen und so weiter und so weiter. Sellars war niedergeschlagen. Der Rektor strahlte gutmütig und brachte Sellars zum Schluß zur Tür. „War mir ein Vergnügen, Ihnen zu helfen, Mr. Nicols, war mir ein reines Vergnügen! Oh, da fällt mir eben ein: ich habe gestern — oder war es schon vorgestern? Ich weiß nicht mehr — einen Brief von einem alten Fylehamer bekommen, der sich zum Besuch ansagt. Gray heißt er, er muß
etwa zur selben Zeit wie Barnes hier Schüler gewesen sein. Er fragte, ob die alte Schule noch steht. Er war seither in Amerika und kehrt jetzt nach England zurück. Vielleicht kann er Ihnen noch Persönlicheres von Barnes erzählen." Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte ein paar Seiten. „Hier ist seine Adresse und Rufnummer." Mehr aus Höflichkeit als aus Interesse schrieb Sellars sich beides auf. Dann — nachdem er sich bedankt und dem Rektor versprochen hatte ihm drei Kopien des Mikrofilms zu senden, wenn er gemacht wurde — verabschiedete er sich von ihm. Überall, wo Sellars sich nach Barnes erkundigte, bekam er die gleichen Antworten. Der alte Mann in der Stadtbücherei zum Beispiel sagte ihm, er könne sich auf den jungen Barnes noch sehr gut besinnen. Er habe viele Stunden jeden Tages zwischen den Regalen mit technischer und naturwissen‐ schaftlicher Literatur verbracht. Jeder, der alt genug war, Barnes in seiner Jugend erlebt haben zu können, brachte es fertig, sich des strebsamen jungen Forschers zu entsinnen. Zu gut paßte alles zusammen, dachte Sellars, zu gut und zu ordentlich. Und sein Stirnrunzeln verstärkte sich, als er in seinem Wagen nordwärts fuhr. Foster saß allein in seinem Büro. „Du hast dich schon von der frischen Seeluft losreißen können? Hast du was über Barnes erfahren?" Sellars ließ sich in einem Sessel nieder. „Oh ja, erfahren habe ich viel. Mehr als lieb war — Dinge, die mir gar nichts nützen. Ich habe mit seinen Lehrern geredet, mit dem Bürgermeister, dem Bibliothekar und ‐zig anderen Leuten." „Und was haben sie erzählt?" „Geschichten aus Barnes Jugend natürlich. Wie tüchtig er in Mathematik war, und wie sie alle damals schon wußten, wie berühmt er eines Tages werden wird. Sie erzählten alle dasselbe!“ „Das heißt, daß du unrecht hattest, als du in Barnes einen zweifelhaften Burschen sahst?" Sellars sah in die Nacht hinaus. „Trotz allem, was ich gehört habe, traue ich meinem Argwohn mehr. Der Sache bin ich zwar noch nicht weiter nachgegangen. Der Rektor von Barnes alter Schule gab mir die Adresse eines gewissen Gray, der mit Barnes zur
Schule ging. Gray war lange in Amerika und ist vor kurzem zurückgekehrt. Die angeblichen Tatsachen über Barnes rühmliche Jugendzeit haben mich so deprimiert, daß ich einfach nicht mehr die Energie hatte, mich noch mit Gray zu befassen. Wie ist es mit deinem Mann da, dem Bert, gegangen? Hat er die Stellung bekommen?" „Ja, er mußte sofort anfangen und kommt erst in etwa einer halben Stunde." Sellars nickte. „Und was ist mit dir? Hast du etwas Interessantes gefunden, als du die genannten Adressen aufgesucht hast?" „Das Haus von Barnes war ganz interessant. Es ist viel zu groß für einen alleinstehenden Menschen, eher ein Gefängnis als ein Haus: schwere Mauern ringsum, Tore, durch die nicht einmal ein Elefant durchbrechen könnte und so weiter. Barnes lebt dort nicht allein." Sellars zog die Augenbrauen hoch. „Mit einer Frau?" „Nein. Mit zwei Männern. Oder falls sie nicht dort wohnen, gehen sie jedenfalls sehr oft dort ein und aus." „Und wie hast du das alles herausbekommen?" Foster lächelte. „Ich bin zu einem Grundstücksmakler in der Nähe gegangen und habe ihm was vor erzählt — daß ich mich in dieser Gegend niederlassen wolle, daß ich das große Haus da in der Nähe gesehen hätte, das leer zu stehen schien, und ob er mir etwas darüber sagen könne." „Und das hat er dann getan?" „Oh ja, natürlich nicht ohne mir zu verstehen zu geben, daß er mich durchschaut hatte. Er wußte übrigens auch, daß Barnes irgendwelche Forschungen für den Staat ausführte." „Und die Mietwohnung von Barnes? Und wo Stanley und Miller wohnen.“ „Gar nichts. Zwei ganz normale Behausungen in ganz normalen Straßen in ganz normalen Wohngegenden." Er wies mit dem Kopf auf den Televisor, das Fernsehsprechgerät. „Versuch doch mal, diesen Burschen Gray anzurufen!" Sellars wählte die Nummer, die er erhalten hatte. Den Lautsprecher hatte er eingeschaltet, so daß Foster alles mithören konnte, und den Visor hatte er so eingestellt, daß hinter seinem Kopf, wenn ihn sein Gesprächs‐ partner sah, nicht Teile von Fosters Büro, sondern nur das nichtssagende
nachtdunkle Fenster zu sehen sein konnte. „Mr. Gray? Mr. Dennis Gray?" „Ja, bitte, das bin ich", sagte Gray auf dem Fernsehschirm. Seine Stimme war laut und kräftig und etwas nasal wie bei einem, der lange in Amerika gelebt hat. „Es tut mir sehr leid, Sie zu so später Stunde zu behelligen, Mr. Gray. Mein Name ist Nicols, Philip Nicols, und ich vertrete die Mikrofilm‐A.G., Wissenschaftliche Abteilung. Wir beabsichtigen, einige erzieherisch wertvolle Filme herauszubringen. Ich war nun heute in Dr. Howard Barnes alter Schule, Fyleham Hall, und habe vom jetzigen Rektor erfahren, daß Sie ungefähr zur gleichen Zeit wie Barnes diese Schule besucht haben. Er gab mir Ihre Adresse und Ihre Rufnummer." Mr. Grays Gesicht zeigte nur Verblüffung. „Aber ich weiß wirklich nicht..." „Ich weiß natürlich, daß es schon reichlich spät ist für so einen Anruf", sagte Sellars mit süß schmelzender Stimme und zeigte dabei sein einnehmendstes Lächeln. „Aber es ließ mir keine Ruhe, Sie zu fragen, ob Sie sich noch einigermaßen an Ihre Schulzeit erinnern können, Mr. Gray. Darf ich Sie vielleicht morgen oder zu einem anderen Zeitpunkt, der Ihnen besser paßt, aufsuchen? Ich habe schon eine ganze Menge von Tatsachen über den früheren, glänzenden Beginn der wissenschaftlichen Karriere von Dr. Barnes gesammelt." Mr. Grays Gesicht war sehr, sehr ärgerlich. „Hören Sie mal", legte er los. „Es ist mir piepegal, wer Sie sind und wen Sie vertreten, aber ich finde es auf jeden Fall viel zu spät, mir Ihren ungereimten Unsinn anzuhören. Natürlich war ich in Fyleham mit einem jungen Idioten namens Howard Barnes, aber er hat sich nur fürs Briefmarkensammeln interessiert, für gar nichts anderes weiter. Er ist früher abgegangen als ich und hat mir sein Psy‐ chogramm gezeigt, in dem klar, und deutlich stand, daß ihn selbst seine Sammlerwut nicht weiter bringen werde, weil sein bißchen Verstand vollkommen durcheinander sei. Wenn Sie glauben, daß ein so unbegabtes Kind es dazu gebracht hat, ein großer Physiker zu werden, dann muß bei Ihnen was nicht in Ordnung sein. Und nun Gute Nacht, Herr Mikrofilm!" Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sich Sellars von dem Leuchtschirm trennen konnte, auf dem Mr. Grays empörtes Gesicht verschwunden war. Foster an seinem Schreibtisch lachte trocken. „Siehste, Harry, war doch zu spät, um ihn anzurufen." Sellars hörte nicht zu. Auf seinem Gesicht malte sich eine immer stärker werdende Erregung. Zuletzt schlug er begeistert mit der Faust auf den Tisch.
„Endlich!“, rief er. „Endlich haben wir etwas, an dem wir ansetzen können! Das ist doch genau das, was ich gesucht habe. Das ungewöhnliche Detail, das nicht ins allgemeine Bild paßt. Hier haben wir einen Mann, der mit Barnes zur Schule ging und schwört, daß Barnes nie die geringsten wissenschaftlichen Neigungen hatte! Außer Briefmarkensammeln natürlich. Er hat sogar sein Psychogramm gesehen, wenigstens sagte er das." „Vielleicht kannst du dich daran erinnern, daß auch du das Psychogramm des Schülers Barnes gesehen hast, und zwar erst heute vormittag, und du hast mir etwas vollkommen anderes davon erzählt!" „Du kannst dir einen neuen Klienten kaufen, wenn du so weiter machst", knurrte Sellars, der im Büro auf und abtigerte. „In gewisser Hinsicht hast du allerdings recht. Ich verlasse mich auf meine Ahnungen, auf die war immer Verlaß. Und meine Ahnung sagt mir, daß Gray recht hat und daß alle anderen, mit denen ich gesprochen habe, entweder verrückt sind oder..." „Oder was?" sagte Foster, ohne zu lächeln. „Oder daß sie lügen", vollendete Sellars. „Hm", brummte Foster. „Ob dort in Fyleham jemals einer die Wahrheit sagt? Bloß damit ein bißchen Abwechslung in die Sache kommt? Und was ist mit den Psychogrammen — wie erklärst du dir, was du heute Vormittag im Archiv der Schule von Fyleham gesehen hast? Glaubst du, es ist jemand in die Schule eingebrochen, hat sich ins Archiv geschlichen, die ursprünglichen Psychogramme gestohlen und gefälschte dafür hingelegt? Du mußt doch selbst sagen, daß es vollkommen verrückt klingt." „Du hast recht", stimmte Sellars zu. — „Aber ich bezahle dich doch dafür, daß du zusammen mit mir nachweist, daß die Verrücktheit in der Sache und nicht etwa in mir steckt." Der Summer über der Tür verkündete, daß jemand ins Vorzimmer gekommen war. Foster sah erleichtert auf. „Ach, das ist sicherlich Bert!" rief er. Es war Bert — ein sehr müder Bert, um es genauer zu sagen. Foster warf Bert und Sellars eine Zigarette zu. „Erfolg gehabt?" fragte er dann Bert. Bert zündete seine Zigarette an. „Nicht viel", sagte er. „Ich habe meine anderthalb Stunden Mittagspause damit verbracht, vorn am Fenster zu sitzen, während ich scheinbar Zeitung
las und Kaffee trank. Dann mußte ich wieder in den hinteren Teil des Gebäudes zurück, wo es nichts anderes zu sehen gab als Kaffeetassen." „Haben Sie während der Mittagspause einen von den drei Männern gesehen?" fragte Sellars. „Ich bin nicht ganz sicher. Die Bilder, die Sie mir gegeben haben, waren im kriminalistischen Sinne nicht besonders gut. Ich glaube aber, den Dr. Stanley habe ich gesehen. Nicht sehr groß, blasses Gesicht, glattrasiert, Anzug ein unauffälliges Grün, noch altmodische Knöpfe statt Reißverschlüssen. Hat einen komischen Schritt, so wie ein Huhn, und er kam heraus um ...", er sah auf einen kleinen Notizzettel, den er aus der Tasche zog, „um 12 Uhr 55 zusammen mit einem älteren Vogel mit weißem Bart." „Das wird Dr. Gresham gewesen sein", nickte Sellars. „Ich meine den Mann mit dem Bart. Und Sie haben wahrscheinlich recht, wenn Sie in dem anderen Dr. Stanley vermuten. Er ist meistens zusammen mit Dr. Gresham in einem Lokal, das ein Stückchen entfernt liegt." „Und was ist mit Barnes — haben Sie ihn gesehen?" fragte Foster vom Schreibtisch her. „Ich glaube nicht. Wenigstens habe ich niemanden gesehen, der wie der Mann auf dem Bild aussah." „Und Sie haben von wann bis wann beobachtet?" fragte Sellars. „Von 12 Uhr 45 bis etwa 2 Uhr 15. In Ihrer Liste steht, daß Barnes normalerweise um 1 Uhr 10 geht, wenn er außerhalb zu Mittag ißt. Ich habe deshalb um diese Zeit besonders nach ihm Ausschau gehalten, aber ich habe kein Glück gehabt." Sellars runzelte die Stirn. „Schade. Und was war mit Miller?" „Für den hatte ich nur eine Beschreibung, kein Bild, wie Sie sich erinnern werden. Ich habe aber einen gesehen, bei dem es mir möglich erschien, daß es sich um Dr. Miller handelte. Er kam etwas nach zwei heraus und schien es eilig zu haben. Ein Mann mit ziemlich scharf geschnittenem Gesicht, dunkel, ziemlich groß, Schnurrbart, auffälliger roter Anzug." „Das alles paßt sehr gut zu Miller", sagte Sellars und nickte zustimmend. „Was hat er getan? Wo ging er hin?" Bert lächelte müde. „Oh, er machte nichts Ungewöhnliches. Hielt nur ein vorbeifahrendes Gyrotaxi an und wurde von ihm mitgenommen. Die Taxinummer habe ich, wenn Sie sie brauchen sollten." „Sagen Sie das doch noch einmal!" sagte Foster langsam. „Sie sagten, der Mann hielt ein vorbeifahrendes Gyrotaxi an und wurde
mitgenommen?" „Ich glaube, ich merke, worauf du hinauswillst", warf Sellars ein. „Direkt vor dem Eingang zur Forschungsanstalt ist eine Rollbrücke, die über die Straße führt. Und wenn Leute herauskommen, betreten sie die Brücke, werden von ihr über die Straße befördert und vor dem Halteplatz der Gyrotaxis auf der anderen Straßenseite abgesetzt." „Genau richtig", sagte Foster. „Wenn dieses Taxi im Vorbeifahren begriffen war, wie Sie sagten, dann konnte es nicht gut vom Halteplatz kommen. Nun gehen aber an der Seite der Forschungsanstalt, an der sich das Tor befindet, nur Nebenstraßen, während die Hauptstraße, auf der ein Taxifahrer eher einen Kunden finden kann, auf der anderen Seite des Anstaltsgeländes läuft, soweit ich mich erinnern kann." Er sah Sellars an, der zustimmend nickte. „Und deshalb, meine Freunde, richte ich an euch die entscheidende Frage: was macht ein Taxifahrer ohne Fahrauftrag auf der Nebenstraße, wo er nicht erwarten kann, einen Fahrgast zu finden, weil an dieser Nebenstraße ein ständig gut besetzter Taxi‐Standplatz liegt? Und warum betrat dieser Miller nicht wie alle anderen Sterblichen die Rollbrücke, um sich zu den auf Fahrgäste wartenden Gyrotaxis befördern zu lassen?" „Auf die Idee bin ich nicht gekommen", sagte Bert leicht verwirrt. „Da Sie davon reden, erinnere ich mich auch, daß er nicht mal einen Blick zum Taxenstandplatz warf, sondern gleich in die Richtung blickte, aus der dann das Taxi auftauchte, mit dem er fuhr. Vielleicht wollte Miller sicher gehen, daß er ein Taxi bekam, und hat deshalb eins bestellt." ,Vielleicht, es könnte sein", sagte Foster zustimmend. „Vielleicht hat er von seinem Büro aus einen entfernten Taxistand angerufen. Sie sagten, Sie hätten die Nummer des Taxis, Bert? Vielleicht können wir mit ihrer Hilfe den Fahrer ausfindig machen. Da kann sich Janis gleich morgen früh damit befassen." Er zog einen Notizblock heran. „Also mal los, Berti" „Pffz/430", sagte Bert und sah von seinem Notizzettel wieder auf. In Sellars! Kopf gab es eine kleine Explosion. Er stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte. „Wie war das?" „Pffz/430. Was ist damit?" Sellars stieß einen Schrei aus, schlug sich auf den Kopf und tanzte wie ein Wilder auf und ab. „Ganz hübsch", sagte Foster trocken. — „Dürfen wir mitspielen?"
Sellars sah seinem Freund ins Gesicht. „Das", sagte er langsam, „ist das beste, was mir seit Beginn der ganzen Geschichte passiert ist. Weißt du noch, was ich dir erzählt habe, als ich gestern Abend hier war und alles erklärte?" „Du hast mir viel erzählt." „Von einem Mann, der durch die Mauer eines Restaurants kam, in dem Barnes zu Mittag aß? Weißt du das noch? Nun, als der Mann durch die Mauer gekommen war, stieg er auf der Straße in ein Taxi, und die Nummer dieses Gyrotaxis war Pffz/430." Er richtete sich wieder auf und lächelte. „Jetzt haben wir etwas, das wie ein Verbindungsglied zwischen Barnes und Miller aussieht." „Leg deiner Phantasie bitte Zügel an", sagte Foster unbegeistert. „Es besteht kein Grund, anzunehmen, daß der Mann, der durch die Wand ging, etwas mit Barnes zu tun hat. Er war zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort, und das beweist noch gar nichts. Genau so ist es eben ein Zufall, daß das Taxi, mit dem er fuhr, dasselbe war, das Miller heute bestieg." „Na schön, laß es tausendmal nur Zufälle sein!" rief Sellars erregt. „Und ob du recht hast, daß es nur ein Zufall ist, oder ob ich recht habe, wenn ich darin eine tatsächlich bestehende Verbindung sehe — wir haben jetzt wenigstens etwas, was wir weiterverfolgen können." „Du meinst das Taxi?" „Allerdings." Dennis Gray hielt sich nur zum Vergnügen in Europa auf. Er hatte sich eine komfortable Wohnung im Stadtzentrum von London gemietet, und dort suchte ihn Sellars am folgenden Morgen auf. Gray selber, in einem purpurseidenen Schlafrock gehüllt, öffnete Sellars. „Bitte?" fragte er. Dann erstarrte er und sah Sellars stirnrunzelnd an. „Sind Sie nicht dieser rücksichtslose Mensch, der mich gestern Nacht anrief und mir wer weiß was für einen Unsinn erzählte?" Sellars nickte. „Ich muß es zugeben, Mr. Gray, und ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen, daß ich Sie dazu gebracht habe, etwas zu sagen, das ich hören wollte." Gray zwinkerte überrascht, trat einen Schritt zurück und runzelte noch immer die Stirn. „Ich bin anscheinend in diesen Tagen besonders begriffsstutzig, Mr. Mikrofilm", sagte er gereizt. „Ich muß gestehen, daß ich noch immer nicht begreife, was all dieser Unsinn soll. Wenn ich Unsinn aller Art schon abends in der Whiskystunde nicht besonders schätze — so früh am Morgen ist er
mir gleich ganz und gar zuwider." Sellars zog eine kleine Karte aus der Tasche und hielt sie dem anderen hin. Es war — oder schien zumindest zu sein der Dienstausweis laut dem Harry Sellars Detektivinspektor der Sicherheitspolizei war. „Und was soll ich verbrochen haben?" fragte Gray. „Nicht das geringste, Mr. Gray", sagte Sellars und steckte seinen Ausweis wieder ein. „Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten, könnte Ich Ihnen erklären, was es mit dem ganzen ,Unsinn' auf sich hat." „Es ist eine eigentümliche Geschichte", sagte Sellars zwei Minuten später. „Unsere Abteilung hat noch nicht die geringste Ahnung, was wirklich dahintersteckt, und deshalb möchten wir natürlich auf keinen Fall, daß vorzeitig etwas darüber bekannt wird. Alles, was ich Ihnen erzählen will, muß, unbedingt ganz unter uns bleiben. Um es kurz zu sagen; der Junge, den Sie als Ihren Mitschüler Howard Barnes in Fyleham kannten, arbeitet jetzt an einem großen Regierungsprojekt. Er ist jetzt ,der' Howard Barnes, ein großer, berühmter Physiker und Mathematiker. Nun sagten Sie mir aber gestern Abend, als Knabe habe sich Howard Barnes in nichts von seinen Altersgenossen unterschieden?" Gray nickte heftig. „Das habe ich gesagt. Nur glaube ich, daß ich mich entschieden deutlicher ausgedrückt habe." „Allerdings. Sind Sie wirklich absolut sicher, daß Sie sich genau genug an Barnes, wie er damals war, erinnern können, um mit voller Überzeugung zu sagen, daß er nicht die geringste wissenschaftliche Begabung zeigte, als er zur Schule ging?" „Ich möchte sogar noch weiter gehen. Ich möchte sagen, daß er überhaupt keine Begabung zeigte, auf keinem Gebiet. Er war richtig blöde. Und all das, was Sie mir hier von wissenschaftlichen Leistungen im späteren Leben erzählen, paßt überhaupt nicht zu ihm. So viel hätte Barnes niemals aufholen können — nach einer solchen Schulzeit nicht" „Unter normalen Umständen nicht da haben Sie recht", stimmte Sellars zu. „Aber nehmen wir mal an, die Umstände seien normal!" „Ich verstehe nicht..." „Nun, Barnes steht so ziemlich an der Spitze seines speziellen Wissenschaftszweiges. Er hat eine Art von Instinkt dafür, neue Dinge zu erkennen, die sein Mitarbeiter, der vielleicht viel gelehrter ist, nicht wahrnimmt. Wir haben festgestellt daß sich selbst seine doch gewiß nicht ungeübten Mitarbeiter wunderten, mit welch spielerischer Leichtigkeit er die Lösungen von Problemen fand, mit denen sie selber sich schon seit Tagen nutzlos herum schlugen. Und das soll ein Mann sein, der in seiner
Schulzeit so hinter den Leistungen der anderen Schüler hinterher blieb? Sehen Sie nun unser Problem?" „Eine Fülle von inneren Widersprüchen." „Lassen Sie mich fortfahren", unterbrach ihn Sellars. „Wir wissen nun, daß in den letzten Jahrzehnten eine ganze Anzahl von Methoden entwickelt worden ist, in anderweitig leere Köpfe Sinn und Verstand hineinzubringen. Da gibt es neuartige Methoden der Hypnose und so weiter. Aber bis jetzt ist noch nichts entdeckt worden, daß einem durchschnittlichen Kind echten schöpferischen und genialen Geist verleiht! Oder sollten wir lieber sagen, daß kein solches Mittel je öffentlich bekannt gemacht worden ist?" Gray stieß einen leisen Pfiff aus und sah Sellars mit aufgerissenen Augen an. „Jetzt erkenne ich, worauf Sie zusteuern! Sie denken, es könnte sein, daß etwas entdeckt worden ist und nun an Barnes ausprobiert wird?" „Ungefähr so. Aber ich habe keine Ahnung, wer dahinter stecken könnte, wie kann man so viele Leute bestechen oder einschüchtern?". Sellars erklärte, was er in Fyleham erlebt hatte. „Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Fülle von Lügen gehört!" legte Gray los, als Sellars fertig war. „Wie kommen all diese Leute dazu, einstimmig wie gedruckt zu schwindeln?" „Das eben wollen wir herausbekommen — unter anderem. Wichtiger ist uns das Geheimnis, wem Barnes sein Genie verdankt. Sie haben uns beträchtlich geholfen damit, daß Sie uns sagten, Barnes sei als Kind keineswegs ein Wunderknabe gewesen. — Ich möchte Sie bitten, strengstes Stillschweigen über alles zu bewahren, was ich Ihnen erzählt habe und mit niemandem zusammen zu kommen, der Barnes gekannt haben kann. Ich möchte keine Unbeteiligten in die Sache hineinziehen. Besonders da es sich um etwas handelt, dessen Hintergründe wir selber noch nicht ahnen. — Es wäre allerdings..." Er zögerte absichtlich, um Gray Gelegenheit zu geben, weiter zu fragen. „Ja? Etwas, das ich für Sie tun könnte? Aber natürlich, Inspektor! Ich paß schon auf mich auf. Sagen Sie nur, was ich tun soll, alles weitere werden wir dann schon sehen." Sellars nickte schließlich. „Gut, hören Sie zu: Sie sind doch herübergekommen, um Ferien zu machen, nicht wahr? Nehmen wir an, Sie hätten von dem großen Physiker Howard Barnes gehört, und Sie erinnerten sich auch eines gleichnamigen Schulkameraden und wunderten sich, ob vielleicht beide ein und dieselbe Person seien. Ihr ganz beiläufiges Interesse bringt Sie dazu, in einem guten, sehr modernen Lexikon
nachzuschlagen, in dem der Physiker Barnes schon drinsteht, und dabei stellen Sie fest, daß Barnes tatsächlich in Fyleham zur Schule gegangen und deshalb — da auch das Alter stimmt — Ihr alter Schulkamerad ist. Und deshalb beschließen Sie, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, um alte Erinnerungen aufzufrischen. Ich bin gespannt, ob er Ihnen irgendetwas von seinem neu erworbenen Wissen erzählt." „Und nachher — was dann?" „Sobald Sie Barnes verlassen haben, berichten Sie mir. Von diesem Augenblick an wird einer unserer Beamten sich immer in Ihrer unmittelbaren Nähe aufhalten — für den Fall, daß es Schwierigkeiten geben sollte. Wenn Sie ein Zusammentreffen mit Barnes verabredet haben, dann rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an. Das ist ein Detek‐ tivbüro, mit dem ich in Verbindung stehe. Versuchen Sie nicht, mich bei der Sicherheitspolizei zu erreichen, denn ich bin dort offiziell nicht mehr beschäftigt." Gray fuhr auf. „Wie war das?" „Man wird dort leugnen, je etwas von einem Fall Barnes gehört zu haben, geschweige von mir. Erst wenn ich genügend belastendes Material geliefert habe, so daß Sie eingreifen können, werden Sie wieder offiziell von meiner Existenz Kenntnis nehmen." Sellars suchte Foster im Detektivbüro auf. Er nickte in Richtung des Televisors. „Hast du dich nach, dem Gyrotaxi erkundigt?" Fosters Gesicht blieb leer. „Das habe ich getan", sagte er. „Die Taxigesellschaft sagte mir schlicht und klar, daß sie eine solche Nummer nicht in ihren Verzeichnissen hätte, und daß — da Irrtümer bei ihnen nicht vorkämen — ich selber mich geirrt haben müßte." Sellars schlug sich an die Stirn. „Du lieber Gott!" rief er. „Nun auch noch Taxis, die es nicht gibt! Wohin soll uns diese Sache noch führen?" „Das habe ich mich auch gefragt, Harry", sagte Foster. „Aber wenn du nur Sinnestäuschungen gehabt haben solltest — daß meinem nüchternen Bert das passieren sollte, kann ich nicht glauben. Es fährt bestimmt ein Gyrotaxi mit der Nummer Pffz/430 herum. Die Tatsache, daß es nicht registriert ist, bedeutet, daß die Geschichte einen Haken hat. Dieses Taxi erscheint nur, wenn eine ganz bestimmte Person damit fahren will, die aus irgendwelchen Gründen weder den eigenen Wagen noch ein offiziell existierendes Taxi benutzen kann. Wenn Miller wieder mit diesem Taxi fährt, ist es möglich, daß sein Fahrtziel das gleiche ist — ein Ziel, von dem niemand etwas wissen soll. Stimmt's?"
„Hm — das klingt vernünftig." „Gut. Wird er immer nur in der Mittagspause dorthin fahren, oder ist es möglich, daß er auch abends nach der Arbeit das tut?" „Durchaus denkbar." „Deshalb", fuhr Foster fort, „habe ich Janis angewiesen, mit meinem Gy‐ rowagen zweimal täglich die Hauptstraße hinter der Forschungsanstalt entlangzufahren. — Bert steht mit ihr durch ein winziges Funksprechgerät in Verbindung; er selber ist auf seinem Posten in dem kleinen Cafe am Eingang. Er tut sein bestes, auf das Erscheinen des Gyrotaxis auf zu passen, und wird sich dann mit Janis in Verbindung setzen. Sie fährt dann bis zur Einmündung der Nebenstraße heran und setzt sich hinter dieses Pffz/430. Ist der Plan gut?" „Tja — ich weiß nicht ganz,.. Die Vorstellung, daß dieses Mädchen..." Foster schmunzelte. „Laß man, die hat einiges hinter sich. Die hat mit dem Wagen schon viele verfolgt, ohne je gesehen worden zu sein." Am vierten Tage danach, um sieben Uhr abends surrte der Televisor in Fosters Büro. Foster und Sellars griffen zugleich nach dem Schalter. Es war Janis, die vom Televisor in Fosters Wagen aus sprach. , „Was ist los?" fragte Foster besorgt „Haben Sie das Taxi erwischt?" „Ja. Vor drei Minuten hat mich Bert verständigt. Ich bin sofort an die Stelle gefahren, wo es auf die Hauptstraße kommen muß, und paß jetzt auf." Das hübsche Mädchengesicht auf dem Bildschirm lächelte. „Ich werde vorsichtig sein", sagte Janis. „Da kommt es!" Sie schaltete sofort ab, und Sellars und Foster starrten auf den leeren Bildschirm. Ein paar Minuten später surrte der Televisor wiederum, und als Foster einschaltete, sahen sie auf dem Schirm das Schaltbrett von Fosters Wagen, in der Mitte den Rahmen der erleuchteten Laufkarte, auf der sich ein winziger Lichtpunkt bewegte. Dieser Lichtpunkt stellte den Wagen dar, in dem Janis saß. Die Straßenbezeichnungen auf der Karte sagten ihnen, in welcher Richtung Millers Wagen fuhr. „Barnes Haus“ sagte Sellars. „Merkst du es auch? Sie sind in dieser Richtung abgebogen." Foster nickte und verfolgte den Lichtpunkt auf dem Schirm. „Ich glaube es auch. Wenn sie jetzt nach Osten auf Straße 3 abbiegen, ist es sogar sicher. Und dann hast du die vermutete Verbindung zwischen Barnes und Miller." Oberhalb des Televisors blinkte ein rotes Licht dreimal. Sellars warf einen letzten Blick auf die Karte mit dem Lichtpunkt und ging
dann ins Vorzimmer, in dem der Televisor leise vor sich hinsurrte. Kommt immer alles auf einmal, dachte Sellars, als er auf dem heller werdenden Schirm Dennis Grays Gesicht erkannte. „Inspektor? Ich will Ihnen nur Bescheid sagen, daß ich mit Barnes verabredet bin. Es ist hoffentlich nicht schon zu spät? Ich habe getan, was ich konnte, um mit ihm in Verbindung zu kommen. Aber jedesmal meldete sich die Stimme des Tonbandgerätes. Drei Abende hintereinander erzählte sie mir, Barnes sei nicht zu Hause, und ob ich etwas hinterlassen möchte. — Und jeden Abend sprach ich dasselbe auf das Band; ich sei Dennis Gray, ein alter Schulfreund, und möchte ihn gern mal besuchen. Heute abend war Barnes selber am Apparat und sagte, ich solle zum Essen kommen, er wäre heute zu Hause. Ich denke, es wird den ganzen Abend und vielleicht auch einen Teil der Nacht kosten. Wo kann ich Sie dann aufsuchen?" Sellars dachte einen Augenblick lang an Janis, die den anderen Wagen verfolgte, und verfluchte den Zufall, dar immer die wichtigsten Dinge zur gleichen Zeit geschehen ließ. „Können Sie in meine Wohnung kommen?" fragte er dann. „Selbstverständlich. Wo ist sie?" Sellars nannte ihm die Adresse und die Televisornummer. „Ich werde von zehn Uhr an dort sein und nicht schlafen gehen, bis Sie mich entweder besucht oder angerufen haben. Und seien Sie vorsichtig, wenn Sie Barnes Wohnung verlassen — überzeugen Sie sich, daß Ihnen niemand folgtl" Als Sellars in Fosters Büro zurückkehrte, sah er Janis' Gesicht auf dem Schirm des anderen Televisors. „... ein großes, schweres Tor und eine hohe Mauer. Ich fuhr glatt daran vorbei, so daß niemand merken konnte, daß ich interessiert bin. Jetzt parke ich in einer Nebenstraße, ungefähr hundert Meter vom Tor des Grundstücks entfernt." „Es stimmte, das Ziel war Barnes Haus", sagte Foster. Dann sprach er ins Mikrophon: „Kommen Sie zurück. Fahren Sie aber nicht an dem Haus vorbei, für den Fall, daß Miller doch etwas von der Verfolgung gemerkt hat. Fahren Sie auf Hauptstraßen, damit Sie schneller hier sindl" Janis nickte. Ihr Mund ging auf. „Das kommt auf mich zu. Ich rufe wieder anl" Dann war es lange still. Schließlich stieß Foster einen Seufzer aus. „Kein Grund zur Sorge", sagte er halb zu sich, halb zu Sellars. „Es wird ihr keiner am hellen Tage mitten auf der Straße etwas tun. Sie wird uns wieder anrufen, wenn das Taxi vorbeigefahren ist."
Mit versteinertem Gesicht sah Foster den leeren Bildschirm an. „In der nächsten Sekunde wird sie uns wieder anrufen. Du wirst es sehen. Oh — sag mal, wer war denn am anderen Apparat? Ich habe nicht zugehört." Sellars berichtete ihm von Grays Anruf, während sie auf das Gespräch mit Janis warteten. Aber sie meldete sich nicht, und Foster erhielt bei fünf Versuchen, ihren Wagen anzurufen, keine Antwort. Zwanzig Minuten später sagte Foster: „Sie müßte doch längst zurück sein, und außerdem hätte sie uns anrufen müssen! Ich fahre hin und sehe nach, ob was geschehen ist." Sein Gesicht war kalkweiß und verschlossen, und die Hand, mit der es seine Strahlpistole aus dem Schreibtischkasten holte, war alles andere als ruhig. Foster steckte die Strahlpistole in seine Jackentasche. „Auf dem Weg dorthin werde ich mir etwas ausdenken. Du bleibst hier und paßt auf den Apparat auf, falls sie anruft. Ich rufe vorher von einem öffentlichen Barnes Haus an." Er wollte gerade die Tür öffnen, um hinauszugehen, als der Summer anzeigte, daß jemand ins Vorzimmer gekommen war. Und dann stand sie da, lächelnd, und das Licht der Bürolampen schimmerte golden auf ihrem Haar. „Guten Abend", sagte sie, „da bin ich." Fosters Gesicht hatte sich entspannt. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht, Janis", sagte er ganz ruhig. „Warum haben Sie uns nicht wieder angerufen? Janis runzelte die Stirn. „Sie wieder anrufen? Und Sie wollten mich suchen?" sagte sie erstaunt. „Aber wie meinen Sie denn das?" Sie sah sich im Büro um und dann wieder Foster mit prüfendem Blick an. Sie lächelte „Haben Sie vielleicht etwas getrunken?" Foster machte eine Bewegung auf den Televisor zu. „Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als wir warteten, Ihr liebliches Gesicht auf dem Ding da wiederzusehen. Mir ist deshalb keineswegs zum Scherzen zumute." Er nahm die Strahlpistole aus der Tasche und legte sie in das Schubfach zurück. „Wollen Sie uns gefälligst erklären, was mit Ihnen los war?" Janis war anscheinend völlig ratlos. „Aber ich verstehe Sie einfach nicht! Ich habe Sie nicht angerufen, weil ich nicht wußte, daß ich es sollte! Haben Sie mir irgendeine Mitteilung geschickt, die ich nicht erhalten habe?" „Hören Sie mal ruhig zu, Janis", sagte Sellars. „Sie haben uns doch aus Ihrem Wagen angerufen, als Sie dem Taxi bis zu Barnes Haus gefolgt sind. Sie mußten dann unterbrechen, weil Sie sahen, wie das Taxi auf Sie zu kam.
Sie sagten, Sie würden uns so bald wie möglich wieder anrufen. Erinnern Sie sich daran?" Janis schüttelte den Kopf. „Wollen Sie mich denn durchaus veralbern? Wenn jemand Sie angerufen hat, dann vielleicht eine Doppelgängerin. Ich habe es bestimmt nicht getan. Und von was für einem Taxi reden Sie denn überhaupt?" Sellars verlor die Ruhe nicht Er konnte durchaus sehen, daß Janis keinen faulen Witz machen wollte — aber was sie sonst mit ihrer „Ahnungs‐ losigkeit bezweckte, war ihm unklar. „Ich rede von dem Taxi", sagte er, „dem Sie folgen sollten. Daran erinnern Sie sich doch wenigstens, nicht wahr? Wissen Sie noch die Nummer von diesem Taxi?" Sie hob wie erschrocken die Hand zum Mund. Ihre Verwunderung war einer Miene gewichen, die Sellers wie Angst vorkam. „Ich — ich erinnere mich, gestern auf ein Taxi aufgepaßt zu haben. Ich habe darauf gewartet, daß es kommt. Und auch die zwei Tage vorher ... Aber nicht heute. Heute nicht! Und von einer Nummer weiß ich auch nichts." „Sagt Ihnen Pffz/430 etwas?" fragte Sellars scharf. Sie erschrak, schüttelte aber nur den Kopf. „Wo sind Sie heute abend gewesen? Was haben Sie seit heute Abend sieben Uhr gemacht?“ Ihre Lippen arbeiteten, aber es war nichts zu hören. Ihr traten Tränen in die Augen. „Ich weiß nicht", flüsterte sie schließlich. „Ich erinnere mich an gar nichts mehr." Sie hatte alles vergessen, was an diesem Abend gewesen war. Ihre einzige undeutliche Erinnerung war, mit dem Wagen durch den abendlichen Verkehr auf den Straßen gefahren zu sein, bis sie Fosters Büro erreicht hatte. Als sie sich vom ersten Schock erholt hatte, bat sie, nach Hause gehen zu dürfen, und mit vielen Entschuldigungen brachten die beiden Männer sie zur Tür. Als sie gegangen war, beredeten sie die Sache. „Es ist Irgendetwas mit ihr geschehen, nachdem sie uns angerufen hatte, das ist ganz klar", sagte Sellars. „Und ich bin gewillt, meinen Kopf zu wetten, daß es etwas mit diesem Taxi zu tun hatte." „Aber was kann denn ein so vollständiges Vergessen in so kurzer Zeit bewirken?" rief Foster, „Sie sah ganz normal aus, als sie mit uns redete, und was sie sagte, klang auch normal. Willst du mir einreden, daß die Leute, hinter denen wir her sind. Erinnerungen im Handumdrehen auslöschen
können?" „Wenn die es fertig bringen, einen Menschen von unterdurchschnitt‐ licher Intelligenz zum Genie zu machen, warum sollen sie es dann nicht schaffen, im Gedächtnis anderer Leute nach Belieben etwas auszu‐ wischen?" Er warf einen Blick auf seine Uhr und erhob sich. „Ich muß in meine Wohnung zurück. Ich will Gray nicht verpassen und damit unsere letzte Chance verlieren, etwas über diesen Barnes herauszubekommen." In seiner Wohnung machte Sellars sich einen Whiskysoda zurecht, schaltete den Fernsehapparat ein und wartete auf Gray. Es dauerte zweieinhalb Stunden, bis sich Gray am Türmikrophon meldete. Sellars stand auf und öffnete ihm. „Guten Abend, Inspektor", sagte Gray und trat ein. „Es war etwas schwierig, Ihr Haus zu finden. Hoffentlich haben sie nicht zu sehr warten müssen." „Haben Sie Barnes gesehen? Sind Sie bei ihm gewesen?" Gray nickte und nahm in dem angebotenen Sessel Platz. „Das habe ich. Er hat übrigens eine recht hübsche Wohnung. " „Und was halten Sie nun von ihm?". „Oh, wir haben von der alten Schule geredet, wie das so ist, wenn man einen Jugendfreund wieder sieht. Sie waren aber falsch orientiert, als Sie neulich sagten, mit Barnes sei etwas nicht ganz in Ordnung. Ich kann's Ihnen jetzt versichern, nachdem ich mit ihm geredet habe." Sellars spürte, wie es ihm kalt überlief. „Wie meinen Sie denn das?" „Nun, er ist derselbe wie immer. Wenn Sie mich gefragt hätten, wie sich ein Junge von seiner Art entwickeln wird, dann hätte ich Ihnen wahrscheinlich den Barnes von heute ziemlich genau beschrieben. Er ist ein bißchen zerstreut und etwas melancholischer, als ich ihn in Erinnerung hatte." Sellars war innerlich wie erstarrt. „Er hat sich also gar nicht verändert?" „Ach wo." Gray warf einen Blick auf die Whiskyflasche, und als Sellars einladend nickte, goß er sich einen ein und lehnte sich behaglich im Sessel zurück. „Er hatte sogar eins der Raketenmodelle in der Diele an der Wand hängen, mit denen er als Junge gespielt hat Er war eben den anderen voraus und hat
nur das getan, was er später beruflich tat." Sellars fühlte, wie schwer sein Herz klopfte. „Der junge Weltraum‐ forscher ist also zu dem herangewachsen, was man erwarten konnte, wie?" fragte er mit einem etwas kläglichen Lächeln. „Ich habe immer gesagt, aus dem wird noch was. Und seine Lehrer waren der gleichen Meinung." Es war nun nicht ganz überraschend für Sellars. Er hatte immer mit dieser Möglichkeit gerechnet. Mit Gray war dasselbe geschehen wie mit Janis. Auch ihm hatte man etwas aus der Erinnerung herausgenommen. In ihm war genau wie in den Leuten in Fyleham und überhaupt in allen, mit denen Sellars gesprochen hatte, etwas ausgetauscht worden. Die richtige Erinnerung an Barnes, wie er wirklich war, fehlte, und an ihre Stelle war ein falsches Bild getreten. Er fluchte innerlich, daß er vergessen hatte, sich Grays wirkliche Meinung über Barnes und die Erinnerung daran, wie dieser in seiner Jugend gewesen war, nicht in Form eines unterschriebenen Protokolls gesichert zu haben. „Tja, das wär's wohl, Inspektor, wie? Es hat Sie wahrscheinlich jemand an der Nase herumgeführt" Gray setzte sein Glas nieder und erhob sich. „Ich muß mich nun auf den Weg machen." „Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Mr. Gray", sagte Sellars, der sich gleichzeitig erhoben hatte. „Sie haben Recht ich bin irregeführt worden." Als sein Besucher gegangen war, trat Sellars ans Fenster und sah hinab. Unten auf der Straße stieg Gray in seinen großen Wagen, und auf der anderen Seite der Straße war ... Sellars zuckte zurück. Deutlich war das Gyrotaxi zu sehen — nicht irgendeins, sondern ,das'. Der Fahrer saß am Steuer. Die Leuchtziffern waren klar erkennbar. Sellars holte seine Dienstpistole aus dem Schreibtisch und schob sie hastig in die Tasche. An sich hätte er die Strahlpistole abgeben müssen, zugleich mit seinem zweiten Dienstausweis auf den falschen Namen und den anderen Gegenständen, die er dienstlich erhalten hatte. Aber Farraday, der ja wußte, was Sellars zu tun beabsichtigte, war nicht pedantisch gewesen und hatte kein Wort gesagt. Er ging zum Fenster zurück, hielt sich aber hinter der Wand, so daß er nicht zu sehen war, wenn der Fahrer des Gyrotaxis hinauf sah. Er hörte, wie Grays schwerer Wagen startete und abfuhr, und wartete auf das summende Geräusch des Gyrotaxis, wenn es Gray folgte. Aber es war kein Summen zu hören. Er sah vorsichtig hinaus und bemerkte, daß das Gyrotaxi jetzt leer war. Das bedeutete, daß der
Fahrer ausgestiegen war und Sellars Haus beobachtete, oder aber, daß er es zu dem bestimmten Zweck verlassen hatte, festzustellen, wen Gray so spät in der Nacht besucht hatte. Schließlich war er Gray bis hierher gefolgt. Die Hand an der Pistole in der Tasche wich er vom Fenster zurück und ließ sich auf der langen Schaumgummi‐Couch nieder. Den Blick auf die Tür gerichtet, wartete er auf das, was geschehen mußte. Aber dann hielt er die Nervenprobe nicht länger aus, stand auf, ging an die Wohnungstür, öffnete sie und sah hinaus. Der Flur war leer. Wenn er heraufkommt, heißt das, er weiß, daß ich da bin, dachte Sellars, in der Türöffnung stehend. Er hat das Licht gesehen oder sogar mich selber, als ich zum ersten Mal hinaus sah. Er versuchte, sich an Einzelheiten von Gray´s Besuch zu erinnern. Es fiel ihm ein, daß sie beide, als sich Gray verabschiedete, vielleicht eine volle Minute vor dem Fenster gestanden hatten, so daß jeder sie sehen konnte, wenn er auf der anderen Straßenseite stand. Ja, der Fahrer würde genau Bescheid wissen, in welchem Stockwerk und in welcher Wohnung Sellars wohnte. Er trat geräuschlos auf den Flur hinaus und schloß hinter sich die Tür, ohne das Licht auszumachen. Dann schlich er zum Fahrstuhl hinüber, öffnete leise die Tür und ging in den Lastfahrstuhl hinein, der angenehmer‐ weise gerade in seinem Stockwerk hielt. Sein Besucher — falls er Besuch bekam — würde den Personenfahrstuhl benutzen und mußte dann den Flur entlang kommen, an ihm vorbei, wenn er zur Tür seiner Wohnung wollte. Sellars schloß die beiden Hälften der Falttüren bis auf einen schmalen Spalt. Dann stand er sehr still, die Hand am Pistolengriff. Vom anderen Ende des Flurs kam das Geräusch der sich öffnenden Fahrstuhltür, unnatürlich laut in der Stille. Dann hörte Sellars weiche Schritte auf dem Gummibelag des Flurs, und an dem Spalt vorbei, durch den er beobachtete, huschte der Umriß eines Mannes. Er war ein großer Mann mit magerem Gesicht, das — soweit er es in dem kurzen Augenblick erkennen konnte — völlig faltenlos war. Er trug die grüne Uniform eines Taxifahrers. Sellars zog den Spalt eine Kleinigkeit breiter und glitt im Fahrstuhl auf die Seite, um den Mann vor seiner Tür weiter beobachten zu können. Der Mann stand dort und drückte auf den Knopf. Dann ertönte die Konservenstimme des Robot‐Schlosses: „Wünschen Sie Mr. Sellars zu sprechen? Ich werde sehen, ob er zu sprechen ist." Der Mann wartete eine Sekunde, sah dann rasch in beide Richtungen
des Flurs und trat in Sellars Wohnung ein — durch die feste Wand. Sellars empfand zunächst gar keine Furcht. Im Gegenteil, er fühlte sich himmlisch erleichtert. Also hatte er damals doch richtig gesehen, und es war damals genau so wenig wie diesmal ein Sonnenstich dran schuld, von seiner Gehirnoperation ganz zu schweigen. Das Unmögliche war zweimal geschehen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, und der Zusammenhang wurde nur durch das Gyrotaxi mit dieser Nummer hergestellt. Minuten später jedoch kam die Angst, sie überschattete die Erleichterung darüber, kein bißchen verrückt zu sein. Er zitterte, als er auf die Rückkehr des ungebetenen Gastes wartete. Als der Mann herauskam, benutzte er wieder die feste Wand, sah abermals in beide Richtungen, ob jemand im Flur war, und verschwand dann in Richtung des Personenfahrstuhls. Sellars hörte, wie sich die Fahrstuhltür schloß, blieb aber in seinem Versteck. Der Fremde würde wissen, daß er im Gebäude war, da er die Zimmerbeleuchtung in der Wohnung in der er eingedrungen war, ausgeschaltet gefunden hatte. Besser, noch etwas zu warten und etwas Geduld aufzubringen. Aber Sellars war von Natur aus kein geduldiger Mensch, und es dauerte nicht lange, da schlich er leise hinaus und eilte zum anderen Fahrstuhl hinüber. Das grüne Licht auf der Skala zeigte ihm, daß der Mann keine Zeit hatte und, da er Sellars verpaßt hatte, ein anderes Mal wiederkommen würde. Dann fiel ihm ein, daß das alles ein Trick sein könnte. Vielleicht hatte der andere erraten, daß er sich irgendwo versteckte, und tat nun so, als sei er gegangen, damit er, Sellars, beruhigt und arglos in seine Wohnung zurückging. Er zauderte vor der Fahrstuhltür, ratlos, was er nun tun sollte. Aber was konnte er denn überhaupt gegen einen Mann tun, für den feste Wände kein größeres Hindernis waren als ein Herbstnebel für normale Menschen. Ein Mann? Welcher Mann konnte denn durch feste Wände gehen? Für einen Mann von Fleisch und Blut war das doch ganz unmöglich! Was war das für ein Geschöpf in der grünen Uniform eines Taxifahrers? Da traf ihn ein Gedanke: vielleicht lag in der Beherrschung der Materie die Erklärung, wie Barnes zu, seinem Genie gekommen war und seine Bekannten ihr Gedächtnis verloren hatten. Die Gedanken durchrasten seinen Kopf. Was war das für ein Geschöpf? Wie gelang es ihm, wie ein Mensch auszusehen? Die Lampe auf dem Stockwerkanzeiger sagte ihm, daß jemand den Fahrstuhl benutzte und rasch mit ihm aufstieg. Am zweiten Stock vorbei,
am dritten, am vierten... Er kommt zurück, dachte Sellars, von panischem Schrecken ergriffen. Er, er kommt zurück ! Aber es war nicht der Taxifahrer, sondern nur der Mann, der auf der gleichen Etage neben ihm wohnte. Sellars war im letzten Moment in eine Nische geschlüpft und hatte sich dort an die Wand gedrückt, so daß er vom Fahrstuhl aus nicht zu sehen war. Er hörte eine Melodie pfeifen, als sich die Fahrstuhltüren öffneten, und erkannte sie als die Lieblingsmelodie seines Nachbarn. „n' Abend, Harry", sagte sein Nachbar. „Bißchen Verstecken gespielt?" Sellars lachte und schüttelte den Kopf. „Ich dachte, Sie wären jemand, dem ich nicht begegnen will. Haben Sie unten einen Mann gesehen, Taxifahrer‐Uniform, schmales Gesicht?" Der Nachbar schüttelte den Kopf. „Kein Mensch zu sehen gewesen. — Haben Sie Schwierigkeiten?" „Nicht viel. Es denkt einer, ich habe mit seiner Frau was angefangen, und er ist ziemlich wild auf mich. Sie haben nicht etwa ein Taxi draußen gesehen?" Der Nachbar versank in Nachdenken. — Dann sagte er: „O doch, ich glaube, ja. — Stand auf der anderen Straßenseite." „Danke", sagte Sellars. „Ich werde sicherheitshalber fliehen." Er schloß die Tür und der Fahrstuhl summte hinab bis zum ersten Stock, wo ihn Sellars anhielt. Er stieg aus und ging zu dem großen Fenster, das die ganze Wandfläche einnahm und auf die Straße hinausging. Hinausging, das war der Witz dabei: es bestand aus dem interessanten Spezialglas, durch das man nur in einer Richtung hindurchsehen konnte, nämlich von innen nach außen. Von draußen sah es genau so matt und grau aus wie die ganze Außenwand des Hauses. Das Gyrotaxi stand noch auf der anderen Seite, und als Sellars hinaus sah, ging ein Mann über die Straße und stieg ein ‐ ein Mann in einer grünen Uniform, der gar kein Mann war, sondern ein fremdes, unheimliches Etwas. Der Gyromotor brummte und heulte auf, immer höher und höher. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, langsam zuerst, aber rasch schneller werdend, bis es verschwunden war. Sellars ging rasch in den Fahrstuhl zurück, fuhr in seine Etage hinauf und lief den Flur entlang zu seiner Wohnung. Er wußte, daß der Unbekannte, Rätselhafte jederzeit zurückkehren konnte, und er beabsichtigte, einen Koffer mit den notwendigsten Dingen zu packen und noch in der gleichen Nacht, so schnell wie möglich, sich aus dem Staube zu machen. Er konnte die Nacht in Fosters Büro verbringen und sich dann am Tage irgendein Hotelzimmer suchen.
„Harry Sellars", meldete er sich vor seiner Tür, da er sich sparen wollte, den Schlüssel herauszuholen. Das Robotschloß nahm den Namen und den Stimmklang zur Kenntnis, prüfte sie und stellte fest, daß es sich tatsächlich um den Besitzer der Wohnung handelte, und öffnete gehorsam die Tür. Aber Sellars trat nicht sogleich ein. Als er auf das öffnen wartete, hatte er in die Tasche gefaßt, um sein Taschentuch herauszuziehen, und dabei war sein Schlüsselring mit herausgefallen. Als er sich gebückt und den Schlüsselring aufgehoben hatte, war die Tür ganz aufgegangen und berührte die Seitenwand des Eingangs. Und dann schien es Sellars, als ginge vor seinen Augen eine Mauer entsetzlich blendenden Lichts nieder, die anscheinend von irgendwoher oben hinter dem Türrahmen hervor kam, ein glühendes Fallgatter, ein Vorhang von brennendem Magnesium. Das gleißende Licht dauerte, für Sellars, den Bruchteil einer Sekunde. Dann war es schlagartig stockfinster für ihn. Es war wieder hell. Er konnte das undeutlich spüren, irgendwo über den Augen, obwohl er sie geschlossen hielt. Das Licht war zweifellos da, aber es war nicht das quälende brennende, weißglühende Licht, das er vorher gesehen hatte. Es war das gedämpfte Licht einer Leuchtröhre, die über eine weiße Fläche lief, die Decke eines Zimmers. „Sie sind also wieder bei sich, nicht war?" fragte eine Stimme. Sellars bewegte den Kopf, in dem es dabei dumpf zu dröhnen schien. Und das Dröhnen wuchs zu einem stechenden Schmerz. Er zwang sich, den Kopf weiter zu wenden trotz des furchtbaren Schmerzes. Er lag in einem Bett, anscheinend in einem Krankenhaus. Ein weiß gekleideter Arzt sah ihn lächelnd an. „Wie geht's Ihnen?". Lausig. Wie ein Gewitter im Kopf." Er richtete sich etwas auf und stützte die Ellbogen in die unglaubliche Weichheit der Schaumgummikissen. „Wie bin ich hierher gekommen? Und wie lange bin ich hier?" „Sie sind vor etwa zwei Tagen hierher gebracht worden, von einem Mann, der, glaube ich, Ihr Nachbar war. Ja, ganz richtig, ein gewisser Chamberlain oder so ähnlich. Er hörte den Knall und ging hinaus, um zu sehen, was los war, und rief dann die Sanitätswache an." Sellars versuchte sich zu erinnern. Langsam kam alles wieder. Der Mann, der durch feste Wände ging, der Flur, öffnen der Tür, und dann — das Licht, das blendende Licht. „Können Sie mir genau sagen, was los war? An eine Explosion kann ich
mich nicht erinnern, aber..." „Es geschah wahrscheinlich zu plötzlich, als daß Sie einen richtigen Eindruck davon bekommen konnten", unterbrach ihn der Doktor nickend. „Nach dem, was mir erzählt worden ist, haben Sie gerade die Tür geöffnet, als das Robotschloß über der Tür vielleicht durch einen Kurzschluß, explodierte und Sie zurück warf. Sie sind auf den Hinterkopf gefallen und bewußtlos geworden und erst jetzt wieder zu sich gekommen." Er trat ans Bett, ergriff Sellar's Puls, maß seine Temperatur und prüfte mit einem Füllhalter ähnlichen Röntgenstift den Zustand seines Schädels. „Nicht schlecht", sagte er, „gar nicht schlecht Noch einen Tag Ruhe, dann können Sie wieder aufstehen. Sie können von Glück sagen." „Sie meinen, weil ich schon mal was mit dem Kopf hatte?" fragte Sellars. Der Arzt steckte den Röntgenstift wieder ein und trat ans Fußende des Bettes. „Das natürlich auch. Wenn Sie wieder auf dieselbe Stelle geschlagen wären, könnten Sie übermorgen bestimmt noch nicht aufstehen. Aber das habe ich eigentlich gar nicht sagen wollen. Ich meine vielmehr die Ursache selbst — wären Sie ein paar Zentimeter weiter durch die Tür gewesen, dann wären Sie jetzt ein toter Mann. An der Stelle, wo Sie gestanden haben, ist ein richtiges Loch, und der Fußbodenbelag ringsum ist ganz verschmort. Dieser Funkenschlag hat Sie wie ein Blitz fort geschleudert, aber wenn Sie selbst getroffen wären..." Der Arzt schüttelte den Kopf. Dieser „Mann" hat versucht, mich umzubringen, dachte Sellars. Er hat was mit dem Robotschloß gemacht Und er — oder es — oder was es war — hat das in zwei oder drei Minuten geschafft! „Ach, da fällt mir ein", sagte der Arzt, „es war heute morgen jemand da, der Sie sprechen wollte. In der Zeitung hatte etwas über Ihren Unfall gestanden. Er hatte es gelesen und wollte sich erkundigen, wie es Ihnen geht... Er bat um Nachricht, sobald Sie wieder bei Bewußtsein sein." Sellars riß die Augen auf. „Wie hieß er?" fragte er rasch „Farraday, glaube ich." „Farraday?" Sellars war sehr erleichtert. Der Arzt nickte. „Farraday, das stimmt", sagte er lächelnd. „Er sagte, er habe etwas sehr Eiliges mit Ihnen zu besprechen, Soll ich ihm Bescheid geben, daß Sie mit ihm reden können?"
„Bitte, ja, sagen Sie ihm Bescheid, Herr Doktor", sagte Sellars und sank wieder auf die Kissen zurück. Es ging also in die Wohnung hinein, legte die Mine, überzeugt davon, daß ich umkommen und es wie ein Unfall aussehen würde. Aber der Arzt sagte doch, daß etwas in der Zeitung gestanden hätte! Wenn dieses Wesen Zeitungen liest, weiß es auch, daß ich am Leben bin. Und vielleicht sogar, in welchem Krankenhaus ich liege. Parraday kam auf des Arztes Anruf hin binnen einer Viertelstunde. „Das ist nichts Amtliches", sagte er, als er sich neben das Bett setzte. „Ich habe es gestern Abend in der Zeitung gelesen. Reiner Krankenbesuch. Na, ich habe mir das oben in Ihrer Wohnung alles genauestens betrachtet und habe jemanden von der Firma kommen lassen, die das Schloß eingebaut hat. Wissen Sie, was der Mann sagte?" Sellars schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht" „Er sagte, er könne gar nicht verstehen, was geschehen ist. Wenn Ihr Schloß durch einen Kurzschluß ausgefallen wäre, dann wäre jedes andere Robotschloß im ganzen Hause auch durchgegangen, denn sie hängen alle an einem Stromkreis. Aber die anderen sind alle in Ordnung! Er untersuchte die Überreste Ihres Apparates und stellte fest, daß in irgendeiner Weise die Zuleitungen vereinigt worden sind, so daß die Teile, die von dem Gerät noch übrig sind, gar nicht mehr an dem Robotschloß‐ Stromkreis hängen. Und dann fragte ich ihn, was seiner Meinung nach geschehen sei." „Und was sagte er?" fragte Sellars, „Er sagte, er glaube, das Schloß sei von irgendwem vom Stromkreis gelöst worden und habe eine eigene Stromquelle bekommen, so daß es ganz normal die Tür habe bedienen können. Ferner aber sei eine Mordwaffe, daran gehängt worden, die mit einer großen elektrischen Entladung denjenigen umbringen mußte, der als erster die Wohnung betrat. Sagt Ihnen das was, mein Bester?" Sellars seufzte und lächelte müde. „Vielen Dank für Ihre Anteilnahme. Vielleicht klappt es beim zweiten Mal. Sie hätten es schon jetzt geschafft, wenn ich nicht etwas aufgehoben hätte." „Wen meinen Sie mit ,sie'?" Sellars erzählte ihm alles, was geschehen war, seit er vom Forschungs‐ zentrum und aus Farradays Abteilung entlassen worden war. Farraday schwieg eine Weile als Sellars mit seinem Bericht fertig war. „Wenn Ihr famoser Taxifahrer durch Wände gehen kann, warum hat er das ausgerechnet dann getan, als ihn die vielleicht hundert Gäste im
Restaurant sehen konnten, und warum ist nicht ein einziger von denen der Sache nachgegangen?" Sellars nickte. „Ich weiß, auch mir ist das im Kopf herum gegangen. Mich wundern auch noch andere Sachen. Der erste Mann stieg in ein Taxi ein, aber er fuhr es nicht Und es war ein anderer Mann, der zu mir kam und dort in meiner Wohnung durch die Wand ging. Außerdem; warum haben sie nicht versucht, mich direkt umzubringen? Wäre es nicht einfacher gewesen, mich alles vergessen zu lassen, statt die komplizierte Höllenmaschine in meiner Wohnung einzubauen?" Farraday rückte angeregt auf seinem Stuhl hin und her. „Vielleicht besteht zwischen diesen beiden Sachen eine Verbindung", sagte er, eher wie zu sich selbst. „Vielleicht beruht beides auf derselben Grundlage." Sellars runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?" „Nun Sie sehen die Sache mit dem Wandtrick, während kein anderer sie sieht. Und während sie jedermann vergessen lassen können, was er vergessen soll, müssen Sie anscheinend umgebracht werden, wenn Sie zu neugierig sind. Vielleicht sind Sie gegen diese Art von Zauber immun? Vielleicht gelingt es ihnen nicht, in Ihren Kopf zu langen und die Erinnerung herauszuholen, daß Sie jemanden haben durch die Wand gehen sehen." Da ging plötzlich die Tür auf. Der Arzt stand dort und lächelte sie um Entschuldigung bittend an. „Es tut mir leid, Mr. Farraday, aber Ihre Zeit ist nun wirklich um. Mr. Sellars hat Ruhe noch sehr nötig, und lange Unterhaltungen sind im Augenblick noch nicht das Richtige für ihn." Farraday nickte und stand auf. „Ich verstehe, Herr Doktor", sagte er. Dann wandte er sich Sellars zu. „Werden Sie schnell gesund und kommen Sie gleich zu mir, wenn Sie wieder kriechen können. Wird ja wohl schon morgen sein, nicht wahr, Herr Doktor?" Der Arzt nickte. „Ja, morgen werden wir ihn wohl schon entlassen können." Farraday schritt zur Tür und wandte sich noch einmal um. „Ich glaube, Sie haben ein oder zwei Sachen herausbekommen, die ich Tatsachen nennen möchte. Kommen Sie morgen Abend zu mir, dann wollen wir darüber reden." Der Arzt hatte Farraday bis hinaus begleitet und stand auf der Freitreppe
vor dem Eingang. Farraday kletterte in seinen Wagen und fuhr los. Und dann startete ein anderes Fahrzeug, eins, das der Arzt vorher nicht bemerkt hatte, wahrscheinlich weil es weit hinten im Schatten der Krankenhausmauer gestanden hatte. Er war überrascht, daß es kein Privatfahrzeug war, das etwa einem Angehörigen des Krankenhaus‐ personals gehörte, sondern ein Taxi, ein Gyrotaxi. Er zuckte die Achseln und ging ins Gebäude zurück. Er hatte natürlich nicht bemerkt, daß die Nummer des Taxis Pffz/430 war. Und selbst wenn er es gemerkt — ihm hätte das nichts gesagt. Am nächsten Tage durfte er mittags gehen. Er rief den Pförtner des Hauses an, in dem er wohnte und ließ sich Wäsche und einen Anzug bringen, denn die Sachen, in denen er eingeliefert worden war, waren völlig versengt und zerfielen wie Zunder, als er sie der Schwester aus der Hand nahm. Von seiner Strahlpistole wurde jedoch nicht gesprochen, und da sie, streng genommen, nicht ihm gehörte, sondern eine Dienstpistole war, auf die er kein Recht hatte, ließ er es auf sich beruhen und fragte nicht weiter nach ihr. Als er vor dem Krankenhausportal im Sonnenschein stand, war er keineswegs so froh, wie man das von einem in die Freiheit zurück kehrenden Krankenhausinsassen hätte erwarten können. Trotz Farradays neuerlicher Anteilnahme wußte er, daß er keineswegs behütet und beschützt weiter forschen konnte, sondern ständig auf der Hut sein mußte, keinen „Unfall" zu erleiden. Er sagte sich, das Beste werde sein, Foster zu besuchen und ihn zu fragen, ob er etwas Neues heraus gefunden habe in den zwei Tagen seit dem „Unfall." Und dann würde er sich ein hübsches Fernsehkino suchen, dort die Zeit bis zum Abend totschlagen und dann zu Farraday gehen. Er stieg dann in die Hochbahn, um die Straßen und die Möglichkeit, daß ihn die Interessen eines gewissen Gyrotaxis sahen, zu vermeiden, und erreichte; auf einigen sehr geschickt ausgedachten mittag auf sie gewartet, aber als sie nicht kam, rief ich sie in ihrer Wohnung an. Keine Antwort. Dann rief ich den Hausmeister ihres Wohnblocks an und erfuhr, daß sie ungefähr eine Stunde vor meinem Anruf mit Gepäck das Haus verlassen hatte, ohne eine Adresse zum Nachsenden der Post zu hinterlassen. Seither habe ich nichts wieder gehört, und Bert und ich müssen alle Fälle, die wir haben, allein bearbeiten. Ach so, du kennst Bert wahrscheinlich gar nicht?" „Ich weiß nicht genau...", sagte Sellars. „Nein, ich glaube nicht. Netter Kerl, auch sehr tüchtig. Hat in einem Cafe in der Nähe der Forschungs‐ anstalt für Weltraumfahrt gearbeitet. Wir brauchen Material für die Frau des Geschäftsführers, sie will sich scheiden lassen. Wenn du noch ein
bißchen hier bleibst, wirst du ihn kennen lernen." Sellars schüttelte den Kopf. Nein, leider — ich muß gehen. Wollte nur mal sehen, wie es dir geht, weil ich gerade vorbei kam." Es klang alles sehr lahm, und Foster konnte sich bestimmt denken, daß Sellars noch einen anderen Grund für seinen Besuch gehabt haben mußte. Aber er wollte lieber allen, mit denen sich die anderen befaßt hatten, so fern wie möglich bleiben, falls sie beobachtet wurden. Ohne es zu ahnen, hatte ihm Foster auch Aufklärung darüber verschafft, was mit Bert geschehen war: auch dessen Erinnerungen waren korrigiert worden. Janis aber war nicht dabei gewesen, als diese Kreaturen die Gedächtniserinnerungen bewirkten. Sie war später gekommen, hatte geahnt, was geschehen war — sie hatte ja selbst bei der ersten Verfolgung des Gyrotaxis eine Kostprobe davon bekommen, und sie hatte sich rasch entschlossen, nicht länger zu bleiben und keine Fragen zu beantworten. Vielleicht ging aus der Mitteilung, die sie für ihn hinterlassen hatte, noch mehr hervor. Als er im Fahrstuhl nach unten fuhr, fragte er sich, ob es ungefährlich sein würde, das Gebäude durch den Vordereingang zu verlassen, wenn er Janis' Mitteilung abgeholt hatte. Als er aber im Erdgeschoß war, überwogen seine Bedenken — das Risiko war zu groß. Es konnte jemand das Gebäude bewachen in der Hoffnung, ihn dadurch zu erwischen. “Sie hatten etwas für mich", sagte er und steckte den Kopf durch den Schalter der Vermittlung. Das Mädchen, das ihn angesprochen hatte, sah von ihrer Arbeit auf. „Oh ja, Mr. Sellars", sagte sie und senkte dann ihre Stimme zu einer vertraulichen Lautstärke. „Von Miß Lyon. Sie hat mich gebeten, besonders darauf zu achten, daß niemand etwas davon erfährt — ich meine die Tatsache, daß sie eine Nachricht für Sie hinterlassen hat." Sie nahm einen kleingefalteten Umschlag aus der Tasche ihrer Uniform‐ hose und gab ihn durch das Schalterfenster. „Sie hat es Ihnen selbst gegeben?" Das Mädchen nickte. „Vorgestern. Sie kam von oben und schrieb den Brief hier an meinem Tisch und bat mich, ihn gleich Ihnen zu geben, wenn Sie kämen. Seither habe ich sie nicht wieder gesehen." Sellars nickte und bedankte sich und verließ das Gebäude durch die Hintertür. Draußen sah er gleich in der Nähe einen Imbiß‐Automaten in einer Nebenstraße. Er ging hinein, suchte Kleingeld in seinen Taschen und wählte am Automaten Kaffee, Schinken und Ei und Brot. Drei Fächer der Automatenwand öffneten sich auf Drücken der ent‐ sprechenden Knöpfe, und auf das bereitstehende Tablett, und setzte sich
an einen Tisch im Hintergrund, weit vom Fenster entfernt. Während er aß, las er, was Janis für ihn hinterlassen hatte. Der Brief war kurz und sah aus, als sei er in großer Eile geschrieben worden. Er lautete: „Lieber Harry Sellars, mein hoher Chef und mein Kollege Bert scheinen denselben Gedächtnisverlust erlitten zu haben wie neulich ich selbst. Bei ihnen ist es aber schlimmer. Sie können sich an überhaupt nichts mehr erinnern, soweit es den Fall betrifft, und denken, ich bin verrückt, wenn ich davon zu reden anfange. Ich entsinne mich, daß Sie uns sagten, Ihrer Ansicht nach sei das Erinnerungsvermögen der Leute in Fyleham stark beeinflußt worden oder gar ins Gegenteil umgekehrt, und ich frage mich ernstlich, ob nicht zuerst mir, jetzt aber Foster und Bert dasselbe viel schlimmer passiert ist. Ich fahre heute weg und beabsichtige nicht, zurückzukehren, denn ich habe Angst, daß auch mein Gedächtnis noch einmal, aber gründlicher, umgeändert wird, wenn ich bleibe. Ich hoffe bloß, daß Sie dann, wenn Sie diesen Brief lesen, sich nicht auch wundern, von welchem Unsinn ich rede. Dabei möchte ich sehr gern mit jemandem über alles sprechen, und Sie sind der einzige, mit dem mir das möglich erscheint. Wenn Sie etwas Zeit erübrigen können, dann finden Sie sich doch bitte an einem der Orte ein, die ich auf der Rückseite dieses Blattes aufgeführt habe. Dieses Versteckspiel ist mir gar nicht sympathisch, aber der Verlust meines Gedächtnisses wäre es noch weniger, und deshalb bleibt mir nichts anderes übrig. Es scheint der sicherste Weg zu sein, dem Unheil aus dem Wege zu gehen. Herzlichen Gruß! Ihre Janis Lyon." Sellars drehte den Brief um. Auf der Rückseite war eine Liste von zehn aufeinander folgenden Tagen, beginnend mit dem Datum des Briefes. Neben jedem Datum war ein Treffpunkt und eine Zeit angegeben, und jedes mal waren Ort und Zeit verschieden. Er schob den Brief wieder in den Umschlag und bemühte sich, rasch fertig zu essen, wobei er über den Brief nachdachte. Es konnte natürlich eine Falle sein. Wenn diese Geschöpfe all das fertig brachten, dessen er sie mittlerweile für fähig hielt, war es gar nicht schwer, sich vorzustellen, daß der Brief gar nicht von Janis Lyon stammte, sondern daß eins dieser ,Geschöpfe' den Brief dem Vermittlungsmädchen gegeben und dann ihre Erinnerung daran, wer der Überbringer des Briefes war, ausgelöscht und durch die Erinnerung an Janis Lyon ersetzt hatte. Er rührte gedankenverloren seinen Kaffee um und versuchte, einen Entschluß zu fassen. Das sicherste würde sein, den Brief einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen und gar nicht dergleichen zu tun — das gefährlichste, sich an einem der
Treffpunkte zur vorgeschlagenen Zeit einzufinden. Wie wäre es mit einem Mittelweg? Er konnte sich in die Nähe eines der Treffpunkte begeben und aus der Ferne Janis beobachten. Wenn sie allein war, konnte er zu ihr hingehen, während, wenn der unheimliche Taxifahrer auftauchte, unauffällige Flucht das beste Mittel war. Er nahm wieder den Brief vor und sah die Liste durch. Wenn er am gleichen Abend hingehen wollte, mußte er sich zur Elektro‐ Rollschuhbahn am Südufer der Themse begeben und um elf Uhr im vierten Rang auf der Westseite sitzen. Er konnte etwa um neun Uhr abends zu Farraday gehen und dann, wenn das Gespräch nicht, zu lange gedauert hatte, direkt zur Rollschuhbahn gehen. Kam er aber zu spät von Farraday fort, mußte er sich am nächsten Tag mit Janis treffen. Er trank seinen Kaffee aus und ging hinaus. Den Nachmittag und den frühen Abend verbrachte er in einem trostlosen kleinen Fernsehkino in der Nähe. Zehn Minuten vor neun betrat er den geräumigen Vorraum von Farradays Wohnung. Dessen riesige Gestalt war diesmal nicht in den gewohnten saloppen Hausanzug gehüllt, sondern in einen eleganten dunklen Anzug. Mit seinen mächtigen Armen machte er eine einladende Bewegung auf das Zimmer zu, in dem sie immer gesessen hatten. Sellars nahm an der gewohnten Stelle Platz. Farraday bot ihm die besten Getränke an, und indem er den Blick über seinen Gast gleiten ließ, während er einschenkte, fragte er: „Geht es Ihnen nun besser?" Sellars ergriff das Glas, das ihm Farraday hinhielt, und sagte: „Ja, danke. Ich fühle mich entschieden besser. Ich habe sehr viel' Glück gehabt, so leicht davongekommen zu sein. Ich könnte eben so gut tot sein." Farraday nickte. „Da haben Sie recht. Vollkommen richtig“, sagte er. „Ich wundere mich eigentlich, daß ich bis jetzt den ganzen Tag über so gut durchgekommen bin. Natürlich bin ich am hellichten Tage aus dem Krankenhaus gekommen, aber trotzdem fühlte Ich mich dabei gar nicht sicher. Sie hätten mich trotzdem kriegen können. Den Nachmittag und den Abend habe ich in einem Kino verbracht — das schien mir der beste Platz zum Verbergen. Morgen gedenke ich, ein Zimmer in einem kleinen Hotel in irgendeinem Vorort zu nehmen, zwar ganz am Rand von London, aber so, daß ich das Stadtinnere gut erreichen kann." „Und warum das?" fragte Farraday, während er sein Glas zum Munde hob.
„Warum? Weil ich nicht entdeckt werden will. Sie glauben doch nicht etwa, daß sie alle weiteren Versuche aufgeben werden, bloß weil der erste fehlgeschlagen ist? Sie werden die Notiz in der Zeitung gesehen haben, genau wie sie Ihnen auch aufgefallen ist, und werden dadurch wissen, daß ich am Leben bin. Das wird ihnen nicht lieb sein, gar nicht lieb." „Wer sind ,sie'?" fragte Farraday überrascht. „Ich nenne sie einfach ,sie', weil ich keine bessere Bezeichnung habe", sagte Sellars und nahm einen Schluck. „Und gerade das ist es, was mir Sorgen macht. Wenn es keine Menschen sind, was sind sie dann? Menschen können doch nicht durch Wände gehen, aber diese Burschen können es, — ich habe es ja mehrfach gesehen. Ergo: sie können keine Menschen sein." Farraday musterte ihn mit einem Blick, in dem stumme Trauer lag. „Sie können also keine Menschen sein, was? Und können durch Wände gehen? Und Sie haben das gesehen — bei zwei verschiedenen Gelegenheiten, war es nicht so? Einmal auf der Straße und einmal in Ihrem Hause?" Sellars setzte sein Glas ab und sah Farraday ausdruckslos an. Das konnte doch nicht sein. Doch nicht auch Farraday! Aber offensichtlich war es doch geschehen, entweder am Nachmittag des gestrigen Tages oder irgendwann am gleichen Tag. Farraday hatte ein Formular aus der Tasche genommen, warf einen Blick darauf und gab es Sellars. „Tut mir leid, Harry", sagte er mit echtem Mitgefühl in der Stimme. „Ich hab' dir gesagt, alter Junge, du solltest deinen Urlaub nehmen, ich hab' dir auch gesagt, als das alles anfing, du solltest dir einen guten Arzt suchen. Aber du hast ja nicht auf mich gehört. Und zerreiß das Ding nicht, es ist nur ein Duplikat." Sellars starrte entgeistert auf das Schriftstück. Entmündigung wegen Geisteskrankheit! Amtlich und der Form nach völlig in Ordnung, unterzeichnet von einem Dr. Burke, und der Name des Irren war Harry Sellars! Geisteskrank! Das also war der nächste Trick, dachte Sellars entsetzt. Burke war der Name des Arztes, mit dem er am Morgen ge‐ sprochen hatte, ehe er vom Krankenhaus zur Entlassung freigegeben wurde. Zitternd las er das Dokument noch einmal durch, er las, daß er zweimal Krankenpfleger überfallen habe und gegen einen Arzt tätlich geworden sei, und schließlich sei er mit der Raffiniertheit, die manche Geisteskranken zeigen, am Mittag des gleichen Tages entwichen! Er tat noch ein paar Minuten so, als studiere er das Schriftstück, und versuchte dabei, sich vorzustellen, wie es geschehen sein konnte.
Der Taxifahrer oder dessen Komplize mußten sich in der Nähe des Krankenhauses versteckt gehalten haben, bis sie ihn heraus kommen sahen. Dann waren sie unter einem Vorwand ins Krankenhaus eingedrungen, hatten dem Personal falsche Erinnerungen an ihn eingegeben — zum Beispiel an die zwei „Überfalle" auf Krankenwärter — und so die Ausstellung des Dokuments bewirkt. Zwei Unfälle von der Art des explodierten Türschlosses hätten Verdacht erregt, aber niemand hätte etwas Unrechtes in Verbindung mit einer offiziellen Entmündigungs‐Urkunde beargwöhnt, besonders da der Mann, den sie betraf, schon eine Gehirnoperation hinter sich und außerdem zwei Tage vor Ausstellung des Dokuments eine neue Kopfverletzung erlitten hatte. „Gleich als Ihre Flucht entdeckt worden war, ist die Polizei benachrichtigt worden", sagte Farraday. Seine Stimme kam Sellars entsetzlich fern vor, ganz weit weg, wie ein Gewitter hinter dem Horizont. „Sie haben den ganzen Tag nach Ihnen Ausschau gehalten, doch erfolglos. Das Krankenhaus hat mir gleich Bescheid gegeben, da ich Sie besucht hatte." Er trat an Sellars heran und sah ihn nicht unfreundlich an. „Mensch, Kopf hoch, Harry! Die Spezialisten bringen heutzutage Wunder fertig. Dauert nicht lange, und du bist wieder ganz auf der Höhe!" Nun bewegte sich Sellars sehr schnell. Sein Entschluß stand fest, sein Ziel hatte er klar vor Augen. Der Schlag traf Farraday in den Magen. Farraday knickte wie ein Taschenmesser‐, das Glas, das er in der Hand gehalten hatte, schoß in die Höhe, beschrieb eine Kurve und zersplitterte an der Wand. Sellars stieß mit der Linken noch einmal zu, während gleichzeitig mit rechts die Whiskykaraffe auf dem Tisch erfaßte. Dank des hervorragen Polizeitrainings wußte er ganz genau, wohin und wie stark er einen Mann von einem bestimmten Körperbau schlagen mußte, um den gewünschten Effekt, jedoch nicht mehr, zu erreichen. Die Karaffe verursachte einen dumpfen Ton, als sie mit der flachen Seite Farradays Schlafe traf. Dessen Körper machte ein lauteres Geräusch, als er zu Boden ging. Sellars blieb dann unbeweglich, aber sprungbereit stehen und starrte auf die Türen des Zimmers‐. Sie blieben jedoch geschlossen, es erschienen keine Polizisten mit Zwangsjacken oder Lähmpistolen. Dann brachte Sellars drei Minuten damit zu, die Wohnung Farradays hastig zu durchsuchen. Er öffnete Schubkästen und Schränke und stöberte hier und dort, bis er schließlich in dem grüngoldenen Schlafzimmer in
einem Schubfach Farradays Strahlpistole fand. Er steckte sie in die Tasche, warf einen letzten bedauernden Blick auf den bewußtlosen Farraday und verließ die Wohnung, deren Tür er geräuschlos hinter sich schloß. Er hatte nun noch eine Chance, seinen Kampf nicht allein weiterführen zu müssen: Janis. Wenn ,sie' nicht auch ihren Kopf verdreht hatten. Er bewertete seine Lage ganz nüchtern: er wurde jetzt von der Polizei gesucht, er war als gefährlicher Irrer verschrien, der so schnell wie möglich gefangen und in einer Irrenanstalt eingesperrt werden sollte. Seine Beschreibung war sicher längst bei allen Polizeidienststellen im ganzen Lande. Wenn Farraday in etwa einer halben Stunde wieder zu sich kam, würde er der Polizei mitteilen, was geschehen war und — weit schlimmer — wann es geschehen war. Und dann würde die Polizei wissen, welchen geringen Umfang das Gebiet hatte, in dem sie suchen mußte, denn sie konnte ganz gut abschätzen, wie weit er innerhalb der verstrichenen Zeit gekommen war. Und die Suche der Polizei würde sehr gründlich sein... Keine schöne Aussicht. Bisher hatte er als ein Mann, der die gesetzlich nicht verbotene Absicht hatte, seinem einstigen Arbeitgeber, um dessen Achtung wieder zu erlangen, Belastungsmaterial zu verschaffen, keine drastischen Schritte unternehmen können, um hinter den Barnes‐Miller‐Taxifahrer‐Komplott zu kommen. Jetzt aber, als einer, den die Polizei ohnehin suchte, spielte es keine Rolle, ob er sich noch etwas mehr belastete. Jetzt konnte er alles versuchen, was ihm weiter half, und ,alles' schloß auch einen, Einbruch in Barnes Haus ein, mit dem er feststellen konnte, wer sich alles in dem Haus aufhielt und was er dort tat. Das dringenste Problem war im Augenblick, sich zu verbergen, bis er sich mit Janis in der Elektro‐Rollschuhbahn traf, die nur zehn Minuten mit der Hochbahn von dem Hause entfernt war, das er gerade verließ. Er fuhr mit der Hochbahn bis eine Station vor seinem Ziel und stieg aus, ohne jemanden zu bemerken, der einem Polizeibeamten in Zivil glich. Dann schlich er vorsichtig zu dem kleinen Fernsehkino, das an der Rückseite des großen Gebäudes aus schwarzem Stein und Glas stand, in dem sich die Elektro‐Rollschuhbahn befand. Dort sah er sich einen dreidimensionalen Farbfilm über das Leben der Kolonisten auf dem Mars an, bis die Leuchtzeiger der Wanduhr ihm sagten, es sei eine Viertelstunde vor elf. Um elf war sie da. Sie saß allein im vierten Rang auf der Westseite, wie sie es in ihrem Brief gesagt hatte. Sellars war zehn Minuten vor der Zeit auf der Ostseite im vierten Rang hereingekommen und war zunächst dort geblieben.
Hinter einer Glassäule günstig versteckt, hatte er gewartet, bis sie erschien, und unterdessen die anderen Besucher auf dem vierten Rang gründlich gemustert. Weder dabei noch als er die Musterung wiederholte, nachdem sie sich gesetzt hatte, konnte er etwas entdecken, das darauf hindeutete, daß sie mit einem der anderen Besucher in irgendeiner Verbindung stand. Und von dem Taxifahrer und seinem Genossen konnte er auch im ganzen Gebäude nichts entdecken. Er ging auf dem vierten Rang im Gebäude entlang, bis er auf ihrer Seite war, und schob sich dann vorsichtig an ihren Platz heran. „Hallo, Janis", sagte er und sank neben ihr auf einen Sitz. „Ich habe heute Nachmittag Ihre Nachricht bekommen, als ich Foster besuchte. Ich weiß jetzt was Sie mit dem Verlust seines Gedächtnisses meinten." Unter ihrem Makeup war ihr Gesicht kalkweiß, und ihre Augen hatten den müden Blick, der von Schlaflosigkeit kündet. „Sie haben meinen Brief heute bekommen? Aber ich habe ihn doch schon vor drei Tagen für Sie hinterlassen! Haben Sie denn Foster nicht schon eher einmal aufgesucht?" Er schüttelte den Kopf. „Diese Burschen vom Gyrotaxi haben mich mit einer elektrischen Höllenmaschine umzubringen versucht. Der Apparat war an meiner Wohnungstür angebracht. Ich wurde ins Krankenhaus geschafft und bin erst heute Mittag wieder entlassen worden. Es stand auch etwas darüber in der Zeitung." „Ich habe keine Zeitungen gelesen", sagte sie tonlos. „Ich dachte zuerst, ich sei es, die verrückt geworden ist. Als dann Foster und Bert sagten, sie hätten nie etwas von dem Taxi gehört, meinte ich, sie seien übergeschnappt. Und seither habe ich immer wieder an all das denken müssen, immer hin und her, ich weiß jetzt gar nicht..." Er nahm ihre Hand und umschloß sie mit seinen Fingern. „Es ist kein Irrsinn, Janis. Es ist mit ihnen etwas geschehen, ihr Gedächtnis ist geändert worden, genau wie Sie es in Ihrem Brief geschrieben haben. Und Sie selber haben Glück gehabt, sie haben Sie nicht erreicht, und ich bezweifle, daß es ihnen jetzt noch gelingen wird. Entweder haben sie damals, als Ihnen ein geringer Teil Ihres Gedächt‐ nisses genommen wurde, nicht gewußt, daß Sie etwas mit Foster zu tun haben, oder sie haben gemeint, daß Sie nicht genug wissen. Aber sie geben sich große Mühe, mich zur Strecke zu bringen." Er beschrieb dann, was ihm alles passiert war, und sprach rasch und leise dabei, sah sich aber dauernd vorsichtig um, ob nicht etwa jemand zu aufmerksam zu ihnen hinsah. Unten, in der Bahn, fuhren und drehten sich die Rollschuhläufer und ‐läuferinnen auf ihren elektrisch angetriebenen
Rollschuhen. Hunderte von Zuschauern sahen ihnen gebannt von den fünf Rängen aus zu, die — einer über dem anderen — die Bahn umgaben. „Was wollen Sie denn nun aber tun?" fragte Janis, als er mit seinem Bericht fertig war. „Können Sie denn nicht beweisen, daß Sie geistig gesund sind? Können Sie denn nicht erklären, was anscheinend geschehen ist?" Er lachte bitter. „Was könnte ich denn sagen? Je näher ich der Wahrheit bei meinen Beweisen käme, um so mehr würden sie denken, daß ich ins Irrenhaus gehöre. Nein, Janis —' ich kann nur eins tun; alles riskieren und versuchen, einen Beweis dafür zu erhalten, daß der Taxifahrer und sein Genosse übermenschliche Kräfte besitzen und daß Barnes und Miller irgendwas damit zu tun haben. Wenn ich diesen Beweis in den Händen habe, kann ich auch sagen, daß ich normal bin. Und den Beweis muß ich bald bekommen, ehe die Polizei mich erwischt." Sie schüttelte verwirrt den Kopf. „Aber was können wir denn tun, um den Beweis zu erhalten?" Er lächelte und klopfte ihr auf die Hand. „Ich sagte, ich müßte den Beweis erbringen, nicht, daß wir ihn zu beschaffen hätten." „Aber seien Sie doch vernünftig. Zwei Leute schaffen bei so einer Sache mehr als nur einer. Die Polizei ist auf einen einzelnen Mann aus, nicht wahr? Sie wird auf ein Pärchen in einem Wagen gar nicht achten." „Sie haben einen Wagen hier?" „Nein, aber ich könnte einen mieten. Sie können sich hinten hinsetzen, so daß Sie wenig zu sehen sind, und ich kann Sie fahren, wohin Sie wollen, ohne daß Sie Verdacht erregen." Er wußte, daß sie recht hatte. Und wenn er doch von der Polizei gestellt wurde, konnte er sagen, er habe sie mit der Waffe gezwungen, ihm zu helfen. „Es ist aber nicht recht, eine Frau in eine solche Sache hineinzuziehen", sagte er ernst. „Gerade diese Frau ist schon eine ganze Zeit lang mit der Sache beschäftigt", sagte Janis lächelnd. „Diese Frau hat sich längst ihre Detektivsporen verdient und hat das merkwürdige Verlangen, die Leute näher kennen zu lernen, die sich am Gehirn ihres einstigen Chefs — von ihrem eigenen Gehirn ganz zu schweigen — so rücksichtslos vergriffen haben. Haben Sie noch etwas dagegen?" Janis mietete beim Nachtdienst des Gyrohauses einen Wagen. Ein Garagenwärter brachte das Fahrzeug auf die Straße und warf kaum einen Blick auf Janis und Sellars. Janis setzte sich hinter das Steuer und
Sellars auf die Hintersitze. Die Seitenvorhänge waren zugezogen, die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet. Sie fuhren zu einer Reihe von öffentlichen Televisorzellen, etwas außerhalb des Stadtzentrums. „Ich will erst feststellen, ob Barnes in seiner Wohnung ist", sagte Sellars. „Wenn ja, werde ich versuchen, mit vorgehaltener Pistole etwas aus ihm herauszubekommen. Ist er nicht dort, fahren wir zu seinem Haus." „Aber Sie werden ihm doch nicht sagen wollen, daß Sie ihn besuchen kommen!" rief Janis, als Sellars ausstieg. Er lächelte. „Nein, nein — ich bin ja nicht wirklich verrückt, Janis. Ich gedenke nicht, Barnes selbst anzurufen. Ich rufe den Pförtner seines Wohnblocks an und sage, daß ich Barnes sprechen möchte, ihn aber nicht wecken will, wenn er schon schläft. Dabei werde ich erfahren, ob er überhaupt im Hause ist." Er ging zu den Zellen hinüber, öffnete eine Tür und ging hinein. Der Nachtpförtner war sehr hilfsbereit. „Dr. Barnes hat heute Abend keine Anrufe bekommen, so daß ich nicht weiß, ob er da ist oder nicht. Ich habe ihn aber auch nicht kommen sehen." „Dann ist er sicher nicht da. Jedenfalls vielen Dank. Ich werde ihn morgen irgendwann anrufen." „Bitte sehr. Wollen Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen, oder soll ich sagen, daß ihn jemand angerufen hat? Oder wenn ich Sie mit seinem Apparat verbinde, können Sie Ihre Mitteilung auf das Tonband sprechen." „Ja, das wäre mir sehr lieb", sagte Sellars. Er wurde verbunden, und nachdem ihm das Tongerät mitgeteilt hatte, ob er eine Mitteilung hinterlassen wolle, sagte Sellars: „Ja. Ich werde den faulen Schwindel des Dr. Barnes aufplatzen lassen, und wenn ich deshalb jemanden ermorden müßte!" Einen praktischen Wert hatte dieses Manneswort überhaupt nicht, aber es half ihm, sich von seinen lange gestauten Gefühlen zu befreien. Das Aufnahmegerät wiederholte feierlich die Mitteilung, völlig gefühllos natürlich, und Sellars konnte sich darauf verlassen, daß auch Dr. Barnes sie nach seiner Rückkehr zu hören bekommen würde. Sellars verließ die Sprechzelle und kehrte zu dem wartenden Wagen zurück. „Haben Sie Glück gehabt?" fragte Janis, während sie startete. Er setzte sich wieder hinten hin. „Er ist nicht da. Vielleicht ist er irgendwo unterwegs oder aber er ist in seinem Landhaus." „Könnte er nicht noch in der Forschungsanstalt sein?" fragte Janis.
Sellars schüttelte den Kopf, dann fiel ihm aber ein, daß sie das nicht sehen konnte. „Ich glaube nicht", sagte er deshalb. „Er hat nie Überstunden gemacht, solange ich dort war. Ich habe aber oft gehört, daß er zu Hause noch viel arbeitete. Durchaus wahrscheinlich, daß er jetzt in seinem Landhaus ist." Von seinem Rücksitz aus gab er ihr Anweisungen, wie sie fahren sollte, und brachte den Wagen rasch und sicher auf die Hauptstraße, die zu seinem Ziel führte. Er drehte sich dabei häufig um und sah durch das Rückfenster, ob jemand sie verfolgte. Obwohl sie schon dort gewesen war, erkannte Janis das Haus nicht, und Sellars war es, der es ihr zeigte, obwohl er noch nicht dort gewesen war. „Das muß es sein. Größtes Haus an dieser Straße, und die Beschreibung stimmt auch. Sie müssen dem Gyrotaxi auf dieser Straße gefolgt sein, obwohl Sie sich nicht mehr daran erinnern können. Fahren Sie weiter, wir werden jetzt die Abzweigung suchen, in die Sie damals hinein gefahren sind." Die Abzweigung war ziemlich dunkel, obwohl die Straßenlampen brannten. Die Lichter in den Häusern an dieser Nebenstraße waren zu dieser späten Stunde schon gelöscht. „Parken Sie dort in dem kleinen Weg!" sagte Sellars und zeigte die Richtung. Janis schlug das Steuer ein und fuhr so geräuschlos wie möglich zwischen die beiden Grundstücke. Als sie standen, schaltete sie das Licht sofort aus und flüsterte: „Was nun?" „Ich versuche jetzt, in das Haus einzudringen. Ich möchte, daß Sie draußen bleiben, entweder hier im Wagen oder näher am Hause, wenn wir eine Stelle finden, an der Sie sich verbergen können. Beide Ideen sind ungefähr gleich schlecht, aber etwas Besseres fällt mir nicht ein. Ich glaube, es besteht keine Gefahr, daß die Polizei mich hier findet, indem sie unseren Spuren folgt, aber es ist leider sehr gut möglich, daß uns Gefahr von diesem Hause droht. Ich finde, es ist besser, Sie bleiben hier, bis ich zurückkomme." Ihr blasses Gesicht war ganz verschwommen, als sie sich ihm zuwandte. „Wie lange soll ich warten?" fragte sie, und im Ton ihrer Stimme meinte er Angst zu spüren. „Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, wie schwierig es sein wird, in dieses Haus zu gelangen, oder ob es mir überhaupt gelingen wird. Keine Ahnung, wie lange ich brauchen werde. Und auch keine Ahnung, was ich im
Hause vorfinde, wenn ich erst einmal drin bin." Er öffnete die Tür und setzte einen Fuß auf den betonierten Boden. Sagen wir zwei Stunden!" flüsterte er. Sie lachte leise. „Sie sind närrisch! Ich hab' doch nur einen Scherz gemacht. Ich bleibe natürlich so lange hier, bis Sie wieder da sind. Und wenn Sie nicht innerhalb einer vernünftigen Frist wiedergekommen sind, steige ich Ihnen nach, ganz gleich, was Sie dagegen sagen. Im Einbrechen bin ich hervorragend geübt. Sie würden sich wundern, wenn Sie mir zusehen könnten. Und wenn es Sie beruhigt — als ich von Foster wegging, habe ich keine Bedenken gehabt, das Ding nicht zurück zu geben!" Als er seine Augen anstrengte, konnte er im Dunkeln den schwachen Schimmer einer kleinen Strahlpistole sehen, die in ihrer Hand ruhte. „Er gab sie mir, als ich das Taxi verfolgte. Er dachte wohl, ich hätte so etwas zu meinem Schutz nötig", sagte sie. „So, und nun marsch. Versuchen Sie Ihr Heil mit Ihrem Einbruch!" Er steckte den Kopf wieder in den Wagen und gab ihr einen festen Kuß auf den Mund. „Kleine Anzahlung", flüsterte er. „Später mehr — bei Bedarf." Er schloß geräuschlos die Wagentür und schlich den Gartenweg zur Nebenstraße hinab. Seine Schritte waren nicht zu hören, denn die Gummisohlen seiner Schuhe waren weich wie Katzenpfoten. Auf der Straße, an der Barnes Haus lag, ging er an den Gartenmauern, tief im Schatten, entlang, bis er die sehr hohe Mauer von Barnes Grundstück erreichte. Rechtwinklig zur Straße ging, sie etwa fünfzig Meter ins Gelände hinein, mußte also einen recht großen Garten umschließen. Zu dieser Stunde würde weder jemand im Garten sein noch ihn besonders bewachen. Es würde eher möglich sein, von der Rückseite des Hauses hinein zu gelangen als von der Vorderseite aus oder von rechts oder links. Die Mauern des Hauses im Nebengrundstück berührten die Mauer zwischen den beiden Grundstücken nicht, sondern ließen einen schmalen Weg frei, der anscheinend asphaltiert war. Sellars eilte ihn entlang und stieß am Ende auf eine Garage oder etwas ähnliches, das wohl zu dem Grundstück hinter Barnes Garten gehörte. Es war fast völlig finster, nur die Sterne gaben ein unsicheres Licht, und Sellars konnte nicht genau beurteilen, wie es um ihn herum bei Tage ausgesehen hätte. Als er aber einige Minuten im Dunkeln herum getastet hatte, berührte er ein Rohr, das vom Dach der Garage herab führte. Er prüfte die Festigkeit des Rohrs, indem er zwar mit Kraft, aber sie nur
vorsichtig anwendend und steigernd daran zog. Das Rohr hielt. Vom Dach der Garage könnte ich auch die Mauer hinauf, das wird nicht schwierig sein, sagte er sich. Er kletterte an dem Rohr hinauf, das von einigen Betonvorsprüngen, die als Leitersprossen brauchbar waren, von der Mauer abgehalten wurde. Im Handumdrehen konnte er sich auf das Dach der Garage schwingen. Von dort aus sah er zum ersten Mal Barnes Haus vollständig, was ihm die hohe Mauer um das Grundstück bisher verwehrt hatte. Es war ein großes Haus — weniger hoch, als vielmehr sehr in die Breite gehend, ein schwarzer Umriß gegen den Schimmer der Laternen auf der Straße dahinter. Im Hause selbst zeigte sich nur ein einziges Licht, es schien aus einem der großen Erdgeschoßfenster in den Garten hinaus. Sellars betrat vom Garagendach aus die Mauerkrone, balancierte dort einen Augenblick, schätzte die Höhe und überzeugte sich, daß er auf flachem Boden landen würde. Dann sprang er. Als er den Boden berührte, sank er gleich zur Hocke zusammen und wartete ein paar Sekunden, um sicher zu sein, daß niemand ihn beobachtet hatte. Der Garten war schwarz und still. Kein Schrei, keine Alarmglocke. Er seufzte erleichtert, erhob sich und ging immer an der Mauer entlang auf das Haus zu. Aus der Nähe schien das Gebäude größer denn je, auch finsterer und unerfreulicher als jedes andere Haus, das Sellars je gesehen hatte. Das Fenster, das erleuchtet war, hatte eine Länge von etwa vier Metern und war knapp zwei Meter hoch. Es war tief am Boden, nicht zu tief jedoch, um es unmöglich zu machen, darunter an der Mauer entlang zu kriechen oder einen Blick hinein zu werfen, ohne selbst gesehen zu werden. Sellars kniete sich hin und kroch dann bis an die Ecke des Fensters. Ganz vorsichtig sah er mit dem rechten Auge hinein, während er seinen Körper außerhalb des Fensterrahmens hielt. Der Raum war eine Diele, gut möbliert, doch nicht gerade luxuriös. Es war niemand darin. Sellars schob den Kopf weiter vor und sah sorglos hinein. Die dem Fenster gegenüberliegende Wand bestand aus einem halb durchsichtigen Material, und Sellars wußte nun, warum das Zimmer hell war, obwohl sich niemand darin aufhielt, die halb durchsichtige Wand war keine vollständige Wand, sondern bestand aus Falttüren, die nicht bis zur Decke gingen. Eine einzelne Leuchtröhre lief durch beide Raumhälften und gab ihnen beiden Licht. Auf den Falttüren zeigten sich verschwommen die dunklen Umrisse von zwei Gestalten in der hinteren Raumhälfte.
Zwei Gestalten. Barnes war also nicht allein. Wer war dann der andere? Miller? Der Taxifahrer oder sein Genosse? Keine Möglichkeit das zu erkennen. Außerdem konnten mehr als zwei Leute in diesem Raum sein, wenn die anderen so weit von der halb durchsichtigen Falttür entfernt waren, daß ihre Umrisse sich nicht darauf abzeichneten. Er erhob sich aus seiner geduckten Stellung und trat einen Schritt vom Haus zurück, um sich nach einer Möglichkeit zum Einsteigen umzusehen. Er wollte es nicht gewaltsam erzwingen, nicht nur, damit er nicht gehört wurde, sondern auch um keine Alarmanlagen in Gang zu setzen. Die Tatsache, daß mehr als eine Person Im Hause war, hatte ihn von seinem ursprünglichen Plan abgebracht, sofort einzudringen und Barnes die Pistole auf die Brust zu setzen. Daß sich mehr als eine Person im Hause aufhielt, verringerte seine Aussichten, Barnes zu erreichen oder gar ihn zu Geständnissen zu zwingen, ganz bedeutend. Am besten würde es sein, erst später in das Haus einzudringen, wenn alle schlafen gegangen waren. Er konnte sich dann immer mit einem auf einmal befassen. Er betrachtete das Haus und versuchte, im Dunkeln etwas zu erkennen. Im ersten Stock sah er zwei Fenster, die offen standen, im zweiten Stock war eins offen, aber die im Erdgeschoß waren alle geschlossen, und gerade dort hätte er sich ein offenes gewünscht. Dann ging er zur rechten Seite des Hauses. Dort war es nicht besser — auch da kein offenes Fenster im Erdgeschoß, und nicht mal im ersten Stock war eins geöffnet Als er zurückging, um die linke Seite des Hauses zu untersuchen, ging gerade das Licht in dem Raum aus, der bis dahin erleuchtet gewesen war. Er machte einen Satz an die Hauswand hin und drückte sich flach dagegen. Wenn ein Licht ausging, war es zu erwarten, daß gleich darauf ein anderes eingeschaltet wurde, und das konnte jedes beliebige im Erdgeschoß sein, so daß er plötzlich beleuchtet sein konnte. Es ging auch tatsächlich ein Licht an, in einem Fenster des Erdgeschosses am Ende des Gebäudes; aber das Licht, das in den Garten fiel, verschwand sofort wieder, weil vor dem Fenster ein Rolladen herabgelassen wurde. Er löste sich von der Wand und bemerkte dabei, daß er heftig zitterte und in Schweiß gebadet war. Der Rolladen hinderte ihn zu sehen, was in dem Raum geschah, aber er konnte das Gemurmel hören, wenn er sein Ohr fest an die Stäbe preßte. Das Geräusch war jedoch zu schwach, um beurteilen zu können, wie viel Personen sich in dem Raum aufhielten. Mit einem raschen Entschluß trennte er sich von diesem Fenster. So hatte es keinen Zweck, auf diese Weise konnte er nichts erfahren. Er mußte auf jeden Fall in das Haus hinein.
Die linke Hausseite bot bessere Möglichkeiten. Eine lange, niedrige Garage — sie war knapp vier Meter hoch — lief am Hause entlang. Ihr Dach schloß mit der Mauerkrone ab und zwischen ihr und der Mauer war kein Zwischenraum, und der schmale Gang, der sie vom Hause trennte, war nur etwa einen Meter breit. Und im ersten Stock des Hauses, gerade über der Garage, stand ein Fenster offen. Er brauchte nur ein paar Minuten zu suchen, bis er einen Dachrinnenabfluß gefunden hatte, der in der gleichen Weise wie das Rohr an der Mauer zuvor leichtes Klettern ermöglichte. Damit komme ich auf das Dach, sagte er sich. Von dort aus kann ich das Fenster erreichen und ohne viel Mühe einsteigen. Das beste wäre, ich tue es jetzt, während sie alle unten sind. Ich kann mich dann mit dem Haus vertraut machen. Oder sollte ich lieber warten, bis alle zu Bett gegangen sind? Er beschloß, sein Glück sofort zu versuchen, obwohl er sich kurz zuvor noch anders entschieden hatte. Mit Hilfe der Dachrinne ging es ganz leicht, und als er auf dem Garagendach war, konnte er den Metallrahmen des offenen Fensters ergreifen, indem er sich über den Spalt zwischen Haus und Garage beugte. Er packte fest zu, zog sich etwas hoch und verließ mit den Füßen das Garagendach. Seine Schuhspitzen schlugen leise gegen die Hauswand. Er machte einen Klimmzug, drückte die Fensterflügel mit dem Kopf weiter auf und stemmte sich hoch. Mit einer leichten Drehung seines Körpers gelang es ihm, sich auf das Fensterbrett zu setzen und die Beine vorsichtig in das Zimmer zu schwingen. Das Zimmer war finster und stumm. Er glitt auf seine Fußspitzen hinab, die Strahlenpistole fest in der Hand. Das schwache Licht von seinem Feuerzeug sagte ihm, daß es ein Schlafzimmer war und die Tür sich in der gegenüberliegenden Wand befand. Er ging zur Tür, legte den Schalter des Magnetschlosses nach auf und öffnete die Tür einen Fingerbreit, um in den Korridor zu spähen. Er war mit Lampen beleuchtet, die hinter rosa gefärbten Milchglas‐ platten in die Wände eingelassen waren. Der gläserne Fahrstuhlschacht befand sich am anderen Ende des Korridors. Das heißt also, wenn sie schlafen gehen, werden sie von dort her kommen, dachte Sellars. Es wäre also die beste Idee ... Aber er hatte keine Gelegenheit mehr, an seine beste Idee zu denken. Er war schon in den Korridor hinaus getreten, und die Tür des Zimmers, durch das er eingedrungen war, schnappte hinter ihm zu. In dem Augenblick des Zuschnappens war das Haus nicht mehr still. Es
zitterte förmlich vom Schrillen einer Alarmglocke. Sellars reagierte blitzschnell und versuchte, die Tür wieder zu öffnen, um zu fliehen. Sie ging aber nicht wieder auf. Es war also nicht eine Diebes‐ sicherung, sondern eine Diebesfalle. Wenn man in dem Haus war, kam man nicht wieder heraus. Er stürzte von einer Tür zur anderen, den ganzen Korridor entlang. Sie waren alle fest geschlossen. Er riß seine Strahlpistole heraus und richtete sie gerade auf das Schloß der Tür, durch die er den Korridor, betreten hatte, als sich die Tür des Fahrstuhlschachtes öffnete und ein Mann heraustrat. Sellars fuhr herum, die Pistole in der Hand, erbittert, daß ihm eine solche Unvorsichtigkeit unterlaufen war. Er schoß aber nicht — er konnte es nicht, denn der Mann, der aus dem Fahrstuhl gekommen war, hielt den Strahl einer Lähmpistole großen Formats, eher schon eines Projektors, auf ihn gerichtet. Sellars war stocksteif, in Schweiß gebadet, Muskeln und Sehnen verkrampft und eine Last, als sei er mit eisernen Ketten beladen. Und der Mann, der den Lähmprojektor hielt, war niemand anders als Freund Taxifahrer. Der Taxifahrer hielt den Lähmstrahl auf Sellars gerichtet, als er auf ihn zuging. Hinter ihm kamen noch zwei andere aus dem Fahrstuhl — Miller und der Mann, den Sellars als den erkannte, der durch die Wand des Restaurants gegangen war. Barnes war nicht dabei. „Sieh da", sagte der Taxifahrer, „der entsprungene Irre, Harry Sellars." Seine Augen waren kalt und seltsam farblos. Er wandte sich zu Miller. „Ich habe Ihnen ja gesagt, er würde hierher kommen." Miller nickte und kam näher. „Das ist interessant", fuhr der Taxifahrer fort „Der einzige Mensch, mit dem wir nicht fertig werden, kommt freiwillig her und liefert sich aus. Na, dann werden wir wohl einiges erfahren.“ Er nickte seinem Gefährten zu, der an Sellers herantrat und ihm die Strahlpistole abnahm, indem er den nach oben gerichteten Lauf mit der Hand packte und sie in dem Sekundenbruchteil fort zog, in dem der Taxifahrer den Projektor aus‐ und blitzschnell wieder anschaltete. Sellars hatte kaum gespürt, daß er sich wieder bewegen konnte, als er schon wieder erstarrte und bemerkte, daß er nicht mehr im Besitz seiner Pistole war. Dann sprach wieder der Taxifahrer. „Sellars, ich werde jetzt auf halbe Kraft schalten und den Strahl ändern, so daß Sie nur oberhalb des Gürtels gelähmt sind. Sie werden Ihre Beine gebrauchen können und Sie auch
gebrauchen — genau so, wie ich es Ihnen sage. Sie gehen vor uns zum Fahrstuhl. Wenn Sie auszureißen versuchen, kann ich sofort wieder den Strahl einschalten, so, wie er jetzt ist, und kann Sie tragen lassen. Machen Sie lieber gutwillig mit!" Er drückte mit dem Zeigefinger einen Knopf des Projektors hinein. Sellars spürte wieder Leben in seinen Beinen, aber der obere Teil seines Körpers blieb starr. Es war ihm völlig klar, daß der Gedanke an Flucht in diesem Augenblick keinen Sinn hatte. Sie würden ihn mit Sicherheit erwischen und ihn dorthin bringen, wo sie ihn haben wollten, indem sie ihn wie eine Statue trugen. Mit Voreiligkeit ließ sich gar nichts gewinnen. „Dort lang, zum Fahrstuhl bitte", sagte der Taxifahrer. Sellars gehorchte. Die anderen gingen hinter ihm her. Sie fuhren zusammen ins Erdgeschoß. „Jetzt nach rechts in das Zimmer mit der grauen Tür. Ja, dort, ganz richtig.“ Dieser Raum mußte an der Vorderseite des Hauses liegen, dachte Sellars. Er war wie ein Arbeitszimmer eingerichtet. Vor dem Fenster war ein Rolladen. „In den Stuhl dort, bitte", befahl der Taxifahrer. Sellars gehorchte — es blieb Ihm nichts anderes übrig. Sobald er saß und die drei anderen ihm gegenüber auf einer Couch Platz genommen hatten, änderte der Taxifahrer wiederum den Strahl des Gerätes. Sellars spürte, daß seine Beine sofort erstarrten, sein Kopf aber — wenn auch nicht der Hals — wurde frei. Er konnte nun Augen, Lippen und Zunge bewegen. „Wir sind sehr neugierig auf Sie, Sellars", sagte der Mann in der grünen Uniform eines Taxifahrers. „In mancher Hinsicht sind Sie anscheinend einzigartig, und wir gedenken näheres darüber aus Ihnen, heraus zu holen." „Wer sind Sie?" fragte Sellars. „Wer sind Sie, und was sind Sie? Woher kommen Sie?" Die Gestalt auf der Couch lächelte. „Wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie es mir nicht glauben, und außerdem würde es Ihnen gar nichts nützen, es zu wissen. Aber die Tatsache, daß Sie diese Frage überhaupt gestellt haben, ist sehr interessant. Ich nehme an, Sie sind der Meinung, daß ich kein Mensch bin? Denn sonst hätten Sie in Ihrer Frage, was ich sei, das Wort ,was' nicht gebraucht. Und es würde mich, auch sehr interessieren, warum Sie argwöhnen, ich sei etwas anderes als ein Mensch." „Normale Menschen gehen nicht durch feste Wände. Normale Menschen haben keinen Zugang zum Innern fremder Köpfe und können
dort nicht ihr Gedächtnis verändern, so daß sie vergessen, was geschehen ist, und sich an Dinge erinnern, die nie existiert haben." Miller sprach zum ersten mal. Er lehnte sich auf der Couch vor und fragte: „Wieso wissen Sie irgend etwas über das Durchschreiten von festen Wänden?" Sellars schwieg. Der Taxifahrer lächelte gezwungen. „Hören Sie mal, mein lieber Sellars, wir veranstalten hier kein harmloses Frage‐ und Antwort‐Spiel. Wenn Sie keine Lust haben, auf unsere Fragen zu antworten und uns Zeit und Energie sparen helfen, haben wir auch andere Mittel. Nichts einfacher als Ihnen ein paar kleine Injektionen zu machen, und Sie reden mehr, als Sie es für möglich halten würden. Aber was sage ich da: wir wissen ja von Ihrer Vergangenheit! Sie werden sich zweifellos erinnern können, daß es die wunderbarsten Mittel gibt, mit denen man verstockte Sünder zum Plaudern bringt. Wir haben diese Medikamente hier im Hause. Wenn Sie nicht freiwillig reden wollen, können wir sie ohne weiteres anwenden." Sellars starrte den Sprecher an. Er wußte, daß sie ihn dazu bringen konnten, alles zu sagen, was sie wissen wollten — aber wenn es mit Hilfe solcher „Wahrheitsdrogen" geschah, würde er so benommen sein, daß er stundenlang nicht klar denken und deshalb auch nicht erfolgreich auf Flucht sinnen konnte. Seine einzige Chance, wieder frei zu kommen, lag darin, sein volles Bewußtsein zu bewahren. „Was nützt es mir, wenn ich rede?" fragte Sellars. „Ob du Ihnen freiwillig alles sage oder ob Sie Medikamente anwenden, ich habe in keiner Weise etwas davon. Und selbst, wenn Sie mich dann freilassen sollten, nützt es mir nichts, denn es wird dann nicht lange dauern, und die Polizei hat mich geschnappt. Sie haben sie dazu gebracht, mich für einen entflohenen Irrsinnigen zu halten." Der Taxifahrer lächelte. „Immer langsam, und überlegen Sie, ehe Sie antworten! — Würde ein Geschäft Sie interessieren?" Sellars lachte krampfhaft „Was für ein Geschäft kann ich schon machen? Ich kann Ihnen nichts bieten, was Sie nicht mit Gewalt von ‐ mir erlangen könnten. Und Sie können mir nichts bieten, was mir nützt, nachdem ich Ihr Gefangener geworden bin." „Es interessiert Sie also auf einmal gar nicht, was wir tun? Es ist Ihnen vollkommen gleichgültig, wieso und warum wir durch feste Mauern hindurchgehen? Und Dr. Barnes — auf einmal ist er Ihnen völlig gleichgültig?" Eine Art von breitem, freundlichem Grinsen breitete sich auf seinem
Gesicht aus, aber es war merkwürdig — nicht einmal Lächelfältchen zeigten sich in seinem unmenschlich glatten Gesicht. „Na schön", sagte Sellars. „Es interessiert mich also. Sie sagen mir, mit anderen Worten, daß ich alles erfahren kann, wenn ich will, denn selbst, wenn ich entkomme, wird mir keiner glauben, und wenn ich nicht fliehen kann, nützt mir mein Wissen auch nichts — als Leiche.“ Der andere Fremde am Ende der Couch lachte leise. „Wer redet denn vom Umbringen!" Sellars sah ihn wütend an. „Nein, heute hat niemand davon geredet. Aber neulich Abend hat es einer versucht, Ihr werter Freund war es, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich glaube, Sie haben es nur aus einem einzigen Grunde nicht ein zweites Mal versucht ‐ weil Sie sich sagten, daß ein Todesfall, der so rasch auf einen Unfall folgt, irgendwem mißtrauisch machen könnte. Es war ja viel einfacher und sicherer, mich für wahnsinnig erklären zu lassen, so daß keiner mehr ein Wort von dem glaubt, was ich sagen könnte." Der Taxifahrer sah Sellars steinern an. „Sie haben natürlich vollkommen recht, Sellars", sagte er ruhig. „Wir haben Sie zu töten versucht und haben keinen Erfolg dabei gehabt. Aber indem Sie heute hierher gekommen sind, haben Sie uns in eine sehr unangenehme Lage gebracht." Sellars merkte, daß die beiden anderen den Sprecher bedenklich ansahen. Von dem, was er sagte, waren sie offensichtlich überrascht, wenn nicht gar in Sorge versetzt. Sellars nutzte das aus. „Unangenehme Lage? Wieso?" fragte er rasch. „Wenn Sie mich umbringen wollen, können Sie es wahrscheinlich mühelos. Und wenn Sie es vorziehen, meinen Fall mit Hilfe von Staatsgewalt zu erle‐ digen, dann können Sie ja die Polizei anrufen, die wird Ihnen alle Sorgen abnehmen, wenn Sie ihr sagen, daß Sie den entsprungenen Irren gefangen haben." Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. „Nein, Sie irren sich. Erstens: wenn wir Sie umbrächten, müßten wir Ihre Leiche beseitigen, außerdem könnten Sie jemanden draußen zurück gelassen haben, der uns in Schwierigkeiten bringen würde, wenn Sie nicht in absehbarer Zeit zurückkehren. Außerdem kann Ihnen, ohne daß Sie es gemerkt haben, die Polizei gefolgt sein und jederzeit hierher kommen und fragen, ob wir Sie nicht gesehen haben. Das wäre uns sehr unerwünscht. Und zweitens — die Polizei anrufen! Wir müßten Sie dann übergeben, und das Haus hier gehört uns nicht und auch nicht Dr. Miller. Wie Sie wissen,
gehört es Dr. Barnes, und Barnes ist im Augenblick nicht in der Lage, sich aktiv an der Lösung des Problems, um es so zu nennen, zu beteiligen." „Aber Sie könnten doch in Ihrer netten Art der Polizei ein bißchen den Kopf verdrehen und sie glauben machen, Dr. Barnes sei es gewesen, der ihr den Einbrecher übergab. Oder können Sie sowas auf einmal nicht?" Er hatte das Gefühl, einen wunden Punkt getroffen zu haben — der Taxifahrer hielt sich zurück und sagte wenig, aber er hatte — zum Erstaunen der anderen beiden — schon zugegeben, daß die Sache nicht so leicht für ihn war, wie er zweifellos es wünschte. Sellars fuhr fort, auf diesem Punkt herumzureiten. „Ist Ihnen auf einmal Ihre übersinnliche Kraft davongelaufen?" fragte er spöttisch. Wie ein schwaches Erröten flog es über das Gesicht des Taxifahrers. Miller neben ihm sah ausgesprochen gequält aus, und der andere, der offenbar meinte, die Sache sei nun weit genug gegangen, sagte zu seinem Gefährten: „Nimm eine gute Portion Wahrheitsserum, und wenn er geredet hat, bringe ich ihn irgendwohin und beseitige ihn. Das lange Reden hat doch gar keinen Zweck.", „Warum verdrehen Sie nicht mir den Kopf und setzen mir die fixe Idee, mich selber umzubringen?" fragte Sellars höhnisch. „Das würde doch alle Probleme, mit denen ich Sie belaste, auf die einfachste Art beseitigen." Der Taxifahrer sah ihn düster an. „Sie müssen doch allmählich gemerkt haben, Sellars, daß uns das bei Ihnen nicht gelingt. Wir wollen ja gerade feststellen, woran das liegen könnte. Warum unterscheiden Sie sich so von anderen Leuten Ihrer Art?" „Meine Art ist also nicht auch Ihre Art?" hakte Sellars ein. Ein Schweigen senkte sich auf den Raum. Miller und der andere Fremde starrten besorgt den Taxifahrer an, als fürchteten sie, er könnte das zugeben, was Sellars schon zu wissen meinte. „Nein, das ist es nicht", sagte er schließlich langsam. „Meine Art ist menschenähnlich, aber nicht menschlich." „Aber woher kommen Sie denn? Mars und Venus sind schon erforscht, und es wurden keine Zeichen höheren Lebens dort entdeckt!" rief Sellars. „Und die anderen Planeten können keine Form des Lebens tragen, die zu uns auf die Erde kommt und genau wie wir leben könnte." Der andere lachte. „Sind Ihre astronomischen Kenntnisse wirklich so gering, Sellars, daß Sie nicht über die Grenzen Ihres eigenen Sonnen‐ systems hinaus denken können? Haben Sie denn gar keine Vorstellung von der Größe des Weltalls? Können Sie sich nicht Planeten vorstellen, die eine
andere Sonne umkreisen, und auf denen es ebenfalls denkende Wesen gibt?" Sellars hatte diesen Gedanken natürlich schon gehabt, als er versuchte, zu einer Vorstellung davon zu kommen, woher Geschöpfe, die durch feste Wände gehen konnten, stammen mochten. Aber der Gedanke hatte nie richtig Fuß gefaßt in seinem Kopf. Wäre einer der Planeten, zum Beispiel der Mars, noch nicht von Menschen betreten gewesen, dann wäre ihm der Gedanke, Marsbewohner seien heimlich auf die Erde gekommen, nicht einmal besonders abenteuerlich erschienen. Diese Sache hier war aber etwas anderes. Sie schien so viel größer, unfaßbarer, so weit außerhalb der normalen Reichweite der Gedanken. „Aus einem anderen Sonnensystem!" flüsterte er. „Und Sie finden es atemberaubend. Nun schön. Hätten Sie nicht zufällig und gegen unseren Willen etwas von unseren — von unseren überragenden geistigen und körperlichen Fähigkeiten bemerkt, würden Sie es vielleicht nicht einmal glauben wollen. Oder? Na, sehen Sie." „Aber... aber warum sind Sie hier? — Was tun Sie denn auf der Erde?" „Erinnern Sie sich an das Geschäft, das ich Ihnen vorschlug? Sie sagen mir, was ich wissen will, und ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen. " Sellars versuchte, mit dem Kopf zu nicken, aber seine teilweise Lähmung hinderte ihn daran. „Nun gut", sagte er, und seine Neugier war so groß, daß er alles andere vergaß. „Was wollen Sie von mir wissen?" „Alles natürlich. Ich will wissen, wodurch Ihr erster Argwohn gegen Dr. Barnes entstand, wann ich und mein Gefährte Ihnen zum erstenmal auffielen, wann Sie mich durch feste Wände gehen sahen, und so weiter." Sellars erzählte ihm alles. Er ließ nur eins fort: daß ihn Janis zu diesem Hause begleitet hatte. Sie lauschten schweigend: Miller, ein Mensch, und die beiden anderen, die keine Menschen waren, sondern Wesen von einem anderen Gestirn. Sellars erzählte rasch und gewandt, denn er hatte die ganze Geschichte so oft erzählt, daß er kaum zu überlegen brauchte, was er sagte. Und schließlich war er fertig. Der Taxifahrer nickte langsam, ohne dabei den Lähmprojektor aus der Richtung zu bringen. „Danke, Sellars", sagte er. „Sie haben viel geschafft, das muß ich zugeben, wenn ich in Betracht ziehe, welche Schwierigkeiten Sie überwinden mußten. Wir wußten von Ihnen ursprünglich gar nichts, außer daß Sie plötzlich einige Fragen zu stellen begannen, als Sie in der Forschungsanstalt arbeiteten. Sie hatten ein merkwürdiges Interesse an Dr.
Barnes ... Wir versuchten unsere gewohnte Methode auch bei Ihnen, aber es glückte uns nicht, Ihre Erinnerungen an das, was Sie über Barnes erfahren hatten, auszulöschen und Ihnen statt Ihres Verdachts eine positive Vor‐ eingenommenheit für Barnes einzusetzen. Als Sie zum Beispiel Dr. Barnes zu dem Restaurant folgten, konnten wir in den Erinnerungen aller, die Ihn die Forschungsanstalt verlassen gesehen hatten, diesen Eindruck tilgen, bei Ihnen jedoch schlug unser Versuch fehl. Wir begriffen nicht, warum unsere Kräfte gerade bei Ihnen versagten, während sie bei allen anderen Menschen wirksam waren, aber wir hatten damals natürlich auch noch keine Ahnung, daß Sie etwas ganz anderes waren als ein durchschnittlicher Mensch mit besonderem Interesse für Dr. Barnes. Das nächste Mal, als wir dachten, es interessiere sich jemand für uns in einer Weise, die uns nicht recht sein konnte, handelte es sich um ein junges Mädchen, das eines Abends, Dr. Miller hier hinaus folgte. Wir merkten zwar nichts davon, daß sie hinter uns her fuhr, aber als wir vor dem Hause hielten, fuhr sie weiter an uns vorbei, und Dr. Millund ich meinten, ihren Wagen schon einmal gesehen zu haben. Deshalb setzte ich Dr. Miller ab und fuhr ein Stück weiter, und dabei sah ich den Wagen in einer Nebenstraße parken. Es konnte natürlich alles auch bloß ein rein zufälliges Zusammentreffen sein, aber wir mußten stets sicher gehen, und deshalb löschten wir die Erinnerungen ungefähr einer Stunde im Gedächtnis dieses Mädchens." Sellars brummte. Dann sagte er: „Und wie war das mit Gray?" „Gray versuchte hartnäckig, mit Dr. Barnes in Verbindung zu kommen, und wir wußten, er würde die richtigen Erinnerungen daran haben, wie Barnes in seiner Jugend gewesen war. Ich brauche Ihnen nicht erst zu erklären, warum diese richtigen Erinnerungen hinsichtlich unserer Absichten gerade die falschen waren. Wir mußten also Gray verarzten. Ich änderte seine Erinnerungen, als er Barnes in seiner Wohnung besuchte, und dann verfolgte ich ihn, sozusagen um ganz sicher zu gehen. Er ging zu Ihnen, und dadurch wurde mir klar, daß Sie noch nicht genug hatten und noch mit von der Partie waren. Und Sie waren der einzige, dem ich den Kopf nicht zurechtsetzen konnte ... Zu meinem empfundenen Bedauern mußte ich Sie anders behandeln. Was geschah, wissen Sie. Während ich in Ihrer Wohnung war, um das Schloß umzubauen, hatte ich ein oder zwei Minuten übrig und konnte rasch einmal Ihre Wohnung durchstöbern. Sie müssen gerade Ihren sorglosen Tag gehabt haben, denn als Sie die Wohnung verließen, um sich im Lastfahrstuhl zu verbergen, ließen Sie einige Papiere offen daliegen,
meist Notizen über Dinge, die Sie entdeckt hatten. Durch diese Notizen erfuhr ich, daß Sie einen Mann namens Foster mit Nachforschungen, beauftragt hatten, und was Sie in Wirklichkeit waren, als Sie in der For‐ schungsanstalt angeblich als Sekretär arbeiteten. Ich ging sofort in Fosters Büro und fand ihn zusammen mit einem seiner Leute, obwohl es schon sehr spät war. Ich habe sie gleich beide behandelt." Sellars leckte sich die spröden Lippen. „Aber mich haben Sie nicht behandelt in dieser Nacht, nicht wahr?" sagte er mit heiserer Stimme. „Bin knapp am Tod vorbeigekommen." Der Taxifahrer nickte. „Stimmt. Sie sind gut davongekommen. Wir erfuhren das erst am nächsten Morgen aus den Zeitungen und im Nachrichtendienst. Wir bewachten das Krankenhaus, sahen Ihren einstigen Vorgesetzten Sie besuchen, behandelten ihn — aber nur insoweit, daß er nicht mehr argwöhnte, in Ihren Berichten könnte ein Körnchen Wahrheit stecken..." „Und dann behandelten Sie die Ärzte", unterbrach ihn Sellars. „Sie wollten damit erreichen, daß ich Ihnen nicht mehr in die Quere kommen konnte, ohne daß Sie noch etwas dabei machen mußten — stimmt doch, nicht wahr?" „Ja, ganz recht. Wir waren uns im klaren darüber, daß ein offiziell als wahnsinnig Beurteilter uns nicht mehr schaden konnte als ein Toter." Er hob die linke Hand — in der er den Projektor nicht hatte — und kratzte sich das Kinn. „Das war meine Idee, muß ich hinzufügen — die Sache mit der Entmündigung, meine ich. Mit der Zeit empfand ich nämlich regelrecht Mitgefühl mit Ihnen, Sellars, was Sie mir wahrscheinlich nicht glauben werden nach dem Mordversuch an Ihnen." Sellars brachte es fertig, ein ironisches Gelächter aus zu stoßen. „Ich finde es tatsächlich ganz unglaublich. Aber lassen wir ruhig solche kleinen Feinfühligkeiten. Erzählen Sie mir lieber den Rest der Geschichte. Mich interessieren die Gründe, warum Sie das alles taten. Ich habe Ihnen auch nichts verhehlt. Nun liegt es bei Ihnen, das Geschäft durch Preisgabe Ihrer Motive abzurunden!" Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. „Noch nicht, Sellars — noch nicht. Sie haben mir nämlich noch nicht das verraten, was mir am wichtigsten ist. Ich weiß nun, daß Sie beim Geheimdienst der Staatspolizei arbeiteten und daß Sie einen vagen Verdacht hatten, daß mit Barnes nicht alles ganz in Ordnung war. Aber wie ist es Ihnen gelungen, unseren Eingriffsversuch in Ihr Gedächtnis zu überwinden? Warum gelang es uns nicht, Ihnen den Verdacht einfach zu nehmen, wie wir anderen Leuten noch viel mehr
genommen haben? Mein Freund hier versuchte es, obwohl Sie ihn dabei bestimmt nicht gesehen haben. Er hat eines Abends auf Sie gewartet, draußen vor der Forschungsanstalt, nachdem wir erfahren hatten, daß Sie sich verdächtig benahmen und lästige Fragen stellten. Es klappte nicht Und wie kam es, daß Sie meinen Freund durch die Wand des Restaurants treten sahen — er hatte es sehr eilig —, während niemand anders es bemerkte?" Sellars wußte auf diese Frage keine Antwort. „Ich weiß nicht", sagte er tonlos. — „Und wenn Sie mir nicht verraten, von welcher Art die Kräfte sind, mit denen Sie das bewirken, kann ich nicht einmal zu erraten versuchen, warum es auf mich nicht wirkt." Dann fiel ihm etwas ein. „Es sei denn…“ „Ja?" sagte der Taxifahrer scharf. „Es sei denn?" „Ich habe vor einiger Zelt eine Gehirnoperation gehabt. Ich war damals Laborant. Ein Versuch explodierte und warf mich gegen ein Flaschenregal. Ich hatte eine schwere Kopfverletzung, und die Ärzte probierten eine neue Methode an mir aus, irgendeine neuartige Technik der Gehirnchirurgie. Ein Knochensplitter drückt nämlich in die Gehirnmasse, und es hieß, der Splitter würde wandern und mich nach einiger Zeit entweder töten oder irrsinnig machen, wenn er nicht rechtzeitig entfernt würde." Der Gefährte des Taxifahrers nickte. — „Wenn die Ärzte dabei bestimmte Teile des Gehirns operieren mußten", sagte er zu dem anderen, „ist es durchaus möglich, daß Auslöschungen verhindert werden. Man müßte natürlich den Zustand des Gehirns dieses Mannes noch näher untersuchen, aber ich glaube, wir haben damit schon den Grund seiner Widerstands‐ fähigkeit erfaßt." Sellars versuchte, den anderen mit einem Blick aus dem Augenwinkel zu sehen, seinen Kopf konnte er ja nicht drehen. Der andere hatte mit einer gewissen Bestimmtheit gesprochen, als sei er Fachmann auf diesem Gebiet. „Können Sie die nähere Untersuchung nicht aufschieben, bis ich Ihre Geschichte zu Ende gehört habe?" fragte er ruhig. Der Taxifahrer lachte. „Natürlich, Sellars, erst die Geschichte. Ich habe den Eindruck, daß Sie fest davon überzeugt sind, wir seien mit den finstersten Absichten auf die Erde gekommen. Sie argwöhnen vermutlich, daß wir die Absicht haben, die Erde als eine Art von Kolonie unseres Planeten zu erobern?" „Ja — allerdings", sagte Sellars. „Ich dachte es mir. Nun, es ist nicht so. Wir sind aus einem ganz anderen Grunde hier, aus dem genau entgegengesetzten Grunde sogar. Wir
versuchen, eine Kolonisierung zu verhindern. Aber lassen Sie mich lieber mit dem Anfang beginnen." Er setzte sich auf der Couch zurecht, ohne jedoch an der Haltung des Projektors etwas zu ändern. „Unser heimatliches Planetensystem besteht aus einer Sonne, die der Ihrigen sehr ähnlich ist, und aus elf Planeten, die um sie kreisen, von denen einer eine Temperatur und eine Atmosphäre hat, die den Zuständen auf der Erde entsprechen. Auf unserem Planeten hat sich ein Stamm von menschenähnlichen Lebewesen entwickelt ganz genau wie auf der Erde. Vom Anfang an, dem Ursprung in einzelligen Lebewesen, gibt es viele Parallelen in der Entwicklung der Bewohner beider Planeten, aber die meisten dieser parallelen Erscheinungen interessieren uns hier nicht. Nur eine davon ist wichtig: wir Gruuls, wie wir uns selbst nennen, haben dieselbe verhängnisvolle Vorliebe für Eroberungen wie ihr Menschen, aber wir haben größere geistige Kräfte und unsere Wissenschaft und unsere Technik sind weiter fortgeschritten. So sind zum Beispiel sämtliche Planeten unseres Systems seit siebzehntausend Erdjahren erforscht." Sellars riß die Augen auf und staunte. Er versuchte mit wenig Erfolg, die so harmlos und doch überzeugend berichteten Dinge zu erfassen. „Wir haben keine Nationalregierungen auf unserem Planeten, nur eine Internationale Kontrollorganisation, die alles überwacht und leitet. Wir haben die Planeten unseres Systems, auf denen man leben kann, kolonisiert, aber wir vermehren uns weiter. Die alten Probleme, Sellars — mehr und mehr Leute, und immer weniger Platz. — Die Einschränkung der Fortpflanzung stellt offenbar zu große Anforderungen an den Verstand. Ihr auf der Erde seid allerdings etwas vernünftiger, aber immerhin habt auch ihr schon zwei Planeten, Mars und Venus, kolonisieren müssen. Über dieses harmlose Anfangsstadium sind wir längst hinaus und brauchen immer mehr neue Planeten. Unsere Astronomen erhielten die Aufgabe, andere Sonnensysteme zu durchmustern, um neue bewohnbare Planeten zu finden, die wir besetzen konnten, immer weiter von unserem Heimatplaneten entfernt, bis das ganze Weltall von den Gruuls beherrscht wird, Ich meine Beherrschung Sellars — nicht bloß eine relativ harmlose Kolonisierung." Er sprach mit einer tieftraurigen Stimme, als bedaure er die Streitbarkeit und Eroberungslust seiner Stammesgenossen. Dann, nach einer gedankenvollen Pause, fuhr er fort. „Eine Sache jedoch hinderte die Raumschiffe der Gruuls, die große Reise nach den neuen, weit entfernten Planeten, die zur Eroberung geeignet waren, zu beginnen. Die Schiffe waren freilich gebaut, aber sie hatten nur
Atomantrieb. Eine Fahrt in andere Systeme mit solchen Schiffen würde viele Tausende von Jahren dauern. Unsere Regierung kam zu dem Schluß, daß man vielleicht riesige atomgetriebene Schiffe bauen müßte, in denen es alles gab, was das Leben auf sehr lange Zeit aufrecht erhielt, so daß nicht nur die Lebensspanne der ersten Besatzung, sondern ihrer während der Fahrt geborenen Kinder, Enkel und Urenkel, ausgenutzt werden konnte, bis nach mehreren Generationen die Schiffe an ihrem Ziel eintreffen und die Gruuls auf dem Planeten Fuß fassen würden." „Auch bei uns sind solche Pläne erwogen worden", sagte Sellars. „Man hat auch daran gedacht, die Besatzung nach dem Start in einen scheintoten Zustand zu versetzen, aus dem sie nach einer bestimmten, aber sehr langen Zeit automatisch geweckt werden sollten. Das alles, um die zu lange Reisezeit ohne normales Altern der Besatzung zu überwinden." Der Gruul nickte. „Auch die Sache mit dem Scheintod kam bei uns in Diskussionen auf. Aber schließlich konzentrierten sich unsere Forscher auf den direktesten Ausweg: einen Antrieb zu finden, der die bisherigen Methoden völlig überflüssig machte. Er sollte die Raumschiffe schneller als das Licht bewegen können. Aus diesem Grunde wurden bisher keine Schiffe mit den bisherigen Antriebsarten ausgesandt. Wir wollten so lange wie möglich warten, in der Hoffnung, daß unsere Forscher eine so unendlich überlegene Antriebsart finden, daß unsere Kolonisten in einer ganz normalen Reisezeit zu ihrem Ziel gelangen." Sellar's Mund wurde plötzlich trocken. — „Und Sie haben den neuen Antrieb gefunden?" fragte er mit versagender Stimme. „Sie haben ihn, und ihre Schiffe sind gekommen, und Sie beide sind eine Art von Parlamentären?" „Nicht ganz. Nein, so ist es nicht. Wenn die Gruul‐Kolonisten das Sonnensystem bereits erreicht hätten, dürfte es die ganze Menschheit schon bemerkt haben, darauf können Sie sich verlassen. Aber lassen Sie mich zu meinem Bericht zurückkehren. Der Eroberungsplan stand vollkommen fest. — Ihre Sonne, bei uns Geyilar genannt, war die erste, deren System besucht werden sollte, denn sie schien unseren Astronomen genügend Ähnlichkeit mit der unsrigen zu haben, um die Hoffnung zu rechtfertigen, daß einer ihrer Planeten geeignete Lebensbedingungen aufweist. Es wurde nur eins benötigt: ein Antrieb, der Überlicht‐ geschwindigkeit erlaubt. War er gefunden, dann konnte mit ihm der bisherige Antrieb in den Schiffen ersetzt werden und die Flotte in einer erträglichen Zeit an ihr Ziel gelangen."
„Und welche Rolle spielen Sie bei der ganzen Sache?" fragte Sellars. „Überhaupt keine. Mein Gefährte aber war einer der Physiker, die an der Schaffung der neuen Antriebsart arbeiteten." Das Gesicht des anderen Gruul war völlig unbewegt. Der Taxifahrer warf ihm einen Blick zu und fuhr mit seinem Bericht fort. „Es war nicht nur mit diesen Forschungen beschäftigt, sondern war auch mein Freund. Und ich, Sellars, paßte nicht ganz auf meinen Planeten ‐ Ich teilte nicht die allgemeine Eroberungslust und die rücksichtslose Machtgier, die wie eine Seuche seit Urzeiten die Seelen vergiftet. Mich quälte der Gedanke, daß die Bewohner anderer Planeten durch uns ermordet oder unterdrückt und ausgebeutet werden sollten. Natürlich war ich mit meinen Ansichten nicht gerade beliebt, wie Sie sich leicht denken können, aber ich blieb meiner Auffassung trotzdem treu. Und als ich mich eines Tages mit meinem jetzigen Freund unterhielt, merkte ich, daß auch er sich Gedanken darüber machte, was geschehen würde, wenn die Gruuls überall hin gelangen konnten. Auch er empfand Mitleid mit den Bewohnern anderer Planeten, über die die Gruuls mit ihrer technischen und zahlenmäßigen Überlegenheit den Sieg davontragen würden." Der andere Gruul nickte zustimmend. Er warf ein: „Und ich arbeitete an einem Projekt, das gerade das verwirklichen sollte, gegen das ich einen derartigen Widerwillen hatte." Sellar blickte von einem zum anderen. „Schön und gut", rief er, „Sie haben also beide Mitleid mit anderen Leuten gehabt — aber was geschah, was passierte dann?" „Wir trieben zuerst einen größeren Betrag auf", sagte der zweite Gruul und setzte den Bericht fort. „Wir beschafften Geld und flohen heimlich auf einen benachbarten Planeten, dessen Kolonisten, wie wir wußten, im großen und ganzen unserer Ansicht waren. Die Gerüchte stimmten — wir fanden dort Sympathie." „Und wir nahmen etwas sehr Wichtiges mit", fuhr der erste Gruul fort. „Mein Freund stieß auf ein Prinzip, mit dessen Hilfe es möglich ist, Überlichtgeschwindigkeiten zu erzielen. Er hatte einen, anderen Gedanken‐ gang verfolgt als seine Kollegen und hatte niemandem gesagt, was er dabei gefunden hatte,... bis er zu den Kolonisten auf dem anderen Planeten kam. Dort schmiedeten wir unseren Plan. Es gab viele Schiffe dort, aus denen der alte Antrieb ausgebaut und der neue eingesetzt werden konnte. Und es gab viele Leute, die unserem Plan Erfolg wünschten. Dieser Plan bestand darin, so viele Schiffe mit dem, was wir Superantrieb nennen wollen,
auszurüsten, wie es Sonnensysteme gab, die unsere Zentralregierung zu erobern gedachte. Wir wollten die Bewohner der besiedelten Planeten dieser Systeme warnen, ehe der Superantrieb offiziell entdeckt wurde. Und wir wollten das Prinzip des Superantriebs all denen bekanntmachen, die technisch weit genug geschritten waren, um Gebrauch davon machen zu können. Er sollte ihnen eine Flucht vor den Gruuls ermöglichen — denn schließlich gibt es noch andere Systeme mit ähnlichen Sonnen und Planeten, auf denen ein Leben möglich sein wird. Aber Asyle der von Gruuls Bedrohten sind eben nur mit einem Superantrieb erreichbar." Der zweite Gruul ergriff das Wort. „Wir stellten den Superantrieb her und bauten ihn in die Raumschiffe ein, die schon vorhanden waren. Er geschah natürlich insgeheim, ohne daß die Patrouillenschiffe der Gruul‐Zentralregierung etwas davon entdeckten. Unsere Bemannungen wählten wir aus der sympathisierenden Kolonisten‐ Bevölkerung. Denjenigen, die die umfassendsten Kenntnisse besaßen, gaben wir genaue Informationen über Wirkungsweise und Konstruktion des Superantriebs, die sie den Planetenbewohnern, die sie erreichen, weitergeben sollten. Wir starteten alle zur gleichen Zeit — jedes Schiff nach einem anderen Gestirn, in einem anderen Sonnensystem, aber alle mit der gleichen Aufgabe. Und wir zwei waren zufällig die Besatzung desjenigen Schiffes, dessen Ziel ein Planetensystem war, das um einen Stern namens Geyllar kreiste — und bei Ihnen heißt Geyllar die Sonne." Beim Rest ihres Berichtes wechselten die beiden Gruuls sich ab. Der eine ergänzte die Ausführungen des anderen, während Sellar's Blicke zwischen ihnen hin und her gingen. Sie erzählten von ihrer Fahrt durch den Weltraum, von ihrer Ankunft im Sonnensystem und ihrer Untersuchung der Planeten. Sie beschrieben, wie sie die Besiedlung von Mars und Venus als Kolonisation und die der Erde als Stammbesiedlung erkannt hatten. Ver‐ hältnisse also, die ihnen von ihrem Heimatsystem her vertraut waren. „Wir landeten eines Nachts mit unserem Schiff auf einer Hebrideninsel. Wir hatten uns natürlich schon während der Fahrt ausgedacht, wie wir es am geschicktesten anfangen könnten, unsere Absichten zu verwirklichen. Wir hatten angenommen, daß sich eine Art von Zivilisation finden würde, aber wir hatten nicht erwartet, daß sie der unsrigen derartig genau parallel sein würde, jedoch in der Beherrschung von Geist und Materie so rückständig. Wie Ihnen klar geworden ist, als Sie uns durch feste Wände gehen sahen, haben wir vollkommene Macht über die atomare Struktur unserer Körper. In ähnlicher Weise sind wir auch imstande, Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu nehmen und sie durch andere Ideen zu ersetzen.
Auf unserem eigenen Planeten können wir das allerdings nur bei Ge‐ schöpfen machen, die auf einer tieferen Stufe der biologischen Entwicklung stehen, zum Beispiel bei Tieren, die Ihren Katzen und Hunden entsprechen. Gegen unsere Mitgruuls können wir auf diesem Gebiet nichts ausrichten. Als wir Ihren Planeten erreicht hatten, entdeckten wir, daß wir zwar in dieser tiefgreifenden Weise auf den Verstand der Menschen einwirken, nicht aber telepathisch mit ihm in Verbindung kommen konnten, während das ,Gedankenlesen' zwischen den Gruuls die übliche Verständigungsart ist. So landeten wir denn und beseitigten aus dem Gedächtnis der Zeugen dieser Landung alle Erinnerungen daran. Wir wollten die Menschen kennen lernen und die beste Methode finden, sie unserer guten Absichten zu versichern. Ich sagte, daß unsere geistigen Fähigkeiten die der Menschen weit übertreffen, aber selbst in Anbetracht dessen werden Sie es mir vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, daß wir innerhalb eines Monats nach unserer Landung auf Ihrem Planeten die wichtigsten, für unseren Zweck erforderlichen Dinge — Ihre Sprache, Ihre Geschichte, Ihre wissenschaftliche Entwicklung, Ihre körperliche und geistige Verfassung — gelernt hatten, so daß wir uns unauffällig genug auch in aller Öffentlichkeit bewegen konnten. Einen Monat nur dauerte es — und am Ende dieser Zeit war uns klar, daß der Geist der Menschen unglaublich eng ist. Wären wir zum Beispiel zur Regierung eines großen Landes gegangen und hätten unsere Geschichte erzählt, dann hätte man uns einfach nicht geglaubt. Hätten wir dann, um Glauben zu erringen, unsere übermenschlichen Fähigkeiten vorgeführt, dann hätte man uns sicherlich des Betrugs und der Taschenspielerei verdächtigt. Hätten wir unser Wissen von dem Superantrieb zur Erlangung von Überlichtgeschwindigkeiten preisgegeben, dann hätten die irdischen Physiker Einstein zitiert und uns ausgelacht. Es blieb uns deshalb gar nichts anderes übrig, als mit Tricks und regelrechtem Betrug zu arbeiten ... Irgendwie mußten wir erreichen, daß Sie den Superantrieb bekamen, aber glaubten, er sei Menschenwerk, von Ihren eigenen Wissenschaftlern erfunden. Der Superantrieb mußte das Ergebnis einer Reihe von Versuchen sein, die streng nach den Gesetzen der Logik geplant und ausgeführt wurden." Es fing an, klar zu werden. Sellars war der Schilderung Wort um Wort gefolgt und hatte dabei versucht, immer einen Schritt im Begreifen voran zu sein. „Und so benutzten Sie Barnes", sagte er. „Sie machten ihn zu einem Genie, das demnächst den Superantrieb erfinden wird."
Der zweite Gruul nickte. „Es war damals natürlich eine Null, ein, Nichts. Genauer gesagt: ein Strolch, der auf einer öden Insel lebte. Wir bekamen heraus, daß er ein Waise war und in Fyleham die Schule besucht hatte — in der Schule, in der Sie nachforschten. Damals, in seiner Jugend, hatte er nur einen lebenden Angehörigen, der für seinen Lebensunterhalt aufkam und dann — recht bequem für uns — gestorben war. Nachdem Barnes die Schule verlassen hatte, war er ein unsteter Mensch geworden, der die ganze Erde bereiste, während, wie ich gehört habe, noch vor einem Menschenalter die Landstreicher meist im Lande blieben. Für unseren Zweck war er ideal. Wir leerten seinen Kopf vollständig — es war keine große Mühe — und versahen ihn mit einer ganz neuen Charakteristik. Wir besuchten seine alte Schule, gaben allen, die sich an ihn erinnern mochten, falsche Unterlagen ins Schularchiv. Dann schufen wir eine glänzende wissenschaftliche Karriere für ihn, indem wir die entsprechenden Erinnerungen in das Gedächtnis der Professoren und einstigen Studenten einpflanzten, die, nach den Verzeichnissen zu urteilen, mit Barnes in seiner angeblichen Studienzeit zusammengewesen wären, wenn Barnes je studiert hätte. Wir schufen also einen Mann, einen begabten Akademiker aus dem Nichts. Und während all das geschah und mein Freund das Land in allen Richtungen durchfuhr, um das Nötige zu arrangieren, konzentrierte ich mich auf Barnes und trichterte ihm ein, was er für seine Aufgabe wissen mußte. Auf dem Wege der Gedankenübertragung natürlich, aber es war alles andere als leicht. Ich konnte ihm ja nicht einfach mein eigenes Wissen eingeben — ich mußte ihm erst die höchste Wissenschaft der Erdbewohner beibringen und dann allmählich Kenntnisse beimischen, die die Gruuls, nicht aber die Menschen besitzen. Und schließlich brachten wir ihn in die Forschungsanstalt hinein, indem wir einige hohe Regierungsbeamte derartig beeinflußten, daß sie fast gleichzeitig die Idee hatten, ein so hervorragender Forscher wie Dr. Barnes müsse unbedingt mit der‐ Entwicklung der Raumschiffahrt beauftragt werden." Sellars ließ seinen Blick auf Dr. Miller gleiten, der zwischen den beiden Gruuls auf der Couch saß. „Und?" fragte er. „Wie kamen Sie in die Sache hinein?" „Ich war neugierig", sagte Miller mit einem leichten Achselzucken. „Ich war neugierig, genau wie Sie. Und dies, obwohl auch ich telepathisch beeinflußt worden war, Dr. Barnes als hervorragenden Forscher zu akzeptieren. Ich freundete mich mit Dr. Barnes etwas an, wir unterhielten uns miteinander, und je öfter wir das taten, um so neugieriger wurde ich.
In seinem Fachwissen gab es Lücken, die unerklärlich schienen. Ich kam auf den Verdacht, daß seine wissenschaftliche Bedeutung vielleicht doch nicht so groß war, wie immer behauptet wurde. Dann entdeckte ich, daß seine Kenntnisse ihm davon zu fließen schienen. Jeden Tag schien er weniger ge‐ scheit als am vorhergehenden, weniger imstande, alles zu sagen oder nahm Medikamente, fing an immer mehr Bücher zu wälzen, während er bisher alles, was er zu seiner Arbeit brauchte, im Kopf gehabt hatte. Und ich entdeckte schließlich, daß er dieses Haus hier besaß, obwohl er nach den Unterlagen in der Forschungsanstalt im Norden des Stadtgebiets eine Wohnung hatte. Eines Abends folgte ich ihm und sah durchs Fenster ihn mit den Gruuls. Auch ich habe ins Haus einzudringen versucht, genau wie Sie, Sellars, und mir ist es genau so ergangen wie Ihnen. Man hat mir alles erzählt, denn die Gruuls brauchten jemanden in der Forschungsanstalt, der ihnen helfen konnte. Hätte ich nichts geglaubt oder mich geweigert, zu helfen, dann wären alle Erinnerungen an die Affäre Barnes in meinem Gedächtnis getilgt worden, und man hätte mich einfach wieder weggeschickt. Ich glaubte aber und war einverstanden, zu tun, was ich konnte. Und auf diese art Sellars, kommt es, daß Sie mich hier sitzen sehen." „Aber das Davonfließen von Barnes Kenntnissen", sagte Sellars, als Dr. Miller mit seinem Bericht fertig war, was meinten Sie damit?" Miller wandte sich an den ersten Gruul. Dieser nickte und übernahm die Erklärung. „Es ist nicht sehr schwer für uns, im Gehirn des Menschen Erinnerungen zu löschen", sagte er. „Viel schwerer ist es, etwas anderes an deren Stelle zu bringen. Und auch da gibt es Unterschiede. Es ist einfacher, jemand etwas einzutrichtern, das sich rein sachlich in das normale Leben, in die Art des Berufs und seiner Denkgewohnheiten einfügt, als ihm etwas vollkommen Neues beizubringen, besonders wenn es über seinem geistigen Horizont liegt. Wir fanden, daß wir jedermann jede beliebige Meinung über Barnes beibringen konnten, daß aber das physikalische Wissen, das mein Gefährte ihm eingab, nicht in seinem Gehirn bleiben wollte. Es war zu viel zu viele Tatsachen, zu schwierige Formeln. Wir gossen Wissen in ihn hinein wie Wasser in ein Glas, aber es war, als habe das Glas ein Loch im Boden und als flösse das Wasser fast ebenso schnell wieder hinaus. Und deshalb mußten wir, seit Barnes zu arbeiten begann, ständig seine Fachkenntnisse nachfüllen, und das bedeutete, daß mein Gefährte unausgesetzt seine Kräfte der Gedankenübertragung mit höchstem Druck anwenden mußte."
„Und ist das schlimm?" fragte Sellars? „Schadet ihm das?" Der Gruul nickte. „Das tut es", erwiderte er. „In unserer eigenen Welt brauchen wir diese Kräfte kaum in Anspruch zu nehmen — auf unserem Planeten wirken sie ja nur bei niederen Tieren. Hier jedoch müssen wir sie dauernd benutzen, und sie reichen leider nicht ewig. Sie hatten ganz recht, als Sie sagten, daß unsere Kräfte uns wohl im Stich ließen. Uns ist mittlerweile klar geworden, daß wir mit unseren übermenschlichen Kräften sehr sparsam umgehen und sie für Zeiten aufheben müssen, in denen wir unbedingt auf sie angewiesen sind. Wir beide haben sie mehr benutzt, als wir es hätten tun dürfen. Als wir landeten, mußten wir die Erinnerung an unsere Landung aus dem Gedächtnis von über zweihundert Inselbewohnern tilgen. Wir mußten Geld beschaffen, um unsere Ziele verwirklichen zu können, wir mußten einen Speicher mieten, um das Schiff zu verstecken wir mußten, als wir das Lagerhaus hatten, das Schiff hineinbringen. Und mit all diesen Dingen waren — ganz abgesehen von unserer Einwirkung auf Barnes — Tilgungen und die Füllung der Erinnerungslücken mit anderen Tatsachen notwendig. Wir sind nicht mehr zur Ruhe gekommen mit einer Sache, mit der wir gar nicht vertraut waren, weil es auf unserem Planeten an Gelegenheiten mangelte, uns darin zu üben . . . Heute Abend zum Beispiel hat mein Gefährte zweieinhalb Stunden damit verbracht, Barnes physikalische Kenntnisse wieder auf zu füllen. Er muß es jetzt alle drei Tage tun." „Wo ist Barnes jetzt?" fragte Sellars. „Unten. Er schläft. In seinem Kopfkissen ist ein kleiner Lautsprecher, der mit einem Tonbandgerät verbunden ist, so daß ihm selbst im Schlaf noch allerlei Formelkram eingepaukt wird. Ein bißchen scheint tatsächlich hängen zu bleiben, und jedes bißchen hilft natürlich schon, meinem Freund zu ersparen, daß er seine telepathischen Kräfte ganz verausgabt." Sellars nickte. Dann sagte er: „Wenn Sie den Lähmprojektor abstellen, werde ich nicht ausreißen, Sie können mich ja immer noch mit der Strahlpistole im Zaum halten. Ich will nur Arme und Beine bewegen können." Der Gruul überlegte nur eine Sekunde lang, dann schaltete er das Lähmungsgerät aus. Sellars spürte das Leben in seine Glieder zurückkehren. Er streckte Arme und Beine und drehte den Kopf. „Und wie steht es mit Barnes Arbeit in der Forschungsanstalt?" fragte er. „Ich war dort nur Sekretär und hatte keine Ahnung, was dort geleistet wurde. Nur was Dr. Stanlez machte, wußte ich
natürlich. Hat Barnes die neue Antriebsart schon offiziell entdeckt?" Miller schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Aber seit er in der Forschungs‐ anstalt ist, haben wir den Atomantrieb entdecken lassen, das Prinzip der Schwerkraft‐Umkehrung, die neuen Strahlungsschutzeinrichtungen für Fahrten in Sonnennähe und zahllose Verbesserungen in der Konstruktion der Raumschiffe selbst. All diese Entdeckungen stammen direkt oder indirekt von Barnes — oder, genauer gesagt, von den beiden Gruuls. Und erst letzte Woche hat er die Grundidee der Unitronspaltung als Raumschiffantrieb vorgebracht. Eine Abwandlung dieser Grundidee ergibt dann einen Antrieb, der Überlichtgeschwindigkeit liefert. Wir hoffen, daß jemand anders die Abwandlung entdeckt, aber sollte es nicht geschehen, dann wird auch das Barnes ,entdecken' müssen." Sellars stand auf und sah aus dem Augenwinkel, daß der Gruul darauf verzichtete, den Projektor zu heben. „Und was geschieht dann?" fragte er und sah sie der Reihe nach an. „Dann flößen wir den entsprechenden Regierungsbeamten die nötige Begeisterung ein, damit sie den Auftrag zur Herstellung des neuen Antriebs geben", erklärte der Gruul. „Wir werden dafür sorgen, daß alle Nationen die notwendigen Einzelheiten über den neuen Antrieb erfahren, so daß keine benachteiligt ist. Der Superantrieb wird in jedem Lande verwendet werden, das Raumschiffe besitzt. Und wenn die Gruuls kommen — und sie werden kommen —, dann haben die Menschen, was sie zur Flucht brauchen." „Flucht!" rief Sellars. „Aber glauben Sie denn ernstlich, daß sie eine Chance zur Flucht haben werden, selbst wenn sie die Hilfsmittel dazu besitzen? Wenn die Gruulschiffe Überlichtgeschwindigkeit besitzen, dann werden sie in unserem Sonnensystem und auf der Erde so schnell sein, daß wir gar nichts mehr machen können. Und außerdem; woher wissen Sie, daß es gelingen wird, all Ihre umfangreichen Pläne auszuführen, ehe die Gruuls kommen?" Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Der zweite Gruul hob beruhigend die Hand. „Die Gruuls werden sich erst gründlich im Sonnensystem umsehen müssen, ehe sie landen, und eine solche Inspektion ist nur mit relativ geringer Geschwindigkeit möglich. Die Astronomen und die Raumschiffe der Erde werden also reichlich Gelegenheit haben, die Vorboten der Gruul‐ Invasion zu entdecken. Und außerdem ist es ja noch längst nicht soweit. Für die Kolonisierung anderer Planeten sollten siebentausend Gruul‐ Raumschiffe eingesetzt werden. Das heißt, es müssen siebentausend
Superantriebsaggregate hergestellt und eingebaut werden. Auch sind die Kolonisten noch nicht ausgewählt und organisiert. — Selbst wenn wir annehmen, daß der Superantrieb von den Gruul‐Forschern schon an demselben Tage, an dem wir abfuhren, offiziell entdeckt worden ist, dann wird es noch mindestens drei Jahre, von heute an gerechnet, dauern, bis die Gruuls hier sein können. Die Vorbereitungen dauern nun einmal so lange." Sellars machte ungeduldige Bewegungen mit der Hand, in der er die Zigarette hielt „Drei Jahre, sagen Sie. Und Sie meinen, diese Zeit würde genügen, um all unsere Raumschiffe mit Superantrieb auszustatten? Sie haben die Menschheit gründlich studiert, daran zweifle ich nicht. Aber ich gehöre zu ihr, und ich kenne meine Mitmenschen. Es wird zwanzig Jahre dauern, bis der Superantrieb allgemein hergestellt wird. Ich weiß nicht, wie diese Antriebsvorrichtungen funktionieren sollen, aber da sie für Raumschiffe be‐ stimmt sind, kann ich mir denken, daß sie viel Geld kosten. Und warum sollten Regierungen viel Geld ausgeben, wenn die zerbeulten Badewannen mit Raketenantrieb genausogut, wenn auch etwas langsamer die notwendigen Fahrten ausführen können? Sie werden einfach nicht anbeißen wollen, das kann ich Ihnen jetzt schon versichern." Er sah Miller an. „Sie wissen, daß es stimmt, was ich sage. Bestätigen Sie es den Gruuls! Es wird niemand anfangen, Superantrieb anzuwenden, wenn nicht ein sehr zwingender Grund dazu besteht!" „Wir wissen das, Sellars", sagte Miller freundlich! „Und wenn Sie besser zugehört hätten, dann hätten Sie vernommen, das wir das in unseren Plänen bereits in Betracht gezogen haben und diesen zwingenden Grund zu schaffen gedenken. Wir werden den Ehrgeiz und die Rivalität zwischen den Nationen schüren. Lassen Sie mich erklären; in unserem Lande wird der Superantrieb erfunden werden. Wir begeistern dann ein oder zwei ganz wichtige, entscheidende Leute dafür — Leute, die Macht genug besitzen, das Notwendige in Gang zu bringen. Wir können vielleicht auch regelrechte Begeisterung für die weitere Erforschung des Weltraums mit Hilfe von Expeditionen entzünden. Sobald dann die Engländer mit der geheimen Herstellung des Superantriebs beginnen, verraten wir es irgendeiner anderen Nation, natürlich ohne zu enthüllen, wer wir sind. Jede andere Nation wird das Geheimnis des Superantriebs haben wollen, aus dem einfachen Grunde, daß eine Nation es schon besitzt. Es wird keiner die Kenntnis der Methode, schneller als Licht fliegen zu können, ablehnen, wenn der Preis dafür annehmbar ist. Und wenn eine Nation erst einmal
den Superantrieb in größerem Umfang produziert, wird keine andere Nation zurückbleiben wollen." Sellars runzelte die Stirn und wurde sehr nachdenklich, während die anderen schwiegen. Er war von dem Bericht der Gruuls so gefesselt, daß er gar nicht mehr an seine eigene unerfreuliche Lage dachte. Er begann, im Raum auf und ab zu gehen, und als er plötzlich stehen blieb und aufsah, bemerkte er den abwartenden Blick der drei Augenpaare. „Nehmen wir an", begann er langsam, „nehmen wir an, Ihre Vermutungen, wann und wie alles geschehen wird, seien richtig. Nehmen wir an, es gelänge, zumindest in ein paar Raumschiffe jeder Nation den Superantrieb einbauen zu lassen. Und dann entdeckt etwas später jemand fremde Raumschiffe im Sonnensystem. Die Gruul‐Kolonisten, meine ich." Er hielt inne und biß sich auf die Lippen. „Weiter", sagte Miller. „Warum glauben Sie, daß der Mensch, so, wie er nun einmal veranlagt ist, prompt die Flucht ergreift? Ich glaube, da haben Sie falsch gedacht. Ich glaube nicht, daß es zu einer Flucht kommen wird. Sie wissen, daß die Gruuls überlegen sind, sowohl in ihren Mitteln als auch in ihrer Zahl. Sie wissen, welche finstere Absichten die Gruuls haben, die Menschen wissen es nicht. Und Sie sind überzeugt, daß der Versuch der Menschen, sich zu wehren, mit einem entscheidenden Mißerfolg enden würde, nicht wahr?" Sie gaben keine Antwort, aber aus ihrer Miene ging hervor, daß Sellars richtig vermutet hatte. „Machen Sie sich klar", fuhr Sellars fort, „daß die Menschen keine Ahnung vom Charakter der Gruuls haben; sie werden nicht einmal wissen, daß Sie die Flucht der Menschen so sorgfältig vorbereitet haben. Wenn die Gruuls sich so aggressiv zeigen, wird die erste Reaktion, der Menschen sein, sich zu wehren." Sellars geriet immer mehr in Schwung, als er den Zweifel in den Gesichtern seiner Zuhörer sah. Er vergaß vollkommen, daß sie ihn hatten umbringen wollen und daß er vor kurzem noch ihr Gefangener gewesen war. „Und wenn Sie dann die Maske fallen lassen und erklären, wer Sie sind, wird man Sie für Verrückte halten oder für Leute, die mit Hilfe der in der Ferne aufgetauchten fremden Erkundungsschiffe ein bißchen berühmt werden wollen," Sellars hatte anscheinend Glauben gefunden. Der Zweifel in ihrer Miene war der Nachdenklichkeit gewichen. Der erste Gruul hob den Kopf und fragte: „Und was soll Ihrer Meinung nach geschehen? Oder haben Sie nur kritische Bemerkungen zu machen?" Er meinte es nicht sarkastisch. Er war
offenbar wirklich beeindruckt von dem, was Sellars sagte, und er wollte mehr darüber hören. „Natürlich kann ich Ihnen auch positive Vorschläge machen. Ob sie Ihnen gefallen, ist allerdings eine andere Frage. Sie kennen doch sicher nicht nur das Geheimnis des Superantriebs, sondern auch das vieler anderer interessanter Dinge, nicht wahr? Nun denn; warum verraten Sie diese anderen Dinge nicht auch, soweit sie dabei helfen könnten, die Gruuls zu bekämpfen? Benutzen Sie Ihre Gedankenübertragung dazu, unseren Erfindern und Konstrukteuren Ideen zu neuen weitreichenden Atomgeschossen einzugeben, zu Waffen, die stärker sind als die, die wir besitzen. Machen Sie dabei genau wie beim Superantrieb von der Rivalität der Nationen untereinander Gebrauch. Ich kenne die Menschen; eine neue Waffe wird sie viel mehr interessieren als eine neue Antriebstechnik." Die Idee war gut. Sellars wußte es, und die Gruuls und Miller erkannten es an. Und sie konnten ihn nun nicht mehr der Polizei übergeben. Sie wollten es auch nicht mehr. Sie kamen vielmehr überein, im Gedächtnis der Nervenärzte, die Sellars den Irrsinn bescheinigt hatten, Farradays und der Polizei störende Erinnerungen an Sellar's angebliche Gemeingefährlichkeit zu beseitigen und Sellars so lange im Hause zu verstecken, bis er es ungefährdet verlassen konnte. Und als ihm die Gruuls klarmachten, wieviel umfangreicher ihre Aufgabe durch die Änderung des ursprünglichen Plans geworden war, und als Miller bemängelte, daß die drei sie nicht mehr bewältigen konnten, bot Sellars ohne zu zögern seine Hilfe an. Und er sagte ihnen auch, daß er von einem Mädchen wüßte, das sicher befeit wäre, mitzuhelfen — eine Detektivin namens Janis, die draußen auf Ihn warte. Sie sei schon einmal vorübergehend mit ihnen in Berührung gekommen, als sie ein gewisses Gyrotaxi bis zu einem gewissen Hause verfolgte... Miller lachte. „Wir hatten damals keine Ahnung, daß sie in irgendeiner Weise bedeutend war. Deswegen haben wir nur ganz wenig von ihren Erinnerungen getilgt. Hätten wir gewußt, daß sie an einer umfangreichen Untersuchung gegen uns beteiligt war, dann hätten wir Ihr Köpfchen sicherlich ganz anders umgekrempelt" Sellars mußte ebenfalls lachen. „Das ist auch so eine ungeklärte Sache", sagte er. „Warum haben Sie denn nicht ermittelt, was sie war, und haben sich nur mit der bloßen Vermutung begnügt, daß Ihnen von ihrer Seite keine ernstliche Gefahr der Entdeckung drohte?" Der Taxifahrer von damals breitete die Arme aus und ließ sie achselzuckend wieder sinken. „Aus dem einfachen Grunde, weil es hell war. Ich war nicht allein mit dem Mädchen. Hinter mir kam jemand, und ich hatte keine Ahnung, wie
viel Personen sich in den Vorgärten aufhielten, ohne daß ich sie sah. Ich hätte natürlich auch dicht an sie herangehen und sogar Gewalt brauchen können, und hinterher hätte ich alle Erinnerungen an diesen Vorfall im Gedächtnis aller Zeugen tilgen können. Aber vielleicht hätte sie geschrien und damit noch mehr Leute herangebracht, und ich hätte meine telepathischen Kräfte immer mehr in Anspruch nehmen müssen, bis ich mich in einer sehr schwierigen Lage befunden hätte. — Solche Sachen schwellen an wie eine Flut und übersteigen schnell auch unsere Fähigkeiten." „So meinte ich es nicht", sagte Sellars. „Ich meinte; warum haben Sie nicht festgestellt, was und wer sie war, indem Sie ihre Gedanken lasen?" Der Gruul lachte. „Aber das ist doch etwas, was wir nicht können, Sellars. Wir können dem Gedächtnis etwas hinzufügen, und wenn wir wissen, was drin ist, können wir auch etwas fort nehmen. Aber um festzustellen, was es enthält, müssen wir dieselben Methoden wie die Menschen anwenden." Er erhob sich und ging zu Sellars hinüber. „Ich bin sehr müde", sagte er „Wir Gruuls brauchen leider mehr Schlaf als ihr Menschen. Gehen Sie hinaus und holen Sie das Mädchen, und Miller und mein Gefährte werden sich mit ihr befassen und ihr alles erklären. Ich verlasse mich auf Ihr Urteil, und wenn sie nicht nur zuverlässig ist, sondern uns helfen will, würde es mich natürlich sehr freuen. Will sie uns nicht helfen, müssen wir leider alle Erinnerungen an uns bei ihr tilgen." „Sie wird helfen wollen", sagte Sellars mit Überzeugung. Der Gruul sah auf einmal ganz verlegen aus. „Da wir nun zusammen arbeiten werden", begann er etwas zögernd, „ist es besser, wenn wir uns kennen lernen. Ich habe hier den Namen Steve Montaguej, Miller kennen Sie; mein Gefährte ist Laurence Chapman. Unsere Gruul‐Namen wären in Ihrer Schrift lauter X, Y und Z, und darauf werden Sie wohl lieber verzichten. „Ich heiße Harry", sagte Sellars und verstand auf einmal, warum der Gruul so verlegen war. Er wollte Sellars die Hand geben, schien aber nicht den Mut dazu zu haben. Sellars nahm ihm seine Bedenken. Später, als er Janis hereingeholt hatte, fiel ihm ein, daß der Gruul nicht ohne Grund solche Scheu empfunden hatte. Es mußte ein seltsames Gefühl sein, jemandem die Hand zu geben den man hatte umbringen wollen. Drei Tage lang lebte Sellars versteckt in Barnes Haus, während Steve — so nannte er nun den ersten Gruul, den „Taxifahrer" — die notwendigen Korrekturen im Gedächtnis gewisser Leute vornahm, damit Sellars wieder ein freier
Mensch wurde. Janis blieb gar nichts anderes übrig, als das zu glauben, was ihr erzählt wurde, nachdem der zweite Gruul, Laurence, vor ihren Augen ein paarmal durch die feste Wand des Zimmers hin und her ging. Und zugleich mit dem Glauben entstand der Wunsch, mit zu helfen. Sellars entdeckte, daß Laurence nicht nur ein hervorragender Physiker, sondern auch in der Geschichte der Gruuls sehr bewandert war. Und während sich Sellars noch im Hause verbergen mußte, verbrachte er viele Stunden mit Laurence, in denen sie die Parallelen in der Entwicklung der beiden Planetenbevölkerungen verglichen. — Sie machten vorläufig keine weiteren Pläne, weil sie erst Steve das Beseitigen der Erinnerungen an Sellars angebliche Geisteskrankheit besorgen lassen wollten. Janis holte ihr Gepäck aus dem Zimmer, das sie nach der Flucht aus ihrer Wohnung gemietet hatte, und brachte es in Barnes Haus. Sie waren sich allerdings alle darüber im klaren, daß es unpraktisch, wenn nicht gar gefährlich war, wenn sie alle zusammen blieben. Barnes war ein Mann in einer Schlüsselposition, und Sellars wußte nur zu gut, wie häufig das Privatleben solcher Personen überprüft wurde. Es würde die Polizei sehr befremden, wenn ein ehemaliger kleiner Angestellter der Forschungsanstalt, der noch dazu wegen grober Fahrlässigkeit im Umgang mit Geheimsachen entlassen worden war, sich plötzlich im Hause des wichtigsten Physikers der Forschungsanstalt aufhielt. Außer diesem Risiko war es auch im Interesse ihres großen Planes besser, wenn sie sich trennten und jeder auf längere Zeit bestimmte Aufgaben für sich allein erledigte. Eines Abends ging Steve in dem Zimmer, in dem sie sich versammelt hatten, auf und ab und umriß den Plan, den er sich auf Grund der Vorschläge aller ausgedacht hatte. „Zuerst müssen wir einen Weg finden, die Grundlagen der Gruul‐ Wissenschaft einem Forscher einzuverleiben, der im Augenblick mit der Weiterentwicklung von Atomwaffen beschäftigt ist." Laurence, der auf dem niedrigen Fenstersims saß, nickte zustimmend. „Sehr richtig. Wir brauchen einen Mann, der hervorragende Kenntnisse in der Atomphysik, soweit sie von den Menschen erforscht ist, besitzt. Ein wirklich tüchtiger, intelligenter Mensch, der ein gewisses Quantum schöpferischer Phantasie besitzt, würde, wenn er ein oder zwei Ideen der Gruuls bekommt, imstande sein, Gruul‐Waffen zu erfinden, Oder er würde wenigstens imstande sein, die notwendige Theorie auszuarbeiten, mit der er die Regierung überzeugen könnte, daß es möglich ist, solche Waffen zu konstruieren."
„Aber im Augenblick führen wir keinen Krieg", warf Janis ein. „Warum glauben Sie, daß sich überhaupt jemand mit der Weiterentwicklung von Atomwaffen befaßt? Die Völker sind jetzt im Frieden miteinander." Sellars lachte heiser. „Ja, natürlich, sie sind im Frieden miteinander. Es kostet auch nicht viel Nachdenken, den Grund dafür zu finden. Alle Großmächte besitzen die Atombombe, die Wasserstoffbombe und die Superbombe. Alle haben Bakterienwaffen und radioaktiven Staub. Deshalb vertragen sie sich so gut. Sie können es sich auch gar nicht leisten, sich anders zu verhalten. Erst wenn einer etwas ganz Neues hat, das bedrohlicher ist als alles andere, kann er sagen: ,Ich habe diese neue Waffe, also sei gefügig und rück mit diesen oder jenen Dingen raus, denn sonst...!“ Steve nickte. „Nach dem, was ich bisher auf eurem Planeten beobachtet habe, stimmt das haargenau. Aber wenn es uns gelingt, die Sache mit den Superwaffen genauso zu handhaben wie die mit dem Superantrieb, wird es zu keinem Krieg auf der Erde kommen, denn es bekommt ja jeder die neuen Waffen, so daß das Gleichgewicht nicht gestört wird. Sobald die erste neu ,erfundene' Waffe auf einem Zeichenbrett in England steht, werden wir schon dafür sorgen, daß Kopien davon an alle anderen Interessenten gehen." „Aber wie wollen Sie denn die Informationen in die einzelnen Länder weitergeben?" fragte Sellars stirnrunzelnd. „Wir können doch in der Eile nicht gut einen geeigneten Atomphysiker in jedem Lande ausfindig machen und die Pläne in seine Hände schmuggeln! Und wenn wir dann mit unserer ,Spionen'‐Arbeit richtig anfangen, wird es nicht lange dauern, und wir sitzen alle hinter Gittern. Die Spionageabwehr ist auf der Höhe — ich war selber dabei und weiß, daß sie funktioniert. Ich sehe noch nicht einmal einen Weg, die Informationen über die Superwaffen an denjenigen Physiker in unserem eigenen Lande heran zu bringen, den Sie sich dazu auswählten, ihn die neuen Waffen erfinden zu lassen. Mit dem Superantrieb wird die Sache nun ziemlich einfach sein, denn Sie haben ja Barnes dafür vorbereitet, aber für die neuartigen Atomwaffen ..." „Können Sie nicht die Leiter des Atomforschungszentrums telepathisch beeinflussen, so daß einer von Ihnen als Atomforscher angestellt wird — genau so, wie Sie es mit der Leitung der Raumfahrt‐Forschungsanstalt wegen Barnes, gemacht haben?" fragte Janis die beiden Gruuls. Steve schüttelte den Kopf. „Leider nicht, Janis. Wir sind menschenähnlich, das ist richtig — aber wir sind keine Menschen. Es gibt eine ganze Anzahl grundlegender Unterschiede zwischen Gruuls und den
Menschen — anatomische Unterschiede und geistige Unterschiede und Unterschiede im Verhalten. Wir sind — außer von Ihnen — von niemandem als andersartig entdeckt worden, weil wir nicht immer von denselben Leuten gesehen worden sind. Wir müssen zum Beispiel acht zusammenhängende Stunden Schlaf in vierundzwanzig Stunden haben, Menschen dagegen kommen lange Zeit ohne Schlaf aus. Sie leiden zwar darunter, aber es ist ihnen technisch möglich. — Gruuls dagegen klappen einfach zusammen, wenn sie länger als sechzehn Stunden geistig oder körperlich arbeiten. Man würde auch körperliche Unterschiede bemerken, wenn ich zum Beispiel im Atomforschungslaboratorium arbeiten würde. Der Oberschenkel der Gruuls ist etwa zehn Zentimeter kürzer als ein Menschenoberschenkel. Das ist Ihnen bei mir nicht aufgefallen, denn Sie haben mich noch nicht lange beobachten können, es würde aber jedem auffallen, mit dem ich Tag für Tag zusammen bin. Noch etwas anderes: Sie haben mich nie das Augenlid bewegen sehen. Es ist Ihnen wohl auch nicht aufgefallen, daß ich nicht wie ein Mensch ein oder zweimal in der Minute mit dem Augenlid über den Augapfel fahren muß, aber irgendwann einmal würden Sie es doch bemerken." „Das heißt, auch die Augen der Gruuls sind anders gebaut?" fragte Sellars und bemühte sich, etwas zu erkennen. „Die Struktur des Auges selbst ist genügend ähnlich, um dem Vergleich stand zu halten, aber das Augenlid der Gruuls wird etwas anders benutzt. Kommt zum Beispiel ein Staubkorn durch die Luft geflogen, dann geht nicht einfach das Lid automatisch und unbewußt zu wie beim Menschen. Über dem Gruul‐Auge liegt ständig eine stärkere, durchsichtige Haut, die das Auge schützt, wie es das Augenlid beim Menschen tut, allerdings nicht ebenso gut — das Gruul‐Augenlid dagegen wird nur zum Schlafen benutzt, es klappt herunter und schließt das Auge von der Außenwelt ab." Laurence erhob sich vom Fensterbrett und reckte sich: „Er hat recht", sagte er. „Wir würden es nicht riskieren, selber eine Stellung anzunehmen. Er hat nur ein paar Unterschiede erwähnt, es gibt aber noch mehr. Miller hat nur drei Wochen gebraucht, um die wichtigsten zu entdecken — allerdings wußte er schon, daß wir keine Menschen sind." Sellars lenkte zum eigentlichen Thema zurück. „Wie können wir es dann einrichten, daß die Wissenschaftler in den verschiedensten Ländern die Informationen erhalten?" Miller schien die Lösung gefunden zu haben, denn er lächelte und warf dann ein: „Warum machen wir es denn nicht ganz einfach? Wenn einer mit den notwendigen Gruul‐Ideen geistig geimpft worden ist und zu arbeiten
angefangen hat, wird den Leuten in der Regierung, die über solche Dinge zu entscheiden und das Geld zu bewilligen haben, die nötige Begeisterung suggeriert. Wenn alles läuft und nicht mehr zum Erliegen kommen kann, wird alles, was für die anderen Länder wissenswert ist, auf einen Bogen geschrieben und der Bogen wie jeder x‐beliebige Privatbrief mit der gewöhnlichen Post an irgendeinen Wissenschaftler in dem betreffenden Lande geschickt, der auf diesem Gebiet arbeitet — die Adressen sind bei den Namen der Verfasser von Aufsätzen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften angegeben. Und die Fachzeitschriften aller Länder wiederum sind ja sehr einfach in Bibliotheken einzusehen, wenn sie nicht gar in unserer Forschungsanstalt geführt werden." Es klang fast zu einfach, schien aber ein brauchbarer Weg zu sein. „Wir müßten aber sehr vorsichtig sein, daß unter keinen Umständen heraus kommt, wer die Briefe abgeschickt hat", sagte Steve nachdenklich. „Keine Fingerabdrücke und so weiter. Aber sonst scheint es gar nicht übel zu sein. Außerdem müssen wir die Briefe jeweils im psychologisch richtigen Augenblick absenden, das heißt, wir müssen trotz unserer sonstigen Eingespanntheit in unsere Arbeit mit der politischen Entwickung der internationalen Beziehungen auf dem laufenden bleiben. Die Empfänger werden sich natürlich wundern, woher die Informationen kommen, aber das wird sie nicht hindern, davon Gebrauch zu machen.“ Das war der eigentliche Beginn ihrer Arbeit. Nur Laurence blieb fortan in dem Haus mit Barnes zusammen — er mußte bleiben, denn Barnes vergaß immer rascher und mußte bald noch öfter als alle drei Tage mit physikalischen Kenntnissen wieder aufgefüllt werden. Und Laurence war derjenige der beiden Gruuls, der selber genügend physikalische Kenntnisse besaß, um die Übertragung hinreichend rasch ausführen zu können. Miller arbeitete wie gewohnt in der Forschungsanstalt weiter, denn hätte er gefehlt, dann hätte es vielleicht Argwohn erregt — und es stand zuviel auf dem Spiel, um das riskieren zu können. Die anderen aber, Steve, Janis und Sellars, trennten sich — jeder hatte eine besondere Aufgabe an einem besonderen Ort, aber alle hatten sie das gleiche Ziel; die Abwehr des Gruuls‐Überfalls vorzubereiten. Steve beobachtete sorgfältig das Atom‐ forschungszentrum, das bei seiner Einrichtung vor einigen Jahrzehnten auf dem freien Lande gelegen hatte, bis zu dem aber inzwischen die Stadt hinausgewachsen war. Miller hatte ihn mit den notwendigsten Informationen versorgt — er hatte ihm gesagt, wer die wichtigsten Atom‐ forscher waren, und er hatte ihm Bilder aus wissenschaftlichen Zeit‐ schriften beschafft, mit deren Hilfe er die Forscher erkennen konnte, wenn
sie ihm begegneten. Steve lernte den Mann, den er brauchte, bald kennen. Er beobachtete ihn ein paar Tage lang, wie er mittags in ein nahe gelegenes Lokal essen ging — offensichtlich froh, wenigstens auf eine Stunde dem Alltag der Wissenschaft entronnen zu sein. Steve wußte schon von Miller, daß dieser Forscher unter seinesgleichen, als geachtetes und beneidetes Genie galt — nebenbei aber auch als leicht wahnsinnig, wie denn überhaupt Genie und Irrsinn häufig beieinander zu wohnen pflegen. Als Steve das hörte, mußte er lächeln, denn das würde die Verwirk‐ lichung seiner Absichten entscheidend erleichtern. Von einem Irren kann man eigentlich nichts anderes erwarten, als daß er sein Genie dazu mißbraucht, aus heiterem Himmel eine neue, noch furchtbarere Vernich‐ tungswaffe zu erfinden. Und deshalb übertrug er auf Ihn, wenn er ihm die Fähigkeit des Erinnerungslöschens von allen Zeugen unerkannt — ins Restaurant folgte, täglich große Portionen der Atomphysik, soweit sie den Menschen noch unbekannt, von den Gruuls aber erforscht war. Diese Bemühungen trugen bald Früchte. Hudson, so hieß der genial‐irre Forscher, erfand einen Lähmungs‐Strahlen‐Projektor, der nicht nur einen Menschen, oder zwei, sondern gleich Tausende auf einmal lähmen konnte. Zuvor hatte man nur recht einfache Geräte dieser Art bauen können, die zudem nur dann wirkten, wenn sich der Strahl in einem Medium von genügender Dichte fortpflanzen konnte — also zum Beispiel in Luft, nicht etwa in einem luftleeren Raum. Dr. Hudson zeigte jedoch zunächst theoretisch, daß sich dieses Hindernis überwinden ließ, und sobald es überwunden war, konnte man Lähmprojektoren bauen, die sich zur Bekämpfung feindlicher Raumschiffe verwenden ließen. Es gab natürlich keine feindlichen Raumschiffe — im Augenblick. Was aber, wenn einmal ein Krieg ausbrach? Ein Projektor, der in Sekundenbruchteilen die gesamte Besatzung eines feindlichen Raumschiffes zu hilflosen Statuen erstarren ließ, war dann ein höchst nützliches Instrument zur Verteidigung des Vaterlandes. Steve brauchte sich gar nicht anzustrengen, um einigen Mitgliedern der Regierung, die im Rüstungsausschuß saßen, diese Überzeugung beizubringen. Kaum mit einem Gedankenblitz angestoßen, lief das alte Rädchen in den Gehirnen dieser Politiker genau so munter wie bei ihren Vorgängern vor hundert oder zweihundert Jahren, und Dr. Hudsons Lähmungs‐ Großprojektor ging in die Massenproduktion. In der Forschungsanstalt selber machte ein anderer Physiker eine schöne Entdeckung. Dieser Physiker — Dr. Pilarcyzx, ein in England naturalisierter Pole —
hatte sich viele Jahre lang, in denen er keine beruflichen Erfolge hatte, mit dem Gedanken getröstet, daß er eines Tages, alt und grau und inzwischen durch viele wissenschaftliche Entdeckungen zu Ansehen gekommen, eine ganz große Entdeckung machen werde, die seinen Namen, solange es noch eine Zivilisation gab, unsterblich machen würde. Dr. Pilarcyzx hatte sich vorgenommen, zu beweisen, daß Einstein unrecht hatte und daß es durchaus möglich war, mit einer Geschwindigkeit zu fliegen, die größer war als die Lichtgeschwindigkeit, und daß dies keinerlei ernstzunehmende Folgen habe. — Lange, lange Zeit schon hatte dieser Physiker tief nachgedacht, Theorien aufgestellt und wieder verworfen, unendlich viel gerechnet und konstruiert, und doch war es ihm nicht einmal gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, daß ihm die Erreichung seines Ziels überhaupt möglich sei. Er war oft so verzweifelt, daß er meinte, sein überstrapazierter Verstand stehe still oder liefe gar rückwärts. Dann aber geschah es, Dr. Barnes hatte gerade seine Idee des Unitron‐Antriebs entwickelt und die ersten Konstruktionshinweise gegeben, mit denen es möglich sein würde, Unitron‐Aggregate in schon fertige Raumschiffe einzubauen und ihnen damit Geschwindigkeiten zu verleihen, die über allen bisher erreichten lagen. Als Dr. Pilarcyzx Barnes Idee in einem internen Vortrag vor den Forschern des Instituts kennen gelernt hatte, verließ er den Versammlungsraum zu Tode betrübt, obwohl er doch sozusagen der Geburt einer neuen Ära der Raumschifffahrt beigewohnt hatte. Es war immer und immer dieser Barnes, der die neuen, großartigen Ideen hatte! dachte Dr. Pilarcyzx, als er die noch über den neuen Unitron‐ Antrieb diskutierenden Kollegen verließ. Ich dagegen, dachte er, zerbreche mir Jahrelang den Kopf über praktische die gleiche Sache, aber mir fallt nichts ein — nicht mal die kleinste Kleinigkeit, die wenigstens bei Fachleuten nach mir genannt werden würde. Warum habe ich denn nicht den Unitron‐Antrieb erfunden? Als Barnes ihn erklärte, klang es unglaublich einfach. Aber wenn ich den Original‐Antrieb nicht erfinden konnte, vielleicht kann ich eine Abwandlung davon entdecken, die noch bessere Ergebnisse liefert? Oder vielleicht kann man den Unitron‐Antrieb mit einer anderen Sache verbinden und noch großartigere Erfolge erreichen? Er kehrte mit wirbelnden Gedanken in sein Arbeitszimmer zurück. Das Prinzip der Schwerkraft‐Umkehrung, auch so eine Entdeckung von Barnes, ließ sich doch sicher mit dem Unitron‐Antrieb verbinden. Schwerkraft‐Umkehrung war von der Masse abhängig, und ein Unitron hatte doch Masse, nicht wahr? So daß, wenn der Unitron‐Antrieb Energie zum Antrieb des Raumschiffes hergab ...
Papiere fingen an, auf Dr. Pilarcyzx' Schreibtisch hin und her zu fliegen, hier und da mit Formeln, mit Gleichungen und Berechnungen bekritzelt. Er arbeitete — und wie! Er vergaß sein Mittagessen, er schickte seine beiden Mitarbeiter, die er sonst meist hatte tun lassen, wozu sie gerade Lust hatten, in alle Winkel des Riesengebäudes, um Akten, Nachschlagewerke, Manuskripte und alle möglichen anderen Sorten wissenschaftlichen Materials in seine Klause herbei zu schaffen. Um siebzehn Uhr siebenundvierzig Minuten an diesem Montag in einem Sommermonat sah man Dr. Pilarcyzx zum erstenmal in seinem Leben rennen. Seine graue Mähne wehte hinter ihm her und fiel ihm ab und zu nach vorn über die Augen, unter einem Arm hatte er ein Bündel Papiere, mit dem anderen winkte er wild in der Gegend herum, als er Korridor um Korridor entlang lief, vor Freude krähte und ab und zu rief: „Ich hab's geschafft, ich hab's geschafft!" Miller hörte erst eine halbe Stunde später davon, denn der Freudentaumel hatte Dr. Pilarcyzx nicht bis in die Nähe des Archivs ge‐ führt. Er lächelte, weil es ihn freute, daß dem netten kleinen Polen gelungen, zu entdecken, daß eine Abwandlung von Barnes Unitronantrieb den unglaublich mächtigen Superantrieb ergab, wie ihn die Gruuls besaßen. Er teilte es den anderen mit, als er sie verabredungsgemäß an ihren verschiedenen Standorten anrief. Sein letzter Anruf galt Steve, der in diesen Tagen intensiv auf seinen Forscher, den Atom‐Hudson, einwirkte. Millers Anrufe waren keineswegs riskant; es konnte dabei nichts herauskommen. Sie hatten sich vorher verabredet, wie sie sich mit dem Codessystem verständigen wollten. „Wann ist denn Barnes Tante reisefähig?", fragte Steve belustigt, aber zugleich bemüht, die Heiterkeit seiner Stimme und Miene fernzuhalten. „In etwa drei Tagen, wurde gesagt. Sie ist dann in bester Verfassung", erwiderte Miller und beendete das Gespräch. Aus diesem scheinbaren Unsinn hatte Steve alles entnommen, was er wissen wollte. Er hatte erfahren, daß ein anderer als Barnes den Superantrieb entdeckt hatte, und daß in etwa drei Tagen der erste Plan davon der Regierung übergeben werden sollte. Für ihn bedeutete das, in drei Tagen einige der am besten dazu geeignete Regierungsleute zu finden und ihnen die notwendige Begeisterung ein zu flößen, so daß sie Feuer und Flamme sein würden, wenn sie den Superantrieb auf dem Papier zu sehen bekamen. Nachdem diese drei Tage vergangen waren, hatten die Konstrukteure Dr. Hudsons die Zeichnungen für den Lähmprojektor vollen‐ det, und Steve mußte daran gehen, Staatsbeamte dafür vorzubereiten. Aber es war wenig zusätzliche Begeisterung nötig — eine neue Waffe, so
etwas verstand jeder und war gern bereit, die nötigen Genehmigungen zur Produktion zu erteilen. Das, waren die ersten Geschenke der Gruuls für jene Lebewesen, denen sie helfen wollten, für die Menschen. Andere sollten nach und nach folgen, nicht alle auf einmal, das hätte mißtrauisch gemacht. Ihre „Entdeckung" oder „Erfindung" sollte sich auf drei Jahre verteilen, auf die Zeitspanne also, die nach Gruul‐Kolonisten mit ihren Raumschiffen eintrafen. Aber kehren wir zum Superantrieb zurück. Die Zeitungen und der Fernsehfunk hatten dies und jenes von einer neuen, überaus wirksamen Antriebsart hinten herum erfahren und berichteten ziemlich ausführlich darüber — das meiste eher erfunden als wahr. Am nächsten Tag schon berichteten ausländische Nachrichtendienste davon, unter schlagkräftigen Überschriften wie: „Wird Großbritannien führende Macht des Weltalls?", „Sind wir überflügelt worden?" und so weiter. Die britische Regierung hatte zu den Andeutungen in, den Zeitungen des eigenen Landes keine Stellung genommen, und was die ausländischen Blätter brachten, war im wesentlichen nur ein neuer Aufguß der alten Vermutungen über die Möglichkeit, schneller als Licht zu fliegen. Manche Nationen meinten, England versuche nur zu bluffen, und es sei gar kein sogenannter Superantrieb erfunden worden. Andere dagegen waren der Ansicht, von Bluff könne gar keine Rede sein Und es stecke etwas Ernst zu nehmendes dahinter. Das Wichtigste war, daß sich die Kriegsminister aller Staaten ernstlich die Köpfe zu zerbrechen anfingen, wie ein solcher Superantrieb, sollte es ihn geben, funktionierte. Und in diesem Punkt der Entwicklung begann Sellars Arbeit. Aus Stockholm sandte er zwei Briefe, deren Text ihm Laurence gegeben hatte — der eine ging an den Chefphysiker des amerikanischen Atom‐ forschungszentrums, der andere an einen wichtigen Mann in der amerikanischen Regierung. Ein oder zwei Wochen später verkündeten die Amerikaner, daß auch sie eine Kraftquelle entwickelt hätten, die Raumschiffen zumindest theoretisch eine Geschwindigkeit geben würde, die über der Lichtgeschwindigkeit lag. Die Briten schäumten, und die Regierung versuchte alles, heraus zu bekommen, wer der Verräter war — ohne Erfolg. Es war natürlich möglich, daß die Amerikaner ebenfalls an einem neuen Antrieb dieser Art gearbeitet hatten und daß die Entdeckung in England erfolgte. Möglich — gewiß. Aber nicht sehr. Der in England entdeckte Projektor für Lähmungen großen Ausmaßes war die nächste vermeintliche Panne der Spionageabwehr. Die Franzosen „erfanden" das
Gerät ebenfalls — dank der freundlichen Mithilfe von Sellars, der zum richtigen Zeitpunkt ein harmlos aussehendes Briefchen auf den Weg schickte. Sellars und Janis arbeiteten nach verabredetem Plan, aber unabhängig voneinander, daran, die höchsten Rüstungsgeheimnisse, die von den Gruuls inspiriert waren, möglichst gründlich unter den rivalisierenden Nationen zu verbreiten, während Steve von Land zu Land eilte, um hier und dort den Wissenschaftlern ein paar Brocken Gruul‐Physik zu inspirieren, damit nicht alles in einem Land erfunden wurde. Die Wissenschaftler waren von dem, was sie entdeckten, so begeistert, daß sie sich überhaupt darüber wunderten, daß sie die fabelhaftesten Erfindungen fast mühelos sozusagen aus der Luft griffen. An sein Genie glaubt eben Jeder gern... Überall tauchten neue, technisch wundervolle, doch entsetzliche grausame Waffen auf, und es schien — nach ihrer raschen Verbreitung auf der ganzen Erde zu schließen — die Spionage zu blühen wie noch nie. Das schien aber nur so, denn in Wirklichkeit blieb den Spionen fast nichts mehr zu tun, weil Sellars und Janis mit der Schlagkraft des gelernten Geheimpolizisten und der Detektivin unter Verzicht auf alle Judaslöhne als reine Menschenfreunde für eine gleichmäßige Aufrüstung aller Nationen, die alle irdischen Kriege sinnlos machte, sorgten. Die Regierungen befahlen ohne Ausnahme immer stärkere Aufrüstung — stets mit ängstlichen Seitenblicken auf die Fortschritte der Nachbarstaaten auf diesem Gebiet. Superantrieb wurde in alle Raumschiffe gebaut; die Waffenarsenale gingen fast aus den Fugen, so stapelten sich die Waffen darin, und erst in einzelnen, dann in vielen, regte sich der gesunde Menschenverstand und fragte, ob dieser Rüstungswettlauf sinnvoll sei. Wir wissen, sagten die Regierungen aller Staaten zu ihren Untertanen, daß augenblicklich nirgendwo ein Krieg ist. Aber seht, wie die anderen rüsten — es wäre Selbstmord, wenn wir nicht Schritt halten. Wir müssen vorbereitet sein! Denn anders würden wir vernichtet. Die Nerven aller Menschen wurden immer stärker gereizt durch die bedrohlich klingenden Meldungen in Zeitungen und Nachrichtendiensten — etwa, daß dieser oder jener das eine oder andere Land geschmäht und der Kriegstreiberei beschuldigt habe, während sein Land in der Rüstung an der Spitze stehe. Es war, als verdunkle der Horizont ringsum — nicht nur an einer Stelle, so daß man das Gewitter im Auge behalten konnte —, sondern überall, so daß es keinen Schutz und keine Zuflucht geben konnte. Dann begann das dritte Jahr von diesen dreien, in denen die Raumschifffahrt und die Waffentechnik so überraschende Fortschritte machten.
Das Schlimmste war, daß sie einfach vergessen hatten, in den Menschen mehr als Figuren in dem Spiel zu sehen, das sie ihnen zuliebe spielten, um sie auf den Angriff der Gruuls vorzubereiten. Es war ein verheerender Fehler. Miller war der erste, dem das klar wurde. Er machte sich schwere Sorgen über die ganz unerwünschte Entwicklung der Dinge, aber da die anderen wer weiß wo waren, konnte er sich nicht mit ihnen in Verbindung setzen und ihnen seine Befürchtungen mitteilen. Außerdem war es sehr fraglich, ob sich noch etwas ändern und das Rad der Entwicklung zurückdrehen ließ. Sellars machte sich gegen Ende des dritten Jahres ebenfalls Gedanken, und auch er erkannte, daß sich nichts mehr ändern ließ. Qb Steve und Laurence seine Bedenken teilten? Wahrscheinlich nicht. Sie waren nicht Menschen, sondern Gruuls, und außerdem intensiv damit beschäftigt, Gruul‐Wissen den Menschen einzuverleiben. Sie hätten wohl auch gar nicht die Spannungen der politischen Atmospähre nachempfinden können, da die solcher kleinlicher Kämpfe auf ihrem eigenen Planeten seit vielen Generationen entwöhnt waren. Was ihm und Miller die größten Sorgen machte, war folgende Überlegung: was würde geschehen, wenn die Gruuls erst lange nach Steves und Laurences Flucht den Superantrieb entdeckt hatten? Steve hatte gesagt, es werde etwa drei Jahre dauern, bis alle Gruul‐Raum‐schiffe mit Superantrieb ausgerüstet und die Kolonisten ausgewählt und zu Schiffsbesatzungen zusammengestellt waren, und ferner war in der Frist von drei Jahren die Reisedauer bis zum Sonnensystem einkalkuliert. Aber diese Berechnung fußte doch auf der Annahme, daß der Superantrieb von den Gruuls nur kurze Zeit nach Laurences Erfindung des Superantriebes erfunden wurde. Und Laurence hatte einen ganz anderen Weg bei seiner Suche verfolgt — so hatte er wenigstens selber gesagt. Und das konnte be‐ deuten, daß die Gruuls vielleicht erst in vielen Jahren den Superantrieb erfinden würden. Wenn sie dann zur Erde kamen, würden sie nicht mehr viel finden, was sie interessierte. Das Rüstungsrennen stand jetzt, am Ende des dritten Jahres vor dem Finish. Jede Waffe, die die Gruuls besaßen, war noch durch Steves und Laurences Bemühungen auch Besitz der Menschen. Und diese Waffen mußten, so, wie es immer gewesen war, zu einem Kriege führen, dessen Ursache ganz bedeutungslos sein konnte, wenn sie nur von einer geschickten Propaganda aus ihrer Mückengröße elefantenhaft aufgeblasen wurde. Wenn sich Sellars in einer halbwegs ruhigen Minute selbst beobachtete,
merkte er zu seinem Schrecken, daß er tief im Innern sehnlichst wünschte, daß die Gruul‐Schiffe endlich kämen. Aber nirgends wurden fremde Raumschiffe gemeldet, und selbst wenn welche gesehen worden wären, mochte es noch so zu bezweifeln sein, ob sie die nötige Aufmerksamkeit erregten. Die beiden Gruuls und ihre menschlichen Verbündeten hatten verabredet, sich an einem bestimmten Tage am Ende des dritten Jahres in Barnes Haus zu treffen, wenn ihre Arbeit vollendet war und nicht die Ankunft der Gruul‐Schiffe dazwischen kam. Sellars kam aus Australien, Janis aus Indien, Steve aus Frankreich zu ihrer letzten Zusammenkunft, ehe sie in ihr privates Leben zurückkehrten mit der Gewißheit, ihr möglichstes getan zu haben, was den Menschen half, des Angriff der Gruuls abzuwehren. Zumindest war das der ursprüngliche Gedanke gewesen Als sie nun wirklich zusammen kamen, war ihre Stimmung ganz anders. Besonders Sellars war bedrückt, denn er hatte die Idee des Abwehrkampfes statt einer Flucht aufgebracht. In ihnen allen lag aber die Furcht, sich entsetzlich schuldig gemacht zu haben — wenn es zu einem Krieg der Erdnationen untereinander kam. Steve wußte jedoch eine Antwort auf dieses Problem. Er erzählte, daß die Gruuls, ehe er und Laurence sie verlassen hatten, noch etwas anderes außer dem Superantrieb suchten, und das war ein wirksamer Schutz vor ihren eigenen Waffen. Sie waren schließlich kluge Leute und sagten sich, daß es durchaus einmal zu Unzufriedenheiten kommen könnte, bei denen sich Kolonien gegen den Mutterplaneten erheben und gegen ihn erbeutete Raumschiffe und Waffen verwenden würden. Und deshalb wurde nach einem Schutz vor diesen Waffen gesucht. „Kein Metall, und sei es noch so stark, und kein Beton oder Mauerwerk kann vor diesen Atomwaffen Schutz bieten. Was würden Sie dann nehmen?" „Kraft“, sagte Miller. „Ich weiß, was Sie meinen — ein Kraftfeld. Eine Menge von unseren Leuten, die sich mit Atomforschung beschäftigen, haben das auch versucht. Allerdings völlig vergeblich. Ich weiß es, denn so manches sickert durch, obwohl es nicht sollte." Steve sah zu Laurence hinüber, der reglos in seinem Sessel lehnte. „Und wie ist es mit dir? Hast du nicht mal ein bißchen Atomphysik getrieben, ehe du dich an der Superantrieb‐Forschung beteiligtest? — Wie weit sind die Gruuls mit ihrer Abwehr gekommen?" Laurence lachte. „Anscheinend nicht weiter als die Menschen." „Auf jeden Fall aber würde es den Ausbruch eines Krieges auf der Erde verzögern, das steht
fest", sagte Laurence. „Ich kann mir allerdings noch nicht vorstellen, wie ich einen Feldprojektor konstruieren soll, wenn selbst die besten Physiker der Gruuls bei dieser Absicht versagt haben." Aber Laurence hätte sich keine Sorgen deswegen machen brauchen. Es war nicht mehr nötig, einen Schutzprojektor zu erfinden. Es gab ihn schon — die Zeitungen meldeten, Australien sei seit sieben Jahren im Besitz des Abwehrfeldes und habe seither seine Städte und Industrieanlagen damit ausgerüstet. Und die australische Regierung zögerte nicht, allgemeine Friedfertigkeit zu empfehlen, denn er werde — zusammen mit gewissen anderen Staaten, mit denen es durch geheime Abmachungen verbündet sei — jeden Friedensbrecher aufs schwerste bekriegen und dank seiner Schutzanlagen den Krieg zweifellos gewinnen, da es ebenso wie seine Verbündeten sich gegen Atomangriffe schützen könne. Und elf Monate und drei Tage nach dieser australischen Erklärung wurde das erste fremde Raumschiff gesichtet. Es war der Vorläufer der Gruul‐Kolonistenflotte. Drei Wochen zuvor hatten Sellars und Janis geheiratet. Steve und Laurence kannten einen Teil der Invasionspläne, wenigstens in großen Zügen. Der erste Schritt war die Untersuchung des neuen Planeten durch ein Aufklärungsschiff, mit dessen Verlust die Gruuls rechneten. Es sollte die Erde und die Planeten in ihrer Nähe untersuchen daraufhin, ob sie bewohnt und welches Kolonien, welches Stammplaneten waren. Steve wußte, daß die Landung auf dem Planeten beabsichtigt war, der die geringste Zahl von Kolonisten trug. Widerstand sollte mit Gewalt gebrochen, Widerstandslosigkeit durch eine freundliche Behandlung belohnt werden, — und an den Gefangenen sollten die mitgeführten Wissenschaftler den erreichten Entwicklungszustand und die technischen Fähigkeiten untersuchen. Steves Prophezeihung ging in Erfüllung. Das Auf‐ klärungsschiff wurde zuerst von einem Transportschiff bemerkt, das von der Erde zur Marskolonie flog. Der Kapitän meldete es der Station auf dem Mars, und von dort wurde die Meldung zur Erde weitergegeben. Steve und Laurence sorgten sofort dafür, daß die Abwehrfelder wirksam wurden. Als die Gruul‐Schiffe ihren Überraschungsangriff starteten, stießen sie auf erbitterten Widerstand. Die Erdbevölkerung setzte die neuesten Waffen gegen die Gruuls ein und konnte sich von der Effektivität der Verteidigungsmaßnahmen überzeugen. Der Himmel war ein flammendes Inferno, in dem die riesigen fremden Raumschiffe pulverisiert wurden. Die Erde behielt ihre Freiheit. ENDE