Winfried Marotzki · Horst Niesyto (Hrsg.) Bildinterpretation und Bildverstehen
Medienbildung und Gesellschaft Band 2 H...
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Winfried Marotzki · Horst Niesyto (Hrsg.) Bildinterpretation und Bildverstehen
Medienbildung und Gesellschaft Band 2 Herausgegeben von Johannes Fromme Winfried Marotzki Norbert Meder Dorothee M. Meister Uwe Sander
Winfried Marotzki Horst Niesyto (Hrsg.)
Bildinterpretation und Bildverstehen Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunstund medienpädagogischer Perspektive
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage Dezember 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Stefanie Laux Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-15106-1 ISBN-13 978-3-531-15106-9
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ............................................................................................................7 Winfried Marotzki/Katja Stoetzer Die Geschichten hinter den Bildern. Annäherungen an eine Methode und Methodologie der Bildinterpretation in biographie- und bildungstheoretischer Absicht......................................15 Ralf Bohnsack Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation in der Forschungspraxis.......................................................................................45 Hubert Sowa/Bettina Uhlig Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik ..........................................................77 Alfred Holzbrecher/Sandra Tell Jugendfotos verstehen. Bildhermeneutik in der medienpädagogischen Arbeit .......................................................................107 Georg Peez Fotoanalyse nach Verfahrensprinzipien der Objektiven Hermeneutik ...................................................................................................121 Ulrike Stutz Beteiligte Blicke – Ästhetische Annäherungen in qualitativen empirischen Untersuchungen .................................................143
Peter Holzwarth Fotografie als visueller Zugang zu Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund....................175 Burkhard Fuhs Narratives Bildverstehen. Plädoyer für die erzählende Dimension der Fotografie.............................................................................207 Ulrike Pilarczyk Selbstbilder im Vergleich. Junge Fotograf/innen in der DDR und in der Bundesrepublik vor 1989................................................227 Horst Niesyto Bildverstehen als mehrdimensionaler Prozess. Vergleichende Auswertung von Bildinterpretationen und methodische Reflexion..........................................................................253 Autorenverzeichnis ........................................................................................287
Einleitung Bilder und Bilderfahrungen sind heute zentraler Bestandteil der Wahrnehmung, der Wirklichkeitserfahrung und des kommunikativen Austauschs von Kindern und Jugendlichen. Es geht nicht nur um Bilder im Bereich der massenmedialen Kommunikation, sondern auch um Bildproduktionen und Bilderfahrungen in alltäglichen Lebenskontexten. Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse werden heute viel stärker als früher durch Bilder beeinflusst. Bilder repräsentieren nicht nur Vorstellungen über Wirklichkeit, mittels Bilder wird kommuniziert und Wirklichkeit konstruiert. Die Mediatisierung der Gesellschaft und die zunehmende Bedeutung von Bildmedien lassen eine Haltung der „Bildabstinenz“ nicht weiter zu – eine Haltung, die im vergangenen Jahrhundert in großen Teilen der Erziehungswissenschaft verbreitet war. Während es in der visuellen Anthropologie und in der visuellen Soziologie seit langem Erfahrungswerte und methodische Reflexionen über den forschungsbezogenen Einsatz visueller Medien gibt, mangelt es im erziehungswissenschaftlichen Bereich an einem entsprechenden Diskurs. Die „Bildvergessenheit“ der Erziehungswissenschaft hat eine lange Tradition und die Kluft zwischen der Sprach- und Symbolsozialisation vieler Wissenschaftler/ innen und medienbezogenen Wahrnehmungsweisen und Ausdrucksformen bei Kindern und Jugendlichen ist beträchtlich. In den letzten Jahren nahm allerdings im erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Bereich die Bereitschaft zu, sich mit visuellen und audiovisuellen Medien auseinanderzusetzen. Insbesondere subjektorientierte Forschungsan-sätze integrierten Bildmedien in Forschungsdesigns und gaben Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, eigene Gefühle, Erfahrungen, Phantasien mittels Medien auszudrücken. Die Palette der Möglichkeiten reicht vom Einbeziehen von Fotos in Interviews und Gruppendiskussionen („photo-elicitation“) über foto- und videografische Dokumentationen bis hin zu Videoclips und multimedialen Produktionen. Der Forschung bietet sich die Gelegenheit, in der Begleitung, Dokumentation und Auswertung der Eigenproduktionen und der damit verbundenen Prozesse neue Zugänge zum Welterleben von Kindern und Jugendlichen zu erhalten. So öffnete sich vor allem die Jugendforschung in mehreren Projekten für (audio)visuelle Eigenproduktionen. Neben der Frage des Zustandekommens, der Qualität und der Aussagekraft medialer Eigenproduktionen ist die Frage der Interpretation solcher Produktionen von großer Bedeutung. Während die Methoden zum Sprach- und 7
Textverstehen relativ gut ausgearbeitet sind, trifft dies für Methoden zur Bildinterpretation im Kontext erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Forschung nicht zu. Diese Aussage bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Eigenproduktionen, sondern auf visuelles und audiovisuelles Material insgesamt. Zwar gibt es ausgearbeitete Traditionen für die Bildinterpretation in der Kunstwissenschaft und für Filminterpretation in der Filmwissenschaft, aber hier liegen andere Fragestellungen zugrunde. Im Laufe einer stärkeren Hinwendung zu visuellen Materialien und inspiriert durch Modelle der Kunst- und Filmwissenschaft, der Medienwissenschaft, der Visuellen Anthropologie und Soziologie sowie der Cultural Studies haben sich in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum erste sozial-, erziehungs- und medientheoretische Versuche entwickelt, visuelles Material in Forschungskontexten methodisch ernster zu nehmen. Ausdruck davon sind Publikationen wie das Handbuch „Foto- und Filmanalyse in der Erziehungswissenschaft“ (Ehrenspeck/Schäffer 2003), die Tagungsdokumentation „Selbstausdruck mit Medien“ (Niesyto 2001) sowie Themenschwerpunkte in wissenschaftlichen Fachzeitschriften.1 Die überregionale Fachtagung „Bildinterpretation“, die am 29. und 30. April 2004 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg stattfand, knüpfte an diesen Diskursen an. Die Tagung konzentrierte sich auf das Medium Fotografie und bot interessierten Wissenschaftler/innen die Gelegenheit, sich intensiv mit methodischen Fragen der Analyse und des Verstehens von Fotos zu befassen, die vor allem von Kindern und Jugendlichen erstellt wurden. Ziel der Tagung war es, vorhandene Ansätze der Fotoanalyse und der Bildhermeneutik kennen zu lernen und vergleichend zu diskutieren. Für die Vorträge und die verschriftlichten Beiträge wurden die Autorinnen und Autoren um einen „Dreischritt“ gebeten: a) Darstellung des eigenen methodischen Modells, b) Anwendung des Modells auf ein Fotobeispiel aus der eigenen Forschungsarbeit und c) Anwendung des Modells auf ein oder zwei Fotos aus einem anderen Forschungsprojekt. Peter Holzwarth und Horst Niesyto wählten hierfür aus dem EU-Forschungsprojekt CHICAM2 drei Fotos aus: 1
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Vgl. die Themenschwerpunkte zu „Methodologische Forschungsansätze“ (Ausgabe 1/2001) und zu „Visuelle Methoden in der Forschung“ (Ausgabe 1/2004) im Onlinemagazin „MedienPädagogik“ sowie der Themenschwerpunkt „Methoden der Bildinterpretation“ in der „Zeitschrift für Qualitative Bildungs, Beratungs- und Sozialforschung“ (Heft 1/2004). Nach Erstellen der meisten Manuskripte für diesen Band sind weitere Publikationen zur Fotoanalyse erschienen, u.a. „Das reflektierte Bild“ von Pilarczyk/Mietzner (2005).
Foto 1
Foto 2
Foto 3
Die Vortragenden erhielten als Kontextinformation lediglich den Hinweis: „Die Fotos stammen aus einem Forschungsprojekt über die Lebenswelt von Kindern aus Migrationskontexten“. Die Tagungsleitung verzichtete bewusst auf weitere Kontextinformationen, um Möglichkeiten und Grenzen bildbezogener und bildimmanenter Analysen besser ausloten zu können. Die Tagung erhielt hierdurch ein Stück weit einen Workshop-Charakter und bot anwendungsbezogene Einblicke in verschiedene methodische Ansätze und Modelle. Winfried Marotzki und Katja Stoetzer stellen ein Modell der „Bildinterpretation in biographie- und bildungstheoretischer Absicht“ vor, das in vielen Seminaren erprobt wurde: ausgehend von Objektbeschreibungen, die konventionelle Bedeutungsgehalte des Dargestellten möglichst einklammern, werden in einem zweiten Schritt Hypothesen und Lesarten über die Ordnung der Objekte entwickelt (Konstruktion von Sinnzusammenhängen/Narrativen), um in einem dritten Schritt in einer Formanalyse die Bildinszenierung in Verbindung mit Bedeutungsgehalten herauszuarbeiten. Der letzte Schritt der „bildungstheoretisch orientierten Analyse der Selbst- und Weltreferenzen“ möchte den gesellschaftlichen Gehalt des Bildes erhellen und benennt zeitund epochenbedingte Bezüge. Der Beitrag bietet exemplarische Einzelbildinterpretationen zu einem Foto aus dem Dissertationsprojekt von Katja Stoetzer („Raumbiographien“) sowie zu dem Foto 1 aus dem CHICAM-Projekt. 2
CHICAM war ein EU-Forschungsprojekt, das jungen Migrantinnen und Migranten aus verschiedenen Ländern die Möglichkeit bot, Fotos und Videos über ihr Leben zu erstellen und über ein Intranet zu kommunizieren (vgl. www.chicam.net und www.ph-ludwigsburg.de/medien1/chicam/). 9
Ralf Bohnsack bezieht sich in dem von ihm entwickelten Modell „Dokumentarische Methode der Bildinterpretation“ vor allem auf kunstwissenschaftliche Überlegungen bei Erwin Panfosky und Max Imdahl und intendiert – unter Bezug auf die dokumentarische Methode des Soziologen Karl Mannheim – die Analyse der Eigensinnigkeit und Eigengesetzlichkeit von Bildern. Bohnsack stellt ein mehrstufiges Analyseverfahren vor, das in mehreren Schichtungen mit einer „formulierenden Interpretation“ beginnt und in einer „reflektierenden Interpretation“ die formale Komposition eines Fotos (planimetrische Komposition, perspektivische Projektion, szenische Choreographie) und den „ikonologisch-ikonischen“ Gehalt eines Bildes bildimmanent herausarbeitet. Das Modell wird auf die Fotos 2 und 3 aus dem CHICAMProjekt in Detailanalysen angewendet. Hubert Sowa und Bettina Uhlig thematisieren in ihrem Beitrag „Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik“. Im Unterschied zu Bohnsack und Marotzki/Stoetzer betonen sie die Kontextgebundenheit von Bildern, die als substantielle und nicht nur akzidentielle Bildbestandteile zu betrachten seien. Bildproduktion, Bildpräsentation, Bildrezeption, Bildkommunikation und Bildwirkung sind in dieser bildpragmatischen Perspektive als Ganzes zu betrachten, wobei zwischen kunstwissenschaftlicher und kunstpädagogischer Bildhermeneutik zu unterscheiden sei. Da Sowa & Uhlig die Möglichkeiten einer primär bildimmanenten Erschließung von Bedeutungsgehalten für sehr begrenzt halten, weisen sie auf den hypothetischen Charakter ihrer Interpretation zu dem CHICAM-Projektfoto 2 hin. Alfred Holzbrecher und Sandra Tell verweisen ebenfalls auf die Relevanz verschiedener Dimensionen von Kontextwissen für ein tieferes Verständnis von Bildgehalten. Ihr bildhermeneutischer Ansatz, der im Rahmen einer medienpädagogischen Projektarbeit entstand, lehnt sich an das kommunikationswissenschaftliche Modell von Friedemann Schulz-von Thun an und interpretiert Foto-Eigenproduktionen von Jugendlichen auf einer „Sachebene“, einer „Selbstoffenbarungsebene“, einer „Appellebene“ und einer „Beziehungsebene“. Der Ansatz folgt Methoden ethnografischen Fremdverstehens und intendiert das Erschließen von Tiefendimensionen, die in den selbst erstellten Fotos zum Ausdruck kommen. Auch Holzbrecher & Tell betonen den hypothetischen und spekulativen Charakter eines Teils ihrer Aussagen zum Foto 3 aus dem CHICAM-Projekt. Georg Peez stellt in seinem Beitrag „Fotoanalyse nach Verfahrensprinzipien der Objektiven Hermeneutik“ zunächst methodische Überlegungen vor, die 10
die sequenzanalytische Vorgehensweise auf die spezifische Qualität von Fotos bezieht: der Interpret folgt den eigenen Blickrichtungen bei der Bildbetrachtung, beschreibt auf diesen „ikonischen Pfaden“ Gegenstände, Personen, Kompositionselemente und gelangt auf diesem „bildsequentiellen“ Wege zu ersten Deutungen, die sich beim Schreiben zu Interpretationen verdichten. Peez wendet diese Methode auf ein Foto aus einem kunstpädagogischen Projekt und auf das Foto 3 aus dem CHICAM-Projekt an. Er betont die weitgehende Kontextfreiheit im Verfahrensprinzip der Objektiven Hermeneutik, hält aber bei Fotos die Berücksichtigung von Kontextwissen für notwendig, da Fotos keinen Einblick in zeitliche Abfolgen (Handlungen, Prozesse) geben. Ulrike Stutz rekurriert in ihrem Beitrag über „Beteiligte Blicke – Ästhetische Annäherungen in qualitativen empirischen Untersuchungen“ auf kunstwissenschaftlich-rezeptionsästhetische und kunstpädagogisch-handlungsorientierte Auslegungsmethoden. Sie begreift Bildverstehen nicht als sequentiellen, sondern als zirkulären Prozess der Annäherung an Bilder mit ästhetischen und sprachlichen Mitteln. Im Nachzeichnen von Umriss- und Konstruktionslinien („ästhetische Percept-Bildung“ mittels grafischer Bildbearbeitungen) sieht Stutz einen bildadäquaten Weg zur Dokumentation des Auseinandersetzungsprozesses bei der Erschließung von Bildgehalten (Schritte: erste Eindrücke, formale Betrachtungen, semantische Betrachtungen). Die Methode wird an Foto-Beispielen aus dem kunstpädagogischen Projekt „Begegnungen“ und am Foto 1 aus dem CHICAM-Projekt angewendet. Peter Holzwarth argumentiert in seinem Beitrag „Fotografie als visueller Zugang zu Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ nicht primär bildimmanent, sondern verdeutlicht die Relevanz projektinternen und -externen Kontextwissens für sozialwissenschaftliche Bildinterpretationen. Als CHICAM-Projektmitarbeiter dokumentierte er zahlreiche Projektaktivitäten. Durch Hinzuziehen von projektspezifischen visuellen Materialien, Sequenzen aus der Intranet-Kommunikation der Jugendlichen, Selbstaussagen der Jugendlichen, Notizen aus der teilnehmenden Beobachtung entwickelt er weitere Lesarten zu den drei CHICAM-Projektfotos. Zugleich macht er deutlich, dass gerade bei ethnografisch orientierten Projekten externe, „naive“ Betrachter wichtig sein können, wenn die im Feld Forschenden stark in den Entstehungsprozess von Fotos involviert sind und es mitunter nicht einfach ist, immer wieder eine „künstlich“-naive, distanzierte Haltung bei Bildinterpretationen einzunehmen. 11
Nach diesen Beiträgen, die alle auf die CHICAM-Fotos eingehen, folgen zwei Beiträge von Burkhard Fuhs und Ulrike Pilarczyk, die ebenfalls die Kontextrelevanz von Bildanalysen betonen. Burkhard Fuhs konzentriert sich in seinem Beitrag „Narratives Bildverstehen“ auf grundsätzliche Überlegungen und plädiert für die „erzählende Dimension der Fotografie“. Er zeigt auf, dass Bildinterpretationen, die das Einzelbild und seine Komposition untersuchen, unzureichend sind. Fuhs begründet dies mit dem Hinweis auf die Situation globaler Bildkommunikation, in der wir uns heute befinden. Am Beispiel einer kritischen Auseinandersetzung mit einem von Ralf Bohnsack an anderer Stelle analysierten Foto („Heidi“) zeigt er auf, wie dieses Foto Teil einer multimedialen Inszenierung ist, das nur als Teil einer Serie und einer neuen, multimedialen visuellen Kultur zu verstehen ist. „Da Fotos die Vielschichtigkeit heutiger Gesellschaften abbilden, muss davon ausgegangen werden, dass sie selbst Träger vielschichtiger und ambivalenter Inhalte sind“ (Fuhs). Die Schlussfolgerung: Der Erzählkontext eines Fotos ist wesentlich für sein Verständnis. Ulrike Pilarczyk knüpft in ihrem Beitrag an dem Vortrag an, den ihre Kollegin Ulrike Mietzner auf der Tagung hielt. Unter dem Thema „Selbstbilder im Vergleich. Junge Fotograf/innen in der DDR und in der Bundesrepublik vor 1989“ führt sie in die seriell-ikonografische Fotoanalyse ein, die zwei methodische Herangehensweisen kennzeichnet: die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation und die serielle Analyse. Dieses abgestufte Verfahren wird an einem Projektbeispiel vorgestellt, das nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in Sichtweisen und Selbstbildern von Jugendlichen in Ostund Westdeutschland auf der Basis von selbst erstellten Fotografien fragte. Der Beitrag verdeutlicht sowohl die Notwendigkeit sorgfältiger Foto-Auswahlprozesse und präziser Bildbeschreibungen (formal und inhaltlich), die Integration intuitiver Arbeitsweisen, die Erhebung von Kontextwissen und die Prüfung von Hypothesen an Referenzbeständen (serielle Analyse), um zu plausiblen Bildinterpretationen zu gelangen. Horst Niesyto bietet im abschließenden Beitrag über „Bildverstehen als mehrdimensionaler Prozess“ eine vergleiche Auswertung verschiedener Interpretationen, die in den vorigen Beiträgen zu CHICAM-Projektfotos entwickelt wurden. Er verbindet damit nicht den Anspruch einer abschließenden „Gültigkeitsprüfung“ von Lesarten, sondern akzentuiert einige methodische Punkte im Sinne einer vorläufigen Zwischenbilanz. Dabei wird deutlich, dass bildsprachlich-analytische und alltagskulturell-hermeneutische Ansätze unterschiedlichen Forschungslogiken folgen. Beide Vorgehensweisen enthalten 12
jedoch methodische Schritte, die für einen lebensweltorientierten Ansatz der Bildhermeneutik von Eigenproduktionen fruchtbar gemacht werden können. Hierzu skizziert Niesyto ein methodisches „Grundgerüst“, das Formen des Erstverstehens, Bildbeschreibungen und Formanalysen, Symbolverstehen, Kontextwissen und eine intersubjektive Überprüfung von Lesarten integriert. Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser dieses Buchs durch die gewählte Form der Dokumentation einen Einblick in aktuelle forschungsmethodische Diskurse zu Fragen der Bildinterpretation erhalten und zu eigenen Überlegungen für Bildinterpretationen im Rahmen von Seminaren und Projekten angeregt werden. Abschließend möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge bedanken und hoffen, dass der begonnene methodische Diskurs in ähnlich konkreter und gewinnbringen-der Form in künftigen Tagungen, Forschungswerkstätten und Publikationen fortgesetzt werden kann. Horst Niesyto und Winfried Marotzki Ludwigsburg/Magdeburg im Juni 2006
Literatur Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (Hrsg.) (2003): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen (Leske+Budrich). Niesyto, Horst (2001): Selbstausdruck mit Medien. Eigenproduktionen mit Medien als Gegenstand der Kindheits- und Jugendforschung. München (KoPäd). Pilarczyk, Ulrike/Mietzner, Ulrike (2005): Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn (Klinkhardt).
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Winfried Marotzki/Katja Stoetzer
Die Geschichten hinter den Bildern. Annäherungen an eine Methode und Methodologie der Bildinterpretation in biographie- und bildungstheoretischer Absicht 1.
Einleitung
Die Bedeutung der Bilder in der öffentlichen Kommunikation hat sich in den letzten Jahren stark geändert. Das gilt sowohl für die Quantität wie auch für die qualitative Bedeutung. Eine neue Information ohne entsprechende Bilder scheint in den Nachrichten des Fernsehens kaum denkbar, und wenn keine Bilder vorliegen, weil das Ereignis noch zu neu ist, entschuldigt sich die Nachrichtensprecherin oder der Nachrichtensprecher dafür. Erst das Bild scheint uns ein Ereignis wirklich nahe zu bringen, erst durch das Bild scheint uns ein Ereignis wirklich zum Ereignis zu werden. Die moderne medial vermittelte Kommunikation im öffentlichen Raum ist ohne Bilder nicht mehr denkbar. Diese Macht der Bilder haben wir längst akzeptiert. Aber wie sieht es mit unserer Fähigkeit aus, diese Bilder zu „lesen“ und zu interpretieren? Wahrscheinlich müssen wir einräumen, dass diese Fähigkeit in methodischer Hinsicht nicht gut entwickelt ist. Nicht umsonst sagt W. J. T. Mitchel in seinem Buch „picture theory“ (1994): „we may find that the problem of the twenty-first century is the problem of the image“ (Mitchel 1994, 2). Die Situation innerhalb der Erziehungs- und Sozialwissenschaften ist gegenwärtig eher als rezeptionsorientiert zu beschreiben, d.h. man wendet sich der Kunst- und Filmwissenschaft zu und arbeitet deren Bestände in der Hoffnung auf, hier Hilfen oder Anregungen für sozialwissenschaftliche Analysen zu finden. Insofern werden auch wir in dieser Arbeit ein Zwischenergebnis unserer Suche präsentieren. Im Folgenden stellen wir ein Bildinterpretationsmodell vor, das im Wesentlichen auf dem von Erwin Panofsky entwickelten Modell (vgl. Panofsky 1962) beruht. Der zentrale Aufsatz „Studien zur Ikonologie“ erschien 1939 in Englisch und wurde erst mehr als zwanzig Jahre später ins Deutsche übersetzt. Für die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung ist dieser Ansatz mehrfach aufgearbeitet und weiterentwickelt worden. Stellvertretend nennen wir die Arbeiten von Mietzner/Pilarczyk 15
(2003) sowie Pilarczyk/Mietzner (2000) für den erziehungswissenschaftlichen und Bohnsack (2003; 2003a) für den sozialwissenschaftlichen Bereich. Für unsere Art der Weiterentwicklung des Ansatzes von Panofsky sind Impulse aus der Filmwissenschaft grundlegend. Dabei liegt die Hypothese zugrunde, dass der Film das umfassendere und komplexere Gebilde ist und das Bild ein Spezialfall. Wir folgen also nicht der klassischen von Siegfried Kracauer (1960) bereits vorgetragenen und bis heute immer wieder erneuerten Auffassung, dass das Bild das komplexere Gebilde sei und insofern im Film nichts wesentlich Neues hinzukomme (vgl. Sachs-Hombach 2003). Filminterpretation beinhaltet also Bildinterpretation, das wäre die entscheidende grundlegende These. Damit meinen wir nicht, dass man zuerst das Inventar der Filmanalyse beherrschen muss, um Bildinterpretationen durchführen zu können, sondern gemeint ist, dass das Medium Film komplexere Strukturen aufweist, die jene Strukturen beinhalten, die Bilder charakterisieren. Wir haben uns bei der Weiterentwicklung des Modells von Panofsky deshalb ganz wesentlich von Filminterpretationsmodellen inspirieren lassen, insbesondere durch jenes, das von den amerikanischen Filmwissenschaftlern David Bordwell und Kristin Thompson in ihrem zentralen Werk „Film Art“ (2003) nun bereits in der siebten Auflage vorliegt. Sie vertreten den Ansatz des Neoformalismus, der seit Beginn der 1980er Jahre in der internationalen Filmforschung immer mehr an Einfluss gewonnen hat. Während international der Bordwellsche Ansatz sehr präsent ist, findet er in der deutschen Filmforschung wenig Aufmerksamkeit. In den 70er Jahren wurde die angloamerikanische Filmwissenschaft vor allem von dekonstruktivistischen, psychoanalytischen, feministischen und semiotischen Ansätzen dominiert. Nach Bordwell berücksichtigen diese Ansätze zu wenig die formalen Elemente des Mediums Film und finden deshalb keinen Zugang zu dessen spezifischen Merkmalen, sondern interpretieren ihn aus ihrem eigenen Bezugsystemen heraus. 2.
Das Modell
Im Folgenden stellen wir das Modell vor, das sich aus unserer Sicht und aufgrund unserer Erfahrung für die Interpretation von Bildern im Kontext qualitativer Sozialforschung eignet. Die Basis für diese Behauptung bilden unzählige Seminare und Workshops, in denen wir diese Methode anhand verschiedener Bilder im Rahmen von Forschungsprojekten immer wieder er16
probt haben. Der Hinweis auf diese praktische Evidenz soll natürlich nicht die theoretische und methodologische Konsistenz ersetzen, sondern soll nur darauf verweisen, dass das folgende Modell nicht nur auf der Basis theoretischer Auseinandersetzungen entstanden ist. Hinsichtlich der Geltung der Methode müssen einige Einschränkungen gemacht werden. Erwähnt haben wir bereits, dass es sich um Bilder im Rahmen von empirischen, sozialwissenschaftlich orientierten Forschungsprojekten handelt. Es handelt sich in der Regel um Fotografien, die von den ForscherInnen oder auch von den Informanten selbst gemacht worden sind, teilweise handelt es sich aber auch um vorgefundenes Bildmaterial, z. B. Fotoalben oder Fotos aus Zeitschriften. Allen gemeinsam ist, dass diese Fotos soziale Situationen, das bedeutet in der Mehrzahl der Fälle: Menschen darstellen. Bilder, die keine sozialen Situationen darstellen, also „abstrakte“ nichtgegenständliche Fotoinhalte, lassen sich offensichtlich mit der hier vorgestellten Methode nicht gut interpretieren. Das hat Gründe, die mit der Methode selbst zusammen hängen. Wenden wir uns deshalb dem Modell zur. Es handelt sich insgesamt um vier Stufen der Bildauslegung: (1) Objektebene, (2) Ordnung der Objekte, (3) Inszenierung der Objekte, (4) bildungstheoretisch orientierte Analyse der Selbst- und Weltrefenzen. 2.1 Die Objekte Bei dem ersten Schritt einer Bildinterpretation handelt es sich um eine rein wiedererkennende Identifikation der unmittelbar sichtbaren Bildgegenstände (Objekte). Verschiedene Phänomene, Gegenstände, Personen oder Ereignisse, die auf dem Bild zu sehen sind, werden benannt. Bei Panofsky handelt es sich dabei um die „vorikonographische Beschreibung“. An anderer Stelle spricht er auch von dem primären oder von dem natürlichen Sujet. Auf jeden Fall führt diese Aufzählung der „natürlichen Bedeutung der Phänomene“ letztlich zu den „Motiven des Bildes“: „Die Welt reiner Formen, die dergestalt als Träger primärer oder natürlicher Bedeutungen erkannt werden, mag die Welt der künstlerischen Motive heißen. Eine Aufzählung dieser Motive wäre eine vorikonographische Beschreibung des Kunstwerkes.“ (Panofsky 1962, 32) Panofsky geht davon aus, dass eine solche Benennung und Aufzählung auf der Basis der alltäglichen Vertrautheit mit Gegenständen, Handlungszusammenhängen und Ereignissen prinzipiell möglich ist (vgl. dazu Bätschmann 2001, 114). Fehlt diese Vertrautheit, erkennen wir Dinge, Figuren oder Ereignisse nicht, weil uns die entsprechenden Kenntnisse fehlen, 17
können diese nachträglich erworben werden. Panofsky schreibt: „Im Fall einer vorikonographischen Beschreibung, die sich im Rahmen der Motivwelt hält, scheint die Angelegenheit recht einfach zu sein. Die Objekte und Ereignisse, deren Darstellung durch Linien, Farben und Volumen die Motivwelt bildet, lassen sich (...) auf der Grundlage unserer praktischen Erfahrung identifizieren. Jedermann kann die Gestalt und das Verhalten menschlicher Wesen, von Tieren und Pflanzen erkennen, und jedermann kann ein zorniges Gesicht von einem fröhlichen unterscheiden. Natürlich ist es möglich, dass in einem bestimmten Fall das Spektrum unserer persönlichen Erfahrung nicht umfassend genug ist, so etwa, wenn wir uns der Darstellung eines veralteten oder unvertrauten Werkzeugs oder der Darstellung einer Pflanze oder eines Tieres gegenübersehen, die uns nicht bekannt sind. In solchen Fällen müssen wir das Spektrum unserer praktischen Erfahrung dadurch erweitern, dass wir ein Buch oder einen Fachmann befragen; doch wir verlassen nicht den Bereich praktischer Erfahrung als solcher, die uns – selbstredend – sagt, welcher Fachmann zu befragen ist.“ (Panofksky 1962, 35) Präziser müsste man also sagen, dass Hypothesen der Objektbenennung erzeugt werden, denn spätestens im Falle von Bildern aus anderen Kulturkreisen können wir nicht sicher sein, um welche Objekte es sich handelt; wir können deshalb nicht sicher sein, weil uns der entsprechende erfahrungsgeschichtliche Hintergrund nicht oder nur bedingt zur Verfügung steht. Häufig – vor allem dann, wenn Bilder uns nicht unmittelbar in ihrem Darstellungsgehalt zugänglich sind – versucht man die zu rasche Identifizierung von Objekten zu verzögern, indem zunächst Linien, Flächen und Farben des Bildes beschrieben werden, die dann letztlich als Grundlage für die Benennung von Objekten und Bildmotiven dienen. Der Sinn dieser Vorgehensweise besteht darin, dass dadurch neue, der gängigen Erfahrung sich nicht fügende Objekte zugänglich werden, die für uns oftmals einen fremden Bedeutungsgehalt aufweisen. Einerseits sollen also durchaus Objekte und Bildmotive identifiziert werden (identifizierender Blick), andererseits soll eine unbewußte, vorschnelle Identifizierung (kolonialisierender Blick) verhindert werden. Worum es letztlich geht, ist – so könnte man sagen – ein reflektierendes Identifizieren. Das immer wieder diskutierte methodologische Problem besteht in diesem ersten Schritt der Bildinterpretation darin, die konventionellen Bedeutungsgehalte des Dargestellten möglichst einzuklammern, also noch nicht mit der Bedeutungsebene der Objekte zu arbeiten, und nur auf der Basis unserer praktischen Erfahrung Bildmotive zu identifizieren und aufzuzählen. Klar ist dabei, dass bereits die Identifizierung und Benennung von Dingen oder die Beschreibung von Personen kulturell variante Bedeutungsgehalte beinhalten, 18
so dass sich das Unternehmen, Bildmotive zu identifizieren, aber nicht die konventionellen, kulturell varianten Bedeutungsgehalte mitzutransportieren, als schwierig erweisen könnte. Als Ausweg bleibt nur die methodische Kontrolle. Wenn es prinzipiell nicht vermieden werden kann, mit der Benennung der Motive auch (kulturelle) Bedeutung zu transportieren, so kann wenigstens dafür gesorgt werden, dass diese Bedeutungen methodisch als kulturvariante gleichsam eingeklammert werden. Dieser Prozess funktioniert am besten in Interpretationsgruppen, weil hier eine hohe Sensibilität und intersubjektive Kontrolle der einzelnen Interpretationsleistungen gegeben ist. In der Forschungsliteratur ist dieses methodologische Problem der Einklammerung von kulturellen Bedeutungsgehalten als Weg methodischer Kontrolle breit diskutiert worden. Klassisch sind diese Überlegungen schon in Edmund Husserls Schrift „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie“ (1954) vorgetragen worden. Er spricht dort von dem notwendigen Wechsel der natürlichen Einstellung, der dann vorzunehmen ist, wenn Lebenswelten1 thematisch werden sollen, „eine Änderung, in der wir nicht mehr wie bisher als Menschen des natürlichen Daseins im ständigen Geltungsvollzug der vorgegebenen Welt leben, vielmehr uns dieses Vollzugs ständig enthalten“ (Husserl 1954, 151). Die Lebenswelt als „Reich ursprünglicher Evidenzen“ schließt in sich „alle von den Menschen für die Welt ihres gemeinsamen Lebens erworbenen Geltungsgrundlagen“ (Husserl 1954, 136). Eine wissenschaftliche Analyse der Lebenswelt könne aber nur dann erfolgen, wenn diese Geltungsvollzüge „eingeklammert“ und dadurch kontrolliert würden. Eine ähnliche Epoché, nämlich die sogenannte transzendentale Epoché, gilt dann auch für die quasi beruflichen Geltungsbezüge des Wissenschaftlers, nämlich für seine theoretischen Interessen. Auch die sind gleichsam einzuklammern, so dass die „Sache selbst“ in Augenschein genommen werden kann. In dem 1939 erschienenen Werk „Erfahrung und Urteil“ betont Husserl, dass sich die prädikativen Evidenzen auf die Evidenzen der Erfahrung gründen sollen. Es heißt dort an systematisch bedeutsamer Stelle: „Der Rückgang auf die Welt der Erfahrung ist ein Rückgang auf die ’Lebenswelt’, d.i. die Welt, in der wir immer schon leben, und die den Boden für alle Erkenntnisleistung abgibt und für alle wissenschaftliche Bestimmung.“ (Husserl 1939, 38)2
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Die Lebenswelt ist „der ständige Geltungsboden, eine stets bereite Quelle von Selbstverständlichkeiten, die wir, ob als praktische Menschen oder als Wissenschaftler, ohne weiteres in Anspruch nehmen“ (Husserl 1954, S. 124). 19
Diese kurzen Andeutungen sollten verdeutlichen, dass das thematisierte methodologische Problem der Einklammerung (kultureller) Bedeutungen bei der Bestimmung der Motive eines Bildes breit diskutiert ist und bei vielen Autoren Konsens darüber besteht, dass es durch methodische Kontrolle durchaus handhabbar gemacht werden kann. 2.2 Die Ordnung der Objekte Panofsky nennt diesen Schritt die „ikonographische Analyse“ oder das sekundäre bzw. das konventionelle Sujet. Zunächst einmal wird es erstens darum gehen, Bedeutungshypothesen zu erzeugen und zweitens auf diese Weise Sinnzusammenhänge zu konstruieren. 2.2.1 Bedeutungen Bei diesem Schritt wird die konventionelle Bedeutung von Bildgegenständen entschlüsselt. Dinge und Ereignisse haben eine kulturell variante Bedeutung. Wenn ein Bekannter im Vorübergehen, den Hut zieht und sich leicht, uns zugewandt, verbeugt, wissen wir, dass diese Geste „grüßen“ bedeutet. Dieses Beispiel verwendet Panofsky selbst. Um also die konventionelle Bedeutung zu entschlüsseln, ist ein Rückgriff auf kulturell variantes Wissen erforderlich, das auch durchaus subkulturellen und szenehaften Charakter haben kann (z.B. spezieller Gruß, der in der Science Fiction Serie Star Trek üblich ist). Bedeutungen werden kulturvariant identifiziert, ein Zusammenhang und eine Ordnung der Dinge und Personen wird auf diese Weise hergestellt. Auf diesem Wege wird das „ikonographische Thema des Bildes“ bestimmt (z.B. „jüngstes Gericht“, „Goldwägerin“, „Studentenzimmer“ etc.). Die ikonographischen Themen finden sich auch häufig als Bildunterschriften. Mit der Bestimmung des ikonographischen Themas ist der Weg frei für komparative Analysen, also für einen Vergleich mit anderen Bildern des gleichen ikonographischen Themas. In der kunstwissenschaftlichen Analyse ist 2
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Ähnliche Überlegungen finden wir auch in wissenssoziologischer Tradition. Karl Mannheim unterscheidet (1921) drei Arten des Sinnes: objektiver Sinn, intendierter Ausdruckssinn und Dokumentsinn. Der objektive Sinn, der an dieser Stelle vergleichbar wäre, ist vollständig losgelöst vom subjektiven Erlebnisstrom (Innenweltbezug) des Akteurs. „So ist denn auch die Interpretation des objektiven Sinnes in der Kunst die eindeutigste und durch geistige und kulturelle Differenzen relativ am wenigsten beeinträchtigte.“ (Mannheim 1921, 114)
dieses ein wichtiger Arbeitsschritt, weil die ikonographische Tradition herangezogen wird (Welche Bilder zum Thema „Jüngstes Gericht“ gibt es schon?). Die Katalogisierung solcher Themen hat dort eine lange Tradition: Von Cesare Ripas „Iconologia“ (Rom 1603)3 über Federico Picinellis Mundus Symbolicus in emblematum universitate (Mailand 1653), einer Sammlung von Symbolbeschreibungen, bis zum Iconclass, einer aktuellen Sammlung von Bildmotiven im Internet (http://www.iconclass.nl).4 Eine komparative Analyse in diesem Sinne scheint uns bei der Transformation in sozialwissenschaftliche Forschungsbereiche in bestimmten Fällen sinnvoll zu sein. Mietzner und Pilarczyk analysieren beispielsweise themenorientiert große Fotobestände über mehrere Genera-tionen (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2000). Die konventionelle Bedeutung der Bildgegenstände zu entschlüsseln, bedeutet, die eben im Husserl-Exkurs vorgenommene methodische Einklammerung der kulturspezifischen Gehalte aufzuheben. Dadurch werden diese Bedeutungsgehalte in methodisch kontrollierter Form eingeführt und damit der Reflexion zugänglich gemacht. Der entscheidende Punkt dieses Interpretationsschrittes besteht also darin, historische und kulturelle Wahrnehmungsund Thematisierungsweisen der Reflexion zuzuführen. Ergänzend soll angemerkt werden, dass dieser Stufe der Bildinterpretation gelegentlich auch die explizite Intention des Künstlers, sofern sie bekannt ist, zugerechnet wird (vgl. van Straten 1989, 28). Bei Karl Mannheim wäre dies der Ausdruckssinn. Der intendierte Ausdruckssinn ist relativ zu dem subjektiven Erlebnisstrom (Innenweltbezug) des Akteuers: „Und zwar ist uns beim Ausdruckssinn stets die Aufgabe gestellt, ihn als solchen und in derselben Weise zu erfassen, wie er von dem ihn ausdrückenden Subjekt gemeint, im bewußstseinsmäßigen Daraufgerichtetsein intendiert war.“ (Mannheim 1921, 107)
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Cesare Ripa beschreibt in alphabetischer Reihenfolge über 1.250 Personifikationen. Er geht dabei auch leicht in Bereiche des Normativen über, beschreibt also, wie die Personen dargestellt werden sollten. Bis weit in das 18. Jahrhundert war Ripas Buch ein anerkanntes Regelwerk für Künstler. Die erste Ausgabe erschien 1553; seit 1603 wurde sie illustriert publiziert. „Iconclass is a subject specific international classification system for iconographic research and the documentation of images. It was developed by Henri van de Waal (1910-1972), Professor of Art History at the University of Leiden, and completed by his staff. Iconclass is a collection of ready-made definitions of objects, persons, events, situations and abstract ideas that can be the subject of an image.“ (http://www.iconclass.nl/ 20.4.2005) 21
Um die Einklammerung kulturspezifischer Gehalte aufzuheben, ist es auch notwendig, das Bild zu situieren. Darunter verstehen wir, dass alle bekannten das Bild betreffenden Informationen dem Interpretationsprozeß zur Verfügung gestellt werden: Entstehungsdatum und -ort des Bildes; im Falle eines Fotos: Wer hat das Bild zu welchem Zweck aufgenommen etc. Durch eine solche raum-zeitliche Situierung kann die Rahmung kultureller Bedeutungsgehalte herausgearbeitet werden. Diese raum-zeitliche und soziale Situierung bzw. Kontextualisierung des zu interpretierenden Bildes stellt eine conditio sine qua non dar, deren Erfüllung die folgenden Schritte der Bildinterpretation einleitet. 2.2.2 Sinn Die Frage, was die dargestellten Personen, Dinge oder Sachverhalte bedeuten, führt in der Regel zur Generierung eines Sinnzusammenhanges, der in vielen Fällen wiederum zu einer Narration führt, denn narrative Strukturen stellen die genuine Form der Konstitution von Sinn dar (vgl. Schapp 1985), wie aus der methodologischen Begründung des narrativen Interviews bekannt ist (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977). Menschen organisieren sich den Sinn in Form von Geschichten im Sinne von Story-Konstruktionen. Die Motive und das Thema des Bildes werden mit einer Geschichte (im weitesten Sinne) in Verbindung gebracht. Bei Panofsky sind dies häufig historische Quellen und Geschichten aus der Bibel, die er heranzieht. Beim Abendmahl ist es eben die entsprechende Geschichte aus der Bibel, die erzählt, wie Jesus mit seinen Jüngern zusammen sitzt und er prophezeit, dass ihn jemand aus diesem Kreise verraten werde5. Van Straten (1989) legt dar, wie sich kunstgeschichtlich Ende des 13. Jahrhunderts eine starke epische Tendenz in der Wiedergabe von Geschichten durchgesetzt habe. Bis ins 19. Jahrhundert würden die religiösen Themen in der westlichen bildenden Kunst überwiegen. Danach würden sie mit dem Aufkommen der Moderne jedoch an Bedeutung verlieren (vgl. van Straten 1989, 95). Solche kodifizierten Narrationen hatten überwiegend die Bibel als Quelle oder die klassische My5
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Oder ein anderes Beispiel ist das Bildnis der Salome: „Ein Bild des venezianischen Malers Francesco Maffei aus dem 17. Jahrhundert, das eine hübsche junge Frau mit einem Schwert in ihrer Linken und einer Schale in der Rechten darstellt, auf der der Kopf eines Enthaupteten liegt (...), wurde als Bildnis der Salome mit dem Kopf Johannes’ des Täufers veröffentlicht.“ (Panofsky 1962, 37)
thologie. Die Metamorphosen des Ovid (eine Sammlung von 250 Erzählungen), die Ilias, die Odyssee von Homer oder Die göttliche Komödie von Dante Alighieri sind Quellen solcher kodifizierter Geschichten. In alltagskulturellen Kontexten finden wir jedoch häufig Bilder, zu denen es keine kodierten Narrationen gibt, schon gar nicht solche, die der Bibel entnommen sind, wie es bei Panofsky der Regelfall ist. Dann muss die Forschergruppe eine solche Narration systematisch erzeugen, die den Kriterien der Konsensualität und der Kohärenz entspricht. Dabei muss die Gruppe nicht zu einer einheitlichen Geschichte kommen. Verschiedene Lesarten können durchaus ihre Berechtigung im Gruppendiskurs aufrechterhalten. Es können also im Sinne von Nelson Goodman (1990) auch Narrationsversionen generiert werden. Die generierten Narrationen bilden einen wesentlichen Bestandteil der Interpretationshypothese. Ein naheliegender Bezug kann an dieser Stelle zur Objektiven Hermeneutik Ullrich Oevermanns wenigstens in einem Aspekt hergestellt werden, und zwar hinsichtlich der Erzeugung von Lesarten der vermuteten Sinnstruktur. Dabei gilt, wie Oevermann formuliert: „die extensive Sinnauslegung ist prinzipiell nie abgeschlossen, sie kann nur pragmatisch abgebrochen werden, wenn nach intensiver Bearbeitung des Materials neue Interpretationen sich nicht mehr einstellen. Daher ist für die Objektivität des Verfahrens die Bearbeitung durch mehrere Interpreten ein wichtiger methodischer Grundsatz.“ (Oevermann u.a. 1976, 391). Wir möchten die Parallele zur Objektiven Hermeneutik nur auf diesen Aspekt begrenzt sehen, denn es gibt natürlich signifikante Unterschiede, die sich auf das Prinzip der Sprachlichkeit (Textualität) und der Sequenzialität beziehen. Entscheidend ist bei diesem Teilinterpretationsschritt die Annahme, dass das Bild selbst nur in wenigen Fällen eine eindeutige Sinnstruktur, also nur einen eindeutigen Sinnzusammenhang entfaltet. Es kommt gerade darauf an, die Vielfältigkeit zur Geltung zu bringen. Wir gehen davon aus, dass visuelles Material immer eine Vielzahl von Lesarten zuläßt, aber – das zeigt die Interpretationspraxis – eben nicht beliebig viele. Nicht alle Lesarten halten der diskursiven Prüfung in einer Interpretationsgruppe stand. Dieser Teilinterpretationsschritt „Entwicklung von Sinnzusammenhängen“ hat viel Ähnlichkeit mit dem Übergang von der Plot-Ebene eines Films zur Story-Konstruktion. David Bordwell hat sich in seinem 1985 erschienenem Buch „Narration in the Fiction Film“ mit den grundlegenden Möglichkeiten und Mustern beschäftigt, mit audiovisuellen Mitteln Geschichten zu erzählen. Zusammen mit Kristin Thompson legt er in seinem Standardwerk „Film Art“ auf die Rekonstruktion der Narrationsstruktur in Filmen viel 23
Wert. Und die Narrationsstrukturen sind in modernen Kinofilmen wie beispielsweise „Memento“ (2000 von Christopher Nolan) oder in den Filmen von David Lynch (Lost Highway [1998] oder Mulholland Drive [2001]) sehr komplex. Der Film im Allgemeinen hat, weil ihm die zeitliche Dimension zur Verfügung steht, also sozusagen systematisch mit Abfolgen von Bildern arbeitet, natürlich in der Gestaltung des Plots ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung als dies in der Interpretation eines einzelnen Bildes der Fall ist. Bordwell und Thompson machen in ihrem Modell die systematische Unterscheidung von plot und story. Plot ist – vereinfacht gesagt – die reine Filmhandlung und Story ist das, was sich im Rezipenten herstellt. Beispielsweise geht aus dem Plot nicht explizit hervor, dass die Handlung in New York spielt. Aufgrund bestimmter gezeigter Stadtmerkmale kann dies der Zuschauer aber in seiner Story-Konstruktion erschließen. Oder der Film zeigt, wie in Vanilla Sky (2001 von Cameron Crowe), Handlungsabläufe und wir müssen in unserer Rekonstruktion entscheiden, ob die gezeigten Passagen Wirklichkeit, Traum, Phantasie oder Abläufe im Cyberspace sind. Wie man sich entscheidet, ist eine Frage der story-Konstruktion, die aufgrund von cues, die der plot bietet, erfolgt. Cues sind gleichsam Hinweise oder Spuren im Film, aus denen wir uns mosaikartig einen „Reim“ auf das Ganze machen, d.h. versuchen, eine in sich konsistente Story zu konstruieren. Überträgt man diese Unterscheidung von Plot und Story auf die von Erwin Panofsky für die Bildinterpretation ausgearbeiteten Unterscheidungen, dann könnte die PlotEbene als vorikonographische Ebene und die Story-Ebene als ikonografische Ebene, also in unserer Begrifflichkeit die Ebene der Ordnung der Objekte und die Ebene der Sinnzusammenhänge, übertragen werden. Die Story des Bildes ergibt sich, indem kulturelle Bedeutungen und sinnhafte Zusammenhänge durch den Betrachter in einem Interpretationsprozess hergestellt werden. Die Hypothesen und Lesarten über die Ordnung der Objekte und deren Sinnzusammenhänge (Narrationen) erzeugen die ersten Konturen einer Gesamtinterpretationsrichtung, die im nächsten Schritt über die Analyse formaler Elemente ausgearbeitet werden. 2.3 Die Inszenierung der Objekte (mise-en-scène) Die Analyse der Mise-en-scène beschäftigt sich damit, was in einem Bild zu sehen ist und wie es präsentiert wird. Bei diesem Schritt machen wir weitere Anleihen bei dem Filminterpretationsmodell von Bordwell und Thompson, 24
und zwar nehmen wir einige Analyseaspekte auf, die dort zur Analyse der mise-en-scène entwickelt worden sind: (a) setting: Landschaften, Räume, Hintergründe etc.; (b) Farbe und Licht; (c) Staging: Einstellungsgrößen, Perspektive und Komposition. Es handelt sich um Analysen, die im Sinne Max Imdahls den Anspruch erheben, das Bildhafte des Bildes zur Geltung zu bringen. Es ging Max Imdahl darum, den Bildsinn als einen innerbildlich gestifteten zu deuten, alles nur außerbildlich Illustrierende auszuschalten und damit das Kunstwerk in seiner entschiedenen Autonomie zu begreifen. Seine berühmte Definition lautet: „Thema der Ikonik ist das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist.“ (Imdahl 1994, 300) Dass wir mit diesem Analyseschritt den Bezug zu Imdahl herstellen, bedeutet nicht, dass wir seiner grundlegenden Prämisse folgen, die er in dem Begriff des „sehenden Sehens“ zum Ausdruck brachte. Damit meint er, kritisch gegen Panofsky gewendet, dass nichts außerhalb des Bildes herangezogen werden sollte, um das Bild zu verstehen. Wir sehen mit einer solchen methodologischen und erkenntnistheoretischen Prämisse grundlegende Probleme verknüpft. Insofern präferieren wir eher das von ihm kritisierte „wiedererkennende Sehen“, das uns, begleitet von entsprechender methodischer Kontrolle und angereichert durch entsprechende Reflexionsmuster, in sozialwissenschaftlicher Hinsicht geeigneter erscheint. Daraus folgt allerdings nicht, dass wir die Bedeutung von Formalanalysen herabsetzen, was schon daran gesehen werden kann, dass wir darin einen eigenständigen Analyseschritt sehen. Gleichwohl bedeutet es, dass für uns diese Formalanalysen eine inhaltliche Funktion aufweisen. Wir folgen damit Panofsky und begeben uns – das ist uns schon klar – in ein umstrittenes Gebiet: Nach Panofsky müssen nämlich die rein formalen Darstellungselemente zu „Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet“ werden (Panofsky cit. Bätschmann 2001, 17). Die Kritik an diesem Primat des Sachverstehens geht in die Richtung, dass die Darstellung bloßes Mittel für die Sache sei. Auch wenn bildhafte Artikulationen Veränderungen des Sehens erzeugen sollen, erzeugen sie dadurch doch auch immer andere Weltsichten und damit andere Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge. John Ruskin spricht von der Wiederherstellung des Zustandes eines unschuldigen Auges (Ruskin; cit. Bätschmann 2001, 26). Auch wenn bildhafte Artikulationen als die Negation der sprachlich geordneten Welt gesehen werden, erzeugen sie doch andere Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge. Zusammenfassend gesagt: Aus unserer Sicht trägt der Vorwurf, man würde formale Strukturen, also das Bildhafte des Bildes, inhaltlich instrumentalisieren, nicht weit. Die Annahme, das Kunstwerk sei nur Doku25
ment für etwas anderes, ist – bei Berücksichtigung der Analyse der mise-enscène – aus sozialwissenschaft-licher Sicht auch keine Einschränkung. 2.4 Bildungstheoretisch orientierte Analyse der Selbst- und Weltreferenzen Diese letzte Stufe der Interpretation arbeitet den gesellschaftlichen Gehalt des Bildes heraus. Panofsky nennt diese Stufe, bei ihm ist es die dritte, „ikonologische Interpretation“, die Bestimmung des Gehaltes eines Phänomens. In der ikonologischen Analyse, gleichsam als Krönung des deutenden Verfahrens, geht es ihm um die Einbindung des beobachteten und entschlüsselten Phänomens in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang, aus dem erst das Verständnis eines Epochencharakters resultiert. Diese ikonologische Analyse erschließt den Kardinalsinn eines Kunstwerkes, welches damit zu einer „symbolischen Form“ seiner Zeit wird. Allgemeiner: Das Phänomen wird hier Ausdruck für eine Person, ein Milieu, eine Gesellschaft oder einer ganzen Zeit. Panofsky spricht auch von der eigentlichen Bedeutung des Phänomens. Sie „wird erfaßt, indem man jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk.“ (Panofsky 1962, 33) Das Werk, in diesem Falle also das Bild, ist somit eine Ausdrucksform für eine kulturrelative, historisch bedingte Geisteshaltung. Das Bild wird zum Dokument einer Epoche, zur Manifestation des menschlichen Geistes, so würde es Hegel nennen, durch die die zugrunde liegenden Koordinaten der Selbst- und Weltreferenz zu entschlüsseln sind. Und genau an dieser Stelle wird ein bildungstheoretischer Bezug deutlich (vgl. zum zugrunde gelegten Bildungsverständnis: Marotzki 1990). Folgt man Wilhelm von Humboldt, dann bedeutet eine bildende Entwicklung des Menschen, dass er seine Kräfte in möglichst optimaler Weise entfaltet. Humboldt folgt in dieser Perspektive den klassischen Denkannahmen des Deutschen Idealismus, die im Kern darin bestehen, dass sich erstens eine solche Entwicklung in tätiger Auseinandersetzung mit der natürlichen, sozialen und gesellschaftlichen Umwelt vollzieht. Dieser sogenannte SubjektObjekt-Dualismus ist ein zentrales Denkmotiv, eine Wechselwirkung, wie Humboldt es nennt, zwischen Mensch und Welt. „Der Mensch kann wohl vielleicht in einzelnen Fällen und Perioden seines Lebens, nie aber im Ganzen Stoff genug sammeln. Je mehr Stoff er in Form, je mehr Mannigfaltigkeit 26
in Einheit verwandelt, desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er. Eine solche Mannigfaltigkeit aber gibt ihm der Einfluss vielfältiger Verhältnisse. Je mehr er sich demselben öffnet, desto mehr neue Seiten werden in ihm angespielt, desto reger muß seine innere Tätigkeit sein, dieselben einzeln auszubilden und zusammen zu einem Ganzen zu verbinden.“ (Humboldt 1796, 346) Die zweite Denkannahme des Deutschen Idealismus besteht darin, dass der Mensch in der Art und Weise seiner tätigen Auseinandersetzung mit der Welt gleichsam Spuren hinterlässt. Es sind Manifestationen, die im weitesten Sinne das darstellen, was er schafft. In solchen Manifestationen drückt sich der menschliche Geist aus, es sind „verschiedene Offenbarwerdung(enW.M.) der menschlichen Geisteskraft“ (Humboldt 1830-1835, 383). Diese klassische Subjekt-Objekt-Dialektik liegt der fundamentalen Entwicklung des Menschen, bei Humboldt als Entwicklung des menschlichen Geistes bezeichnet, zugrunde: Indem der Mensch sich mit seiner natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt auseinandersetzt und auf Grund seiner wirkenden Gestaltung der Verhältnisse Spuren hinterläßt, setzt er sich zu sich selbst und zur Umwelt in ein reflektiertes Verhältnis. Entscheidend ist für Humboldt, dass diese Entwicklung des menschlichen Geistes ganz wesentlich über Sprache erfolgt, denn Sprache ist eine auf einen bestimmten Zweck gerichtete Geistesarbeit (Humboldt 1796, 389). Heute würden wir von der Ausgestaltung und der Entwicklung von Reflexionsmustern sprechen. Nur über die Sprache könne der Mensch ein (reflektiertes) Verhältnis zu sich und zur Welt entwickeln. Der Grad dieser Reflexivität ist in Humboldts Sicht also sehr stark an die Entwicklung der Sprache gebunden: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen (...) so, wie die Sprache sie ihm zuführt.“ (Humboldt 1830-1835, 434) Aus heutiger Sicht sind bei der Herausarbeitung des grundlegenden Strukturmusters des Bildungsbegriffs bei Humboldt nicht alle Implikationen zu übernehmen, insbesondere solche, die der Zeit des Deutschen Idealismus geschuldet sind. Im Kern gehört dazu der Fortschrittsoptimismus, also die Annahme des Fortschreitens der Weltgeschichte zum Besseren, so dass auf diese Weise eine Vervollkommnung des Menschenge-schlechtes erreicht wird. Aber das grundlegende bildungstheoretische Reflexionsformat, nämlich die sprachlich organisierte Selbst- und Weltreferenz des Menschen, kann übernommen und weiter entwickelt werden. Die Weiterentwicklung bezieht sich im wesentlichen darauf, dass bei einer bildungstheoretischen Betrachtungsweise auch bildhafte Artikulationen in das Zentrum der Aufmerksamkeit geraten können. Sie sind Manifestationen des menschlichen Geistes genau so 27
wie sprachliche Artikulationen, so dass aus ihnen ebenfalls Selbst- und Weltreferenzen des Menschen erschlossen werden können. Eine bildungstheoretische Interpretation eines Bildes fragt also danach, wie sich aus der Sicht des Einzelnen Gesellschaftliches im Sinne einer Zeitdiagnose in einem Bild artikuliert. Der Kunsthistoriker van Straten macht sehr deutlich die Unterscheidung zwischen kunsthistorischen und kulturhistorischen Analysen, man könnte auch von kunstwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Analysen sprechen. Konsequenterweise sagt er als Kunstwissenschaftler: „Ikonologische Sachfragen gehören eigentlich nicht zum Thema dieses Buches und werden im weiteren Verlauf nur noch am Rande erwähnt.“ (van Straten 1989, 32) Das Überschreiten kunstwissenschaftlicher Analysen in Richtung kulturwissenschaftlicher Untersuchungen ist aber für Sozial- und Kulturwissenschaften, und dazu gehören auch Bildungs- und Erziehungswissenschaft, von zentraler Bedeutung. Das Verflochtensein mit der jeweiligen Zeit/Epoche und die Absicht, über diese etwas zu erfahren, sind für sozialwissenschaftliche Forschung unaufhebbar. Uns scheint, dass Karl Mannheims Begriff der Weltanschauung große Teile dessen beinhaltet6, was wir unter bildungstheoretischer Perspektive ausgeführt haben. Mannheim verfolgt die Absicht, „die methodologische Struktur und den logischen Ort des Weltanschauungsbegriffes innerhalb der historischen Kulturwissenschaften zu bestimmen“ (Mannheim 1921, 91). Es geht ihm gerade darum, die Weltanschauung eines Zeitalters zu bestimmen, also jene grundlegenden Prinzipien, von denen Panofsky unter Bezug auf Mannheim spricht. Insofern stellt unser Methodenentwurf einen bescheidenen Versuch dar, etwas über die Geworfenheit des Menschen im Kontext sozio-struktureller Gefüge von Gemeinschaften und Gesellschaften zu erfahren. Fassen wir zusammen: Das vorgelegte Interpretationsmodell soll im Kontext Qualitativer Sozialforschung einen Weg weisen, visuelles Material (Bilder, Fotos etc.), sofern sie sich auf soziale Situationen beziehen, zu interpretieren. Die vier Stufen gehen von der Bestimmung der Bildmotive aus und verknüpfen diese mit einer strikten reflexiven Kontrolle der kulturellen Bedeutungsgehalte. Dadurch wird eine starke interkulturelle Sensibilität aufge6
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„Die dokumentarische Methode hat die Eigenheit, dass sie im Unterschiede zu den beiden anderen Arten des Verstehens in einem jeden Zeitalter neu gemacht werden muss, und dass eine jede einzelne Deutung innerhalb ihres Bereiches eng verflochten ist mit jenem geistig historischen Standorte, von dem aus man sich dem Geist verflossener Epochen nähert.“ (Mannheim 1921, 126)
baut. Erst im zweiten Schritt erfolgt die kulturelle Situierung und die Entwicklung von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen. Die sich auf diese Weise ergebende Bildinterpretationshypothese wird im dritten Schritt über eine Formalanalyse des Bildes ausgearbeitet, so dass schließlich im vierten Schritt der bildungstheoretische Gehalt des Bildes (Selbst- und Weltreferenzen) ermittelt werden kann. 3.
Zwei exemplarische Einzelbildinterpretationen
Im Folgenden werden zwei Einzelbildinterpretationen vorgestellt, wobei die zugrunde liegenden Fotos aus unterschiedlichen Projekten stammen. Für die erste Bildinterpretation wurde ein Foto aus einer Bildserie des Dissertationsprojekts von Katja Stoetzer „Raumbiographien – Die Konstitution von Räumen in photographischen Interviews“ ausgewählt. Die befragten Studierenden haben mit einer Digitalkamera ihre Wohnsituation dokumentiert und im unmittelbar anschließenden narrativen Interview die ausgedruckten Fotos beschrieben und selbst interpretiert. Das aus dem Chicamprojekt7 vorliegende zweite Foto wurde von den deutschen Partnern des internationalen Forschungsprojektes „Children in Communication About Migration (Chicam)“ zur Interpretation für die Fachtagung Bildinterpretation in Ludwigsburg (Juni 2004) zur Verfügung gestellt. 3.1 Ein Bild aus dem Projekt „Raumbiographien“ Der Beginn der Objektbeschreibung eines Bildes – die Frage, an welcher Stelle oder mit welcher Auffälligkeit des Bildes begonnen werden soll – richtet sich in unserem Ansatz nach dem Forschungskontext, in dem das Bild analysiert werden soll8. Die hier vorgestellte Interpretation folgt der forschungsleitenden Frage nach Phänomenen der Raumkonstitution, also der Frage danach, was die Interviewpartner in ihren Räumlichkeiten fotografiert und 7 8
Vgl. http://www.chicam.net/ Bohnsack (2003, 237) schlägt eine Beschreibung des Bildes anhand der drei Ebenen Bildvordergrund, Bildmittelgrund und Bildhintergrund vor, andere Vorgehensweisen sind die vorläufige Segmentierung des Bildes anhand von Figur-Hintergrund-Kontrasten und auffälligen räumlichen Anordnungen des Dargestellten (Breckner 2003, 40ff.). 29
wie sie es in Szene gesetzt haben; daher interessiert, welche Arrangements das Bild dominieren. 3.1.1 Die Objekte Aufgrund unserer praktischen, kulturell determinierten Erfahrung geht es also zunächst darum, Dinge auf dem Bild zu beschreiben und zu benennen, um auf diese Weise die Bildmotive zu bestimmen. Den größten Teil des Bildes nimmt ein Regalsystem mit mehreren Regalbrettern und eine in dieses System integrierte Vitrine ein. Oben links, vom Bildbetrachter aus gesehen, sind ein Regalbrett mit mehreren Ordnern, die nicht alle die gleiche Dicke und Farbe haben, und ein Zeitschriftensammler zu sehen. Auf der gleichen Ebene schließt sich ein Regalboden mit einem hellen Karton darauf an; dahinter an der Wand hängt ein Spiegel in Form einer blauen Sonne. Neben dem Karton liegen Sachen in Plastiktüten und eine längliche Dose, die ganz nah an einem Regalkantholz steht.
Abbildung 1 30
Diesem folgt ein Glastürenelement, das zur Vitrine gehört. In ihr sind zwei Bierflaschen vor einem Buch drapiert, eine stehend, eine liegend. Daneben ist ein Bongo aufgebaut. Hinter dem zweiten Glastürelement sitzt ein Plüschkänguru mit Nachwuchs im Bauch vor einem Buch über Australien. Auf der anderen Seite der Vitrine ist ein Bumerang so aufgestellt, dass er die Silhouette des Bergverlaufs des erwähnten Buches hinter ihm umrahmt. Auf dem oberen Regalbrett in der Vitrine stehen eine Kerze, ein fast quadratisches Nummernschild und eine Glasthermometersäule, die jeweils einen relativ weiten Abstand zueinander aufweisen. Neben diesem Element ist wieder ein Regalbrett erkennbar, auf dem Ordner und Bücher sowie ein Zeitschriftensammler stehen; im darunter liegenden Regalteil sind zwei Ordner, sechs Bücher, ein Zeitschriftensammler und am Rand ein Ordner zu sehen. Darunter befindet sich ein Regalboden mit Büchern, und im letzten Regalboden kann man nur angedeutet einen Ordner erkennen – die Sicht wird von einem im Vordergrund stehenden blauen Sessel mit metallenen Stuhlbeinen verdeckt. Das untere Regalbrett (links vom Sessel) enthält Zeitschriftensammler, an die mit einer Büroklammer entweder ein weißer Zettel mit der Aufschrift SS oder WS sowie einer zweistelligen Zahl geheftet ist. Über diesen Zeitschriftensammlern, die mit unterschiedlich farbigen Heftern gefüllt sind, stehen Bücher, u.a. ist ein Lexikon erkennbar. Hinter dieser beschriebenen Regalwand hängt ein bedruckter Stoff, auf dem ein Kopf abgebildet ist: dieser schaut in Richtung Vitrine, in der, wie schon erwähnt, Bierflaschen und ein Buch so aufgebaut sind, dass dessen vorderer Einband deutlich zu sehen ist. Vor dem Lexikon befindet sich ein Fingerkappenschutz zum Sporttreiben, eine Duftlampe, daneben ein Duftöl und noch ein Stück weiter weg ein Pfefferspray – was daneben liegt, ist nicht zu erkennen. Neben dem Regal am rechten Bildrand ist eine Stange zu sehen, die parallel zum Regalträger (Kantholz) verläuft sowie ein Stück Stoff, das bis zu einem Schränkchen führt, von dem aber nur die linke Seite zu sehen ist. Auf diesem steht eine Pflanze (Bambusart) in einem Gefäß und daneben, zwischen Bambus, Stoff und Stange, liegt ein Buch. Nach den beiden unteren Regalteilen schließt sich eine Eckverbindung an, hinter der ein Kopfkissen und die Ecke einer Decke zu sehen sind. Neben der Matratze, die nur angedeutet hinter dem Regal zu sehen ist, steht ein Karton, auf ihm ein Wecker, dessen Vorderseite vom Betrachter abgewandt ist. Daneben befindet sich noch eine Schachtel, auf deren Deckel ein Etui liegt sowie direkt daneben eine eingepackte Filmrolle. Auf dem Regalboden vor dem Bett steht eine kleine Lampe. Der Teil des Regals, der daran anschließt, ist mit Rentierplüschtieren, die auf und vor Büchern sitzen, bevölkert. An 31
dieses Regalteil angrenzend ist ein Stück Stoff zu sehen, an dessen abgerundeter Kante sich eine schwarze Tischplatte anschließt. Auf Ihr stehen zwei Gläser und zwei Kerzenständer mit Teelichtern9. Der Tisch im Vordergrund des Bildes hat ein aus Brettern kreuzförmig gefertigtes Untergestell, welches auf einem Linoleumboden steht. Die Stereoanlage, welche sich auf dem Regalboden über den Plüschelchen befindet, grenzt an einen Regalboden an, auf dem eine Flasche, ein Karton, ein paar Zettel und ein mit einer roten Schleife versehenes, eingerolltes Papier liegen, daneben ist wieder eine Flasche zu sehen. Beide Flaschen sind angebrochen. Hinter ihnen befindet sich eine rote kleine Tasche mit weißer Aufschrift („first aid“), die einen ringsum verlaufenden schwarzen Reißverschluss hat. Davor ist eine Pappschachtel, auf der ein muskulöser Oberarm abgebildet ist, zu sehen. 3.1.2 Die Ordnung der Objekte Die eben beschriebenen Bildmotive fügen sich zu dem ikonographischen Motiv „Studentenzimmer“ zusammen. Der Kontext des Forschungsprojektes, die pragmatische Situierung des Bildes, bestätigt dieses: Eine Studierende ist gebeten worden, ihr Zimmer zu fotografieren. Die Regalkonstruktion stammt von Ikea („IVAR“), die weiteren abgebildeten Möbel sind in Qualität, Stil und Herkunft vergleichbar. Außerdem scheint eine Ordnung zu herrschen, die die Wohnsituation charakterisiert und Aufschluss über die Raumkonstitution durch die Studierende gibt: Trennung von Studium und Privatleben. Erkennbar ist dies zum einen an der klaren Aufteilung zwischen Fachliteratur und privater Lektüre: Die private Literatur wird von Plüsch-Elchen umrahmt, während die Studienliteratur größtenteils separat im äußeren Regal untergebracht ist. Der Schreibtisch ist demnach in unmittelbarer Nähe zur Fachliteratur zu vermuten, denn dem Arrangement liegt eine funktionale Optimierung zugrunde10. Die Hefter sind systematisch geordnet, anscheinend nach den Semestern, die die Studentin oder der Student bereits absolviert hat. Die vorhandene Fachliteratur weist 9
Die anderen Gegenstände auf dem Tisch werden ausgeklammert, da sie dort vom Interviewer für die Durchführung des Interviews platziert wurden (Aufnahmegerät, Stift, Mikrofon und Vorverstärker) – Gleiches gilt für den farbigen Interviewleitfaden, der auf dem Regal nebenan zu sehen ist. 10 Die Überprüfung dieser Hypothese müsste anhand von weiterem Fotomaterial erfolgen, wird aber an dieser Stelle nicht weiter verfolgt. 32
auf ein sozialwissenschaftliches Studium hin und die Anwesenheit von mehreren Zeitschriftensammlern mit der Ettiketierung Sommersemester und Wintersemester auf ein fortgeschrittenes Studium. Aus dem Forschungskontext wissen wir, dass es sich um eine Studentin der Soziologie im höheren Fachsemester handelt, die in dem fotografierten Zimmer alleine lebt. Zum anderen erkennen wir hinter dem Regal, das gleichzeitig als Raumteiler dient, gleichsam noch eine private Privatheit, einen Teil des Raumes, der wahrscheinlich als Schlafbereich dient, der jedoch durch die Bildinszenierung nicht zur Geltung gebracht und somit auch nicht aussagerelevant wird. Das Bett ist durch das Regal fast nicht sichtbar und vom vorderen, eher kommunikativ angelegten Wohnraumteil abgetrennt. Es wird eine Ecke der privaten Privatheit geschaffen, die von einer öffentlicheren Privatheit im eigenen Zimmer abgetrennt ist. Irritierend an dem Arrangement in der Vitrine, auf das der Blick beim Betrachten des Bildes fällt, sind die beiden Bierflaschen, eine stehend die andere liegend. Betrachtet man jedoch, wie diese die Künstlerbiographie von Jim Morrison quasi einrahmen und dass sie kein einheimisches, sondern irisches Bier der Marken Killkeny und Guinnes enthielten, lässt sich eine Lesart entwickeln, bei der nicht etwa der Konsum von Bier im Vordergrund steht, sondern ein Arrangement, das Fremdheit, Differenz und Tentativität vermitteln will: Der visuell vermittelte Musikgeschmack, der durch die Bilder von Jim Morrison und Bob Marley nahe gelegt wird, stellt einen gewissen Bruch zu der Geordnetheit der Studienunterlagen und der privaten Literatur dar. Diese Differenz verweist auf andere biographische Optionen, die hochgradig tentativ sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Jim Morrison (1943-1971) war Leadsänger der Musikgruppe „The Doors“, der 1971 im Alter von 27 Jahren vermutlich an einer Überdosis Drogen und/oder Alkohol starb. Er war 1965 Mitbegründer der Band, die Ende der sechziger Jahre mit sechs Langspielplatten zum Inbegriff jugendkultureller und studentischer Suchbewegungen, überwiegend psychedelischer Art, wurde. Die beiden Bierflaschen passen insofern zu einer Art von Suche, bei der Alkohol und Rausch eine zentrale Rolle spielen11. Bei dem abgebildeten Buch handelt es sich um die Monographie des amerikanischen RockmusikJournalisten Chuck Crisafulli mit dem Titel „Light my fire“, das 1997 in der deutschen Übersetzung erschien. Der Untertitel, der auf dem Foto verdeckt wird, weil er am unteren Rand des Buches steht, lautet: „Die Story hinter jedem Doors-Song“. Der Band beruht auf persönlichen Gesprächen und be11 Die ausgiebigen Alkoholexzesse von Jim Morrison sind durchaus bekannt. 33
reits veröffentlichten Interviews mit Prominenten, die in der Geschichte der Doors eine wichtige Rolle spielten. Er liefert wichtige Perspektiven, die insgesamt die Auffassung bestärken, dass Jim Morrison als zentrale kulturelle Ikone (nicht nur der Popmusik) der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts angesehen werden muss. Es steht symbolisch für ein Lebensgefühl, das sich durch eine Suche des Ich nach sich selbst auszeichnet, das für eine Befreiung der Psyche und für die Suche nach Selbstverwirklichung und einer von gesellschaftlichen Konventionen befreiten Persönlichkeit steht. Der jamaikanische Sänger, Gitarrist und Songschreiber Bob Marley (1945-1981) war Mitbegründer und zugleich bedeutendster Vertreter des „Reggae“. Seine Lieder hatten oft politisch motivierte Inhalte und sozialkritische Impulse. Zusammen mit dem US-amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King und dem südafrikanischen Politiker Nelson Mandela kann Bob Marley zu den bekanntesten Kämpfern gegen die weltweite Unterdrükkung der Schwarzen gezählt werden. In der kulturellen Ikone Bob Marley verdichtet sich also symbolisch ein kritisches, für gesellschaftliche Minderheiten eintretendes Bewußtsein. Bob Marley steht für den Kampf gegen politische und soziale Unterdrückung. Die beiden kulturellen Ikonen, Jim Morrison und Bob Marley, ergänzen sich also in ihrem verdichteten Bedeutungsgehalt. Gemeinsam ist ihnen neben dem Aspekt des Tentativen vor allem die Kontur gegenkultureller Entwürfe. In gewisser Weise repräsentieren die Gegenstände rechts neben dem Jim Morrison Buch (vgl. Abbildung 2), nämlich jene, die sich auf Australien beziehen, Ähnliches. Im Hintergrund sehen wir das Buch von Neil Hermes „Australien – Traumpfad“ aus dem Jahre 2002, davor ein Känguruh und daneben einen Bumerang. Australien steht in unserer Lesart ebenfalls für einen alternativen biographischen Entwurf, für Suchbewegungen, die ernst sein, die aber durchaus auch einen spielerischen Charakter aufweisen können. 3.1.3 Die Inszenierung der Objekte (mise-en-scène) In der Zentralperspektive, gleichsam in Augenhöhe, des bildlichen Arrangements befindet sich die Vitrine mit den beschriebenen Accessoires der beiden Musiker und den Australien-Gegenständen (vgl. Abbildung 2). Um diesen Blickfang herum ist Privates und Berufliches (Studium) angeordnet.
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Abbildung 2
Die symbolische Verdichtung „Australien“ bildet zusammen mit den beiden Musikern den zentralen Aufmerksamkeitsfokus. Dieses visuelle Zentrum ist gleichsam auch ein Bedeutungszentrum: Privates und Berufliches (Studium) erhalten gleichsam einen Gegenpol, der für Suche und mitgeführte alternative biographische Optionen steht. Das Arrangement der Bildmotive zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dass die rechte untere Ecke des Bildes ungefähr ein Drittel des Gesamtbildes durch die Darstellung der Sitzgarnitur einnimmt (vgl. Abbildung 3). Im Gegensatz zu den Ordnern im oberen Regal ist der Sessel voll auf das Bild genommen (die Ordner sind abgeschnitten). Die Bildinszenierung verleiht also den Sesseln mit Tisch eine relativ große Bedeutung.
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Abbildung 3
Wir interpretieren sie als Integration der heterogenen Elemente des Zimmers: zwei verschiedene private Bereiche (wie oben ausgeführt), wissenschaftliche Literatur und Belletristik sowie die symbolisierten alternativen biographischen bzw. gegenkulturellen Optionen. Dieses Interpretament der zentralen Integrationsleistung leitet zum letzten Schritt der Bildinterpretation über. 3.1.4 Bildungstheoretisch orientierte Analyse der Selbst- und Weltreferenzen Die räumliche Anordnung – Trennung von öffentlich und privat, von Schlaf, und Arbeits- bzw. Kommunikationsbereich – ist die einer funktionalen Trennung verschiedener Tätigkeitsbereiche und der Errichtung von Nischen innerhalb des selben Zimmers: Bücher, Regale und Poster dienen der territorialen Grenzziehung, die sich als thematische auch im Mikrobereich findet 36
(Arrangement der Bücher nach Belletristik und Fachliteratur, Ordnung der Fachliteratur nach „Quelle“ und Verwendungszweck, etc.). Gerahmt wird diese zukünftige Identität durch die Zeugnisse der Arbeit im Studium (Fachliteratur, Mitschriften, eigene Ausarbeitungen). Hinter dieser „wissenschaftlichen Fassade“, die eine ernsthafte und gezielte Orientierung auf den Abschluss des Studiums erwarten lässt, findet sich erst der Zugang zum Privaten. Der aber steht nicht jedem sogleich offen, denn die Entscheidung darüber, wer die „öffentlichere Privatheit“ des Raumes erleben darf oder wer in die „private Privatheit“ hinein gelassen wird, liegt bei der Studentin. Anhand der Betrachtung der Bildinszenierung haben wir bereits darauf hingewiesen, dass der Sesselgruppe eine integrierende Funktion zukommt, weil sie Privates und Studium integriert. Neben Privatem und Studium ist ein Drittes herausgearbeitet worden, das als alternative biographische Entwürfe betrachtet worden ist, nämlich die weiter oben beschriebenen Sinngehalte, die durch Jim Morrisen, Bob Marley und Australien repräsentiert werden. Wir kommen deshalb zusammenfassend zu dem Schluss, dass der aktuelle biographische Entwurf der Studentin auf das Studium hin orientiert ist. In diesen Entwurf sind jedoch gegenkulturelle Optionen, und damit Suchbewegungen, integriert. Das verleiht dem Gesamtentwurf eine gewisse Flexibilität, wie er für viele Studentenbiographien sicherlich als typisch angesehen werden kann. Folgt man der These, dass die Studentenzeit auch als ein psychosoziales Moratotium anzusehen ist, dann ist plausibel, dass solche spielerischen, tentativen Elemente integriert sind, auch wenn im Gesamtarrangement Spannungen oder gelegentlich auch Widersprüche auftauchen. Durch gute Integrationsleistungen bilden sie die eigentlichen Fermente für Bildungsprozesse (vgl. Marotzki 1991). 3.2 Ein Bild aus dem „Chicamprojekt“ Zu dem Foto aus dem Chicamprojekt ist bekannt, dass es von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland in den Jahren 2001 bis 2003 gemacht wurde. Ähnlich wie in dem Forschungsprojekt von Katja Stoetzer sind sie aufgefordert worden, Bereiche ihres Alltagslebens zu fotografieren, die für sie wichtig sind. Das ausgewählte Bild wurde neben zwei anderen von den deutschen Partnern dieses internationalen Forschungsprojektes „Children in Communication About Migration (Chicam)“12 zur Interpretation für die
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Fachtagung Bildinterpretation in Ludwigsburg (Juni 2004) zur Verfügung gestellt. 3.2.1 Die Objekte Zwei Hintergrundfächen sind zu sehen: eine bläuliche, die drei Viertel des Bildes einnimmt, und im oberen Bereich des Bildes eine hellere Fläche. Aus Kontextinformationen wissen wir, dass es sich um ein Zimmer handelt. Daraus kann geschlossen werden, dass es sich um Wände handelt, die im oberen Teil des Bildes aufeinander zu laufen. Die obere Wand, die Zimmerdecke, hat eine helle viereckige, kachelartige Struktur, die in Plattenform angeordnet ist; kleine Spalten sind zwischen den Quadraten zu erkennen. Die angrenzende Wand, die Zimmerwand, ist mit einer gemusterten Tapete versehen. Die Ansätze jeder Tapetenbahn sind zu sehen, und zwar in Abstufung zur angrenzenden oberen Wand. An der mit einer bläulichen Tapete beklebten Wand ist eine rote Fahne etwas weiter unten so angebracht, dass die Stoffbahn parallel zur Tapete verläuft. Über den Stab, der das vordere Stück roten Stoffs, der mit einem weißem Halbmond (Öffnung von der 2. Wand wegweisend) und einem ebenfalls weißem Stern bedruckt ist, ist ein Schal gehängt, der mit einer Seite um diesen Stab geschlagen wurde. Die Farben des Schals gehen von schwarzen Fransen über zu einem Symbol, einem rotumrandeten weißen Kreis mit einem roten, großen Buchstaben „G“ und einem in das „G“ verschlungenen gelben „S“. Der Kreis um diese ineinander verschlungenen Buchstaben grenzt an einen schwarzen Schriftzug, der das in Großbuchstaben geschriebene Wort „Galatasaray“ darstellt. Farbverläufe von gelb-orange nach rot sind auf dem ganzen Schal verteilt. Auf dem unteren Teil des Schals schließen zwei weitere Symbole, ein weißer Halbmond und ein weißer Stern, den Schal ab – die Symbolik der Fahne wieder aufnehmend. Am unteren Rand der Fahne, in der Mitte, ist ein weißer Kreis zu sehen, in dessen Mitte ein Foto angebracht ist: es enthält ein Passbild eines jungen Menschen13. Am Ende des Stabes hängt ein Saiteninstrument, das für uns zunächst nicht weiter identifizierbar war (vgl. Abbildung 4). 12 http://www.ph-ludwigsburg.de/2228.html 13 Die Person ist auf dem verschwommenen Foto nicht genau zu erkennen. Dass es sich dabei auch um eine etwas ältere Person handelt, kann nicht ganz ausgeschlossen werden. 38
Abbildung 4
3.2.2 Die Ordnung der Objekte Bei den beiden Wänden handelt es sich offensichtlich um Wand und Decke eines Zimmers, was auch durch die Kontextinformationen aus dem Forschungsprojekt bestätigt wird. Die hellblaue Strukturtapete hat keine einheitliche Abschlusskante an der Decke. Zusammen mit den weißen Styroporplatten lassen sie auf eine selbst angebrachte Tapete und Plattenkonstruktion im Heimwerkerstil schließen. Wir wissen aus dem Kontext des Forschungsprojektes, dass es ein türkischer Jugendlicher war, der sein Zimmer in Deutschland fotografiert hat.
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An einem Stab ist die türkische Nationalflagge befestigt, über die ein Schal eines türkischen Fußballvereins geschlagen ist. Es handelt sich um einen Fanschal des Fussballvereins „Galatasaray Istanbul SK“ (Galatasaray Spor Kulübü) der türkischen Profiliga. Galatasaray ist der populärste und erfolgreichste Verein der Türkei, der neben seinen unzähligen inländischen Meisterschaften und Erfolgen auch Erfolge im internationalen Wettbewerb, beispielsweise im Rahmen der UEFA Champions League und dem UEFACup zu verzeichnen hat14. Der Verein erlangte weltweiten Ruhm, als er im Jahr 2000 als erstes Fußball-Team der Türkei den UEFA-Cup und den UEFA Super-Cup gewonnen hat und auf dem Weg dorthin zahlreiche berühmte europäische Mannschaften wie Real Madrid, Arsenal London etc. bezwungen hat. Links neben dem Fanschal hängt das Saz, eine türkische Laute (Baglama), die eine religiös-kulturelle Bedeutung hat15: „Einen sehr wichtigen Platz nimmt die Baglama im Alevitentum ein. Sie ist wesentlicher Bestandteil des Gebets (Cem), in der unter Verwendung der Baglama Gedichte (Deyis) vorgetragen oder gesungen werden, sowie der Semah getanzt wird. Nahezu jeder alevitische Geistliche spielt Baglama, da es ohne diese nicht möglich ist den Cem zu leiten.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Saz) Das Passfoto, welches am unteren Rand der Fahne angebracht ist, ist wahrscheinlich ein Foto eines Jungen16, der anscheinend sehr wichtig für die Person ist, die dieses Foto an der Wand angebracht hat, denn es ist direkt unterhalb der Fahne angebracht. Man kann nicht erkennen, ob der Jugendliche allein dieses Zimmer bewohnt, da nur eine Wand mit den Lieblings- oder Erinnerungsstücken fotografiert wurde. Die Objekte an der Wand scheinen Erinnerungen an eine vergangene Zeit und zugleich Hoffnungen auf die Zukunft zu symbolisieren. Das Saz steht für die türkische Gemeinschaft und ihre Feste (seien sie lokal oder familial), der Schal für das – in der Türkei mindestens ebenso wie in Deutschland wichtige – Fußballspiel, die Fahne für die Nation und das Foto könnte ein in der Türkei zurückgelassenes Familienmitglied darstellen. Die abgebildeten Gegenstände hängen nebeneinander und scheinen arrangiert zu sein: Sie bilden ein vertikal ausgerichtetes Ensemble in einer an-
14 Vgl. www.galatasaray.org/ 15 Vgl. www.discoverturkey.com/english/kultursanat/b-h-baglama. html 16 Dass es sich um eine Frau mittleren Alters handeln könnte, kann nicht ganz ausgeschlossen werden. 40
scheinend provisorisch eingerichteten oder renovierten Umgebung, das jedoch selbst den Eindruck des Temporären vermittelt. 3.2.3 Analyse der Bildinszenierung Die Perspektive ist nicht die einer frontalen Draufsicht auf die Flagge und den Fußballschal, sondern aus einer eher leicht von unten nach oben fotografierenden Haltung: Der Junge scheint aus seiner Körperhöhe heraus fotografiert zu haben. Der Ordnungscharakter ist aus der parallelen Linienführung zwischen der Oberkante des Ensembles Fahnenstab-Schal-Saz sowie der Abschlusskante Wand-Decke erkennbar. Es wurden zwar nur wenige Objekte fotografisch festgehalten, aber das betont den gewählten Bildausschnitt umso deutlicher. Unterstrichen wird die in Szene gesetzte Bedeutung der abgebildeten Gegenstände in ihrer vertikalen Anordnung durch die Wahl des Ausschnitts im Hochformat. Vier Elemente bilden die Konfiguration der Inszenierung: Zum einen finden wir ein nationales Symbol in der Zentralperspektive, nämlich die türkische Nationalflagge. Daneben ist das Symbol für weltweite Anerkennung und Erfolg in Form des Fanschals des Fussballvereins „Galatasaray Istanbul“ angeordnet. Daneben wiederum, also nicht im Zentrum, aber auf dem Bild noch präsent, ein religiöses-kulturelles Symbol. Das Bild unterhalb der Fahne symbolisiert die private Bezogenheit des Jugendlichen. Das Passfoto kann auf vergangene Zeiten verweisen, indem es als Kindheitsaufnahme oder gealtertes Foto die symbolische Identifikation mit einem früheren Umfeld, z.B. in der Türkei, herstellt. Die Anordnung des Fotos unter der Fahne kann jedoch auch noch ganz anders gedeutet werden: Das Foto zeigt einen Verwandten, dessen Andenken durch den besonderen Ort des Fotos geehrt wird. 3.2.4 Bildungstheoretisch orientierte Analyse der Selbst- und Weltreferenzen Die Vierelementekonfiguration hat für den Jungen, der sein Zimmer fotografiert hat, ganz offensichtlich eine wichtige Funktion. Auffallend ist, dass kein Poster eines Popstars zu sehen ist, was bei einem Jugendlichen durchaus zu vermuten wäre. Die Zugehörigkeit des Jungen wird in dreifacher Hinsicht zum Ausdruck gebracht: national, religiös-kulturell und privat-familiär. Der 41
türkische Fussballverein, der in aller Welt bekannt und anerkannt ist, verweist auf das mit der Herkunft verbundene Anerkennungsbegehren. Die Gesamtfotografie zeigt uns eine ambivalente, balancierende Selbstund Welthaltung. Das Temporäre des Balancierenden drückt sich u.a. darin aus, wie die abgebildeten Gegenstände befestigt sind: Sie hängen an der Wand, als sei das Zimmer gerade erst bezogen worden – es könnte auch jeder Zeit ohne großen Aufwand umgeräumt oder verlassen werden. Das Foto ist in Deutschland aufgenommen worden. In ihm zeigt sich eine Verbundenheit mit der türkischen Kultur. Die eigentliche Identität desjenigen, der das Foto gemacht hat, scheint somit eine türkische zu sein. Die Selbst- und Welthaltung muss also diese beiden Referenzpunkte, Leben in der deutschen Kultur und eigentliche Identifikation mit der türkischen Kultur, ausbalancieren. 4.
Schlussbemerkung
Die Interpretation der Bilder aus beiden Projekten konnte hier aus Platzgründen nur angedeutet werden. Die Resultate verweisen auf die „Situiertheit“ der Menschen, auf ihre Selbst- und Weltverständnisse. Im ersten Bild fanden wir einen biographischen Entwurf mit integrierten alternativen Optionen, mit Elementen, die die Bestimmtheitsstruktur lockern, die Suchbewegungen anzeigen und eher auf flexible Selbst- und Weltreferenzen verweisen. Im zweiten Bild fanden wir einen biographischen Entwurf, bei dem Zugehörigkeit und Anerkennung dominieren, so dass die Ausbalancierung der Identität dadurch überwiegend geprägt wird. Wir finden hier keine Spielräume, keine ikonographischen Hinweise auf Suchbewegungen, sondern eher eine gewisse Starre der Selbst- und Weltreferenz. Bildinterpretationen in der Qualitativen Sozialforschung können uns, das soll der Beitrag zeigen, andere Wege zeigen, wie wir einen Zugang zu der Frage bekommen, wie Menschen in hochkomplexen Gesellschaften Orientierung aufbauen und sich auf diesem Wege als Subjekt konstituieren. 5.
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Ralf Bohnsack
Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation in der Forschungspraxis
Der folgende Beitrag ist in seinem empirischen Teil aufgrund eines ,Auftrages‘ entstanden. Die Veranstalter der „Fachtagung Bildinterpretation“, Winfried Marotzki und Horst Niesyto, hatten im Zuge der Vorbereitung folgende Anfrage an die Referent(inn)en gerichtet: „Diesem mail beigefügt sind drei Fotos. Die Fotos stammen aus einem Forschungsprojekt über die Lebenswelt von Kindern aus Migrationskontexten. Entsprechend dem Vorschlag in der Tagungsankündigung (unter ‚Gegenstand‘) ist die Bitte, dass alle Vortragenden in ihrem 2. Vortragsteil auf der Grundlage ihres jeweiligen Ansatzes 1-2 dieser Fotos interpretieren (Genaue Kontextinformationen zu diesen Fotos werden erst am Ende der Tagung im Rahmen des Vortrages von Niesyto/ Holzwarth gegeben)“. Die hier erzwungene Enthaltsamkeit hinsichtlich des textlich-narrativen Vor-Wissens um den Kontext der Fotos entspricht – wenn auch in sehr weitgehender Weise – der im Rahmen der dokumentarischen Methode (vgl. u.a. Bohnsack 2001a und 2001c) geforderten ‚Einklammerung‘ des Vor-Wissens. Ich werde zunächst auf derartige methodologische Grundprinzipien (Kap. I) und forschungspraktische Arbeitsschritte (Kap. II) der dokumentarischen Methode der Bildinterpretation eingehen, dann (Kap. III u.IV) zwei der drei vorgelegten Fotos interpretieren, um schließlich (Kap. V) auf dem Wege der komparativen Analyse und der Typenbildung den sich in den Fotos dokumentierenden Orientierungsrahmen oder Habitus genauer zu identifizieren. I.
Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation als Antwort auf zentrale methodologische Fragen des Zugangs zur Ikonizität
Die grundlegenden Auseinandersetzungen mit dem Bild und dessen Interpretation von Seiten der Semiotik (Roland Barthes 1990 und Umberto Eco 45
1994), der Philosophie (u.a. Michel Foucault 1971) und der Kunstgeschichte (u.a. Max Imdahl 1979, 1996a und 1996b) kreisen in fokussierter Weise um die Frage, wie es gelingen kann, dem Bild in seiner Eigenlogik und Eigensinnigkeit gerecht zu werden. Es geht darum, das Bild als „ein nach immanenten Gesetzen konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System“ (Imdahl 1979, 190) erschließen und den Besonderheiten des ikonischen Codes, des Visuellen, interpretativ Rechnung tragen zu können. Insbesondere stellt sich hier das Problem, den Blick auf diese Besonderheiten und auf die Eigensinnigkeit nicht durch ein sprachlich-narratives (Vor-) Wissen von vornherein zu verstellen. Wenn man „die Beziehung der Sprache und des Sichtbaren offen halten will, wenn man nicht gegen, sondern ausgehend von ihrer Unvereinbarkeit sprechen will“ (Foucault 1971, 38), muss man im Sinne von Roland Barthes (1990, 37) die „Konnotationszeichen“, also das (im Wesentlichen) sprachlich-textlich Vorwissen, „ausgelöscht“ bzw. eingeklammert haben. Korrespondierend fordert der Kunsthistoriker Imdahl (1996b, 435), dass das textlich-narrative (Vor-)Wissen um den Bildinhalt „methodisch verdrängt“ werden müsse. Trotz dieser transdisziplinären Übereinstimmungen in der erkenntnistheoretischen Reflexion (vgl. dazu: Bohnsack 2001a und 2003a) liegt eine Umsetzung dieser Erkenntnisse in eine methodische Verfahrensweise, welche den Ansprüchen der Sozialwissenschaften als empirischen Wissenschaften gerecht zu werden vermag, nicht oder nur in aller ersten Ansätzen vor. In den qualitativen Methoden haben wir es vielmehr mit der – zunächst paradox anmutenden – Entwicklung zu tun, dass deren Etablierung und Verfeinerung in den letzten 25 Jahren in zunehmendem Maße zu einer Marginalisierung des Bildes geführt haben, da diese Etablierung und Verfeinerung mit der Dominanz textinterpretativer Verfahren und einer ‚Textfixierung‘ qualitativer Mehodologien einherging. Insbesondere wurde und wird in der qualitativen Forschung nicht unterschieden zwischen einer (textförmigen) Verständigung über das Bild und einer (textunabhängigen) Verständigung durch das Bild, d.h. im Medium des Bildes selbst (genauer dazu: Bohnsack 2003a). Im Zuge der Bewältigung derartiger theoretischer, methodologischer und forschungspraktischer Aufgaben könnte sich im Sinne von William Mitchell (1994 und 1997), der die Besonderheiten des von ihm so genannten „pictorial turn“ umfassend herausgearbeitet hat, „die theoretische Marginalität der Kunstgeschichte durchaus in eine Position des intellektuellen Zentrums wandeln“ (Mitchell 1997, 17). Denn im Bereich der Kunstgeschichte sind Probleme der Interpretation visueller Repräsentationen bisher am umfassendsten diskutiert worden. Aus diesem Grund hält im Bereich der Erzie46
hungswissenschaft auch Klaus Mollenhauer (2003, 253) das „Studium der in die Methoden der Kunstgeschichte einführenden Literatur“ für „unerlässlich“. Von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky stammt dann auch das wohl anspruchsvollste und zugleich einflussreichste Modell der Bildinterpretation. Panofskys Wechsel der Analyseeinstellung von der Ikonografie zur Ikonologie war für die Kunstgeschichte von bahnbrechender Bedeutung. Panofsky ist mit diesem paradigmatischen Wechsel – wie er selbst explizit darlegt (1932, 115) – der „dokumentarischen Methode“ von Karl Mannheim (1964a) gefolgt und dessen Differenzierung von dokumentarischem und immanentem Sinngehalt. Diese Leitdifferenz hat diejenige der Beobachtungen erster und zweiter Ordnung im Sinne von Luhmann (1990) bereits in den 1920er Jahren vorweggenommen und vorbereitet. Indem Panofsky als Kunsthistoriker mit seinem Bezug auf Mannheims Wissenssoziologie selbst an Elemente einer anspruchsvollen sozialwissen-schaftlichen Methodologie angeschlossen hat, ergibt sich für die Entwicklung einer sozialwissenschaftlichen Methodik der Bildinterpretation eine äußerst günstige Konstellation. Die Relevanz von Panofsky für die Sozialwissenschaft ist auch durch die Arbeiten von Bourdieu (1970) nachhaltig bestätigt worden, nicht nur aufgrund der – ursprünglich von Panofsky stammenden – Konzeption des „Habitus“, sondern auch, indem Bourdieu die Relevanz der Ikonologie als sozialwissenschaftliche Methodologie unterstreicht. Allerdings hat diese besondere Leistung von Panofsky – nämlich, dass er den Habitus bzw. den Dokumentsinn (beispielsweise einer Epoche wie der Renaissance) aus den Analogien oder Homologien unterschiedlicher Medien, unterschiedlicher Darstellungsgattungen oder Kunstgattungen (von der Literatur über die Malerei und Architektur bis zur Musik) dieser Epoche zu rekonstruieren vermag – zugleich auch eine Kehrseite. Denn da Panofsky mit seiner Ikonologie nicht primär an jenen Sinngehalten interessiert ist, die nur durch das Bild, sondern an jenen, die unter anderem auch durch das Bild zu vermitteln sind, stellt sich die – von Max Imdahl (1996a, 89) prägnant formulierte – Frage, wo dann noch das Besondere des Mediums Bild, der Ikonizität in den Interpretationen von Panofsky zu finden sei. In diesem Zusammenhang hat Imdahl auch die reduzierte Bedeutung von „Formen“ und „Kompositionen“ kritisiert. Diese seien bei Panofsky auf die Funktion reduziert, die (natürlichen) Gegenständlichkeiten des Bildes und die ikonografischen Narrationen (z.B. der biblischen oder heilsgeschichtlichen Texte) wiedererkennbar zu gestalten. Demgegenüber kann eine Bildinterpretation sich nur dann in optimaler Weise vom textlich-narrativen Vor-Wissen freihalten und der 47
Eigensinnigkeit und Eigengesetzlichkeit des Bildes gerecht werden, wenn dessen (formale) Gesamtkomposition in den Blick genommen wird. Während wir im Common Sense dazu neigen, einzelne Elemente des Bildes herauszugreifen, zwingt uns die Rekonstruktion der formalen, insbesondere der „planimetrischen Komposition“ (vgl. Imdahl 1996a), gewissermaßen dazu, diese Elemente nicht isoliert, sondern grundsätzlich immer im Ensemble der anderen Elemente zu interpretieren. Max Imdahl hat in diesem Sinne die von ihm sogenannte „Ikonik“ entwickelt. Wenn es uns – u.a. mit Hilfe der Formalstruktur – gelingt, einen Zugang zum Bild (bspw. einem Familienfoto) als eigengesetzlichem oder selbstreferentiellem System zu erschließen, dann eröffnet sich uns auf diese Weise auch ein systematischer Zugang zur Eigengesetzlichkeit des Erfahrungsraums der Bildproduzent(inn)en (bspw. einer Familie), also zu deren Habitus. Da wir es hier aber mit grundsätzlich zwei unterschiedlichen Dimensionen oder Arten von Bildproduzent(inn)en zu tun haben, ergeben sich daraus Anforderungen an die Bildinterpretation von erheblicher Komplexität (vgl. Bohnsack 2001a, 2003a und 2003b): Auf der einen Seite haben wir die (wie ich es nenne) abbildenden Bildproduzent(inn)en (u.a. Fotografen und andere Akteure hinter der Kamera und nach der fotografischen Aufzeichnung). Auf der anderen Seite haben wir die abgebildeten Bildproduzentinnen, also die Personen, Wesen oder sozialen Szenerien, die zum Sujet des Bildes gehören bzw. vor der Kamera agieren. Die sich aus der komplexen Relation dieser beiden unterschiedlichen Arten von Bildproduzent(inn)en ergebenden methodischen Herausforderungen gilt es zu bewältigen. Dies ist dann weitgehend unproblematisch, wenn abgebildete und abbildende Bildproduzent(inn)en zu demselben Erfahrungsraum gehören, also beispielsweise die Fotografin der Familie selbst eines ihrer Mitglieder ist. Da sich diese Probleme insbesondere im Bereich der Fotointerpretation stellen, sind sie von den Kunsthistorikern Panofsky und Imdahl nicht bearbeitet worden. Für eine sozialwissenschaftliche Methodik der Bildinterpretation stellen sie eine große Herausforderung dar.1 Weitere und noch bedeutsamere Herausforderungen für die Entfaltung einer sozialwissenschaftlichen Methodik der Bildinterpretation ergeben sich allerdings (wie bereits angesprochen) aus der Einklammerung von Bereichen des textlich-narrativen Vor-Wissens und (damit zusammenhängend) der Re1
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Inwieweit uns die Interpretationen von Bildern Aufschlüsse über den Habitus der Rezipient(inn)en zu geben vermögen, ist auf der Grundlage von Gruppendiskussionen, der dokumentarischen Methode und der Ikonoloige von Panofsky und Burkard Michel (2004 und 2005) herausgearbeitet.
konstruktion der Formalstruktur des Bilde Die Interpretationen von Panofsky waren, wie dargelegt, von vornherein mit Anschlüssen an die sozialwissenschaftliche Methodologie versehen, da seine Ikonologie auf die Repräsentationen historischer (epochaler) und somit auch kultureller und milieuspezifischer Strukturen im Sinne des Habitus gerichtet waren. Da die Ikonik von Imdahl primär auf die Ästhetik gerichtet ist, muss eine Bildinterpretation, die, wie von ihm gefordert, ihren Ausgangspunkt bei der formalen Komposition des Bilds nimmt, in ihrer sozialwissenschaftlichen Relevanz methodisch teilweise neu entfaltet werden. Die dokumentarische Methode, wie ich sie ursprünglich im Bereich der Textinterpretation entwickelt habe, bietet allerdings von ihrer methodologischen Grundausstattung gute Voraussetzungen für eine Integration derartiger formalästhetischer Elemente. Denn es hat sich auch im Bereich der Textinterpretation bereits gezeigt, dass wir den Präsentationen der Erforschten in ihrer Eigensinnigkeit nur dann gerecht werden können, wenn wir ihre sprachlichen bzw. textlichen Darstellungen im Kontext formaler Strukturen alltäglicher Kommunikation und somit in ihrer ‚Alltagsästhetik‘ Rechnung zu tragen vermögen. Auch im Bereich der Textinterpretation gilt es, den – von dem bzw. den Textproduzenten intuitiv selbst hergestellten – Gesamt-Kontext zu berücksichtigen. So wird eine Äußerung bspw. erst im Kontext der ‚kommunikativen Gattung‘ Erzählung adäquat interpretierbar, die ihrerseits im Kontext einer Diskussion unter Jugendlichen produziert worden ist und sich demzufolge in ihrer (milieuspezifischen) Bedeutung nur unter Berücksichtigung des Kontextes der Reaktionen (Redebeiträge) der anderen Diskurs-Beteiligten (der Diskursorganisation) erschließt. Die qualitative Methodik hat sich zur Sicherung und Rekonstruktion der formalen Strukturen z.T. auf linguistische oder soziolinguistische Analysen gestützt. Für die sozialwissenschaftliche Methodik der Bildinterpretation erscheint es in entsprechender Weise sinnvoll, sich der umfangreichen Vorarbeiten zur formalen Ästhetik im Bereich der Kunstgeschichte zu vergewissern. So hat Klaus Mollenhauer (1983, 179) betont, „daß bereits die nur formalästhetischen Charakteristika inhaltliche Hinweise enthalten. In linguistischer Metapher gesprochen: Die Bild-Syntax zeigt schon der Bildsemantik ihren Weg.“ In diesem Sinne kann auch ästhetische Bildung zu einer Grundlage für Methodenausbildung werden. Dabei dient die Rekonstruktion der Formalstruktur im Sinne der dokumentarischen Methode nicht allein der adäquaten Kontextuierung der einzelnen Elemente des Textes oder des Bildes, die es erst ermöglicht, zum eigentlichen Sinngehalt vorzudringen. Die Rekonstruktion der formalen Komposition er49
möglicht zugleich eine wechselseitige Validierung von Form und Inhalt, von propositionaler und performatorischer Struktur, indem Homologien herausgearbeitet werden können zwischen der (formalen) Sinnstruktur des Darstellungsprozesses und jener (inhaltlichen) Sinnstruktur, die Gegenstand der Darstellung ist (vgl. Bohnsack 2005b). Die Rekonstruktion der Formalstruktur des Bildes, welche uns erst den Zugang zum Bild in der Totalität seiner Gesamtstruktur eröffnet, ist auch bestimmend für die spezifische Zeitlichkeit der ikonologischen bzw. ikonischen Interpretation, welche Imdahl (1996a, 23) als diejenige der „Simultanstruktur“ charakterisiert: „Vermöge seiner planimetrisch geregelten Komposition ist das Bild eine vom Künstler erschaffene, in seiner Ganzheitlichkeit invariable und notwendige, das heißt alles auf alles und alles aufs Ganze beziehende Simultanstruktur. (...): Das Ganze ist von vornherein in Totalpräsenz gegeben“. Dabei ist allerdings zu betonen (denn dies wird oft missverstanden), dass Simultaneität in dem hier verstandenen Sinne nicht den Modus der sinnlichen Wahrnehmung meint, also nicht ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen, sondern vielmehr ein Phänomen der Semantik der interpretativen Sinnbildung. Der Zugang zur Ganzheitlichkeit im Modus der Simultanietät ist also eine (den Erfordernissen der Bildlichkeit entsprechende) Variante des hermeneutischen Zirkels, des zirkelhaften Oszillierens zwischen Teil und Ganzem. Der Zugang zur Ganzheitlichkeit ist aber nicht – oder wohl eher selten – unmittelbar gegeben. Vielmehr muss man sich diesen Zugang erarbeiten. Der Weg hin zu einer die Totalität des Bildes erfassendenen Simultanietät kann also durchaus sukzessive vonstatten gehen. Allerdings steht ein Interpretationsverfahren, welches der Eigensinnigkeit der Bildhaftigkeit auf dem Wege der Rekonstruktion der Simultanstruktur gerecht werden will, im Gegensatz zu einer Vorgehensweise, welche die Konstitution semantischer Strukturen als sequenziell oder sequenzanalytisch fundiert versteht. Bekanntermaßen stellt nun aber für alle neueren qualitativen Methoden die Sequenzanalyse ein zentrales methodisches Prinzip dar. Sobald wir dieses Prinzip direkt auf das Bild zu übertragen suchen (wie dies beispielsweise in der objektiven Hermeneutik geschieht), zielen wir an der Eigensinnigkeit des Bildes vorbei. Erfolg versprechender erscheint es, prinzipieller anzusetzen und die Frage zu stellen, in welchem generelleren methodischen Prinzip die Sequenzanalyse ihrerseits fundiert ist, um dann von dieser prinzipielleren Ebene her Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bild- und Textinterpretation zu begründen. Dieses generellere Prinzip ist dasjenige der Operation mit Vergleichshorizonten: das Prinzip der komparativen Analyse. Die Sequenzanalyse 50
stellt nur eine der möglichen Ausprägungen der erkenntnisgenerierenden Methodik der Operation mit Vergleichshorizonten dar. Die Bedeutung der komparativen Analyse für das Feld der Textinterpretation zeigt sich beispielsweise darin, dass sich mir das, was den Sinngehalt eines spezifischen Diskurses ausmacht, dadurch erschließt, dass ich dagegenhalte, wie dasselbe (oder ein vergleichbares) Thema auch in anderer Weise, in einem anderen Diskurs hätte behandelt werden können oder (besser noch) bereits behandelt worden ist (dazu: Bohnsack 2001c). Diese Vergleichshorizonte, die ich im Zuge der Interpretation des Diskurses an ihn herantrage, können entweder imaginativer Art oder in empirischen Vergleichsfällen fundiert sein (vgl. Bohnsack 2003d). Auch im Medium der Bildinterpretation ist der Interpret als Beobachter in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Ebenen auf Vergleichshorizonte angewiesen, die zunächst implizit bleiben. Dies gilt auch bereits auf der Ebene der Rekonstruktion der formalen Komposition eines Bildes. So vollzieht sich schon deren Wahrnehmung vor dem Vergleichshorizont (intuitiv vollzogener) anderer, kontingenter Kompositionen. Imdahl hat die je spezifische Komposition eines Bildes – beispielsweise diejenige der mittelalterlichen Miniatur: „Der Hauptmann von Kapernaum“ – in experimenteller Weise verändert und konnte auf diese Weise zeigen, dass der Sinn einer verbildlichten Szene direkt mit der formalen Komposition variiert (vgl. u.a. Imdahl 1994 und 1996c, 302 ff.). Diese experimentelle Veränderung der Komposition wie auch das Heranziehen von empirischen Vergleichsfällen, die sich durch systematische Variationen der Komposition voneinander unterscheiden, habe ich als Kompositionsvariation bezeichnet (vgl. Bohnsack 2001a). Eine an Panofsky anschließende methodische Verfahrensweise von sozialwissenschaftlicher Relevanz, die darüber hinaus aber auch – im Sinne von Imdahl – den (ästhetischen) Formalstrukturen des Bildes (insbesondere der Planimetrie und der Perspektivität) einen zentralen Stellenwert einräumt, um von dort her die Gesamtkomposition zu erschließen, ist von mir in ihren grundlegenden Ansätzen mit der dokumentarischen Methode der Bildinterpretation entwickelt worden (vgl. u.a. Bohnsack 2001a und 2001b und 2003b). Dabei leistet die dokumentarische Methode u.a. die Bewältigung folgender Aufgaben: – Der erkenntnistheoretisch-philosophisch geforderten Einklammerung oder auch „methodischen Verdrängung“ des textlich-narrativen Vor-Wissens kann eine sozialwissenschaftliche Relevanz verliehen und im Rah51
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II.
men sozialwissenschaftlicher Empirie methodisch-forschungspraktisch umgesetzt werden, um der Eigensinnigkeit des Bildes, der Ikonizität gerecht werden zu können. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls notwendige Rekonstruktion der formalen Komposition des Bildes kann in einer über die rein ästhetische Analyse hinausgehenden und für die sozialwissenschaftliche Empirie relevanten Weise umgesetzt werden. Auf der Grundlage gemeinsamer methodologischer und erkenntnistheoretischer Grundlagen können generelle forschungspraktische Verfahrensweisen und Arbeitsschritte entwickelt werden, die es ermöglichen, Bildund Textinterpretationen in einander ergänzender Weise (im Sinne einer Methodentriangulation) aufeinander zu beziehen. Auf dem Wege der Typenbildung kann den für die sozialwissenschaftliche Empirie wesentlichen Qualitätskriterien der Generalisierung und ‚Erklärung‘ auch im Bereich der Bildinterpretation Rechnung getragen werden (vgl. auch Kap. V). Insgesamt wird es auf diese Weise möglich, (allgemeine) gemeinsame Standards von Bild- und Textinterpretation zu entwickeln (vgl. dazu Bohnsack 2005a) und dabei zugleich aber auch den Besonderheiten und Eigengesetzlichkeiten des Bildes im Unterschied zum Text Rechnung zu tragen, d.h. die Semantik des Bildes nicht unter das textliche (Vor-)Wissen zu subsumieren. Die Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode der Bildinterpretation
Diese Arbeitsschritte der Bildinterpretation folgen ebenso wie diejenigen der Textinterpretation der Leitdifferenz von immanentem und dokumentarischem Sinngehalt und der daraus resultierenden Differenzierung von formulierender und reflektierender Interpretation. Die auf den immanenten Sinngehalt bezogene formulierende Interpretation fragt danach, was auf dem Bild bzw. im Text dargestellt wird. Die reflektierende Interpretation fragt nach dem Wie der Herstellung der Darstellung, nach dem modus operandi (vgl. Bohnsack 2001a und 2001c).
52
1.1
Formulierende Interpretation
Panofsky hat mit seiner Ikonologie an die Unterscheidung von immanentem und dokumentarischem Sinngehalt bei Mannheim angeknüpft, um dann aber innerhalb des immanenten Sinngehalts, also innerhalb der Frage nach dem Was (dargestellt ist), noch einmal zu differenzieren zwischen der vor-ikonografischen Ebene als dem Bereich der auf einem Bild sichtbaren Gegenstände, Phänomene und Bewegungsabläufe und der ikonografischen Ebene als dem Bereich der auf dem Bild identifizierbaren Handlungen. Um Handlungen zu identifizieren, muss ich Motive unterstellen, genauer: „Um-zu-Motive“: Die auf der vor-ikonografischen Ebene beschreibbare Bewegung des „Hutziehens“ wird auf der ikonografischen Ebene als ein „Grüßen“ interpretiert (so das Beispiel von Panofsky 1975, 38): Der Bekannte zieht seinen Hut, um zu grüßen. Mit dieser Interpretation oder Konstruktion eines subjektiv gemeintem Sinns sind aber schwerwiegende Probleme der Zuschreibung von Motiven, von Intentionen verbunden. Diese (auf der Grundlage des narrativ-textlichen Vorwissens vollzogenen) Zuschreibungen und Unterstellungen gilt es – soweit wie möglich – zu suspendieren oder einzuklammern. Motivunterstellungen sind nur dort unproblematisch, wo wir es mit institutionalisierten oder (wie es in der dokumentarischen Methode genannt wird) „kommunikativ-generalisierten“ Bedeutungen zu tun haben (vgl. Bohnsack 2001c und 2001a), wie beispielsweise im Falle der Interpretation des „Hutziehens“ als „Grüßen“. Hierzu gehört auch das Wissen um gesellschaftliche Institutionen und Rollenbeziehungen, also beispielsweise das allgemeine Wissen darum, was eine ‚Familie‘ ist. Davon zu unterscheiden ist im Sinne der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2001a und 2001c) ein Wissen um die je fall- oder auch milieuspezifische Besonderheit des Dargestellten und seiner konkreten Geschichte, das „konjunktive“ Wissen, also beispielsweise unser Wissen um die (auf dem Bild dargestellte) Familie. Dieses konjunktive Wissen, das Wissen um die „Eigennamen“, wie es bei Foucault (1971, 38) heißt, gilt es – auch dann, wenn es in empirisch valider Form vorliegt – einzuklammern, zu suspendieren. Im Sinne von Foucault (ebenda) „muss man die Eigennamen auslöschen“. Im Bereich der ikonografischen Beschreibung oder Interpretation findet unser sprachlich-textliches Vorwissen also lediglich insoweit Berücksichtigung, als es sich um die kommunikativ-generalisierten Wissensbestände handelt. 53
1.2 Reflektierende Interpretation Das Grundgerüst der reflektierenden Interpretation des Bildes bildet – wie auch im Bereich der Textinterpretation (vgl. Bohnsack 2001c) – die Rekonstruktion der Formalstruktur, der formalen Komposition. Imdahl (1996a, Kap. II) unterscheidet drei Dimensionen des formalen kompositionalen Aufbaus des Bildes: – die „perspektivische Projektion“ – die „szenische Choreografie“ und die „planimetrische Ganzheitsstruktur“. Die planimetrische Ganzheitsstruktur, also die formale Konstruktion des Bildes in der Fläche, erscheint nach Imdahl von entscheidender Bedeutung für das „sehende Sehen“, welches den Zugang zum Eigensinn des Bildes eröffnet. Die planimetrische Komposition schafft ihre eigenen bildinternen, systemimmanenten Gesetzlichkeiten, ihre eigene formale Ganzheitsstruktur im Sinne einer Totalität. Insbesondere die Planimetrie führt uns das Bild als „ein nach immanenten Gesetzen konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System“ (Imdahl 1979, 190) vor Augen. Demgegenüber dient die Perspektivität primär dazu, Gegenstände und Personen in ihrer Räumlichkeit und Körperlichkeit identifizierbar zu machen. Sie ist somit an den Gesetzmäßigkeiten der im Bild dargestellten Außenoder Umwelt des Bildes orientiert. Im Bereich der sozialwissenschaftlichen Bildinterpretation ermöglicht uns die Rekonstruktion der Perspektivität im wahrsten Sinne des Wortes Einblicke in die Perspektive des abbildenden Bildproduzenten und in seine Weltanschauung. Während es im Sinne von Imdahl und auch Panofsky bei der Rekonstruktion der Perspektivität im wesentlichen darum geht, die „Perspektive als ‚symbolische Form‘“ (Panofsky 1964) im Kontext epochaler Wandlungsprozesse – insbesondere die uns heute selbstverständliche Zentralperspektive vor dem Hintergrund ihrer historischen ‚Vorläufer‘ (z.B. der Achsenperspektive) – genauer zu beleuchten2, haben wir es im Bereich der Fotointerpretation in der Regel mit der Zentralperspektive zu tun. Es geht vor allem um die Frage, welche Personen und sozialen Szenerien durch den abbildenden Bildproduzenten, durch das Kameraauge sozusagen, in Form des Fluchtpunktes fokussiert und somit ins Zentrum des sozialen Geschehens gerückt werden. Innerhalb der Zentralperspektive lassen sich u.a. die Parallelperspektive (mit einem Fluchtpunkt), die Schrägperspektive (mit zwei Fluchtpunkten) und die Luftperspektive (mit drei Fluchtpunkten) unterscheiden. 2 54
Zur Entwicklung und Geschichte der Zentralperspektive s. auch: Panofsky 2001 sowie Edgerton 2002.
Indem die dokumentarische Bildinterpretation die Rekonstruktion der formalen – allen voran der planimetrischen – Komposition zum Ausgangspunkt und Grundgerüst der reflektierenden Interpretation nimmt, nähert sie sich der Ikonik von Imdahl, der hierin wesentlich den Unterschied seiner ikonischen Interpretation zur ikonologischen Interpretation von Panofsky gesehen hat. Da die dokumentarische Bildinterpretation aber auch der starken sozialwissenschaftlichen Relevanz der ikonologischen Interpretation von Panofsky verbunden bleibt, kann man sie auch als ikonologisch-ikonische Interpretation bezeichnen. III. Interpretation des Fotos 1: „Unterricht“ (siehe dazu die Abbildung 1-4) 1.
Formulierende Interpretation
1.1
Vor-ikonografische Ebene
Zum Bildvordergrund: Wir sehen in einen großen Raum, in dessen Vordergrund sich eine Tischreihe mit Stühlen befindet. Auf diesen sitzen mit dem Rücken zum Betrachter rechts ein Kind bzw. Jugendlicher im Alter zwischen 12-15 Jahren und links – nur noch zur Hälfte und sehr unscharf abgebildet – ein(e) andere(r) Jugendliche(r) (ggf. auch ein(e) Erwachsene(r)). Letztere(r) trägt ein T-Shirt und hält einen Stift in Schreibbereitschaft in der rechten Hand. Der rechte Jugendliche trägt eine helle Jogging-Jacke mit Kapuze. Er schaut in Richtung auf die Tafel im Hintergrund. Über der Lehne des rechten (besetzten) Stuhls hängt eine gefütterte Jacke. Zwischen den beiden Jugendlichen ist ein Platz, also ein Stuhl, freigelassen, auf dem ein Kleidungsstück oder auch ein Beutel oder eine Tasche liegt. Auf dem Tisch zwischen ihnen befinden sich Hefte mit buntem Umschlag. Zum Bildmittelgrund: Hier sehen wir einen weiteren Tisch mit einem Stuhl, der in Sitzrichtung zum Betrachter aufgestellt ist. Auf dem Tisch liegen Papierscheren und andere, nicht identifizierbare Unterlagen.
55
Abbildung 1
Abbildung 2 56
Abbildung 3
Abbildung 4 57
Zum Bildhintergrund: Über die gesamte Rückwand des Raumes hin erstrecken sich zwei Tafeln: links eine an der Wand fixierte Tafel mit einer unten befestigten Holzleiste, die der Ablage dient. Rechts befindet sich eine größere, an Metallschienen vertikal verschiebbare und ausklappbare, Tafel, deren beide Seiten geöffnet sind. Daran sind unten eine Metallleiste befestigt sowie ein Korb zur Ablage. Beide Tafeln sind (soweit erkennbar) nahezu vollständig mit Notizen bedeckt. – Der linke ausgeklappte Teil der größeren Tafel ist in der oberen Hälfte mit folgendem Text beschrieben: „Veränderungen vom Urmensch bis zum Jetztmenschen. Bei Jetztmenschen sind 1) Kopf und Gehirn größer“ Ein männlicher Erwachsener (im Alter von ca. 35-50 Jahren) ist gerade im Begriff, die nächste Zeile zu schreiben. Er steht mit dem Rücken zum Betrachter und trägt einen Pullover, aus dem ein Hemdkragen hervorschaut, und eine dunkle Hose. – Links von dem Mann befindet sich unter der linken Tafel ein Regal, auf dem ein Radio-Kassetten-Gerät mit integrierten Lautsprechern steht, sowie andere nicht-identifizierbare Gegenstände. – An der Raumdecke sind zwei längliche kastenförmige Leuchten befestigt, die eingeschaltet sind. Zugleich fällt aber – wie der große helle Fleck auf der linken Tafel zeigt – sehr helles Fensterlicht von links in den ansonsten offensichtlich durch Vorhänge abgedunkelten Raum. 1.2 Ikonografische Ebene: kommunikativ-generalisierende (stereotypisierende) Wissensbestände Auf der Grundlage der Vor-Information über die Fotos, welche den Referierenden des Workshops zugänglich gemacht wurde, stand mir lediglich das Wissen darüber zur Verfügung, dass es sich um „Kinder aus Migrationskontexten“ handelt. Allerdings lassen sich zusätzliche Wissensbestände bezüglich der Rollenbeziehungen der Akteure und des institutionellen Kontextes den beiden Fotos („Klasse“ und „Pause“) selbst mit großer Evidenz entnehmen: Es handelt sich hier um eine typische Szene des frontalen Schulunter58
richts mit zwei abgebildeten Schülern und einem Lehrer. Die Abbildung umfasst die erste Reihe einer Schulklasse mit dem davor in umgekehrter Richtung stehenden Lehrertisch. 2.
Reflektierende Interpretation
1.1
Formale Komposition
1.1.1 Planimetrische Komposition (Abb. 2) Die planimetrische Komposition wird dominiert durch die Schultafel bzw. durch die beiden Tafeln, die sich frontal zur Bildebene von links nach rechts wie ein (grün-)schwarzes Band durch das gesamte Bild ziehen. Die Wirkung dieses schwarzen Bandes oder Balkens für die Bildkomposition wird dadurch verstärkt, dass sich die horizontale Bildmittelachse annäherungsweise in der horizontalen Mitte der Tafeln befindet, aber auch dadurch, dass die Tischreihe in etwa parallel dazu verläuft. Dies gilt auch für das Regal links neben der Person des Lehrers. – Das planimetrische Zentrum (der Bildmittelpunkt) befindet sich auf dem aufgeklappten Tafelsegment, auf dem der Lehrer schreibt, rechts neben diesem. Die horizontale Bildmittelachse verbindet die Köpfe der beiden Schüler miteinander. Sie gewinnt damit auch eine Bedeutung für die szenische Choreografie. 1.1.2 Perspektivische Projektion (Abb. 3) Wir haben es mit der Parallelperspektive zu tun, die auf einen Fluchtpunkt fokussiert ist. Diesen, also das perspektivische Zentrum, hat der abbildende Bildproduzent in die Nähe des planimetrischen Zentrums, genauer: ein wenig links oberhalb von diesem, positioniert. Der Fluchtpunkt befindet sich rechts neben der rechten Hand des Lehrers, die die Tafel beschreibt. Durch diese Überlagerung von perspektivischem und planimetrischem Zentrum erhält dieses Segment des Bildes – der Bereich der Tafel, den der Lehrer demnächst beschreiben wird – eine besondere Fokussierung. Diese wird bestätigt und verstärkt durch die Blickrichtung des rechten Schülers, der auf diesen Bereich gerichtet ist: Diesem Blick des abgebildeten Bildproduzenten folgt also der abbildende Bildproduzent mit seinem Blick, d.h. mit dem Fokus des Kamerablicks. 59
1.1.3 Szenische Choreographie (Abb. 4) Die szenische Choreographie, welche die formale Komposition des Bildes unter dem Aspekt des Arrangements der beteiligten Personen bzw. Körper zueinander betrachtet, lässt erkennen, dass der Lehrer von den beiden Schülern in die Mitte genommen und dabei zugleich erhöht positioniert wird. Wenn wir die Köpfe der Schüler mit dem Kopf des Lehrers verbinden, erhalten wir ein gleichschenkliges Dreieck, in dessen Bereich auch der Fluchtpunkt und der planimetrische Bildmittelpunkt liegen. Somit ist dieses Dreieck für die Bildkomposition von zentraler Bedeutung. 2.2 Ikonologisch-ikonische Interpretation Indem der Blick des abbildenden Bildproduzenten auf die Schreibfläche des Lehrers gerichtet ist und mit seinem Blick demjenigen der abgebildeten Bildproduzenten auf diese Tafeln folgt, nimmt er im ursprünglichsten Sinne des Wortes die Schülerperspektive ein. Lehrer und Schüler werden von hinten aufgenommen – und (beispielsweise) nicht von der Seite. Darüber hinaus vermittelt das Bild den Eindruck, dass der Fotograf sich gleich auf den freigebliebenen Stuhl in der Mitte setzen könnte, dass dieser Stuhl für ihn freigehalten wird. Der abbildende Bildproduzent bzw. die abbildende Bildproduzentin nimmt damit nicht eigentlich eine distanzierte Beobachterrolle oder -perspektive ein, sondern bewegt sich in der Teilnehmerrolle – und zwar in der Schüler(innen)rolle. Was die abgebildeten Bildproduzenten anbetrifft, so bleiben auch diese strikt in der Schülerrolle, indem sie auf die Tätigkeit des Lehrers an der Tafel konzentriert sind. Auch dem Fotografen bzw. dem potenziellen späteren Betrachter des Fotos kommt überhaupt keine Aufmerksamkeit zu. Die abgebildeten Bildproduzenten ebenso wie die abbildenden Bildproduzenten lassen sich auf keinerlei Distanz gegenüber ihrer Schülerrolle ein. Diese (wie man es nennen könnte) teilnehmende Schülerhaltung ohne Rollendistanz dokumentiert sich – und dies betrifft den abbildenden Bildproduzenten – nicht nur in der Wahl der Perspektivität, sondern auch in der des Bildausschnitts: Der Fluchtpunkt, also das perspektivische Zentrum, befindet sich in etwa an der Stelle, auf die auch der Blick des aufmerksamen Schülers gerichtet zu sein hat: nämlich in demjenigen Bereich der Tafel, in dem die Worte, 60
die der Lehrer demnächst schreiben wird, erscheinen werden. Indem das planimetrische Zentrum sich direkt daneben (genauer: ein wenig rechts davon) befindet, ist die Aufmerksamkeit auf die geschriebenen Worte des Lehrers doppelt fokussiert: durch die Perspektivität wie auch die Planimetrie. Die szenische Choreographie, welche die formale Komposition des Bildes unter dem Aspekt des Arrangements der beteiligten Personen bzw. Körper zueinander betrachtet, lässt erkennen, dass der Lehrer – indem er von den beiden Schülern in die Mitte genommen und dabei zugleich aber auch erhöht positioniert wird – eine räumlich und hierarchisch herausgehobene Stellung erhält. Diese Fokussierung auf den Lehrer entspricht einer Orientierung am Lehrer, wie sie für den Frontalunterricht typisch ist. Bestätigt wird dies (wenn wir unterstellen, dass die Klasse mehr als zwei Schüler umfasst) dadurch, dass nicht auch andere Schüler und somit die Schulklasse insgesamt oder ein Teil von ihr abgebildet wird, sondern lediglich die erste Reihe. Entscheidend kommt nun hinzu, dass der – von hinten auf Schüler und Lehrer gerichtete – Blick des abbildenden Bildproduzenten die Gesichter der Beteiligten und somit deren Individualität, deren persönliche Identität, ausblendet. (Das Gesicht kann als der wichtigste Träger des Ausdrucks der individuellen, der persönlichen Identität angesehen werden). Auch hierin dokumentiert sich, dass die Beteiligten hier lediglich in ihrer Rolle, Funktion oder auch in ihrer sozialen Identität, also der sozialen Identität des Schülers, Relevanz gewinnen. Aber auch diese Charakterisierung geht noch nicht weit genug: Denn nicht eigentlich die rollenförmige Beziehung steht im Zentrum. Auch der kommunikative Bezug der beteiligten Personen untereinander ist eigentlich von marginaler Bedeutung. Vielmehr werden Schüler und Lehrer in ihrem gemeinsamen konzentrierten Bezug auf eine Sache, auf den Unterrichtsgegenstand, abgebildet. Diese Orientierung an den schulischen Sachanforderungen gewinnt seine besondere Fokussierung durch die absolute Dominanz der Wandtafel. Der abbildende Bildproduzent hat durch den Bildausschnitt Sorge getragen, dass alles, was auf der Tafel geschrieben steht, auch abgebildet wird. Er hat dabei – und das ist entscheidend – in seiner Präferenz für den Unterrichtsgegenstand in Kauf genommen, dass der linke Schüler nur zur Hälfte auf dem Bild, gleichsam in der Mitte abgeschnitten ist. Die Präferenz für den Unterrichtsgegenstand unter Ausklammerung der beteiligten Schüler als Personen (und damit ihrer anderen sozialen Identitäten jenseits der Schülerexistenz), aber auch unter Marginalisierung ihrer kommunikativen Beziehung, findet darin seinen besonders markanten Ausdruck. Stattdessen dominieren 61
(wie dargelegt) die beiden Tafeln die Komposition des Bildes, indem sie sich wie ein schwarzes Band durch das gesamte Bild ziehen, dessen Horizont bilden und dieses somit gleichsam zerteilen. Schließlich ist für die Aufnahme eine Situation ausgewählt worden, in welcher der Raum offensichtlich durch geschlossene Vorhänge (ggf. auch Rollläden) nach außen abgeschirmt ist, was sich darin zeigt, dass durch eine Öffnung in den Vorhängen ein heller Lichtfleck auf der Tafel erscheint. Dabei wird in Kauf genommen, dass die Deckenbeleuchtung eingeschaltet werden muss. Diese (durch die abgebildeten Bildproduzenten hergestellte) Abschirmung nach außen und damit von äußeren Einflüssen unterstreicht den (durch den abbildenden Bildproduzenten hergestellten) Eindruck einer strikten Grenzziehung zwischen zwei Bereichen: dem Unterrichtsgeschehen, genauer dem unterrichtlichen Sachbezug, einerseits und den sozialen Bezügen einer Umwelt andererseits, zu der auch die Beteiligten in ihrer persönlichen Identität gehören. Der sich hier dokumentierende Habitus sowohl des abbildenden als auch der abgebildeten Bildproduzenten (beide ergänzen und steigern einander wechselseitig) ist derjenige der Schüler/innen, welche eine strikte, eine rigide Grenze ziehen zwischen dem unterrichtlichen Sachbezug – mit der dazugehörigen sozialen Identität – einerseits und den Bereichen der Peer-Milieus und der außerschulischen Lebenswelt – mit den dazugehörigen anderen sozialen Identitäten – andererseits, welche Elemente der persönlichen Identität sind.3 III. Interpretation des Fotos 2: „Pause“ (s. dazu die Abb. 5-8) 1.
Formulierende Interpretation
1.1
Vor-ikonografische Ebene
Zum Bildvordergrund: Im Bildvordergrund sitzt am linken Bildrand ein Mädchen im Alter von ca. 15 Jahren, welches mit Jeans-Jacke und Jeans-Hose sowie einem Rollkragen 3
62
Die Begriffe der „sozialen“ und der „persönlichen Identität“ („personal“ and „social identity“) verwende ich hier im Sinne von Goffman (1963, S. 1 ff. und 56 ff.).
Abbildung 5
Abbildung 6 63
Abbildung 7
Abbildung 8 64
pullover unter der Jacke bekleidet ist. Die am unteren Bildrand abgeschnittenen Hände ruhen auf den Oberschenkeln, welche ebenfalls nur zum Teil zu sehen sind. Das Mädchen trägt ein Kopftuch und schaut direkt in die Kamera4. Ihre (von ihr selbst aus gesehen) rechte Seite des Oberkörpers und ein Teil ihre Kopfes sind durch die Bildränder abgeschnitten. Links von ihr ist in Höhe ihrer Hüften die Ecke eines Tisches erkennbar. Auf der linken Schulter des Mädchens ruht der rechte Arm eines Jungen, welcher neben und ein wenig hinter ihr sitzt. Der Junge ist 14-15 Jahre alt, also in etwa gleichaltrig, und ist mit Polohemd, Jeans und derben Halbschuhen bekleidet. Er trägt eine Schirmmütze, welcher der obere Teil fehlt. Der Schirm ist (vom Jungen aus gesehen) nach rechts zur Kopfseite gedreht, sodass das Gesicht unverdeckt bleibt. Der andere, der linke Arm des Jungen ruht auf dem über das Knie des linken Beines verschränkten Unterschenkel des rechten Beines. Auf der rechten Seite im Vorder- bzw. Mittelgrund des Bildes steht ein Stuhl, auf dessen Sitzfläche bemalte Steine o.ä. Gegenstände liegen. Vor dem Stuhl ist ganz rechts unten in der Bildecke eine (linke) Hand zu erkennen. Zum Bildhintergrund: Auf der linken Seite hinter den beiden Jugendlichen sind an der Wand befestigte Zeichengeräte des Geometrieunterrichts für die Wandtafel zu erkennen: Oberhalb des Kopfes des Jungen sehen wir einen Ausschnitt aus einem Geo-Dreieck. Zwischen dem Jungen und dem Mädchen sehen wir das Gelenk eines Zirkels mit den Ansätzen der beiden Schenkel. Auf der rechten Seite des Bildhintergrundes sind der – vom Betrachter aus gesehen – linke Part und ein Teil des rechten Parts einer zugeklappten Wandtafel zu sehen. Die Fläche der Tafel ist durch ein Rechengitter gemustert. Die Metallschienen links oberhalb der Wandtafel lassen erkennen, dass die Tafel vertikal verschiebbar ist.
4
Es ist eine noch offene Frage, inwieweit die Charakterisierung des Gesichtsausdrucks, der Mimik (hier bspw.: der introvertierte bis distanzierte, wenn auch nicht unfreundliche Gesichtsausdruck des Mädchens) bereits auf der vor-ikonografischen Ebene ihren Platz hat oder erst auf der ikonologisch-ikonografischen Ebene. In diesem Fall habe ich mich für letzteres entschieden (vgl. unten: 2.2.). In früheren exemplarischen Interpretationen (Bohnsack 2001b und 2003b) habe ich ersteren Weg gewählt. Dies würde eher der Aufteilung bei Panofsky entsprechen (vgl. 1975, S. 36), der auf der vor-ikonografischen Ebene zwischen dem „Sachsinn“ und dem „Ausdruckssin“ unterscheidet. 65
1.2 Ikonografische Ebene: kommunikativ-generalisierende (stereotypisierende) Wissensbestände Wie die Einrichtungsgegenstände erkennen lassen, befinden wir uns in einer Schulklasse, sodass wir davon ausgehen können, dass es sich bei den beiden Jugendlichen um einen Schüler und eine Schülerin handelt. Stereotyperweise sind sie von ihrer Physiognomie und Hautfarbe her wie auch aufgrund des Kopftuchs des Mädchens herkunftsmäßig dem osteuropäischen bzw. vorderasiatischen Bereich zuzuordnen. – Da kein Unterricht stattfindet, haben wir es möglicherweise mit der Pausensituation zu tun. 2.
Reflektierende Interpretation
2.1 Formale Komposition 2.1.1 Planimetrische Komposition (Abb. 6 und 7) Der ein wenig rechts von der vertikalen Bildmittelachse des Bildes verlaufende Abschluss der Klapptafel, der oben noch durch die Führungsschiene verlängert wird, teilt das Bild in eine rechte und eine linke Hälfte (Abb. 6). Während die rechte Hälfte durch mehrere Linien der Tafel und vor allem durch deren Rechengitter in einer leicht nach rechts geneigten Waagerechtsenkrecht-Stabilität gehalten wird, ist die linke Seite nach links gekippt. Die linke Seite, also die Komposition der Körper der beiden Jugendlichen, ist wesentlich durch zwei 75°-Linien bestimmt, die entlang der (von ihnen aus gesehen) jeweils linken Körperseite der Jugendlichen verlaufen – und zwar von den Köpfen über die linken Arme. Wenn wir die stark auf das Mädchen gestützte Haltung des Jungen einbeziehen, vermittelt dies insgesamt den Eindruck, dass die beiden an den Rand des Bildes bzw. aus diesem heraus drängen. Während aufgrund dieser planimetrischen Konstruktion das Bild den Eindruck vermittelt, es würde auseinanderfallen, fangen zwei weitere Linien (Abb. 7) diese Tendenz ein wenig auf und sorgen dafür, dass die beiden Jugendlichen bzw. vor allem ihre Gesichter – wenn auch unter gehöriger Spannung – wieder in die Gesamtkomposition integriert werden. Die eine dieser Linien läuft von der Oberkante des Kopfes des Jungen über die Oberkante des Stuhles rechts. Die andere stellt die Verlängerung der Kante der Sitzflä66
che des Stuhles dar. Sie folgt der Sohle des Schuhs des Jungen und verläuft genau entlang von Kinn und Wange des Mädchens. 2.1.2 Perspektivische Projektion (Abb. 8) Perspektivisch ist der abbildende Bildproduzent (der Fotograf), also das ‚Kameraauge,‘ direkt auf den Metallknopf in der linken oberen Ecke der Tafel fokussiert. Dort befindet sich der Fluchtpunkt. Er ist in der Nähe der vertikalen Bildmittelachse, also in der Mitte des Bildes, positioniert. Dadurch wird die Aufmerksamkeit, welche die beiden Gesichter auf sich ziehen, immer wieder zur rechten Seite des Bildes gelenkt. Der Blick wandert somit zwischen dem linken und dem rechten Teil des Bildes hin und her. Der abbildende Bildproduzent hat also mit Hilfe der Perspektivität dafür gesorgt, dass auch der rechten Bildseite, der großen leeren Tafelfläche mit dem Klassenzimmerstuhl, Aufmerksamkeit zukommt. 2.1.3 Szenische Choreographie Verstärkt wird diese Aufmerksamkeitsrichtung hin zur rechten Seite des Bildes durch die Sitzposition der beiden Jugendlichen links im Bild. Die beiden sitzen – obwohl sie in die Kamera schauen – nicht frontal zur Bildebene, zum Betrachter, sondern ihre Körper (mit Ausnahme des Kopfes und Oberkörper des Jungen) sind schräg zum Klassenraum bzw. zur Tafel hin gewandt. Markiert wird diese Richtung auch durch den Unterschenkel des Jungen. Entsprechend sitzt der Junge schräg hinter dem Mädchen und wirkt dadurch kleiner und – indem das Mädchen quasi schützend vor ihm sitzt und er sich auf es stützt – beinahe ein wenig kindlich. In dieser sehr selbstverständlich und locker, d.h. ohne eine Spannung oder ein besitzergreifendes Element, auf die Schulter des Mädchens gelehnten Haltung des Jungen dokumentiert sich eine Vertrautheit. Diese Vertrautheit oder Nähe wird durch die auffällige Ähnlichkeit der Gesichter und der Hautfarbe unterstrichen wie auch durch die weitgehend übereinstimmende Farblichkeit der Bekleidung: durch das Blau sowie dadurch, dass beide eine weiße Kopfbedeckung tragen.
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2.2 Ikonologisch-ikonische Interpretation All dies lässt die beiden Jugendlichen zu einem in sich geschlossenen Ensemble zusammenwachsen, vermittelt eine Vertrautheit, Nähe und Harmonie, die einen familiären und/oder geschwisterlichen und/oder kumpelhaften Charakter hat. Zugleich wird hier aber auch eine Rollen- oder Arbeitsteilung erkennbar: Während das Mädchen die Annäherung bereitwillig erduldet, lehnt sich der Junge aktiv zu ihr hin. Dies ist mehr ein Sich-Stützen als ein Umarmen. Dabei ist das Mädchen die Stützende und nimmt eine sehr disziplinierte Sitzposition ein. Dieser diszipliniert-strenge Eindruck wird durch das Kopftuch unterstrichen. Demgegenüber hat der Junge sich lässiger und bequemer positioniert. Die Lässigkeit wird durch den verdrehten Mützenschirm noch einmal hervorgehoben. (Sie wirkt allerdings nicht undiszipliniert. Die Sitzposition wäre auch bei bereits begonnenem Unterricht noch akzeptabel). Demgegenüber erscheint das Mädchen hier als ein in sich ruhender Pol, welcher dem Jungen die Möglichkeit bietet, sich abzustützen. Das Mädchen richtet den Blick zwar auf den Fotografen und den potentiellen Bildbetrachter, zugleich ist der Ausdruck aber eher introvertiert bis distanziert, wenn auch nicht unfreundlich. Hierin dokumentiert sich eine Grenzziehung gegenüber dem Betrachter und Fotografen. Dies wird evident im Vergleich zum Blick des Jungen, der demonstrativ nach außen, auf Fotograf und Bildbetrachter, gerichtet ist, ohne allerdings direkt aufdringlich zu wirken. Beiden Gesichtern gemeinsam ist der Ausdruck von Zufriedenheit und auch einem gewissen Stolz. Der Kontrast zwischen der Strenge des Kopftuches und der verdrehten und somit zweckentfremdeten und dadurch auf die stilistisch-expressive Funktion fokussierten Schirmmütze des Jungen unterstreicht einerseits die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Andererseits wirkt die Schirmmütze als Kontrapunkt des Kopftuches, konterkariert oder persifliert dieses in gewisser Weise und nimmt ihm ein wenig von der Strenge. Diese Arbeitsteilung der Jugendlichen untereinander, die auch im je unterschiedlichen Blick ihren Ausdruck findet, stört nicht die Geschlossenheit des Ensembles, sondern verstärkt diese noch. Die zunächst eher harmonisch anmutende Aufnahme einer Peer-Beziehung erhält eine eigenartige Spannung durch die – vom Betrachter aus gesehen – stark nach links geneigte Sitzposition der beiden Jugendlichen, die den Eindruck vermittelt, dass die beiden an den Rand des Bildes bzw. aus ihm heraus drängen. Unterstrichen wird dies dadurch, dass ein Teil des rechten 68
Oberkörpers und des Kopfes der jungen Frau durch den abbildenden Bildproduzenten abgeschnitten worden ist. An den Rand gedrängt wird die Dyade zugunsten der in einer massiven Waagerecht-senkrecht-Orientierung sich in das Bild schiebenden Tafel mit einem davor platzierten Stuhl. Es handelt sich um Artefakte, die die Institutionen Schule und Unterricht repräsentieren5. Der abbildende Bildproduzent hat also die informell-freundschaftliche Beziehung der Dyade an den Rand gedrängt zugunsten der Dokumentation ihres Bezuges zu, ihrer Anbindung an den Schulalltag bzw. den schulischen Sachbezug und dabei einen ästhetischen Bruch oder Kontrast produziert bzw. in Kauf genommen. Dieser wird einerseits dadurch hergestellt, dass die nach rechts geneigte senkrechte Linienführung der Tafel mit der nach links gekippten Linienführung des linken Bildteils kollidiert und andererseits durch die Massivität der großen dunklen Fläche, die sich von rechts wie ein Block ins Bild schiebt. Indem, wie dargelegt, der abbildende Bildproduzent den Fluchtpunkt, also das perspektivische Zentrum des Bildes, direkt auf den Metallknopf in der linken oberen Ecke der Tafel und somit ein wenig rechts von der vertikalen Bildachse gelegt hat, wird die Aufmerksamkeit, die zunächst die beiden Gesichter und das harmonische Peer-Milieu auf sich ziehen, perspektivisch immer wieder zur rechten Seite des Bildes gelenkt. Der abbildende Bildproduzent hat also nicht nur in planimetrischer, sondern auch in perspektivischer Hinsicht Wert darauf gelegt, dass auch der rechten Bildseite Aufmerksamkeit zukommt und somit eine Bindung an den institutionellen Kontext, genauer: an denjenigen der schulischen Sachanforderungen, zum Ausdruck gebracht wird. Unterstützt wird dies (wie erwähnt) durch die Sitzposition: beide Jugendliche sitzen schräg zur Bildebene. Ihre Gesichter sind zum Betrachter, ihre Körper aber (zumindest teilweise) zum Klassenraum hin gewandt. Das führt dazu, dass wir es auf demselben Foto mit zwei gegenläufigen Bewegungen zu tun haben: auf der einen Seite mit einem in sich ruhenden Peeroder gegebenenfalls auch Familien-Milieu, auf der anderen Seite einer Orientierung am schulischen Kontext und dessen Sachanforderungen. Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich.
5
Hier allerdings – im Unterschied zu Foto 1 – in einer Pausensituation. Denn der Stuhl steht von der Tafel abgewandt und ist zudem mit Gegenständen (Steinen) belegt. 69
V.
Komparative Analyse und Typenbildung
Wenn wir nun auf dem Wege einer komparativen Analyse die ikonische Interpretation des ersten Bildes („Klasse“) einbeziehen, so kommen wir in gewisser Weise zu einer Auflösung dieser Gegensätzlichkeit: Die in Kooperation von abbildenden und abgebildeten Bildproduzent(inn)en produzierte Grenzziehung zwischen den schulischen Sachanforderungen, der schulischen Sphäre einerseits und den Bereichen des Selbst, die der außerschulischen Lebenswelt bzw. dem peer-Milieu, also der außerschulischen Sphäre, zugerechnet werden, andererseits zeichnet sich durch eine starke Spannung aus. Während auf dem ersten Foto eine rigide Trennung zwischen den beiden Bereichen vorgenommen wird, begegnet uns auf dem zweiten Foto ein Versuch der Vermittlung zwischen diesen beiden Bereichen, der mit erheblichen Brüchen verbunden ist, die insbesondere in der formalen Ästhetik ihren Ausdruck finden. Dies verweist auf eine Unvermitteltheit zwischen der Institution der Schule einerseits und den lebensweltlichen Bereichen der Familie, der peer-group und ethnischen Community andererseits. Imdahl (1996a, 107) sieht das Spezifische des ikonischen Sinnes in einer „Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen“ bzw. lässt sich nach Imdahl die Sinnkomplexität der Ikonizität in sprachlicher Form lediglich in Übergegensätzlichkeiten zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne kann man hier – unter Einbeziehung des ersten Bildes („Klasse“) – die Übergegensätzlichkeit in der Weise formulieren, dass wir es hier mit einem Habitus der Integration im Modus der Exklusion insofern zu tun haben, als die sich hier dokumentierende Integration in den schulischen Kontext mit einer strikten Exklusion der außerschulischen Lebenswelt einhergeht und somit einen rigiden Charakter gewinnt. Wir haben es mit einem Orientierungs-rahmen zu tun, für den die Unvermitteltheit zwischen zwei unterschiedlichen Lebenssphären oder (Bereichen von) sozialen Identitäten konstitutiv ist. Dieser Orientierungsrahmen hat seine Konturen erst in der komparativen Analyse gewonnen6. Erst auf diesem Wege wurde das abstrakte Grundmuster sichtbar. Dies stellt im Sinne der dokumentarischen Methode den ersten Schritt einer Typenbildung dar, der sinngenetischen Typenbildung (vgl. 6
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Da wir nicht wissen, ob die Fotos von demselben oder unterschiedlichen Fotografen stammen, ob wir also einen oder zwei abbildende Bildproduzenten haben, ist nicht klar, ob wir es mit einer fallinternen oder fallübergreifenden komparativen Analyse zu tun haben. ‚Auf jeden Fall‘ lässt sich aber ein die Fotos oder Fälle übergreifender homologer Orientierungsrahmen herausarbeiten.
Bohnsack 2001d, Nentwig-Gesemann 2001). Sie erfasst den Orientierungsrahmen in seinen (ideal-)typischen (abstrakten) Merkmalen. Der zweite Schritt der Typenbildung, derjenige der soziogenetischen Typenbildung, fragt – im Sinne eines ‚erklärenden‘ Zugangs – nach den sozialisationsgeschichtlichen Erfahrungen, nach der Art des Erfahrungsraums, innerhalb dessen die Genese einer Orientierung, eines Habitus zu suchen ist. (Wenn ich bspw. sage, eine von mir beobachtete Orientierung sei „typisch dörflich“, so ist damit gesagt, dass ihre Genese im dörflichen Erfahrungsraum zu suchen ist). Dieser Orientierungsrahmen der Unvermitteltheit der unterschiedlichen Lebenssphären oder sozialen Identitäten könnte beispielsweise typisch sein für eine Phase der Adoleszenzentwicklung (Entwicklungstypik), für eine spezifische Ausbildung (Bildungstypik), für eine ganze Generation (Generationstypik) oder für Jugendliche mit einer Migrationsgeschichte (Migrationstypik). Klarheit kann hier erst eine systematische komparative Analyse erbringen. Typenbildung als Generalisierungsleistung ist daran gebunden, dass ich andere Möglichkeiten, andere Typiken, ausschließen kann (vgl. Bohnsack 2001d). Die Identifikation dieses Orientierungsrahmens oder Habitus wäre nun nicht nur in fallinterner komparativer Analyse, also an weiteren Fotos derselben Bildproduzent(inn)en, zu überprüfen, sondern vor allem in fallvergleichender komparativer Analyse – im Vergleich mit (vom Sujet, vom Thema her ähnlichen) Fotos von Schüler(inne)n anderen Alters, anderer Ausbildung und anderer Sozialisationsgeschichte. Insbesondere wäre es aufschlussreich, Fälle jugendlicher Migrant(inn)en mit Fällen von einheimischen Jugendlichen zu vergleichen. Die sich in unserer Bildinterpretation dokumentierende Unvermitteltheit unterschiedlicher Lebensbereiche oder sozialer Identitäten fügt sich (für mich selbst überraschend) in die Ergebnisse eines größeren von der DFG geförderten Forschungsprojekts zu Lebensorientierungen von jungen Migrant(inn)en (vgl. u.a. Bohnsack/Nohl 2001, Nohl 2001 und Bohnsack 2003c). Auf der Grundlage dieser Untersuchung wurde – auf dem Wege einer komplexen Typenbildung und über unterschiedliche Milieus von Migrant(inn)en hinweg – eine Differenz sichtbar zwischen zwei strikt voneinander abgegrenzten Bereichen der Lebens- und Alltagspraxis: dem Bereich der Familie, Verwandtschaft und ethnischen Community einerseits und dem Bereich der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Institutionen (einschließlich der Schule) andererseits. Diese alltagspraktische oder habituelle Herstellung und Bewältigung von Differenz im Sinne einer Grenzziehung zwischen innen und außen, zwischen innerer und äußerer Sphäre, wurde uns auf dem Wege eines atheoretischen oder impliziten Wissens, d.h. auf dem Wege von Erzählungen 71
und Beschreibungen, also von metaphorischen Darstellungen, in Gruppendiskussionen und biografischen Interviews vermittelt. Eine Einbeziehung dieses textlichen Vorwissens in unsere Bildinterpretation wäre allerdings an dieser Stelle verfrüht. Denn wenn man nicht – wie eingangs dargelegt – Gefahr laufen will, die Interpretation des Bildes unter unser textliches Vorwissen zu subsumieren, wenn man also im Sinne von Foucault (1971, 38) „die Beziehung der Sprache und des Sichtbaren offen halten will“, ist es notwendig, die Bildinterpretation in allen ihren Arbeitsschritten (der formulierenden und reflektierenden Interpretation wie auch der sinngenetischen und ggf. soziogenetischen Typenbildung) zunächst zum Abschluss zu bringen, ehe wir in valider Weise auf die Ergebnisse der Textinterpretation zurückgreifen können. Für das Design von Projekten, in denen auf der Basis von Bild- und Textinterpretationen gearbeitet wird, bedeutet dies, dass (soweit es möglich ist) den Bildinterpretationen in jedem Fall zeitliche Priorität zukommen sollte. Literatur Barthes, Roland (1990): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a. M. (Original: 1982). Bohnsack, Ralf (2001a): Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation. In: Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/Arnd-Michael Nohl (2001) (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen. S. 67-89. Wieder abgedruckt in: Yvonne Ehrenspeck/Burkhard Schäffer (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen. S. 87-107. Bohnsack, Ralf (2001b): „Heidi“: Eine exemplarische Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode. In: Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/ Arnd-Michael Nohl (2001) (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen. S. 323337. Wieder abgedruckt in: Yvonne Ehrenspeck/Burkhard Schäffer (2003) (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen. S. 109-120. Bohnsack, Ralf (2001c): Dokumentarische Methode. Theorie und Praxis wissenssoziologischer Interpretation: In: Theo Hug (2001) (Hrsg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? – Band 3: Einführung in die Methodologie der Sozial- und Kulturwissenschaften. Baltmannsweiler. S. 326-345. Bohnsack, Ralf (2001d): Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse. Grundprinzipien dokumentarischer Interpretation. In: Ralf Bohnsack/Iris 72
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Hubert Sowa/Bettina Uhlig
Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik Einführung Zu allen Zeiten gab es Bilder. Sie sind unmittelbar mit der Menschheitsgeschichte verwoben. Archaische Höhlenzeichnungen zeugen davon ebenso wie Altarbilder in gotischen Kirchen oder Werbeplakate im öffentlichen Stadtbild einer modernen Großstadt. Dennoch ist heute die Rede vom so genannten iconic turn – von einer Wendung der Welt hin zum Bild (vgl. u.a. Burda/Maar 2004). Dies unterstellt: Es hat ein (möglicherweise kulturell, geistesgeschichtlich, anthropologisch bedingter) Wandel im Umgang der Menschen mit Bildern stattgefunden. Als Beleg dafür wird genommen, dass in allen Lebensbereichen der global dominanten Kultur das Bild in eine zentrale Position gerückt sei, teils konkurrierend, teils ergänzend zur verbalen Sprache, die seit der Erfindung des Buchdrucks die westliche Welt dominiert habe. Auch die Wissenschaften zeigen – so lässt sich an einer Flut neuerer Literatur zum Thema Bild ablesen – ein verstärktes Interesse am Bild. Hier sind nicht nur die traditionsgemäß mit Bildern befassten Wissenschaften gemeint, wie etwa die Kunstwissenschaft, sondern viele Bereiche der Natur- und Geisteswissenschaften. So verwundert es nicht, dass das Bild neuerdings auch in den Blick der sozialwissenschaftlichen Forschung rückt und sowohl als Gegenstand wie auch als methodisches Instrument empirischer Untersuchung thematisiert wird. I. Grundlagen Bilder sind nicht gleich Bilder Auch wenn weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass Bilder mehr vermögen als einen Gegenstand abzubilden bzw. zu illustrieren, ist doch darauf zu bestehen, dass sich Bilder nicht von selbst verstehen. Die Vermutung, dass 77
Bilder als „wahrnehmungsnahe Zeichen“ (Sachs-Hombach 2002, S. 18 ff.) ihren Inhalt bereits auf der Oberfläche der Sichtbarkeit preisgeben und somit für jeden sehenden Menschen nicht nur anschaulich, sondern gleichermaßen auch verständlich sind, ist trügerisch. Es ist bekannt, dass Menschen den visuellen Sinn von allen Sinnen am meisten beanspruchen. Vielleicht deshalb ist die Annahme weit verbreitet, dass man genau wüsste, was man sehe, wenn man es nur genau und scharf sehen könne. Mit dem visuellen Erfassen der Erscheinung eines Bildes erschließen sich jedoch nicht simultan Inhalte und Bedeutungen. Diese werden im Prozess der Wahrnehmung und Interpretation erst erkannt bzw. entwickelt. Bilder zu sehen ist kein Abbildungsprozess, sondern gleicht dem Hervorrufen einer Resonanz oder Korrespondenz. Ein Bild zu sehen ist ein intersubjektiver Akt, für den sowohl das Sichtbare als auch der Sehende konstitutiv sind: Was wir sehen, blickt uns an (Didi-Huberman, 1999) und spricht uns an. Bilder stehen konstitutiv in einem Antwortverhältnis: Sie geben zu verstehen und werden gedeutet. Deshalb differiert die Art und Weise der Wahrnehmung und Deutung von Bildern hinsichtlich sozialer und kultureller Zugehörigkeit ebenso wie hinsichtlich der Sehgewohnheiten und -erfahrungen des einzelnen Menschen. Wohl gibt es eine anthropologische und insofern auch transkulturelle und übergeschichtliche Basis des Bildverstehens – wie sie etwa in der Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie (Arnheim 1965) oder in der neurowissenschaftlichen Bildtheorie (u.a. Singer 2004) thematisiert wird. In der Hauptsache jedoch ist das Bildbedeuten und Bildverstehen individuellen und vor allem kulturellen sowie geschichtlichen Bedingungen unterworfen. Menschen folgen zumeist gewohnten und konventionalisierten Wahrnehmungsweisen, die – in der Wiederholung und Permanenz – Objektivität suggerieren. Das Gegenteil ist der Fall. Ein (äußeres) Bild bildet sich nicht identisch als (inneres) Bild ab, es verändert sich vielmehr im Prozess der Wahrnehmung, indem es durch den interpretativen Filter der Wahrnehmung des Einzelnen geht. Gemeint ist hier nicht nur die Abhängigkeit von den Möglichkeiten und Grenzen des Sehapparats. Gewohnheiten, Erfahrungen, Emotionen, soziokulturelle Kontexte usw. filtern das zu Sehende im Hinblick auf mögliche (Be-) Deutungen. Wahrnehmungsdifferenzen zwischen Menschen sind von daher unumgänglich. Identische Wahrnehmungen gibt es faktisch nicht, allenfalls ist von ähnlichen Wahrnehmungen zu sprechen. Deshalb ist dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty zuzustimmen, der sagt: „Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 82) Selbst von einem prinzipiell phänomenologischen Standpunkt her argumentierend geht Merleau78
Ponty mithin nicht davon aus, dass es ein voraussetzungsloses Anblicken von Seh-Tatsachen gibt, in dem sich deren „Sinn“ für die subjektive Intuition gleichsam mit „schlagartiger“ Evidenz zeigen würde (vgl. Husserl 1980, S. 119-122; Bohrer 1981; Sommer 1987). Entscheidend ist jedoch: Auf dem Hintergrund intersubjektiver Verständigung und – umfassender gedacht – soziokultureller Übereinkünfte kann es gelingen, sich an die Wahrnehmungen und perspektivischen Sichtweisen anderer Menschen (und anderer kultureller Kontexte) anzunähern und einen Konsens darüber zu finden, wie ein Bild aussieht und was es bedeutet. Denn: Das Bild fungiert oder „funktioniert“ im Rahmen von heterogenen Kommunikationen, ist insofern untrennbar an ein jeweils vorgängig eingespieltes „Milieu“ des Umgangs und an systemische Zusammenhänge gebunden, und das schon auf der Ebene der Wahrnehmung (vgl. Sachs-Hombach 2002, Bering 1993 und 2002, Huber 2001 und 2004, S. 145 ff.). Auf der Ebene konsistenter Umgangsmilieus und Umgangssituationen – in Anlehnung an die Sprachphilosophie Wittgensteins könnte man auch von „Bildspielen“ sprechen (vgl. Sowa 2000 und 2003, Busse 2003 und 2004, Sachs-Hombach 2001) – kann eine gelingende Kommunikation über Bilder und deren „Sinn“ und Bedeutung stattfinden. Die Entwicklung von Methoden zur Analyse und Interpretation und letztlich zum Verstehen von Bildern – als Medien menschlicher Kommunikation – ist deshalb auch ein Bemühen um größtmöglichen Konsens über Bilder: Der Bild-„Sinn“ ist immer ein situativ, geschichtlich, kulturell usw. gemeinsam geteilter Sinn (common sense) (vgl. Gadamer 1975, S. 276 f.). Die Hermeneutik als „Wissenschaft des Verstehens“ beschäftigt sich jenseits von Fachdisziplinen ganz allgemein mit dem Verstehen von Entitäten – und deshalb selbstverständlich auch mit dem Verstehen von Bildern (vgl. v.a. Bätschmann 2001). Sie bietet ein Instrumentarium, das sich nicht – wie die meisten kunstwissenschaftlichen Methoden – ausschließlich auf die bildende Kunst des Abendlandes beschränkt. Insofern ist sie als Methode zur Analyse und Interpretation von Bildern aus heterogenen Kontexten geeignet, wenngleich auch das hermeneutische Instrumentarium auf die jeweilige Bildsorte hin spezifiziert sein muss (vgl. hierzu auch die – gleichwohl nur fragmentarischen – Unterscheidungen verschiedener „Bildtypen“ bei Doelker 2001).
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Bilder verstehen – zur Bildhermeneutik Bildverstehen und Sprachverstehen haben mehr Gemeinsames als Verschiedenes. Gemeinsam ist dem Bild wie dem Satz, dass sie im lebendigen Gebrauch als Verweis auf etwas fungieren, dass sie als in sich mehr oder weniger komplex strukturierte Entitäten zu verstehen sind, die zugleich als sie selbst und als etwas anderes gelten. Dieses „als“ ist der eigentliche Kern jener umfassenden menschlichen Handlungsform, die wir als „Bedeuten“ bezeichnen und die im Verstehen verstanden werden muss. Sprache und Bild sind – dies ist die Grundauffassung jener geisteswissenschaftlichen Disziplin, die „Hermeneutik“, also „Wissenschaft vom Verstehen“ heißt – verschiedene Modi des Bedeutens. Aber die Denk- und Handlungsform des Bedeutens geht weit über Bilder und Sätze hinaus, umfasst auch Gesten, Laute, Dinge, ja sogar Naturgegenstände und -vorgänge. Sie alle können etwas bedeuten, sofern sie – wenn auch oft nur temporär – eingebunden sind in das lebendige Ganze der menschlichen Praxis des SichVerständigens. Es ist die entscheidende Bemühung und das Verdienst der modernen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik gewesen – namentlich ihrer Protagonisten Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer –, dass sie das soziale Handlungsfeld des Bedeutens als eine universelle Struktur gefasst haben (vgl. Gadamer 1993, S. 219 ff.), die durchgängig von der Geste des Weisens/Deutens und Verweisens beherrscht wird, die als „existenziale“ menschliche Verfasstheit in einem zwiespältigen Sinn einerseits eine anthropologische Konstante, andererseits zugleich gründend für Geschichtlichkeit überhaupt ist. Hermeneutik in dem von Dilthey/Heidegger/Gadamer geprägten Sinn ist mehr als jene „Auslegungskunst“ von Texten, die sie im 17./18./19. Jahrhundert war. Sie entwickelte sich zu einer Betrachtungsweise, die um das menschliche Handeln und Sozialverhalten kreist, um die Weisen zu thematisieren, in denen sich menschliches Bedeuten und Sich-Verständigen vollzieht. Hermeneutik ist praktische Philosophie (vgl. Gadamer 1972, 1975, 1985, 1988; Riedel 1988, 1990; Jamme 1986/87). Sie blickt hin auf menschliche Handlungen, menschliche Praxis – und fokussiert ihr Interesse immer wieder auf Zeichen- und Verweisungsstrukturen im Kerngeschehen dieser Praxis. Sie blickt darauf, wie Menschen mit diesen Zeichen und Verweisungen umgehen, um sie in ihre Praxis einzubinden und in dieser Praxis aufgehen zu las-
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sen. Hermeneutik ist eine geisteswissenschaftliche Perspektive, die auf die Praxis blickt, um wieder zurück zu führen zu menschlicher Praxis. Sofern Zeichenverstehen und Zeichenbedeuten anthropologische Konstanten im menschlichen Handeln sind, verhält sich jeder Mensch immer schon hermeneutisch: Er kommt je aus einem Vorverständnis und deutet von da her alle ihm begegnenden Sinnangebote aus. Es gibt allerdings Grade der Komplexität, in denen sich sowohl die Zeichen als auch die Umgangsformen mit Zeichen unterscheiden. Jemand auf der Straße grüßen zu sehen und zurückzugrüßen – wie es Erwin Panofsky ausdrückte – ist ein relativ einfacher Prozess praktischen Verstehens und Antwortens – wiewohl nicht ganz ohne kulturspezifische Vorbildung möglich. Einen Gesetzestext richtig anzuwenden, ein Gedicht von Rilke zu interpretieren oder ein Kunstwerk von Duchamp zu deuten ist eine hermeneutische „Kunst“, die nur wenige vermögen und die eines sehr hohen Maßes an Vorbildung bedarf. Indem sie das Verstehen primär als Praxisprozess deuteten und die universelle Struktur des menschlichen Verstehens und Sichverständigens herausarbeiteten, haben die Protagonisten der geisteswissenschaftlichen „Universalhermeneutik“ vielen Geisteswissenschaften Anstöße gegeben – von der Theologie (Bultmann 1933) über die Psychotherapie (Boss 1957) und Erziehungswissenschaft (Klafki 2001), Literaturwissenschaft (Iser 1972 und 1976, Jauß 1982, Warning 1975) bis hin zur Musik- und Kunstwissenschaft (Bätschmann 2001) usw. Um nun auf die Kunstwissenschaft zu fokussieren: Auch in Bildern wird – mit Gottfried Boehm (2001) gesprochen – etwas immer als etwas sichtbar. An sich hat sich die Kunstwissenschaft schon immer „hermeneutisch“ verhalten – wie könnte sie sich auch anders verhalten haben, sofern sie eben immer schon im Bereich des verstehenden Anblickens von Bildern tätig war? Aber in gewissen methodischen Ansätzen wurde die hermeneutische Grundstruktur der Bildbegegnung methodisch unterdrückt und zurückgestellt, um einen vermeintlich „reinen“ visuell-phänomenologischen Blick auf die bildhaften Sachverhalte und „stilistischen“ Besonderheiten zu gewinnen. Die kunstwissenschaftliche Formanalyse vom Typus Riegls oder Wölfflins ist nicht unhermeneutisch oder antihermeneutisch – ganz im Gegenteil –, aber sie öffnet möglicherweise gewissen Einseitigkeiten und Missverständnissen die Tür (etwa dem des „formalen“ Kunstverstehens), die im Nachhinein wieder einer hermeneutischen Korrektur bedurften (wie sie die Vertreter einer „ikonologischen“ Kunstwissenschaft zu leisten versuchten). Umgekehrt öffnete das Postulat einer „rein“ ikonographischen/ikonologischen Bedeutungsanalyse – sofern überhaupt jemals jemand dieses Postulat 81
so vertreten hat (was ja etwa bei Panofsky völlig zu Unrecht unterstellt wird und keineswegs der Fall war) – bestimmten Irrtümern und Einseitigkeiten die Tür, die im Nachhinein wieder einer Korrektur bedürfen. So tritt etwa der so genannte „ikonische“ Ansatz Max Imdahls als Korrektur und Ergänzung eines stark textzentrierten Herangehens an Bilder auf und lenkt den Blick – in Opposition und Ergänzung eines verengten Verständnisses von Ikonographie – (wieder) verstärkt auf gewisse unauflösbare Eigenheiten des spezifisch bildhaften Bedeutens und Verstehens. Jedoch auch Imdahls Versuche, die spezifische ikonische Struktur analytisch herauszuarbeiten, etwa mit Hilfe planimetrischer Rekonstruktionen von tragenden Gestaltstrukturen und linear veranschaulichten Kraftlinien und Wirkungsfeldern, beziehen selbstverständlich das im Bildmilieu kulturell tradierte Vorwissen um die textlich-narrativen Bedeutungsstrukturen und theologischen und symbolgeschichtlichen Voraussetzungen ein – sind insofern genuin hermeneutisch und nichts weniger als „rein“ visuell. Dies hebt Imdahl in dezidierter Abgrenzung gegenüber Versuchen hervor, auf gleichsam „abstrakter“ Ebene eine „rein“ geometrische Bildgrammatik ausfindig zu machen (vgl. Imdahl 1988, S. 43 ff., insbes. auch Fußn. 89). Vom Standpunkt der geisteswissenschaftlichen „Universal-Hermeneutik“ betrachtet sind diese geschichtlich variierenden Akzentverschiebungen innerhalb der kunstwissenschaftlichen Methodik nicht als prinzipielle Unterschiede zu verstehen, sondern als unumgänglich nötige und unser Verständnis bereichernde perspektivische Abwandlungen des Blicks auf Bilder, der sich immer nur im Umkreisen aller sich geschichtlich generierender Bedeutungsdimensionen und Bedeutungskontexte, aller perspektivischen Fassetten und Umgangsvarianten vollziehen kann – in Kreisen, Sprüngen und auch notwendigen Fehlgriffen und Unschärfen. Bilder erscheinen – und diesen Ausdruck teilen sich die philosophische Phänomenologie wie die Hermeneutik – immer in einem mehr oder weniger klaren Horizont – sei er als geschichtlicher Horizont ausgelegt (Heidegger 1976; vgl. Münch 2001), als Wahrnehmungsfeld oder Wahrnehmungshorizont, als Kulturhorizont (Bering 2002), Vermittlungshorizont (ebd.), systemischer Zusammenhang (Bering 2002, Huber 2004a), Milieu (Huber 2004a, S. 145 ff.), umweltliche oder mitweltliche Situation (Gadamer 1975/Heidegger 1976; Grondin 1991 und 1994), intertextuell-referenzieller Verweisungszusammenhang (Otto/Otto 1987, Huber 2004b, S. 65 ff.; Busse 2004), kultureller Gedächtniskontext (Assmann 2002) oder performativer Zusammenhang (Huber 2004a). Wie auch immer: Bilder sind „da“ in jenem Sinn, der durch die phänomenologisch-hermeneutische Daseinsanalyse (Hei82
degger 1976) als umweltliche, mitweltliche, sprachliche, geschichtliche, anthropologische und ontologische Vermitteltheit ausgelegt wurde. Zum hermeneutisch verstandenen „Dasein“ der Bilder gehört auch, dass sie notwendigerweise von „Unbestimmtheitsstellen“ durchsetzt sind (Huber 2004b, S. 81 ff.) und z. T. den Charakter eines „visuell Unbewussten“ haben (Huber 2004b, S. 98 ff.), was sie offen macht für perspektivisch-interpretative Bezugnahmen, wie sie in der hermeneutischen Lek-türe praktiziert werden. Diese ihre Offenheit und Gelassenheit gegenüber der naturgemäßen „Unschärfe“ menschlichen Bedeutens und Verstehens, welcher sie mit dem methodischen Grundansatz des polyperspektivischen Kreisens („hermeneutischer Zirkel“; vgl. Gadamer 1993, S. 57 ff.) zu entsprechen sucht, hat der Hermeneutik im Umfeld der vorgeblich „exakteren“ Wissenschaften vielfach Skepsis und Kritik eingetragen – zu Unrecht. Die spezifische Unschärferelation menschlichen Bedeutens, Verstehens und Handelns – Edmund Husserl nannte dies den „Horizont“ oder auch den „Nebel der dunklen Unbestimmtheit“ (Husserl 1980, S. 49 und 161 ff.) und Hans-Georg Gadamer sprach einmal vieldeutig von der „Diesigkeit“ des Daseins – hat sich im geisteswissenschaftlichen Verstehen allemal in der Sprache zu spiegeln, die das Bild ohnehin nicht wirklich „abbilden“ kann (vgl. Gadamer 1975, S. 380 f.). Mitunter können Interpretationen dadurch präziser werden, dass sie neben der Sprache auch Bilder einsetzen, um Bilder zu interpretieren – etwa die klärenden schematisierenden Zeichnungen und visuellen Versuchsreihen Max Imdahls. Es können aber auch Texte sein, die Bilder verständlicher machen – die philologische Arbeit Panofskys zu den Bedeutungsfeldern von Bildern im Umkreis des Renaissancehumanismus ist dafür ein stringenter Beleg. Die Differenz zwischen Bild und Text ist vom Standpunkt der Bildhermeneutik keine prinzipielle. Vielmehr bewegen sich prononciert „bildhermeneutisch“ arbeitende Interpreten – wie etwa Oskar Bätschmann (2001) oder Michael Baxandall (1977) – ständig virtuos zwischen Bildern und Texten hin und her und benutzen beide wechselweise zur Aufhellung ihres Sinnes, um Bilder als Antworten auf vorgängige Bedeutungskonstellationen und Handlungssituationen verstehen zu können. Dies geschieht auch in wissenschaftsmethodischer Hinsicht im Pendeln zwischen Bildwissenschaft, Philologie, Sozial- und Geschichtswissenschaft, Philosophie und vielen anderen Bezugswissenschaften. Ein Streben nach einer „reinen“ Methodik und nach einem „reinen“ Gegenstand ist für ein hermeneutisches Vorgehen ohne Sinn. Die (immanent) strukturelle Interpretation erweitert sich mit innerer Notwendigkeit um kontextuelle, komparative, u. U. 83
auch um psychologische Aspekte (vgl. Rittelmeyer/Parmentier 2001, S. 7274; vgl. auch allgemein Huber/Lockemann/Scheibel 2002). Die „Schärfe“ der hermeneutischen Methode besteht nicht in einem vermeintlich „exakten“ Zugriff auf „Bildtatsachen“, sondern in einer fragilen methodischen Balance pluraler Perspektiven, für die vom Interpreten das gesamte Gewicht personaler, kommunikativer, kultureller und geschichtlicher Erfahrung zu aktualisieren ist – und dies immer von neuem, denn auch auf der Rezeptionsebene vollzieht sich das Antwortverhältnis je und je wieder, so dass eine dialogisch strukturierte Rezeptionsgeschichte generiert wird. Die Vorstellung von einer „rein“ piktoralen und vorgeblich „exakten“ Wissenschaftsmethodik ist vor diesem Hintergrund ein Unding – wie überhaupt die geschichtsphilosophisch forcierte und doch letztlich nur modische These von einer derzeitig angeblich beobachtbaren „piktoralen Wendung“ unseres Weltverstehens nicht einmal für das Alltagsleben echte Gültigkeit hat, noch viel weniger aber für die Wissenschaften, die – sofern sie sich bewusst hermeneutischer Methoden bedienen – einer derartigen Wendung weder bedürfen noch sie auch wirklich in einem „radikalen“ Sinn einlösen können und wollen. Bild-Kontexte, -Handlungssituationen, -Umgangssituationen Bezugnehmend auf die allgemeinen Ausführungen zur Bildhermeneutik lassen sich zentrale methodische Grundannahmen der hermeneutischen Bildwissenschaft wie folgt thesenartig fokussieren: 1. Bilder sind Verständigungsgesten im situativen und geschichtlichen Zusammenhang menschlicher Praxis. Sie haben ihren primären Sinn als Handlungen und „arbeiten“ nur dann wirklich (um einen Ausdruck Wittgensteins zu zitieren), wenn sie aktuell und sinnvoll gebraucht werden, nicht aber wenn sie neutralisierte und isolierte Gegenstände von Analysen sind. 2. Bilder sind konstituiert in einem Antwortverhältnis, d.h. sie sind Antworten auf Fragen und Vorgaben, die es zu kennen oder zu rekonstruieren gilt. 3. An Bildern ereignen sich im normalen Funktionszusammenhang zwei Formen des Handelns, nämlich auf der einen Seite das Hervorbringen und das Mitteilen/Kommunizieren und auf der anderen Seite das Rezipieren/Verstehen. Beide Seiten zusammen in ihrer wechselweisen Bezogenheit bilden das 84
vollständige „Bildspiel“ (in Analogie zum Wittgensteinschen „Sprachspiel“). Gelingen kann dieses Spiel nur, wenn beide Seiten die Regeln dieses Spiels beherrschen und ihren Part angemessen ausfüllen. Die große Zahl möglicher Bildspiele und ihre gattungsmäßige Ausdifferenziertheit bringen entsprechend viele und reich differenzierte Bildsorten hervor. 4. Zwischen den beiden Seiten eines Bildspiels muss ein Verhältnis der korresponsiven Angemessenheit herrschen. D.h.: Werden Bilder im Kontext anderer Handlungsspiele als derer benutzt, für die sie gemacht sind, treten Bedeutungsverschiebungen und Missverständnisse auf. Sowohl der historische Abstand und der damit verbundene Kontextverlust können dafür verantwortlich sein als auch eine unangemessene theoretisierende Abstandnahme gegenüber dem Bild – etwa durch methodische „Ausschaltung“ der kontextuellen Zusammenhänge. Eine andere Form des Missverstehens wäre etwa ein unangemessenes Einschätzen der Bildsorte und der dazugehörigen Sorte des Umgangsspiels. Grundlegende Typen des Missverstehens von Bildern sind etwa die Überinterpretation (Überschätzung der Sinndichte des Bildes und der syntaktischen und semantischen Intentionen des Autors) oder die Unterinterpretation (vice versa) als Formen einer gestörten korresponsiven Symmetrie zwischen dem Bildautor und dem Rezipienten. Unausgesprochenes Ziel jeder Bildgeste ist es in jedem Fall, auf eine angemessene Akzeptanz oder Resonanz bei jenem Publikum zu treffen, auf das sie ausgesprochen oder unausgesprochen rechnet – im Hinblick auf einen „Handlungserfolg“ (vgl. Iser in Warning 1975, S. 282). Sie definiert sich selbst mithin auf einen vorgängigen Erwartungshorizont hin, den eine gegebene Gruppe von Bildbenutzern als ihren common sense ausgebildet hat (vgl. hierzu z.B. Gadamer 1975, S. 276; Warning 1975, S. 21 ff.; Kemp 1992; Iser 1972 und 1976). 5. Jede wissenschaftliche Thematisierung von Bildern ist per se bereits eine Verschiebung vom normal funktionierenden Bildumgang hin zu einem differenten Bildumgang. Der in einer theoretischen Einstellung fokussierte Umgang mit Bildern ist eine spezifische Umgangsform, die sich von anderen Formen der Bildpraxis signifikant unterscheidet. Dies kann als methodischer Griff vorteilhaft sein, bedarf aber, um eine vollständige und angemessene Interpretation zu sein, einer rückbindenden Finalisierung hin auf den ursprünglichen und vollständigen Handlungszusammenhang des Bildes.
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6. Jeder analytische/theoretische Blick auf Bilder, der nur beschreibend und nachvollziehend die innere Strukturiertheit und Beschaffenheit thematisiert – also das, was in der Semiotik ihre Syntax (Grammatik, Komposition, Struktur usw.) heißt – bekommt das eigentliche Wesen ihres Bedeutens nicht (oder wenigstens nicht vollständig) zu fassen – obwohl er freilich zur Klärung bestimmter Aspekte des Bedeutens beitragen kann (vgl. Badt 1961, 1971). 7. In einer angemessenen hermeneutischen Theoretisierung von Bildern sind nicht Bilder als quasi-dingliche Entitäten, sondern Bildräume, Bildumgangsweisen, Bildspiele, Bildmilieus und um Bilder herum strukturierte Handlungssituationen der „Gegenstand“ des theoretisierenden Bildverstehens. „Bildverstehen“ würde in diesem Zusammenhang heißen: Analytische Rekonstruktion der lebendigen Bildhandlungssituation – in rücklaufender Umkehrung der Wirkungsgeschichte – mit dem Ziel einer Annäherung an die Ursprungssituation. Der Grenzwert dieser Annäherung wäre die „Horizontverschmelzung“ (Gadamer 1975, S. 289 ff.) zwischen Autor und Rezipient, Vergangenheit und Gegenwart. Dies würde heißen, man würde ein Bild genau so verstehen wie es ein kompetenter Adressat in der „ursprünglichen“ Situation verstanden hätte und wie es gleichermaßen auch der Bildautor verstanden hat – man würde es mithin ganz „gegenwärtig“ und im Vollsinn verstehen. Mitunter kann die Verstehenskompetenz des Interpreten die Kompetenz des ursprünglichen Adressaten sogar übersteigen, dann kann der Interpret mitunter – wie Gadamer pointiert behauptet hatte – das Bild „besser“ und d.h. „tiefer“ verstehen als sein Autor – nämlich insofern, als er aus dem Abstand heraus ein umfassenderes Situationsverständnis entwickeln kann als dies der Autor ursprünglich hatte. 8. Bilder isoliert in ihrem faktischen „Bildtatbestand“ zu untersuchen – so wie es die formal und phänomenologisch orientierte Kunstwissenschaft über weite Strecken tat – kann nur als methodischer Zwischenschritt bzw. als Verfahren einer vorgreifenden „Gegenstandssicherung“ (vgl. Sauerländer, in Belting/Dilly/Kemp/Sauerländer/Warnke 2003) sinnvoll sein, nicht aber als methodisches Grundkonstrukt. Auch ist die Beschränkung der Interpretenperspektive auf den „Tatbestand“ des isolierten Bildes/Werkes in der Regel nur durch historischen Kontextverlust (etwa durch das Phänomen der Musealisierung) erzwungen und ist – gemessen am normalen Bildumgang in all seinen Spielarten – eine abnorme Ausgangslage, keinesfalls jedoch die Grundkonstellation, 86
auf die sich eine hermeneutische Bildwissenschaft beziehen dürfte oder müsste. Ihr Gegenstand ist vielmehr der möglichst vollständige und umfassende situativ-kontextuelle Handlungssinn des Bildes. 9. Kontexte, Situationen, Milieus und systemische Zusammenhänge sind substanzielle und nicht nur akzidentelle Bildbestandteile. Es muss davon ausgegangen werden, dass es Bilder mit einer vergleichsweise höheren oder niedrigeren kontextuellen Dichte gibt. Kunstwerke gehören in der Regel zu jenen Bildern, deren Verstehen (im Sinne eines hermeneutischen Verstehens) die Berücksichtigung mehrperspektivischer und komplexer Kontexte erfordert – die also eine dichte Kontextualität aufweisen. Alltagsweltliche Bilder – etwa der fotografische Schnappschuss von einer Familienfeier – besitzen dem entgegen mitunter eine vergleichsweise weniger dichte Kontextualität. 10. Aus hermeneutisch-bildwissenschaftlicher Perspektive ist zwischen verschiedenen Bildsorten zu unterscheiden. Dieser Unterschied macht sich vor allem an der Entstehung, der Funktion und der Verwendung von Bildern fest. Es macht deshalb sowohl für die Art und Weise der Wahrnehmung als auch für die Deutung bzw. Interpretation einen immensen Unterschied, ob ein Künstler seine Weltsicht in eine dicht gestaltete Form bringt, ob ein Forscher mit einem Rastertunnelmikros-kop die Gliedmaßen einer Fliege fotografiert oder ob ein dreijähriges Kind mit begrenzten feinmotorischen Fähigkeiten einen Kreis auf ein Blatt Papier zeichnet. Jede dieser Bildsorten – ob Kunstwerk, Sachfotografie, Kinderzeichnung o. ä. – verlangt vom Betrachter eine eigene, jeweils adäquate Zugangsweise, die vom plötzlichen oder flüchtigen Blick bis zum extrem retardierenden Betrachten, von der stark kontextbezogenen bis zur scheinbar „unmittelbaren“ Lektüre, vom sofortigen antwortenden Handeln bis zur Meditation oder Kontemplation usw. reichen kann (vgl. Sowa 2000 und 2003, Doelker 2001). Auf der Grundlage der erläuterten intersubjektiven und soziokulturellen Übereinkünfte gibt es verschiedene Kulturen des Bildzugangs, je nachdem, welche Bildsorte vorliegt. Das Bildverständnis der Kunstpädagogik Kunstpädagogen richten ihre Aufmerksamkeit „naturgemäß“ auf unterschiedliche Bildsorten, denn sie sind in erster Linie Bild-Vermittler oder BildKommunikation: Sie müssen einerseits dazu in der Lage sein, Kunstwerke 87
und andere Bilder für die Vermittlung in ganz heterogenen Situationen und Milieus aufzubereiten und andererseits das bildnerische Ausdrucksvermögen von Kindern und Jugendlichen gezielt zu fördern, um sie an relevante gesellschaftliche Bildkulturen heranzuführen. Ziel ist die Herausbildung und Erweiterung rezeptiver und praktisch-gestalterischer Bildkompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Insofern benötigen Kunstpädagogen ein differenziertes Bild- und Bildumgangsverständnis, das sich von der Hochkunst bis zu den Bildern von Kindern und Jugendlichen spannt. Damit sind nicht nur solche Bilder angesprochen, die Kinder und Jugendliche umgeben, sondern – als eine besondere Bildsorte – vor allem jene Bilder, die sie selbst zeichnen, malen, fotografieren usw. Das Bemühen um Annäherung, vor allem jedoch Verstehen von kindlichen und jugendlichen Ausdrucksweisen hat eine über einhundertjährige Forschungs- und Praxistradition (vgl. Richter 1987, S. 226 ff. sowie zusammenfassend Kirchner 2000). Interessanterweise gibt es in der Methodologie durchaus Parallelen zwischen der Kinderzeichnungsforschung (im Kontext der Kunstpädagogik) und der Kunstwissenschaft. (vgl. Abb. 1) Die kunstpädagogische Hermeneutik hat aufgrund ihres offenen, flexiblen und multiperspektivischen Spektrums im aktuellen Forschungsdiskurs eine zentrale sowie integrierende Position. Jedoch ist – anschließend an die ausgeführten allgemeinen Thesen zu einer hermeneutischen Bildwissenschaft – eine Unterscheidung notwendig, die uns sehr wesentlich ist: Die zwischen dezidiert kunstwissenschaftlicher und dezidiert kunstpädagogischer Bildhermeneutik.
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Methoden der Bildanalyse und Interpretation aus kunstpädagogischer Sicht Kunstwissenschaft
Formanalyse
Kinderzeichnungsforschung
Form
(Wölfflin, Sedlmayr …)
Ikonografie-Ikonologie
Inhalt
(Bätschmann …)
Rezeptionsästhetik (Iser, Kemp …)
Kontext
Lebensweltbezug
Prozess
(Kirchner, Mohr …)
Bildwissenschaft
(Schoppe, Reiß …)
Neue Medien
Betrachter Entstehung
Semiotik Feminismus Kunstpsychologie Systemtheorie …
Inhaltsanalyse
(Kläger, Richter …)
(Warburg, Panofsky …)
Kunstwiss. Hermeneutik
Formanalyse (Sully, Ricci, Kerschensteiner …)
…
Kontextanalyse Sozialisation Kulturelle Zugehörigkeit (Reiß, Neuß, Richter …)
Bildpragmatik (Sowa …)
Erforschung des künstlerisch-ästhetischen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen
Abbildung 1: Schematische Darstellung der parallelen Entwicklungen von allgemeiner Kunstwissenschaft und kunstpädagogischer Bildforschung
Diese Unterscheidung wollen wir thesenhaft so fassen: 1. Im Zentrum der kunstpädagogischen Bildhermeneutik stehen Bildumgangsformen und Bildpraktiken, soziale Bildprozesse und Handlungsformen – und zwar in einem Ausmaß und einer Entschiedenheit, wie dies in der Kunstwissenschaft nicht immer selbstverständlich war und ist – es sei denn auf der angewandten Ebene (z.B. in der „Museumspädagogik“). 2. Kunstpädagogische Bildhermeneutik bezieht sich besonders auf Bildprozesse, die hier gleichsam in statu nascendi beobachtet und durch kommunikative Interventionen beeinflusst werden. 3. Die kunstpädagogische Bildhermeneutik ist auf Praxis fokussiert und arbeitet in einer engen Verschränkung zwischen produktiven und rezeptiven Akten, die sich wechselseitig generieren, modifizieren und erklären.
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4. Kunstpädagogische Bildhermeneutik bezieht sich auf Bilder, deren Entstehungszusammenhang direkter Bestandteil der Beobachtungspraxis ist – dies in sehr starkem Gegensatz zur Kunstwissenschaft, die (bis auf Ausnahmefälle) wesentlich eindeutiger auf die Beobachtung von Produkten und die daraus versuchte Rekonstruktion der Prozesse beschränkt ist (vgl. Hinkel 2000). 5. Kunstpädagogische Bildhermeneutik organisiert und initiiert verschiedene produktive und rezeptive Bildpraktiken, die von Klaus-Peter Busse als „Bildumgangsspiele“ bezeichnet werden (Busse 2003, Sowa 2003). Darin schreitet sie den kulturellen Horizont möglicher Bildpraktiken sowohl in rezeptiver als auch in produktiver Weise aus. 6. Aufgrund ihrer Nähe zu produktiven und kommunikativen Prozessen hat die kunstpädagogische Bildhermeneutik seit langem ein reiches Unterscheidungsvermögen für die Differenzen des intentionalen Meinens in Bildern entwickelt und praktiziert präzise Unterscheidungen zwischen dem Gemeinten, dem Mitgemeinten und dem Ungemeinten sowie zwischen den bezüglich ihrer Adäquation unterschiedenen Realisierungsgraden von Bildintentionen, d.h. den Differenzen des „Gelingens“ und „Misslingens“ von Bildern und Bildkommunikationen (vgl. insbesondere die nach wie vor hochrelevanten Schriften von Britsch 1926 und Kornmann 1931). 7. Desgleichen stellt die kunstpädagogische Bildhermeneutik operationale Differenzierungen und graduelle Unterscheidungsmöglichkeiten der Bildkompetenz bereit. Sie thematisiert den genetischen Aufbau des Bildverständnisses (z.B.: Motivwahrnehmung, Bildwahrnehmung, Flächenbewusstsein, Stilbewusstsein, Symbolbewusstsein, Schematisierung, Imitation usw.) und der produktiven wie rezeptiven Bildkompetenz im Rahmen entwicklungspsychologisch, kulturell und bildungstheoretisch begründeter Voraussetzungen.1
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Zur genetischen Konstituierung der darstellerischen Bildkompetenz bei Kindern und Jugendlichen vgl. z.B. Richter 1987 und Reiß 1996; zum Rezeptionsvermögen und Bildverstehen von Kindern vgl. Uhlig 2003 und 2004; zur Diskussion um die möglichen Implikationen des Begriffs einer „allgemeinen“ Bildkompetenz vgl. z.B. Sachs-Hombach 2003. Die von Posner 2003 vorgeschlagene Stufengliederung der Bildkompetenz versammelt viele wichtige Aspekte, ist aber keinesfalls als vollständig anzusehen.
8. Die kunstpädagogische Bildhermeneutik thematisiert eine Fülle differenter und z.T. genetisch aufeinander aufbauender Rezeptions- und Kommunikationsstrukturen, die sich am Bild bilden (Otto/Otto 1987). Sie stellt eine Fülle von Forschungen zum individuellen und gemeinschaftlichen bildhaften Rezeptions- und Kommunikationsverhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bereit. (Vgl. dazu die kunstpädagogische Rezeptionsforschung, u.a. Neuss 1999, Uhlig 2003 und Peez 2005) Wir behaupten resümierend, dass die kunstpädagogische Bildhermeneutik ein Methodenspektrum entwickelt hat, das das im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungen thematisierte empirische Bildmaterial – unter dem Leitaspekt der Bildhandlung – wesentlich adäquater zu erschließen vermag als die klassischen Methoden der Kunstwissenschaft, deren Beanspruchung ausgerechnet im sozialwissenschaftlichen Zusammenhang uns gerade deshalb nicht sinnvoll zu sein scheint (vgl. z.B. Bohnsack 2003). Denn: Im Zentrum der kunstpädagogischen Bildhermeneutik stehen die bildnerischen Hervorbringungen von Kindern und Jugendlichen im Kontext ihres Bildverhaltens. Die Bildproduktionen von Kindern und Jugendlichen können – in der Sprache der Sozialwissenschaften – als „Eigenproduktionen“ (Niesyto 2003) verstanden werden, die sowohl bewusste als auch unbewusste Anteile enthalten und ein kinder- bzw. jugendästhetisches Codierungsrepertoire enthalten, das sich mit traditionellen kunstwissenschaftlichen Methoden nicht decodieren lässt. Die Nähe der kunstpädagogischen Bildhermeneutik zu den Sozialwissenschaften gründet sich – zusammenfassend gesagt – auf einem Bildverständnis, das Bilder primär als Handlungen, Gesten und Kommunika-tionsakte begreift – eher dem Terrain der Handlungstheorie und Kommunikationsforschung zugehörig als der phänomenologischen Beschreibung von Dingen und Tatsachen. Die aus der kunstpädagogischen Forschung entwickelten hermeneutischen Methoden können im sozialwissenschaftlichen Kontext deshalb ertragreiche Anwendung finden, weil es in ihnen immer schon dezidiert um die Untersuchung von bildnerischen Ausdrucksweisen von Kindern und Jugendlichen mit dem Ziel geht, ihr Denken und Handeln interpretierend zu verstehen.
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Methodische Operationalisierung: kunstpädagogische Bildhermeneutik – ein Entwurf Kunstpädagogische Bildhermeneutik befasst sich mit der begründeten Interpretation (Auslegung) von Bildern (vornehmlich bildnerischen Hervorbringungen von Kindern und Jugendlichen) mit dem Ziel, die Bilder (als Bilder von Kindern und Jugendlichen) zu verstehen. Bätschmann (2001, S. 193) spricht davon, Bilder „als sie selbst“ zu betrachten. Das wird oft falsch verstanden. Damit ist nicht gemeint, Bilder zum Zwecke der Betrachtung zu isolieren (etwa von ihren Kontexten, Adressaten, Entstehungsbedingungen u.a.). Im Gegenteil: Bilder müssen, eben um sie als sie selbst betrachten zu können, vor dem Hintergrund ihrer ganzen Fülle und Komplexität untersucht werden. Letztlich sind alle Fassetten des Bildes, man könnte auch sagen: die Bildbedingungen, Elemente des Bildes und umgekehrt. Das Bildverstehen bedarf deshalb einerseits eines multiperspektivischen Analysespektrums (Bildkategorien) und andererseits einer integralen Methode, die die Interpretationsfragmente sukzessive ineinander verdichtet. Untersuchungsgebiete (Bildkategorien) In den folgend ausgeführten Bildkategorien, die im hermeneutischen Prozess – im Hinblick auf das einzelne Bild – erweitert und ergänzt werden müssen, wird der enge Bereich der formalen Analyse erheblich um ein breites Feld prozessualer und situativer/kontextueller Bezüge erweitert. In konsequenter Orientierung am praktischen Grundzug der Hermeneutik wird das Bild primär auf seine Handlungsvollzüge und deren Sinn hin interpretiert, also primär unter bildpragmatischem Aspekt untersucht (vgl. Warning 1975, S. 9 ff.; Böhme 1999; Sachs-Hombach 2002; Sowa 2000 und 2003; Busse 2003). Bildproduktion, Bildpräsentation, Bildrezeption, Bildkommunikation und Bildwirkung bilden unter dieser Perspektive zusammengenommen jenes Ganze, das wir den „Sinn“ eines Bildes nennen. Das vermeintlich auf den „Bildtatbestand“ begrenzte Unterfangen der „Bildinterpretation“ weitet sich aus zur Beobachtung, Beschreibung, Analyse und Interpretation eines kommunikativen Handlungszusammenhanges.
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a) Bild – Bildsorte, Technik – Technik – Motiv – Formale Organisation – Bedeutungsschichten/Inhalt – Bildgeste/Handlung (z. B. bei Videos und Fotos) – Bildstimmung/-anmutung – Innerer Diskurs (Wahrnehmungsweg) – Bildschluss – Grad der formalen und semantischen Dichte b) Autor – Geschlecht – Alter – Kultur/Ethnie – Lebenskontext – Vorbildung – Weltbild/Überzeugungen/Wertesystem c) Bildkompetenz des Autors – Entwicklungsstufe – Wahrnehmungskompetenzen – Technische Kompetenzen – Gestaltungskompetenzen – Individualisierung/Konventionalisierung – Kulturzugehörigkeit – Einsatz von entwicklungsbedingten Schemata – Bewusste/unbewusste Bezüge zu verschiedenen Bildkulturen (z.B. Massenmedien, Hochkunst usw.) – Bezug auf Vorbilder/mimetische Bezugnahme – Schulische und außerschulische Bezugsfelder der Bildkompetenz d) Bildsituation (Produktionskontext) – Bildanlass/Auftrag usw. – Räumliche/zeitliche Situation – Begleitumstände – Soziales Umfeld/Kommunikation – Stimmung – Öffentlichkeit/Privatheit 93
e) Bildhandeln – Zeitliche Extension der Arbeit am Bild – Intensität der Bearbeitung des Bildes – Intentionaler Modus der Bildhandlung (z.B. Behauptung, Frage, Befehl, Wunsch, Versprechen usw.) – Ethos der Bildhandlung (z.B. Sorgfalt, Beiläufigkeit usw.) – Eigenmotivation – Bildbedürfnis – Bildabsicht – Bildhaltung/Bildethos – Bedeutsamkeit und Rang der Bildhandlung im Lebenskontext – Bilderfüllung (nach M. Warnke) f) Bildumgang/Präsentation/Rezeption/Rezeptionskontext(e) – Zeitlicher Abstand der Bildproduktion zur Präsentation und Rezeption – Art/Form der Bildpräsentation – Ort und Zeit von Präsentation und Rezeption – Begleitumstände – Sprachliche und sonstige starr ans Bild gekoppelte Präsentationskontexte (z.B. gleich bleibende „Bilderklärungen“) – Rückwirkung des Bildes auf den Autor (Selbstbetrachtung) – Selbstbeurteilung – Wirkung auf andere im sozialen Umfeld des Autors – Beurteilung des Bildes durch andere – Erhoffte Bildkommunikation – Stattfindende Bildkommunikation – Kontext, Stimmung und Inhalt der Bildkommunikation – Öffentlichkeit/Privatheit der Bildkommunikation – Gelingen/Misslingen der Bildkommunikation – Bedeutsamkeit und Rang der Bildkommunikation in den Lebenskontexten der Teilnehmer – Künftige Aufbewahrung und Erinnerungsfunktion des Bildes g) noch offene Bildkategorie(n) – –
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Methodisches Vorgehen Der Vorgang des Interpretierens – als Akt des Verstehens – folgt (in Anlehnung an die kunstwissenschaftliche Hermeneutik), einer begründeten Methode, die ihre Ergebnisse „sichert“. Die „Sicherung“ wird durch den transparenten Nachvollzug von Vorgehen und Deutung – im Sinne intersubjektiver Überprüfbarkeit – gewährleistet und ist insofern auch auf die empirische Sozialforschung übertragbar. Das methodische Verstehen eines Bildes setzt bei seiner Unverständlichkeit an. Es ist eine Aufforderung an das Verhalten des Interpreten, aus der Unverständlichkeit heraus Fragen an das Bild zu entwickeln, um zu vermeiden, dass der Interpret sein Vorverständnis reproduziert. Auf der Grundlage der am Bild entwickelten Fragen – nicht auf der Grundlage eines Schemas – wird das Vorgehen zum Erschließen des Bildes entworfen. Die hermeneutische Interpretationsfigur ist als offen, oszillierend und rekursiv zu charakterisieren. Bätschmann beschreibt sie als „unbestimmte Fläche“ (Bätschmann 2001, S. 198). Denn: Der Interpret geht nicht algorithmisch vor, sondern beginnt (auf der Grundlage seiner Fragen) an einer Stelle des Bildes, z.B. bei der Bildsituation (vgl. Bildkategorien) und setzt den Verstehensvollzug – vertiefend, ergänzend – an einer anderen Stelle fort. So wird die vorher „unbestimmte Fläche“ sukzessive mit Deutung und Be-Deutung gefüllt. Ähnlich der sequenziellen Textanalyse (vgl. Oevermann 1993) erfolgt auch die hermeneutische Bildanalyse schrittweise. Allerdings sind bei der Bildanalyse weder die Interpretationsrichtung noch die Reihenfolge der Untersuchungsschwerpunkte vorgeschrieben, vielmehr erfordert diese Methode den Kategorienwechsel und die Kategorienerweiterung sowie die Wiederholung von Interpretationsschritten zur wechselseitigen Erhellung der Bedeutungsschichten. Mit jedem Interpretationsschritt werden Zusammenhänge unter den Elementen und Sachverhalten des Bildes entwickelt und Thesen über die mögliche Bedeutung des Bildes aufgestellt, die mit jedem neuen Schritt überprüft, verworfen, modifiziert oder bestätigt werden. Eine Interpretation, so Bätschmann (2001, S. 216), ist vollständig und richtig, wenn sie methodisch korrekt erarbeitet und argumentativ gesichert ist. Wenn die argumentative Sicherung der Bedeutung jedoch fehlt, bleibt die Bedeutungsstiftung im Stadium einer Meinung.
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II. Anwendung Ein Beispiel: Kontextrekonstruktion aus dem Bild? Im Zusammenhang der Tagung „Methoden der Bildinterpretation“ wurden allen Referenten drei Fotos zur Verfügung gestellt, an denen sie Methoden der Bildinterpretation exemplifizieren sollten. Das „Setting“ zielte auf eine Ausblendung aller relevanten Bildkontexte. Es sollte der Versuch gemacht werden, sich ausschließlich auf das Faktum Bild zu beziehen. Vor dem Hintergrund der ausgeführten bildhermeneutischen Methodik war lediglich eine Untersuchung der Bildkategorie a) (Bild) möglich, womit im Grunde aus unserer Perspektive bereits das Scheitern einer adäquaten hermeneutischen Interpretation vorprogrammiert wurde. Trotzdem haben wir uns auf der Tagung der Aufgabe gestellt, um gewisse Aporien sichtbar zu machen. Diese Aporien verweisen auf die Leerstellen des fehlenden situativen und pragmatischen Kontextes. Deswegen wollen wir sie hier zum Abschluss in Grundzügen wiedergeben. a) Versuch einer Rekonstruktion der körperhaften Blickgeste/Bildgeste Wie sich anhand der Fluchtlinien des Bildes rekonstruieren lässt, wurde das Bild aus sitzender Haltung und leicht schräger Raumstellung zur Stirnwand des Raumes aufgenommen. Die Zielzone des Bildblicks driftet vom Hauptmotiv nach rechts weg. Die geometrische Bildmitte ist nicht mit Motiven besetzt, so dass sich eine signifikante Geste des „Abweichens“ ablesen lässt. b) Versuch einer Rekonstruktion des (räumlichen/sozialen) situativen Zusammenhangs der Bildhandlung, des Bildanlasses und der Bildstimmung Im Gegensatz zu den durch bildimmanente Interpretation gewonnenen Rückschlüssen tragen die nun im Folgenden getroffenen Aussagen ein hohes Maß an Unsicherheit mit sich und haben insofern nur hypothetischen Charakter. Die nun vorgetragenen Interpretamente verweisen mithin – unter den uns ausschließlich zugestandenen Bedingungen einer „kontextfreien“ Bildanalyse – auf den Unbestimmtheitshorizont der vollständigen Bildsituation. Da sie keine Stütze in der Empirie haben, beziehen wir uns auf unsere Erfah-
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rungen als geübte Betrachter von Bildproduktionen Jugend-licher. Wir nehmen also an, dass dieses Foto von einem Jugendlichen gemacht wurde2.
Abbildung 2 : Fluchtlinien, Bildgeste
Es handelt sich um die Aufnahme eines Unterrichtsgeschehens: Während die Lehrerin an der Tafel schreibt und den Schülern den Rücken zuwendet, wird aus der zweiten Bankreihe heraus – zwischen den Rücken der davor sitzenden Mitschüler – ein heimliches Foto aufgenommen. Das Fotografieren ist im situativen Zusammenhang ein abweichendes Verhalten. Das Interesse des Fotografen3 steht einerseits im Zusammenhang von heimlich abweichendem Verhalten, andererseits versucht er den Kontext dreier Hauptmotive (Perso2
3
Es muss hinzugefügt werden, dass ähnlich wie das in der Kunstpädagogik weitgehend erforschte zeichnerische Gestalten auch das noch weitgehend unerforschte fotografische (und videografische) Gestalten von Kindern und Jugendlichen einer inneren Entwicklungslinie folgt, auf der das vorliegende Bild zu lokalisieren wäre (vgl. dazu die Grundüberlegungen in Krautz 2004). … oder der Fotografin – das wäre eine interessante Frage geschlechterspezifischer Bildkompetenz. 97
nen) zu fixieren, von denen das Hauptmotiv die die Situation einerseits durch ihre Aktion beherrschende, andererseits blicklose, handlungslose und hilflose Lehrerin ist. Ob der Bildanlass irgendeinem Bildauftrag entsprang oder ob er ausschließlich in der spontanen Initiative des Autors lag, ist dem Bild nicht zu entnehmen. Üblich ist das Mitbringen von Fotoapparaten in den normalen Unterricht nicht. Es könnte sein, dass der Schüler seine neue Kamera den Freunden vorführen wollte, es könnte auch sein, dass an ihn (z.B. von einem schulischen oder außerschulischen Kunstpädagogen) der Auftrag ergangen ist, ein visuelles Tagebuch oder eine Dokumentation über seinen Alltag anzufertigen. Der Bildanlass könnte auch in der Ablehnung der Lehrerin liegen und im Willen, sie mit Hilfe des illegalen Bildes bloßzustellen – das scheint uns nahe zu liegen, denn: Die Bildstimmung ist getragen von Momenten der Flüchtigkeit und Heimlichkeit, möglicherweise auch von Humor oder unterschwelliger Aggression. c) Hypothesenbildung über die Qualität der Bildwahrnehmung und Bildkompetenz des Bildautors Diesem Teil der Interpretation kommt aus Sicht der kunstpädagogischen Bildhermeneutik eine besonders wichtige erschließende Funktion zu. Wäre das Bild von einem hochkompetenten und hochreflexiven Autor, etwa einem Künstler, geschaffen, wäre es völlig anders zu „lesen“ als wenn es von einem Autor mit geringer Bildkompetenz, etwa einem Schüler, angefertigt worden wäre. Wir vermuten auch deshalb, dass das Foto von einem Schüler gemacht wurde, denn: – Einem an der Bildsprache der avancierten künstlerischen Fotografie geschulten kompetenten Autor wären eine ganze Reihe von gegenständlichen Details und formalen Kompositionsmerkmalen ebenso wenig entgangen wie das hohe Potenzial an Bedeutungen, das sich aus dem spezifischen gestalthaften Zusammenstand einer Reihe von bedeutungshaften Bildmotiven ergeben könnte. – Einem gestalterisch anders oder weniger kompetenten Autor auf der Altersstufe der abgebildeten Schüler (vermutlich 7. bis 9. Klasse) bleiben all diese Bedeutungspotentiale vermutlich verschlossen, er hätte zudem vermutlich nicht die Fähigkeit, seine Wahrnehmungsaufmerksamkeit so differenziert auf die ganze Fläche des Bildausschnittes zu richten und das orthogonale Format des Bildausschnittes gezielt auf den gegenständlichen 98
Bestand des Blickfeldes auszurichten.
– – – – – – – – – – –
Der Autor richtet vermutlich den (technisch einfachen) Apparat (wenige Bildpixel, unzureichende Scharfstellung) mit einer vagen Zielgeste in die Gegend der von ihm intendierten Motive. Eine flächen- und kompositionsbewusste Ausrichtung des Ausschnitts und des Peilwinkels zur Architektur und zu den Personen findet nicht statt. Das deutet auf begrenzte Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsressourcen des Autors hin. Eine Fülle an Bildmotiven befindet sich für ihn wohl im „blinden Fleck“ seiner Aufmerksamkeit und diese sind deswegen unabsichtlich abgebildet. Es handelt sich dabei um „Unbestimmtheitsstellen“ (vgl. Huber 2004b, S. 81 ff.), die zwar einerseits unvermeidliche Konditionen jeglicher Bildwahrnehmung sind, deren Häufung und Dichte aber in hohem Maße abhängig ist vom Grad der Bildreflexivität und Bildkompetenz des Bildautors. Solche „Unbestimmtheitsstellen“ sind jedoch in der Gesamtheit des Bildes betrachtet potenziell bedeutungshafte und auch formal sinnträchtige Motive, die hier wohl weniger intendiert sind: das Detail „aufmerksames Schreiben“ beim Schüler links das Detail „aufgehängte Jacke“ das Detail „leerer Stuhl“ der Tafeltext mit Signalworten wie „Jetztmensch“, „Kopf und Gehirn“, „Mensch“, „Feuer“, „Hirn“, „Geschichte“ Details wie die elektrische Lampe und der Lichtfleck die Dachschräge der Werkzeugblock mit Scheren der vorne abgestellte „Ghettoblaster“ die unter und auf den Tischen abgelegten Gegenstände: Zettel, Plastiktüte die für eine differenziertere Bildwahrnehmung auffällige Flächenkonstellation zwischen dem Kopf der Lehrerin und dem von ihr geschriebenen Wort „Kopf“ der für eine differenziertere Bildwahrnehmung auffällige Flächenschluss zwischen der Gürtellinie der Lehrerin und der Unterkante der Tafel.
Die definitive Scheidung von Gemeintem, Mitgemeintem und Nichtgemeintem im vorliegenden Bild kann – in Unkenntnis des Autors, der Beziehung zwischen Autor und abgebildeten Personen, des Entstehungskontextes u.a. – ebenfalls nur hypothetisch erfolgen.
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Wir vermuten, dass der Autor drei Motive ungefähr zu treffen versuchte und dabei den Umraum dieser Motive mitfotografierte (ohne ihn wirklich intentional zu „meinen“) – mit unbestimmt und unreflektiert gesetzten Bildrändern nach oben, unten, links und rechts: Diese Motive sind: (a) und (b) die aufmerksam nach vorne blickenden, dem Unterricht folgenden und mitschreibenden (aber vermutlich um die Aktion des Fotografen wissenden) Schüler links und rechts (c) die neben dem Bildzentrum, aber im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors stehende abgewandte Lehrerin Diese drei Motive stehen in einem vagen Bewegungszusammenhang, dessen „Bildschluss“ (im Sinne der Terminologie von Kurt Badt 1961) der Rücken mit dem unglücklich der Betrachtung dargebotenen Gesäß der Lehrerin sein könnte.
Abbildung 3: Motive, Motivdiskurs, Bildschluss
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Es sei jedoch auf ein Nebenmotiv verwiesen, dessen absichtliche Mit-Wahrgenommenheit bei der unterstellten Interessenlage des jugendlichen Autors nicht unwahrscheinlich sein könnte: Der im Bild erkennbare „Ghettoblaster“ ist ein affektiv hochgradig besetzter Gegenstand, der der Aufmerksamkeit des Schülers möglicherweise nicht entgangen sein dürfte, zumal er ein hohes Potential an außerschulischer Nutzbarkeit verspricht. d) Hypothesenbildung über die Qualität des Bildumgangs und der Bildkommunikation Der Bildautor ist gegenüber den formalen Gestaltungsmöglichkeiten der künstlerischen Fotografie und gegenüber den Potenzialen einer elaborierten Bildsprache und Bildsemantik als naiv zu bezeichnen. Er benutzt den Apparat in einer direkten und unreflektierten Intentionalität, die man als „Motivsehen“ bezeichnen kann – im Unterschied zu einem dezidierten „Bildsehen“, das die Situiertheit der Motive im gestalteten Bildganzen wahrzunehmen vermag und eine bewusste Haltung gegenüber der Bildfläche und dem fruchtbaren Zeitpunkt der Bildaufnahme einschließt. Auf dem vorliegenden Bild bleiben Bildraum und Bildfläche unbeachtet und ungestaltet, die Aufmerksamkeit liegt lediglich auf drei Bildmotiven, die zusammen auf der Bildfläche erscheinen sollen. Der Zeitpunkt ist hastig gewählt, was den Charakter der fotografischen Handlung als flüchtiges, abweichendes Verhalten unterstreicht. Der „Sinn“ seines Motivinteresses – also sein eigentliches Motiv zum Bildakt – liegt vermutlich im Bereich der Kommunikation innerhalb der Peergroup: Bildakt und Bildgeste als Regelverletzungen (gemessen an der obligatorischen Aufmerksamkeit im Unterricht) könnten die Bloßstellung der Lehrerin implizieren. Deren die Situation beherrschende Präsenz wird durch die subversive Geste des Fotografen relativiert. Der Mitteilungswert des Fotos bezüglich des objektiven prozessualen und situativen Ereigniszusammenhanges ist gering. Höher ist er in Bezug auf die Haltung und das Verhalten des Autors. Dieser kann mit Hilfe seines Fotos gegenüber den Mitschülern belegen, dass er das Foto während des Unterrichts gemacht hat. Er gibt mithin Auskunft über sein eigenes schulisches Verhalten, seine Einstellung zur Autorität usw. Wohl ohne Zweifel hat das Bild die Bestimmung, den Entstehungskontext peripherer Heimlichkeit zu verlassen und gelegentlich ins Zentrum sozialer Kommunikation zu treten: Indem es als „Beute“ einer heimlichen Bilderjagd präsentiert wird, wird es vermutlich kommunikativ erfolgreich 101
sein. Nicht nur kann es dem Autor vorübergehend Geltung und Ansehen in seinem Umfeld verschaffen, sondern auch verstanden werden: als Geste der Subversion gegenüber dem Regelzusammenhang der Schule und als Geste der Bloßstellung der Autoritätsperson. Schluss Doch davon können wir vor dem Bild stehend nichts wirklich wissen: Wir waren weder Teilnehmer noch Beobachter der Situation und das isoliert vorliegende Bild taugt nur zu begrenzten Rückschlüssen: Die Möglichkeiten einer Rekonstruktion des Kontextes und damit des Handlungssinnes des Bildes sind mehr als begrenzt. Das, was wir über das Bild wissen müssten, um es zu verstehen, müssten wir multiperspektivisch erheben: durch ergänzendes Bildmaterial, Sachinformationen, Befragungen des Autors und der Beteiligten u.a. und schließlich durch die gründliche interpretierende Verdichtung des Materials. Die hier beispielhaft angedeuteten Interpretationsfragmente bleiben aufgrund der Leerstellen durch das Fehlen substanzieller Bildbestandteile in streng hermeneutischem Sinne im Stadium von Meinungen und Ahnungen, die den Ansprüchen sozialwissenschaftlicher Forschung nicht genügen dürfen. Literatur Arnheim, Rudolf (1965): Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Berlin (de Gruyter). Assmann, Aleida (2002): Das Bildgedächtnis der Kunst – seine Medien und Institutionen. In: Huber, Hans Dieter/Lockemann, Bettina/Scheibel, Michael (Hrsg.): Bild Wissen Medien. Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter. München (kopaed). S. 209-222. Badt, Kurt (1961): Modell und Maler bei Vermeer. Eine Streitschrift gegen Hans Sedlmayr. Köln (DuMont). Badt, Kurt (1971): Eine Wissenschaftslehre der Kunstgeschichte. Köln (DuMont). Bätschmann, Oskar (2001): Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 5. Aufl. Baxandall, Michael (1977): Die Wirklichkeit der Bilder: Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt/M. (Syndikat). Belting, Hans/Dilly, Heinrich/Kemp, Wolfgang/Sauerländer, Willibald/Warnke, 102
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Alfred Holzbrecher/Sandra Tell
Jugendfotos verstehen. Bildhermeneutik in der medienpädagogischen Arbeit Mit dieser Überschrift wird deutlich, dass sich dieser Beitrag im Grenzbereich mehrerer Disziplinen bewegt. Der Handlungskontext des hier zu entwickelnden bildanalytischen Konzepts ist die medienpädagogische Arbeit mit Jugendlichen im schulischen wie im außerschulischen Bereich. Es soll ein Instrumentarium bieten, um (1) als Medienpädagoge die alltagsästhetische Praxis von Jugendlichen als Ausdruck entwicklungs- und milieuspezifischer Formen der Aneignung von Wirklichkeit zu verstehen, (2) gemeinsam mit den Jugendlichen Fotos zu analysieren sowie (3) Klarheit zu entwickeln bezüglich der Fotografierabsichten und der zu ihrer Umsetzung notwendigen fotografischen Gestaltungsmittel. Die im Vergleich zu rein bildanalytischen Konzepten relative „Unschärfe“ des bildhermeneutischen Ansatzes ergibt sich nicht zuletzt aus dem Genre Jugendfotografie selbst. Sie angemessen zu verstehen, kann u.E. nur gelingen, wenn kunstwissenschaftliche/-pädagogische Perspektiven mit solchen aus der Jugend-, Biographie- bzw. ethnographischen Forschung verschränkt und im Sinne einer Innovierung pädagogischer Praxis („Praxisforschung“) konzipiert werden. Der vorliegende Beitrag ist als Versuch zu verstehen, sich im Spannungsfeld solch unterschiedlicher disziplinärer Zugänge zu positionieren. Im Folgenden wird ein Konzept vorgestellt1, das es ermöglicht, sowohl die Produktions- wie auch die Rezeptionsperspektive der Fotografie aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ins Blickfeld zu bekommen. Das Modell von Friedemann Schulz-von Thun (1981) bietet eine gute Basis, um nicht nur Texte, sondern auch ästhetische Produkte wie Fotos kommunikationspsychologisch zu untersuchen. Dies gilt in besonderer Weise für die kulturelle bzw. ästhetische Praxis von Jugendlichen. So zeigt ein Blick in den Band „40 Jahre Jugendfotopreis“ (Grebe u.a. 2002), dass Jugendfotos als „Zeichen“ verstanden werden können (vgl. Dörfler 2000), die sowohl auf jugendspezifische Perspektiven und alterstypische Entwicklungsaufgaben als auch auf zeittypische Welt-Sichten verweisen. 1
Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung des Beitrags von Holzbrecher 2004. 107
Schulz-von Thun geht in seinem Modell davon aus, dass bei jeder Nachricht bzw. Information vier Ebenen unterschieden werden können: 1. 2. 3. 4.
die Sachebene die Beziehungsebene die Appellebene und die Selbstoffenbarungsebene.
Jede Information drückt also nicht nur einen sachlichen Inhalt (1) aus, sondern beinhaltet in gleicher Weise die Dimension der Beziehung zu anderen Menschen, die diesen Satz wahrnehmen (sollen) (2), die eines in-/direkten Appells (3), außerdem macht der Sprecher damit auch eine Aussage über sich selbst (4). Analog dazu erscheint es plausibel, wenn etwa die Kleidung eines Menschen, sein Geschmack oder sein Verhalten als ein „kulturelles Zeichen“ gedeutet wird, d.h. eines, das als „Ausdruck“ einer bestimmten Kultur, einer Lebensart bzw. eines Wahrnehmungs- und Deutungssystems gelesen werden kann. Dessen Träger drückt damit etwas auf einer Sachebene aus (um was geht es inhaltlich?), er setzt sich damit in Beziehung zu seiner Umwelt, appelliert in direkter oder indirekter Form an sie und dieses kulturelle Zeichen verweist auf ihn selbst zurück (Selbstoffenbarung), ob auf eine psychische Befindlichkeit, eine soziokulturell oder -ökonomisch identifizierbare Klassenlage oder eben auf seine spezifische Form der Deutung und Verarbeitung seiner Situation. In dieser Weise können sowohl bewusste als auch unbewusste Ausdrucksformen als „Zeichen“ gelesen werden, etwa produzierte Fotografien oder andere ästhetische Inszenierungen. Schulz-von Thun geht in seinem kommunikationspsychologischen Modell über die vier Ebenen auf der Senderseite auch von der Unterscheidung von „vier Ohren“ auf der Empfängerseite aus: Der Rezipient, also derjenige, der die Zeichen „liest“, z.B. ein Foto deutet, nimmt 1. auf dem „Sachohr“ wahr (primär inhaltliche Botschaften, Sachinhalte), 2. auf dem „Beziehungsohr“ (oft indirekt zum Ausdruck kommende Beziehungsbotschaften), 3. auf dem „Appellohr“ (Aufforderungsgehalt) und 4. auf dem „Selbstoffenbarungsohr“, mit dem einfühlsam herausgehört wird, was der „Sender“ mit seinem Zeichen über sich selbst aussagt bzw. aussagen könnte.
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Bei jedem Menschen, so Schulz-von Thun, ist die Mischung dieser vier Wahrnehmungsebenen unterschiedlich und möglicherweise eines dieser „Ohren“ besonders ausgeprägt. Plausibel erscheint die Annahme, dass das Verstehen eines Anderen umso besser gelingt, je stärker das „Selbstoffenbarungsohr“ ausgeprägt bzw. sensibilisiert ist. Denn es geht ja zunächst darum nachzuvollziehen, was er mit dem zum Ausdruck gebrachten Zeichen über sich selbst aussagt, d.h. welche „Eigenlogik“ zwischen dem Zeichen und seinem Wahrnehmungs- und Deutungssystem, seinem Weltbild und seiner Kultur bestehen könnte. Bourdieus Konzept des Habitus enthält die beiden Dimensionen „Erzeugnis“ und „Erzeugungsprinzip“: Mit „Erzeugnis“ ist gemeint, dass sich im Habitus soziogenetische Strukturen bzw. milieu-, kultur- oder geschlechtsspezifische Sozialisationsformen zu bestimmten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern verdichten. Zum anderen werden diese Muster im Sinne eines „Erzeugungsmodus der Praxisformen“ verstanden, indem sie in ästhetische Vorlieben, Körpersprache, in politische Einstellungen/Weltbilder bzw. gedankliches oder kommunikatives Handeln „übersetzt“ werden (Bourdieu 1987,136). Ausgehend von diesem Konzept kann die ästhetische Praxis von Jugendlichen, also etwa die Wahl und die Gestaltung der Bildmotive, als Ausdruck oder in der Sprache der Semiotik: als „Zeichen“ für diesen Habitus, für ein Lebensgefühl, für bestimmte Wahrnehmungs- oder Deutungsmuster gesehen werden. Problematisch wäre es jedoch, im Habitus etwas Statisches und „Unveränder-liches“ zu sehen, etwa, wenn man die Perspektive des „Erzeugnisses“, der „Prägung“ bzw. einer passiven Sozialisation überbetont. Demgegenüber soll davon ausgegangen werden, dass das Subjekt ein aktives und sich selbst veränderndes Wesen ist, das gerade mit seinen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern selbstreflexiv und kreativ umzugehen in der Lage ist. Das ethnographische Bemühen, die Fotografierpraxis und Fotos von Jugendlichen verstehen zu wollen, gleicht einem Annäherungsversuch an eine „fremde“ Wirklichkeit: So wären etwa Antworten auf folgende Fragen sinnvoll und notwendig: – Welche Bedeutung hat Fotografieren/haben Fotos im Alltagsleben der Jugendlichen? – In welchen Situationen fotografieren sie? Mit welchen Absichten? – Inwiefern besteht bzw. entwickelt sich der Wunsch, „besser“ fotografieren zu können?
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– Welche Motive dominieren? Wie lässt sich die Motivwahl deuten (vgl. Alter, Geschlecht/„Entwicklungsaufgabe“ etc.)? – In welcher Weise gestalten sie die Situation des Fotografierens: Lassen sich geschlechtsspezifische, altersbedingte, kulturell bedingte Unterschiede feststellen? Wie lassen sich begleitende Diskussionen unter den Beteiligten deuten? – In welcher Weise wird der Interaktionsprozess durch andere Jugendliche beeinflusst, die technische bzw. künstlerische Kompetenzen besitzen? – Inwiefern stellen Fotografien „geliebte Objekte“ (Habermas 1996) dar, die bei der Identitätsentwicklung eine biografisch bedeutsame Rolle spielen? – Welche sozialen Interaktionsmuster etwa mit Gleichaltrigen werden inszeniert, um Fotos in diesem Sinn zu nutzen? – Welche medialen Formen spielen dabei eine wichtige Rolle (vgl. Papierbild, PC-Bild, Fotohandy etc.)? Im Kontext einer subjektorientierten Bildungsarbeit erscheint es sinnvoll, in zentraler Weise nach den Intentionen der Fotografierenden zu fragen – und diese im Verlauf der Projektarbeit immer wieder zu thematisieren, denn nur auf diese Weise lässt sich „besser fotografieren“ lernen. In Anlehnung an das genannte kommunikationspsychologische Modell können folgende Ebenen unterschieden werden: Ein/e Fotograf/in will – dokumentieren, informieren, darstellen, auf Sachverhalte/neue Sichtweisen hinweisen (Sachebene) – appellieren, aufrütteln, provozieren, den Blick auf bestimmte Probleme, Missstände etc. lenken, zum Nachdenken anregen, zu Handlungen auffordern (Appellebene) – ein bestimmtes Lebensgefühl, eine Situationswahrnehmung, ein begrifflich noch nicht fassbares Vorstellungsbild, ein Selbst-Bild, eine Welt-Sicht zum Ausdruck bringen (Ebene der Selbstoffenbarung) – Beziehungen darstellen bzw. deutlich machen, Kontakt herstellen a) zur fotografierten Person/zum Objekt (Ausdruck einer bestimmten Beziehungsqualität „Geschichten erzählen“, Gefühle darstellen etc.) b) zum (potenziellen/antizipierten) Rezipienten (z.B. ihn zum Geschichtenerzählen/Fantasieren animieren, Gefühle und Stimmungen wecken etc.). Bei der Analyse von Fotos, der Bildhermeneutik, geht es um einen Versuch, über die auf der Fotografie sichtbaren Zeichen Tiefendimensionen und die 110
„Transformationsregeln“ zu erschließen. In Anlehnung an das kommunikationspsychologische Modell lassen sich etwa folgende Leitfragen stellen: Sachebene: – Was ist das Thema, die Handlung, der situative Kontext? In welcher Zeit, an welchem Ort wurde die Szene fotografiert? Welcher Verwendungskontext (privat, öffentlich etc.) lässt sich erschließen? – Welcher Bildgattung ist das Foto zuzuordnen? – Welche fotografischen Gestaltungsmittel (vgl. Bildausschnitt, Blende, Belichtungszeit, Schärfenbereich, Kamerastandort, Licht/Schatten, Motivwahl etc.) wurden verwendet? (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2003: 29 f.) Selbstoffenbarungsebene: – Was sagt der/die Fotograf/in mit dem so gestalteten Foto (Thema, Motivwahl, Gestaltungsmittel etc.) über sich selbst aus? – Welches Lebensgefühl, welche Situationswahrnehmung, welches Bild von sich selbst/welche Welt-Sicht lässt sich daraus erschließen? – (Inwiefern) ist diese „Wirklichkeit“ subjektiv-biografisch zu verstehen bzw. inwiefern handelt es sich um alters-, geschlechts-, milieu-/kulturbzw. entwicklungsspezifische Deutungsmuster (ggf. historisch-gesellschaftlicher Kontext)? Appellebene: – Zu welchen Haltungen und Handlungen fordert das Foto auf? – Wie explizit ist ein Adressatenbezug erkennbar? Beziehungsebene: – Welche Beziehungsqualität der abgebildeten Personen/Objekte (Gestus, Körperhaltung/Habitus etc.) zueinander („Blickbeziehungen“) lässt sich beobachten? – Welche Beziehungsqualität zwischen dem Fotografen und den abgebildeten Personen ist erkennbar? – In welcher Weise nehme ich als Betrachter/in das Foto wahr? Welche Erinnerungen/Gefühle etc. weckt es? Warum gefällt es mir (nicht)? Auf welche Erfahrungen, Geschmackskategorien verweist mein ästhetisches Urteil? Folgt man dem Modell der hermeneutischen Spirale, erschließt das Einzelne den Kontext, es erweitert ihn, andererseits kann das Einzelne umso besser „verstanden“ und eingeordnet werden, je mehr Kontextwissen vorhanden ist. In der pädagogischen Arbeit kann nun „das Einzelne“ und „der Kontext“ 111
auf ganz unterschiedliche Dinge bezogen werden. Im Modell der Bildhermeneutik/Fotoanalyse bezieht es sich auf ein Einzelfoto, das etwa auf den Kontext des „Gesamtbestands“ einer bestimmten Epoche (inwiefern ist das Einzelfoto „repräsentativ“?) oder auf den lebensweltlichen Kontext der Jugendlichen bezogen werden kann: Im einen Fall führt der Verstehensprozess zu einem vertieften Verständnis der Wahrnehmungsmuster und der fotografischen Gestaltungspraxis einer bestimmten Zeit, im anderen Fall zu einer besseren Einsicht, wie Jugendliche mit einem bestimmten Erfahrungshorizont sich und ihre Welt sehen und ihr Leben gestalten. In der pädagogischen Praxis kann „der Kontext“ aber auch auf die professionelle Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen in der Projektarbeit bezogen werden: „das Einzelne“ wäre dann etwa die situationsbezogene Wahrnehmung, wie Jugendliche unter den Bedingungen weitgehen-der Selbstbestimmung in Projekten lernen, wie (unterschiedlich?) Jungen und Mädchen sich einem Projektthema, der Digitalkamera oder dem Bildbearbeitungsprogramm nähern oder welcher Zusammenhang zwischen gruppendynamischen Prozessen und der sachbezogenen Arbeit in einer längere Zeit bestehenden Projektgruppe erkennbar ist. „Fremdverstehen“ kann zur Gelegenheit für „Selbstverstehen“ werden, wenn ausgehend von der Beziehungsebene der Fokus auf die Frage gerichtet wird: „Wer bin ich, dass ich den Anderen in dieser Weise wahrnehme?“ Mit einer solchen Perspektive wird erkennbar, dass und in welcher Weise die eigene Wahrnehmung von historisch-gesellschaftlichen, kulturell/ milieu-, geschlechts-, alters-, entwicklungsbedingten Deutungsmuster geprägt ist. Die „Horizonterweiterung“, von der im klassischen hermeneutischen Modell die Rede ist, bezieht sich also in gleicher Weise auf ein vertiefteres Verständnis des Objekts/des Anderen/des Fotos und auf die Selbst-Reflexion, die Selbstvergewisserung des eigenen Blicks bzw. die Erkenntnis der Perspektivität der eigenen Wahrnehmung. Diese Form der Selbstreflexion kann als Grundlage für die Entwicklung eines professionellen Blicks betrachtet werden. Eine Aufmerksamkeitshaltung, die immer wieder dazu anhält, sich nicht von allzu schnellen Alltagsdeutungen leiten zu lassen, genau hinzusehen, den Einzelfall, das Subjekt (zunächst) in seiner Eigen-Logik anzuerkennen, bevor man bewertet, dürfte zunehmend zu einer Grundqualifikation lebenslanger Professionalitätsentwicklung im pädagogischen Feld werden. Wie bereits zu Anfang erwähnt, steht das hier entwickelte Modell einer Bildhermeneutik eindeutig im Kontext medienpädagogischer Arbeit, setzt also zwangsläufig Kenntnisse der sozialen Prozesse, innerhalb derer ein Bild 112
entsteht, voraus. Da beim vorliegenden Beispielbild (vgl. Abb. 1) keine Informationen zur sozialen Situation, zu den Vorerfahrungen und dem persönlichen Hintergrund des Fotografen vorliegen, müssen einige Aussagen spekulativ bleiben.
Abbildung 1
Ikonographische Perspektiven: Es handelt sich um ein Farbfoto, die Beleuchtung entsteht offenbar durch einen Blitz, dessen Reichweite nicht ausreicht, um das gesamte Bild auszuleuchten. Möglicherweise wurde eine einfache Kamera mit schwachem Blitz 113
verwendet. Das Foto hat eine große Tiefenschärfe, das spricht für die Verwendung eines Weitwinkelobjektivs und einer kleinen Blendenöffnung. Das Bild ist in zwei gleichgroße Hälften geteilt. Zwei Personen befinden sich in der linken Hälfte des Bildes, ein Junge und ein Mädchen. In der rechten Bildhälfte befindet sich ein unbesetzter Stuhl, auf dem mehrere Gegenstände liegen, die an bemalte Kieselsteine erinnern, eines der Objekte trägt erkennbar den Buchstaben A. Auf dem Bild sind eigentlich drei sitzende Personen zu erkennen, von der dritten Person sind allerdings nur die Hand und ein kleiner Teil des Körpers am rechten Bildrand zu sehen. Die Stühle stehen in keiner klar erkennbaren Formation. Die Blicke kommen aus dem Bild heraus und sind direkt auf den Betrachter/den Fotografen gerichtet. Der Fotografierstandpunkt befindet sich auf Augenhöhe der fotografierten Personen. Im Hintergrund befindet sich eine Tafel und es ist ein Tafel-Geodreieck und ein großer Zirkel an der Wand befestigt. Der Junge stützt sich in einer zugewandten Haltung auf die Schulter des Mädchens. Seine Körperhaltung wirkt entspannt. Das Mädchen lehnt sich leicht schräg in Richtung eines braunen Gegenstands, vermutlich eines Tisches, dessen Kante am Bildrand zu erkennen ist. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt. Durch die leicht schräge Körperhaltung und den Arm des Jungen entstehen mehrere Diagonalen im Bild. Die Diagonale am Rand des Jungen teilt das Bild wiederum in zwei etwa gleiche Teile. Der Junge trägt verwaschene Jeans und ein 114
schwarzes glänzendes Hemd mit halblangen (möglicherweise hochgekrempelten) Ärmeln. Auf dem Kopf trägt er ein weißes Stirnband mit einem großen Schild, das vom Betrachter aus zur linken Seite gedreht ist. Das Mädchen trägt eine fliederfarbene Kopfbedekkung, wahrscheinlich ein Kopftuch. Sie hat einen rosafarbenen hochgeschlossenen langärmligen Rollkragenpullover an, darüber eine leicht ausgebleichte Jeansjacke mit hochgeschlagenen Ärmeln. Sie trägt ebenfalls Jeans. Beide Jugendliche haben braune Augen und ein südländisches Aussehen. Das Alter lässt sich im Bereich zwischen 13 und 15 Jahren vermuten. Aus diesen Bildelementen lassen sich folgende Vermutungen über den Kontext des Bildes treffen: Situation und fotografischer Kontext Der Ort der Aufnahme scheint ein Klassenzimmer zu sein. Die eher chaotische Aufstellung der Stühle und die Tatsache, dass es möglich ist, ein geblitztes Foto zu machen, zu dem sich die Personen „in Position“ setzen, lässt auf eine informelle Situation schließen. Vielleicht ist gerade Pause, möglicherweise handelt es sich auch um einen Projekt- oder Freizeitkontext. Vermutlich spielt dabei die Fotografie eine Rolle, denn eine Kamera hat man normalerweise nicht dabei (für ein Handyfoto ist das Bild zu wenig verzerrt und zu scharf, außerdem wurde geblitzt, und das ist eine Funktion, die bei Handys (noch) eher unüblich ist). Habitus Die langärmlige, geschlossene Kleidung des Mädchens und vor allem das Kopftuch lassen darauf schließen, dass es sich um Jugendliche mit einem muslimischen Hintergrund handelt. Aus der Körperhaltung der beiden Jugendlichen und der körperlichen Nähe könnte darauf geschlossen werden, dass es sich bei ihnen um Familienmitglieder i.w.S. handelt und ein „typisches“2 geschlechtsspezifisches Rollenmuster erkennbar wird: Der Junge lehnt sich auf das Mädchen, eine gleichzeitig besitzergreifende und beschüt2 Der Begriff des Typischen erscheint hier leicht ins Klischeehafte abzugleiten und als self-fulfilling prophecy zu wirken, wenn zusätzliche einzelfallbezogene Zusatzinformationen fehlen. Im Modell der Bildhermeneutik kommt allerdings diese „Brille“ des Betrachters mit ins Blickfeld, d.h. lässt ihn erkennen, dass seine Deutung eine Konstruktion ist, die auch auf seine eigenen Fremd- und Selbst-Bilder verweisen. 115
zende Geste. Er sitzt vollkommen entspannt, sie scheint, auch aufgrund der Bildkomposition und der Dynamik im Bild (Zugkraft des Rahmens) an den Rand gedrängt. Zusammen mit der Kleidung ergibt sich ein eher steifer, eingeengter Eindruck. Das Mädchen hat eine kompakte Sitzhaltung, während der Junge durch die Stellung des übergeschlagenen Fußes mehr in den Raum hineinragt. Raumaufteilung/Bedeutung des Stuhls Durch die Aufteilung des Bildes in jeweils zwei Hälften in der vertikalen Teilung wie auch in der Diagonalen entsteht eine Spannung im Bild. Jeweils eine Hälfte ist mit den Personen als Motiv gefüllt, die andere Hälfte bietet auf den ersten Blick viel „unnötigen“ Raum. Wenn man aber die Wahl des Bildausschnitts, die Raumaufteilung und den Linienverlauf näher betrachtet, kann man zu dem Ergebnis kommen, dass der „leere“ Stuhl für den Fotografen eine große Bedeutung hat und zur Bildaussage gehört. Es sind folgende Aussagen vorstellbar: (sein) leerer Stuhl als „Platzhalter“ für den Fotografen, der sich mit diesen beiden Personen inszenieren möchte; das Einfangen des Kontextes, in dem das Bild entstanden ist (die Situation), indem die Tafel und die Geometrie-Utensilien mit ins Bild aufgenommen werden; oder es geht dem Bildautor um die Gegenstände auf dem Stuhl. Er kennt deren Bedeutung, schafft es aber nicht, sie gleichzeitig mit den Jugendlichen auf einem Bild angemessen in Szene zu setzen, so dass sie der Betrachter des Bildes später auch zu decodieren vermag. Die Bedeutung der Gegenstände, möglicherweise didaktisches Material, bleibt also unklar. Vielleicht stellen sie einen Schlüsselgegenstand für die Situation oder die Gruppe da. Es handelt sich um Buchstaben, vielleicht repräsentiert jeder Gegenstand den Anfangsbuchstaben eines Gruppenmit-glieds. Die Rezeption eines Fotos lässt sich nach dem vorgestellten Modell v.a. als eine Wahrnehmung auf einem der „vier Ohren“ denken, wobei eine analytische Unterscheidung zwischen (etwa) dem „Selbstoffenbarungsohr“ des Rezipienten (als „Konstruktion“ des Interpreten) und der Selbstoffenbarungsebene, die in die Fotografierabsicht des Produzenten eingeflossen ist, notwendig ist: Zwischen beiden besteht eine nicht aufhebbare Spannung, die in der medienpädagogischen Situation als dialogische Beziehung zu denken ist: Die Deutung des Medienpädagogen oszilliert zwischen einem „Abtasten“ der Situation, einem bewussten „In-Kontakt-Treten“ mit der „Fremdheit“ jugendlicher Selbst-Inszenierungen, was notwendigerweise den selbstreflexiven Blick auf die eigenen Deutungsmuster einschließt. 116
Auf dem „Sachohr“ könnte wahrgenommen werden, dass das Foto eine Situation aus einem (Foto-?)Projekt mit ausländischen Schülerinnen und Schülern festhält. Das Thema sind die Teilnehmer, Freunde, die während des Projekts fotografiert werden. Je nachdem, wie die Aufgabenstellung des Fotoprojekts für das Anfertigen der Fotos lautete, ist auch die Motivation für dieses Foto unterschiedlich einzuschätzen. Darüber liegen aber keine Informationen vor. Deshalb lässt sich auch der Verwendungszweck nicht eindeutig bestimmen. Es ist aber zu vermuten, dass es sich um ein Bild handelt, das auch aus einen persönlichem Interesse fotografiert wurde und deshalb zumindest Erinnerungsfunktion zusätzlich zur Dokumentation enthält. Die bildgestalterischen Elemente wurden oben bereits analysiert. Die Verwendung einer Einwegkamera nimmt natürlich Einfluss, da sie die Gestaltungsmöglichkeiten stark einschränkt. Falls der Fotograf diese Art der Kamera nicht ganz bewusst gewählt hat, sollte man deshalb die fototechnischen Aspekte nicht überinterpretieren. Bei der Untersuchung der Beziehungsebene lassen sich, wie erwähnt, drei Perspektiven unterscheiden: 1. die der dargestellten Personen zueinander, 2. die der Beziehung des Fotografen zu den dargestellten Personen/Objekten und 3. die des Betrachters zum Foto. Streng genommen könnte die 3. Perspektive auch schon vom Fotografen antizipiert worden sein, etwa wenn er den Rezeptionskontext (Museum? Jugendhaus? Internet-Präsentation?) mitreflektiert und diese Überlegungen in die Gestaltung des Fotos einfließen. Die Beziehung der dargestellten Personen zueinander wurde bereits oben beschrieben, die des Fotografen zu den Jugendlichen scheint vertraut. Da der Fotograf kein Teleobjektiv verwendet, steht er auch körperlich nah an den Jugendlichen. Die Aufnahmeperspektive (Augenhöhe), spricht dafür, dass der Fotograf eine symmetrische Beziehung zu den beiden Personen hat bzw. zum Ausdruck bringen möchte. Möglicherweise ist er sogar ein Gruppenmitglied, zumindest lässt sich eine relativ große Vertrautheit mit den Jugendlichen annehmen. Der Gesichtsausdruck der Jugendlichen ist wie auch die Körperhaltung offen und dem Fotografen/Betrachter zugewandt. Der Junge lächelt, der Ausdruck des Mädchens lässt etwas mehr Zurückhaltung spüren. Die beiden sind sich nicht nur des Fotografiert-Werdens bewusst, möglicherweise haben sie sich absichtlich in Pose gesetzt. Für die These einer Selbst-Inszenierung spricht auch der Körperkontakt, der sich als eine Geste der Zusammengehörigkeit verstehen lässt. Diese Position sieht aus, als wäre sie gerade erst eingenommen worden und ohne die Fotosituation so nicht Teil der normalen Sitzposition. D.h. diese Form des Selbstausdrucks trägt 117
stark kommunikative Züge, wie die anderen Kommunikationsebenen deutlich machen. Die Rezipienten-bezogenen Fragen „In welcher Weise nehme ich als Betrachter/in das Foto wahr? Welche Erinnerungen/Gefühle etc. weckt es? Warum gefällt es mir (nicht)? Auf welche Erfahrungen, Geschmackskategorien (Habitus) verweist mein ästhetisches Urteil?“ gewinnen vor allem im medienpädagogischen Kontext ihre Relevanz. Selbstoffenbarungsebene: Mit der Inszenierung zeigt Fotograf seine vertraute Beziehung zu den abgebildeten Personen und zu den Gegenständen. Das Bild schafft ein Wir- Gefühl, Gruppenidentität wird konstruiert. Es findet eine Identifikation mit der Situation statt; der Kontext des Fotos ist bedeutsam, ihm wird in Form der Steine symbolisch viel Raum im Bild eingeräumt. Der Bildautor fotografiert aber auch eine Szene, die die soziokulturellen Aspekte von Identität und Habitus zum Ausdruck bringen. Es ist eben nicht irgendeine subkulturelle Jugendgruppe, sondern eine, die durch Körperhaltung und Symbolik die Zugehörigkeit zur und Zusammengehörigkeit mit der (vermutlich) türkischen Zuwanderergruppe demonstrativ zeigt. Die Jugendlichen wirken stolz und selbstbewusst. Der Fotograf stellt die Personen, zu denen er so nah in Beziehung steht, vorteilhaft dar und damit bezieht er sich selbst und sein Selbstbild in diese Darstellung mit ein. Vor dem Hintergrund der Deutung einer „selbstbewussten Inszenierung“ könnte auf der Appellebene darauf geschlossen werden, dass die fotografierende Person dazu auffordern möchte, ausländische/türkische Jugendliche als ihrer selbst und ihrer (Alltags-, Jugend-)Kultur bewusste Subjekte wahrzunehmen, die wie alle anderen Jugendlichen „cool“ sein und „ihren Spaß haben“ wollen. Der Charakter der In-Szenierung macht den kommunikativen und intendierten Adressatenbezug offensichtlich. Abschließend sei noch einmal angemerkt, dass das hier vorgestellte Modell im Rahmen der Ausbildung von Lehramtsstudierenden und Medienpädagogen an der Pädagogischen Hochschule Freiburg entwickelt wurde mit dem Ziel, einerseits ein Instrumentarium zur Bildanalyse zu erarbeiten, das es kommunikativ zu validieren gilt, andererseits eines, das den Blick selbstreflexiv auch auf die eigenen Deutungsmuster lenkt und somit zur Entwicklung pädagogischer Professionalität beiträgt.
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Literatur Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/ Main. Dörfler, H.-D. (2000): Das fotografische Zeichen. In: Schmitt, J. u.a.: Fotografie und Realität. Fallstudien zu einem ungeklärten Verhältnis. Opladen, S.11-52. Grebe, S./Holtfreder, P./Kloten, A./Lothspeich, T./Schmolling, J./Timmermann, U. (2002): Fotofieber. 40 Jahre Deutscher Jugendfotopreis. Remscheid. Habermas, T. (1996): Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Berlin. Holzbrecher, A. ( 2004): Den Bildern auf der Spur. Fotoprojektdidaktik als kommunikativer Prozess. In: Holzbrecher, A./Schmolling, J. (Hrsg.): Imaging. Digitale Fotografie in Schule und Jugendarbeit. Wiesbaden, S. 11-31. Pilarczyk, U./Mietzner, U. (2003): Methoden der Fotografieanalyse. In: Ehrenspeck, Y./Schäffer, B. (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen, S.19-36. Schulz-von Thun, F. (1981): Miteinander reden, Bd.1. Reinbek bei Hamburg.
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Georg Peez
Fotoanalyse nach Verfahrensprinzipien der Objektiven Hermeneutik Die Interpretation einer Fotografie steht im Mittelpunkt dieses Beitrags, vorbereitet von methodischen und methodologischen Erörterungen hierzu. Diese Auswertung erfolgt nach Regeln der so genannten Objektiven Hermeneutik. Die Objektive Hermeneutik ist ein seit Beginn der 1970er-Jahre vom Soziologen Ulrich Oevermann entwickeltes Verfahren der qualitativen Empirie (Oevermann u.a. 1979). Bisherige vereinzelte Bild- bzw. Fotoanalysen der Objektiven Hermeneutik, die seit den 1990er-Jahren vorliegen, greifen nach einer eingehenden Bildanalyse auf zusätzliches verbalsprachliches Material zurück (Ackermann 1994; Haupert 1994; Loer 1994). D. h., die Analyse des visuellen Materials wird mit der Analyse verbalsprachlichen Materials verifiziert. In einem zweiten Schritt wird deshalb ein Ausschnitt einer teilnehmenden Beobachtung interpretiert, die in der Situation angefertigt wurde, in der das zuvor erschlossene Foto aufgenommen wurde. Bild- und Textanalyse sind demnach nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Interpretationswege zu verstehen. Im abschließenden Teil wird der Bitte der Herausgeber nachgekommen, ein Foto zu analysieren, dessen Kontext dem Autor unbekannt ist. Prolog: Methodologische und methodische Grundlagen der Objektiven Hermeneutik Vor ca. zehn Jahren wurde die Objektive Hermeneutik, eine qualitativ-empirische Forschungsmethode der sinnverstehenden Soziologie, „als derzeit reflektiertester und elaboriertester Ansatz innerhalb der deutschen qualitativen Sozialforschung“ (Ackermann 1994, 196) bezeichnet. Die Sequenzanalyse, als Kern der Objektiven Hermeneutik, ist „sogar das grundlegende methodologische und methodische Prinzip“ (Bohnsack 2003a, 95) für qualitative Forschung (Peez 22002, 224). Objektive Hermeneutik geht aus von der Regelgeleitetheit sozialen Handelns und der in dieser Regelgeleitetheit liegenden Sinnstrukturiertheit von sozialen Abläufen. Ziel ist es, diese das Handeln bestimmenden Regeln und ihre latenten Sinnstrukturen zu erfassen. Die zugegebenermaßen „befremd121
liche“ (Leber/Oevermann 1994, 384) Bezeichnung „objektiv“ führte immer wieder zu Missverständnissen und Objektivismusvorwürfen, weshalb Ulrich Oevermann „aus Konzilianz“ (Loer 1994, 341) gegenüber seinen Kritikern selbst vorübergehend von ‚Strukturaler‘ statt von ‚Objektiver‘ Hermeneutik sprach (Leber/Oevermann 1994, 383). Objektive Hermeneutik nimmt nicht für sich in Anspruch, objektive Ergebnisse zu rekurrieren (wie dies z. B. von Hubig 1985, 335 vermutet wird), sondern geht davon aus, die Bedeutungsgehalte und Sinnstrukturen menschlichen und sozialen Handelns ausfindig zu machen, „die sich unterderhand durchsetzen und dem Geschehen ihren Stempel aufdrücken“ (Aufenanger/Garz/Kraimer 1994, 227f.). Diese Bedeutungsgehalte und latenten Sinnstrukturen benennt das Verfahren als „objektiv“, da nur sie die Handlungsabläufe weiter beeinflussen. Sie haben Bestand. Sie sind keine subjektiven mentalen Konstruktionen einzelner Akteure. Die Objektive Hermeneutik gehört also nicht zu den „NachvollzugsHermeneutiken“ (Leber/Oevermann 1994, 383), im Sinne von: Was könnte diese Person gedacht oder gemeint haben? Es geht nicht um Verfahren der Perspektiven-Übernahmen, nicht vornehmlich um Fremdverstehen oder um Introspektion. Dies ist wichtig im erziehungswissen-schaftlichen Kontext zu betonen, denn die Pädagogik neigt ja zu dieser empathischen Vorgehensweise, welche von der pädagogischen Praxis leicht in die Theorie und wissenschaftliche Methodik transferiert wird. Extensive Sinnauslegung bedeutet im Idealfall: Eine Gruppe von Menschen (alle mit der Forschungsmethode vertraut und unter Beteiligung eines Protokollanten) versucht, gemeinsam in Form von Rede und Gegenrede alle erdenklichen Sinnstrukturen eines zu analysierenden Textes zu ermitteln. Zentrale Prämisse der Objektiven Hermeneutik ist, dass alle in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften relevanten Daten als Texte anzusehen sind, die Bedeutung bzw. Sinnstrukturen konstituieren. Dabei ist der Textbegriff nicht auf den sprachlichen Ausdruck beschränkt, erst recht nicht auf den schriftsprachlichen. „Vielmehr ist alles als Text anzusehen, was symbolische Bedeutung trägt.“ (Leber/Oevermann 1994, 384f.) So wie der Textbegriff ist auch der Begriff des Protokolls über unser Alltagsverständnis hinaus zu erweitern und kann Bilder jedweder Art mit einschließen. Denn die Kategorie des Protokolls meint sämtliche materialen Aspekte der Spur oder des Überrestes, die ein sinnstrukturierendes Ereignis hinterlässt. Methodologisch bedeutsam ist, dass wir sozialwissenschaftlich und empirisch stets nur von einer „durch Protokolle vermittelten Realität“ (Leber/Oevermann 1994, 385) ausgehen können. 122
Die sequenzanalytische Vorgehensweise, nach der in der Objektiven Hermeneutik interpretiert wird, hat man sich so vorzustellen: Ein Protokoll – beispielsweise ein transkribiertes Interview – wird Satz für Satz nacheinander analysiert. Die Analyse des ersten Satzes ist in der Regel am zeitaufwändigsten, denn die Analysierenden kennen noch nicht den gesamten Text, sondern eben nur den ersten Satz. Der Analyse liegt weitgehende Kontextfreiheit zugrunde (Wernet 2000, 21ff.). Dieser erste Satz bietet sehr viele, auch sehr unwahrscheinliche Interpretationsmöglichkeiten. Alle diese Lesarten müssen zur Geltung kommen können und probeweise an die folgenden Passagen angelegt werden. Satz für Satz lassen sich dann die „latenten Sinngehalte“ herausarbeiten, denn der jeweils zuletzt hinzugenommene Satz reduziert die Anzahl der zu Beginn gefundenen Sinnstrukturen immer weiter, bis im Idealfall Gehalte gefunden werden, die nur anhand des vorliegenden Protokolls sinnvoll sind (Wernet 2000). „Die extensive Fallinterpretation ist bis auf weiteres beendet, wenn die Sinnstruktur plausibel in einer Kernaussage zusammengefasst werden kann und der Fall zugleich in seiner Besonderheit wie als Ausdruck allgemeiner Strukturbedingungen verstanden ist. Die Auswertung qualitativer Daten zielt auf eine exemplarische Strukturanalyse ab: Die Exemplarik des Einzelfalls, nicht Repräsentativität ist ihr Ziel.“ (Kade 1994, 306) Die entscheidende Legitimation, in der Interpretation sequenzanalytisch vorzugehen, d. h. chronologisch wie es der Fall in seiner Abfolge vorgibt, liegt darin, dass man überhaupt nur auf diesem Wege die Sinnkonstitution nachvollziehen kann, denn Sinn konstituiert sich in der Regel auch prozessual (Leber/Oevermann 1994, 387). Genau hier liegt eine der größten Herausforderungen der Anwendung der Objektiven Hermeneutik auf Fotografien. Denn auf einem Foto bietet sich alles Abgebildete dem Betrachter simultan (Cartier-Bresson 1952, 80; Kemp 1999, 25ff) – und eben nicht sequenziell. Theodor W. Adorno formulierte dieses Merkmal von Bildern folgendermaßen: „Im Bild ist alles gleichzeitig.“ (Adorno 1965, 35)
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Zur Übertragung objektiv-hermeneutischer Verfahren auf die Fotoanalyse Die geschilderten Prinzipien der Objektiven Hermeneutik werden im Folgenden auf die Analyse einer Fotografie angewendet. Die zentrale Herausforderung hierfür ist die Sequenzialität – wie oben dargestellt. Die Fotografie fixiert nicht nur einen bestimmten Augenblick, sondern sie bietet all dessen Aspekte simultan. Über ein Foto zu schreiben, erfordert hingegen die Berücksichtigung der Zeit. Die wahrgenommenen Aspekte müssen nacheinander zu Papier gebracht werden (Peez 2004). Dies soll über die formale Eigendynamik gelingen, die die zu analysierende Fotografie bietet, über die Gewichtung ihrer Bildgegenstände, über Zentren, Schwerpunkte, dominante Linien wie Diagonale, Senkrechte oder Waagerechte, aber auch mittels Kontrasten, der Formen, Farben, Richtungen oder Hell- und Dunkelverteilungen. Diese formalen Elemente beeinflussen zunächst die Blickführung eines Betrachters, gekoppelt mit dem fast gleichzeitigen Erkennen der gegenständlichen Komponenten des Fotos. Von Kompositionselementen im engeren Sinne Bohnsacks (Bohnsack 2003b) ist hier schwerlich zu sprechen, denn es handelt sich um kein komponiertes Bild, sondern um eine Momentaufnahme, die eher dem Schnappschuss als einer bewusst gestalteten Fotografie zuzurechnen ist (s. Exkurs weiter unten). Auf diesen „ikonischen Pfaden“ (Loer 1994, 348f.; Ackermann 1994, 203f.), die demnach formal vorgegeben sind und auf denen das Auge ‚wandert‘, die zum Teil zu „ikonischen Zentren“ (Ackermann 1994, 204) hinführen, ergeben sich erste Deutungen, die sich Stück für Stück im Schreiben zu Interpretationen verdichten. Die Beschreibung tritt zum Ende in den Hintergrund; lediglich Einzelheiten, die der Wahrnehmung bisher entgingen, fließen in die Analyse weiter ein. Da ein Foto über mehrere Blickrichtungen zu erschließen ist, wird nicht von einem einzig richtigen Bildpfad ausgegangen. In der Analyse wurden zwar unterschiedliche Bildpfade ‚betreten‘; in der hier vorliegenden verschriftlichten Ergebnis-Form können diese aber nicht alle dokumentiert werden. Es wurde deshalb die Darstellungsweise der selektiven Plausibilisierung gewählt (Flick u. a. 21995, S. 169). Wichtig ist, dass die Fotografie für die objektiv-hermeneutische Interpretation Schritt für Schritt, also sequenziell erschlossen wird, und dass sich diese Sequenzialität an Blickbewegungen orientiert, die durch Form und Inhalt des Fotos geleitet werden (Peez 2004).
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Abbildung 1
Analyse der Fotografie (Abbildung 1) Der Blick führt von links auf einer durch Tischkanten gebildeten Diagonalen ins querformatige Foto hinein zur Bildmitte – hinweg über eine im Vordergrund an einem Tisch gebeugt sitzende Person. In der Bildmitte befindet sich eine Gruppe junger Menschen, vielfach mit dunkler Kleidung, die sich vom hellen Hintergrund abhebt; rechts ein langes, leeres Regal vor weißer Wand und links eine helle Fensterfront. Auf diesem ikonischen Zentrum der Fotografie verweilt das Auge. Unter den dunklen, fast schwarz gekleideten Personen wird der Blick auf ein leuchtend gelb-orangenes Hemd – vielleicht ein Sweatshirt – geleitet. Daneben ist noch ein heller Pullover einer weiteren Person zu erkennen. Die Träger dieser Kleidungsstücke sind vorgebeugt und beide von hinten zu sehen. Ihre Köpfe kann man nicht erkennen. Eingerahmt wird dieser helle, farbige Fleck in der Gruppe nach links hin von einer Person, einem Jugendlichen, der sich gerade mit seinem Oberkörper dreht und etwas in der Hand hält, eine offenbar schwarze Flasche. Die Personengruppe steht um einen Tisch. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, um wie viele Personen es sich handelt, so eng sind sie beieinander. Dieses ikoni125
sche Zentrum wird nach links hinten gesäumt von zwei weiteren dunkel gekleideten Personen, die als Zweiergruppe eng zusammen stehen, aber offenbar an einem anderen Tisch als die zentrale Gruppe. Am rechten Rand des Tisches der zentralen Gruppe steht eine ebenfalls dunkel gekleidete Person, ein Jugendlicher. Er hat sich nach vorne mit dem Kopf tief über den Tisch gebeugt. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen, obwohl sein Körper dem Betrachter zugewandt ist. Er stützt sich mit seinem linken Arm auf dem Tisch ab, mit dem rechten Arm scheint er etwas mit einem Werkzeug oder Gerät auf der teils dunklen Tischplatte zu bearbeiten. Bei genauerem Hinschauen sieht man, wie er eine kleine Walze hält, mit der er schwarze Farbe auf der Tischplatte zu verteilen scheint. Links von dieser vorgebeugt stehenden Person, die den rechten Abschluss der Gruppe bildet, gleitet der Blick auf einen ebenfalls dunkel gekleideten aufrecht stehenden Jugendlichen; zum Teil ist er von einer vor ihm stehenden weiteren Person verdeckt. Dadurch, dass er aufrecht steht, überragt er die Gruppe. Sein Gesicht ist zu erkennen, obwohl auch er es nach unten neigt: ein Jugendlicher mit einer auffallenden Frisur. An der Seite des Kopfes sind seine Haare kurz gehalten, aber die Haarspitzen auf dem Kopf stehen, wie mit Haar-Gel fixiert, nach oben und teils seitlich ab. Auf seiner freien hohen Stirn sind kleine (Akne-)Flekken zu erkennen. Durch weiteres Hinschauen lassen sich die einzelnen dieser eng aneinander stehenden Personen differenzieren: An diesem Tisch bzw. dieser Tischgruppe befinden sich mindestens sieben Jugendliche. Drei von ihnen stehen mit dem Rücken zum Betrachter. Vier sind vornüber gebeugt, in eine involvierende Tätigkeit auf der Tischplatte vertieft, wozu sie Farbwalzen benötigen. Drei stehen aufrecht. Ein Jugendlicher befindet sich – wie kurz beschrieben – in einer drehenden Körperbewegung: In seiner rechten Hand hält er eine schwarze Flasche, in seiner linken einen kaum erkennbaren Gegenstand, ebenfalls eine kleine, schwarze Walze. Der stehende Jugendliche mit der auffälligen Frisur hat seinen Kopf nur wenig gebeugt, er schaut auf den Tisch und scheint zu sprechen. Er blickt in Richtung der ihm gegenüber stehenden Person, wahrscheinlich einer jungen Frau mit Pferdeschwanz-Frisur. Sie trägt völlig dunkle bzw. schwarze, eng anliegende Kleidung, weshalb sie wohl zuvor den Betrachterblick auch nicht auf sich zog; bis auf ihre weißrot leuchtenden Sportschuhe. Sie steht fast aufrecht und sie hält bzw. drückt ebenfalls eine schwarze Walze auf die Tischplatte. Ihre Hand hat eine ähnliche Haltung wie die des rechts stehenden, ihr mit dem Körper zugewandten Jugendlichen. Was die anderen über den Tisch gebeugten Personen tun, insbesondere die beiden mit hellen Oberteilen Bekleideten, lässt sich nicht erkennen, da sie sich mit dem Rücken zur Kamera befinden. Insbesondere der 126
Junge mit dem gelb-orangenen Oberteil und verwaschenen Jeans beugt sich sehr tief über den Tisch. An ihm – und noch an zwei weiteren Personen diese Gruppe – lassen sich auffällig gestaltete Sportschuhe erkennen. Ein ähnliches Muster wie auf diesen Sportschuhen befindet sich auf der Jacke des ganz rechts Stehenden. Signifikant ist, wie eng die meisten dieser Jugendlichen beieinander stehen, zum Teil scheinen sich ihre Oberkörper fast zu berühren. Durch die unterschiedlichen Körperhaltungen und -bewegungen wirkt die Gruppe dynamisch. Und zugleich ist sie durch die körperliche Nähe in sich weitgehend geschlossen; ‚weitgehend‘ insofern als nach links eine Öffnung durch die drehende Bewegung des stehenden jungen Mannes vorhanden ist und nach rechts hin eine bereits beschriebene Person mit ein wenig größerem Abstand, aber immer noch am gleichen Tisch, steht. Der Blick richtet sich nun nach links von dieser zentralen, großen Gruppe weg. Hier stehen – wie bereits kurz wahrgenommen – zwei weitere Jugendliche an einem Tisch in der Nähe der Fensterfront. Sie befinden sich vom Betrachter bzw. dem Fotografen aus gesehen am weitesten entfernt. Eventuell dreht sich der Jugendliche mit der schwarzen Flasche aus der großen Gruppe zu ihnen hin oder von ihnen weg. Diese beiden Personen, die ebenfalls weitgehend dunkel gekleidet sind, haben die gleichen Körperhaltungen wie die Jugendlichen der großen Gruppe. Ein Mädchen mit Pferdeschwanz-Frisur steht so fast aufrecht am Tisch, wie das bereits genauer betrachtete Mädchen im Vordergrund mit Pferdeschwanz-Frisur. Sie geht einer ähnlichen Bewegung über der Tischplatte nach, doch führt sie eine offenbar zeichnende bzw. kratzende Tätigkeit aus. Die zweite, hinter ihr stehende Person wird von ihr teilweise verdeckt. Diese hat sich, den Rücken gekrümmt, tief über den Tisch vorgebeugt. Von ihr sieht man nur noch die rechte Hand, mit der sie ebenfalls zu zeichnen oder zu kratzen scheint. Auch diese beiden stehen ganz eng bei einander. – Es verwundert, dass alle stehen und nicht auf Stühlen sitzen, obwohl sie einer Tätigkeit mit einer kleinen Walze nachgehen oder zeichnen bzw. kratzen und sich hierfür mit dem Kopf über den Tisch beugen müssen. Nun wendet sich der Blick vom Hintergrund leicht diagonal auf die sitzende Person ganz links unten im Vordergrund. Der ikonische Pfad führte zu Beginn über sie hinweg diagonal zum Bildzentrum. Sie hebt sich optisch mit ihrem weißen T-Shirt kaum von der weißen Tischplatte ab. Dieser Junge mit Kurzhaarschnitt und einigen Pickeln auf der Wange, der seitlich von hinten zu sehen ist, befindet sich in mehrfacher Weise am Rande des Geschehens. Er ist von der Gruppe der Jugendlichen seitlich abgewandt. Er sitzt im 127
Gegensatz zu allen anderen Abgebildeten auf einem Stuhl und an einem eigenen Tisch alleine im Vordergrund. Zwar arbeitet auch er an einem Tisch, aber er ist in eine andere Tätigkeit als alle anderen Abgebildeten vertieft. Der Junge im Vordergrund hält einen rot-weißen Klebestift senkrecht auf ein weißes Blatt Papier. Dessen blaue Kappe befindet sich auf dem Tisch. Verschiedene Papierschnipsel liegen vor ihm auf dem Tisch und auf dem weißen Blatt, vielleicht das obere Blatt eines Zeichenblocks. Er klebt wohl Papierstücke auf, erstellt allem Anschein nach eine Collage. Von der Gruppe abgewandt ist er in übertragenem Sinne auch, weil er einen kleinen Kopfhörer in dem Ohr trägt, das dem Betrachter zugewandt ist. Ein Kabel hiervon führt zum vorderen Halsbereich, wird dann aber von der Schulter bzw. vom Rükken verdeckt. Es kann vermutet werden, dass er im anderen Ohr ebenfalls einen solchen „Stöpsel“ trägt und von einem tragbaren CD-Spieler („Discman“) Musik hört, so wie dies Jugendliche heute häufig tun. Nun gerät der Raum, die Umgebung in den Blick. Einiges deutet darauf hin, dass es sich um eine schulische Situation handelt. Da hier wohl bildnerische Techniken ausgeführt werden, könnte es Kunstunterricht sein. Viele Jugendliche befinden sich zusammen bei Tageslicht in einem Raum mit Tischen und Schul-Stühlen. Ein großes, weitgehend leeres Regal steht hinten an der Wand. Bei näherer Betrachtung sieht man, dass auf den unteren Regalböden flache, wohl schwarz gefärbte Papiere abgelegt sind. Links wird der Raum von einer breiten Fensterfront mit darunter befindlichen Heizungen begrenzt. Wenn also der Schluss nahe liegt, dass es sich um eine schulische Situation handelt, so lassen doch andere Aspekte des Fotos Zweifel aufkommen. Zumindest wurde hier keine schultypische Unterrichtssituation fotografiert. Die Tische sind nicht zu den in Klassenräumen für diese Altersgruppe häufig üblichen Tischreihen arrangiert, sondern in Tischgruppen gestellt. Das Geschehen ist nicht, wie beim Frontalunterricht, auf ein Lehrerpult hin zentriert. Eine Lehrperson befindet sich nicht auf dem Foto. Die Jugendlichen – bis auf den einen im Vordergrund – sitzen nicht auf Stühlen, sondern sie stehen, obwohl sich zumindest noch zwei leere Stühle sichtbar im Raum befinden. In der Schule tun sie dies in der Regel lediglich in der Pause, nicht während des Unterrichts. Das Foto scheint aber keine Pausensituation festzuhalten, hierfür wird zu intensiv an ein und derselben Sache gearbeitet. Körperliche Nähe ist durch das abgebildete Raum-Arrangement möglich und diese Möglichkeit wird genutzt. Sie entspricht offenbar entweder einem Bedürfnis der Jugendlichen oder sie ist der ausgeführten Tätigkeit geschuldet – oder beides trifft zu. 128
Nur der Junge im Vordergrund nimmt eine Körperhaltung ein, die schulischen Gepflogenheiten entspricht: Er sitzt ruhig auf einem Stuhl. Freilich hat er Kopfhörer im Ohr; dies kann wiederum als sehr untypisch, ja in der Regel unerwünscht, für schulischen Unterricht gelten. Seine Aufmerksamkeit ist ganz darauf konzentriert, eine Collage anzufertigen. Er schottet sich zweifach ab: Zum einen hört er seine eigene Musik, die Geräusche der anderen aus der Umgebung blendet er hierdurch weitgehend aus. Er sitzt nicht eng bei einem oder mehreren Mitschülern, sondern, soweit das Foto dies nach links und rechts hin erkennen lässt, alleine. Der Junge führt eine ruhige, u.a. an der Körperhaltung abzulesende, in sich vertiefte, ja man möchte fast sagen in sich versunkene, intrinsische Tätigkeit aus, zu der er im Moment der Aufnahme weder der Körperbewegung – bis auf das moderate Bewegen von Hand und Unterarm – noch der Kommunikation mit den anderen Jugendlichen bedarf. Bei der Gruppe im Hintergrund ist nicht zu erkennen, dass einer Musik über Kopfhörer hörte. Dies wäre auch nicht sinnvoll, denn die Nähe, das Miteinander, die Kommunikation mit Worten und Gesten scheint hier dominant zu sein. Die hier fotografierte Situation bietet zwei verschiedene Möglichkeiten der bildnerischen Betätigung: (1) im Vordergrund das Collagieren; der Tisch ist mit Materialien hierfür bestückt. (2) Im Hintergrund wird ein Druckverfahren angewandt, hierauf lassen mit etwas kulturellem Kontextwissen die kleinen Hand-Walzen sowie die schwarze Druckfarbe in der Flasche und auf den hinteren Tischen schließen. Diese zwei sehr unterschiedlichen bildnerischen Tätigkeiten bedingen sehr unterschiedliche Verhaltens- und Zugangsweisen, die sich als kontemplativ, konzentriert im Vordergrund und kommunikativ, dynamisch sowie körperbetont im Hintergrund charakterisieren lassen. Ferner sind drei verschiedene Sozialformen festzuhalten: (1) die Gruppe von ca. sieben Personen, (2) eine Paargruppe von zwei Personen und (3) ein Jugendlicher, der alleine arbeitet. Dies lässt auf einen binnendifferenzierten Kunstunterricht schließen. Unter Hinzunahme allgemeindidaktischen Kontextwissens lässt sich diese fotografierte Situation aufgrund der beobachteten und beschriebenen Merkmale als Offener Unterricht bezeichnen, und konkreter vielleicht als teils werkstattorientierter Unterricht (Druckwerkstatt) mit einzelnen Stationentischen. Zentrales Ergebnis ist, dass sich an den zumindest zwei hier abgebildeten Stationen zwei völlig unterschiedliche Atmosphären herausbilden, die offenbar beide ihre Berechtigung im Schulunterricht haben. Diese unterschiedlichen Atmosphären (s. o.) sind zum einen durch die jeweils angebotene bildnerische Technik bedingt, aber zum anderen si129
cher auch durch die individuellen oder gruppenbezogenen Dispositionen der jeweils beteiligten Jugendlichen. Sie können hier ihre verschiedenen Bedürfnisse (evtl. im Wechsel zwischen den Stationen) ausleben. (Anm. 1) Hinzunahme einer Protokollsequenz teilnehmender Beobachtung Nach der Interpretation der Fotografie werden Ausschnitte aus einem Protokoll zitiert, die sich auf die Situation des Fotos bezieht. Aus Platzgründen muss die Textanalyse zum Collagieren entfallen. Aufgrund gebotener Komprimierung können die Ergebnisse der ursprünglich wesentlich ausgiebigeren Sequenzanalyse nur kurz, ergebnisorientiert dargestellt werden. „Im Raum, in dem die Monotypien erstellt werden, ist es nun sehr voll und laut.“
Diesem ersten Satz zufolge stehen für den Unterricht mehr als ein Raum zur Verfügung. Sonst würde die Differenzierung „Raum, in dem die Monotypien erstellt werden,“ nicht sinnvoll erscheinen. Dieser Raum, dem die Beschreibung gilt, wird dadurch gekennzeichnet, dass in ihm Monotypien erstellt werden (Anm. 2). Dies lässt auf Binnendifferenzierung des Unterrichts bzw. das Stationenprinzip schließen. Für den Fall, dass es sich um Schulunterricht handelt – und hiervon ist nach der Fotoanalyse auszugehen – kann „sehr voll“ als ein Merkmal von Schulräumen während des Unterrichts gelten; „sehr laut“ jedoch in aller Regel seltener. Das Wort „nun“ deutet darauf hin, dass es nicht immer so laut und voll war. „Einige haben richtig Spaß an diesem Verfahren. Sie genießen die etwas schmierige Konsistenz der Farbe beim Verteilen mit Spachtel und Walze.“
Die Situation, in der die Monotypien entstehen, wird im Einzelnen nicht geschildert. Dem Protokoll ist beispielsweise vorerst nicht zu entnehmen, wie viele Schülerinnen und Schüler sich im Raum befinden, oder dass sich das Erstellen der Monotypien an Tischen abspielt. Diese Situation ist jedoch soweit durch das Foto und dessen Analyse sowie durch vorangehende Protokollsequenzen geklärt. Diejenigen, die sich auf die Monotypie einlassen („haben richtig Spaß an diesem Verfahren“), haben offenbar emotional positiv getönte, intensive sensitiv-haptische Erfahrungen mit der Druckfarbe, die durch die „etwas schmierige Konsistenz der Farbe“ verursacht sind. Die Worte „Spaß“ (mit dem Wort „richtig“ bekräftigt) und „genießen“ deuten auf die Lustbetonung des Tuns hin. Zudem wird klar, dass die Werkzeuge „Spachtel und Walze“ sachgemäß eingesetzt sind, und zwar zum Verteilen der Farbe auf der Glasplatte. Im 130
Gegensatz zum traditionellen Kunstunterricht, der eher in die Handhabung von Zeichen- und Malmaterialien einführt, die feinmotorische Handlungen fördern, findet hier ein Umgang mit Werkzeugen statt, die Grobmotorik erfordern. Gestisches, grobmotorisches Arbeiten gelingt in der Regel besser, wenn man sich hinstellt, statt sitzt, da man dann mit dem Körper, zumindest dem ganzen Arm bis zur Schulter beweglich ist. „Ein paar machen sich hierbei auch ohne Scheu die Hände schmutzig.“
Diese eher gestische Tätigkeit und die unmittelbare Erfahrbarkeit des Materials Druckfarbe mit seiner ihm eigenen Qualität und besonderen Konsistenz, verleiten einige der Jugendlichen dazu, die Hände – des Menschen unmittelbarstes Werkzeug – mit dem Material in Berührung zu bringen und zu nutzen. Das vielleicht noch vorsichtige oder zufällige Beschmutzen der Hände führt bei einem Schüler zum direkten und bewussten Einsatz der Hand: „Tobias drückt etwa seine ganze Hand in die Farbfläche auf der Glasplatte, so dass seine Hand schwarz wird. Er hält sie stolz hoch und versucht im Scherz, anderen hiermit auf die Schulter zu klopfen.“
Materialerfahrungen und scherzhafte sozial-kommunikative Kontaktaufnahme vermischen sich in dieser Szene. Dass eine solche Situation nicht leise, sondern mit Ausrufen und Gesprächen verbunden ist, liegt in der Natur der Sache. Warum es, wie im ersten Satz beschrieben, „laut“ ist, wird nun noch nachvollziehbarer. Gerade die auf dem Foto beobachtete Enge muss zudem zwangsläufig hierzu führen. Teile des Körpers kommen zum Einsatz. „Danach nimmt er ein Papier, walzt es ab und hat seinen Handabdruck, den er entsprechend stolz herumzeigt. „Tobias, lass dich inspirieren“, ruft ein Mitschüler.“
Die Hand wird hier von Tobias nicht nur als direktes Werkzeug zur Materialerkundung genutzt, sondern auch als Gestaltungsanlass entdeckt. Diese Entdeckung und zugleich Gestaltung scheinen nun nicht mehr reiner Scherz zu sein. Tobias möchte seinen Handabdruck auf einem Papier dauerhaft festhalten. Er macht einen Abzug – im wörtlichen Sinne einen ‚Handabzug‘ – und hat im gleichen Moment ein neues Sujet, ein neues Motiv entdeckt und geschaffen. Auf seine Idee und auf das Blatt des Handabdrucks ist er „entsprechend stolz“. Aus einem Spaß, einer unmittelbaren Geste wird Gestaltung, die in gewisser Weise neu für Tobias und die anderen ist. Er präsentiert den Abzug seinen Mitschülern, er schenkt diesem Ergebnis also Beachtung und will 131
hierfür Beachtung der anderen erhalten. Diese bekommt er durch den Ausruf des Mitschülers: „Tobias, lass dich inspirieren.“ Ein Fach- oder Fremdwort wird in dieser Situation vom Mitschüler benutzt. In ihm steckt – wenn auch leicht scherzhaft, der Situation angemessen – eine gewisse Anerkennung, insbesondere im Sinne des Kunstunterrichts. Denn „Inspiration“ ist ein Begriff, der seine Berechtigung durchaus im Künstlerischen hat. Er klingt in der beobachteten Situation etwas ‚fremd‘, weil er zunächst auf die jugendlich-spaßig geprägte Situation wenig zu passen scheint. Doch haben genau hier im Detail einerseits die Absicht von Kunstunterricht und andererseits intrinsisch motiviertes Verhalten des Jugendlichen zusammengefunden. Die Verbindung zwischen beiden „Welten“ wurde – gefördert durch die Experimentierfreude – geschaffen; durch das gebotene besondere Material und die dynamische Geste. Die Experimentierfreude verbindet ‚Jugend‘ und ‚Kunst‘ in diesem Moment. „Mir fällt auf, dass sich die Jungs, die offenbar sportlich sind, Fußball spielen, und zum Teil ein entsprechendes Outfit von lokalen Sportvereinen tragen, stark mit dem Körper beteiligen. Sie sind laut, rufen, sie hinterlassen gestische Spuren in der Farbe, etwa mit der Zahnbürste, dem Spachtel oder der Walze. Sie tänzeln hierbei oft an der Tischkante und bleiben nicht an einer Stelle stehen.“
Aspekte, die in der Fotoanalyse bereits ersichtlich wurden, finden hier – teils nochmals deutlicher – ihren Niederschlag. Hervorzuheben ist, dass sich am Tisch der Monotypie eine Gruppe von vorwiegend männlichen Jugendlichen („Jungs“) mit ihren spezifischen Kompetenzen einbringen kann, die dies sonst in der Schule und auch im Kunstunterricht nur bedingt können. Es handelt sich um „sportliche“ „Jungs“, die sich u.a. dadurch auszeichnen, dass sie körperliche Aktivität dem Ruhigsitzen vorziehen. Ihrem Bewegungsdrang wird in der protokollierten Situation Raum gegeben („Sie tänzeln hierbei oft an der Tischkante und bleiben nicht an einer Stelle stehen“), er schlägt sich dann in den Gestaltungen nieder („hinterlassen gestische Spuren in der Farbe, etwa mit der Zahnbürste oder dem Spachtel“). Gerade diese Gruppe wird nicht nur in der Schule allgemein, sondern auch im traditionellen Kunstunterricht wenig angesprochen und mit ihren Bedürfnissen ernst genommen, in einem Kunstunterricht, in dem Ordnung und Sauberkeit als Tugenden noch weithin gepflegt werden. „Auch gehen sie experimenteller und schneller vor als die vier Mädchen aus der ersten Phase. Ihre Ergebnisse, die Monotypien, achten sie zugleich weniger. Vie-
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le ihrer bedruckten Blätter landen unmittelbar im Mülleimer, wohingegen die Mädchengruppe zuvor fast alle Ergebnisse zum Trocknen auslegte.“
Prozesse, zumal experimentelle, sind flüchtig, aber sie sind selbstverständlich letztlich für kreative Gestaltung zentral; nur so kann subjektiv Neues entstehen. Eine Kreativitätsförderung ist ohne solche Elemente eigentlich nicht denkbar. Mithilfe von Foto- und Textanalyse lassen sich diese Prozesse rekonstruieren. Zugleich bietet der beobachtete und mit Fotos teils dokumentierte Unterricht die Möglichkeit für andere Schülerinnen und Schüler, sich nicht in der Atmosphäre dieser lauten und eng beieinander stehenden Gruppe aufzuhalten. Das Foto belegt dies. Andere kreative Atmosphären können sich entwickeln. Die zwei Personen im Hintergrund erstellen ebenfalls Monotypien, aber etwas abseits der großen Gruppe. Und in einer völlig anderen, kontemplativen, in sich zurückgezogenen Atmosphäre befindet sich der im Vordergrund sitzende Schüler. Er erstellt offenbar in Ruhe eine diffizile Collage aus kleinen Papierschnipeln.
Abbildung 2
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Interpretationsansätze zu Abbildung 2 Ein Kennzeichen und Verfahrensprinzip der Objektiven Hermeneutik ist die oben bereits angesprochene weitgehende Kontextfreiheit. Sie fördert ein möglichst vorurteilsfreies Analysieren. Durch sie können auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinende Interpretationsansätze generiert werden, die zu tiefer liegenden latenten Sinnstrukturen führen. Freilich müssten solche Ansätze eigentlich mit Interpretationen von parallel erstelltem verbalsprachlichem Material in Beziehung gesetzt werden. Zweiter, die folgende Analyse beeinträchtigender Punkt ist, dass eine Fragestellung, ein Forschungsschwerpunkt fehlt. Aus nächster Nähe aufgenommen, schauen zwei Personen den Betrachter direkt an, sie schauen in die Kamera. Beide sind Jugendliche und dominieren die linke Hälfte des querformatigen Fotos. Die linke Person sitzt vor der rechten. Die visuell abtastenden Wahrnehmungsbewegungen des Betrachters werden von den Blicken der beiden Personen zunächst festgehalten, sie ‚pendeln‘ zwischen diesen. Es handelt sich um zwei Jugendliche im Alter von etwa 12 bis 14 Jahren. Vor allem verharrt der Betrachter zunächst beim Gesicht der zur Bildmitte hin sitzenden Person, einem Jungen. Er lächelt mit geschlossenen Lippen in die Kamera und trägt eine baseballkappen-ähnliche weiße Kopfbedeckung, mit dem Schild zu seiner rechten Gesichtshälfte gedreht, die rechte Augenbraue teilweise verdeckend. Über dem breiten weißen Band, welches das Schild um die Stirn und den Hinterkopf hält, sind die recht kurz geschnittenen dunklen Haare des Jungen zu sehen. Von hier gleitet der Blick über die Hand dieses Jungen, dessen Unterarm auf der Schulter der zweiten, vor ihm sitzenden Person abgestützt liegt, zum Gesicht der zweiten Person. Auch sie schaut direkt, ja fast offensiv, in die Kamera. Nur ein sehr leichtes Lächeln umspielt ihren Mund. Ihr Blick hingegen scheint ernst, fast kritisch. Es ist das Gesicht eines Mädchens mit schmalem Mund, kräftiger Nase und dunklen Augenbrauen. Ihre Haare sind verdeckt. Beide Jugendliche haben tief braune Augen. Mit ihren geschlossenen Mündern sehen sie sich auf den ersten Blick ähnlich. Die rechte Hälfte des Fotos wird von einer weiß karierten grünlichen Schul-Wandtafel eingenommen, vor der ein Schul-Stuhl steht, erkennbar an seinen nur zwei hinteren Stuhlbeinen, wodurch diese Stühle leicht stapelbar sind. Auf dem Stuhl scheinen einige Dinge zu liegen, die jedoch zunächst nicht erfasst werden, da der Betrachter wieder von den ikonischen Zentren, den Blicken der zwei Personen eingenommen wird.
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Der Junge sitzt entspannt offenbar auf einem gleichen Schul-Stuhl. Obwohl der direkt in die Kamera schaut, ist sein Körper teilweise abgeschirmt oder verdeckt; zunächst vom Schirm bzw. Schild seiner Kopfbedeckung. Da seine Funktion im Bildkontext nicht auszumachen ist, handelt es sich wohl um ein modisches Accessoire, zumal das Schutzschild ‚cool‘ zur Seite gedreht ist. Die rechte Seite des Oberkörpers des Jungen wird von dem linken Arm und der linken Schulter des vor ihm sitzenden Mädchens verdeckt. Außerdem verdeckt er mit seiner lässig über der linken Schulter des Mädchens liegenden Hand zusätzlich einen Teil der eigenen rechten Schulter. Seinen Oberköper hat er aus dem Bildhintergrund heraus nach vorne zur Kamera hin gebeugt. Sein rechtes Bein schlägt er auf das Knie seines linken Beines. Sein linker Arm hängt locker, abgestützt über dem rechten Unterschenkel herab. Die dunklen Haare dieses Jungen bilden einen Kontrast zur weißen Kopfbedeckung mit Schutzschirm und korrespondieren mit dem ungemusterten, einfarbigen dunklen kurzärmeligen Hemd des Jungen, dessen oberster Kragenkopf geöffnet ist. Über seinen linken Oberschenkel hängt ein helles Band herab, das aber zum größten Teil von seinem rechten Bein verdeckt ist. Nur die Großbuchstabenfolge „FREE“ oder „EREE“ lässt sich erkennen. Es ist wohl Teil eines Schlüsselbandes, an dem Kinder und Jugendliche dieses Alters ihre Haustürschlüssel tragen, meist so genannte Schlüsselkinder. Ferner trägt der Junge dunkle sportliche Halb- oder Wanderschuhen. Der Bereich über seiner Oberlippe ist umspielt von einem leichten dunklen Flaum, dem Beginn des Bartwuchses, der bei vielen dunkelhaarigen Jungen im Alter von etwa 12 bis 13 Jahren einsetzt und ein Zeichen der bereits begonnenen Pubertät ist. Das im Vordergrund sitzende Mädchen ist nur im Bereich des Oberkörpers ein wenig von einer Tischkante verdeckt. Es sitzt etwas seitlich nach (von ihr aus gesehen) links gedreht an der linken Bildkante. Sowohl ihr Kopf als auch ihre rechte Schulter mit Arm und ihre Oberschenkel werden von den Bildrändern links angeschnitten. Wie bereits beim Outfit des Jungen handelt es sich auch bei ihrer Kleidung um Alltagskleidung Jugendlicher heute. Sie trägt eine enge ausgewaschene Bluejeans, hierzu eine recht enge BluejeansJacke mit Metallnieten an den Brusttaschen und Metallnieten-Knöpfen, darunter einen hellen, langärmeligen, gerippten Rollkragenpullover. Ihre Haare sind sämtlich bedeckt von einem hellen Kopftuch mit dezentem Tulpenmuster. Die Zipfel ihres Kopftuchs sind am Hinterkopf offenbar verknotet, so dass sie rechts und links über der Schulter von vorne noch zu sehen sind. Hier handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um ein modisches Accessoire, sondern um die religiös motivierte Kopfbedeckung einer jungen 135
islamischen Frau. Die Möglichkeit, dass dieses Kopftuch eine Verkleidung, etwa innerhalb einer szenischen Darstellung ist, ist eher auszuschließen, angesichts der sehr alltäglichen und entspannten Körperhaltung der beiden. Nichts deutet auf ein Theaterstück hin. Beide Brusttaschen ihrer Jeansjacke sind nicht zugeknöpft. Ihre linke Brusttasche ist ausgebeult und leicht geöffnet, hierin scheint etwas zu stecken, vielleicht zwei bis drei Kugelschreiber oder Stifte. Die Finger der Hand des Jungen, die über ihrer Schulter liegt, sind nahe an dieser geöffneten Brusttasche. Sein Ringfinger könnte die Tasche fast ein wenig geöffnet halten. Vertrautheit und dezente körperliche Nähe zwischen Mädchen und Junge dokumentieren sich im Foto. Kann sich der Junge hinter dem Mädchen teilweise verbergen und hierdurch vorgebeugt vielleicht umso direkter und entspannter in die Kamera schauen, so bietet sich ihr diese Möglichkeit nicht bzw. sie nutzt diese Möglichkeit nicht. Sie hat beispielsweise nicht die Beine übereinander geschlagen, so dass der Betrachter des Fotos in ihren Schritt schauen kann. Ihre Hände liegen – unterhalb des Fotos – offenbar bei- oder übereinander auf ihren Oberschenkeln. Nicht nur ihr Blick wirkt offensiv, ja teils kritisch, auch ihre Körperhaltung verrät wenig Scheu vor der Kamera. Ihr Gesicht ist ungeschminkt und streng. Sie trägt keine Ohrringe. Sie erwidert den Blick der Kamera selbstbewusst, sich nicht versteckend und zugleich leicht kritisch. Nach der Kleidung des Jungen zu urteilen, könnte dieses InnenraumFoto im Sommer entstanden sein, denn er trägt einen Sonnenschutz und ein leichtes, kurzärmeliges Hemd. Nach der Kleidung des Mädchens zu urteilen, wurde das Foto eher in einer kühlen Jahreszeit aufgenommen, denn sie trägt einen hoch geschlossenen Rollkragenpullover und hierüber eine Jacke. Die weitgehende Verhüllung des Körpers des Mädchens steht nicht nur im Gegensatz zur Kleidung des Jungen. Sondern sie steht auch in Kontrast zu der sehr direkten, offenen, unverdeckten Körperhaltung des Mädchens sowie zu der direkten Berührung durch den hinter ihr sitzenden wohl etwa gleichaltrigen Jungen. Sie lässt ihn mit seiner Berührung gewähren, die er sicher auch zum Anlass des Fotos initiiert. Diese Aspekte deuten auf eine mögliche latente Sinnstruktur zum geschlechtsspezifischen Verhalten beider Jugendlicher hin. Mehrere Diskrepanzen zwischen Körperhaltung, Kleidung und Gesten lassen sich rekonstruieren (verhüllter Körper und offene Sitzposition des Mädchens; Berührung des Mädchens durch den Jungen). Die Kamera, mit der diese Aufnahme gemacht wurde, befindet sich noch leicht unterhalb der Augenhöhe der zwei Jugendlichen, als ob direkt vor ihnen eine weitere Person auch auf einem Stuhl saß und dieses Foto „aus der Hüfte schoss“, als ob diese Person eine Digitalkamera leicht vor sich hielt 136
und abdrückte und der Kamerablitz zugleich den Raum erhellte. Die fotografierende Person scheint also zum Kreis der Fotografierten zu gehören. Von der Qualität der Aufnahme her zu urteilen, handelt es sich nicht um ein Foto, das etwa mit einem Fotohandy gemacht wurde, doch die Situation wirkt ähnlich einem solchen Schnappschuss unter Jugendlichen. Der Blick richtet sich nun auf diverse Utensilien im Hintergrund und auf der rechten Bildseite. Zuerst ist die bereits erwähnte Schul-Wandtafel mit Kästchenmuster zu nennen. Eine Schultafel wird vorwiegend für Frontalunterricht genutzt. Dieser findet in der fotografierten Situation jedoch nicht statt, denn die Tafel ist erstens zugeklappt, sie ist zweitens ganz nach unten Richtung Fußboden gefahren und sie ist drittens sauber abgewischt. Lediglich geringe Wischspuren von Tafelkreideresten lassen sich erkennen, was darauf hindeutet, dass sie in anderen Kontexten durchaus verwendet wird. An der weißen, sauberen Wand hinter den zwei Personen hängen ordentlich gereiht ein großes Geo-Dreieck für Tafel-Zeichnungen sowie darüber ein hierzu gehöriges Lineal und rechts davon ein ebenso großer Tafel-Zirkel. Sowohl die entspannt-lockere Sitzhaltung der zwei Jugendlichen – in diesem Alter und in diesem Ambiente sind sie stets auch Schülerin und Schüler – sowie das Arrangement der Stühle lassen darauf schließen, dass es sich hier nicht um konventionellen Schulunterricht handelt. Die Stühle, die man sieht, bzw. die sich erahnen lassen, sind eher zu einem kleinen halben Sitzkreis – vielleicht für eine Gruppenarbeit – arrangiert. Ein Tisch steht nur am linken Bildrand, hierauf sieht man noch die Ecke eines weißen Blattes Papier. Dieses Blatt Papier sowie die Gegenstände auf dem frei stehenden Schul-Stuhl neben dem Jungen deuten auf die Handlung hin, in der die beiden Personen möglicherweise für das Anfertigen dieses Fotos unterbrochen wurden. Doch was befindet sich im abseits liegenden, weiteren ikonischen Zentrum, auf dem Stuhl? Es sind hellgraue Kieselsteine, alle etwa in der Größe eines halben Handtellers (ca. 5 bis 8 cm). Jeder Stein ist mit jeweils einer anderen Farbe zum Teil bemalt, mit Rot, Blau, Türkis oder Braun. Angesichts der Tatsache, dass ein heller Stein ein klar zu erkennendes großes rotes „A“ als Bemalung trägt, lassen sich auf den anderen Steinen auch Buchstaben vermuten, wie etwa auf einem roten Stein ein dunkelblaues „H“ und auf einem blau bemalten Stein ein „O“ oder „C“. Direkt vor diesem Stuhl mit den Steinen sind am rechten und unteren Bildrand der Teil eines Oberarms und eine linke Hand einer weiteren dritten Person zu sehen. Die Hand scheint über ein angewinkeltes Bein gelegt. Die fotografierten beiden Jugendlichen sitzen also mindestens zu viert in der Runde, incl. der fotografierenden Person. 137
Welche Funktion die auf dem Stuhl liegenden Steine haben, lässt sich aus den Handlungen der Fotografierten nicht ablesen. Sie nutzen die Steine zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht. Vielleicht dienten sie einem Buchstabenoder Namensspiel. Doch die vertraute Geste der Jugendlichen lässt ein Namens- bzw. Kennenlernspiel eher unwahrscheinlich erscheinen. Um ein Buchstabenspiel kann es sich nur dann handeln, wenn die Abgebildeten der Schrift oder Sprache nicht mächtig wären, die sie zu erlernen haben. Freilich wirkt das Material, wenn es denn didaktisches Material ist, wie Material für die Grundschule – eine Klassen- und Altersstufe über die die Abgebildeten bereits hinaus gewachsen sind. Der Stuhl mit den Kieselsteinen ist aus dem Stuhlkreis etwas heraus und zur Seite geschoben. Kurzes Resümee zur Methodik Bild und Wort können als zwei zueinander unübersetzbare Modi gelten. Sie sind medial grundlegend different. Und dennoch: Der Grundtenor, der sich in den beschreibenden und deutenden Abtastbewegungen über die erste Fotografie zeigte, bestätigte sich in der Auswertung der zugehörigen Sequenz der teilnehmenden Beobachtung. Das Protokoll der teilnehmenden Beobachtung eröffnet vor allem einen Zugang zu zeitlichen Abfolgen, wie Handlungen und Prozessen. Hier können etwa Geräusche, sprachliche Äußerungen und Dialoge dokumentiert und somit auch ausgewertet werden. Das Foto bietet keine auditiven und keine zeitlichen Aspekte. Hingegen bietet es in seiner eigenen visuellen Spezifik formale Elemente, die nicht nur Atmosphärisches einfangen, sondern durchaus auch zu konkreten inhaltlichen Auslegungen führen; etwa an beiden Foto-Beispielen die Gliederung des Raumes und damit seine didaktisch beabsichtigte Binnendifferenzierung. Ferner offenbart die Fotografie in zeitökonomischer Weise Aspekte des Raum-Settings insgesamt sowie gleichzeitig sehr viele Details auf einmal. Mit dieser Herausforderung wurde in der vorliegenden Studie sequenzanalytisch, orientiert an der Objektiven Hermeneutik umgegangen. D. h. entlang der Blickrichtungen, die von der Fotografie zunächst vor allem durch ihre formalen, später vermehrt durch ihre inhaltlichen Elemente vorgegeben sind, bewegt sich das Auge des Betrachters auf verschiedenen Bild-Pfaden. Seine Aufmerksamkeit sucht nach Blickpunkten und ikonischen Zentren (Peez 2004). Auf diese Weise wird die Fotografie für die Interpretation sequenziell erschlossen.
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Anmerkungen 1. Entnommen wurden Abb. 1 sowie die zitierte Protokollsequenz aus der evaluativen empirischen Forschung zu einem von Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie dem Hessischen Kultusministerium geförderten Modellprojekt „Multisensueller Kunstunterricht unter Einbeziehung der Computertechnologie“ (2000-2003) im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“ (www.kubim.de). Weiteres unter www.muse-forschung.de. Der Typ des Fotos lässt sich am besten mit der Umschreibung „Schnappschuss in dokumentarischer Absicht“ charakterisieren. Er handelt sich um ein Foto aus einem Konvolut von 160 Fotos, die in zwei Unterrichtsdoppelstunden und an einem so genannten Projekt-Tag (6 Unterrichtsstunden) angefertigt wurden. Der Schwerpunkt des Fotografen wie auch des teilnehmenden Beobachters (in personaler Union des Forschers und Verfassers) richtete sich nach der bewusst offen gehaltenen Forschungsfrage: Wie wirkt sich werkstattorientierter Kunstunterricht über zwei Schulräume verteilt auf die Beteiligten sowie die sozialen und gestalterischen Prozesse aus? Die Auswahl des dieser Detail-Studie zugrunde liegenden Fotos erfolgte anhand des genannten Forschungsfokus’ und nach einer Analyse der Protokolle teilnehmender Beobachtung. Als Herausforderung versprach die Fotografie Aufschlüsse zum Forschungsfokus, da sich hierauf vordergründig keine lehr-lern-bezogene Unterrichtssituation präsentiert. 2. Monotypie (griech. Einmaldruck) bezeichnet ein Druckverfahren, bei dem nur jeweils ein Abzug möglich ist. Eine Zeichnung wird hierbei in auf einer Glasplatte ausgewalzte Druckfarbe eingeritzt bzw. aufgetragen. Ein Zahnstocher, mit dem beispielsweise gekratzt wird, verdrängt die schwarze Farbe an bestimmten Stellen auf der Glasplatte. Ein Blatt Papier wird aufgelegt und auf die noch feuchte Farbe mit einer sauberen Walze oder der Handinnenfläche gerieben. Zieht man das Blatt vorsichtig ab, so erhält man auf diese Weise eine weiße Zeichnung auf schwarzem Grund. Außer mit dem Zahnstocher können mit praktisch allen Materialien Spuren in der schwarzen Farbe hinterlassen werden.
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Ulrike Stutz
Beteiligte Blicke – Ästhetische Annäherungen in qualitativen empirischen Untersuchungen „In den Bildern sind wir nicht, gleich was es für Bilder sind. Aber wir stellen sie her und wenn wir sie machen, sind wir ihnen ähnlich. Ähnlicher als uns selbst, will uns scheinen. Vielleicht ist diese Ähnlichkeit eines Zustands Echo, der kein Zustand ist in der Zeit.“ Jochen Gerz in „Von der Kunst“
In der aktuellen empirischen Sozialforschung werden zunehmend Bilder als Erhebungsmaterial einbezogen. Hiermit werden die Zugänge zu Erkenntnissen erweitert und nicht nur diskursiv-sprachliche, sondern auch präsentativpiktorale Symbolisierungen (Langer 1965) einbezogen. Werden Bilder als Erhebungsmaterial verwandt, stellen sich Fragen, die sowohl die Erhebung als auch die Auswertung betreffen. In diesem Beitrag werden Überlegungen sowohl zum Prozess der Erhebung als auch der Auswertung von Bildmaterial angestellt. Dabei gehe ich von einer medientheoretischen und -historischen Betrachtung zum Kamerabild aus und stelle mit Bezug auf künstlerische Strategien das Kamerabild als Spur eines interaktiven Prozesses dar. Blickkonstruktionen werden somit als konstitutive Elemente von Interaktionen verstanden, was Folgen für die Erhebung von Bildmaterial hat. Mit Verweis auf Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik werden Bildanalyse-Verfahren vorgestellt, mit denen Verschränkungen von subjekt- und objektorientierten Annäherungen produktiv gemacht werden, was anhand von beispielhaften Analysen nachvollziehbar wird. Die vorgestellten Methoden entwickle ich nicht nur hinsichtlich meiner kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Bildern, sondern auch vor dem Hintergrund meines Umgangs mit Bildern als Kunstvermittlerin und Künstlerin. Diese verschiedenen Erfahrungen kann ich in der Untersuchung von Projekten der künstlerischen Bildungsarbeit produktiv machen (Stutz 2004a, 2004b, 2004c).
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Blick als Inbesitznahme – Der Kamerablick als Mittel der Objektivierung Bilder, die in der qualitativen empirischen Forschung als Erhebungsmaterial verwendet wurden, sind meist Kamerabilder, die mit Foto- und Videokameras produziert wurden. Obwohl Foto und Film medienspezifische Unterschiede aufweisen, stehen sie in der gemeinsamen Tradition optischer Bildapparate, die ausgehend von der Camera obscura entwickelt wurden. Mediengeschichtlich steht die Camera obscura und die Herstellung von Apparatebildern im Zusammenhang mit der Entwicklung der Zentralperspektive im 16. Jahrhundert. Mit dieser wurde eine Wahrnehmungskonvention geschaffen, die die Absicht an der rationalen Durchdringung von Welt zum Ausdruck brachte. So wurde in der Malerei mit der Entstehung der Linearperspektive statt des „Bedeutungsraums“ des mittelalterlichen Bildes der geometrisch konstruierbare „Systemraum“ des Renaissance-Bildes geschaffen. Zur Produktion dieser Bilder wurden auch technische Hilfsmittel, wie die von Dürer dargestellten Glastafel- und Faden- und Rastermethoden, verwandt. Der Holzschnitt mit dem Titel „Der Zeichner des liegenden Weibes“ aus der „Underweysung der Messung“ zeigt sowohl die hierzu notwendige Domestizierung der Sinne durch die monokulare Wahrnehmung und die Immobilisierung des Wahrnehmungsapparates als auch die Distanzierung von Wahrnehmungs-Objekt (dem liegenden Weibe) und wahrnehmendem Subjekt (dem zeichnenden Künstler) auf. Mit dieser Trennung von Subjekt und Objekt wird das Paradigma rationalistischer Erkenntnistheorie zum Ausdruck gebracht und mit der Konstruktion der Betrachterposition durch die Grafik zugleich hergestellt: auch der Betrachter der zentralperspektivisch organisierten Grafik erlebt sich als distanzierter Beobachter. In der Grafik wird diese Distanzierung durch die oppositionelle Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt und deren Trennung durch einen Rasterrahmen dargestellt. Die mit diesen Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen eingeführte Rationalisierung von Wahrnehmungsvorgängen kann auch als Intention der Inbesitznahme von Wirklichkeit durch das wahrnehmende und darstellende Subjekt beschrieben werden, wie dies auch Panofsky in seiner Analyse der „Perspektive als symbolische Form“ (Panofsky 1998 [1924/25]) ausführt: „So läßt sich die Geschichte der Perspektive mit gleichem Recht als ein Triumph des distanzierenden und objektivierenden Wirklichkeitssinns und als Triumph des distanzverneinenden menschlichen Machtstrebens, ebensowohl als Befestigung und Systematisierung der Außenwelt, wie als Erweiterung der Ichsphäre begreifen.“ (ebd., 742) 144
Mit der zugleich distanzierenden und ergreifenden Sinnestätigkeit wird ein aufklärerisches Verständnis von Erkenntnis als rationale Durchdringung von Wirklichkeit realisiert. Diese Korrelation zwischen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie findet sich auch in Übertragungen von ästhetischen auf philosophische Kategorien wie z.B. in der Lichtmetapher, die als Bild für „Erkenntnis“ verwendet wird (Boehm 1999, 277). Die Entwicklung der optischen Bildapparate lässt sich als Perfektionierung linearperspektivischer Darstellungen und als „cultural performance“ (Singer 1959) der Aufklärung verstehen, mit der die Inbesitznahme von Welt durch deren Repräsentation verfolgt wurde. In der Fotografie äußert sich dies in ihrer „abbildenden Funktion“, die Gottfried Jäger als Konvention der Fotografie und als Grund zur Entwicklung des Programms „Wahrheit und Treue“ als Aufgabe der Fotografie benennt (Jäger 1988). Aus diesem Anspruch heraus folgert die Intention, die Kamera nicht nur als Mittel zur Aufzeichnung des Wahrnehmbaren zu verwenden, sondern sie zur Perfektion des Wahrnehmungsapparates, zur „Bewaffnung des Auges“ (Wulf 1984, 28) einzusetzen. Dies äußert sich auch in der Intention, Bilder mit gleichmäßiger Schärfe und so „scharfsichtige“ Repräsentationen von Wirklichkeit herzustellen, die dem Wahrnehmungseindruck, der vom permanent bewegten und neu fokussieren-den Wahrnehmungsapparat gebildet wird, nicht entsprechen (vgl. Schnelle-Schneyder 1990). Die Fotografie wird hiermit zum Instrument der „scharfsinnigen“ Erkenntnis von Welt erklärt, wodurch das Bild als „Spiegel der Welt“ alles Opake und durch seine ausschließliche Transparenz seinen eigentlich bildhaften Charakter verliert (vgl. Boehm 1995, S. 383). Hieraus folgt auch die Gefahr, das fotografische Bild als „Botschaft ohne Code“, als „reine Denotation“ (Barthes 1990, 13-16) und somit als Spiegel-Bild, also als zeichenloses Bild (Eco 1998) zu lesen. Der Verlust des Opaken hat auch Auswirkungen auf das erkennende Subjekt, das nun ebenfalls zum Spiegel, zum „Speculum für die Reflexe, Bilder, Phantasmen der Wahrheit“ (Irigaray 1980, 368) wird. Luce Irigaray problematisiert in einer kritischen Auseinandersetzung mit Freud die Bedeutung des Spiegels als Mittel des – männlich bestimmten – Subjekts, um sich in der eigenen Verdoppelung als Ganzheit zu empfinden, wodurch Erkennen nicht zum Gewahr-Werden eines Anderen, Fremden führt, sondern zur Selbstbespiegelung und zur Konstruktion eines um sich selbst kreisenden Universums (ebd., 423). Sie formuliert als Alternative zu einem positivistischen erkenntnistheoretischen Modell eine Haltung, in der Erkennen nicht mehr als Identisch-Werden und Inbesitznahme von Welt, sondern als „Sich-Berüh145
ren“ und als „Wunsch nach der Nähe“ beschrieben wird (Irigaray 1998, 134). Hiermit werden auch Entgegensetzungen von Subjekt und Objekt und damit die klassischen dichotomen Zuschreibungen von männlich/aktiv/Schauen und weiblich/passiv/Angeschaut-Werden zugunsten eines Zustands der gegenseitigen Annäherung aufgelöst. Als Voraussetzung dazu, den Kreislauf des Identifizierens zu durchbrechen, fordert sie ein erneutes „Durchqueren des Spiegels“ (ebd., 132) durch die Thematisierung der Funktion des Spiegels im Diskurs (ebd., 135). Die mit der Distanzierung von Subjekt und Objekt und einer identifizierenden Fotografie verfolgte Intention der Inbesitznahme von Welt wurde vielfach beschrieben. So spricht Susan Sontag vom „räuberischen Charakter der Fotografie“ (Sontag 1980, 20), Walter Benjamin beschreibt den AmateurFotografen als Jäger, der mit seiner Beute heimkommt (Benjamin 1963 [1931], 60). Im feministischen Diskurs wird das Kamerabild als Fetisch narzisstischer Projektionen verhandelt (Koch 1995, 231), im postkolonialen Diskurs wird die Repräsentation des Anderen als Projektionsfläche und idealisierender Zerrspiegel, der dem Europäer die eigene Überlegenheit reflektiert, thematisiert (El-Tayeb 2004, 267). Ethnografische Aufnahmen aus der Zeit des Kolonialismus formulieren die Inbesitznahme ästhetisch. Der Kamerablick – das Erfassen der „ganzen Person“ – und die Positionierung der Aufgenommenen als Anschauungsobjekt konstruieren eine Subjekt-Objekt-Beziehung, die das hierarchische Verhältnis zwischen Aufnehmenden und Aufgenommenen nicht nur zum Ausdruck bringt, sondern zugleich im Moment der Aufnahme realisiert. Andere Formen fotografischer Bemächtigungsstrategien lassen sich in der kriminalistischen, psychiatrischen und medizinischen Fotografie aufzeigen, wie Bernd Busch u.a. anhand der im 19. Jahrhundert entstandenen Kriminellen-Karteien aufzeigt (Busch 1995, 314318). Werden Kamerabilder in der empirischen Forschung angewandt, ist es wesentlich, diese medienhistorischen und -theoretischen Kontexte zu berücksichtigen und sowohl Erhebungs- als auch Auswertungsmethoden zu entwickeln, in denen mit fotografischen und filmischen Bildern keine Identifizierungen und Reifizierungen (Gildemeister/Wetterer 1992) vorgenommen werden, sondern mediengestützte Begegnungen stattfinden, in denen BildDokumente entstehen, die die stattgefundenen Interaktionen ablesen lassen. Dies hat Auswirkungen sowohl für die Bilderstellung als auch für die –analyse, die ebenfalls als Annäherung und nicht als absolute Schließung der Horizonte zu verstehen ist. 146
Vor der Thematisierung der Anwendung des Kamerabildes in empirischen Untersuchungen möchte ich Strategien von Künstler/inne/n anführen, die Apparatebilder erzeugen, die nicht als zeichenlose Spiegel-Bilder konzipiert sind, sondern die die Subjekt-Objekt-Distanzierung durch einen beteiligten Blick auflösen. Blick als Teilhabe – Strategien zur Aufhebung von Distanzierung und Objektivierung Gerade die der Fotografie unterstellte Abbildhaftigkeit führte dazu, diese als unschöpferisches Medium und damit als unbrauchbar für künstlerische Zwecke zu bezeichnen. Frühe Strategien bestanden demnach darin, die Abbildhaftigkeit zu negieren, indem z.B. in der piktoralen Fotografie die Linse so manipuliert wurde, dass die entstehenden Bilder eine der Malerei ähnliche Ästhetik erhielten. Die Vertreter der russischen Avantgarde hingegegen veränderten die ästhetischen Gesetze des Programms von „Wahrheit und Treue“ nicht in der Absicht, die Fotografie als „schöpferisches“ Medium zu verwenden, sondern um den Prozess der Dokumentation von Wirklichkeit neu zu definieren. Die Strategie von Alexander Rodtschenko bestand darin, mit ungewöhnliche Perspektiven Bildräume zu erstellen, die vom linearperspektivisch organisierten Bildraum der Renaissance-Malerei mit gerader Horizontlinie auf der Höhe des Augenpunktes abwichen. Rodtschenko wollte damit „kein Fotogemälde herstellen, sondern „Fotomomente, nicht von künstlerischem, sondern von dokumentarischem Wert“ (Rodtschenko zitiert nach Busch 1995, 351) schaffen. Er entwickelte hierzu die Fotografie mit der beweglichen Kamera, die es ermöglichte, die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses zur Erforschung von Welt zur Wirkung kommen zu lassen. Hierbei betonte er auch den Aspekt der Mehrperspektivität, d.h. der Notwendigkeit Bilder von einer Sache und einer Situation aus mehreren Perspektiven anzufertigen. Diese Mobilisierung des Auges sollte zu einer Fotografie führen, die Sehen nicht als Inbesitznahme, sondern als Teilhabe versteht, eine Intention, die auch Raoul Hausmann mit seiner Fotoästhetik verfolgte (vgl. Kemp 1978, 93). Ebenso wie bei Rodtschenko war auch bei Hausmann das Vorantreiben einer Veränderung des optischen Standpunktes gesellschaftspolitisch motiviert. Die Schulung des „neuen Sehens“ sollte es ermöglichen, Wahrnehmungsstereotypen in Frage zu stellen und Erkennen als einen produktiven Prozess, dessen konstitutives Element Differenzierung statt Identifikation ist, zu begreifen. So wird mit dieser Neuformulierung des 147
Wahrnehmungsprozesses auch eine erkenntnistheoretische Transformation hin zu einer konstruktivistischen Position vorgenommen. Damit wird die Tradition der Verknüpfung von ästhetischen und philosophischen Kategorien fortgeführt und zudem eine gesellschaftspolitische Relevanz dieser Fragen formuliert. In der späteren künstlerischen Fotografie werden die Methoden des teilhabenden Blicks, den Rodtschenko eindeutig als dokumentarische und nicht als künstlerische Fotografie beschreibt, als Methoden von „bildgebenden“ (Jäger 1988) künstlerischen Strategien verwendet. Insbesondere in den 1970er Jahren arbeiteten Künstler/innen mit fotografischen und filmischen Mitteln, um Welt-Beteiligung herzustellen und zugleich zum Ausdruck zu bringen. Beispielhaft hierfür lässt sich die österreichische Künstlerin Valie Export anführen, die eine Reihe von „konzeptionellen Fotografien“ entwickelt. In diesen Fotoarbeiten dokumentiert sie ihren tastenden Blick, der eine Leiter empor fährt oder über Hauswände streift, sie zeigt Ansichten aus ihrem Atelierfenster zu verschiedenen Tageszeiten als eine Dokumentation des Zeitablaufs, Blicke aus einem fahrenden Auto. Export verwendet nicht nur den Fotoapparat als bewegliches Medium, sondern radikalisiert die Idee der bewegten Kamera durch Aktionen mit der Schmalfilmkamera, bei denen sie zugleich die Monokularität des Kamerablicks, die Immobilisierung und die Kontrolle des Blicks und damit die „photo-logische Ökonomie des Universums“ (Irigaray 1980, 423) aufgibt. In der Arbeit „Adjungierte Disloka-tion“ befestigt sie zwei Schmalfilmkameras, je eine an der Vorderseite und eine an der Rückseite des Körpers, und bewegt sich damit an verschiedenen Orten. Die entstandenen Bilder der beiden gleichzeitig filmenden Kameras präsentiert sie in Ausstellungen parallel. Die Aufnahmen dokumen-tieren den Prozess der Bewegung des Körpers im Raum und zeigen die Transformation der Kamera vom „photo-logischen“ zum performativen Medium. Visualität, „Scharfsichtigkeit“ wird hier mit Leiblichkeit und somit das Intelligible mit dem Sensiblen konfrontiert. Auch der Künstler Jochen Gerz, der Fotografie als Aktion anwendet, stellt die repräsentative Funktion von Medien mit seinen Arbeiten infrage. Hierbei arbeitet er oftmals mit einer Verbindung von Fotografie und Schrift, die er in paradoxaler und selbstreflexiver Weise verwendet: „Von dem Hirn. Von der Kamera. Von der Schrift. Die Zeichnung, der ’unmögliche’ Zusammenhang (unmögliche Zufall). Vom gemeinsamen Vorbild: eine (neue) Zeichnung als (bisher) letzte Spur. Das Blinde von den Augen des Körpers. Von dem Körper der Augen. Der Blinde spricht.“ Jochen Gerz, Text aus Foto/Text #126, 1984 148
In seinem Sprachgebrauch äußert sich ein permanentes Infragestellen des Gesagten. Schrift wird in seinen Foto/Text-Arbeiten in Bild-Form präsentiert, Fotografie wird zur Aktion wie in der interaktiven Performance „Der Saal. Die Reproduktion“ von 1972. Hier fertigte er von verschiedenen Standorten in einem Raum Polaroidfotografien von einer gleichzeitig im Raum anwesenden Gesellschaft an. Durch das Auslegen der Fotos im Raum wird diese allmählich verdrängt. Die Fotos dokumentieren diesen Prozess des sich leerenden Raums. Fotografie dient hier nicht zur Repräsentation eines Motivs, sondern als Inszenierungsmittel, mit dem – durch die Verdrängung der Anderen in der fotografischen Aneignung des Raums – die Funktion des „Spiegels“ im Diskurs thematisiert wird. Gerz verwendete die Fotografie auch als weniger offensives Interaktionsmedium, in dem er z.B. das Sterben seiner Mutter „fotografisch begleitete“. Hierbei entstanden poetische, grobkörnige Bilder, die nicht von Voyeurismus, sondern von Anteilnahme sprechen.1 Das Verständnis der Produktion von Bildern als Interaktion und Teilhabe ist ein Ansatz, der auch für die Erhebung von Bildern innerhalb von empirischen Untersuchungen produktiv gemacht werden kann. Bilder als Erhebungsmaterial – Bildproduktion als Interaktion Werden Bilddokumente im Rahmen von empirischen Untersuchungen erstellt, werden Fragen nach dem Prozess der Bildproduktion relevant. In welcher Situation entstehen die Bilder und wer ist der/die Bildautor/in? Wird das Kamerabild nicht als Repräsentation verstanden, ist es notwendig, den Prozess der Bilderstellung als Interaktion zwischen den Beobachteten und den Beobachtenden zu begreifen. Die entstehenden Bilder dokumentieren so nicht nur die Szenarien vor der Kamera und die Konstruktion des Blicks des Beobachters, sondern geben zudem ein Zeugnis von der Interaktion der Beteiligten im Moment der Bilderstellung. Ein Verständnis vom Bild als Dokumentation des Blicks auf den Anderen, das die Beziehung zwischen Beobachteten und Beobachtenden aufzeigt, wird bereits in der sozialwissenschaftlichen Forschung formuliert. So untersucht Ulrike Pilarczyk Familienbilder hinsichtlich der sich hierin äußernden Generationsverhältnisse (Pilarczyk 2003). Ralf Bohnsack beschreibt das Zusammenspiel zwischen den beim fotografischen Akt Beteiligten und unter1
Jochen Gerz „Le grand amour (fictions)“ Foto/Text #2, 1980. 149
scheidet zwischen den „abbildenden Bildproduzent(inn)en“ und den „abgebildeten Bildproduzent(inn)en“ (Bohnsack 2003a, 160). Im Verweis auf Goffman und Bourdieu thematisiert er den Prozess der Bilderstellung als fotografisches Handeln, in dem sich auch der Vollzug rituellen Handelns z.B. bei der Anfertigung von Familienbildern äußert (Bohnsack 2003b, 103). Auch bei der Bildproduktion innerhalb von qualitativen empirischen Untersuchungen entsteht die Frage, welche Handlungen und Interaktionen hiermit vollzogen werden und welche Beziehungen nicht nur mit der Bilderstellung dokumentiert, sondern im Moment der Bilderstellung hergestellt werden. Dieses ist insbesondere deswegen bei der Planung und Durchführung von Bilderhebungen zu berücksichtigen, da Forschung auch eine Intervention in das untersuchte Feld darstellt. Es erscheint so als vorteilhaft, die Bilderstellung in die Hände derjenigen zu legen, die im Mittelpunkt der Untersuchung stehen und anhand der entstehenden Bilddokumente – in der Analyse von Beobachtungs- und Darstellungsebene – z.B. eine Charakterisierung eines pädagogischen Settings vornehmen zu können. Ein weiterer Vorteil dieser Methode besteht darin, dass in diesem Fall keine Milieuunterschiede der beiden Bildproduzenten mit zu berücksichtigen sind, ein für die Bildanalyse bedeutsamer Aspekt, auf den Bohnsack hinweist (ebd.). Werden Bilddokumente ohne bewusst geplantes Bildkonzept als spontane Aufnahmen angefertigt, also die Wahl von Perspektive und Ausschnitt aus der Situation heraus getroffen, werden Symbolisierungen impliziter Äußerungen provoziert. Das Zufalls- oder Knipserbild ist ein Sujet, dass in der Fototheorie oft behandelt und in vielen Fällen als trivialer Prozess der ungeplanten und gehäuften Bilderstellung abgewertet wurde (vgl. Benjamin 1963, 60). Als Erhebungsmaterial in der empirischen Forschung weist diese Form der Bilderstellung Vorteile auf. Es entstehen so Zufallsbilder, die das „empfangende Auge“ (Berger 1990, 236) erlebbar machen und dem „Begehren“ Raum geben (Busch 1995, 356). Busch findet im Knipserbild einen Bildraum auf, der aufgrund einer Bildkomposition, die nicht an Wahrnehmungsstereotypen, sondern am Wahrnehmungsprozess orientiert ist, dem Bedeutungsraum des mittelalterlichen Bildes im Unterschied zum linearperspektivischen Systemraum des Renaissance-Bildes entspricht (ebd.). Bei der Verwendung von Videokameras, insbesondere von kleinformatigen digitalen Camcordern, dokumentiert sich nicht nur der Augenblick einer momentanen Wahrnehmung, sondern zudem der Prozess der Körperbewegung. Hier entstehen mit einer subjektiven Kameraführung nicht-bewusst gesteuerte Auf150
nahmen, die sich ebenso wie das „Knipserbild“ als implizite visuelle Aussagen verstehen lassen. Um diese Überlegungen bei der Planung eines Forschungsdesigns zu berücksichtigten, ist es wichtig, eine systematische Erstellung von spontanen Aufnahmen zu ermöglichen, wie dies auch in künstlerischen Arbeiten, in denen der Akt der Bilderstellung zentral ist, geschieht. So rahmt Jochen Gerz seine Fotoaktionen durch räumliche, zeitliche oder materialbedingte Vorgaben: die 12-teilige Fotoserie zum Gefängnis „La Santé“ in Paris ist aufgrund der „Spielregel“ entstanden, das Gebäude am jeweils zweiten Tag des Monats ein Jahr lang zu fotografieren, bei der Aktion „Fotografieren bis ich allein bin“ fotografiert der Künstler während einer Fahrt aus der Stadt heraus, bis ihn lediglich Dunkelheit umgibt. „Das Rauchen“ dokumentiert einen fotografischen Prozess, der bis zur Aufgabe des Kameramechanismus vollzogen wird. Annäherungen an Bilder als zirkulärer Prozess Die Verwendung von Bilddokumenten wirft nicht nur Fragen nach der Erhebung, sondern auch nach der Analyse des entstandenen Bildmaterials auf. In der Sozialwissenschaft sind bereits einige Verfahren in Anlehnung an kunstwissenschaftliche Interpretationsmethoden (Bohnsack 2003a, 2003b, 2003c) und in Bezug zur Foto- und Filmanalyse entwickelt worden (Ehrenspeck/Schäffer 2003). Anknüpfend hieran kann die Frage gestellt werden, inwiefern der Aspekt der Wirkungsästhetik eine stärkere Berücksichtigung erfahren kann. Dieses bedeutet nicht nur Bilderstellung, sondern auch Analyse als systematischen Annäherungsprozess zu begreifen, innerhalb dessen Entgegensetzungen von Subjekt und Objekt aufgelöst werden. Hierbei werden Verfahren angewendet, die nicht wirkungsästhetische und werkimmanente Analysen als subjekt- und objektbezogene Interpretationen voneinander trennen, sondern mit denen Wechselwirkun-gen zwischen beiden Annäherungsformen produktiv gemacht werden. Damit wird auf ein der Grounded Theory zugrundeliegendes pragmatisches Erkenntniskonzept rekurriert (vgl. Strübing 2004), mit dem Realität nicht als a priori gegeben, sondern als situationsbezogen und im stetigen Werden begriffen verstanden wird. Methoden systematischer Annäherungen in der Verknüpfung von Wirkungs- und Produktästhetik sind in der Kunstwissenschaft und der Kunstpädagogik entwickelt worden, die nachfolgend dargestellt werden. 151
Die Wirkung der Bilder – Rezeptionsästhetik In der Kunstwissenschaft fand in den 1980er Jahren im Zuge der Entwicklung einer Rezeptionsästhetik eine Hinwendung zur Wirkungsästhetik als konstitutivem Element von Kunst statt. Hiermit wurde einerseits an Entwicklungen in der Literaturwissenschaft angeknüpft und zugleich kunstwissenschaftliche Traditionen fortgeführt. Wolfgang Kemp beschreibt die „Entdeckung des Betrachters“ nicht als revolutionäre Neuerfindung des 20. Jahrhunderts, sondern als Weiterentwicklung einer Ästhetik des 16. Jahrhundert, deren Methoden denen der Rhetorik nachgebildet waren (Kemp 1985, 9). Das Kunstwerk als religiöses Medium besaß Appellfunktion, wodurch die Einbeziehung des Publikums und der Wirkung nicht zu umgehen war. Erst im 18. Jahrhundert entstand im Zuge von kunstökonomischen Entwicklungen, die zur Distanzierung von Kunstwerk und Publikum führte, das „autonome Kunstwerk“. Kemp spricht dem Kunst-historiker Alois Riegl zu, die Wirkungsästhetik Ende des 19. Jahrhunderts wieder als Element zumindest einer Kunstform eingeführt zu haben. In Anknüpfung an Hegels normativen Anspruch an die Balance von werkimmanenter Geschlossenheit und Öffnung zum Betrachter formuliere Riegl zwei künstlerische Idealtypen, die er in der Betrachtung von holländischen Gruppenporträts entwickelte. Einen Typus bezeichnet er als „Kunst für sich“ eine andere als „Kunst für uns“. Während für die eine Kunstform die absolute werkimmanente „innere Einheit“ notwendig ist, wird der andere Typus durch Kompositionen erreicht, die sich nur durch die aktive Rezeption im Betrachter zu einer „äußeren Einheit“ zusammenfügen (Kemp 1985, 17-20). Die sowohl bei Hegel als auch bei Riegl formulierte Zunahme von Werken der „äußeren Einheit“ lässt sich in der Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert ablesen. Mehrdeutigkeit und Offenheit wurden in der Kunst der Moderne zu den wesentlichsten Kategorien bildender Kunst und mit dem Begriff des „offenen Kunstwerks“ (Eco 1975) Werke beschrieben, die den Betrachter als Bildproduzenten implizieren. Diese Betrachtung des Werks als Werk „äußerer Einheit“ hat auch Konsequenzen auf die Analyse des Werkes. Auch hier wird es nun notwendig, Wirkung und Betrachterperspektive einzubeziehen. Ansätze hierzu wurden in der Rezeptionsästhetik entwickelt. Infolge wahrnehmungs-psychologischer Erkenntnisse sind diese Betrachtungsformen heute nicht mehr nur für die Analyse von Kunstwerken, sondern von Bildern allgemein relevant.
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Ästhetische Rationalität – Wirkungs- und produktorientierte Analysen Wird die Wirkung von Bildern in die Analyse einbezogen, entsteht die Frage danach, wie die Reproduktion von Common-Sense-Typisierungen vermieden werden können. Hierzu ist eine Auseinandersetzung mit Erkenntnistheorien notwendig, die Sinnes- und Erkenntnistätigkeit nicht als Entgegensetzungen beschreiben, sondern auf produktive Wechselwirkungen verweisen und damit auch den „Einschnitt zwischen Sensiblem und Intelligiblem“ (Irigaray 1998, 135) auflösen. Hiermit wird eine Form des Erkennens angesprochen, die von Alexander Baumgarten mit der Disziplin „Ästhetik“ im Sinne des griechischen aisthesis als Lehre vom Sinnhaften eingeführt hat (Baumgarten 1983 [1750/58]). Ziel dieser Disziplin war ursprünglich nicht eine Lehre über ästhetische Artefakte, sondern den durch die Aufklärung verengten Rationalitätsbegriff zu erweitern und Erkenntnisprozesse durch ästhetische Erfahrung zu initiieren. Diesen Ansatz greift Martin Seel auf und favorisiert in der kritischen Auseinandersetzung mit dem kantischen ästhetischen Urteil einen Rationalismus-im-Plural (Seel 1985). Als ein Element dieser Rationalität bezeichnet er eine ästhetische Rationalität (ebd.) Diese bezieht er nicht ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit Kunst, sondern auf „begründbares Handeln“ (ebd., 12) allgemein. Begründbarkeit meint dabei ein auf „praktisches Wissen“ basiertes Handeln, das allerdings nicht unbedingt aktuell begründet sein muss. In seiner „ästhetisch dominierten Vernunftkritik“ spricht Seel der Wahrnehmung – dem „wahrnehmenden Sensorium“ (Seel 1985, 33) – die bedeutsamste Rolle zu und wendet sich gegen die von Kant vorgenommene „absurde Arbeitsteilung“ zwischen einem reinen, unmittelbaren und nicht zu hinterfragenden Geschmacksurteil und einer kritisch-aktualisierenden Interpretation. Er unterscheidet von diesem „arbeitsteiligen Modell“ die „ästhetische Wahrnehmung“ als permanente Verbindung von Empfindung und Reflexion: „(...) das Verstehen der Bedeutung ästhetischer Gegenstände vollzieht sich zwischen den Polen einer rezeptiv-spontanen und reflexiv-experimentierenden Einlassung, aus deren Spannung die ästhetische Erfahrung ihre Energien bezieht“ (Seel 1985, 38). Seel benennt diese ästhetische Wahrnehmung als „ästhetisches Verhalten“, das sich sowohl in der ästhetischen Rezeption als auch der Produktion äußert (ebd., 31-41). Ästhetische Wahrnehmung beschreibt er als wechselseitige Fundierung von Urteil und Gegenstand, woraus folgert, dass, wie auch in der Rezeptionsästhetik formuliert wird, die Beurteilungsweise nicht von der Artikulationsweise des ästhetischen Objekts zu trennen ist (ebd., 35). 153
Eine Analyse des Bildes setzt also voraus, sich der Wirkung des Bildes auszusetzen. Dies bedeutet „das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht“ (Barthes 1989, 36), wie Roland Barthes die wesentliche, aber nicht eindeutig benennbare und vom Bildautor unbewusst realisierte Bildaussage bezeichnet, in die Analyse einzubeziehen. Strategien dies in einer systematischen Weise zu realisieren, die nicht zur Bildung von Stereotypen, sondern zur „ästhetischen Wahrnehmung“ im Sinne Seels führen, wurden in der jüngeren Kunstwissenschaft und in der Kunstpädagogik entwickelt. Hierbei werden permanente Wechselprozesse zwischen Wahrnehmung und Symbolisierung favorisiert. Das Bild als relationales Bedeutungsgefüge Der Kunsthistoriker Hans Dieter Huber entwickelt in der Auseinandersetzung mit ungegenständlichen Kunstwerken einen systemtheoretischen Ansatz der Bildauslegung, mit dem er sich von traditionellen ikonographischen, ikonologischen und ikonischen Bildanalyseverfahren abgrenzt (Huber 1989). Die Interpretation des Kunstwerks als „System relationaler Bedeutungsgefüge“ beschreibt er nicht als sequentiellen Prozess, der von der Beobachtung von gegebenen „neutralen Fakten“ ausgeht, sondern er entwirft diesen als einen zirkulären Prozess von Beobachtung, Beschreibung und Interpretation (ebd., 88). Huber unterscheidet zwischen einer auf die Rezeption und einer auf die Produktion gerichteten Analyse und untergliedert die Analyse der Bildrezeption in eine formale und eine semantische Ebene. Da er seinen Ansatz in der Auseinandersetzung mit abstrakter zeitgenössischer Malerei entwickelt, führt er die Analyse von formalen Relationen und das Erfassen einer innerbildlichen Dynamik nach einer Formulierung eines „ersten Eindrucks und der aufmerksamkeitsbindenden Bildelemente“ an. Anschließend beschreibt er eine Identifikation von Formen und das Zusammenwirken verschiedener semantischer Felder. Hinsichtlich der produktionsbezogenen Analyse fokussiert Huber den Materialgebrauch und die Betrachterkonzeption, wozu er auch die Ebene der Bildbetrachtung verlässt und Aussagen des Künstlers einbezieht. Ziel dieser Analyse ist eine Annäherung an die Intention des Künstlers. Interpretationen werden notwendig sprachlich als theoretische Schlußfolgerungen vorgenommen, sie sind allerdings wahrnehmungsbasiert und müssen einem permanenten Abgleich mit dem Wahrgenommenen standhalten (ebd., 82-83).
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Bei der rezeptionsbezogenen formalen Analyse orientiert sich Huber an den in der Gestaltpsychologie beschriebenen Wahrnehmungsprozessen beim Lesen von Bildern. Hiermit knüpft er an die von Arnheim als „Kehrtwendung in der Wahrnehmungstheorie“ bezeichnete Erkenntnis über den Sehprozess an, derzufolge Sehen nicht als ein Prozess in der Abfolge „vom Besonderen zum Allgemeinen“ zu verstehen sei, sondern als Vorgang, bei dem primär eine Gesamtstruktur erfasst und hiervon ausgehend Details fokussiert werden (Arnheim 2000 [1965], 48). Infolgedessen beschreibt Huber das Bildlesen als Parallelprozess von sequentiellem Wahrnehmen von Bilddetails und dem kognitiven Zusammensetzen eines simultanen Bildes, womit er auch der prinzipiellen Entgegensetzung einer Simultanität des Bildes und einer Sequentialität des Textes widerspricht. Huber schildert den intensivierten Wahrnehmungs- und Deutungsprozess im Anschluss an den „ersten Eindruck“ als Fokussierung von Details, die in den durch die Anschauung bereits gebildeten und sich durch die Wahrnehmungserfahrung verändernden Horizont eingeordnet werden. Mit einer „Thema-Horizont-Struktur der ästhetischen Erfahrung“ beschreibt er den Rezeptionsvorgang als Prozess der Deutung im Wechselspiel von Wiedererkennen und Neuerfahrung, in dem Details als Themen in variierende Bezugsrahmen als Horizont eingebettet werden. Hierbei können verschiedene „Einstellungsveränderungen in der ästhetischen Wahrnehmung“ als Variationen von Thema und Horizont vorgenommen werden: verschiedene Themen werden im selben Bezugssystem gedeutet oder ein Thema kann innerhalb verschiedener Bezugsrahmen betrachtet werden. Thema und Verweisungshorizont können wechseln oder der Bezugsrahmen – die konstruierte Zusammenfassung der Themen – kann selbst zum Thema werden (a.a.O., 73-78). Seherfahrungen, Identifikationen und Klassifikationen als Begriffsbildungen stehen so im Wechselspiel, so dass auch die eindeutige Unterscheidung von „sehendem Sehen“ und „wiedererkennendem Sehen“, die Imdahl beschreibt, in Hubers Konzept keine Gültigkeit mehr besitzt. Im weiteren Verlauf der Interpretation, die Huber als „Prozess einer kontinuierlichen Verfeinerung“ (a.a.O., 88) bezeichnet, sind die Begriffsbildungen auch theoriegeleitet und führen zu einer weiteren Verdichtung der Interpretation. Diese versteht Huber nicht als wahr oder falsch, sondern als „Wahrscheinlichkeitsurteil von hoher Plausibilität“ (ebd., 91), mit dem möglichst alle bekannten Aspekte des Kunstwerks erklärbar werden; dieses bedeutet, dass sie Adäquatheits- und Kohärenzkriterien aufweisen müssen. Hierbei ist es auch möglich, dass abhängig vom jeweiligen Interpreten verschiedene Schwerpunktsetzungen vorgenommen werden und somit variie155
rende kohärente Interpretationen möglich sind. Das von Huber beschriebene Verfahren zirkulärer Annäherungen steht im Widerspruch zu positivistischen erkenntnislogischen Verfahren und lässt sich auch mit den in der Grounded Theory vertretenen zirkulären Annäherungsformen (vgl. Strübing 2004) und zur Methode der „Dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz (Geertz 1987) in Beziehung setzen (vgl. Wolff 2003, 87). Dieses gilt auch für handlungsorientierte Auslegungsmethoden aus der Kunstpädagogik, die im Folgenden dargestellt werden. Handlungsorientierte Auslegungsverfahren Methoden der Annäherung an Bilder wurden in der Kunstpädagogik auf die Ebene der ästhetischen Praxis erweitert. So beschreibt der Kunstpädagoge Gunter Otto eine „Praxis des Auslegens in Bildern und von Bildern“ (Otto/ Otto 1988). Otto entwickelt hier eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit Bildern, bei der zunächst Percepte gebildet werden. Diese entstehen durch verschiedene Formen ästhetischer Praxis, d.h. im Zeichnen, Malen, Collagieren, Skizzieren und Inszenieren. Die Kommunikation über diese ästhetischen Annäherungen an Bilder führt zur allmählichen Entschlüsselung an mögliche Bild-Konzepte, Kontextinformationen als Allocationen in einem fortgeschrittenen Stadium der Bildauslegung ermöglichen eine Kontextualisierung des Werks. Otto knüpft mit seinem Konzept auch an das von Imdahl favorisierte Konzept einer Erforschung des ästhetisch Evidenten (Imdahl 1988, 97) im Unterschied zu einer vorrangig historischen Analyse an. Imdahl bezeichnet diese ästhetische Analyse als besonders erfolgreich, wenn gerade keine literarischen Quellen hinzugezogen und Darstellungs-Intentionen unterstellt werden, sondern „die Kenntnis des dargestellten Sujets sozusagen methodisch verdrängt wird“ (a.a.O., 23). Ottos Konzept der Bildung von Percepten mittels ästhetischer Praxis ist eine Methode dieser „Verdrängung“. Diese gelingt, wenn das „Einrasten“ auf eine Sichtweise durch spontanes, auf dem Wahrnehmungseindruck basierendes Arbeiten verhindert wird. Kritisiert wird Otto heute in der Kunstpädagogik, weil er mit seinem dreistufigen Konzept in der Abfolge der Bildung von Percepten, Konzepten und das Hinzuziehen von Allocationen einem sequentiellem Bildanalyseverfahren verhaftet bleibt und er nicht primär die Entwicklung von Handlungswissen in der Erfahrung mit Kunst verfolgt, sondern am aufklärerischen Konzept des Verstehens von Lerninhalten festhält (vgl. Peez 2002, 24). Ge156
rade hierdurch ist allerdings sein Ansatz für die Annäherung an Bildgehalte in qualitativen empirischen Untersuchungen interessant. Mit der Methode der Perceptbildung durch ästhetische Praxis wird zudem Hubers Interpretationsansatz, der zwar konsequenter an den tatsächlichen Prozessen des Bildlesens orientiert ist, erweitert. Ottos Verfahren wurde u.a. weiterentwickelt von Maria Peters, die Schüler/innen zur Perceptbildung bei der haptischen Erkundung von plastischen Werken anregt (Peters 1996). Hierbei ist der visuelle Sinn durch eine Augenbinde ausgeschaltet, parallel zum Tasten entstehen Zeichnungen; weitere Perceptbildungen werden durch assoziative Texte angeregt, die die Schüler/innen im Anschluss an den Parallelprozess von Tasten und Zeichnen zu ihren Erfahrungen verfassen. Es entstehen hierbei poetische Texte, die wie die Zeichnungen Paralltexte zum erkundeten Kunstwerk darstellen. Durch die intensive Wahrnehmungserfahrung und die „methodische Verdrängung des Sujets“ weisen diese Texte weder Stereotype noch Beliebigkeiten auf, sondern inhaltliche sowie formale Korrespondenzen mit dem Werk. Inwiefern ästhetische Praxisformen bei der Analyse von Bildern auch in der empirischen Forschung angewandt werden können, wird in Zukunft zu ermitteln sein. Ästhetische Annäherungen an Bilder In meinen Annäherungen an Bildmaterial verbinde ich Verfahren einer rezeptionsästhetisch orientierten Kunstwissenschaft mit handlungsorientierten Auslegungsmethoden aus der Kunstpädagogik. Da es sich bei dem hier vorgestellten Erhebungsmaterial um Kamerabilder und nicht um Malereien, Zeichnungen oder sonstige ästhetische Objekte handelt, knüpft die Analyse der Formalstruktur stärker an die ikonische Analyse an als Hubers auf gegenstandslose Kunst orientiertes Interpretationskonzept. Diese findet jedoch integriert in einen zirkulären Annäherungsprozess mit ästhetischen und sprachlichen Mitteln statt. Innerhalb dessen ermöglicht das Aufzeigen von perspektivischer Projektion und planimetrischer Komposition die Analyse der Konstruktion des Blicks des Bildautors/der Bildautorin, die im Wechselspiel mit den fotografischen und filmischen dokumentierten „Szenerien“ steht. Bei der Analyse von Fotografien können zusätzlich Schärfentiefe, Einstellung, Lichteinwirkung, Farbe, Kontrast und Farbperspektive, bei Videoaufnahmen außerdem Ton und Kamerahaltung und -schwenk einbezogen werden. Auch eine Betrachtung der verwendeten Medien kann aufschlussreich sein, insbesondere wenn Interaktionen mit verschiedenen Medienarten 157
– wie z.B. Fotografie und digitalem Video – eingeleitet und dokumentiert wurden. Der Interpretationsvorgang vollzieht sich in diesem Verfahren nicht als sequentieller, sondern als zirkulärer Prozess. Dabei gelingt es insbesondere durch ästhetische Bearbeitungen des Materials mit einem Bildbearbeitungsprogramm verschiedene Aspekte zu fokussieren und mit dieser Bearbeitung eine systematische Verfremdung zu vollziehen, die dazu verhilft, CommonSense-Typisierungen zu vermeiden und zugleich Percepte als Anschauungsobjekte der Annäherungen zu schaffen. Durch die starke Anlehnung der Bearbeitungen an das Ausgangsbild lassen sich diese grafischen Bearbeitungen als „Beschreibungen“ im Unterschied zu „Interpretationen“ (Huber 1989, 89-91) verstehen. Im Nachspüren von Formen durch das Nachzeichnen von Umriss- und Konstruktionslinien, findet eine ästhetische Erkundung des Bildes statt, innerhalb dessen Erkenntnisprozesse in der Aktivierung von ästhetischer Rationalität im Wechselspiel von Wahrnehmung und Handlung gebildet werden. Die auf den Bild-Textseiten präsentierten Bilder stellen also keine „Veranschaulichungen“ der Interpretationen dar, sondern sind Dokumentationen dieses Auseinandersetzungsprozesses. Der Zugriff auf das Bild bei der Bildbearbeitung kann dabei von der Absicht, die Formalstruktur zu analysieren, geprägt sein oder spontan aus dem ersten Eindruck heraus, mit dem eine „Vorgestalt“ erfasst (ebd., 64) wird, aber noch keine Interpretationen vorgenommen werden, inspiriert sein. Das hierbei entstehende „Percept“ verhilft wiederum dazu, der Wirkungsästhetik des Bildes gewahr zu werden. In der künstlerischen Praxis sind mannigfaltige Methoden entwickelt worden, um automatisierte Wahrnehmungen, die zur Reproduktion von Stereotypen und zur mangelnden Wahrnehmung der eigenen „blinden Flecken“ führen, zu verhindern. So ist es z.B. in der Malerei üblich, Abstand zum Bild zu nehmen oder zu Blinzeln, um Bilddetails als abstrahierte Formen wahrzunehmen und so die Komposition des Bildes zu überprüfen. Verfremdete Wahrnehmungen des eigenen Bildes werden mit verschiedenen Verfahren – wie z.B. dem Umdrehen des Bildes – erzielt. Die Methode der ästhetischen Percept-Bildung greift diese Verfahren aus der künstlerischen Produktion auf, um Annäherungen an ästhetisch formulierte Bedeutungsgehalte zu ermöglichen. Zugleich entstehen mit den bearbeiteten Bildern wiederum ästhetische Produkte, die es auch dem Rezipienten ermöglichen, den Interpretationsprozess ästhetisch nachzuvollziehen und die Fokussierung von einzelnen Bildelementen im Vergleich mit dem unbearbeiteten Bild wahrzunehmen. Die Bearbeitung kann außerdem nicht 158
nur zur Markierung, sondern auch zur „Maskierung“ und damit zur Anonymisierung der dargestellten Personen verwendet werden. Eine zusätzliche schriftliche Auseinandersetzung mit dem Bild kann stichwortartig parallel oder nach der Bildbearbeitung im Wechselspiel mit der Betrachtung der Percepte stattfinden. Ähnlich wie in den von Huber und Otto beschriebenen Verfahren, sollten im späteren Verlauf des Annäherungsprozesses auch Kontextinformationen hinzugezogenen werden. Ebenso kann eine Triangulation mit der Auswertung von sprachlichem Material, etwa von Interviews oder Gruppendiskussionen mit Beteiligten, im Wechselspiel mit den ästhetischen Analysen zur Anreicherung von Perspektiven stattfinden. Die zusammenfassende Auslegung kann, ähnlich wie Huber dies für die Interpretation von künstlerischen Arbeiten beschreibt, nicht als einzig mögliche „Schließung der Horizonte“, sondern als in sich kohärentes, stimmiges Bedeutungsgefüge verstanden werden, das in Abhängigkeit von den Interpretierenden entstanden ist. Nicht nur die Auslegung findet innerhalb von wechselseitigen Prozessen statt, sondern auch beim Rezipienten werden zirkuläre Leseprozesse angeregt. Dies wird dadurch ermöglicht, dass die entstandenen Bilder und Texte – Ausgangsbild, bearbeitetes Bild, sprachliche Beschreibungen, Interpretationen und eventuell Ausschnitte aus Transkripten sowie kurze zusammenfassende Interpretationen dieser Textpassagen – parallel präsentiert werden. Hierdurch wird eine vergleichende Rezeptionsweise beim Lesenden ermöglicht und zugleich die Interpretationen in ihren Wechselbeziehungen transparent gemacht. Auch hiermit wird der Objektivierung von Bildgehalten entgegengewirkt. „Begegnungen“ – Bildbeispiele Die folgenden Bilder sind im BLK-Modellversuch KLiP – Kunst und Lernen im Prozess entstanden, einem kunstpädagogischen Projekt, in dem prozessorientierte künstlerischen Methoden in der Schule initiiert wurden. In der dokumentierten Projektphase standen kommunikative und interaktive Prozesse als künstlerische Methode im Mittelpunkt, da in der zeitgenössischen Kunst nicht nur werkbezogene gestalterische, sondern zunehmend – wie in der Aktionskunst und der Performance – performative und kommunikative Prozesse initiiert werden. In der Projektphase, in der die nachfolgend vorgestellten Bilder entstanden sind, besuchte eine der am Projekt beteiligten Klassen eine der anderen Klassen und bezog diese in ihr aktuelles Projekt zum Thema 159
„Freundschaft“ ein. Hierbei trafen Schüler/innen aus zwei unterschiedlichen Berliner Bezirken – aus Ost und West – und aus unterschiedlichen Milieus zusammen. Die Ostberliner Klasse, von der die Initiative ausging, war eine Gesamtschule, lediglich ein Schüler besaß einen Migrationshintergrund. Die besuchte Westberliner Klasse war eine Hauptschulklasse, ca. 80 % der Schüler/innen besaßen einen Migrationshintergrund. Die Schüler/innen der Ostberliner Klasse initiierten die Begegnung mittels eines Fragebogens zum Thema Freundschaft während des Unterrichts im Klassenzimmer. Die Begegnungssituation fand in der Einbeziehung von Foto- und Videokameras durch die Ostberliner Schüler/innen statt. Die Analyse dieses Materials ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen realisierten Begegnungsformen. Die Idee verschiedene Begegnungsformen zu untersuchen, entstand durch die abwechselnde Auswertung von Interview- und Bildmaterial. Da in der hier angeführten Untersuchung die Interviewerhebung systematischer als die Bilderhebung durchgeführt wurde, wurde in diesem Fall die Schilderung der Situation im Klassenzimmer einer beteiligten Ostberliner Schülerin in einem Interview zum Ausgangspunkt genommen, um das Bildmaterial auf die hier stattgefundene und weitere Formen der Annäherung zu untersuchen. Die durch die Analyse von Bildmaterial verfeinerte und erweiterte Charakterisierung motivierte dazu, Begegnungsformen, die mit der Situation im Klassenzimmer kontrastieren, aufzuspüren und hiervon ausgehend wiederum das Textmaterial zu untersuchen. Auf den folgenden Bild/Text-Seiten werden beispielhaft systematische Annäherungen an ein Bild aus der Untersuchung der Situation im Klassenzimmer und an eine Videosequenz, die innerhalb einer kontrastierenden Situation entstand, gegenübergestellt. Die Analyse der Interviewpassagen kann ebenso wie die gesamte Bildserie, die zur Untersuchung der ersten Begegnungssituation herangezogen wurde, an dieser Stelle nicht vorgestellt werden.
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„Distanzierende Fokussierung“ – Begegnung im Klassenraum Das Bild vermittelt den beobachtenden Blick auf eine Gruppe, zu der allerdings kein Kontakt entsteht. Dabei vermittelt nicht nur der gemeinsame Stil der Jungen im Bildvordergrund, sondern auch ihre Aufeinanderbezogenheit den Eindruck von Gemeinschaftlichkeit, was das distanzierte Verhältnis zu den Betrachtenden betont. Es entsteht kein Blickkontakt mit der Bildautorin, die auf sich konzentrierte Gruppe bleibt somit für die Betrachtenden anonym. Auf den zweiten Blick wird eine Gruppe von drei Mädchen im Bildhintergrund wahrgenommen, die durch unterschiedliche Stile den Eindruck kultureller Kontraste vermittelt. Die gegenüberstehende Positionierung der Mädchen verstärkt diese Wirkung. Insgesamt entsteht eine indifferente Atmosphäre, die zugleich von Ruhe, Dynamik und Distanz geprägt ist. Eine formalästhetische Betrachtung ergibt, dass diese ambivalente Wirkung durch das Zusammenspiel verschiedener Aspekte wie Farbigkeit, Proportion und Komposition hervorgerufen wird: Die dominierende Tertiärfarbigkeit, die fast mittig positionierte Gruppe im Vordergrund und die vertikale Aufteilung des Bildraums ungefähr im goldenen Schnitt rufen eine harmonisierende Wirkung hervor. Durch die Präsenz zweier jeweils eigene Zentren bildende Gesprächsgruppen entsteht hingegen eine dezentralisierte Komposition. Auch die Schrägperspektive verstärkt den Eindruck von Spannung und Dynamik. Eine Potenzierung dieser disharmonisierenden Effekte entsteht durch das Verhältnis der Betrachtenden zur Gruppe im Vorder161
grund: Der fehlende Blickkontakt und die Beobachtung aus der Vogelperspektive erzeugen eine Distanzierung, in Verbindung mit der konzentrierten Fokussierung der Gruppe und der Schrägperspektive erscheint der Beobachterblick aktiv und zudringlich. Eine Betrachtung der Mädchengruppe zeigt eine andere Variante einer distanzierten Begegnung. In der dokumentierten Kommunikation zwischen einer Ostberliner und zwei Westberliner Schülerinnen entsteht Distanz durch eine frontale Gegenüberstellung und der damit reproduzierten Aufteilung des Raums in vorne und hinten. Durch die Verortung im Klassenraum ist hiermit eine Übernahme von Schüler/innen und Lehrer/innen-Rollen verbunden. Die geschlossene, symmetrische Körperhaltung des solitären Mädchens, das die Blikke der beiden ihr gegenübersitzenden Schülerinnen auf sich vereint, unterstützt die strukturell bedingte Dominanz, die durch ihre hockende Haltung abgeschwächt wird. Mit den Betrachtenden wird kein Kontakt aufgenommen. Deutlich wird mit dieser Bildbetrachtung, dass zwischen den Beteiligten Versuche der Annäherung unternommen werden, aber keine auf Wechselseitigkeit beruhende, egalitäre Begegnung stattfindet. Dieses zeigt sich sowohl auf der Ebene der Dokumentierten als auch in der Blickkonstruktion der fotografierenden Ostberliner Schülerin. Die fokussierten Personen bleiben anonym und werden dennoch fixiert. Hierzu trägt auch das Beobachtungsmedium Fotografie als Medium der Dokumentation des „Dagewesenseins“ (Barthes) bei. „Annäherung im Zwielicht“ – Begegnung im Übergangsraum Die Flüchtigkeit der Sequenz erschwert es, die Szene zu fixieren. Die Aufnahme erzeugt den Eindruck eines umherschweifenden Blickes, der einen Augenblick verweilt und fokussiert, um dann weiter zu flanieren. Die Fixierung der Gruppe erscheint wie ein kurzer Moment der Aufmerksamkeit und Konzentration. Die bläuliche Farbgebung und die Unschärfe der Bilder verleihen der Szene eine surreale Atmosphäre. Die mit dem handgeführten Camcorder aufgenommene Szene von ca. 6 Sekunden Länge weist einen schnellen Schwenk auf, innerhalb dessen sich Perspektive und Einstellung ändern. Mit der ersten Einstellung entsteht eine Schrägperspektive und keine eindeutige Zentrierung eines Motivs. Die Figuren sind angeschnitten und bewegen sich aus dem Bildraum heraus. In der Blickkonzentration auf die Gruppe, 162
die in der Halbtotalen aufgenommen wird, entsteht eine zentralperspektivische Einstellung, die aber durch die Unschärfe nicht den Eindruck des totalen Erfassens der Situation erzeugt. Eine Aufmerksamkeitsbindung lässt sich am kurzen Verweilen des Blicks und der sich dann einstellenden Bildschärfe ablesen. Diese Veränderung geht mit dem Wandel von einer asymmetrischen, dynamischen zu einer symmetrischen Bildaufteilung einher, die dann wieder aufgelöst wird. Der Eindruck des Flüchtigen und der Nicht-Besitznahme wird sowohl durch das Gegenlicht als auch durch die Geräuschkulisse, in der kein eindeutig zu identifizierendes Sprechen zu erkennen ist, unterstützt. Die Sequenzfolge dokumentiert eine Begegnungssituation der Ost- und Westberliner Schülerinnen in einer Pausensituation im Treppenhaus. Ein informeller Charakter äußert sich auf verschiedenen Ebenen: Die beobachteten Schüler/innen sind auf individuell unterschiedliche Art und Weise beteiligt. Während einige Schüler/innen aktiv kommunizieren, nehmen andere nicht eindeutig definierte Beobachterrollen ein. Ein formeller Charakter entsteht durch die Ausstattung der Ostberliner Schüler/ innen mit Notizblock und Camcorder. Der durch die Kamera umgelenkte Blick der einen Schülerin und der gesamte informelle Charakter der Situation führt allerdings dazu, dass hiermit keine dominierende Position entsteht. Die beobachteten Schüler/innen sind in einer symmetrischen Kommunikation auf gleicher Augenhöhe begriffen. In der abstrahierten Darstellung wird deutlich sichtbar, dass die Schüler/innen eine Gruppe bilden, die miteinander kommuniziert. Auch auf der Ebene der Blickkonstruktion der Beobachterin äußert sich eine indifferente 163
Betrachtungsweise. Dazu trägt auch das verwendete Medium bei. Der digitale Camcorder erzeugt ein „Bewegungsbild“ (Deleuze), das nicht wie die Fotografie das „Dagewesensein“, sondern das „Dasein“ (Barthes) dokumentiert. Die handgeführte Kamera ermöglicht auch eine Dokumentation der Körperbewegung der Filmenden und somit ihrer Beteiligung an der Interaktion auf der leiblichen Ebene. Die Dokumentation eines schweifenden Blicks zeigt die Teilhabe an einer dynamischen Situation, bei der Bilder entstehen, die von Zeitlichkeit, Bewegung und Indifferenz statt von Fixierung und Statik geprägt sind. Folgen der Bild-Auslegung für die Praxis des untersuchten Projekts – Suche nach dem dritten Raum Mit dem vorgestellten Bildmaterial wurden zwei kontrastierende Begegnungssituationen aufgezeigt und zugleich der Versuch unternommen, hierbei nicht sich oppositional gegenüberstehende Situationen, die negative Übereinstimmungen aufweisen, zu präsentieren. Dies wäre möglich gewesen mit der Gegenüberstellung des ersten Bildes, das die Reproduktion von strukturell angelegten Hierarchien sichtbar machte, und eines Fotos, das die Umkehrung dieser hierarchischen Verhältnisse in einer Begegnungssituation im Treppenhaus im Anschluss an die Interaktion im Klassenzimmer dokumentierte: Die Westberliner Schüler präsentieren sich hier offensiv in Siegerpose und zerknüllen die Fragebögen, die die Ostberliner Schüler/innen zuvor im Klassenraum ausgeteilt hatten. Dahingegen konnte in der aufgezeigten Videosequenz eine Begegnungssituation aufgefunden werden, die auf der Ebene der Blickkonstruktion von Indifferenz geprägt ist und auf der Ebene der Darstellung einer Egalität zwischen den sich begegnenden Schüler/innen der beiden Schulen aufzeigt. Eine sprachliche Analyse einer Interviewpassage, in der eine Schülerin diese Situation schildert, weist Homologien zu dieser Charakterisierung sowohl in formaler als auch semantischer Ebene auf. Es dokumentiert sich hierin eine Situation, in der ein vorsichtiges Sich-Annähern auf allen Interaktionsebenen stattfindet, ohne dass stereotype Projektionen und strukturelle Hierarchien reproduziert werden. Die Auswertung zeigte auch, dass die Interaktion zwischen den Beteiligten sich situationsabhängig gestaltet und nicht essentialistisch auf geschlechtliche und kulturelle Zugehörigkeiten zurückzuführen ist. Im begleiteten Projekt resultierte aus dieser Auswertung zunächst die Reflexion über Rahmenbedingungen von pädagogisch initiierten Begegnungen 164
und über Möglichkeiten und Grenzen der Vorstrukturierung von informellen Räumen und der Förderung und Intensivierung der von den Jugendlichen selbst initiierten Begegnungsformen. Die Organisation weiterer Begegnungen zwischen den beiden Klassen war von der Absicht geprägt, informelle Räume zu schaffen und zur Kommunikation Medien zu verwenden, die weniger die Fixierung des Anderen sondern die wechselseitige Wahrnehmung ermöglichten. Die Schüler/innen produzierten u.a. fotografische Selbstbilder, die zur gegenseitigen Präsentation auf einer Website platziert wurden. Bei weiteren Bildproduktionen nahmen sie auf die jeweiligen Bilder der anderen Jugendlichen Bezug und traten so, zusätzlich zu einer diskursiv-sprachlichen Kommunikation mittels eines Diskussionsforums, auf einer präsentativ-piktoralen Ebene in einen Austausch. Des Weiteren entstanden Videobotschaften, die sich die Schüler/innen gegenseitig übermittelten. Informelle Räume wurden auch bei der direkten Begegnung der Schüler/innen ermöglicht, z.B. beim gemeinsam verabredeten Kochen. Aus der vergleichenden Bildanalyse lässt sich auch ablesen, dass der handgeführte Camcorder ein geeignetes Medium dafür zu sein scheint, um wechselseitig teilnehmende Blicke zu initiieren und mit dem „Bewegungsbild“ (Deleuze 1989) das Werden der Begegnungen zu dokumentieren. Nachfolgend wende ich mein Auslegungsverfahren auf ein mir von den Herausgebern zugesandtes Foto aus einem Projekt mit Jugendlichen aus Migrationskontexten an. „Stabiles Schweben“ Eindruck Auf den ersten Blick vermittelt das Bild den Eindruck von Klarheit und Energie und zugleich von Stille und Ferne, es harmonisiert nicht, sondern fordert heraus. Die rote Flagge bindet die Aufmerksamkeit als erstes, sie bildet einen starken Kontrast zur kühl wirkenden Hintergrundfläche. Ein rundes Medaillon mit einem Porträtfoto „schwebt“ im Raum, gehalten von der starkfarbigen Flagge und sie zugleich tragend.
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Der Schal, der mit einem ohne entsprechende Sprachkenntnisse nicht zu entziffernden Schriftzug versehen ist, fordert zum Lesen auf und lässt den Blick auf und abwärts gleiten. Ein Gefühl von Fremdheit und Neugierde stellt sich ein. Beobachtungen Eine analytische Betrachtung zeigt, dass das Bild von starken Farbkontrasten in der Konfrontation der Primärfarben Rot und Blau geprägt ist. Ausgleiche entstehen durch den braunen Korpus des Instruments, den orangefarbenen Schal und das weißfarbige Medaillon, das in farblicher Korrespondenz zu den Symbolen der Flagge und zur angeschnittenen Decke steht. Die Farbkontraste erzeugen auch eine farbperspektivische Wirkung: Die roten und braunen Bildelemente erscheinen näher als der entfernter wirkende blaue Hintergrund. Die Frontalperspektive unterstützt den Eindruck von Stabilität und Präsenz, was durch die gleichmäßige Schärfentiefe und die zentrale Ausrichtung des Lichts gesteigert wird. Die Untersicht bewirkt hingegen eine Instabilisierung der Beobachterposition und Distanz zum zentralen Motiv. Dieses erscheint einerseits monumentalisiert und zugleich entfernt. Das Porträtfoto als ein zentrales Motiv des Bildes lässt das Gesamtarrangement als Identifizierung der porträtierten Person mit türkischer Kultur erscheinen, auf die mit verschiedenen Attributen verwiesen wird. Dabei werden unterschiedliche kulturelle Ebenen angesprochen: So steht der mit dem Namen eines türkischen Fußballsclubs versehene Schal für aktuelle, populäre Kulturpraktiken, die Sitar verkörpert eine traditionelle kulturelle Praxis, mit der Flagge wird Nationalbewusstsein und damit eine Metaebene 166
angesprochen, die die Gesamtinszenierung rahmt. Das Porträt erfährt durch die spezielle Präsentationsform auf dem Medaillon eine Überhöhung seiner Bedeutung. Besonders durch die darüber angeordneten Symbole Stern und Sichel, die den Kopfbereich nach oben verlängern und begrenzen, entsteht eine Ähnlichkeit zur Heiligendarstellung in der christlichen Ikonographie. Wird das Porträtbild freigestellt, erscheint es wie von einer Gloriole umgeben. Zugleich lässt sich durch die starke Symbolhaftigkeit des Arrangements ein Bezug zur islamischen Ikonographie herstellen, in der transzendierte Bedeutungen traditionell nicht naturalistisch und figürlich, sondern mit Kalligraphie, Ornament und Schrift formuliert werden. Durch das Porträtfoto als Bild-im-Bild werden diese tradierten Bezüge überschritten und es entsteht ein selbstreflexives Moment, mit dem der Prozess des Darstellens selbst thematisiert wird. Damit wird eine reflexive ästhetische Strategie der Moderne angewendet. Auch in der Komposition des Bildes äußert sich eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Dynamiken. Einerseits entsteht mit der prinzipiell symmetrischen Aufteilung und der Betonung der Bildmitte eine Stärkung der statischen Wirkung. Die aus dem Bild hinausweisenden Elemente am rechten Bildrand bilden hierzu eine Gegenbewegung. Der Eindruck von Statik und Ausgewogenheit wird durch die gleiche Proportionierung von Flagge und Gesamtbild gefördert, außerdem schaffen die vertikal orientierten linken Bildelemente einen Ausgleich zur Betonung der Mitte und vermitteln mit dem Umraum. Die langgestreckte Form des Schals schafft eine Beziehung zum unteren Bildteil und gleicht den Eindruck des Schwebens aus.
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Spannungsreiche Kompositionen werden durch verschiedene Proportionierungen gebildet. Diese finden sich in den Verhältnissen von Decke zu Hintergrundfläche und von Porträtfoto zu Gesamtbild. Eine rhythmisierte Linie entsteht in der Korrespondenz von Porträt, Stern und Sichelform, womit entsprechend der Blickrichtung eine Aufwärtsbewegung motiviert wird, die im weißen Streifen der angeschnittenen Decke mündet. Der Stern bildet die geometrische Mitte des Gesamtbildes, die allerdings durch eine optische Mitte dupliziert wird. Diese entsteht durch die mittige Platzierung des Formensembles von Sichel, Stern und Porträt in der blauen Hintergrundfläche. Der Mittelpunkt dieses Formenensembles liegt etwas unterhalb des Sterns. Mit dieser Verdoppelung entsteht eine nicht eindeutig zu fixierende „bewegliche Mitte“. Skizzierung Das Bild ist von starken Kontrasten und von teilweise divergierenden Aussagen gekennzeichnet. Einerseits entsteht der Eindruck von starker Dynamik und Präsenz, andererseits erfährt der/die Betrachter/in durch die Wahl der Perspektive eine Distanz und Destabilisierung. Die Komposition ist von einer Betonung der Mitte gekennzeichnet, zugleich werden zwei optische Zentren umspielt. Sowohl der dominierende Farbkontrast als auch die Betonung der Mitte werden durch zwei weniger dominierende Bildelemente gebrochen. Ebenso wird die Aufteilung von „Figur“ – der Flagge als vorherrschendem Motiv – und „Grund“ – dem Hintergrund – durch das Porträt auf der kreisförmigen Form vermittelt. Dieses Porträt als Bild-im-Bild erhält durch die Kreisform einen Ausdruck von Ruhe und Geschlossenheit. Durch die Integration in das Formensemble und die selbstreflexive Verwendung erfährt es zusätzlich eine Transzendierung. Eine Mehrdeutigkeit zeigt sich auch in der kulturellen Identifizierung der porträtierten Person. Mit den dynamischen und dezentrierenden Elementen entsteht eine ambivalente Wirkung des Bildes, das zugleich von Zentralität, Stabilität und Präsenz und von Instabilität, Bewegung und Rhythmus geprägt ist. Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Aussagen führen zu einer Wirkung, die als „stabiles Schweben“ umschrieben werden kann.
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„Stabiles Schweben“ – Diverse Selbstpräsentation Eine „Ästhetische Annäherung“ an ein Foto, das in einem Projekt mit Jugendlichen aus Migrationskontexten entstanden ist, führte zu einer Charakterisierung, die ich mit der Bezeichnung „Stabiles Schweben“ umschrieben habe. Dies begründet sich aus der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher formaler und inhaltlicher Aspekte. Hierzu zählen sowohl perspektivische Wirkungen und Kompositionsmerkmale als auch Bezüge zur Ikonographie verschiedener Kulturen. Einerseits erfolgt eine transzendierte Darstellung einer porträtierten Person, die Strategien christlicher Bildsprache aufweist, andererseits ist dieses Porträt in ein Gesamtarrangement eingeordnet, das sich mit der islamischen Bildtradition kontextualisieren lässt, in der statt figürlicher Darstellungen, Kalligraphie, Ornament und Schrift verwendet werden. Insgesamt ergibt sich hieraus eine von Diversität geprägte spannungsreiche Ästhetik, die sich zugleich durch eine starke Präsenz auszeichnet. Durch die Präsentation des Porträtfotos im Bild entsteht eine Thematisierung von Bildlichkeit und hiermit eine selbstreflexive Ebene, die ein typisches Merkmal moderner und postmoderner Ästhetik darstellt. Diese Verdoppelung von Darstellungsebenen fordert die Betrachtenden heraus: Statt einer Identifikation mit dem Porträtierten im Bild findet eine Rückspiegelung des Blicks statt, womit der Prozess der Identifizierung und damit eine ergreifende Sinnestätigkeit, die zu Beginn dieses Beitrags als Charakteristikum des Apparatebildes bezeichnet wurde, hintergangen wird. Mit der Kunsthistorikerin Sigrid Schade kann auch von einem „Versagen der Spiegel“ (Schade 1992) gesprochen werden, das sie anhand von selbstreflexiven Selbstbildnissen von Künstlerinnen beschreibt. In der feministischen Kunstwissenschaft wird diese Darstellung als Indiz für einen Subjektstatus verstanden, der mit Prozessen der Selbstvergewisserung und Selbstbefragung verbunden ist und von einer unhinterfragten Selbstbespiegelung unterschieden werden kann (vgl. ebd.). Zugleich wird mit dieser Thematisierung von Blickkonstruktionen eine Verweigerung stereotypisierender Zuschreibungspraktiken realisiert. Die porträtierte Person zeigt sich und entzieht sich zugleich. Hinsichtlich dieser Strategie kann erneut auf die Künstlerin Valie Export hingewiesen werden, die mit Bild-im-Bild-Verfahren den Prozess der Repräsentation dekonstruiert. So zeigt sie in der konzeptuellen Fotoserie „Ontologischer Sprung“ von 1974 eine Ineinanderschachtelung von Darstellungsebe-
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nen. In dieser Bildserie kombiniert sie sequentiell fotografische Aufnahmen ihrer Füße mit den hierbei entstehenden Bildern in einem jeweils neuen Bild. In Bezug auf den Migrationskontext als einen Hintergrund der Bildproduktion des betrachteten Bildes kann von einer Darstellung als Nicht-Darstellung geprochen werden, die auf einen Prozess der Identifizierung als Nicht-Identifizierung verweist (Hall 1994): Verschiedene kulturelle Kontextualisierungen werden gleichzeitig angewendet, eine Identifizierung im Sinne einer Assimilierung wird jedoch nicht vollzogen. Trotz der Eröffnung möglicher Horizonte stellt sich mit der selbstreflexiven Darstellung eine Distanzierung ein. Hiermit findet eine Fomulierung eines komplexen kulturellen Selbstbilds (vgl. Flechsig 2002, 67) statt, das in einer von kultureller Vielfalt geprägten Lebenswelt als eine Voraussetzung für gelingende Identitätsbil-dungsprozesse verstanden werden kann. Das besprochene Bild zeigt eine Momentaufnahme dieses „Identitätsprojekts“ (Keupp 2004) als Ausbalancierung von Subjekt und Welt, das durch den fotografischen Prozess selbst in besonderer Art und Weise aktiviert wird: Die oben beschriebene metareflexive Ebene entsteht im Moment des Fotografierens des Arrangements, wodurch dieser ästhetische Prozess der Bilderstellung Potentiale für Identitätsbildungsprozesse entfaltet. Dieser ist nicht auf Homogenisierung und Stabilisierung, sondern auf Differenzierung und Prozessualität ausgerichtet und führt in der Selbstthematisierung im fotografischen Akt zugleich zur Erfahrung von Kohärenz. Zusätzlich entsteht ein kommunizierbares Selbst-Zeugnis, das auch die Betrachtenden zum Umgang mit einer ambivalenten Ästhetik auffordert. Dies vermittelt sich bereits im ersten Anblick des Bildes und wurde von mir als „Herausforderung“ beschrieben. Für die Betrachtenden entsteht eine Konfrontation damit, das aus dem Eigenen ausgeschlossene Fremde in der Verbindung mit dem Bekannten wahrzunehmen und hiermit einen Prozess der Selbstbefremdung zu erfahren. Damit finden auch hier Verknüpfungen von Selbst- und Weltbegegnung statt, die als kulturelle Praxis in zunehmend als hybrid und transkulturell verstandenen Kulturen (Welsch 1997, Wulf 2004) bedeutsam sind, auch wenn hiermit immer wieder Irritationen und Verunsicherungen verbunden sind.
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Bilder als Sinnbilder – Handlungsorientierungen durch präsentative Vermittlung in responsiven Forschungsprozessen Bei der vorgestellten Methode werden Bilder nicht nur zur Analyse der stattgefundenen Situationen verwendet, sondern dienen auch zur Vermittlung von Auslegungen. Dieses erweitert die Möglichkeiten einer ausschließlich sprachlichen Vermittlung. Mit der Verwendung von präsentativ-piktoralen Symbolen können komplexe Sachverhalte verdichtet kommuniziert werden; Bilder und Grafiken als Wahrnehmungsobjekte ermöglichen nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein ästhetisches Verstehen der Ergebnisse. Ein erweitertes Verständnis wird auch durch die Eigenschaft des Bildes ermöglicht, auf Sachverhalte nicht wie sprachliche Texte hinzuweisen, sondern diese zu beinhalten, zu „exemplifizieren“, wie Nelson Goodman in seiner Symboltheorie ausführt (Goodman 1997). Das Bild besitzt somit das Potential bei der Kommunikation von Forschungsergebnissen nicht als „Abbild“, sondern als „Sinnbild“ zu fungieren, woraus folgt, dass es in besonderem Maße dazu geeignet ist, die Initiierung von Handlungsorientierungen zu unterstützen. Joan-Carles Mèlich beschreibt das Sinnbild als mehrdeutigen ästhetisch konfigurierten Sinn und weist auf die Bedeutung des Sinnbilds innerhalb von Bildungsprozessen hin, die in jedem Fall von präsentativen Symboliken beeinflusst sind: „Es gibt keine Bildung ohne Sinnbild, und wenn, wie wir soeben gesagt haben, das Sinnbild der Hermeneutik gegenüber stets offen ist, dann hat auch die Bildung ein der grundlegenden Neuheit und der Überraschung gegenüber offener Prozess zu sein“ (Mélich 1999, 306). Werden Bilder innerhalb von responsiven Verfahren verwendet, ist es möglich, hierbei nicht lediglich „Rückmeldung“ über Forschungsergebnisse zu geben, sondern bei den Beteiligten Bildungsprozesse zu initiieren. Bilder können hierbei die Funktion der Schulung und Erweiterung von Wahrnehmung erfüllen. Hierbei werden Erfahrungen als Fremderfahrungen im Widerspiel von Konfrontation und Aneignung (Seel 1985, 82/83) initiiert und so Praktiker/innen und Initiator/inn/en von Programmen in ihrer Erweiterung und Veränderung ihrer Orientierungen und in ihrer Entwicklung von Handlungskompetenzen unterstützt. Literatur Arnheim, Rudolf (2000 [1965]): Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin und New York (de Gruyter).
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Peter Holzwarth
Fotografie als visueller Zugang zu Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund „Unser australischer Buschmann wäre außerstande, das Sujet des letzten Abendmahls zu erkennen; ihm würde es nur die Vorstellung einer erregten Tischgesellschaft vermitteln. [...] Wenn es sich um Darstellungen anderer Themen als biblischer Geschichten oder historischer und mythologischer Szenen handelt, die dem durchschnittlichen ’Gebildeten’ zufällig bekannt sind, sind wir alle australische Buschleute. In solchen Fällen müssen auch wir versuchen, uns mit dem vertraut zu machen, was die Urheber jener Darstellungen gelesen hatten oder sonstwie wußten.“ (Panofsky 1996, 45) “In short, context gives images meaning.” (Becker 1995)
In diesem Beitrag werden drei Fotos aus einem internationalen Forschungsprojekt über Medien und Migration interpretiert. Es handelt sich dabei um Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrung. Deutungen werden in erster Linie nicht nur vom Bild immanent ausgehend entwickelt, sondern auch durch Hinzuziehen verschiedener Kontextinformationen aus dem Projekt. Es wird die Relevanz projektinternen und externen Kontextmaterials für sozialwissenschaftliche Bildinterpretation verdeutlicht. Entstehungs- und Verwendungskontext der Bilder im internationalen EU-Projekt CHICAM – Children in Communication about Migration Die drei Fotos, die in diesem Beitrag interpretiert werden und die auch im Rahmen der Fachtagung „Bildinterpretation“ zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Bildanalyse gemacht wurden, entstanden im Kontext des internationalen EU-Forschungsprojekts CHICAM. Im Rahmen der Fachtagung präsentierten Forschende aus verschiedenen Arbeitszusammenhängen ihre Interpretationsmethoden, um sie dann jeweils auf eines der drei ausgewählten Fotos aus dem CHICAM-Projektkontext anzuwenden.1 Es wurde hierfür keine gemeinsame Fragestellung entwickelt, es war jedoch allen Interpretierenden bekannt, dass die Fotos im Rahmen eines Forschungsprojekts über Migration entstanden waren.2 175
CHICAM wurde von 2001 bis 2004 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und anderen Universitäten und Institutionen in London, Rom, Athen, Stockholm und Utrecht durchgeführt.3 Kinder mit Migrations- und Fluchthintergrund zwischen 10 und 14 Jahren arbeiteten über ein Jahr hinweg mit visuellen Medien (Fotografie und Video), gaben Einblicke in ihre Lebenswelten (Themenbereiche: Familie, Peer-group, Schule, Mediennutzung) und tauschten ihre Videos über ein projektinternes Intranet aus. Die Produktionen, die von erfahrenen Medienpädagogen begleitet wurden, konnten jeweils von den Kindern und Jugendlichen der anderen Länder über das Internet angeschaut und kommentiert werden. CHICAM verfolgte das Ziel, das Potenzial neuer Medien für interkulturelle Kommunikation, Reflexion und Integration zu untersuchen (Holzwarth & Maurer 2003a; de Block et al. 2004). Das Praxisforschungsprojekt verband eine ethnografisch-lebensweltliche Dimension mit einer medienpädagogischen Dimension. Die ethnografische Dimension diente der Erkundung der Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen mittels Medienproduktionen, teilnehmender Beobachtung, Einzel- und Gruppengesprächen. Im Rahmen der medienpädagogischen Dimension wurden vor allem Chancen einer audiovisuellen Kommunikation 1
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Ähnlich wurde 2002 auf der Tagung “Research Questions and Matching Methods of Analysis“ des Zentrums für qualitative Psychologie (Universität Tübingen) vorgegangen. Das erste Kapitel aus Cervantes Don Quijote wurde aus der Perspektive verschiedener Auswertungsmethoden interpretiert (vgl. Kiegelmann & Gürtler 2003). In Bezug auf Fragestellungen kann unterschieden werden: Was erfahren wir anhand des Fotos über den Bildproduzenten und seine Lebenswelt? Und: Was erfahren wir über den abgebildeten Gegenstand bzw. die abgebildeten Personen und ihre Lebenswelt? Ebenso kann gefragt werden: Welche Bedeutung hat das Bild für den Bildproduzenten? Und: Welche Bedeutung hat das Bild für die abgebildeten Personen? In manchen Fällen gehören Bildproduzent und Abgebildete Person demselben sozio-kulturellen Milieu an (wie im Projekt CHICAM); in anderen Fällen handelt es sich um unterschiedliche Milieus. Weitere Informationen, Abschlussberichte, Eigenproduktionen und ein 10minütiger Projektfilm sind auf http://www.chicam.net zugänglich. Auf http:// www.ph-ludwigsburg.de/medien1/chicam/ sind deutschsprachige Informationen zu finden. Das Projekt CHICAM wurde von Prof. Dr. David Buckingham und Dr. Liesbeth de Block (University of London, Institute of Education) koordiniert. In Deutschland lag die Projektleitung bei Prof. Dr. Horst Niesyto (PH Ludwigsburg, Abteilung Medienpädagogik); der lokale CHICAM-Club wurde von Dipl.-Päd. Peter Holzwarth (wissenschaftlicher Mitarbeiter) und von Dipl.Päd. Björn Maurer (Medienpädagoge) begleitet. Die Finanzierung von CHICAM erfolgte durch das 5. Rahmenforschungsprogramm der EU.
mittels Fotografie, Video und Internet erprobt und erforscht. Außerdem wurden medienpädagogische Praxiskonzepte für Kinder und Jugendliche mit Migrationskontext weiterentwickelt (Maurer 2004). Die Produktionen der Kinder und Jugendlichen wurden unterschiedlichen Öffentlichkeiten zugänglich gemacht, um im sozialen Umfeld, in lokalen Institutionen (z.B. Schulen) und in politischen Institutionen ein stärkeres Bewusstsein für die Lage von Kindern aus Migrations- und Fluchtkontexten zu schaffen. Die visuellen Ausdrucksformen Fotografie und Video stellten eine wichtige Ergänzung zu verbalen Erhebungsmethoden dar. Dies war insofern hilfreich, als die Kinder und Jugendlichen sich noch im Prozess des Zweitspracherwerbs befanden. Grundlage von Interviews zu den Bereichen Peer-group, Familie, Schule und Mediennutzung waren Fotos, die die Kinder zu den genannten Themen mit Einwegkameras selbst produziert hatten. Die drei Fotos wurden speziell für die Tagung aus einem Bestand von insgesamt 512 Einwegkamerabildern ausgewählt (insgesamt wurden 25 Einwegkameras an die Kinder ausgegeben). Es ist wichtig zu betonen, dass diese Auswahl prinzipiell von einer Auswahl für Analysen im Rahmen von Forschung zu differenzieren ist. Bei der Auswahl wurde berücksichtigt, dass keine Bilder gewählt wurden, die die Privatsphäre verletzen könnten, dass die Bilder zugänglich sind und zu Interpretation einladen, dass sie ein möglichst breites Themenspektrum (Menschen, Objekte, lebensweltliche Aspekte) abdecken und dass Kontextinformationen verschiedener Art vorhanden sind, die für die Interpretation herangezogen werden können. Im Rahmen des Projekts CHICAM konnten Kontextinformationen auf verschiedenen Ebenen erhoben werden. Generell kann zwischen projektinternen Kontextinformationen und externen Kontextinformationen unterschieden werden:
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Projektinterne Kontextinformationen
Externe Kontextinformationen
– Entstehungskontext der Bilder – Allgemeines Wissen über Kind– Alter, Geschlecht, Herkunft und heit, Jugend, Migration, FamiMilieu der Produzierenden lie, Peer-Beziehungen, Schule, – weitere Fotos (EigenproduktioMilieus, Kulturen und Nationen) nen – Videos/Filme (Eigenproduktio- – Fachliteratur nen) – Externe Experten – Audio-visuelles Dokumentationsmaterial – Notizen aus dem Feldtagebuch – Selbstaussagen der Produzentinnen und Produzenten (Interviews, Gruppendiskussionen) Die Einwegkamera-Fotografie wurde über das Projekt „Tagesablauf“ eingeführt. Der Medienpädagoge zeigte seinen eigenen Tagesablauf in Standbildern als Modell und bat die Kinder und Jugendlichen ihre Tagesaktivi-täten zu fotografieren bzw. fotografieren zu lassen. Dieses erste Projekt war noch relativ stark durch den Medienpädagogen strukturiert und alle CHICAMClubteilnehmer produzierten eine Bilderserie. Weitere Einwegkamera-Projekte zu den Themen Freundschaft, Familie und Schule waren individualisierter und offener. Sie gaben den Kindern und Jugendlichen noch mehr Raum, speziellere Themen zu bearbeiten und zu experimentieren. Manche waren dabei immer wieder motiviert, Aufnahmen zu machen, andere dagegen hielten sich zurück. In zwei Fällen wurden Einwegkameras auch bei Besuchen in die Herkunftsländer mitgenommen (Tunesien und Türkei). Produzenten der Fotos waren in den meisten Fällen die Kinder und Jugendlichen selbst, bei Bildern, auf denen sie selbst zu sehen sind, aber auch Eltern, Geschwister und Freunde. Wer jeweils genau den Auslöser betätigt hat, konnte zum Teil in Interviews rekonstruiert werden. Die Einwegfotos spielten im Rahmen des Projekts auf verschiedenen Ebenen eine Rolle: Bilder aus dem Projekt „Tagesablauf“ wurden in ein Video integriert, indem sich die Kinder und Jugendlichen den anderen CHICAM-Partnergruppen vorstellten, in dem sie zeigten wo sie leben und was sie mögen. Auf der Grundlage der Einwegkamera-Bilder wurden im Sinne von „fotogeleiteter Hervorlockung“ (Harper 2000, 414) bzw. ‚photo-elicitation’ 178
(Hurworth 2003) Bild-Interviews geführt.4 Die Fotos einer Kamera, die zumeist einem allgemeinen Thema wie Freundschaft oder Familie zugeordnet werden konnten, wurden auf dem Tisch ausgebreitet und die interviewten Kinder/Jugendlichen kommentierten und erklärten die Bilder. Der Forscher konnte zu bestimmten Aspekten nachfragen. Die so entstandenen verbalen Selbstaussagen5 können wiederum als Kontextmaterial der Interpretation hinzugezogen werden, denn Fotos eignen sich nicht nur unterstützend für die Erhebung weiteren verbalen Materials, sondern sie können auch als eigenständige Daten behandelt und gedeutet werden. Pilarczyk und Mietzner haben diese Dimension eindrücklich beschrieben: „Verschiedene Shelljugendstudien benutzten Fotografien (vgl. z.B. Jugendwerk der Deutschen Shell, Jugend ’92), die auf jugendlichen Selbstausdruck verweisen – Zimmereinrichtungen, Kleidung etc. Vor allem enthalten diese Aufnahmen auch Ausdrucksmomente, die so komplex sprachlich nicht vermittelbar sind. Da Sprache ohne-hin nicht das wichtigste Ausdrucksmittel von Kindern und Jugendlichen ist und deshalb Fragebogen und Interviews nicht an alle ihre Vorstellungen reichen, liegt darin ein unschätzbarer Vorteil der Fotografie für die Kinder- und Jugendforschung. Darüber lässt sich ihre Lebenswelt erforschen und Fotografien aus der Perspektive der Jugendlichen selbst vermitteln Einblicke in ihre innere Vorstellungswelt und lassen sich als Dokumente jugendlichen Selbstausdrucks auswerten.“ (Pilarczyk & Mietzner 2003, 32)
Die Bilder wurden auch für Ausstellungen genutzt sowie für Illustration und Veranschaulichung in Publikationen und Präsentationen. Bildinterpretationen Bevor auf die drei Fotos näher eingegangen wird, soll in Anlehnung an Panofsky und dessen Weiterentwicklungen (siehe Bohnsack, Niesyto und Marotzki & Stoetzer in diesem Band) mit dem folgenden Schema eine möliche Abfolge von Schritten für kontextbezogene Bildinterpretation skizziert werden: 4
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Im Kontext fotogeleiteter Hervorlockung kann von Forschern ausgewähltes bzw. speziell hergestelltes visuelles Material präsentiert oder aber Produktionen der Forschungssubjekte selbst verwendet werden (Eigenproduktionen oder Bilder aus dem Privatbesitz der Subjekte, z.B. Familienfotos). Im Rahmen von CHICAM wurden auch Interviews auf der Grundlage mitgebrachter Fotos aus dem Herkunftsland durchgeführt. Die Bedeutung von Selbstaussagen der Produzenten bei der Interpretation von Eigenproduktionen wird beispielsweise von Norbert Neuß (2000) und David Gauntlett (2004) betont. 179
Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen Je nach Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen werden Daten und Kontextinformationen erhoben. 1) Auswahl der zu interpretierenden Bilder (je nach Forschungsfrage) (Einzelbildanalysen, Serienanalysen, personenbezogene Fallanalysen, thematische Analysen oder Kontrastierungen incl. entsprechende Kontrast- und Vergleichsanalysen)
Projektinterne und externe Kontextinformationen
2) Ersteindrucksanalyse Um die Subjektivität des Forschenden zu nutzen aber auch zu kontrollieren, werden spontane Assoziationen, Gedanken und Gefühle zu den Bildern entwickelt und niedergeschrieben (vgl. Denzin 2000, 427).
Produktionskontext Produktionszeitpunkt, Produktionsort, Verwendungskontext (pädagogischer Entstehungskontext, nicht pädagogischer Entstehungskontext, Aufgabenstellung, Motivation, Intention)
3) Formale und deskriptive Analyse Die dargestellten Elemente werden beschrieben und benannt (um das Bild in seiner Ganzheit wahrzunehmen, um Beziehungen zwischen Form und Bedeutung zu untersuchen und um zu verhindern, dass relevante Bildelemente übersehen werden). 4) Generierung von Lesarten und Deutungen (zunächst unter Ausklammerung, später auch unter Einbezug der Kontextinformationen)
5) Differenzierung nach plausiblen und wenig plausiblen Deutungen anhand von Kontextinformationen Welche Deutungen lassen die Bilder über den Gegenstand letztendlich zu?
Produzenten (Alter, Geschlecht, Herkunft/Milieu)
Weitere visuelle Quellen (Fotos, Videos, Objekte) Weitere verbale Quellen (Interviews, Feldnotizen, Selbstaussagen der Produzierenden, wissenschaftliche Literatur) Fachwissen von externen Experten (z.B. Angehörige einer Kultur bzw. Subkultur)
Abbildung 1: Arbeitsschritte für kontextbezogene Bildinterpretation
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Im Rahmen des 4. Schritts werden zunächst unter Ausklammerung, später auch unter Einbezug der Kontextinformationen, Lesarten entwickelt. Über das Ausklammern von Kontextinformationen kann man unter Umständen zu Lesarten gelangen, die sich sonst nicht generieren ließen. Dazu Beck: „Kenntnisse über den Kontext eines Fotos (situationsspezifische oder solche allgemeiner Art) sollten nicht dazu genutzt werden, – vielleicht vorschnell – mögliche Lesarten auszuschließen. Andernfalls würde die Gefahr eines subsumtionslogischen Vorgehens bestehen.“ (Beck 2003, 64)
Auf der anderen Seite kann der Einbezug von Kontextinformationen Deutungen ermöglichen, die den Forschenden ansonsten verschlossen blieben. Das Einbeziehen von externen „naiven“ Betrachtern ist insbesondere dann wichtig, wenn – wie bei ethnographisch orientierten Projekten oft der Fall – die Forschenden stark in den Entstehungsprozess der Fotos involviert waren und wenn umfangreiches Wissen über die Lebensumstände der Forschungssubjekte bekannt ist. Vom vorhandenen Wissen zu abstrahieren, eine gleichsam „künstlich“ naive Haltung einnehmen und Lesarten zu entwickeln, obwohl im Hintergrund Kontextinformationen stehen, die diese eher widerlegen, fordert Disziplin seitens der Forschenden. Bohnsack spricht in diesem Kontext von „Suspendierung von Vor-Wissen bzw. der Suspendierung der mit diesem Vorwissen verbundenen Geltungsansprüche auf faktische Wahrheit…“ (Bohnsack 2003b, 163). Es kann auch von Vorteil sein, eine Person in der Forschungsgruppe zu haben, die mit weniger Kontextwissen ausgestattet ist. Bei den folgenden drei Bildinterpretationen ist die formale6 und deskriptive Analyse sehr knapp gehalten. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Lesarten, die durch das Hinzuziehen von Kontextinformationen generiert werden können.
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Auf der Fachtagung Bildinterpretation wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, ob eine Formalanalyse in Anbetracht umfangreicher Kontextinformationen überhaupt benötigt wird. Wie bereits im Schema erwähnt, ist der formale deskriptive Analyseschritt wichtig, um das Bild in seiner Ganzheit und Eigenständigkeit wahrzunehmen, um Beziehungen zwischen Form und Bedeutung zu untersuchen und um zu verhindern, dass relevante Bildelemente übersehen werden. 181
Bild I: Saz, Schaal, Flagge und Foto
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Analysen und Interpretationen zu Bild I Auf dem hochformatigen farbigen Bild sind von links nach rechts vier Objekte zu sehen, die an einer grau-blau strukturierten Fläche angebracht sind: Ein angeschnittener länglicher brauner Gegenstand, ein orange-roter Schaal mit der Aufschrift „GALATASARAY“, einer türkischen Nationalflaggensymbolik am untern Teil des Bildes und einer Buchstabenkombination „GS“ am oberen Teil, sowie eine türkische Flagge im Hochformat und ein Portraitfoto.7 Das Portraitfoto zeigt eine Person mit kurzen braunen Haaren und ist von einem runden Objekt abgedeckt bzw. eingerahmt. Möglicherweise handelt es sich um einen transparenten Plastikverschlussdeckel.8 Im rechten Winkel zur grau-blauen Fläche schließt sich eine weitere Fläche an, die aus weißen kachelförmigen Elementen mit jeweils aufgesetzten Achtecken besteht. Die Aufnahme stammt aus einer Serie mit Aufnahmen über Familie und Schule von Hakan9, einem 13-jährigen Jungen aus der Türkei. Das Foto entstand in der Wohnung des Jungen; es handelt sich um die Wanddekoration über seinem Bett. Die Analyse des Kontextmaterials eröffnet verschiedene Bezüge zum Bild. Es existieren sowohl weitere Fotos, die sich auf das zu interpretierende Bild beziehen, als auch verbale Aussagen des Produzenten.
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Eine weiße Mondsichel neben einem weißen Stern auf rotem Grund kann von Menschen, die mit dem entsprechenden kulturellen Kapital ausgestattet sind ohne weiteres als türkische Nationalflagge identifiziert werden. Es handelt sich um eine hoch konventionalisierte globale oder kulturübergreifende Symbolik (vgl. Holzwarth & Maurer 2003b, 161). Um dagegen den angeschnittenen länglichen bräunlichen Gegenstand als das türkisch-kurdische Saiteninstrument „Saz“ zu identifizieren, bedarf es zumindest außerhalb der Türkei kulturspezifischen Deutungswissens. Hier sind wir – mit Panofsky gesprochen – alle „australische Buschleute“ (s. Eingangszitat, Panofsky 1996, 45). Ganz ohne kulturspezifisches Deutungswissen ist keine Bildinterpretation möglich. Es stellt sich jedoch die Frage, auf welcher Abstraktionsebene sich die Deskription vollziehen soll und welche Vor- und Nachteile für die je spezifische Forschungsarbeit damit verbunden sind. Liegen die zu untersuchenden Bilder in digitaler Form vor, so kann es in bestimmten Fällen hilfreich sein, über Vergrößerungsfunktionen in Bildbearbeitungsprogrammen Details hervorzuheben. Dies ist bei Papierbildern bis zu einem bestimmten Grad auch mit Vergrößerungsgläsern möglich. Die Namen wurden geändert. 183
Eine Sichtung aller Fotos von Hakan zeigt, dass die Saz und die Fahne auch auf anderen Fotos zu sehen sind. Dies deutet darauf hin, dass diese Objekte für ihn Bedeutung haben.
Abbildung 2: Hakan vor Saz und türkischer Flagge
Abbildung 3: Hakan mit Saz 184
Abbildung 4: Saz, Computermonitor und türkische Flagge
In der Produkton „Tragoudi“10 aus dem CHICAM-Club in Athen rezitiert ein Mädchen in griechischer Sprache und wird dabei von einem Jungen mit der Saz begleitet. Als dieser Film über das Intranet zugänglich gemacht wurde und Hakan die Möglichkeit bekam, ihn anzuschauen, war er begeistert. Er schrieb den beiden Produzenten folgende Rückmeldung:
10 Der Film kann über die Projektseite http://www.chicam.net angesehen werden (http://www.chicam.net/videos/media/greece/tragoudi.html). 185
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Hakan Germany 28/05/03
hallo B. und S. Hallo! Sarsspiel ist sehr gut. Wo hast du gelernt Sarsspiel? Du spilst sehr gut Sarsspiel wie Profi Wieso sprichst du nicht türkisch von die Sarsspiel? Warum singst du nicht auf türkisch? Sing 2 oder 3 mal auf türkisch. Tschüss Hakan
Abbildung 5: Intranet-Message aus Deutschland nach Griechenland aus dem CHICAM-Intranet
Auch bei einer Filminterpretation in der Gruppe waren Hakans Bewertungen positiv. Dies deutet ebenfalls auf Bedeutsamkeit hin. In einem Interview, das auf der Grundlage von Fotos geführt wurde, macht Hakan folgende Aussagen zu den Objekten: Peter: Wie war des mit der Saz, kannst du? Hakan: Hmm, mein Vater will, du gehst Saz-Kurse, dann sag ich „nein“. Peter: Du willst nicht. Hakan: Ja Peter: Und warum willst du nicht? Hakan: Weil so schwer. […] Peter: Und dann is mir noch die türkische Flagge aufgefallen... Hakan: Ja Flagge und das ist... Peter: Wer hat die aufgehängt bei euch in der Familie? Hakan: Ich Peter: Du Hakan: Mein Vater hat gekauft bei mir und die spie spielt ein Mannschaft wissen türkisch und Deutschland Brasilien. [...]
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Peter: Und was bedeutet das? Hat des ne besondere Bedeutung für dich die Flagge? Also warum hast du die aufgehängt? Hakan: Weil der andere die andere Mann sagt so bist du türkisch äh du bist russisch, der weis so. Der andere Junge sagt so bist du russisch, der andere sagt bist du englisch? Bist du und so weiter bist du deutsch immer sagt er. Ich sage nein ich bin türke „ach“ der sagt so aber der der will du bist doch tü nicht türkisch du bist russisch. [...]
Dieser Interviewausschnitt kann dahingehend gedeutet werden, dass Hakan die Flagge benutzt, um sich selbst gegenüber anderen kulturell zu verorten und zu positionieren (auch um lästigen Fragen zu entgehen). Ein Standbild aus einer Videoproduktion über das eigene Zuhause zeigt den weiteren Kontext im Zimmer und die Positionierung der Objekte über Hakans Bett.
Abbildung 6: Hakans Bett (Standbild aus Hakans Film über sein Zuhause)
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Hakan teilt sein Zimmer mit seiner drei Jahre älteren Schwester und seinem zwei Jahre älteren Bruder. In einem der Interviews äußert er sich zum Thema Wohnsituation: „Meine Schwester bleibt andere Ecke, mein Bruder bleibt andere Ecke und bleibe ... ich bin Mitte, hehe.“ (Interview Hakan) In diesem Kontext kann die Positionierung der Objekte als Raumaneignung, Territorialmarkierung und Personalisierung gedeutet werden (vgl. Graumann 1996, 128).11
Abbildung 7: Dekoration über dem Bett von Hakans Schwester (Standbild aus Hakans Film über sein Zuhause) 11 Prozesse der Personalisierung von Raum können in verschiedenen Kontexten beobachtet werden, vor allem dann, wenn es darum geht, das Eigene gegenüber dem Kollektiven hervorzuheben: Der neue Mitarbeiter im Großraumbüro gestaltet sich seinen Arbeitsbereich mit Fotos, Bildern und persönlichen Objekten oder die Tür des neuen Spindes wird innen und außen mit Aufklebern und Bildern versehen. Auch das Anbringen von Graffiti im öffentlichen Raum kann in diesem Zusammenhag gedeutet werden (Holzwarth 2001a, 86). 188
Ähnlich wie Hakan markiert und personalisiert auch seine Schwester ihren Teil des Zimmers mit Postern, Fotos und Stoffherzen. Das Bild kann auch unter dem Aspekt Identifikation betrachtet werden. Es fällt auf, dass Hakan Objekte fotografiert hat, die stark mit kultureller und nationaler Bedeutung aufgeladen sind und auf sein Ursprungsland Türkei verweisen. In anderen Lebensbereichen wurde deutlich dass er sich stark an globalen jugendkulturellen Symbolwelten orientierte (s. unten) und auch sein aktuelles Aufenthaltsland Deutschland sehr bedeutsam für ihn war. Beispielsweise war ihm das schnelle Erlernen der deutschen Sprache extrem wichtig: „Ich will ganz gut ich will ganz gut Deutsch sprechen kann, wenn ich nicht Deutsch sprechen kann dann ist schlecht. Mein Deutsch ist nicht perfekt, du weißt schon.“ (Interview Hakan). Vor einem Besuch in der Türkei äußerte er die Befürchtung, dass die Reise und das damit verbundene Türkisch sprechen seiner Deutsch-Sprachentwicklung schaden könnte. Seine Situation bzw. seine kulturelle Praxis (Kleidung, Musik, Sprache) kann als kulturelles Ausbalancieren von mehrfachen Zugehörigkeiten anhand von verschiedenen symbolischen Ressourcen gedeutet werden. Die symbolischen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, lassen sich grob in drei Gruppen differenzieren (s. Abbildung 8): Eine globale Symbolwelt, die aufgrund weltweiter Kommunikation und Vermarktung vielen Menschen unabhängig von nationaler Herkunft zugänglich ist, die Symbolwelt „Deutschland“ und die Symbolwelt „Türkei“, die ihm über Medien, Reisen und die „ethnic community“ in Deutschland zugänglich ist.12 Indem die Kreisflächen überschneidend dargestellt werden, kommen – heuristisch gesehen – die verschiedenen möglichen Mischungs- und Überlagerungsverhältnisse in den Blick. Wichtig ist im Rahmen des Modells auch, die Dynamiken von Ausbalancierungsprozessen zu berücksichtigen.
12 Hakans Schwester hat ihre Ecke im Raum unter anderem mit drei roten Stoffherzen markiert. Ein Herz mit der Aufschrift „Ich liebe dich“, eines mit „I love you“ und ein drittes mit „Seni Seviyorum“ (ich liebe dich auf Türkisch) Interessanterweise verkörpern die Herzen die drei symbolischen Ressourcen lokale Symbolwelt, globale Symbolwelt und Symbolwelt der Herkunftskultur. 189
Globale Symbolwelt z.B. Hip-Hop-Kultur, Kleidung, Rap-Musik, Posen
Symbolwelt „Deutschland“ z.B. deutsche Sprache, Freunde aus Deutschland, „ich liebe Deutschland“
Symbolwelt „Türkei“ z.B. Saz, Türkei-Flagge, Galatasaray-Schal, türk. Musik, türk. Sprache
Abbildung 8: Symbolische Ressourcen (global, lokal, Herkunftsland) und deren Überschneidungen
Tendenziell zeigen sich bei Hakan Elemente der Symbolwelt „Türkei“ stärker im privaten Bereich, Aspekte der globalen Symbolwelt und der Symbolwelt „Deutschland“ werden eher in der Öffentlichkeit deutlich. In einem späteren Interview, bei dem Projektergebnisse rückgemeldet und diskutiert wurden, berichtete Hakan, dass sich seine Zimmergestaltung verändert hat: Hakan: Ganze Zimmer hab ich auf Autos da da da alle, ganze Zimmer wenn du reingesch, mato da sind voll viele Autos. Peter: Und keine türkischen Sachen mehr? Hakan: (verneinender Schnalzlaut) Peter: Wieso des? Hakan: Für Autos. Ich mag Autos deswegen. Ja jeder weiß es dass ich Türke bin also dazu brauch ich nimmer hehe. Deswegen hab ich Autos reingetan. Peter: Du hattest des aufgehängt, damit Leute wissen, dass du Türke bist? Hakan: Ja Peter: Ja? Hakan: mhm Peter: Aber des war doch in dein Zimmer und da waren nur Nesehat und Cyneit [Bruder und Schwester] und die wussten des ja eh.
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Hakan: Ja aber manchmal kommt mein Freund bei mir die kucken die so „Mato was isch des?“, Ich so „ja Zimmer“. […] Peter: Und jetzt wenn man in dein Zimmer kommt dann sieht man nicht mehr Türkei… Hakan: Autos nur Autos. Peter: Aber alles von Deutschland? Hakan (gleichzeitig): Ich hab des Saz noch. Peter: Saz hast du noch? Hakan: Des hängt ähh auf die Ecke. Peter: Und die Türkeifahne? Hakan: Oh des des hab i, des hab ich auch aufgehängt Peter: Hängt auch noch. Hakan: Ja aber des hängt irgendwo anders. Also da alles sind Autos da oben habe ich kleines Teil gelassen für Tüke Türkei. Peter: Was hängt da noch? Hakan: Türkische Flagge, also alles verschoben, gemischt. Peter: Und was denkt jetzt jemand, der in dein Zimmer kommt? Hakan: Nix, jeder guckt ‚mato was für Autos sind die’. (Interview Hakan)
Objekte die auf die Türkei verweisen sind zwar immer noch vorhanden, sie haben jedoch gegenüber den neu aufgehängten Autopostern eine geringere Bedeutung. Die kulturelle Verortungsfunktion der national konnotierten Objekte (türkische Flagge, Saz) scheint keine große Rolle mehr zu spielen. Auffällig ist, dass sich Hakan mit seinem Interesse an Autos auf ein Terrain begibt, das von vielen männlichen Jugendlichen unabhängig von nationaler Herkunft geteilt wird. In gewisser Weise kann die Dekoration eines Zimmers als (momentane) Visualisierung von Identifizierungen, Zugehörigkeiten oder Identitätsbausteinen verstanden werden.13 Das Beispiel zeigt, dass die drei Ressourcen und deren Mischformen in bestimmten Lebensphasen, in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten und je nach biographisch relevanten Themen und subjektiven Deutungs- und Orientierungsmustern unterschiedlich starke Rollen spielen. 13 Diese Perspektive eröffent auch die Theorie der symbolischen Selbstergänzung (Wicklund & Gollwitzer 1982; Holzwarth 2001b) 191
Bild II: Mädchen und Junge
Analysen und Interpretationen zu Bild II Auf dem querformatigen farbigen Bild sind zwei Personen und – ganz rechts unten – die Hand einer dritten Person zu sehen. Ein Mädchen mit bläulich gemustertem Kopftuch, nur die Haare bedekkend14, hellrosafarbenem Rollkragenpullover, blauen Jeans und blau-schwarzer Jeansjacke sowie ein Junge mit weißem asymmetrisch getragenem Sonnenschutz, schwarzem Hemd, schwarz-grauen Jeans, schwarzen Schuhen und einem Schlüsselanhängerband mit der sichtbaren Aufschrift „FREE“. Beide Personen haben dunkle Augen und dunkle Augenbrauen. Sie fixieren die Kamera. Der Gesichtsausdruck des Mädchens ist eher ernst, der des Jungen zugewandt und lächelnd. Der Junge ist leicht nach vorne gebeugt und hat seinen rechten Unterarm auf der linken Schulter des Mädchens abgelegt. Sein rechtes Bein liegt waagerecht 14 Bei einer anderen Form des Kopftuchtragens werden die Haare und Hals vollständig bedeckt, so dass nur das Oval des Gesichts sichtbar bleibt. Diese Form konnte im CHICAM-Club ebenfalls vorgefunden werden. Bei Serife waren beide Formen zu sehen. 192
auf dem Knie seines linken Beines. Sein linker Unterarm ruht auf dem angewinkelten rechten Bein. Das Mädchen hat beide Arme am Körper angelegt, ihre Hände liegen auf ihren Oberschenkeln. Im Hintergrund sind ein weißer Plastikzirkel, ein Plastik-Geometrie-Dreieck, ein Plastiklineal, eine heruntergefahrene Schultafel mit eingeklappten Seitenflügeln und ein Stuhl mit bemalten Steinen15 zu sehen. Die Aufnahme stammt aus einer Serie mit Aufnahmen aus Deutschland und Tunesien von Mustafa, einem 14-jährigen Jungen aus Tunesien. Das Foto entstand im CHICAM-Club, gleich nachdem neue Einwegkameras an die Kinder verteilt wurden. Es ist anzunehmen, dass die Ausgabe der Kamera einen hohen Aufforderungscharakter für manche Kinder und Jugendliche hatte. Einwegkamerafotos wurden mehrere Male auch während der CHICAM-Club Treffen gemacht. Besonders interessant erscheint das Bild im Hinblick auf (jugend)kulturelle Symbole. Bei dem Jungen (Hakan) ist die Orientierung am gesellschaftlichen Symbolvorrat der Hip-Hop- Kultur auffällig (Mütze und Band mit Schlüsselanhänger) und bei dem Mädchen (Serife) das Kopftuch. Auch andere Bilder verweisen auf die jugendkulturelle Orientierung an Hip-Hop. Im Rahmen eines Mediencollagen-Projekts entstand ein PolaroidBild, auf dem sich Hakan in einer bewusst coolen Pose darstellt: breitbeiniger Stand, Daumen in den Hosentaschen, Kopf leicht zur Seite geneigt (Abb. 9). Ein ähnliches Selbstportrait entstand auch im Rahmen seiner Tagesablaufserie (Abb. 10). Der Vergleich mit einem Bild des Sängers „50 Cent“ (Abb. 11), den Hakan mag und dessen Musik er auch für einen seiner selbstproduzierten narrativen Filme ausgewählte, unterstreicht seine Orientierung an der globalen Symbolwelt des „Hip-Hop“.
15 Es handelt sich dabei um sechs runde bemalte Kieselsteine, die mit den farbigen Buchstaben des Projekts „C“, „H“, „I“, „C“, „A“, „M“ beschriftet wurden. Eines der weiblichen Clubmitglieder hatte sie gebastelt und zu einem Treffen mitgebracht. Sie geben einen Hinweis auf ihre hohe Identifikation mit dem Projekt. 193
Abbildung 9: Polaroid-Sofortbild aus Hakans MedienKollage
Abbildung 10: Foto aus Hakans Tagesablauf-Serie
Abbildung 11: Der US-amerikanische Rapper „50Cent“16
Vergleicht man die schwarze Mütze des Rappers 50 Cent (Abb. 11) und die weiße Mütze des Rappers „Ja Rule“ auf Hakans Medienkollage (Abb. 12) mit der Art wie er seine weiße Mütze trägt (Bild II), so fallen stilistische Übereinstimmungen auf. Abbildung 12: Hakans Medienkollage
16 Quelle: http://www.blagmagazine.com/50_Cent.html 08.12.2004] 194
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Aus verschiedenen Interviews und Diskussionen wurde deutlich, dass das Kopftuch-Tragen für Serife, das Mädchen links im Bild ein zentrales Thema war. Zeitweilig musste das 16-jährige Mädchen mit kurdischem Migrationshintergrund gegen ihren Willen ein Kopftuch tragen.17 Phasen der graduellen Freiheit, in denen sie es sich erkämpft hatte, kein Kopftuch tragen zu müssen, wurden von Phasen der Unfreiheit abgewechselt. Wie die folgenden drei Interviewbeispiele zeigen, wurde das Kopftuch im Schulkontext sowohl von Mitschülern als auch von Lehrern eher negativ bewertet: Hakan: ... meine Schwester ein Monat hat ein Kopftuch gemacht, Frau G. [Lehrerin; P.H.] hat gesagt ‚ah Nezerhad schlecht diese Kopftuch’ und dann meine Schwester hat meine Schwester hat weggemacht die Kopftuch und Frau G. hat gesagt ‚Nezerhad jetzt ist schön du bist so schön.’ (Gruppendiskussion) Hakan: Wie eine Hexe, die Kopftuch ist scheiße, ohne Haare guck mal ohne Haare was soll äh schauen. (Interview Hakan) Lehrerin: … aber bei der Serife war des vor den Sommerferien mal ne Phase, da kam se und war teils empört teils hat se bald geweint, ‚denken se, ich soll n Kopftuch tragen’. Da habe se natürlich bestärkt in ihrer Ablehnung weil sie isch ja wirklich n wirklich aufgeschlossene modernes Mädchen und auch ich find au a bisle resolut und kann sich durchsetze und na hab ich ihr n paar Argumente gegeben und hab gesagt ‚komm sag des da ond da’ und dann war des wieder vom Tisch … (Interview Lehrerin)
Serife befand sich im Spannungsfeld zweier widersprüchlicher Erwartungen: In einem Lebenskontext wurde ein kulturelles Symbol gefordert, das in einem anderen Kontext eher abgelehnt wurde. Sie äußerte sich in Interviews und Gruppengesprächen nie direkt zu ihrer Situation und zu ihrem Kopftuch. Ihre Freundin Meral dagegen begründete ihr Kopftuch-Tragen in einem Interview mit einem gewissen familiären Druck. (Im Vergleich zu Serife waren bei Meral keine Aushandlungsprozesse und Befreiungsversuche zu erkennen.) Meral: Weil äh im Türkei meine Dorf gibt alle sind so Kopftuch, meine Familie auch ich muss auch so Kopftuch machen, wenn meine Familie keine Kopftuch und ich auch keine Kopftuch aber meine Familie hat Kopftuch ich muß auch machen. Peter: Und würde deine Mutter was sagen?
17 Das Kopftuch kann auch selbst gewählter Ausdruck persönlicher religiöser Haltungen darstellen. Das Video „Enthüllungen“ (2000) zeigt Standpunkte kopftuchtragender junger Musliminen aus verschiedenen Herkunftsländern. Die Eigenproduktion wurde von einer Gruppe muslimischer Mädchen und jungen Frauen im Alter von 12 bis 22 unter Anleitung einer Filmemacherin mit kurdischem Hintergrund produziert. 195
Meral: Sie schimpft mir oder schlagen. Peter: Und dein Vater, was würde der sagen? Meral: Ja, der auch. (Interview Meral)
Das Foto kann in gewisser Weise auch als Dokument von Ungleichheit in Bezug auf symbolische Selbstdarstellung bei Mädchen und Jungen aus traditionell geprägten Migrationskontexten gesehen werden. Schiffauer et. al. 2002 arbeiteten in ihrer ländervergleichenden Studie (Rotterdam, London, Paris, Berlin) über Staat, Schule und Ethnizität in Bezug auf Kleidung drei Hauptstilrichtungen bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund heraus: ein Trend der sich an der „afroamerikanischen Hip-Hop und Breakdance-Kultur“ orientiert, ein Stil, der sich am Mainstream der Markenmode orientiert und ein dritter Stil, der sich an einem Konzept des „nach islamischer Auffassung anständig gekleideten“ Mädchens orientiert. (ebd., 326 f.). Der erstgenannte Stil lässt sich auch bei Hakan erkennen (Mütze, Schlüsselband), der zweite in gewisser Weise bei beiden (Jeans-Mode) und der an dritter Stelle genannte Stil bei Serife (Kopftuch). Es ist davon auszugehen, dass die genannten Stilrichtungen auch in Mischformen und mit Brüchen vorzufinden sind. Bedeutsam ist, dass die genannten Stile in gewisser Weise mit den oben genannten symbolischen Ressourcen übereinstimmen. Globale Symbolwelt
afroamerikanische Hip-Hop und Breakdance-Kultur Mainstream der Markenmode
Symbolwelt Deutschland
Mainstream der Markenmode
Symbolwelt Türkei
Mode des nach islamischer Auffassung anständig gekleideten Mädchens
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Bild III: Klassenzimmer
Analysen und Interpretationen zu Bild III Auf dem querformatigen farbigen Bild sind eine kurzhaarige rot und grau gekleidete Lehrperson zu sehen, die den linken Flügel einer grünen Tafel beschreibt, sowie zwei Schüler, die in der ersten Reihe sitzen (links von ihr eine angeschnittene Person mit rotem T-Shirt und rechts eine Person mit braunen kurzen Haaren und hellem Kapuzenpullover). Alle drei Personen wenden dem Bildbetrachter den Rücken zu. Des Weiteren zeigt das Foto folgende Objekte: eine weitere grüne Tafel mit weißer Aufschrift, ein transparentes Gebilde rechts neben der angeschnittenen Person (vermutlich eine Plastikfolie), ein Kassettenrekorder links neben der Lehrperson, ein Schreibgerät in der rechten Hand der angeschnittenen Person, verschiedene Papier- und Heftstapel zwischen den beiden Personen in der ersten Reihe, fünf senkrecht positionierte rote Scheren in einem beigefarbigen Block, Schulhefte, Tische, Stühle und Jakken. Auf der linken Tafelhälfte steht unter anderem: „Veränderungen vom Vormensch bis zum Jetztmenschen“, Gegenstand der LehrLernsituation ist offenbar die Phylogenese des Menschen. Das Bild wirkt et197
was unterbelichtet. Am linken Rand weist es einen schmalen eingetrübten Streifen auf. Die Aufnahme stammt aus der Tagesablaufserie von Taskania, einem 14jährigen Mädchen aus der Dominikanischen Republik. Das Foto entstand während des Unterrichts in der Vorbereitungsklasse einer Hauptschule.18 Es ist anzunehmen, dass der CHICAM-Club mit seinem Fotoprojekt „Tagesablauf“ die Schülerin legitimiert hat, den sozialen Akt des Fotografierens – der immer auch eine Machtkonstellation konstituiert – in einem Kontext zu vollziehen, in dem dasselbe Verhalten ansonsten möglicherweise sanktioniert wäre.19 In gewisser Weise wurde den Schülerinnen und Schülern in diesem wie auch in anderen Kontexten durch das Medium Fotografie und durch das Projekt Macht verliehen. Andere Bilder aus dem gleichen Kontext zeigen eine Lehrerin und einen Lehrer, die frontal in die Kamera schauen. Dies deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine heimlich gemachte Aufnahme handelt. Eine Gegenüberstellung mit dem Bild einer Lehr-Lernsituation aus der Zeit von Comenius20 legt die Deutung nahe, dass sich gegenüber der Schulkultur heute nicht viel verändert hat: Auf beiden Darstellungen ist Frontalunterricht21 bzw. lehrerzentrierter Unterricht und die entsprechende Sitzordnung zu sehen. Die Blicke der Lernenden sind auf die lehrende Person ausgerichtet. Beide Settings sind von geringer Visualität und einer starken diskursiv-schriftsprachlichen Orientierung geprägt. 18 In Baden-Württemberg besuchen neu angekommene Schülerinnen und Schüler normalerweise diese speziellen Klassen, die sie für die Integration in Regelklassen vorbereiten. Alle Mädchen und Jungen in diesen Klassen lernen Deutsch als Fremdsprache. 19 Es ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen aktiver Medienarbeit durch die legitimierende Wirkung des Mediums oft die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und Räume zu betreten, die ihnen ansonsten verschlossen bleiben würden. Im Projekt CHICAM beispielsweise bekamen einige Kinder Zugang zur Dachterrasse einer großen Bank, um die benachbarte Schule aus der Vogelperspektive filmen zu können. 20 Diesen Hinweis verdanke ich Björn Maurer. 21 Der Frontalunterricht bzw. das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch stellt eine wichtige Unterrichtsform dar. Es ist jedoch insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrung wichtig, neben eher lehrerzentrierten, verballastigen Formen auch Methoden anzuwenden, die stärker eigenaktive, soziale, kreative und visuelle Lernprozesse ermöglichen, (z.B. (Klein-)Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Lernzirkel, Projektarbeit, Experiment, selbstentdeckendes Lernen). 198
Abbildung 13: Comenius: „Die Schule“22
In einem Interview kritisierten Mitglieder des CHICAM-Clubs das Ausmaß verbaler Erläuterungen.23 Serife: Also Beispiel wenn wir so ruhig machen schon aber Frau W. [Lehrerin; P.H.] erzählt so viel. Meral: Und Herr N. [Lehrer; P.H.] auch. Serife: Ja weisch, wenn Herr N., wenn wir kleine was Fragen, dann macht er … Taskania: Die ganze Stunde, wow! Serife: Ganze Stunde macht der mit mit dem kleinen Wort.
22 Doelker schreibt im Kontext dieses Bildes, das die Unterschrift „Das Bild der Schule: bildlos.“ trägt: „So ist die Schule noch immer die Institution des geschriebenen und gedruckten Wortes geblieben, wie sie Johan Amos Comenius auf dem Tafelbild in seinem Orbis sensualium pictus darstellte.“ (Doelker 1997, 20) 23 Obwohl in der CHICAM-Medienpraxis besonders großen Wert auf Visualisierung und Anschaulichkeit gelegt wurde, merkte Serife an, dass sie auch im CHICAM-Club kürzere Erklärungen bevorzugen würde: „Erstmal ganz gut kennen lernen wie Freunde, dann alles ganz kurz erzählen und machen, mir gefällt so.“ (Interview Serife/Meral) 199
Peter: Also ihr habt ne kleine Frage, und dann? Taskania: Der geht weiter. Serife: Dann erzählt er weiter, weiter, weiter. Peter: Also ne ganz große Antwort auf ne kleine Frage. Serife: Bis Ende Stunde. (Interview Serife/Meral)
Auch wenn diese Unterrichtsform wohl von vielen Schülerinnen und Schülern als einseitig empfunden wurde, ginge es zu weit, bei der Bildproduzentin von einer Intention im Sinne einer Kritik an traditionellen oder einseitigen Unterrichtsmethoden auszugehen. Nichts desto trotz kann dieses Foto als Dokument einseitigen Lehrens und Lernens und mangelnder Subjektorientierung im Kontext von Migrationserfahrung verstanden werden. Die Teilnehmer des CHICAM Clubs äußerten sich im Allgemeinen positiv zum Thema Schule. Viele hatten in der Schule des Ursprungslandes Erfahrungen mit körperlicher Bestrafung gemacht. Das Thema Schlagen taucht auch in einer Filmproduktion über positive und negative Aspekte in Deutschland auf. Der Film enthält Aussagen von Passanten, die auf der Straße befragt wurden und Aussagen von CHICAM-Clubmitgliedern. Hakan bewertet Schule in Deutschland positiv: „Deutschland ist sehr modern. Schule ist auch sehr gut. Äh, in die Schule kann nicht schlagen beim Lehrer, und so alles gut.“ Schule stellt auch einen wichtigen Begegnungsort dar. Meral, ein türkisches Mädchen lernte in der Klasse ihre beste Freundin kennen (ein Mädchen aus Portugal). Dies erleichterte ihre Situation: Meral: Oh Deutschland, erste ist nicht gut, weil ich hab keine Freundin, ich bin allein immer, ich kann nicht sprechen, ja immer Zuhause bleiben. Aber jetzt mehr gut Deutschland. (Interview Meral)
Die Lehr-Lern- und Sozialformen im CHICAM-Club stellten einen starken Kontrast zu der klassisch lehrerzentrierten Sitzordnung im Schulunterricht dar. In Gruppensituationen stand das Sitzen im Kreis im Vordergrund, was die Wahrnehmung der Gruppe erleichtert. Eine Gegenüberstellung von Bild II und Bild III und auch Abbildung 14 bringen diesen Kontrast visuell zum Ausdruck.24
200
Abbildung 14: Einwegkamera-Foto von Fatma
Ethische Dimensionen: Forschung und Öffentlichkeit vs. Schutz der Privatsphäre Bei der Arbeit mit visuellen Materialien im Kontext von Forschung stellt sich das ethische Problem bei der Anonymisierung. Während bei Textmaterial das Widererkennen einer speziellen Person leicht durch die Änderung von Namen und Orten verhindert werden kann, ist der Schutz der Privatsphäre bei Bild und Film weitaus schwieriger. In manchen Kontexten kann es sinnvoll sein, die Gesichter von Personen unkenntlich zu machen (vgl. Bachmair 24 Die Tatsache, dass der CHICAM-Club zwar an der Schule im Rahmen des Ganztagesangebots angesiedelt war, sich aber trotzdem von Schule im herkömmlichen Sinn unterschied und spezielle Intentionen hatte (Forschung im Kontext von Medienpraxis, Generierung von Forschungsdaten durch Eigenproduktionen, Interviews etc., Vermittlung von Medienkompetenz, Spaß haben, Lernen ohne Zwang) führte zu einem speziellen Zwischen-Charakter (‚an der Schule und doch nicht Schule’). Dieses Phänomen ist auch für die Ganztagesschule relevant, da sie eine Schnittstelle für verschiedene Bilddungskulturen darstellen kann. 201
1984, 32 und 33).25 Oft sind jedoch gerade Gesichtausdruck, Mimik und Blicke für die Interpretation von Bedeutung (vgl. Bohnsack 2003a, 114 und Bohnsack 2003b, 167). Zu unterscheiden ist die Ebene der formalen Einwilligung für die Veröffentlichung von Bildmaterial, das Forschungssubjekte oder Erziehungsberechtigte durch Unterschriften geben einerseits und die Ebene der Forschungsethik andererseits. Beide Ebenen sind zu berücksichtigen. Forschende sollten ein Höchstmaß an Transparenz gewährleisten und die Forschungssubjekte über die Ziele der Forschung informieren. Diese Forschungshaltung wird unter dem Schlagwort „informed consent“ diskutiert (vgl. Marshall & Batten 2004). Vor allem bei Praxisforschungsprojekten, die Impulse in verschiedene politische, pädagogische und soziale Kontexte geben wollen, stehen sich zwei konkurrierende Prinzipien gegenüber: Schutz der Privatsphäre und Anonymität einerseits und Forschung, Dokumentation und Öffentlichkeit andererseits. Die am Forschungsprozess Beteiligten sollten so präzise wie möglich abschätzen, ob die Forschung Subjekten in irgendeiner Form schaden könnte und in welchem Fall dem einen oder dem anderen Prinzip Vorrang einzuräumen ist. Für solche Entscheidungen sind Kenntnisse über den sozialen und kulturellen Kontext von großer Bedeutung. Resümee Das Arbeiten mit visuellen Medien birgt in verschiedenerlei Hinsicht Chancen für die Forschung: Über Fotos, die Subjekte selbst anfertigen, können Forschende wichtige Hinweise auf bedeutsame Aspekte der Lebenswelt erhalten (heuristische Funktion). Selbstproduzierte Fotos erleichtern Kommunikation bei Interviews (‚photo-elicitation’), dies ist vor allem dann wichtig, wenn sich die Subjekte nicht in ihrer Muttersprache äußern können oder sonstige sprachliche Einschränkungen vorliegen. Im Rahmen von Einwegfoto-Projekten ist ein indirekter Zugang zur Lebenswelt möglich. Kinder und Jugendliche können bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden, was sie aus ihrer Lebenswelt zeigen möchten. 25 Schwarze Balken vor den Augen oder – in geringerem Ausmaß – vergröberte Bildpunkte sind vielen Rezipienten aus kriminellen Kontexten bekannt. Diese stigmatisierende Konnotation ist problematisch und verweist auf ein Dilemma. 202
Die Verbindung von Forschung und Medienproduktion trägt dazu bei, dass der Forschungsprozess durch einen Charakter des gegenseitigen Gebens und Nehmens geprägt wird. Die am Projekt beteiligten Kinder geben Einblicke in ihre Lebenswelt, die beteiligten Erwachsenen vermitteln Medienkompetenz, ermöglichen Spaß und neue Erfahrungen und sie geben Aufmerksamkeit. Neben Lernerfahrungen und sozialen Erfahrungen stellen die entstandenen Produktionen etwas konkret Gegenständliches dar, was die Kinder aus dem Projekt mitnehmen können. Forschungsdesigns, die die Erhebung umfangreichen Kontextmaterials ermöglichen, bereichern die sozialwissenschaftliche Interpretation von selbstproduzierten Fotos, indem bestimmte Lesarten durch weiteres Material gestützt werden können. Damit ermöglichen Kontextinformationen die Entwicklung von Lesarten und Deutungsperspektiven, die dem Forscher ansonsten verschlossen bleiben würden. Literatur Bachmair, Ben (1984): Symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in assoziativen Freiräumen – eine Bestandsaufnahme in einer Grundschule. Kassel (Gesamthochschulbibliothek). Beck, Christian (2003): Fotos wie Texte lesen. Anleitung zur sozialwissenschaftlichen Fotoanalyse. In: Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Opladen (Leske + Budrich). S. 5571. Becker, Howard S. (1995): Visual Sociology, Documentary Photography, and Photojournalism: It's (Almost) All a Matter of Context. Originally published in Visual Sociology 10 (1-2), 1995, p.5-14. http://home.earthlink.net/~hsbecker/visual.html [Date of Access: 22.11.2004]. Bohnsack, Ralf (2003a): „Heidi“. Eine exemplarische Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode. In: Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Opladen (Leske + Budrich). S. 109-120. Bohnsack, Ralf (2003b): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen (Leske + Budrich) 5. Auflage. de Block, Liesbeth/Buckingham, David/Holzwarth, Peter/Niesyto, Horst (2004): Visions Across Cultures: Migrant Children Using Audio-Visual Images to Communicate. Children in Communication about Migration (CHICAM). Deliverables 14 and 15. August 2004. http://www.chicam.net/reports/index.html [Date of Access: 12.10.2004].
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Burkhard Fuhs
Narratives Bildverstehen. Plädoyer für die erzählende Dimension der Fotografie „Fotografie ist die einzige ‚Sprache’, die in der ganze Welt verstanden wird und, indem sie zwischen allen Nationen und Kulturen Brücken schlägt, die Menschen zu einer Familie macht“ Helmut Gernsheim, 1962.1
1.
Von der Ikonologie zur Narrationsforschung
Über Fotografie und über Fotos als kulturelle Phänomene ist schon viel geschrieben worden. Das Foto als eine Ikone der Moderne ist auch heute am Ende des „fotografischen Zeitalters“2 immer noch und immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und Kontroversen. Als eine Leittechnik des 20. Jahrhunderts hat die Fotografie das Bild von der Welt und den Blick auf die Welt verändert und bestimmt. Die Öffentlichkeit der Moderne ist eine Öffentlichkeit der Augenlust3 und des „voyeuristischen Blicks“. Fragen, die sich die Wissenschaft von der Fotografie gestellt hat, bezogen sich auf die „Realität“, die auf den Bildern zu sehen ist, auf die Wahrnehmung der Fotografie4, auf die gesellschaftliche Funktion der Fotografie5 oder die erziehungswissenschaftliche Bedeutung von Fotos6. Ein Blick in unterschiedliche Veröffentlichungen zur Fotografie macht deutlich, dass das Medium zwar Teil des technischen Alltags geworden ist, dass aber seine theoretische und ästhetische Bewertung wieder immer Probleme macht. Auch wenn ein Foto in seiner Aussage banal erscheint, kann es jedoch Träger von tieferen Bedeutungen sein.7 Hier setzt der folgende Beitrag an, der zeigen möchte, dass Bildinterpretationen, die das Einzelbild und seine Komposition untersuchen, unzureichend sind. Auch eine elaborierte Bildinterpretationen wie die ikonographisch-ikonologische Methode nach Panofsky, die einen 1 2 3 4 5 6 7
Sontag 1980, S. 180.
Vgl. Wolf 2002. Vgl. Oettermann 1982. Vgl. Schnelle-Schneyder 1990. Vgl. Jäger 1996. Vgl. Ehrenspeck/Schäffer 2003. Vgl. Foster 2002. 207
wichtigen Beitrag für die Fotointerpretation liefert und Eingang in die Erziehungswissenschaft gefunden hat, findet dort ihre Grenze, wo das Foto als Ausdruck einer globalen Bildkommunikation verstanden wird. Auf diesem Hintergrund richten sich die weiteren Überlegungen, die die Kulturwissenschaft für pädagogische Frage- und Problemstellungen nutzbar machen möchte, auf die narrativen Dimensionen der visuellen Bildkultur, wie sie für hochmoderne Gesellschaften charakteristisch sind. Das heißt, es wird nicht nur dafür plädiert, den Kontext von Fotografien stärker in die Interpretation einzubeziehen, sondern die Detailanalyse des Bildes als Ausdruck eines narrativen Prozesses zu verstehen. Inwiefern kann ein Bild erzählen und in wieweit kann die Rezeption von Fotos als eine erzählende Aneignung verstanden werden? Insbesondere kommt der Frage des Fotos als ein erzählendes und Erzählung generierendes Medium im Kontext biografischer Forschung eine besondere Rolle zu, die bisher nur selten thematisiert wurde.8 2.
Der fixierte Augenblick – traditionelle Fotozugänge
Alle bisherigen Bildinterpretationen haben sich im Grunde mit zwei Fragen beschäftigt: a) Wie konstruiert ein Foto die Wirklichkeit? In diesem Zusammenhang ging es zum Beispiel darum, welchen Anteil die technischen Grundlagen an der Herstellung von fotografischer Realität haben. Technik meint zunächst die chemischen und optischen Gesetzmäßigkeiten, kann aber in einem umfassenderen Sinne auch als Fototechnologie verstanden werden. Damit sind sämtliche Verfahrensweisen und Geräte bezeichnet, die die Herstellung, Bearbeitung, Verbreitung, Präsentation und Archivierung von Fotos betreffen. Einen wichtigen Stellenwert nimmt das Problem der Bildbearbeitung ein, womit sowohl die klassische Retusche und Kolorierung als auch die digitale Bildveränderung in ihren entgrenzten Möglichkeiten bezeichnet werden soll. Das Foto schafft immer eine eigene Form der Realität, die auch von der Technik abhängig ist. Es macht daher wenig Sinn, die digitale Fotografie als Ende des fotografischen Zeitalters anzusehen. Zwar führt die digitale Herstellung von Fotografien zu neuen Formen von Bildkonstruktionen (was bei der Interpretation berücksichtigt werden muss), aber auch digitale Fotos stellen Wirklichkeit her und sind Teil einer 8 208
Vgl. Buchner-Fuhs 1997; Behnken 1992.
umfassenden Bildkultur. Neben der Technik wurden in der Geschichte der Fotointerpretation auch die Aspekte des subjektiven Blicks (z.B. der Einfluss des Fotografen) sowie der ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen (zum Beispiel Entstehung des Fotohandwerks, Entstehung der Massenfotografie) diskutiert. b) Welche Bedeutung hat das fotografische Bild? Themen, die dieser Fragestellung zuzuordnen sind, betreffen zunächst das Verhältnis von Kunst und fotografischer Massenkultur.9 Darüber hinaus geht es bei der Bedeutung des Fotos auch immer um die Frage, ob der fixierte Moment, der auf dem Foto zu sehen ist, nur eine winzige Impression eines flüchtigen Augenblicks ist oder ob er eine verdichtete Form zentraler Sinngehalte der Kultur darstellt. Die Aussage, die über die Welt kommuniziert wird, ist konzentriert in einer einzigen Fotografie, die es zu entschlüsseln gilt. Die traditionellen Bildinterpretationen bieten hier unterschiedliche Verfahren an. So etwa fragt die dokumentarische Bildinterpretation, die sich an Erwin Panofsky anlehnt, auch nach der ästhetischen Komposition des Bildes.10 Im Zentrum der Analyse stehen zunächst eine Beschreibung der Bildinhalte und deren Bedeutungen. Nach dem auf einer vorikonographischen Ebene das „Was“, die Gegenstände und Figuren in einem Bild identifiziert werden, folgt in einem zweiten Schritt die ikonographische Interpretation, mit der der Wesenssinn des Bildes erschlossen wird. In einem letzten Schritt folgt dann die ikonologische Interpretation des Bildbedeutung. „Er wird erfasst, indem man jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, unbewusst modizifiert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk“.11 Die Verdichtung des Augenblicks im Foto wird hier zu einer symbolischen Übersteigerung – zum Ausdruck für die gesamte Geisteshaltung einer Epoche. Bildinterpretation wird auf diese Weise hierarchisch abgestuft: Während die Beschreibung des Inhaltes auf einer vorwissenschaftlichen Ebene angesiedelt ist, wird der eigentliche Sinn des Bildes nur für den geschulten Experten im Vorgang der ikonologischen Interpretation durch wissenschaftliche Arbeit erfassbar. Damit wird das Bildverständnis aus seiner naiven Alltagskultur herausgelöst und zu einer Expertentätigkeit. 9 Vgl. Krauss 1998. 10 Bohnsack 1003. 11 Panofsky 1980, S. 33. 209
In diesem Zusammenhang ist auch die Ikonik zu nennen, die Max Imdahl im Anschluss an die Ikonologie Panofskys entwickelt hat12. Ralf Bohnsack kommt das Verdienst zu, die Ikonik für die dokumentarische Methode der Fotointerpretation nutzbar gemacht zu haben. Die dokumentarische Methode interpretiert Fotos vor allem nach ihren zentralen Botschaften, die sie über unsere Kultur liefern. Diese grundlegende Bedeutung eines Bildes ist jedoch durch Oberflächenbedeutungen verdeckt und kann ausschließlich von Experten geborgen werden. „Verstehen und Interpretieren treten wohl an kaum einem anderen Medium so deutlich auseinander wie im Falle des Bilderkennens. Eine Bildinterpretation, die der Eigenart ihres Mediums gerecht werden will [...], muss sich also in der Lage zeigen, zwischen [...] einer Verständigung auf der Basis begrifflicher Explikation (‚Interpretation’) einerseits und einer unterhalb oder jenseits begrifflicher Explikation angesiedelten, intuitiven oder unausdrücklichen Verständigung (‚Verstehen’) anderseits“ zu unterscheiden. „Lediglich der sozialwissenschaftliche Interpret ist [...] auf die begriffliche Explikation verpflichtet und reduziert“.13 Mit der dokumentarischen Methode und der Ikonik wird also nicht nur eine Form der Interpretation markiert, es wird auch eine Hierarchie des Verstehens und Interpretierens postuliert und ein sozialwissenschaftliches Expertentum installiert. 3.
Ausblendungen von Common-sense-Interpretationen als Problem der Ikonik: das Beispiel Heidi
Die Methodik der dokumentarischen Bildinterpretation zielt darauf, den Alltagsblick und erzählende Anteile des Fotos auszublenden. Im Fokus stehen der Aufbau des Bildes und die ästhetisch-gestalterischen Mittel, mit denen ein Bild seine Botschaft herstellt. Die formale Bildkomposition steht dabei im Zentrum und es wird explizit Abstand von Alltagsinterpretationen genommen. Die Ikonik rekonstruiert – so Bohnsack im Anschluss an Imdahl – die formale Komposition und kann „von der Wahrnehmung des literarischen oder szenischen Bildinhaltes absehen, ja, sie ist oft besonders erfolgreich, gerade dann, wenn die Kenntnis des dargestellten Sujets sozusagen methodisch verdrängt wird.“14 Das Verfahren ist eine Form der interpretativen Askese, 12 Vgl. Bohnsack 2003. 13 Ebd., S. 93f. 14 Ebd., S. 92. 210
die auf Vorwissen verzichten muss, um im Sinne einer systematischen Naivität zu den grundlegenden Bedeutungen eines Bildes vorzustoßen. Ein solches Vorgehen der asketischen Interpretation formaler Bildkompositionen geht unausgesprochen davon aus, dass der Alltagssinn und das intuitive Verstehen von Bildern nicht nur keinen Beitrag zum ikonischen Verständnis der Weltsymbolik einer Bildes liefert, sondern dass die Alltagsinterpretation sogar den eigentlichen Sinn des Bildes verstellt. Der Verzicht auf die erzählerische Potenz eines Bildes, wie sie die dokumentarische Methode anstrebt, kann zu Ergebnissen führen, die für ein kulturwissenschaftliches Verständnis zu kurz greifen und wesentliche Aspekte des Bildes unberührt lassen. Im Folgenden soll am Beispiel einer dokumentarischen Interpretation von Ralf Bohnsack, der Frage nachgegangen werden, welche weiteren Bedeutungsinhalte sich aus einer narrativen Interpretation ergeben könnten. Ausgangspunkt ist eine exemplarische Bildinterpretation eines Werbefotos der Zigarettenmarke WEST auf der Basis der dokumentarischen Methode.15 Auf der vorikonographischen Ebene lässt sich der Inhalt des Bildes beschreiben: eine Frau im Dirndl und ein junger Mann in Freizeitkleidung vor dem Hintergrund einer Bergkulisse. Die Frau in ein aufreizender Pose mit gespreizten Beinen, der Mann lächelnd rauchend. Links ein Kuh, rechts eine Zigarettenschachtel, oben rechts im Bild der Schriftzug „Test it“ und das Logo der Zigarettenmarke. Im nächsten Schritt wird eine ikonographische Interpretation vorgenommen: Die junge Frau wird als unkonventionelle Sennerin gesehen, der junge Mann als typischer Spaziergänger, der auf einer Alm mit einer attraktiven Frau ins Gespräch kommt. Dieser Interpretationsschritt wird nur kurz ausgeführt, weil die noch anstehende Ikonik auf eine tiefere Ebene zielt und von der Common Sense-Typisierung bewusst Abstand halten will: Wenn an dieser Stelle – so erläutert Bohnsack den Verzicht – „der Weg der ikonographischen Interpretation beschritten würde, würde danach gefragt, welche (konkrete) Geschichte das Bild erzählt“. Hier wird also behauptet, dass das Bild eine Geschichte erzählen könne, diese Geschichte aber in den Bereich des Alltagsverstehens gehöre und für die Wissenschaft von untergeordneter Bedeutung sei. Ausgeführt wird danach im nächsten Schritt – der Ikonik – eine Interpretation der Komposition des Bildes. Hier wird deutlich, mit welchen bildlichen Mitteln die junge Frau in das Zentrum des Fotos gestellt wird und wie in der Bildkomposition die Haltung und Kleidung der Frau als Kon15 Vgl. Bohnsack 2003. 211
trast zu einer idyllischen Almszenerie inszeniert wird. Mit der gestylten Kleidung der Frau und den Arbeitsgeräten ist sie eine „stilistische Grenzgängerin“ ist. Das Bild vermittelt die Botschaft, dass Raucher der Zigarettenmarke „West“ die Grenzen etablierter Milieus überschreiten und den Rahmen des Konventionellen sprengen.16 Natürlich ist auch diese Interpretation nicht voraussetzungslos. Auch Bohnsack greift, wie er in seinem Aufsatz zur dokumentarischen Methode selbst ausführt17, auf Wissensbestände zurück, ohne diese bei der Interpretation des „Heidi-Bildes“ explizit zu nennen. So behauptet Bohnsack, dass das Foto der Almlandschaft auf das Klischee der Alpen als heile und gesunde Welt verweise. Das Bild einer heilen Bergwelt wird aber durch die aufreizende Kleidung der jungen Frau aufgelöst, „aber dennoch – oder gerade deshalb – eine auf andere Weise attraktive Welt“ dargestellt.18 Die Wahrnehmung der Alm als heile Welt ist so nicht aus dem Bild ersichtlich. Die scheinbar voraussetzungslose Interpretation des Heidi-Bildes kommt nicht ohne Bezüge zum Alpendiskurs aus19. Die Interpretation eines Werbebildes, das auf gängige Klischees und Alpenbilder zurückgreift und diese in ironischer Weise bricht, bleibt notwendigerweise unvollständig, wenn sie den Alpenmythos nicht kulturwissenschaftlich thematisiert. Die Beziehung von Alm und Erotik ist keineswegs – wie in der Interpretation von Bohnsack nahegelegt – ein Bruch. Eine Einbeziehung des Kontextes würde zeigen, wie stark das Heidi-Bild der Werbung gängige Alpenbilder aufgreift. So gibt es zahlreiche Erzählungen, Bilder, Filme und Lieder, die die Alm als erotischen Raum darstellen. „Auf der Alm da gibt’s kei’ Sünd“ ist nicht nur eine Tiroler Volksweise20, sondern auch eine stehende Redewendung. Die junge Frau, die auf dem Werbefoto von Bohnsack als „Sennerin“ identifiziert wird, verweist ebenfalls auf eine lange Geschichte der erotischen Begegnung von Wanderer und einheimischen Mädchen. Auch hier wird deutlich, dass die dokumentarische Methode nicht voraussetzungslos interpretieren kann. Die im Werbebild dargestellte Begegnung zwischen männlichem Wanderer und Sennerin ist ein typisches Motiv des Volksliedes:
16 17 18 19 20 212
Vgl. Bohnsack 2003, S.119. Bohnsack 2003, S. 100ff. Ebd., S. 117. Dazu vgl. Fuhs 1999; Fuhs 1992. Frank Peterson: Volkslieder aus aller Welt. Auf der Alm [online] http:// ingeb.org/Lieder/AufDerAl.html (13.07.2005).
Von der Alp da ragt ein Haus Niedlich übers Tal hinaus; Drinnen wohnt mit frohem Sinn Eine schöne Sennerin. Senn’rin singt so manches Lied, Wenn durchs Tal ein Nebel zieht. Horch, es klingt durch Luft und Wind: Auf der Alm da, auf der Alm da Auf der Alm da gibt’s kei’ Sünd. Auf der Alm da steht ein Haus Die Senn’rin schaut zum Fenster raus Kommt ein Wand’rer zog aus dem Tal Ruft die Senn’rin jedes Mal Kehr doch ein und ruh’ Dich aus Ich bin nicht allein zu Haus’ Bei mir wohnen nur Sonn’ und Wind Auf der Alm da, auf der Alm da Auf der Alm da gibt’s kei’ Sünd.21
Hierbei handelt sich nicht einfach um ein „Erkennen“ von bekannten Motiven, die vom tieferen Sinngehalt wegführen und eine dokumentarische Interpretation verhindern.22 Das Werbefoto als Ausdruck einer globalen kommunikativen Bildkultur erzählt vielmehr die Geschichte der Begegnung auf der Alm neu. Erst im Bezug auf das Klischee entfaltet sich – in der Komposition – die ironische Wirkung des Bildes. Zunächst scheint es problematisch, das ausgesuchte Bild „Heidi“ der WEST-Reklame isoliert zu sehen. Natürlich hat das Vorgehen seine Berechtigung, aber das Bild entfaltet seine Bedeutung nur im Kontext der gesamten Werbekampagne. Wir haben es bei dem interpretierten Bild eben nicht mit einem Einzelbild zu tun, sondern mit einem „multicodierten ästhetischen Ausdruck“23. Das Heidi-Bild der WEST-Reklame gehört zu einer Serie von Fotos, die in sehr unterschiedlichen Printmedien veröffentlicht wurden.24 21 22 23 24
http://www.musicanet.org/robokopp/Lieder/aufderal.html (14.07.2005). Vgl. Bohnsack 2003, S. 92. Röll 2004, S. 35. Zwar weist Bohnsack auch auf diesen Tatbestand hin, aber er zieht keine interpretatorischen Schlüsse daraus. 213
Diese Serie gehört zu einer Kampagne, in der ein bestimmtes Image des WEST-Rauchers entworfen wurde. Der WEST-Raucher als sympathische, jugendliche Figur, die Kontakt mit einer Reihe von „unkonventionellen“ Originalen aufnimmt, zum Beispiel einer Drag-Queen in den Straßen New Yorks. Auch die derzeitige Kampagne von WEST wirbt mit unkonventionellen jugendlichen Menschen, die die Tücken des Alltags mit Humor meistern.25 Das Heidi-Bild ist Teil einer multimedialen Inszenierung. Zu der Kampagne gehören nicht nur unterschiedliche Bilder, sondern auch Werbefilme mit einer speziellen Musik, die das Lebensgefühl der WEST-Welt ausdrücken soll. Das Einzelbild kann hier nur als Teil einer Serie verstanden werden. „Betrachtet man Internetseiten, aktuelle Flyer, Werbeprospekte oder Magazinzeitschriften, fällt auf Anhieb die veränderte Rolle des Einzelbildes auf. [...] Zwar lässt sich das Bild weiterhin als Basismedium der technologischen Abbildung und Visualisierung bezeichnen, allerdings verliert das Bild als unikate Darstellung zunehmend an Bedeutung. Dem Internet kommt im Moment die Funktion eines Leitmedium zu, da es die Chance optimiert, neben dem Foto weitere Gestaltungsebenen (Text, Grafik, Ton, Film, Tabelle) zu integrieren.“26 Schon das interpretierte Werbefoto „Heidi“ ist kein rein fotografisches Medium, weil es Textelemente in die Botschaft integriert. Während sich die dokumentarische Methode im Anschluss an die kunstwissenschaftliche Interpretation immer noch deutlich dem Einzelbild zuwendet, ist eine neue multimediale visuelle Kultur entstanden, die ganz neue Wege der Kommunikation eröffnet. Die Frage nach dem einzelnen Bild stellt sich in der Fotografieanalyse schon seit längerer Zeit, da zur wissenschaftlichen Untersuchung oftmals große Bestände von Fotos vorliegen, die es schwer machen Bilder auszuwählen und große Bildmengen systematisch zu bearbeiten. Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner haben hier überzeugende Methoden der Fotoanalyse vorgelegt.27 Aber nicht nur die Einzelstellung des Heidi-Bildes ist problematisch, auch das Motiv der „Heidi“ ist in der WEST-Reklame neu erzählt und müsste genauer in den Blick genommen werden. Die dokumentarische Methode sagt hierzu nichts. Heidi ist auf dem Foto nicht mehr das kleine Mädchen aus dem Johanna Spyri Roman, das mittels der japanischen Animé-Serie um die ganze Welt gegangen ist. Heidi ist auf dem Werbebild eine attraktive, junge Frau, die selbst- und modebewusst mit ihrem Leben, ihrer Arbeit und ihrem Kör25 http://www.west.de (12.07.2005). 26 Röll 2004, S. 35. 27 Pilarczyk/Mietzner 2003. 214
per umgeht. War Heidi im Roman ein „Frankfurter“ Großstadt-Mädchen, das in den Bergen Glück und Heilung sucht, ist sie auf dem Foto gänzlich zur Schweizerin geworden. Der Mythos Heidi, das lässt sich in den letzten Jahren beobachten, wird in der Schweiz zunehmend touristisch vermarktet.28 Schon wird vom Heidiland gesprochen, und die Marke „Heidi“ steht für die Schweiz neben Käse, Uhren und Schokolade. Dass auch die Schweizer Sexfilm-Industrie, diesen Imagegewinn der „Heidi“ aufgreift und variiert, mag da nicht verwundern.29 Das Werbebild spielt also mit einer Vielzahl von Referenzen, die in der visuellen Öffentlichkeit seit Jahren präsent sind. Ein genauer Blick zeigt wie die Elemente in Form einer Bricolage, einer Kombination aus unterschiedlichen Bedeutungselementen, konstruiert werden. Hier wird der Heidi-Mythos als WEST-Reklame unter Einbeziehung unterschiedlicher Verweise neu erzählt. In der dokumentarischen Analyse bleiben viele Bedeutungsstellen leer. Die Kuh am linken Bildrand wird keiner weiteren Interpretation gewürdigt, obwohl es viele Bezüge gibt. Seit einiger Zeit ist in der Jugendöffentlichkeit ein Trend vorhanden, der mit dem Slogan „Ich will Kühe“ umschrieben ist. Es finden sich dazu zahlreiche Internetseiten und es kann für den Zeitraum 2000/2001, in dem das Heidi-Bild durch die Werbekampagne in der Öffentlichkeit gezeigt wurde, von einem regelrechten „Kuhverkultungsprozess“ gesprochen werden.30 So gab es im Modebereich Kuhdesign31, die Scheunenrocker traten seit 1999 im Kuhlook mit ihren Kuhhits32 auf, es wurde die Schädlichkeit der „lila Kühe“ für das Naturverständnis der Kinder diskutiert und auf Postern tauchten „Kuhbilder“ auf, die die Tiere in eben jener Pose zeigen, wie sie auf dem Werbebild zu sehen sind: frontal den Betrachter aus großen gutmütigen Augen anblickend. Im Jahr 2002 schließlich war der Spruch „Ich will Kühe“ Teil einer Werbekampagne des TUI-Touristikunternehmens.33 Das Werbeplakat mit der den Betrachter anblickenden Kuh greift einen Trend der Jugendkultur auf.34 Die Erzählungen der Pop- und Jugendkultur, die im Heidi-Bild mitschwingen, werden nicht einfach wieder28 Vgl. Gyr 2001a; Gyr 2001b. 29 „Auf der Heidi gibt’s koa Sünd“; „Im Wald und auf der Heidi“. Libosan [online]. http://www.libosan.ch/html/heidi.html (15.07.2005). 30 Vgl. Gyr 2003. 31 Vgl. Mainz-online http://mainz-online.de/internet/toptips/intro-990924. html (11.07.2005) 32 Vgl. http://www.scheunenrocker.de (15.07.2005). 33 Vgl. Slogans.de Datenbank der Werbung. [online] http://www.slogans.de/slogans.php (13.07.2005). 215
holt, sondern in ironischer Weise neu entworfen. Das Werbebild selbst ist daher ein Beitrag zum modernen Lebensstil zwischen Mode und Natur, das als Image für WEST nutzbar gemacht wird. Das Beispiel zeigt, dass die dokumentarische Methode Ausblendungen in sich trägt. Eine Loslösung des Bildes aus dem aktuellen Kommunikationszusammenhang führt zwar zu tiefgründigen Erkenntnissen der Bildtradition, bleibt aber auf der alltagskulturellen Ebene merkwürdig steril. Hier zeigt sich ein Problem des Verfahrens, das an historischen Gemälden entwickelt wurde und nun für die Analyse einer Bildkultur eingesetzt wird, die sich in hochmodernen globalisierten Gesellschaften entwickelt hat. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt wichtig ist, angesichts der von den Massenmedien getragenen Bildkultur ein einzelnes Bild aus seinem Erzählkontext herauszulösen und isoliert zu interpretieren. 4.
Überlegungen zum erzählenden Foto
Bildern wohnt nicht nur dann eine narrative Kraft inne, wenn sie im Betrachter Erinnerungen und Geschichten auslösen. Bilder können selbst erzählend sein. Die moderne Bildkultur kennt keine einsamen Bilder, sie lebt von der Bilderflut. Bilder treten im Familienalbum ebenso in Gemeinschaft auf wie in Ausstellungen, in Zeitschriften oder im Internet. Die Bilderserie ist die Regel und nicht die Ausnahme: stets werden von einem Sachverhalt oder von einem Ereignis mehrer Bilder, mehrer Perspektiven oder eine Abfolge sichtbar. Die Fotogeschichten, Doppelbilder vom Typ „früher – heute“ gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie die Comics, die Geschichten in einer Bilderabfolge erzählen. Auch das Heidi-Bild der Werbung ist Teil einer Serie, die ein Thema in verschiedenen Situationen erzählt. Aber auch das isolierte Bild kann für sich alleine erzählen. Es enthält visuelle Botschaften, die entschlüsselt und in Sprache transformiert werden können. Helge Gerndt beschreibt in seinem Aufsatz „Können Bilder erzäh34 Der aktuellste Bezug zum Heidi-Bild findet sich in der US-Serie „The Simple Life“, die das Landleben für zwei verwöhnte Stadtmädchen (dargestellt von Paris Hilton und Nicole Richie) attraktiv macht. Primetime TV. [online]. http:// primetimetv.about.com/library/blsimpleliferecaps.htm#Season One (12.07.2005). Unklar ist, welche Bedeutung die Erzählung vom Model auf dem Lande für heutige Jugendliche hat. Hier ließe sich die Forderung einer verstärkten Rezeptionsforschung in den Fotowissenschaften unterbringen. Vgl. etwa Jaworek 2004. 216
len?“ diesen Prozess sehr detailliert.35 Für Gerndt kommt das Erzählen von Bildern erst durch eine Erläuterung zu Stande, durch einen Text etwa, der als Bildunterschrift eine Lesart des Bildes evoziert. „Der visionale Aspekt des Bildes und der semantische des Wortes wirken in unserem Kopf wie ein zusammengehöriges Energiepotential. Dieses bildet die Grundlage für Einbildungskraft und Denkvermögen.“36 Und Gerndt beantwortet die Frage, ob Bilder erzählen können mit einem objektiven „Nein“ und einem metaphorischen „Ja“.37 Gerndt bleibt also bei der Bestimmung der Narrativität von Bildern auf halbem Wege stehen, weil er den Text, die Unterschrift zum Bild für erzählerisch notwendig hält. Verständlich wird diese Position, wenn man bedenkt, dass er seine Ergebnisse an Hand von Karikaturen gewinnt, die in ihrer humoristischen Zielrichtung eine ganz bestimmte Erzählrichtung und Erzählform herstellen wollen. Einen Schritt weiter geht Fritz Breithaupt in seiner Beschäftigung mit der Narrativität der Bilder.38 Am Beispiel von Comic-Bildern zeigt Breithaupt auf, dass in Bildern bestimmte Details als Indiz für Handlungen gelesen werden können. Es gibt also Teile im Bild, die über das Bild hinausweisen. Dies kann auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft verweisen. So lässt eine Karikatur, die eine Figur zeigt, über der ein Blumentopf in der Luft „hängt“ und über dem ein Fenster zu sehen ist, den Schluss zu, dass der Blumentopf aus dem Fenster gefallen ist und die Figur auf dem Kopf treffen wird. Breithaupt legt dar, dass das Problem der Narrativität in der deutschen Literaturgeschichte verankert ist. Lessing und Goethe diskutierten am Beispiel der Laokoon-Gruppe, ob und wie Bilder und Plastiken erzählen können. Während Lessing davon ausging, dass ein erzählendes Bild die Kenntnis der gesamten Geschichte beim Betrachter voraussetzt, meinte Goethe, dass die Handlung bereits durch Indizien in das Bild selbst eingeschrieben ist.39 Bilder erzählen aber nicht nur, wenn sie Indizien einer Bewegung oder weitere Bilder zum Vergleich mit sich führen. Bilder erzählen auch, wenn sie 35 36 37 38 39
Vgl. Gerndt 2005. Ebd., S. 115. Ebd., S. 114. Vgl. Breithaupt 2002. Für Lessing stellt das Bild den Todeskampf der Figuren mit einer Schlange kurz vor dem Ende dar, weil ein Ende (die toten Körper) für den Betrachter Abscheu erregen. Goethe schaut genauer auf das Bild und weist am Bild auf, dass die Schlange gerade im Begriff ist, den Vater zu beißen. Hier liegt ein deutliches Indiz dafür vor, dass das Bild selbst in der Bewegung weiter drängt. Im nächsten Moment wird die Schlange siegen. Vgl. Ebd. S. 44f. 217
in eine bestehende Erzählkultur gehören. So wie sich das Heidi-Bild der Werbung auf eine lange Heide-Bild-Kultur bezieht, die im konkreten Bild weitererzählt wird, finden sich viele Bilderwelten in unserer Kultur, die von einzelnen Fotos aufgegriffen werden. Bilder von Walen etwa beziehen sich auf eine Erzählkultur und eine Bildkultur, die von Moby Dick bis zum Discovery Channel reicht. Es gibt die Bilder-Erzählung zum Beispiel der Familienfeier, die der Reise, die des Krieges oder die der Schule. Die narrativen Bildwelten sind nicht nur im öffentlichen Raum präsent, sie sind es auch in den Köpfen. Jedes Bild tritt so in den Vergleich mit der inneren Bilderwelt der Betrachter und beginnt eine Geschichte zu erzählen: Dieser Blick ist mir vertraut, dieser ist neu. Heutzutage ist die visuelle Kultur eine weltweite narrative Bildkultur geworden, mit deren Hilfe die zentralen Themen global kommuniziert und diskutiert werden. Die Bilder erzählen, aber sie erzählen nicht wie Texte, sondern in einer eigenen Bildsprache. Da Fotos die Vielschichtigkeit heutiger Gesellschaften abbilden, muss davon ausgegangen werden, dass sie selbst Träger vielschichtiger und ambivalenter Inhalte sind. Der Betrachter reagiert auf das visuelle Angebot eines Fotos und projiziert aufgrund seiner inneren biografischen Bild- und Sinnwelten in einem Prozess des Erkennens und Wiedererkennens eine festgelegte Bedeutung in das Foto. Das Foto ist also in seiner Botschaft mehrdeutig und wird in verschiedenen historischen und sozialen Kontexten unterschiedlich „gelesen“ und verstanden. Das eigentliche Bild entsteht erst im Auge des Betrachters ist mithin eine Konstruktion des Subjektes, freilich unter bestimmten sozialen und kulturellen Bedingungen. 5.
Bildkultur und Emotion
Die Globalisierung als Herstellung einer weltweiten Öffentlichkeit ist ohne die massenhafte Verbreitung von visuellen Artefakten nicht denkbar. Fotos nehmen hier einen wichtigen Stellenwert ein, mit ihnen werden über Sprachund Kulturgrenzen hinweg Werte und Normen, Erfahrungen und Emotionen sowie Politik und Ideologie transportiert. „Die Erfindung der Photographie“ – das ist heute unwidersprochen – „bedeutete letztendlich die Geburt einer neuen Sprache, und als solche sollte sie vor allem eine neue Art der visuellen Kommunikation ermöglichen. Diese Sprache ist nicht ortsgebunden, und die Flut der photographischen Bilder kennt keine Grenzen. Die Vervielfältigung und Verbreitung dieser Bilder hat eine virtuelle Realität geschaffen, 218
die Teil unserer modernen Lebenserfahrung geworden ist.“40 Die Fotografie nimmt bei der Entstehung einer neuen globalen Öffentlichkeit offensichtlich die Rolle einer „lingua universalis“41 ein. Sie formt sich zu einer Bild-Sprache, die eine weltweite Kommunikation über staatliche, sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg ermöglicht und zur Herausbildung einer neuen visuellen Ästhetik führt. Diese Ästhetik zielt im wesentlichen auf die Vermittlung von Emotionen, die sich beim Betrachten von fotografischen Zeugnissen einstellen sollen. Fotografische Erzählung und Emotion sind eng verkoppelt. Im kommunikativen Austausch sind Fotos vor allem dann erfolgreich, wenn sie Emotionen gekonnt ansprechen und erzeugen.42 Betrachtet man die Herausbildung einer weltweiten emotional erzählenden Fotokultur, so kommt der Kriegsfotografie eine besondere Bedeutung zu. Bereits die Geschichte der Kriegsfotografie zeigt, dass mit Fotografien vom Krieg nicht nur Informationen vermittelt, sondern immer auch Emotionen geweckt werden. Die darstellende Dramatik des Krieges, die immer mit politischen Interessen verbunden ist43, bedient sich einer besonderen Bildsprache.44 Mit der Kriegsfotografie wird das Foto selbst ein Teil der Kriegshandlung. Die Kriegsfotografie macht deutlich, dass Fotos stets eine Mehrdeutigkeit innewohnt, dass dasselbe Foto sehr unterschiedlich rezipiert werden kann. So kann ein Kriegsfoto sowohl Gefühle des Sieges und Triumphes als auch Gefühle der Abscheu, Angst und Ohmacht auslösen, je nach dem welcher Partei der Betrachter angehört. Ein Kriegsfoto kann aber auch – über alle Grenzen und Kulturen hinweg – Reaktionen der Betroffenheit, der Menschlichkeit hervorrufen und die Erkenntnis der Grausamkeit des Krieges bewusst werden lassen. Ein Beispiel für ein solches Foto ist etwa das Bild aus dem Vietnamkrieg, 1972 von Nick Ut aufgenommen, das Kinder auf der Flucht vor einem Napalm-Angriff zeigt.45 Berühmt wurde das Foto durch das verzweifelte, schreiende und nackte Mädchen im Mittelpunkt des Bildes, das sich in einem scharfen Kontrast zu den bewaffneten Soldaten im Hintergrund befindet. Das Foto hat den Pulitzer-Preis bekommen, es ging um die ganze Welt 40 Scheps 1996, S. 4f. 41 Ebd., S. 5. 42 Das künstlerische Foto wäre eigens zu betrachten. Künstlerische Ansprüche sind freilich andere als journalistische. 43 Vgl. Arbeitskreis Historische Bildforschung (Hrsg.) (2003): Der Krieg im Bild. 44 Ein bekanntes Beispiel wäre das Foto von Robert Capa „Death of a loyalist Soldier“ aus dem Jahre 1936. 45 Vgl. Fass/Fulton [online] 20.06.2004. 219
und hat das Leben Pan Thi Kim Phucs kolossal verändert. Die Widersprüchlichkeit amerikanischer Kriegspolitik in Vietnam wurde visualisiert. Das Grauen des Krieges bekam ein Gesicht, und es wurde eine eindringliche Geschichte vom Leiden unschuldiger Kinder erzählt. Auch in den USA löste dieses Foto große Erschütterungen aus und führte zu politischen Diskussionen um die Rechtfertigung von Napalm-Angriffen. Am Beispiel der Kriegsfotografie stellt sich eindringlich die Frage nach der erzählenden Dimension des Fotos, wobei ein einziges Foto sehr unterschiedliche ambivalente Geschichten transportieren kann. Die Fotos vom Krieg sollen vielfach nicht einfach den Krieg abbilden, sie sollen vielmehr vom Krieg „erzählen“.46 Die Erzählungen zielen auf die Emotionen, was sich in der Geschichte der Kriegsfotografie in einem kontroversen Diskurs niedergeschlagen hat. Der Problemhorizont lässt sich folgendermaßen skizzieren: Trägt die Kriegsfotografie zur Aufklärung, Abschreckung und letztlich zur Verhinderung von Krieg bei oder bestärkt sie nicht den Krieg, indem sie durch Gewöhnung an die schrecklichen Bilder zu einer größeren Akzeptanz von kriegerischen Konflikten führt? Schaut man auf die Publikationen von Susan Sontag, die zentrale Beiträge zur Kriegsfotografie vorgelegt hat, so zeigt sich ein bedeutsamer Wandel in der Bewertung der Bildkultur, der für den Kontext der narrativen Bildinterpretation wichtige Impulse gibt. „Fotos“, schreibt Sontag im Jahr 1977, „liefern Beweismaterial. Etwas, wovon wir gehört haben, woran wir aber zweifeln, scheint ‚bestätigt’, wenn man uns eine Fotografie davon zeigt.“47 Das Gesehene aber führt nicht zu ethischem Handeln. „Die Schockwirkung fotografierter Greueltaten lässt bei wiederholter Betrachtung nach [...]. Der umfassende fotografische Katalog des Elends und der Ungerechtigkeit in aller Welt hat jedermann mehr oder weniger mit Grausamkeiten vertraut gemacht, indem er das Entsetzliche immer alltäglicher erscheinen ließ.“48 Bewertet sie die technisch-industriellen Bilder als „aggressiv“ und als „eine Form der Verweigerung von Erfahrung“49 sieht sie im Jahr 2003 die Bilder von Kriegen als eine notwendige, weil einzige Form, der Kommunikation über das Leiden von Kriegsopfern an.50 In ihrem Essay „regarding the pain 46 So lautet etwa eine Fotoausstellung in Mannheim, die vom 20.03. bis 01.05.2005 Fotos von zwei britischen Fotografen präsentierte „Erzähl mir vom Krieg“. Vgl. Zehypr. [online] (14.07.2005). 47 Sontag 1980, S. 11. 48 Ebd., S. 26. 49 Ebd., S. 15. 220
of others“ stellt Sontag fest, dass Bilder über das Leiden nötig sind, da nur sie die Geschehnisse wirkungsvoll kommunizieren. Gegenüber der Ablehnung der Kriegsfotografie von 1977 liegt hier also ein „Kurwechsel“ vor, wie Rüdiger Zill in seiner Rezension bemerkt.51 Fotos sind zum zentralen Medium der Kommunikation geworden und über Fotos finden in unserer Kultur die Erinnerung an und das Erzählen über die Welt statt. Bemerkenswert ist auch die Einschätzung von Hennig Ritter, der in der Betrachtung von Leiden auf Fotos eine „Zäsur in der Gefühlsgeschichte des Menschen“ sieht.52 Wird von Sontag noch in den 70er Jahren die Fotografie mit einer Fundamentalkritik belegt und vor allem in ihrem Abstufungs- und Gewöhnungspotential gesehen, betont sie 26 Jahre später, dass die Fotografie das globale Medium geworden sei, mit dem Geschehnisse, Emotionen und Erfahrungen transportiert werden. Auch für die Kriegsfotografie gilt, dass sie neue Blicke liefern muss, um Erfolg zu haben. Nur Leichen zu fotografieren, ist, auch wenn es sich makaber anhört, keine Nachricht. So beschreibt Luc Delayhaye in einen Interview über Kriegsfotografie, wie ihn heute die Kriegsfotos vergangener Kriege beeinflussen. Auf die Frage, ob er beim Fotografieren heute noch an Bilder aus dem Vietnamkrieg denke, antwortet der Fotojournalist: „Natürlich. Wenn ich für mich sprechen soll, so behalte ich im Gedächtnis eher die Bilder von Don MacCullin und Larry Burrows, der über den Vietnam-Krieg berichtete und 1971 starb. Gelegentlich ist es schwierig, nicht daran zu denken, wenn man fotografiert, und schwer, sich zu sagen: ‚Achtung, du reproduzierst gerade etwas, was du und alle Welt schon gesehen haben!’ Nicht selten ähneln sich ja im Krieg die Situationen. Man verfügt über keine unendlichen Möglichkeiten, Leiden, Wut, Verzweiflung oder Schmerz auszudrücken. Oft genug verfällt man denselben Schemata.“53
Die Kriegsfotografie ist ein besonders eindringliches Beispiel für die neue Bedeutung des erzählenden Bildes. Die Militärs unterschiedlicher Armeen haben längs darauf reagiert und die Bilder in ihre Strategien integriert. Für die
50 Vgl. Sontag. Regarding. 2003. 51 Frankfurter Rundschau vom 08.10.2003. In: Perlentaucher.de. Sontag. (12.07.2005). 52 FAZ vom 23.08.2003. In: Perlentaucher.de. Sontag. (12.07.2005). 53 Freitag.de – Frei von allen Fesseln [online]. http://www.freitag.de/2003/04/ 03041701.php (13.07.2005). 221
Bildwissenschaft wird es eine zukünftige Aufgabe sein, auf die neue visuelle Bildkultur mit angemessenen Interpretationsverfahren zu reagieren. 6.
Schluss
Mit der Betonung der erzählenden Qualitäten von Bildern ist – so die abschließende These – eine Neubewertung von Fotos verbunden, die es auch in den Erziehungswissenschaften zu reflektieren gilt. In der visuellen Kommunikationskultur der Moderne sind Fotos54 zu einem zentralen globalen erzählenden Medium geworden, das Botschaften mit visuellen Mitteln verbreitet. In welchen Erzählkontext ein Foto gehört, ist wesentlich für das Verständnis eines Bildes und könnte eine Interpretationsfolie für die genauere Untersuchung des Fotos sein. Welchen Beitrag liefert eine Fotografie zu einem Diskurs? Mit welchen Mitteln wird die visuelle Botschaft gestaltet, mit welchen ästhetischen Mitteln werden die Gefühle, die vermittelt werden sollen (zum Beispiel Angst) erzeugt? Zentrale Aufgaben der Bildinterpretation stehen noch aus: der Kontext als Korrektiv der Interpretation, die Untersuchung der visuellen Erzählungen in unserer Kultur, die Frage nach der emotionale Wirkung von Bildern und ihr Bildungsgehalt. Aus pädagogischer Perspektive ist die neue Bedeutung der narrativen Bildkultur für Bildungsprozesse zu untersuchen. So sind in den letzen Jahren zahlreiche informelle Bildungsangebote entstanden, die auf visuellen Erzählungen beruhen (als Beispiel Sendungen im Bereich Infotainment), und die mit den Bildern Unterhaltung und Emotionen verbinden. Diese neuen Formen des bildlichen narrativen Lernens sind bisher zu wenig von der Erziehungswissenschaft in den Blick genommen worden. Es erscheint dringend geboten, sich intensiver mit der visuellen Erzählkultur auseinander zu setzen.
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225
Ulrike Pilarczyk
Selbstbilder im Vergleich. Junge Fotograf/innen in der DDR und in der Bundesrepublik vor 1989 1. Einleitung Fotografien ohne Kontext gleichen eher vagabundierenden Zeichenträgern, denn je nach Kontext können fotografische Bilder ihre Bedeutung wandeln. Ein Apfel auf einem Foto kann einfach ein Nahrungsmittel anzeigen oder aber ein Symbol darstellen. Das Motiv kann zufällig zustande gekommen oder aber absichtsvoll ins Zentrum gesetzt worden sein. Deshalb gilt für Fotografieinterpretationen zunächst, dass (1) der Entstehungskontext, d. h. Zeit, Ort und Region, bekannt sein muss, dass (2) die Herkunft erschlossen werden kann, d. h. zumindest Angaben zum Status der Fotografin oder des Fotografen (professionell, Amateur oder Knipser) gemacht werden können, und (3) zuletzt auch der Verwendungskontext bekannt sein sollte, da dieser darüber Auskunft gibt, welche soziale Funktion die Fotografie hatte (öffentlich, privat, institutionsöffentlich). Diese Klassifikation muss für Fotografien zunächst gewährleistet sein, um dann Fotoserien für die Interpretation zusammenstellen zu können. Erst solche chronologischen oder systematischen Serien lassen im späteren Verlauf der Fotoanalyse auch Aussagen über die Relevanz der aufgestellten Hypothesen zu. Wir haben für fotografische Quellen ein abgestuftes Verfahren entwickelt, die seriell-ikonografische Fotoanalyse, die es erlaubt, sowohl einzelne Fotografien zu interpretieren als auch ganze Serien kriteriengeleitet zusammenzustellen und als gesamten Korpus zu analysieren. Erst ein solches Verfahren macht es möglich, auch Bildvergleiche wie im Folgenden anzustellen. Vorgestellt werden Ergebnisse einer bildanalytischen Untersuchung, die wir im Rahmen des DFG-Projektes: „Umgang mit Indoktrination: Erziehungsintentionen, -formen und -wirkungen in deutschen ,Erziehungsstaaten’“ an der Humboldt-Universität Berlin, unter Leitung von H.-E. Tenorth und K. Wünsche (1994-2000) durchgeführt haben.1
1
Die Vorarbeiten zu diesem Beitrag entstanden zusammen mit Ulrike Mietzner. 227
Ausgangsfrage der Untersuchung war die nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in Sichtweisen und Selbstbildern von Jugendlichen in Ost und West in den Jahren vor dem Mauerfall. Für die Rekonstruktion der Selbstbilder diente uns die Fotografie, die sich im 20. Jahrhundert als favorisiertes Bildmedium beinahe aller Jugendgenerationen etabliert hatte. Der Beitrag soll auch in die Arbeit mit der seriell-ikonografischen Fotoanalyse2 einführen, im Besonderen werden zwei methodische Herangehensweisen genutzt und wechselseitig aufeinander bezogen: 1. die Interpretation einzelner, repräsentativer fotografischer Bilder – die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation und 2. die Analyse vieler Fotografien bzw. ganzer Fotobestände – die serielle Analyse. 2. Untersuchungskorpus qualifizieren Im Hinblick auf unsere Untersuchungsfrage war zunächst problematisch, welche Fotografien überhaupt Selbstbilder transportieren und welche fotografischen Bestände als vergleichbar angesehen werden können. Selbstbilder lassen sich vor allem dort finden, wo Menschen sich selbst in den Blick nehmen. Konnte als erstes Kriterium für unseren Untersuchungsbestand gelten, dass die Fotografien aus den 80er Jahren stammen und sich eindeutig dem jeweiligen politischen System, DDR oder BRD, zuordnen ließen, sollte das zweite sein, dass die Fotograf/inn/en zum Zeitpunkt der Aufnahme jung waren und das dritte, dass sie mit ihrer Aufnahme die eigene Generation thematisierten – also nicht zum Beispiel reine Landschaftsaufnahmen. Wenn junge Fotografen andere junge Menschen fotografieren, handelt es sich um den in der Fotografie relativ seltenen Fall der statusgleichen Fotografie, also um ein symmetrisches Verhältnis – Jugend fotografiert Jugend. Aus dieser besonderen Konstellation hofften wir, nicht nur Merkmale des Selbstbildes der Jugend in den 1980er Jahren in Ost und West zu gewinnen, sondern auch Hinweise auf die bildungstheoretisch bedeutsame Frage nach dem Selbstkonzept von Jugend dieser Zeit. Allerdings macht die gesellschaftliche Relevanz des Themas deutlich, dass es sich nicht mit privater Familien- und Freundesfotografie bearbeiten ließ, denn Bilder der privaten Erinnerung zeigen in der 2 228
Vgl. dazu ausführlich Pilarczyk/Mietzner 2005.
Regel auch ein privates Selbstbild, um das es eben gerade nicht ging. Die für den Untersuchungsbestand qualifizierten Fotografien sollten also von vornherein für einen größeren Rezipientenkreis als Familie gedacht sein, wohl wissend, dass eine Umwidmung von privat zu öffentlich oder halböffentlich auch erst nach der Entwicklung stattfinden kann. Die angestrebten Bildaussagen sollten von allgemeinerem, über das Private hinausgehendem Interesse sein. Für die Bundesrepublik boten sich dafür die Bestände des Deutschen Jugendfotopreises an, die im Archiv der Deutschen Jugendbewegung auf der Burg Ludwigstein ab dem Jahr 1964 archiviert sind. Kinder und Jugendliche (bis 25 Jahre) und Fotogruppen konnten dort jährlich (mittlerweile zweijährig) eigene Fotografien entweder für den freien Wettbewerb oder zu einem Sonderthema einreichen. Aus einer Vorauswahl der 200 gelungensten Fotografien wählt die Jury dann die Preisträger aus – archiviert ist nur diese Vorauswahl inklusive der Preisträger, deren Fotos in der Regel in einem Katalog veröffentlicht werden. In gewisser Weise schränkt die Auswahl durch die Jury die Repräsentativität des Bestandes für die fotografierende Jugend in der Bundesrepublik ein, denn die Arbeit der auswählenden Jury kann man durchaus als interpretierenden Akt verstehen, der den archivierten Bestand und den Katalog in einer bestimmten Weise profiliert. Wenn man allerdings diese Einschränkung bei der Interpretation mit bedenkt, sind die Fotografien für Untersuchungen des Selbstbildes gut geeignet, weil kaum daran gezweifelt werden kann, dass die Mehrzahl der Fotos von den Jugendlichen thematisch frei gewählt, selbst angefertigt und auch aus freien Stücken für den Wettbewerb ausgewählt und eingesandt wurden. Hinzufügen muss man, dass sich vor allem unter den Preisträgern eine Reihe von Jugendlichen finden lassen, die sich später professionell dem Fotografieren bzw. der künstlerischen Fotografie zuwandten, hier handelt es sich also durchweg um hochambitionierte Amateurfotografie.3 Der unserer Untersuchung zugrunde liegende, nach Thema, Herkunft, Entstehungszeitraum und Autor qualifizierte Bestand umfasst ca. 750 Jugendfotografien des Jugendfotopreises vom Ende der 70er bis zum Ende der 80er Jahre. Schwieriger stellte sich die Quellenlage für die DDR dar, zwar gab es auch dort einen jährlich stattfindenden Jugendfotowettbewerb, der vom Kulturbund der DDR getragen wurde, den „Leistungsvergleich der Kinder- und Jugendfotogruppen“, aber es handelt sich dabei in der Mehrzahl um Arbeiten 3
Vgl. dazu die Interviews mit ehemaligen Preisträgern im Jubiläumskatalog des Jugendfotopreises (Grebe u.a. 2002). 229
aus Arbeitsgemeinschaften an Schulen, Pionier- oder FDJ-Klubhäusern. Der Einfluss der erwachsenen Zirkelleiter auf Thema, Stil und Auswahl für die Leistungsvergleiche ist unberechenbar, auf keinen Fall jedoch gering zu schätzen. Für die Untersuchung zum Selbstbild von Jugendlichen in der DDR sind diese Fotografien also nur bedingt geeignet, vor allem sind sie nicht ohne Weiteres mit den bundesdeutschen Jugendfotografien vergleichbar. Auf gleicher Ebene lagen schon eher Arbeiten der jüngeren Generation freier Fotografen4, die sich in den 80ern nicht scheuten, „DDR-Verhältnisse“ so zu zeigen, wie sie sie wahrnahmen. Diese Arbeiten konnten zunächst nur in kleineren Galerien gezeigt werden, gegen Ende der achtziger Jahre und noch viel mehr in den Jahren nach der Wende wurden dann auch viele von ihnen publiziert. Außerdem zogen wir für die Untersuchung des Selbstbildes Fotografien der Studenten der Hochschule für Grafik und Buchgestaltung in Leipzig heran, weil auch die in dieser Zeit verhältnismäßig frei von staatlichem Druck und politischer Zensur einen eigenen Stil entwickelten. Sie waren zwar in der Regel älter als die Einsender des Jugendfotopreises, dennoch gehörte für sie als Student/inn/en jugendliches Selbstgefühl zu den zentralen Themen. Insgesamt umfasst der Untersuchungsbestand zum Selbstbild für die DDR ca. 500 Fotografien.5 3. Hypothesen generieren – die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation Für ein vertieftes Eindringen in den umfangreichen Bestand empfehlen sich sowohl der Einstieg über die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation als auch die serielle Analyse. Welchen Weg man wählt, hängt vom Material und von den Untersuchungsfragen ab und auch davon, mit welchen 4 5
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Damit sind unabhängige Fotografen gemeint, die nicht im Auftrag einer Institution fotografierten. Davon stammen 340 Fotografien aus den Leistungsvergleichen der Kinderund Jugendfotogruppen beim Kulturbund der DDR (Archiv des Kinder- und Jugendfilmzentrums Remscheid), 70 Fotografien aus Arbeiten von Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (Archiv der HGB), 21 Fotografien stammen aus der Zeitschrift „Fotografie“ und 51 Fotografien wurden aus folgenden Fotopublikationen verwendet: Dreßen 1988; Drommer 1989; Domröse 1992; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/ Schmolling 1995; Kuehn 1997.
Vorannahmen man bereits an das Bildmaterial herantritt. Eine Einzelbildinterpretation ist vor allem dann sinnvoll, wenn leitende Fragestellungen für den Bestand erst gefunden werden sollen. Für größere materialreiche Untersuchungen hat sich die Kombination beider Methoden bewährt. Die Einzelbildinterpretation dient der Generierung von Hypothesen aus dem Bildmaterial selbst, die dann als Forschungsfragen die Untersuchung weitertreiben, sie können im Sinne einer „grounded theory“ als Hypothesen für weitere wissenschaftliche Untersuchungen dienen, die am vorhandenen Korpus und an anderen Fotobeständen weitergeführt werden. Die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation ist ein von Erwin Panofsky zu einem Stufenmodell ausgearbeitetes und in der Kunstgeschichte bewährtes bildanalytisches Verfahren, das von Konrad Wünsche und Pilarczyk/Mietzner (2005) für die Interpretation von Fotografien modifiziert wurde. Die verwirrende Vielfalt des fotografisch Dargestellten in unserem Gesamtkorpus von 1200 Fotografien machte eine erste Ordnung nach Themen, Motiven und Stilen erforderlich, über die sich Hinweise auf den Charakter und das Profil der zwei Bestände gewinnen ließen, die für die Auswahl von zwei Fotografien für die Einzelbildinterpretation leitend sein sollten. Danach zeigte sich, dass es sich bei den Jugendfotografien aus der Bundesrepublik mehrheitlich um experimentelle, häufig auch dynamisch bewegte und in einer abstrakten Bildsprache vorgetragene Themen handelte, während bei der DDR-Fotografie die Konzentration auf soziale Themen, die Gegenständlichkeit der Aufnahmen und der intensive Bezug zwischen Fotografen und Fotografierten auffiel, der sich besonders häufig in einem intensiven Blick der Fotografierten in die Kamera ausdrückte. Auswahl von Fotografien für die Einzelbildinterpretation: Die Auswahl einer oder mehrerer Fotografien ist mehr als nur eine sondierende Vorarbeit, denn dem Auswahlprozess für die Bildinterpretation kommt im Rahmen der seriell-ikonografischen Fotoanalyse eine eigenständige heuristische und systematische Funktion zu. Gesucht wird nach einem komprimierten bildlichen Ausdruck, nach einer komplexen Darstellung, die inhaltlich und formal etwas für den Referenzbestand – und die Fragestellung – Wesentliches, in der Aussage Substanzielles enthält, eine Darstellung, über die Hypothesen und Annahmen generiert werden können. Die geeignete Fotografie muss den Referenzbestand sowohl stilistisch als auch thematisch und motivisch repräsentieren. Dabei ist es außerordentlich wichtig, die ästhetische Gesamtwirkung des Bildes zu erfassen und möglichst sprachlich zu fixieren, denn bevor irgendein Teilelement herausgegriffen wird, macht die Gesamtkomposition eine Aussage, die nicht verloren gehen darf. Interesse und Aufmerksamkeit 231
sind bei der Suche gelenkt durch vorausgehende Erörterungen der Untersuchungsfrage, durch theoretische Vorarbeiten, vorangegangene Analysen. Die Suche nach der Fotografie ist also prinzipiell theoriegeleitet und thematisch konzentriert, andererseits ist sie auch intuitiv. Denn das „richtige“ Bild vermittelt immer eine besondere, sprachlich schwer zu fassende Faszination. Konrad Wünsche spricht bei diesen ersten Kontakten mit dem Bild von Imagination. Das in Erscheinung getretene „Imaginäre“, das weder für „Sinn“ noch für „Form“ stehe, meint zunächst die durch das Bild präsente Einbildungskraft (vgl. 1991, S. 276). Ohne dass ein wissenschaftlicher Ertrag zum Zeitpunkt der Auswahl schon benannt oder reflektiert werden könnte, zeigen unsere bisherigen Untersuchungen, dass sich über diese Faszination bereits eine Ahnung von einem pädagogischen Phänomen, das im Bild verschlüsselt liegt, vermitteln kann. Dieses intuitive Herangehen scheint dem komplexen, nicht sprachlichen, auf Emotionen zielenden Charakter der Fotografie am ehesten gerecht zu werden. Kontrolliert wird die Bildauswahl einerseits durch nachfolgende nochmalige Überprüfung der Auswahlkriterien und andererseits durch Einbeziehen anderer, in die Untersuchung nicht involvierter Betrachter/innen, an deren Meinung die erste Bildwirkung geprüft werden kann. Das für den Untersuchungsbestand Bundesrepublik gewählte Foto (Abb. 1) entspricht mit seiner teilweise abstrakten Formensprache einem sichtbaren Trend beim Jugendfotopreis. Das Foto aus der DDR (Abb. 2) zeigt eine für den DDR-Bestand typische Dialogsituation zwischen Fotografen und Abgebildeten. Der Fotoamateur Ralph Baiker (geb. 1966) reichte seine Aufnahme (Abb. 1) beim Jugendfotowettbewerb der Bundesrepublik ein, wo sie 1984 prämiert wurde.6 Das Foto (Abb. 2) des freien Fotografen Jörg Knöfel (geb. 1962) entstand ebenfalls Anfang bis Mitte der 80er Jahre und erschien 1989 in dem Bildband „Schau ins Land“ (Drommer 1989).
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Das Motto des allgemeinen Wettbewerbes des bundesdeutschen Jugendfotopreises wurde in der Einleitung des Kataloges 1984 mit den Worten beschrieben: „Ansehen, nachdenken, seine Meinungen und Gefühle in Bildern erkennen, seine Meinungen und Gefühle in Bildern ausdrücken, selbst fotografieren.“
Abbildung 1
Abbildung 2 233
Die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation enthält in ihrer Modifikation für fotografische Bilder vier Analyseschritte, die uns während der Untersuchung leiteten, die wir aber im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit in einen zusammenhängenden Text aufgelöst haben.7 Mit einer möglichst genauen Beschreibung sollte man sich zunächst der Bildinhalte vergewissern. Auf dem Foto von Jörg Knöfel aus der DDR (Abb. 2) sind zwei Jugendliche auf einem Platz oder einem Feld zu erkennen, ohne sichtbaren Ausgang. Sofort ins Auge fallen der merkwürdige Pfahl (eine Teppich- oder Wäschestange oder ein Zaunpfahl) in der Mitte des Bildes und die auffällige Haartracht der rechten Person. Während man ihren Blick spontan als eher jungenhaft deuten würde, verweisen Frisur und Accessoires, die Perlenkette und der Ohrring, sogleich auf die Möglichkeit, dass es sich auch um ein Mädchen handeln könnte.8 Auf der Fotografie von Ralph Baiker (Abb. 1) aus der Bundesrepublik ist das zentrale Bildmotiv eine schemenhafte Figur, die sich in einem streuenden Licht zwischen zwei Reihen Schließfächern, vermutlich also auf dem Bahnhof, befindet. Die Figur hat kein Gesicht, und es ist nicht klar, ob sie auf den Betrachter zukommt oder sich entfernt. Ebenso verheißt das Licht am Ende des Ganges nicht unbedingt einen Ausgang. Das Geschlecht der Person ist ebenfalls unklar, hier assoziiert das Fehlen weiblicher Prädikate Männlichkeit – in Wirklichkeit könnte es sich natürlich ebenso gut um eine weibliche Figur handeln. Die Beschreibung der Bildinhalte, also dessen, was unmittelbar abgebildet worden ist, liefert Informationen, die durchaus dokumentarischen Wert haben. Zum Beispiel erfahren die, die dies bisher nicht wussten, dass es in der DDR der 80er Jahre Gruftis (also mindestens einen) gab und u. a. mit welchen Accessoires sie sich zu schmücken pflegten. In einem weiteren Schritt der Analyse geht es um die Klärung des Bildanliegens, des Bildsinns, von dem hier angenommen werden kann, dass er in 7
8
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Das methodische Vorgehen orientiert sich grundsätzlich an dem von Erwin Panofsky beschriebenen Stufenmodell der ikonografisch-ikonologischen Bildinterpretation, wurde aber von Konrad Wünsche und Mietzner/Pilarczyk für fotografische Bilder modifiziert und sieht vier Analyseebenen vor: die präikonografische (1) und ikonografische Beschreibung (2) sowie die ikonografische (3) und ikonologische Interpretation (4). Damit ist es möglich, deutlicher zwischen ikonografischer und ikonologischer Interpretation zu unterscheiden, als es Panofsky tat (vgl. dazu ausführlich Pilarczyk/Mietzner 2005). Scheinbar hat Knöfel generell das Spiel mit der Androgynität gereizt, das belegen auch andere Fotografien von ihm, z.B. in dem Fotoband „Schau ins Land“, hrsg. v. Drommer 1989, S. 46, 132, 218.
beiden Fällen weitgehend den Intentionen der Fotografen entsprach, die sich nicht allein in der Themenwahl, sondern genauso in der ästhetischen Gestaltung der Fotografie und der späteren Auswahl für die Veröffentlichung ausdrückten. Es geht daher im Folgenden um die Darstellung der Mittel, mit denen sie ihre Intentionen bildlich umsetzten. Filmwahl, Bildausschnitt, Kameraperspektive, Kameraeinstellung: Beide Fotografen entschieden sich für eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, dies spricht für ihre fotografischen Ambitionen, denn zu dieser Zeit hatte sich die Farbfotografie in der Bundesrepublik schon vollständig durchgesetzt, in der DDR war der Prozess in vollem Gange. Auf jeden Fall haben die Fotografien in Grautönen eine spezifische Ästhetik, der Betrachter wird stärker auf Licht und Schatten, auf die Bildstrukturen insgesamt konzentriert. Die Ausschnittwahl offenbart hingegen recht unterschiedliche Bildanliegen. Ralph Baiker wählt einen Innenraum, und dort positioniert er die Kamera so, dass die beiden Reihen Schließfächer rechts und links mit dem Bildrand angeschnitten werden und auf der Bildfläche symmetrisch positioniert sind. Der Gang zwischen den Schließfachreihen hat durch den Anschnitt scheinbar keinen Anfang, und er hat auch kein sichtbares Ende, weil die Objekte im hinteren Teil im Licht verschwimmen, dadurch wird ein tunnelartiger Eindruck erzeugt. Die diffusen Lichtverhältnisse entstehen durch eine lange Verschlusszeit, mit der das Licht in dem ansonsten wohl eher dunklen Raum gesammelt wird, zugleich konnte damit der Fluss der Körperbewegung der fotografierten Person als zerfließende Kontur auf die Bildfläche projiziert werden. Jörg Knöfel hingegen wählt den Bildausschnitt im Außenraum, er benutzt ein Weitwinkelobjektiv mit einem großen Tiefenschärfebereich und eine kurze Verschlusszeit. Ganz sicher ging es ihm nicht allein um das Porträt, dafür hat der Hintergrund zuviel Raum – das Feld, die Bäume, das Gehölz, die Wohnhäuser und vor allem der Wohnblock, der sich hinter den Köpfen der Personen auftürmt. Dieser Hintergrund beansprucht auf der Bildfläche beinahe soviel Platz wie die Porträtierten, bei denen der Fotograf – vermutlich gerade wegen dieser für ihn so interessanten Projektionsfläche – auf die Darstellung von Händen und Beinen verzichtet. Dominante Bildlinien: Dazu gehört zunächst der Pfahl in der Mitte von Knöfels Foto. Er ist als gerade Linie bildbestimmend, er teilt es nicht nur in zwei Hälften, sondern trennt auch die Personen voneinander. Gleichzeitig sind sich die Jugendlichen dadurch, dass sie sich ein wenig an den Pfahl lehnen, gegenseitig zugeneigt, dann funktioniert der Pfahl als eine Stütze, der überhaupt erst ihre lässige Haltung ermöglicht. Er ist also nicht nur das Trennende zwischen ihnen, sondern auch das Gemeinsame, Stabilisierende – ein 235
widersprüchlicher Eindruck, der sich auch nach längerer Betrachtung nicht auflöst. Auf jeden Fall verstärkt der Pfahl die insgesamt statische Bildwirkung. Mit dem großen Aufnahmewinkel hat Knöfel einen weiten Raum geschaffen, der zwar perspektivisch wirkt, aber ohne Tiefe ist, weil der Fluchtpunkt auf den Wohnblock trifft. Dieser verhindert den Eindruck von Bildtiefe, und er verstellt den Horizont. Da das bundesdeutsche Vergleichsfoto von Baiker eine Innenraumaufnahme ist, hat es sozusagen „naturgemäß“ keinen Horizont. Aber die strenge linearperspektivische Anordnung mit dem Fluchtpunkt, der sich genau dort befindet, wo man auch die Lichtquelle vermutet, schafft einen tiefen imaginären Bildraum. Bildräume und Atmosphäre: Der dreidimensionale Bildraum auf dem Baiker-Foto vermittelt nicht nur einen tiefen, sondern auch einen dynamischen Eindruck. Dafür gibt es Gründe: Durch den Zusammenschluss der parallelen Ober- und Unterkanten der Schließfachwände kommt es links und rechts zu perspektivischen Verengungen, die an Schienen erinnern, auch wegen des metallischen Eindrucks der Lichtreflexe auf der glatten Oberfläche, die einen starken Eindruck von Bewegung und Beschleunigung vermitteln – durch die gleichmäßige Gliederung der Schließfachfelder vermögen entsprechend veranlagte Menschen synästhetisch sogar einen zugtypischen Rhythmus wahrzunehmen. Hinzu kommt, dass die Lichtquelle am Ende des Ganges einen Sog erzeugt, der das Gefühl von Beschleunigung ebenso unterstützt wie die verschwommene Kontur der Person. Das Licht erzeugt hier aber außerdem noch einen zweiten, ebenfalls dreidimensionalen Bildraum, der sich nicht in die Tunneloptik einpasst. Durch die Spiegelungen in den Schließfachtüren und in den Steinfliesen ist ein kugelförmiger Lichtraum um die Person herum entstanden. Jörg Knöfels Foto schafft hingegen einen stabilen, durch die Bauten, Zäune und Gewächse rechteckig geformten, perspektivischen Bildraum mit einer relativ großen Bildfläche in der Mitte. Sie wirkt leer, weil der einheitlichen Oberfläche eine Struktur fehlt. Niemandsland könnte man meinen, auch die Zaunfelder im Hintergrund legen das nahe. Die Symmetrie und Geometrie des Bildraumes hinterlassen einen statischen Eindruck, die Ordnung wird durch die Wohnblöcke, die Reihen der Fenster, die Zaunfelder und durch die Hell-Dunkel-Opposition der beiden Bildhälften optisch verstärkt. Der Bildraum wirkt hermetisch geschlossen, weil er keinen Blick über die Begrenzungen hinaus erlaubt, weil es keinen Horizont und keinen Ausgang gibt. 236
Beide Fotografen erzeugen durch Bildgestaltung und geschickte Wahl der kameratechnischen Mittel jeweils eigentümliche Bildräume. Ralph Baiker setzt auf die Wirkung der Fluchtlinien und eine lange Belichtungszeit und schafft damit eine beinahe unrealistische Tunnelsituation, in der Raum und Zeit zu einem Moment der Beschleunigung geronnen scheinen. Jörg Knöfel bleibt bildlich konkret, doch verfremdet auch er durch den Gebrauch eines Weitwinkelobjektivs. Ihm gelingt mit dieser für Porträts ungewöhnlichen Brennweite ein traumhaft unwirklicher Bildraum einer still gestellten Zeit. Bildsymbolik: In diesen von beiden Fotografen geschaffenen verfremdeten Bildräumen verändern die Bildelemente ihre ursprünglichen vorfotografischen Bedeutungen. So fungiert beispielsweise das Schließfach im alltäglichen Bewusstsein als Aufbewahrungsort für Reisegepäck, weshalb man ja auf der ersten Ebene der Bildanalyse auf einen Bahnhof als vermutlichen Aufnahmeort schließen konnte. In der bildlichen Übertragung, innerhalb des von Ralph Baiker geschaffenen Bildraumes, gewinnt jedoch die metaphorische Dimension des profanen Gegenstandes Gewicht, und das Schließfach wird mit Bedeutungen aufgeladen, die im Bildzusammenhang um die Begriffe Normierung, Gleichmaß, Anonymität und Eingesperrtsein kreisen und in denen auch – wegen der Dunkelheit des Raumes – die Trostlosigkeit und Einsamkeit nächtlicher Bahnhöfe mitschwingt. Innerhalb der Bildgestaltung übernehmen aber die Reihen der Schließfächer die Funktion von dominanten Bildlinien, in diesem Falle sogar die von Fluchtlinien, die zusammen mit dem besonderen Licht einen befremdend dynamischen Bildraum schaffen. Innerhalb dieses Bildraumes entfalten sich auch die zunächst nur potentiell angelegten metaphorischen Bedeutungen des ikonografischen Elements Schließfach. Hinzu kommt, dass sich die Bildelemente mit anderen optisch zu neuen Formen mit völlig anderen Bedeutungen zusammenschließen können – die Schiene, die sich hier als Assoziation zu den sich durch die Schließfächer bildenden Linien aufdrängt, ist ein Beispiel dafür. Ähnliche Funktionen, das heißt, die Bildatmosphäre bestätigende, erfüllen die Wohnblöcke, die viereckigen Fenster und der Zaun in Knöfels Foto. Sie stehen für Eingrenzung, Normierung und zementieren die Statik des Bildaufbaus. Natürlich haben Struktur und Atmosphäre der imaginären Bildräume auch starke Wirkungen auf die zentrale Motivik. In Knöfels still gestellter Zeit scheinen die Personen zu einem Ausdruck gefroren. Wie auf einem Tafelgemälde nehmen sie die Bildfläche im Vordergrund ein, während sich der Bildhintergrund ausbreitet wie eine Kulisse, ein Bildkommentar, der ihr Verhalten erklären soll. Mit verschlossenen Mienen verharren sie davor wie am 237
Rande einer Bühne. Körperausdruck und Blick signalisieren Abwehr, trotziges Bestehen auf dem Sosein, auch gegen das Normierte, Eingrenzende, das der Hintergrund zeigt. Darin sind sie sich offensichtlich einig mit dem Fotografen, der dafür gesorgt hat, dass sich auf der planimetrischen Ebene seines Bildes die gefiederte Kontur der Haartracht mit dem Baum im Hintergrund verbindet und ein optisches Gegengewicht zu der ansonsten starren geometrischen Anordnung schafft. Die strengen Bildlinien des Hintergrundes werden dadurch regelrecht zerstichelt. Die zentrale Bildfigur bei Baiker gewinnt in dem tunnelartigen Raum, der durch die klaren perspektivischen Linien der Schließfachwände geschaffen wird, kaum Kontur, weder berührt sie erkennbar den Boden noch die Wände, sie scheint zu schweben und erweckt den Eindruck einer nur flüchtigen Existenz. Optisch steht sie gegen die kalte Strenge der Schließfachanordnung und deren materiale Präsenz, doch scheint ihre Existenz existentiell bedroht. Die Rolle der Rezipient/inn/en: Ralph Baiker schafft durch diese reduzierte, wenig konkrete menschliche Form eine Projektionsfigur, die im Sog der Bildtiefe schwimmt und die den Betrachter einlädt, seine eigenen Gedanken und Gefühle einzubringen. Die Deutung wird je nach Stimmungslage verschieden ausfallen, denn die Situation ist so abstrakt wie vieldeutig, insgesamt jedoch eher düster. Auf jeden Fall begeben sich Betrachter/innen, wenn sie sich auf das Bild einlassen, in den imaginären Bildraum hinein. Jörg Knöfel hingegen schafft einen Bildraum, der sich über die Blicke der Jugendlichen zu den Betrachter/inne/n hinaus weitet. Dann wird der Pfahl zum Mittelpunkt eines erweiterten imaginären Bildraumes, in den der Betrachter bzw. die Betrachterin eingefügt ist. Man kann sicher sein, dass dies voll und ganz in der Absicht des Fotografen lag, da er diese Position des Betrachters mit der Wahl des eigenen Standortes auf gleicher Höhe, den Personen frontal gegenüber bei der Aufnahme des Fotos antizipierte. Die, an die sich dieses Foto richtete, sollten mit der zur Schau gestellten Identität der Jugendlichen konfrontiert werden, sollten sich auseinandersetzen. Dabei wird deutlich: Die Blicke der Jugendlichen sind selektierend, über diese grenzen sie sich ab, fordern Akzeptanz ein, unterscheiden Freund und Feind. Die Bildintention des Fotografen: Ohne Frage reflektierten die jungen Fotografen jeweils Verhältnisse und Lebensräume ihrer Zeit. Doch werden sowohl diese als auch der Umgang mit Begrenzungen unterschiedlich formuliert. Jörg Knöfels Foto bringt Wahrnehmungen zum Ausdruck, die er im Hinblick auf das Lebensgefühl der jungen Generation in der DDR hat, zu der er selbst gerade noch gehört. Schon mit der Wahl des Bildmotivs entscheidet er 238
sich für ein Jugendbild, das dem offiziell in den Bildmedien der DDR propagierten widerspricht. Seine Protagonisten sind unangepasste Jugendliche, die mit verschlossenen Mienen, fast trotzig auf dem bestehen, was sie sein wollen. In diesem Foto gibt es außer dem insistierenden Blick der Jugendlichen keine Bewegung und keine Zeit, das gesamte Arrangement wirkt statisch, selbst das auftoupierte Haar des Gruftis erstarrt in einem geschlossenen Raum, der keinen Horizont und keinen Ausgang hat. Der versperrte Blick wird in diesem Bildraum zur Metapher für den versperrten Weg, der geschlossene Raum steht für eine geschlossene Gesellschaft. Gegen diese Begrenzungen setzen die Jugendlichen eine eigene Ausdruckskultur, die sie demonstrativ zur Schau stellen und die in der chaotischen Frisur ihren sinnfälligen Ausdruck findet. Das Foto ist ein Plädoyer für das Recht auf eine eigene Identität und Lebensform – Kritik am Einheitsdenken und Normmaß. Diese Kritik wird DDR-typisch indirekt, sozusagen hintergründig vorgetragen – das Foto richtete sich an DDR-Bürger, und von denen wurde es auch verstanden. Der Fotograf solidarisiert sich mit den Fotografierten, er zeigt eine Gegenkultur, und er ist Gegenkultur, mit seiner Art zu fotografieren grenzt er selbst sich ab gegen das offiziell Gewünschte. Ralph Baiker artikuliert mit seiner Fotografie eine durchaus jugendtypische Suche nach Identität und Lebenssinn. Die Bewegung und das helle Licht, das seine Figur umgibt, hinterlassen jedoch einen ambivalenten Eindruck. Die Person ist anonym und unterwegs, sie wirkt einsam, bedrängt in auswegloser Situation, andererseits dynamisch, voller Energie, beinahe auch geschützt durch die Lichtkugel um sich herum, ein Spiel mit Raum und Zeit. Jedoch überwiegt der Eindruck der Düsternis, der Gedanke an Auflösung und Vergehen im Licht liegt näher als der von Springen und Lebensfreude. Baiker artikuliert Ängste, in der Bedrängnis scheint ihm Bewegung Gewissheit, die persönliche Existenz in der hier bildlich gewordenen Empfindung vor allem als Passage vorstellbar – dass dies sein Thema ist, belegen im übrigen auch andere Fotografien, die er zum Jugendfotopreis einsandte. Nach Abschluss der Einzelbildinterpretation haben wir im Rahmen einer Geltungsprüfung mit beiden Fotografen Kontakt aufgenommen, um sie zu ihren fotografischen Intentionen zu befragen. Beide leben heute als freie Fotografen in Berlin. Beide Fotografen bestätigten für ihre Aufnahmen grundsätzlich eine bewusste Wahl der fotografischen Mittel, des Ortes und des Ausschnittes sowie die anschließende Auswahl. Jörg Knöfel traf die Jugendlichen zufällig auf diesem Platz in Berlin-Prenzlauer Berg, wo er sie bat, sie fotografieren zu dürfen. Sie gefielen ihm, weil sie so anders ausgesehen hätten als die DDR-offiziell gewünschte Jugend. 239
Ralph Baiker erinnerte sich, in dieser Zeit viel herumexperimentiert zu haben – diese Fotografie schien ihm dann vom Eindruck her am besten das Lebensgefühl seiner Generation in einer bedrohten Welt auszudrücken. So hätte sie z. B. der Stationierungsbeschluss für die Pershingraketen sehr beschäftigt. Eher beiläufig machte er auch eine erhellende Aussage in Bezug auf das Profil des Jugendfotopreises – man hätte als Jugendlicher schon gewusst, dass die es ganz gern so ein bißchen sozialkritisch gehabt hätten. Die ikonologische Interpretation: In beiden Fotografien kommen im Bezug auf das Selbstkonzept von Jugend in den achtziger Jahren auch Vorstellungen zum Ausdruck, die vermutlich über das, was die Fotografen wissentlich mit ihren Fotografien intendierten, hinausgingen. Sie führen uns zu der Ebene eines ikonologischen Gehaltes, in dem sich das „kulturell Unbewusste“9 artikuliert, das sich in beiden Fotografien vor allem über das Formale, die Konstruktion der Bildräume, über die dominanten Bildlinien und die Lage der Fluchtpunkte zeigt. Schon Klaus Mollenhauer vermutete 1983 bei seiner „Interpretation eines Bildes aus dem Quattrocento in bildungstheoretischer Absicht“, dass die Lage der Fluchtpunkte nicht nur eine „formal-immanente (syntaktische), sondern auch ‚ikonologische‘ Bedeutung habe, also kulturellen Habitus indiziert.“ (S. 178) In Baikers Fotografie drücken sich Erfahrungen aus, die über ein sozialkritisches Anliegen hinausweisen. Identität erscheint bei ihm als etwas Flüchtiges in einem im Prinzip unendlichen Raum-Zeit-Gefüge, in dem weder Richtung noch Ziel feststehen, eine diffuse Angst vor Selbstverlust, Einsamkeit und eine bedrohliche Dynamik bestimmen die Atmosphäre. Andererseits steht hinter der Expressivität, mit der er Ängste ästhetisch zu formulieren vermag, die selbstbewusste Erfahrung ihrer Bewältigung. Auch Knöfels Fotografie drückt Erfahrung aus, die Identität der Jugendlichen wird als etwas gegen herrschende Verhältnisse Entworfenes gezeigt, damit erscheint die Identität als ein direktes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Sie bezieht ihre Existenz aus Abgrenzung und Solidarisierung, was zur Folge hat, dass sie den Verhältnissen, an denen sie sich entwickelt, im Innersten verbunden bleibt. In Bezug auf die vorliegende Fotografie könnte man es auch so ausdrücken: Der von den Abgebildeten und vom Fotografen demonstrierte Eigensinn, die Renitenz, entspricht dem Starrsinn der Gesellschaft, gegen die er sich richtet. Mit der Darstellung dieser Haltung, der Identitätsbehauptung innerhalb eines geschlossenen Systems, in dem es als Ausweg nur den Blick zu den anderen, den Blickraum gibt, verarbeitet Kn9 240
Vgl. Bourdieu 1994, S. 115-124.
öfel genau jene Erfahrungen, die er mit den Protagonisten und denen, an die sich die Fotografie richtete, teilt. Als Ergebnis der Einzelbildinterpretation kann nun in Bezug auf unsere Ausgangsfrage behauptet werden, dass die hier formulierten Selbstbilder erheblich differieren. In der DDR scheint sich die Erfahrung von Eingegrenztsein und Identitätsbehauptung zu artikulieren, der bildhafte Ausdruck verweist auf die etymologische Verwandtschaft von Angst und Enge. Im Westen drückt sich ein hohes Problembewusstsein aus, diffuse Ängste und Einsamkeit werden thematisiert, die ästhetische Auseinandersetzung findet expressiv um die Themen Freiheit und Identitätssuche statt. 4. Hypothesen prüfen – serielle Analyse Nun kann man einwenden, dass man nach der Interpretation zweier Bilder keine Verallgemeinerungen treffen könne, schon gar nicht im Hinblick auf den gesamten Bestand an Jugendfotografien, vorerst haben wir nur eine Spur, vorläufige Thesen. Ob sie auch für einen größeren Kreis von Fotograf/inn/ en Gültigkeit beanspruchen können, ist durch die Prüfung an den Referenzbeständen und möglichst über den Vergleich mit anderen fotografischen Bildbeständen festzustellen. Zur Prüfung könnten natürlich an dieser Stelle auch Textquellen einbezogen werden, z. B. Tagebücher oder filmisches Material. Für die DDR entstanden gerade in der Umbruchszeit nach dem Mauerfall einige Dokumentarfilme zur Jugend- und Musikszene, die ästhetisch Ähnliches zu transportieren scheinen wie das Knöfel-Bild; herangezogen werden könnten dort auch die populären Songs der 80er, und zwar Text und die Musik. Bei unserer Untersuchung ging es uns jedoch ausschließlich um die Aussagekraft der Jugendfotografien. Die folgenden Absätze widmen sich der Darstellung der Ergebnisse der seriellen Analysen, die der Einzelbildinterpretation folgten, um Reichweite und Allgemeingültigkeit der dort formulierten Selbstbilder zu prüfen. Die Befunde können hier nur im Ansatz ausgebreitet werden, da eine ausführliche Darstellung den Rahmen des Aufsatzes sprengen würde.10 Die bundesdeutsche Jugendfotografie: Die Fotografie Ralph Baikers erweist sich wie vermutet tatsächlich in vieler Hinsicht als typisch für die Jugendfotografie 10 Auch ist es aus Kostengründen leider nicht möglich, für jedes Untersuchungsergebnis Belegfotografien abzudrucken. 241
der Bundesrepublik der 80er Jahre. Die Suche nach Identität, nach Lebenssinn, nach einem Platz im Leben, der Ausdruck unbegrenzter Möglichkeiten ist ebenso Thema wie Zukunftsangst und Bedrohung. Auffällig ist auch, dass die jungen Leute mit viel Freude am fotografischen Experiment nach einem möglichst vielfältigen stilistischen Ausdruck der eigenen Befindlichkeit streben. Dabei gibt es zeittypische Vorlieben, die Schließfachmetapher taucht gleich mehrfach auf und ähnlich wie Baiker verwenden auch andere das Tunnelmotiv in atmosphärisch vergleichbarer Art und Weise, um den Eindruck von Eingezwängtsein, Verzweiflung und Getriebensein zu erzeugen (Abb. 3).
Abbildung 3
Manchmal stellen die jungen Fotografen auch die versperrten Wege dar, Ausweglosigkeit wird signalisiert, eine allzu geordnete Welt. Doch bleibt auch hier der Aspekt der Identitätssuche im Detail erhalten. Andere zeigen hingegen die Lust am Spiel, mit der die Kraft des Weges, Richtung vorzugeben, ignoriert oder relativiert wird (Abb. 4). Es wird auch nicht an einer sozial oder geschlechtlich definierten Identität festgehalten – häufiges Thema dieser Ju242
gendfotografien ist vielmehr das Spiel mit den fotografischen Mitteln, verschiedenen Identitäten, Formen des Ausprobierens, Selbstdarstellung in ungewöhnlichen Posen und Kleidungen oder an verschiedenen Orten, das Wissen um Formwirkungen und Strukturen ist beeindruckend. Die Suche nach Identität, die Beschäftigung mit sich selbst, mit den eigenen Gefühlen, vor allem mit den Ängsten ist das Hauptthema der bundesdeutschen Jugendfotografie – deutlich, zum Teil sehr aktionsreich und selbstbewusst werden dabei Begrenzungen individueller Entfaltung und Mangel kritisiert. Dabei sind die Fotografierten (auch wenn die Fotografen selbst als Darsteller fungieren) zumeist Projektionsfiguren der Idee, die sie darstellen möchten. Diese Wahl des Stilmittels kann man als tieferen Ausdruck einer Einsamkeit deuten, die auf der Bildebene eher spielerisch thematisiert wird. Dialoge mit dem Fotografen/Betrachter in der Intensität, wie sie das Knöfel-Foto vermittelt, finden nicht statt.
Abbildung 4
Kontrastierender Vergleich mit der bundesdeutschen Werbe-, Lifestyle und Modefotografie: Bereits ein flüchtiger Blick auf die westliche (nicht nur bundesdeutsche) Werbefotografie zeigt, dass nicht ganz klar ist, wer sich da stilistisch und inhaltlich 243
bei wem bedient, auch beim Film (insbesondere beim Sci-Fi-Genre) nehmen die jungen Leute gern Anleihen. Ein kontrastiver Vergleich mit Werbefotografien, der hier nicht geleistet wird, würde vermutlich zeigen, wie aus der Perspektive des Verkaufens die Idee der Kontingenz, wie sie in der Jugendfotografie zum Ausdruck gebracht wird, um ihre bedrohliche Komponente beraubt zur Stimulierung eines uneingeschränkt positiven Lebensgefühls eingesetzt werden kann oder zur Identifizierung mit einer Marke. Vor allem Dynamik, das Spiel mit Identitäten und Expressivität, von jeglicher Substanz entleert, sollen den Markt anfeuern. Die Jugendfotografie und junge Künstlerfotografie in der DDR: Schon vor der Analyse hatten sich bei der Sichtung der fast 500 DDR-Jugendfotografien Frontalität und die über den Blick geschaffenen Dialog- oder besser Blickräume mit dem Betrachter als ein wichtiges und häufiges Aufnahmeprinzip dargestellt, auch eint die Fotograf/inn/en offensichtlich das Interesse für die Menschendarstellung, beinahe immer sind ihre Fotos gegenständlich konkret. Natur- und Landschaftsfotografien hingegen sind in der Jugendfotografie dieser Zeit ausgesprochen selten, ebenso Projektionsfigu-ren. Auch das fotografische Experiment oder abstrakte Ausdrucksmittel werden kaum gewählt. Mit dem Blick der Jugendlichen fängt Knöfel etwas ganz Typisches für das Selbstkonzept junger Menschen in der DDR ein – vor allem über den Blick, so scheint es, reklamieren sie ihre Interessen. Das wird sogar in dem Bestand der Jugendfotografien deutlich, die im Rahmen der von Erwachsenen geleiteten Fotoarbeitsgemeinschaften der Leistungsvergleiche beim Kulturbund entstanden (Abb. 5), gerade hier spielen die Blickräume eine bedeutende Rolle. In den Blickräumen wird auf dem Eigenen bestanden und werden persönliche Interessen ins Spiel gebracht.
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Abbildung 5
Genau wie auf dem Foto von Jörg Knöfel markieren die Blicke der Abgebildeten das Eigene als unbetretbares Terrain. Mit abschätzenden und abweisenden Blicken machen sie deutlich, dass sie selbst darüber entscheiden, mit wem und womit sie sich identifizieren, wobei auf der Bildebene die Expressivität der Vorbilder in eigenartiger Spannung zu der eigenen demonstrativen Passivität, man könnte fast sagen Teilnahmslosigkeit, steht. Die Fotografien aus den Leistungsvergleichen der Jugendgruppen bestätigten wohl die These der Identitätsbehauptung als Leitthema der jungen DDR-Fotografie in den letzten Jahren der DDR. Das bei Knöfel mitlaufende Thema einer geschlossenen Gesellschaft bestätigen sie auf der Bildebene nur bedingt, weil Porträtaufnahmen ja in der Regel nicht mit geweiteten Bildräumen verbunden werden, hier stellt Knöfels Foto eine Ausnahme dar. Betrachtet man aber das Profil dieses Bestandes genauer, so ist die Tendenz zur 245
frontalen Abbildung und zur Innenraumdarstellung vermutlich genau auf die Erfahrung des Eingegrenztseins zurückzuführen – ein Gedanke, auf den ich noch zurückkommen werde. Dagegen gibt es in diesem Bestand von 330 Fotografien im Prinzip – das heißt mit Ausnahme von drei Fotografien und im krassen Unterschied zum Vergleichsbestand Bundesrepublik – keine Horizonte, keine Berge, Weite, keine Blicke in die Ferne.
Abbildung 6
Eine explizite Auseinandersetzung mit und über den Bildraum findet man in dieser Zeit hingegen in den Arbeiten der jungen künstlerischen Avantgarde der DDR, den freien Fotograf/inn/en und den Student/inn/en der Hochschule für Grafik und Buchgestaltung in Leipzig. Begrenzte Räume ohne Auswege auf den Fotografien z.B. von Wolfgang Zeyen, Michael Kirsten, Michael Scheffer, Christine Schwenn, Hans-Wulf Kunze und vielen anderen 246
vermitteln bedrückende Trostlosigkeit. Anonymität und Gesichtslo-sigkeit der Figuren erschrecken, hier wird nicht einmal mehr Identität behauptet, beziehungsreich untertitelt Kunze seine Fotografie (Abb. 6) mit „Jugend-Alltag“. Mauern und marode Wände, welche die Wege und den Blick versperren und Bewegung verhindern, gehören zu den zentralen Themen der Fotograf/ inn/en dieser Zeit. Sie liefern den Hintergrund für viele Porträts. Die Fotografien der jungen Künstler/innen zeigen auf eindrucksvolle Weise geschlossene Bildräume, über deren symbolischen Gehalt sie keinen Zweifel lassen. Wie bei Knöfel wird Ausweglosigkeit auch bei ihnen in Bewegungslosigkeit und Erstarrung versinnbildlicht. Hier werden explizit und implizit DDR-Verhältnisse kritisiert, die als traumatisierend, starr und marode empfunden werden. Die Kontrastierung mit Fotografien aus DDR-Printmedien: Erst auf der Folie des öffentlich propagierten Jugendbildes in der DDR lässt sich die gesellschaftliche Brisanz dieser hier präsentierten Sichtweisen richtig würdigen. Zu Pressefotografien oder auch zu anderen, in Buchpublikationen veröffentlichten Fotografien der 80er Jahre stellen sie einen krassen Gegenentwurf dar. Auf die explizite Präsentation von Bildreihen zum Beleg des DDR-offiziellen Jugendbildes kann hier verzichtet werden, weil es in Zeitschriften, Buchveröffentlichungen und Filmen, die sich mit der DDR-Vergangenheit befassen, medial präsent ist.11 Jugendliche wurden von Bild-journalisten im öffentlichen Auftrag in dieser Zeit bevorzugt im Zusammenhang mit Festivals, Pfingsttreffen und verschiedenen Jahrestagen fotografiert, diese Fotografien erschienen nicht nur in den Zeitungen und Zeitschriften der DDR, sondern auch in anderen Publikationen.12 Diese hochoffiziellen Fotografien13 präsentieren bis zum Ende der DDR eine Orwo-Chrom-Color-Welt: blaue Massen freudetrunkener Festivalteilnehmer, adrette FDJlerinnen und FDJler im Sonnenschein bei Arbeit, Sport und Spiel, Demonstrationen für Frieden und 11 Z.B. in Fensch 1990; Handloik/Hauswald 1998; Wolle 1997; Drommer 1999; vgl. auch den Fernseh-Dokumentarfilm „Kinder, Kader, Kommandeure” 1991 von W. Kissel und C. Wesnigk. 12 Z.B. in Zentralrat der FDJ 1979; Seifert u.a. 1987; Ullrich u.a. 1989; Hoffmann u.a. 1987; zahlreiche Jugendfotografien sind auch in den Büchern abgebildet, die jährlich zur Jugendweihe überreicht wurden, herausgegeben vom Zentralen Ausschuss für Jugendweihe. 13 Dabei handelt es sich natürlich um ausgesprochene Propagandafotografie, in Zeitschriften wie z.B. dem Jugendmagazin „Neues Leben“ gab es auch realistischere Darstellungen des Jugendlebens. 247
Sozialismus, lachende Menschen in intakten Stadträumen: proper, bunt, mit hellen Fassaden und Springbrunnen. Dagegen stellten die jungen Fotografen ihre Schwarz-Weiß-Fotos mit den trotzigen Blicken, den ernsten Mienen, mit der Subkultur, der Düsternis und den bröckelnden Fassaden. Trotz dieser Unterschiede gibt es dennoch eine verblüffende Gemeinsamkeit zwischen den linientreuen Bildreportern und den opponierenden Künstlern. Die jungen Menschen erscheinen vornehmlich in geschlossenen Bildräumen, die Blicke des Betrachters sind versperrt und es gibt keine weiten Horizonte, Berge oder Blicke in die Ferne. Die DDR-Verhältnisse erscheinen in der Pressefotografie zwar nicht als bedrückend und begrenzend, sondern als behaglich und schützend, dennoch zeigen auch diese Fotografien ebenso wie die der Künstler und die der jugendlichen Zirkelteilnehmer aus den Leistungsvergleichen ein hermetisch geschlossenes System. 5. Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung Wenn sich aber das Phänomen der Geschlossenheit, die Innensicht, die versperrten Blicke und die Bewegungslosigkeit übergreifend für so weite Bereiche fotografischer Praxis feststellen lassen, so muss man als Grund gemeinsame Erfahrungen annehmen, die diese Bildwelt organisieren. Der gemeinsame Erfahrungshorizont bedingte offenbar eine tief verinnerlichte Vorstellung von einem Land, in dem es nur ein Drinnen gab und kein Draußen, und wo der viel gepriesene gesellschaftliche Fortschritt – für alle spürbar – schon lange auf der Stelle trat. Diese Vorstellung teilte vermutlich die Mehrzahl derjenigen, die hier lebten und offensichtlich auch über ideologische Divergenzen hinweg. Dieser geschlossene Raum war der Referenzraum für das Denken und Fühlen aller, die nichts anderes kannten als dieses Land, darauf bezog sich – zumeist unbewusst – jedwede Identifikation ebenso wie die Abwehr. Eine andere Raum-Zeit-Wahrnehmung bestimmt die Jugendfotografien der Bundesrepublik. Unsicherheit, dynamischer Wandel und Unüberschaubarkeit der Verhältnisse führen im Gegenteil zur Erfahrung von Entgrenzung und Beliebigkeit und den damit verbundenen spezifischen Ängsten. Distanz ermöglicht andererseits deutliche Wahrnehmungen, Kritik an freier Entfaltung wird auf den Punkt gebracht und auch engagiert formuliert. Dabei werden auch eine Vielfalt von Möglichkeiten ästhetischer Bewältigung eingesetzt, die sich in Weite, Spiel und Expressivität ausdrücken, Identitäten wer248
den ausprobiert und verworfen, die Ambivalenz von Freiheit und Dynamik ausgereizt. Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung ist, dass die tatsächlichen Verhältnisse von den jungen Menschen genau nach den Prinzipien reflektiert werden, die den Verhältnissen zugrunde liegen, in denen sie aufgewachsen sind. Differenzen zwischen Ost und West zeigten sich im Vergleich sowohl über die präsentierten Themen, die Körperlichkeit der Abgebildeten und über die Motivik im Foto, als auch und vor allen Dingen über die Konstruktion der Bildräume und Atmosphären. Sie zeigen auch, wie eng Denk- und Bildräume zusammenhängen. Die Antwort auf die Ausgangsfragestellung fällt danach leicht – die durch die Fotografen repräsentierte Jugend in Ost und West dachte und fühlte in den achtziger Jahren innerhalb unterschiedlicher gesellschaftlicher und kultureller Bezugssysteme, darin hatten sich ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Selbst und der Stellung in dieser Welt entwickelt. Die Annäherung der Jugendkulturen, womit ja ohnehin immer nur die Annäherung des Ostens an den Westen gemeint war, war trotz Westfernsehen und -musik und trotz äußerer Ähnlichkeiten bei Kleidung oder Selbststilisierungen eher eine scheinbare, denn das hatte innerhalb des jeweilig anderen Erfahrungshorizonts auch andere Bedeutungen. Aufgabe zukünftiger Untersuchungen wäre, unter Berücksichtigung der dargestellten unterschiedlichen Erfahrungshorizonte nach Perspektiven zu suchen, aus der sich tatsächlich Gemeinsamkeiten zeigen könnten. Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Ralph Baiker: o.T. Deutscher Jugendfotopreis 1984. Archiv der Deutschen Jugendbewegung Burg Ludwigstein. Abbildung 2: Jörg Knöfel: o.T. ca. 1985. Aus: Drommer 1989, S. 132. Abbildung 3: Ansgar Kniesel: „Stadtflucht“. Deutscher Jugendfotopreis 1982. Archiv Burg Ludwigstein. Abbildung 4: Klaus Behrle: o.T. Deutscher Jugendfotopreis 1983. Archiv Burg Ludwigstein, Teil einer Fotosequenz. Abbildung 5: Karsten Mubatsch: „Hobby“. Leistungsvergleich der Kinder- und Jugendfotogruppen der Gesellschaft für Fotografie der DDR 1987. Archiv des Kinder und Jugendfilmzentrums Remscheid. Abbildung 6: Hans-Wulf Kunze: „Jugend-Alltag“. Aus: Fotografie 1989, Heft 11, Jg. 43, S. 404. 249
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Horst Niesyto
Bildverstehen als mehrdimensionaler Prozess. Vergleichende Auswertung von Bildinterpretationen und methodische Reflexion. Die Fachtagung „Bildinterpretation“, die im April 2004 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg stattfand und auf die sich die vorliegende Buchveröffentlichung bezieht, war ein wichtiger Schritt auf dem Weg, vorhandene methodische Verfahren sozial- und erziehungswissenschaftlich sowie kunstpädagogisch motivierter Bildinterpretation transparenter zu machen und an ihrer Ausdifferenzierung zu arbeiten. Die Veranstalter grenzten den Bildbegriff auf fotografische Bilder ein, insbesondere auf Fotos, die im Kontext medialer Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen entstehen. Ziel der Tagung war es, im Hinblick auf diesen Gegenstandsbereich vorhandene Ansätze der Bildanalyse bzw. des Bildverstehens kennen zu lernen und anhand konkreter Interpretationsangebote von Foto-Eigenproduktionen vergleichend zu diskutieren. Die Struktur der Tagung und der vorgeschlagene „Dreischritt“ für die Vorträge bzw. Buchbeiträge orientierten sich an dieser Zielsetzung (vgl. hierzu den einleitenden Beitrag in diesem Band). Während auf der Tagung genügend Zeit war, die verschiedenen methodischen Ansätze kennen zu lernen und zu diskutieren, reichte die Zeit nicht mehr für eine vergleichende Reflexion der Interpretationsangebote. Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, die zu den vorgelegten drei Fotos entstandenen Bildinterpretationen vergleichend auszuwerten und vor allem die Plausibilität von Lesarten sowie die damit verbundenen methodischen Fragen zu reflektieren. Mit dieser vergleichenden Auswertung verbinde ich nicht den Anspruch einer abschließenden Bewertung und „Gültigkeitsprüfung“. Dies wäre vermessen und könnte höchstens im Rahmen eines weiteren gemeinsamen Austauschs eingelöst werden. Dennoch möchte ich versuchen, die Texte und Interpretationsangebote kritisch zu befragen und einige zentrale Punkte im Sinne einer vorläufigen Zwischenbilanz herauszuarbeiten. In einem ersten Teil sollen entlang der drei vorgelegten Fotos die vorhandenen Interpretationsangebote zusammenfassend vorgestellt und dabei auch das von Peter Holzwarth eingebrachte, projektspezifische Kontextwissen berücksichtigt werden. Der zweite Teil fasst methodische Kernpunkte zusammen, die sich aus der vergleichenden Auswertung ergeben 253
und integriert weitere methodische Überlegungen. Im letzten Teil wird ein methodisches „Grundgerüst“ für ein lebensweltorientiertes Bildverstehen skizziert. Die Zwischenbilanz verdeutlicht, dass formale bildsprachliche Analyseschritte wichtig und notwendig sind, um der spezifischen Qualität von Fotos gerecht zu werden und mögliche Bedeutungsgehalte und Lesarten zu erschließen. Gleichzeitig ist es unerlässlich, für das Verstehen der Foto-Eigenproduktionen und die Prüfung der Plausibilität von Lesarten unterschiedliches Kontextwissen zu berücksichtigen. Gerade bei Foto-Eigenproduktionen, die von Kindern und Jugendlichen erstellt werden, ist die Integration von Kontextwissen besonders wichtig, um eine Überinterpretation von Formelementen in Verbindung mit vorhandenen generalisierten Wissensbeständen zu vermeiden. 1. Vergleichende Auswertung der Interpretationen zu den vorgelegten Fotos Die folgende Übersicht informiert, welche Fotos von welchen Autorinnen und Autoren interpretiert wurden und enthält Querverweise zu den entsprechenden Seitenzahlen im vorliegenden Band: Foto 1 Marotzki/ Stutz Stötzer S. 164 ff. S. 38 ff. Foto 2 Sowa/ Bohnsack Uhlig S. 55 ff. S. 95 ff. Foto 3 Bohnsack Holzbrecher/ Peez S. 62 ff. Tell S. 132 ff. S. 111 ff.
Holzwarth S. 182 ff. Holzwarth S. 195 ff.
Auf der Fachtagung im April 2004 stellten Winfried Marotzki und Katja Stoetzer, Hubert Sowa und Bettina Uhlig, Ralf Bohnsack sowie Alfred Holzbrecher und Sandra Tell ihre Analysen zu den ausgewählten CHICAM-Projekt-Fotos vor. Peter Holzwarth integrierte in seinen Beitrag, der am Ende der Tagung platziert war, zahlreiche Informationen aus dem Entstehungskontext der Fotos. Für den vorliegenden Band baten wir noch einzelne Kol254
leginnen und Kollegen, die an der Tagung nicht teilgenommen hatten, um Beiträge und Analysen zu den ausgewählten Fotos (vgl. die Texte von Georg Peez und Ulrike Stutz). Die Autorinnen und Autoren, die ihre Tagungsbeiträge anschließend verschriftlichten, verfügten über die von Peter Holzwarth gegebenen Kontextinformationen. Wenngleich sich nach meinem Eindruck dadurch nichts Wesentliches an den vorgetragenen Analysen änderte, so scheint es mir dennoch wichtig hierauf hinzuweisen. Damit verknüpft ist ein generelles methodisches Problem, das auch in der Diskussion auf der Tagung deutlich wurde: Inwieweit ist es möglich, bei Objektbeschreibungen und bei der Interpretation insgesamt von bekanntem Kontextwissen (zunächst) zu abstrahieren? Die Autorinnen und Autoren in diesem Band geben auf diese Frage unterschiedliche Antworten. 1.1 Analysen und Interpretationen zum Foto 1
Das Foto 1 wurde in den Beiträgen von Marotzki und Stoetzer, Stutz sowie Holzwarth beschrieben und interpretiert.
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Marotzki und Stoetzer analysieren das Foto auf der Grundlage eines Modells, das die Analyseschritte a) „Objekte“, b) „Die Ordnung der Objekte“, c) „Inszenierung der Objekte“ und d) „Bildungstheoretisch orientierte Analyse der Selbst- und Weltreferenzen“ umfasst. Der erste Teil beschreibt sehr detailliert Decke, Wand und Tapete sowie die einzelnen Gegenstände, die an der Tapete angebracht sind, incl. Farb- und Formgestaltungen und Schriftzeichen. In einem zweiten Schritt folgen Bedeutungshypothesen zu den beschriebenen Gegenständen sowie zu Wand, Decke und Tapete: „selbst angebrachte Tapete und Plattenkonstruktion im Heimwerkerstil“; „türkische Nationalflagge“; „Fanschal des türkischen Fußballvereins Galatasaray Istanbul SK“; „Saz, eine türkische Laute“; „Passfoto“ (Zentralität der Anordnung als Hinweis auf die hohe Bedeutung für die Person, die es an der an der Wand anbrachte). Auf dieser Grundlage werden erste Lesarten (Sinnzusammenhänge) zur Saz, zum Fanschal und zur Flagge entwickelt, um die Bedeutungshypothesen zu konkretisieren (vgl. Marotzki und Stoetzer, 3.2.2). Die anschließende Analyse der Bildinszenierung (vgl. 3.2.3) betont die vertikale Anordnung des gewählten Ausschnittes (Hochformat), die aus der Betrachterperspektive die Größe der Nationalflagge, den Fußballschal, das Musikinstrument sowie des Passfotos an einem „Ehrenplatz“ unterstreiche. Bezüglich des Passfotos wird auf unterschiedliche Deutungs-möglichkeiten hingewiesen. In der bildungstheoretisch orientierten Analyse der Selbst- und Weltreferenzen (vgl. 3.2.4) wird die „Vierelementekonfiguration“ als symbolischer Ausdruck einer nationalen, religiös-kulturellen und privat-familiären Zugehörigkeit interpretiert. Diese Interpretation scheint mir der nachvollziehbare Kern zu sein, der aus dem Foto – seinem Motiv, seiner Inszenierung und seinen Symbolgehalten – zu entnehmen ist. Bezogen auf die Gesamtfotografie analysieren Marotzki und Stoetzer „eine ambivalente, balancierende Selbst- und Welthaltung“, wobei sie das „Temporäre des Balancierenden“ an der Art festmachen, wie die abgebildeten Gegenstände an der Wand befestigt sind: „Sie hängen an der Wand, als sei das Zimmer gerade erst bezogen worden – es könnte auch jeder Zeit ohne großen Aufwand umgeräumt oder verlassen werden“. Nur zusätzliches Kontextwissen könnte meines Erachtens eine solche Interpretation als plausibel erscheinen lassen. Eine andere Sache ist es, bildbezogen Vermutungen zu formulieren. Ein solches Vorgehen hat eher abduktiven Charakter und durchaus einen heuristischen Wert, kommt jedoch ohne Kontextbelege nicht aus.
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Stutz erarbeitet ihre Fotoanalyse unter Bezug auf kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische, handlungsorientierte Auslegungsverfahren und integriert Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung für ein ästhetisch motiviertes Bildverstehen. Methodisch unterscheidet sie erste Eindrücke, formale Betrachtungen und semantische Betrachtungen (auf der Ebene von Motiven und Objekten sowie der Komposition). Sie begreift Bildverstehen nicht als sequentiellen, sondern als zirkulären ästhetischen Prozess der Annäherung an Bilder mittels grafischer Bildbearbeitungen („ästhetische Percept-Bildung“). Dadurch möchte Stutz der Spezifik bildästhetischen Materials gerecht werden. Zum ausgewählten Foto beschreibt sie zunächst ihren Ersteindruck als ein „Bild (…) von Klarheit und Energie und zugleich von Stille und Ferne, es harmonisiert nicht, sondern fordert heraus. Die rote Fahne bindet die Aufmerksamkeit als erstes, sie bildet einen starken Kontrast zur kühl wirkenden Hintergrundfläche. Die Plakette mit dem Porträtfoto ‚schwebt’ im Raum, gehalten von der starkfarbigen Fahne und sie zugleich tragend“. Die ästhetische Annäherung wird in ihrem zeitlichen Prozessverlauf im Beitrag nicht wiedergegeben. Stutz macht aber einzelne Bildbearbeitungen des Fotos zugänglich, die jeweils das Porträtfoto, das Porträtfoto mit der Fahne, Linienführungen sowie andere Details grafisch hervorheben. Auf der Ebene der „formalen Betrachtungen“ erfolgen detaillierte deskriptive Angaben zur Farbgestaltung, zur Perspektive, zu Einstellung und Betrachterposition, zu Schärfentiefe und Licht. Stutz weist auf eine „Korrespondenz zwischen weißen Symbolen auf der Fahne, dem Bildträger des Portraitfotos und der angeschnittenen Decke und zwischen Pastellfarben des Porträtfotos und der Hintergrundfläche“ hin. Da der Boden des Raums nicht sichtbar sei, entstehe eine „Instabilisierung der Betrachterposition und eine Distanz zum zentralen Motiv“ (in der Bildmitte), „das durch die Verkürzung entfernt“ wirke. Die Bildmitte sei „beleuchtet“ und werde dadurch zusätzlich betont. Auf der Ebene der „semantischen Betrachtungen“ interpretiert Stutz die Fahne und den Schal als Identifikations-Objekte mit dem Herkunftsland und türkischer Kultur – hier gibt es eine Ähnlichkeit bzw. sogar eine Übereinstimmung mit der Analyse von Marotzki und Stoetzer: „Die türkische Fahne als vorherrschendes Motiv kann als Ausdruck türkischer Nationalität gelesen werden. Der Schal mit Schriftzug in türkischer Sprache und Emblemen – u.a. Wiederholung der türkischen Fahne – differenziert und bestätigt den Ausdruck kultureller und nationaler Zugehörigkeit“. Zusammenfassend hält sie fest: „Durch die mittige Platzierung und die Bildung eines Formensembles mit den türkisch-nationalen Symbolen wird eine Identifizierung der darge257
stellten Person mit der vielfältig symbolisierten türkischen Nation und Kultur formuliert“. Offen bleibt, weshalb Stutz das Musikinstrument als eine „Sitar“1 bezeichnet. Das Instrument ist am linken Rand des Fotos platziert und nur teilweise sichtbar. Es ist zu vermuten, dass der Bildproduzent die Aufmerksamkeit vor allem auf die Flagge und den Schal lenken wollte – diese beiden Objekte sind im Bildzentrum. Da das Musikinstrument zum Ensemble dazu gehört und die Form von der Seite her deutlich zu erkennen ist, kann man von einem Saz-Instrument ausgehen. Nicht ganz nachvollziehbar ist für mich die These von der „Öffnung“, die Stutz formuliert: „Durch die dynamischen und dezentrierenden formalen Elemente, die sich insbesondere in der Untersicht, der Farbperspektive und den zwei ‚Mittigkeiten’ äußern, erfährt die Eindeutigkeit der Aussage eine Öffnung. Somit ist das Bild von Zentralität, Stabilität und Eindeutigkeit und von Instabilität, Bewegung und Rhythmus geprägt.“ Meines Erachtens ist das Foto vor allem durch eine hohe Symbolkraft und Identifikation mit türkischer Kultur geprägt (vgl. die Analyse bei Marotzki und Stoetzer sowie die eigenen Aussagen von Stutz zur Bedeutung türkisch-nationaler Symbole). Die unter Hinweis auf bestimmte Formelemente unterstellte „Öffnung“ bricht meines Erachtens diese Prägung und Eindeutigkeit nicht. Gerade bei Fotos, die nicht auf der Basis differenzierter Gestaltungskenntnisse gemacht sind, scheint es ratsam, in Formelemente nicht zuviel hinein zu interpretieren. Der Beitrag von Holzwarth belegt anhand von Kontextinformationen, dass die Foto-Motive Fahne und Saz für den Bildproduzenten sehr bedeutsam sind (Hinweis auf weitere Fotos und verbale Aussagen). Hakan (der Junge) benutzt diese Gegenstände, um sich gegenüber anderen Jugendlichen kulturell zu verorten und zu positionieren. Gleichzeitig wird aus dem Kontext deutlich, dass er sein Zimmer mit zwei älteren Geschwistern teilen muss und auf diesem Hintergrund „die Positionierung der Objekte als Raumaneignung, Territorialmarkierung und Personalisierung“ gedeutet werden kann.2 Bezüglich der Identifikationsfunktion der Symbolisierungen stellt Holzwarth auf dem Hintergrund weiteren Kontextwissens fest, dass die gezeigten Objekte zwar mit starker kultureller und nationaler Bedeutung aufgeladen sind, gleichzeitig jedoch lediglich Teil umfassenderer Orientierungs- und Identifikations1 2 258
Sitar-Instrumente haben bekanntlich ihren Ursprung in Indien. Ein Sitar ist eine Langhalslaute und unterscheidet sich u.a. in der Form von einer Saz (türkische Langhalslaute). Holzwarth weist darauf hin, dass eine Schwester von Hakan andere Objekte in ähnlicher Weise im Zimmer verwendete.
prozesse sind („kulturelles Ausbalancieren von mehrfachen Zugehörigkeiten anhand von verschiedenen symbolischen Ressourcen“). So zeige die Auswertung weiterer Fotos von Hakan, dass teilweise „Elemente der Symbolwelt ‚Türkei’ stärker im privaten Bereich, Aspekte der globalen Symbolwelt und der Symbolwelt ‚Deutschland’ (…) eher in der Öffentlichkeit“ deutlich werden. Schließlich kann Holzwarth belegen, wie sich die Zimmergestaltung bei Hakan nach einiger Zeit veränderte: „Objekte, die auf die Türkei verweisen, sind zwar immer noch vorhanden, sie haben jedoch gegenüber den neu aufgehängten Autopostern eine geringere Bedeutung. Die kulturelle Verortungsfunktion der national konnotierten Objekte (türkische Flagge, Saz) scheint keine große Rolle mehr zu spielen. Auffällig ist, dass sich Hakan mit seinem Interesse an Autos auf ein Terrain begibt, das von vielen männlichen Jugendlichen unabhängig von nationaler Herkunft geteilt wird“ (Holzwarth). Hier wird deutlich, wie eng die Präferenz für bestimmte Objekte (am Beispiel Raumgestaltung) mit der jeweiligen Lebenssituation/-phase und den damit verbundenen Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben zusammenhängt. „In gewisser Weise kann die Dekoration eines Zimmers als (momentane) Visualisierung von Identifizierungen, Zugehörigkeiten oder Identitätsbausteinen verstanden werden. Das Beispiel zeigt, dass die drei Ressourcen und deren Mischformen in bestimmten Lebensphasen, in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten und je nach biographisch relevanten Themen und subjektiven Deutungs- und Orientierungsmustern unterschiedlich starke Rollen spielen“ (Holzwarth). Diese Analyse ist nur auf dem Hintergrund diverser Kontextinformationen möglich. Sie bestätigt zum einen die Bedeutung von Fahne, Schal und Saz als wichtige Identifikationsobjekte mit türkischer Kultur. Andererseits wird der Wandel von Themen vor allem in Zusammenhang mit einer auf die Peergroup bezogenen Selbstpositionierung deutlich („Visualisierung von Identifizierungen, Zugehörigkeiten oder Identitätsbausteinen“). Dieser Wandel ist normaler Bestandteil der Identitätsbildung und Lebensbewältigung von Jugendlichen.
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1.2 Analysen und Interpretationen zum Foto 2
Das Foto 2 wurde in den Beiträgen von Bohnsack, Sowa und Uhlig sowie Holzwarth beschrieben und interpretiert. Bohnsack wendet in seinem Beitrag das von ihm entwickelte Konzept der dokumentarischen Methode der Bildinterpretation exemplarisch an. Er nennt das Foto „Unterricht“ und beschreibt präzise im Rahmen der „formulierenden Interpretation“ auf der vor-ikonografischen Ebene Personen und Gegenstände auf dem Bildvordergrund, dem Bildmittel- und dem Bildhintergrund. Auf der ikonografischen Ebene identifiziert Bohnsack – in Verknüpfung mit der Vorinformation „Kinder aus Migrationskontexten“ – „eine typische Szene des frontalen Schulunterrichts mit zwei abgebildeten Schülern und einem Lehrer“. In den darauf folgenden Schritten der „reflektierenden Interpretation“ wird die formale Bildkomposition untersucht: das „planimetrische Zentrum“ (der Bildmittelpunkt) und das „perspektivische Zentrum“ (der Fokus des Kamerablicks) werden in unmittelbarer Nähe zueinander auf dem aufgeklapptem Tafelsegment, auf dem die Lehrperson schreibt, identifiziert. Der Analyseschritt der „szenischen Choreographie“, der das Arrangement der beteiligten Personen bzw. Körper beschreibt, unterstreicht die 260
zentrale, mittige Positionierung des Lehrers im Verhältnis zu den dargestellten Schülern. Der abschließende Analyseschritt der „ikonologisch-ikonischen Interpretation“ fasst die formulierenden und reflektierenden Interpretationen zusammen und stellt fest, dass sowohl abgebildete Bildproduzenten als auch abbildender Bildproduzent sich in einer Teilnehmerrolle befinden, die keine Distanz gegenüber ihrer Schülerrolle erkennen lasse („teilnehmende Schülerhaltung ohne Rollendistanz“). Die durch Perspektivität und Planimetrie räumlich herausgehobene Stellung des Lehrers, das Ausblenden der Gesichter der Schüler und die nur partielle Aufnahme eines Schülers, der geringe kommunikative Bezug der Personen untereinander und die absolute Dominanz der Wandtafel deuten nach Bohnsack auf eine typische Situation eines Frontalunterrichts mit entsprechender rollenförmiger Beziehung hin. Der situative Kontext (z.B. geschlossene Vorhänge, Abschirmung nach außen) unterstreiche außerdem eine „strikte Grenzziehung zwischen zwei Bereichen: (…) dem unterrichtlichen Sachbezug einerseits und den sozialen Bezügen einer Umwelt andererseits“. In einem weiteren, komparativen Analyseschritt mit dem Foto 3 identifiziert Bohnsack eine „Unvermitteltheit zwischen der Institution der Schule einerseits und den lebensweltlichen Bereichen der Familie, der Peer-group und ethnischen Community andererseits“ und verweist auf ähnliche Ergebnisse eines DFGProjekts zu Lebensorientierungen junger Migrant/innen. Um im Sinne einer soziogenetischen Typenbildung generalisierende Aussagen treffen zu können, sei allerdings eine systematische komparative Analyse notwendig, die nicht nur weitere fallinterne, sondern auch fallvergleichende Analysen erstellt. Sowa und Uhlig betonen in ihrer methodischen Operationalisierung für eine Bildhermeneutik die Kontextgebundenheit, die als substantielle und nicht nur akzidentielle Bildbestandteile zu betrachten seien: „Bildproduktion, Bildpräsentation, Bildrezeption, Bildkommunikation und Bildwirkung bilden unter dieser Perspektive zusammengenommen jenes Ganze, das wir den ‚Sinn’ eines Bildes nennen“. Entsprechend dieser Grundposition bezweifeln Sowa und Uhlig die Möglichkeit einer bildimmanenten Erschließung der vorgelegten Fotos und betonen, dass ihr Interpretationsversuch deshalb ein hohes Maß an Unsicherheit und nur hypothetischen Charakter habe. Auf der Ebene der formalen Bildanalyse machen die Autoren zum ausgewählten Foto 2 nur wenige Aussagen. Sie identifizieren – ähnlich wie Bohnsack – den Fokus des „Bildblicks“ sowie die „geometrische Bildmitte“ im Tafelbereich rechts von der Lehrperson, leiten aber hieraus keine weiteren 261
Interpretationen (zur Bildaussage) ab. Auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen „als geübte Betrachter von Bildproduktionen Jugendlicher“ bieten sie im Folgenden Hypothesen zum Zusammenhang von Bildhandlung, Bildanlass und Bildstimmung. Sowa und Uhlig vermuten, dass es sich um ein heimliches Foto handelt, das ein Schüler oder eine Schülerin vom Unterrichtsgeschehen gemacht hat. Sie identifizieren die Lehrperson als Lehrerin (im Unterschied zu Bohnsack, der einen Lehrer sieht), die einerseits die Aktion „beherrscht“, andererseits aber „blicklos, handlungslos und hilflos“ sei. Der Bildanlass bleibe unklar; es werden verschiedene Möglichkeiten skizziert. Die Bildstimmung sei von „Momenten der Flüchtigkeit und Heimlichkeit, möglicherweise auch von Humor oder unterschwelliger Aggression“ getragen. Bezüglich Bildwahrnehmung und Bildkompetenz diagnostizieren die Autoren „begrenzte Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsressourcen“, die keine spezifischen Bildgestaltungskompetenzen erkennen lassen. Der/die Bildproduzent/in habe versucht, drei Bildmotive zu treffen, allerdings nicht auf der Grundlage eines intentionalen, durchdachten Vorgehens. Sowa und Uhlig bezeichnen den Bildumgang des/der Bildprozent/in als „naiv“ im Sinne einer „unreflektierten Intentionalität“ (mehr ein „Motivsehen“, kein „Bildsehen“). Im Hinblick auf den kommunikativen Verwendungszweck wird die Hypothese formuliert, dass das Bildinteresse innerhalb der Peergroup liege: „Bildakt und Bildgeste als Regelverletzung (gemessen an der obligatorischen Aufmerksamkeit im Unterricht) könnten die Bloßstellung der Lehrerin implizieren“ und als subervise Geste des Bildproduzenten gedeutet werden („Beute“ einer heimlichen Bilderjagd). Auffallend ist, dass Sowa und Uhlig – im Unterschied zu Bohnsack – auf der Ebene der formalen, bildimmanenten Interpretation sehr zurückhaltend sind. Sie versuchen eine Erschließung des Bildsinns vor allem durch eine (hypothetische) Rekonstruktion des bildpragmatischen Verwendungszwecks (Motivinteresse und kommunikatives Interesse des Bildproduzenten). Dieses Vorgehen resultiert aus ihrer kontextorientierten Grundposition sowie der Einschätzung, dass Bilder von nicht so kompetenten Autoren anders zu erschließen sind als Bilder, die von „hochkompetenten und hochreflexiven Autoren“ gemacht werden – das Fehlen „substantieller Bildbestandteile“ verweise sozialwissenschaftliche Forschung auf „Meinungen und Ahnungen“. Zieht man nun die kontextorientierten Wissensbestände und Analysen von Holzwarth hinzu, lässt sich die Plausibilität der Analysen von Bohnsack sowie der Hypothesen von Sowa und Uhlig in einzelnen Punkten bestätigen; es sind jedoch Relativierungen bzw. Hinterfragungen nötig. So weist der von Holz262
warth zitierte Interview-Auszug mit Schüler/innen auf Problemfelder hin, die oft mit der Form des Frontalunterrichts bzw. eines lehrerzentrierten Unterrichts verbunden sind. Es ginge jedoch zu weit – so Holzwarth – bei der Bildproduzentin des Fotos 2 eine „Intention im Sinne einer Kritik an traditionellen oder einseitigen Unterrichtsmethoden“ zu unterstellen. Zwar könne das Foto als „Dokument einseitigen Lehrens und Lernens und mangelnder Subjektorientierung im Kontext von Migrationserfahrung“ verstanden werden, es müsse aber in Relation zu anderen, positiven Aussagen und Erfahrungen der Migrantenkinder mit Schule in Deutschland reflektiert werden (z.B. Schule als wichtiger Ort für Begegnung und Kommunikation). Insofern trifft Bohnsack in seiner Analyse einen wichtigen Aspekt, der bei Sowa und Uhlig nicht genannt wird: die Situation des Frontalunterrichts. Seine formulierende und insbesondere seine reflektierende Interpretation enthalten jedoch Aussagen, die meines Erachtens nicht zwingend aus dem Foto zu entnehmen sind. Ein kritischer Punkt in Bohnsacks Analyse scheint mir darin zu liegen, dass er auch Bilder von Personen, die über keine spezifischen bildgestalterischen Kompetenzen verfügen, mit Kriterien professioneller Bildgestaltung zu erschließen versucht. So unterstellen Formulierungen wie der abbildende Bildproduzent habe das perspektivische Zentrum in die Nähe des planimetrischen Zentrums „positioniert“ (vgl. Bohnsack, Teil 2.1.2) sowie ähnliche Formulierungen bei der Analyse der szenischen Choreographie (Teil 2.1.3) eine intentionale, reflektierte Gestaltung. Sowa und Uhlig weisen meines Erachtens zu Recht auf den Unterschied von „Motivsehen“ und „Bildsehen“ hin – ein „Motivsehen“, das nicht mit bildgestalterischem Wissen gekoppelt ist, „positioniert“ und inszeniert die Objekte eher naiv. Dies ist ein prinzipieller methodischer Einwand, der die systematische Integration von Kontextwissen bei nicht-professionellen Bildproduktionen besonders deutlich macht. Auch Bohnsacks Lesart von der strikten „Grenzziehung zwischen zwei Bereichen: (…) dem unterrichtlichen Sachbezug einerseits und den sozialen Bezügen einer Umwelt andererseits“ ist dahingehend zu relativieren, dass – zumindest in den Selbstaussagen von Schüler/innen des örtlichen CHICAMClubs – Schule in Deutschland sowohl als Lernort (mit institutionell geprägten Mustern) als auch als Lebensort (mit verschiedenen kommunikativen Möglichkeiten) erfahren wird (siehe oben). Die Gefahr bei einer primär bildimmanenten Vorgehensweise scheint zu sein, bestimmte Motive und (bild)gestalterische Anzeichen mit kommunikativ generalisierten Wissensbeständen zu kohärenten Interpretationsfiguren zu verknüpfen, die allerdings vom konkreten situativen Kontext der jeweiligen Bildproduktion abstrahieren (Gefahr der Überinterpretation). 263
Im Unterschied zu Bohnsack offerieren Sowa und Uhlig ihre Aussagen als „Meinungen“ und „Ahnungen“. Ihre Vermutung vom „heimlich“ gemachten Foto speist sich vermutlich aus der Überlegung, dass es eine eher ungewöhnliche Situation ist, wenn Schüler Fotos vom eigenen Unterricht machen. Bildimmanent belegen lässt sich diese Vermutung aber nicht, es sei denn, man identifiziert die Aufnahme als einen schnell und flüchtig erstellten Schnappschuss (dies würde dann Unschärfe und andere bildgestalterische Mängel zumindest teilweise erklären). Hier sind in der Tat weitere Kontextinformationen unerlässlich.3 Unklar bleibt weiterhin, weshalb die Lehrerin als „handlungslos“ und „hilflos“ charakterisiert wird – sie handelt sehr wohl (Tafelanschrieb) und für eine Hilflosigkeit gibt es meines Erachtens im Foto keine Anzeichen. Auch bezüglich des Geschlechts der Lehrperson fällt es schwer, die Zuordnung allein aufgrund des Fotos nachzuvollziehen (Bohnsack: Lehrer; Sowa und Uhlig: Lehrerin): als Betrachter des Fotos sehe ich eine Lehrperson von hinten (Gesicht nicht wahrnehmbar), die eine graue Hose und einen dunklen Pulli trägt und deren Frisur sich nicht geschlechtsspezifisch zuordnen lässt.4
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Holzwarth merkt hierzu an, dass das Foto während des Unterrichts in der Vorbereitungsklasse einer Hauptschule entstand. Die Schülerin, die das Foto erstellte, war Mitglied im CHICAM-Club. Der Lehrperson war generell bekannt, dass einzelne Kinder der Klasse sich bei CHICAM beteiligten und mit Medien arbeiteten. Für die Schülerin war es sicherlich reizvoll, im Rahmen des Fotoprojekts „Tagesablauf“ in der Unterrichtssituation ein Foto zu machen (ungewöhnliche Situation; gewisse Macht, die das Medium verleiht). Im Falle einer Rückfrage durch die Lehrperson hätte sich die Schülerin legitimieren können und keine Sanktionen befürchten müssen. Aufgrund des Kontextwissens ist bekannt, dass es sich bei dem Foto um eine Lehrerin handelt.
1.3 Analysen und Interpretationen zum Foto 3
Das Foto 3 wurde in den Beiträgen von Bohnsack, Holzbrecher und Tell, Peez sowie Holzwarth beschrieben und interpretiert. Peez setzt sich mit dem Foto auf der Grundlage von Verfahrensprinzipien der Objektiven Hermeneutik auseinander. Es geht ihm um ein textbezogenes, weitgehend kontextfreies Herausarbeiten von Lesarten. Er folgt sog. „ikonischen Pfaden“ (sequentielle Erschließung eines Fotos in Verbindung mit Blickrichtungen und Blickbewegungen des Betrachtenden), die auf „ikonische Zentren“ und „selektive Plausibilisierungen“ von Lesarten hinführen sollen. Peez beschreibt in Verbindung mit seinen Blickbewegungen Personen, Gegenstände und weitere Details auf dem Foto sehr konkret. Er bietet mögliche Lesarten zum Körperausdruck des Mädchen und des Jungen sowie zu ihrer Interaktion an. So wird das Mädchen in Zusammenhang mit ihrem Blick und ihrem Gesichtsausdruck als „ernst, fast kritisch“ und „selbstbewusst“ bezeichnet; ihre Kleidung deute auf eine junge islamische Frau hin. 265
Der Junge wird eher als „cool“, sein Blick als „direkt“ und „entspannt“, die Sitzhaltung mit Attributen wie „lässig“ und „locker“ charakterisiert; er trage „Alltagskleidung Jugendlicher heute“. In der Interaktion zwischen Mädchen und Junge sieht Peez eine „Vertrautheit und dezente körperliche Nähe“: die (rechte) Hand des Jungen liege „lässig“ über der linken Schulter des Mädchens, die Finger seiner Hand sind nahe an der geöffneten Brusttasche des Mädchens, die seine Berührung gewähren lasse. Peez beobachtet aber auch Diskrepanzen, z.B. zwischen der weitgehenden Verhüllung des Körpers des Mädchens einerseits und ihrer sehr direkten, offenen Körperhaltung und ihrer Berührung durch den Jungen andererseits. Peez erklärt sich diese Diskrepanzen durch die Peergroup- und Foto-Situation: Die fotografierende Person scheine zum Kreis der Fotografierten zu gehören und der Junge habe die Berührung aus Anlass des Fotos initiiert. Schließlich richtet sich der Blick von Peez mehr der rechten Bildseite zu, die er ebenfalls sehr konkret beschreibt. Er identifiziert Gegenstände, die in Zusammenhang mit der Sitzhaltung der beiden Jugendlichen nicht auf eine Situation „konventionellen Schulunterrichts“ hindeuten würden. Da die Funktion der Kieselsteine, die auf dem von Peez als „zweites ikonisches Zentrum“ bezeichnetem Stuhl liegen, nicht aus den Handlungen der Fotografierten ablesbar sei, könne hierzu nichts Genaueres gesagt werden. Mein Eindruck ist, dass Peez genau beschreibt und seine visuelle Aneignung des Fotos nachvollziehbar macht. Bezüglich des Entstehungskontextes vermutet er aufgrund der fotografischen Qualität eine Schnappschuss-Situation. Bei seinen Interpretationen fällt auf, dass (jugend)kulturelle Wissensbestände eher zurückhaltend einfließen. Kritisch zu hinterfragen wäre, ob die Interaktion zwischen Mädchen und Junge als „dezente“ körperliche Nähe charakterisiert werden kann – der Junge legt seine rechte Hand auf die Schulter des Mädchens, was körpersprachlich in der Regel eine Dominanzgeste ist. Wichtig scheinen mir die Hinweise von Peez auf verschiedene Diskrepanzen zu sein, deren Erhellung jedoch nur durch weitere, kontextbezogene Recherchen möglich sind. An diesem Beispiel wird deutlich, wie Fotos (zumindest) bestimmte Anzeichen ausdrücken können, die auf Verborgenes (für den Betrachter) verweisen. Bohnsack wendet die dokumentarische Methode der Bildinterpretation auch auf dieses Foto an und beschreibt auf der vor-ikonografischen Ebene als Bildvordergrund vor allem die Körperhaltung und die Kleidung des Mädchen und des Jungen, als Bildhintergrund eine Wandtafel (sowie weitere Gegenstände) und als Vorder- bzw. Mittelgrund einen Stuhl und eine einzelne 266
Hand. Unklar bleibt, weshalb nicht versucht wird, die Gegenstände auf dem Stuhl näher zu beschreiben; auch bei den folgenden Analyseschritten bleibt der Stuhl mit den Gegenständen ausgespart (lediglich in einer Fußnote erfolgt ein Hinweis auf „Steine“). Auf der ikonografischen Ebene (generalisierende Wissensbestände) identifiziert Bohnsack eine Situation in einem Unterrichtsraum, in dem „kein Unterricht stattfindet“; er vermutet eine „Pausensituation“. Unklar bleibt hier, weshalb nicht andere Möglichkeiten in Betracht gezogen werden wie z.B. Gruppen- oder Projektarbeit (vgl. die Analysen von Peez und Holzbrecher/Tell). Der folgende Analyseschritt der „reflektierenden Interpretation“ arbeitet eine Spannung innerhalb des Bildes heraus: die planimetrische Konstruktion vermittle den Eindruck von zwei auseinander fallender Bildhälften, die jedoch durch die beiden Gesichter und die perspektivische Projektion (Fluchtpunkt an der linken, oberen Tafelecke) wieder ausgeglichen werde und dazu führe, dass der Blick zwischen dem linken und rechten Teil des Bildes hin und her wandere. In der ikonologischikonischen Interpretation greift Bohnsack diese Spannung zwischen der linken (Mädchen und Junge) und der rechten Bildhälfte (Tafel und Stuhl) wieder auf und spricht von einem „ästhetischen Bruch oder Kontrast“ zwischen den jeweiligen Linienführungen auf den beiden Hälften. Er geht davon aus, dass der Bildproduzent nicht nur das Mädchen und den Jungen, sondern auch den institutionellen Kontext Schule im Sinne „schulischer Sachanforderungen“ zeigen wollte. Die beiden „gegenläufigen Bewegungen“, die auf dem Foto deutlich werden, interpretiert Bohnsack als Spannungsverhältnis zwischen „Peer- oder gegebenenfalls auch Familien-Milieu“ einerseits und „Orientierung am schulischen Kontext und dessen Sachanforderungen“ andererseits. Diese Interpretation führt in einer komparativen Analyse mit dem Foto 2 zu der Einschätzung, dass zwar im Foto 3 eine starke Spannung zwischen schulischer Lebenswelt und Peer-Lebenswelt sichtbar werde, das vorliegende Foto jedoch im Unterschied zu Foto 2 eine Vermittlung zwischen beiden Bereichen versuche. In diesem Analyseteil ist kritisch anzumerken, dass Bohnsack beim Bildproduzenten von einer Gestaltungsintention ausgeht, z.B. bei der Festlegung des Fluchtpunktes. Eine andere Lesart zur Bedeutung der rechten Bildhälfte könnte auch mit den Gegenständen auf dem Stuhl verknüpft sein (vgl. hierzu die die offerierten Lesarten in den Beiträgen von Peez und Holzbrecher/Tell). „Motivsehen“ folgt – im Unterschied zu „Bildsehen“ (Sowa und Uhlig) eben nicht (primär) gestalterischen Aspekten der „planimetrischen Komposition“ und der „szenischen Choreographie“ (Bohnsack), sondern bestimmten inhaltlichen Aspekten, die Bildproduzenten ins Bild rücken wollen. 267
Bezüglich der linken Bildhälfte, in der das Mädchen und der Junge abgebildet sind, interpretiert Bohnsack „Vertrautheit, Nähe und Harmonie, die einen familiären und/oder geschwisterlichen und/oder kumpelhaften Charakter hat“. Während der Körperausdruck und insbesondere die Sitzhaltung des Jungen eine „lässige“ und „bequeme“ Positionierung vermittle, hinterlasse der Körperausdruck des Mädchens eher einen „disziplinierten“ und „strengen“ Eindruck, der durch das Kopftuch verstärkt werde. Das Kopftuch wirke dabei als Kontrapunkt zur stilistisch-expressiven Funktion der Schirmmütze. Dennoch würden beide Personen insgesamt einen harmonischen und vertrauten Eindruck vermitteln; dies zeige u.a. die Zufriedenheit in beiden Gesichtern und die Bereitschaft des Mädchens, die Annäherung des Jungen bereitwillig zu erdulden. Bohnsack analysiert ein differenziertes „Eigenschafts- und Charakterbild“ und arbeitet sowohl Unterschiede als auch Stimmigkeiten im körpersprachlichen Ausdruck beider Personen heraus. Als kritische Anmerkung bleibt die Frage (wie bei Peez), weshalb das Handauflegen des Jungen auf die Schulter des Mädchen nicht (auch) als Dominanzgeste gedeutet wird (unabhängig von Milieu-Zugehörigkeit und gegenseitigem Kennen). Holzbrecher und Tell haben das Foto 3 auf der Grundlage eines bildhermeneutischen Ansatzes interpretiert, den sie in medienpädagogischen Handlungskontexten entwickelten. Ein Spezifikum dieses Ansatzes ist die Integration des kommunikationspsychologischen Modells von Schulz von Thun, der eine Sach-, eine Beziehungs-, eine Appell- und eine Selbstoffenbarungsebene unterscheidet (vgl. Holzbrecher und Tell). Ähnlich wie Sowa und Uhlig betonen Holzbrecher und Tell die Bedeutung von Kontextwissen für das Verstehen von Fotos. Dieses Kontextwissen sei bei medienpädagogischen Projekten konstitutiv für eine Bildhermeneutik. Deshalb weisen sie darauf hin, dass aufgrund fehlenden Kontextwissens einige ihrer Interpretationen spekulativ sind. In Anlehnung an das Modell von Schulz von Thun arbeiten Holzbrecher und Tell zunächst auf der „Sachebene“ einige ikonographische Perspektiven heraus und machen dabei auch Aussagen zu Tiefenschärfe, Art des verwendeten Objektivs, Größe der Blendenöffnung und Blitzbenutzung – interessanterweise Bereiche, die andere Analysen aussparten. Blicke, Körperhaltung, Herkunft und Alter werden ähnlich wie in den anderen Analysen charakterisiert: direkter Blick von beiden Jugendlichen in die Kamera, entspannte Körperhaltung des Jungen, Herkunft der Jugendlichen aus dem vorderasiatischem bzw. muslimischem Bereich, Alter zwischen 13 und 15 Jahren 268
(Peez schätzte beide auf 12-14 Jahre, Bohnsack schätzte das Mädchen auf ca. 15 und den Jungen auf 14/15 Jahre). Ähnlich wie Bohnsack nehmen Holzbrecher und Tell beim Mädchen eher einen strengen bzw. „steifen, engen Eindruck“ wahr – im Unterschied zu Peez, der die „weitgehende Verhüllung des Körpers des Mädchens“ durch die Kleidung in einem Kontrast zu ihrer „direkten, offenen, unverdeckten Körperhaltung“ beschreibt. Als situativer und fotografischer Kontext werden verschiedene Lesarten geboten: Pause/ Freizeit oder Projekt in einem Klassenzimmer. Bezüglich der Raumaufteilung betonen Holzbrecher und Tell eine Aufteilung des Bildes in zwei Hälften, die eine „Spannung“ erzeuge. Sie charakterisieren damit die Raumaufteilung des Fotos ähnlich wie Bohnsack, offerieren aber verschiedene Lesarten für die mögliche Bedeutung der rechten Bildhälfte. Dabei betonen sie besonders die Gegenstände auf dem Stuhl, die für den Betrachter des Fotos nicht zu decodieren seien, für den Bildproduzenten jedoch wichtig zu sein scheinen: „Er kennt deren Bedeutung, schafft es aber nicht, sie gleichzeitig mit den Jugendlichen auf einem Bild angemessen in Szene zu setzen“. Zusammenfassend vermuten Holzbrecher und Tell auf der „Sachebene“, dass es sich beim Foto um eine Situation aus einem „(Foto-?)Projekt mit ausländischen Schülerinnen und Schülern“ handeln könnte. Auf der „Beziehungsebene“ analysieren sie – ähnlich wie die anderen Autoren – eine „vertraute“ und „symmetrische“ Situation: direkter Blick in die Kamera, offener Gesichtsausdruck bei den Jugendlichen (das Mädchen allerdings etwas zurückhaltender), Kamerablick in etwa auf Augenhöhe zu den beiden Jugendlichen. Holzbrecher und Tell vermuten eine Selbst-Inszenierung, die Vertrautheit und Körperkontakt als Geste der Zusammengehörigkeit ausdrücken soll. Hiermit verknüpfe sich auf der „Selbstoffenbarungsebene“ ein „Wir-Gefühl“, das der Fotograf – wahrscheinlich ein Gruppenmitglied – dokumentieren möchte: demonstratives Zeigen von „Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit der (vermutlich) türkischen Zuwanderergruppe“. Diese selbstbewusste Inszenierung könne schließlich auf der „Appellebene“ als Aufforderung des Bildproduzenten (und der abgebildeten Jugendlichen) interpretiert werden, türkische Jugendliche als „ihrer selbst“ und „ihrer Kultur bewusste Subjekte wahrzunehmen, die wie alle anderen Jugendlichen ‚cool’ sein und ‚ihren Spaß haben’ wollen“. Indem Holzbrecher und Tell in ihrer Analyse einen Schwerpunkt auf das Verstehen kommunikativer Beziehungen sowie jugendkultureller Bedürfnisse und Ausdrucksformen legen, gelingt es ihnen, relativ nah an das symbolische Feld des „Motivsehens“ beim Bildproduzenten heranzukommen. Zugleich werden verschiedene Lesarten angeboten und aufgrund fehlender 269
Kontextinformationen offen gehalten. Auch die körperliche Interaktion wird seitens des Jungen in ihrer Ambivalenz gedeutet: die Hand auf der Schulter des Mädchens könne gleichzeitig „eine besitzergreifende und beschützende Geste“ sein. Holzwarth gibt nach einer formalen Analyse des Fotos nähere Informationen zum Entstehungskontext sowie zu weiteren visuellen Materialien und verbalen Äußerungen des Bildproduzenten Mustafa, einem 14-jährigen Jungen aus Tunesien. Daraus wird deutlich, dass das Foto zu Beginn eines CHICAMClub-Treffens gemacht wurde: Mustafa probierte in einer Schnappschuss-Situation spontan die vom Projektmitarbeiter verteilten neuen Einwegkameras aus. Die Bildkompetenz war zu diesem Projektzeitpunkt bei den Jugendlichen noch relativ gering und es ist davon auszugehen, dass Mustafa schnell und spontan agierte. Insofern scheint das Bild weniger über formale ästhetische Gestaltungsprinzipien erschließbar zu sein. Es gibt vor allem Hinweise auf die jugendkulturelle Orientierung des Mädchen und des Jungen: „Bei dem Jungen (Hakan) ist die Orientierung am gesellschaftlichen Symbolvorrat der Hip-Hop-Kultur auffällig (Mütze und Band mit Schlüsselanhänger) und bei dem Mädchen (Serife) das Kopftuch“ (Holzwarth). Anhand anderer Fotos, die im Projektzusammenhang entstanden, belegt Holzwarth die Orientierung von Hakan am Hip-Hop (z.B. Selbstportrait mit eindeutiger Pose). Eine stilistische Übereinstimmung finde sich auch in der Art Mütze wie sie zwei Rapper tragen (auf Hakans Mediencollage) und wie sie von Hakan selbst getragen wird. Bezüglich des Kopftuchs von Serife kann Holzwarth anhand mehrerer Interview-Auszüge verdeutlichen, dass „Kopftuch“ ein zentrales Thema für dieses Mädchen ist: „Serife befand sich im Spannungsfeld zweier widersprüchlicher Erwartungen: In einem Lebenskontext wurde ein kulturelles Symbol gefordert, das in einem anderen Kontext eher abgelehnt wurde“ (Familie versus Schule/Lehrerin/Mitschüler). Unter Hinweis auf eine Studie von Schiffauer et. al. (2002) weist Holzwarth auf Ähnlichkeiten zwischen den in dieser Studie analysierten Hauptstilrichtungen bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund und den bei Hakan und Serife deutlich werdenden Stilorientierungen hin. Schließlich formuliert er (vorsichtig), dass das Foto „in gewisser Weise auch als Dokument von Ungleichheit in Bezug auf symbolische Selbstdarstellung bei Mädchen und Jungen aus traditionell geprägten Migrationskontexten“ gesehen werden kann. Auf die in anderen Analysen herausgearbeitete Aufteilung des Fotos in zwei Hälften geht Holzwarth nicht ein. Er gibt lediglich die Kontextinformation, dass es sich bei den Gegenständen auf dem Stuhl um „sechs runde be270
malte Kieselsteine“ handelt, „die mit den farbigen Buchstaben des Projekts C H I C A M beschriftet wurden“. Damit bestätigt sich eine Vermutung von Holzbrecher und Tell, dass es sich bei dem Fotomotiv um eine Projektaktivität handelt und das beschriebene „Wir-“ und „Zusammengehörigkeitsgefühl“ sich hierauf bezieht: „Eines der weiblichen Clubmitglieder hatte sie [die bemalten Kieselsteine; HN] gebastelt und zu einem Treffen mitgebracht. Sie geben einen Hinweis auf ihre hohe Identifikation mit dem Projekt“ (Holzwarth). 2. Zusammenfassende Reflexion zu methodischen Fragen des Bildverstehens 2.1 Grundsätzliche Aspekte Ein Vergleich methodischer Modelle kann nicht unabhängig von methodologischen Überlegungen erfolgen. Die Anwendung von Methoden ist immer in Zusammenhang mit den jeweiligen Forschungsansätzen, Fragestellungen und konkreten Gegenständen zu sehen. Es macht z.B. einen großen Unterschied, ob ein Forschungsprojekt einem ethnografisch-explorativem Ansatz folgt, der eng mit Feldbeobachtungen verknüpft ist, oder ob ein Projekt auf einen historischen Korpus von Fotoaufnahmen im Rahmen einer seriell-ikonografischen Fotoanalyse zurückgreift, für den nur begrenztes Kontextwissen zur Verfügung steht. Im ersten Fall können Feldbeobachtungen, Bildproduktion (durch die Beobachteten) und Bildverstehen (durch die Beobachtenden) nicht im Sinne eines strengen Nacheinanders von Analyseschritten getrennt werden – der Verstehensprozess ist ein zirkulärer Prozess, der ständig zwischen den verschiedenen Dimensionen oszilliert und verbale, schriftliche und mediale Materialien verarbeitet und miteinander vergleicht. Im zweiten Fall ist es notwendig, in einer systematischen Abfolge von Schritten Fotomaterialien zu sichten, ihre Qualität zu bewerten, zugängliche Kontextinformationen zu rekonstruieren und in einem abgestuften Verfahren einzelne Fotografien bzw. ganze Serien kriteriengeleitet zusammenzustellen und zu analysieren (vgl. den Beitrag von Pilarczyk in diesem Band). Unabhängig von diesen Spezifika, von denen schwerlich abstrahiert werden kann, scheint nun aber strittig zu sein, mit welchem Grundverständnis an die Analyse und an das Verstehen von visuellen Materialien herangegangen wird. Auf dem Hintergrund des vorigen Vergleichs von methodischen Analysen sowie 271
des Einbeziehens weiterer Überlegungen und Erfahrungswerte möchte ich drei Problemfelder nennen: a) Die unterschiedliche Präferenz für ein mehr bildsprachlich-analytisches Vorgehen, das ein Foto zunächst nach bildimmanenten Kriterien systematisch untersucht und auf dieser Basis Bedeutungshypothesen unterschiedlicher Reichweite generiert (u.a. Bohnsack), oder für ein mehr alltagskulturell-hermeneutisches Vorgehen, das von Anfang an die „erzählerische Potenz eines Bildes“ (Fuhs) im Kontext kommunikativer Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge erschließen möchte. b) Die unterschiedliche Gewichtung von Kontextwissen für die Bewertung der Plausibilität von Lesarten zu einem Foto.5 Während ein alltagskulturell-hermeneutisches Vorgehen von einem engen Zusammenhang von Bildproduktion, Bildkommunikation und Bildverstehen ausgeht und die Relevanz von Kontextwissen (unterschiedlicher Art) für die Gültigkeitsprüfung von Lesarten sehr hoch einschätzt, setzt ein primär bildsprachlich-analytisches Vorgehen auf weitere fallinterne und fallexterne Analysen, um auf diesem Wege zu Generalisierungsleistungen zu gelangen. c) Die unterschiedliche Bewertung von Kontextwissen über die Bildkompetenz der Fotoproduzent/innen. Während die in diesem Band vorgestellten methodischen Ansätze, die eine bildimmanente Orientierung betonen, Überlegungen zur Bildkompetenz der Fotograf/innen weitgehend ausklammern, ist dies für alltagskulturell-hermeneutische Ansätze unverzichtbar, um die Qualität und Aussagekraft von Fotos verstehen zu können. Wie aus der vergleichenden Auswertung der Interpretationsangebote zu den CHICAM-Projektfotos deutlich wurde, ist Kontextwissen über den Entstehungszusammenhang und die Bildkompetenz der jeweiligen Bildproduzenten wichtig für die Plausibilitätsprüfung von Lesarten. Es macht einen Unterschied, ob fotografische Formelemente durch einen relativ hohen Grad von Zufälligkeit zustande kommen oder ob sie mit gestalterischen Intentionen und Reflexionen verknüpft sind. Eine Fotoanalyse mit entsprechendem Kontextwissen kann in anderer Weise Aussagen über „planimetrische Kom5
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„Kontextwissen“ meint vor allem verbale und schriftliche Daten in Zusammenhang mit dem Entstehungs- und Verwendungskontext eines Fotos; „bildimmanent“ meint Lesarten, die aus einer fotobezogenen Analyse hervorgehen (Verständigung durch das Bild und nicht über das Bild; vgl. Bohnsack).
positionen“ und „szenische Choreografien“ machen, die für Bedeutungshypothesen anschlussfähig sind. Das „klassische Besteck“ ikonographischer und ikonologischer Analysekriterien, das für professionelle Produktionen eingesetzt wird, ist für das Verstehen kinder- und jugendkultureller Eigenproduktionen nur begrenzt geeignet. Notwendig erscheint ein methodisches Vorgehen in Richtung einer lebensweltorientierten Bildhermeneutik, die formale und symbolische Analysedimen-sionen verknüpft und auf unterschiedliches Kontextwissen bezieht. 2.2 Relevanz von Bildbeschreibungen, Formanalysen und Erstverstehen Bildbeschreibungen und Formanalysen, die sich auf die Beschreibung der wahrnehmbaren Personen und Gegenstände sowie die Rekonstruktion der (ästhetischen) Gestaltungselemente eines Fotos konzentrieren, sind wichtig, um der spezifischen Qualität von Bildern gerecht zu werden (präsentative Symbolik, Simultanstruktur, Totalpräsenz), keine wichtigen Bildelemente zu übersehen und im weiteren Verlauf des bildhermeneutischen Prozesses Beziehungen zwischen Formen und Bedeutungen herstellen zu können. Es macht Sinn, Bildvorder- und Bildhintergrund, Kameraperspektiven und – einstellungen, Schärfe und Tiefenschärfe, Lichtgebung, dargestellte Personen und Bildgegenstände, Interaktionen zwischen Personen (Blickbeziehungen, Körperhaltungen), Bezüge zwischen Personen und bestimmten Gegenständen in detaillierter Form zu beschreiben und möglichst alle Details zu berücksichtigen. Hierzu gehören auch Aussagen über „imaginäre Bildräume“ (Pilarczyk/Mietzner 2003, 30), die Fluchtpunkte, Horizontlegungen, symmetrische und asymmetrische Formen des Bildaufbaus untersuchen. Bildbeschreibung und Rekonstruktion der Formalstruktur eines Bildes zielen darauf ab, in einem weiteren Schritt, den ich „Symbolverstehen“6 nenne, Hinweise zur Bedeutung eines Bildes zu gewinnen. Die wechselseitige Validierung von Form und Inhalt hat aber dort deutliche Grenzen, wo die Bildkompetenzen der Bildproduzenten noch niedrig sind und wir es mit „Knipsern“ und „Schnappschuss-Fotografien“ zu tun haben. In diesen Fällen können – wenn überhaupt – nur begrenzte gestalterische Intentionen angenommen werden. 6
„Symbolverstehen“ bezeichnet die Erschließung des Sinn- und Bedeutungsgehalts in einem Foto. Ich benutze einen eher weit gefassten Symbolbegriff (vgl. Niesyto 2001), der sich u.a. an die symboltheoretischen Arbeiten von Ernst Cassirer anlehnt. 273
Sowa und Uhlig unterscheiden in diesem Zusammenhang ein „Motivsehen“ (personen- und gegenstandsorientiert) und ein „Bildsehen“ (Betonung bildsprachlicher Gestaltungselemente, um Darstellungsabsichten formadäquat auszudrücken). Bei Bildbeschreibungen gibt es weiterhin das Problem der Simultaneität: das Foto erscheint auf einen Blick – im Unterschied zum gesprochenen und geschriebenen Wort, das sequentiell dokumentiert und erschlossen werden kann. Um der spezifischen Qualität von Bildern gerecht zu werden, schlagen die Autoren unterschiedliche Strategien vor, u.a. komparative Analysen von (ästhetisch) formalen Bild-Rekonstruktionen (Bohnsack); ästhetische Bildbearbeitungen bzw. „ästhetische Percept-Bildung“ (Stutz), Bilderkundungen im Rahmen „ikonischer Pfade“ (Peez). Die genannten Strategien beziehen sich zunächst auf die ästhetisch-formale Erschließung von Bildern. Da der Blick der betrachtenden und beschreibenden Forschungsperson immer subjektiv ist, macht es meines Erachtens Sinn, die eigenen Blickrichtungen und Fokussierungen zu dokumentieren; hierin spiegeln sich eigene Sehgewohnheiten und –präferenzen, die sich bewusst zu machen für eine Entfaltung eines distanzierten Blicks im weiteren Verlauf des Bildverstehens nützlich sein kann. Gleichzeitig versprechen Methoden, die die sprachliche Beschreibung von Bildern eng an visuelle Aneignungswege koppeln, bildbezogene Verstehenszugänge. Hierzu gehören auch Formen des Erstverstehens, d.h. der Verbalisierung (und anschließender Transkription) erster assoziativer und reflektierender Aussagen beim Betrachten eines Fotos. Hier gibt es keine Trennung von Formanalyse und Symbolverstehen und es wird auch deutlich, dass diese Trennung nur bis zu einem gewissen Grade analytisch möglich ist. Ästhetische, formbezogene Wahlprozesse sind ständig mit Selektions- und Deutungsmustern verbunden, die auf bewusster und unbewusster Ebene wirken. Insofern spricht einiges für Konzepte einer alltagskulturell orientierten Bildhermeneutik, die von Formen des Erstverstehens über eine möglichst genaue Bildbeschreibung zu immer feineren Schichtungen einer Symbolverstehens des Bildgehalts vordringt. Dieses Symbolverstehen folgt einem zirkulären Prozess, der zwischen form- und bedeutungsbezogenen Reflektionen oszilliert, Bild und Wort nicht trennt,7 sondern im beständigen Zusammen7
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Sowa und Uhlig formulieren zu diesem Aspekt, dass „die Differenz zwischen Bild und Text (…) vom Standpunkt der Bildhermeneutik keine prinzipielle“ ist und plädieren dafür, eine formale Bildanalyse allenfalls als „methodischen Zwischenschritt“ zu berücksichtigen, nicht jedoch als methodisches Grundkonstrukt (vgl. S. 81 bzw. S. 84 in diesem Band).
spiel Wahrnehmungsfähigkeiten entwickelt, die das rein Sinnenhafte überschreiten und im Gewahrwerden von Bildstimmungen, im Merken von Anzeichen den möglichen Lesarten und Erzählungen eines Fotos auf die Spur kommen. 2.3 Generierung von Lesarten – Fotos als multiperspektivische Quelle Bei diesem zirkulären Prozess des Bildverstehens ist es bereits in der Phase der Entwicklung erster Bedeutungshypothesen wichtig, Fotos methodisch als „multiperspektivische Quelle“ (Pilarczyk/Mietzner 2003, 21f.) zu erschließen: a) aus der Fotografen-Perspektive (Relevanz von Ausschnittwahl, Kameraperspektive etc.), b) aus der Perspektive der abgebildeten Personen (Relevanz von Blickbeziehungen, Körperhaltungen, zugehörigen Accessoires), c) aus der Betrachter-Perspektive (Relevanz subjektiver Aneignungswege eines Fotos durch die Forschungsperson), d) aus der Perspektive möglicher pädagogischer und institutioneller Begleiter der Fotoproduzent/innen (z.B. Relevanz von Übertragungseffekten, die in Eigenproduktionen von Kindern und Jugendlichen sichtbar werden). Fotoanalysen, die diese unterschiedlichen Perspektiven und damit verbundenen Motive, Bedürfnisse und Sichtweisen nicht berücksichtigen, vergeben die Chance einer kommunikativen Annäherung an fotografische Ausdrucksformen, die teils in zufälligen Konstellationen, teils in bewussten Inszenierungen Kinder- und Jugendkultur symbolisieren. Gerade die beobachtbaren Formen der Selbstpräsentation, der Interaktion und der Inszenierung vor der Kamera und mittels der Kamera geben wichtige Hinweise auf Selbstbildbestandteile von Kindern und Jugendlichen. Fotos sind – dies sollte nie vergessen werden – Bestandteil eines kommunikativen Prozesses, sowohl was die Fotoproduktion als auch das spätere Herumzeigen der Bilder betrifft. Die in Foto-Eigenproduktionen enthaltenen Darstellungen und Inszenierungen können auch verborgene Themen transportieren, die verbal von Kindern und Jugendlichen nicht artikuliert aber im Bild sichtbar werden. Studien im Rahmen des Forschungsansatzes „Jugendforschung mit Video“ konnten dies belegen (u.a. Niesyto 1991, 2003, Witzke 2004); ähnliches lässt sich für Eigenproduktionen mit Foto vermuten. Insofern ist es wichtig, Bedeutungshypothesen bildbezogen zu formulieren, unabhängig von bereits vorliegendem Kontextwissen, das möglicherweise keine Hinweise auf latente Bedeutungsgehalte enthält. Da visuelle Ausdrucksformen in besonderer Weise sinnliche und emotionale Dimensionen unserer Wahrnehmung ansprechen, sollten Methoden des Bildverstehens auch diesen sinnlichen und emotionalen Dimensionen Raum geben. Hierzu gehören 275
nicht nur eine anschauliche und möglichst konkrete Sprache, um bessere Brücken zwischen Bild und Text zu bauen; auch assoziative Formen der Annäherung an Fotos und Fotobestände sind im Sinne eines Erstverstehens geeignet, um vielfältige Eindrücke zu sammeln und vor allem der Intuition eine Chance zu geben.8 2.4 Relevanz von Kontextwissen für das Bildverstehen Bedeutungshypothesen sollten in jedem Fall mit Bedacht formuliert und Aussagen zu ihrer Plausibilität erst nach intersubjektiver Prüfung, nach Vergleich mit weiteren Fotoanalysen aus demselben Bestand und Berücksichtigung von Kontextwissen gemacht werden. Unabhängig von divergierenden methodologischen Grundpositionen sind Faktoren wie die Mehrdeutigkeit, die vielen bildsprachlichen Ausdrucksformen innewohnt, oder begrenzte Bildkompetenzen bei Bildproduzenten, gewichtige Gründe, die gegen eine kontextfreie Fotoanalyse sprechen – „Fotografien ohne Kontext gleichen eher vagabundierenden Zeichenträgern, denn je nach Kontext können fotografische Bilder ihre Bedeutung wandeln“ (Pilarczyk in diesem Band, S. 230). Zu Überinterpretationen kann es auch kommen, wenn formale und kompositorische Analysen ein zu großes Gewicht erhalten und/oder wenn zu schnell von einzelnen formal-ästhetischen Gestaltungselementen auf Kohärenzen im Bereich generalisierter Wissensbestände geschlossen wird (Kohärenzdrang). Fuhs weist außerdem darauf hin, dass heutzutage auch elaborierte Bildinterpretationen (wie die ikonographisch-ikonologische Methode nach Panfosky) dort ihre Grenzen haben, „wo das Foto als Ausdruck einer globalen Bildkommunikation verstanden wird“ – Fotos seien heute Träger vielschichtiger und ambivalenter Bedeutungsgehalte, die ohne Kenntnis des konkreten Erzählkontextes9 nicht verstanden werden können (Fuhs in diesem Band, S. 220). Andererseits ist festzuhalten – Bohnsack, Marotzki und Stoetzer, auch Peez und Stutz weisen in ihren Beiträgen deutlich darauf hin -, dass (ästhetisch) formbezogene Bildanalysen wichtig sind, um der spezifischen Qualität visuellen Materials gerecht zu werden und Bildinterpretationen nicht textlichem Vorwissen zu subsumieren. Interessanterweise bezieht Peez bei der Interpretation seines Fotobeispiels aus dem eigenen Pro8
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Vgl. hierzu auch Pilarczyk, die die Relevanz eines intuitiven Herangehens betont, insbesondere in der Phase der Auswahl von Einzelfotos aus einem größeren Bestand für die anschließende Einzelbildinterpretation (S. 235 in diesem Band).
jektzusammenhang umfangreiches Kontextwissen ein (teilnehmende Beobachtung). Er begründet dies damit, dass Fotos zwar stark bezüglich der Gliederung des Raums und der Analyse von Raum-Settings seien, aber aufgrund fehlender Aussagen zu zeitlichen Abfolgen, Handlungen und Prozessen weitere Informationen für die Deutung benötigten (Peez in diesem Band, S. 137). Auch Stutz formuliert, dass die mittels ästhetischer „Percept-Bildung“ gewonnenen Bildbeschreibungen und Bildinterpretationen nicht ausreichen und mit kontextbezogenen Informationen abzugleichen sind, um zu kohärenten, stimmigen Bedeutungsgefügen zu gelangen (Stutz in diesem Band, S. 157). Die Notwendigkeit des Einbeziehens von Kontextwissen vor allem bei der Plausibilitätsprüfung von Lesarten erscheint mir aus den dargelegten Gründen zwingend. Auch ein Blick in die internationale Forschungslandschaft, insbesondere in die traditionsreichen Bereiche der Visuellen Anthropologie und der Visuellen Soziologie, unterstreichen die Kontextrele-vanz bei Fotointerpretationen. Stellvertretend sei auf das von Jon Prosser (1998) editierte Buch „Image-based Research“ hingewiesen, in dem namhafte Autorinnen und Autoren wie Marcus Banks, Douglas Harper, Howard S. Becker, Jon Prosser und Dona Schwartz Beiträge veröffentlichten. Banks betont z.B. den Entstehungskontext als einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis von Fotos; Harper verweist am Bsp. der Methode „photo elicitation“ auf das gewinnbringende Zusammenspiel von Bild und Wort; Jon Prosser und Donna Schwartz formulieren zusammenfassend: „The initial problem fort he interpreter of photographs is how to ensure their plausibility and believability. Because cameras do not take pictures (…) the fallibility and selectivity of the picture maker must be scrutinized. Full contextual details (if this is ever possible) enables the trustworthiness and limitations of photographs to be assessed and this means having an understanding of both the external and internal 9
Marotzki und Stoetzer weisen in ihrem Beitrag bei der Bildung von Hypothesen und Lesarten auch auf die Kenntnis von „kulturell variantem Wissen“ hin, um Bedeutungen zu identifizieren und Lesarten in komparativen Analysen überprüfen zu können. Da es insbesondere bei Fotos aus alltagskulturellen Kontexten oft keine kodierten Narrationen gebe, sei es wichtig, in Forschergruppen systematisch (eine) Lesart(en) zu entwickeln, um den Kriterien der Konsensualität und Kohärenz zu entsprechen. Das Problem bleibt meines Erachtens dennoch, dass in vielen Fällen ohne ein Minimum an Wissen über die konkreten Entstehungs- und Verwendungskontexte die Plausibilität von Lesarten, die neben der Formalanalyse auch konventionalisierte Wissensbestände berücksichtigen, nur bedingt festgestellt werden kann. 277
photo-context (…) Any analysis of photographs without information elaborating the macro and micro contexts is generally unacceptable since image production and image reception informs our understanding of those photographs” (Posser und Schwartz 1998, 125/6). Was gehört zum Kontextwissen? Um zunächst bei Posser und Schwartz zu bleiben: unter „external context“ verstehen sie Aspekte wie den Forschungsansatz und den ganzen theoretischen Hintergrund des Forschungsprojekts, die Größe der Unterschiede zwischen der Kultur der Bildproduzenten und dem ethnischen, geschlechtsbezogenen, sozial- und bildungsbezogenen Hintergrund der Bildinterpreten; unter „internal context“ fallen Aspekte wie die Situation beim Zustandkommen der Aufnahmen, Beziehungen und Unterschiede zwischen Bild und Text, intermediäre Bezüge von Fotos oder die kommunikative Beziehung zwischen Bildproduzent und aufgenommenen Personen. Pilarczyk hält es für die Klassifikation von Fotografien im Hinblick auf serielle Fotoanalysen für unverzichtbar, dass folgende Kontextinformationen vorliegen: a) Entstehungskontext (Zeit, Ort, Region etc.), b) Herkunft der Fotografie (zumindest Information über den Status/Fotokompetenz des Fotografen) und c) Verwendungskontext der Fotografie (soziale Funktion der Fotografie – öffentlich, privat etc.). Möglichst vollständige Kontextinformationen verbessern die Möglichkeiten, entwickelte Lesarten zu überprüfen. Hierzu gehören Detail-Informationen – zum Entstehungskontext, z.B. zur kommunikativen Situation, zu den handlungsleitenden Themen und Selbstpräsentations-Motiven der Bildproduzenten bzw. der Gruppe; – zum (eventuellen) pädagogischen Beratungs- und zum (wissenschaftlichen) Projektkontext; – zur Bildkompetenz der Produzenten, ihren Vorerfahrungen; – zur Qualität der Aufnahme, z.B. Art und Qualität der Kamera und des verwendeten Filmmaterials (digital, analog, Fotopapier); verwendetes Objektiv, Blendenwahl, Einsatz von Kunstlicht/Blitz etc.; – zum Verwendungszweck der Fotografien, für wen sie gemacht wurden, wem sie gezeigt wurden, welche Resonanz die Fotos hatten; – über zusätzliches visuelles, schriftliches und verbales Material, das in Zusammenhang mit den Foto-Eigenproduktionen entstand, z.B. weitere Fotografien, Tonaufnahmen und Transkriptionen von Einzelgesprächen und Gruppendiskussionen, Aufzeichnungen von teilneh-menden Beobachtungen.
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Kontextwissen ersetzt keine bildimmanenten Analysen und erübrigt auch keine komparativen, fallinternen und fallexternen Analysen. Fotos können aber ohne die „Geschichte hinter dem Bild“ nur begrenzt verstanden werden. Kontextwissen dient dem tieferen Verständnis von Bild-Interpretationen und trägt wesentlich dazu bei, bestimmte Lesarten zu bestätigen und andere einzuklammern bzw. zu verwerfen. Die Verknüpfung von formalen Fotoanalysen, symbolbezogenen Fotodeutungen und situativem Kontextwissen ermöglicht „dichte Beschreibungen“ (Geerz 1983) von kinder- und jugendkulturellen Symbolisierungsleistungen und Symbolmilieus. 2.5 Subjektivität der Forscher/innen Aus den dargestellten Zusammenhängen wird deutlich, dass die beteiligten Forschungspersonen über ein breites Qualifikationsprofil verfügen müssen, um verbale und visuelle Methoden der Datenerhebung und der Datenauswertung reflektiert und systematisch anzuwenden. Gerade die Beschreibung und Interpretation von Fotos erfordert es, sich regelmäßig „über die eigene Schulter“ zu blicken und Arbeitsformen zu entwickeln, die die eigene Subjektivität nicht ausklammern, sondern sie zum Bestandteil eines kommunikativen und reflexiven Prozesses machen. Bildaneignung und Bildverstehen sind stets subjektive Prozesse und genau zu dokumentieren und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Die erwähnten Formen des Erstverstehens, die beschreibende Bildaneignung über „ikonische Pfade“ (Peez) oder mittels „Percepte“ (Stutz) sind alles subjektive Formen einer ästhetischen Bilderkundung. Dies betrifft auch die Generierung von Bedeutungshypothesen und verschiedener Lesarten. Die intersubjektive Zugänglichkeit der vorhandenen Dokumente und Kontextinformationen sowie der erarbeiteten Analysen und Interpretationsangebote ist unverzichtbar, um im Rahmen einer Forschungsgruppe oder einer Forschungswerkstatt eine seriöse Plausibilitätsprüfung zu gewährleisten. Ein weiterer „subjektiver Faktor“ betrifft das kulturelle Kontextwissen der Forschungspersonen. Einerseits ist es wichtig, möglichst unter Ausklammerung von Vorwissen erste Bedeutungshypothesen zu bilden und nicht vorschnell auf generalisierte Wissensbestände zu rekurrieren. Dieses „naive Verstehen“ zu lernen ist durchaus eine Kunst, die große Wahrnehmungsund Empathiefähigkeit, aber auch viel Distanz gegenüber eigenen Denkmustern sowie ausreichend Zeit für aufmerksame und geduldige Bilderkundungen benötigt. Andererseits ist besonders bei der Plausibilitätsprüfung von Lesarten ein solides kulturelles Kontextwissen unverzichtbar, um bestimmte 279
Ausdrucksformen, Gesten, gegenstandsbezogene Symbolisierungen im konkreten situativen Kontext verstehen zu können. Ich habe z.B. im Foto 3 das Handauflegen des Jungen auf die Schulter des Mädchens als „klassische Dominanzgeste“ gedeutet; zwei andere Analysen machten hierzu keine Aussage. Es kann nun sein, dass im konkreten jugendkulturellen und situativen Kontext diese Geste des Jungen nicht die von mir vermutete Bedeutung hat, möglicherweise auch nicht auf einer latenten Ebene. Dies könnte im Rahmen von Einzelgesprächen mit dem Mädchen und dem Jungen in geeigneter Form angesprochen werden (z.B. Kommentare zu verschiedenen Fotos, die in der Gruppe entstanden); sinnvoll wäre auch, Mitarbeiter/innen als Expert/innen in die Forschungsgruppe zu integrieren, die türkische Jugendkulturen gut kennen. 3. Vorschlag zu einem methodischen „Grundgerüst“ Abschließend möchte ich ein methodisches „Grundgerüst“ für eine lebensweltbezogene Bildhermeneutik von Foto-Eigenproduktionen skizzieren, die Kinder und Jugendliche in medienpädagogischen Kontexten erstellen.10 Wie bereits zu Beginn dieses Beitrags bemerkt, hängen die Auswahl der Methoden und die Abfolge der einzelnen Forschungsschritte von den gewählten Fragestellungen, dem konkreten Forschungsgegenstand und der Art des ganzen Forschungsansatzes ab. Meine Überlegungen zu einem „Grundgerüst“ sollen deshalb lediglich eine Orientierung für die Phase der Auswertung der erstellten Foto-Eigenproduktionen geben und sind für den jeweiligen Arbeitskontext zu modifizieren. Vom Ansatz her orientiere ich mich an einem alltagskulturell-hermeneutischem Grundverständnis, das jedoch kriteriengeleitete Analyseschritte nicht ausschließt.
10 Medienpädagogische Praxisforschung bedeutet in meinem Verständnis, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, im Rahmen von Projekten, AGs und anderen Formen zu selbst gewählten Themen oder zu vorgegebenen Rahmenthemen eigene Fotos, Fotoserien, Fotogeschichten etc. zu erstellen. Die Gruppen- und Produktionsprozesse werden medienpädagogisch begleitet und von einer weiteren Person dokumentiert und ausgewertet (Erhebung von Kontextwissen). 280
3.1 Dokumentation und Auswahl der Fotos Alle erstellten Fotos sind systematisch zu archivieren und zu qualifizieren. Digital erstellte Fotos können heute gut mittels professioneller Software archiviert werden (Dokumentation von diversen Kontextinformationen bezüglich Entstehungskontext, Art der Aufnahme, Bildproduzent etc.). Aus den vorhandenen Beständen ist eine Auswahl für Einzelbildanalysen zu treffen. Hierfür sollte die Methode des Erstverstehens berücksichtigt werden. Die Auswahlentscheidung hängt eng mit der Aussagekraft der Fotos, den konkreten Fragestellungen des Projekts und den jeweils vorhandenen Kontextinformationen zusammen. Je nach Erkenntnisinteresse sind aus dem vorhandenen Bildbestand und möglicherweise aus einem Referenzbestand (Fotos, die die Jugendlichen in einem anderen, früheren Projekt machten) weitere Bilder für vergleichende Fotoanalysen auszuwählen. Pilarczyk und Mietzner weisen darauf, dass die damit verbundenen Auswahlprozesse (Betrachten, Diskutieren, Vergleichen, Assoziieren, Rückversichern) eine eigenständige heuristische Funktion haben: Es geht nicht nur um formale Kriterien, sondern um Aspekte wie „komprimierter Ausdruck“, „komplexe Darstellung“, „Wesentliches“ (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2003, 27/8). 3.2 Erstverstehen Im Rahmen der Auswahl von Fotos und/oder zu Beginn der Einzelbildanalyse sammelt die Forschungsperson eigene Assoziationen und erste Reflexionen zum Bild, wobei nicht zwischen Form- und Bedeutungsebene getrennt wird. Es geht um subjektive, intuitive Verstehensversuche jenseits eines differenzierten begrifflichen Instrumentariums, um durch anschauliches Denken und ein Zusammenspiel von Sehen und Fühlen einen Zugang zum Foto zu erhalten: das Foto auf sich wirken lassen; streunende Wahrnehmung zulassen; Empfindungen, Eindrücke, Stichworte und Fragen niederschreiben bzw. auf Tonband sprechen (die eigenen „ikonischen Pfade“ und Assoziationen dokumentieren); emotionales Bilderleben zulassen (Was spricht mich an? Was stößt mich eher ab?); sich auf die Spezifik des jeweiligen Fotos einlassen und versuchen, von den wahrnehmbaren Personen, Gegenständen, Formen und Farben her erste Aussagen zu Bildatmosphäre, Bildstimmung und Bildthematik zu machen. Denkbar ist auch ein szenisches Nachspielen der Fotodarstellung, um Mimik, Gestik, Haptik körperlich besser spüren und sich die Empfindungen, Eindrücke und Deutungen in der Forschungsgruppe besser mitteilen zu können (vgl. Beck 2003, 62). Ausgangspunkt beim Erstverstehen 281
sind nicht Begriffe und Theorien und kein vorgegebenes analytisches Raster – wir können nicht Bilder interpretieren, als ob wir dabei sind, ein schwieriges Kreuzworträtsel zu lösen. 3.3 Bildbeschreibungen und Formanalyse Dieser Arbeitsschritt intendiert eine möglichst detailgenaue Beschreibung aller Personen, Gegenstände und formalen Gestaltungs- und Strukturelemente eines Fotos. Im Unterschied zum Erstverstehen geht es um einen eher „strengen“ Blick und ein diszipliniertes Vorgehen, um Personen, Gegenstände, Linienführungen und andere Formelemente zu erfassen. Die Forschungsperson nimmt sich zurück und versucht möglichst „naiv“ und distanziert eine deskriptive Bilderkundung. Dieser methodische Schritt deckt sich weitgehend mit den Phasen der „Objektbeschreibung“ bei Marotzki und Stoetzer sowie der „vor-ikonografischen“ Ebene und der „formalen Komposition“ bei Bohnsack. Bezüglich der formal-ästhetischen Gestaltung sollten zu folgenden Kriterien Aussagen erfolgen: Bildgattung, Kamera-Perspektive, Einstellungsgröße/Bildausschnitt, Vorder-/Hintergrund, Verwendung von Formen und Linien, Art des Bildaufbaus (Ränder, Zentrum, Fluchtpunkte, Horizontlegungen, symmetrischer/asymmetrischer Bildaufbau), Schärfe/ Unschärfe/Tiefenschärfe, Verwendung von Farben, Licht und Schatten, Kontraste; Verfremdungen, Effekte, digitale Bildbearbeitungen; visuelle Auffälligkeiten und Besonderheiten. Die Bildbeschreibung und Formanalyse legt den Schwerpunkt auf konkrete Beschreibungen und ist insofern analytisch, als sie systematisch Aussagen zu bestimmten Kriterien sammelt und in Zusammenhang mit der Bestimmung von Linienführungen, Fluchtpunkten oder etwa dem Einbeziehen von „Percepten“ (Stutz) strukturelle Aspekte herausarbeitet. 3.4 Symbolverstehen Das Foto verwandelt sich als Medium erst durch symbolischen Gebrauch in Bilder. Inhalt von Symbolisierungen sind Atmosphären, Gefühle, Stimmungen, Eigenschaften, Themen, Werte, Weltbilder, Motive, Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnisse, die in den Fotos zur Erscheinung kommen. Die Aufgabe besteht darin, unter Berücksichtigung von Hinweisen aus dem Erstverstehen, der Bildbeschreibung und Formanalyse sowie der Einnahme verschiedener Perspektiven (Fotografie als multiperspektivische Quelle)
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mögliche Bedeutungen und Lesarten herauszuarbeiten und zunächst am Foto zu belegen. Für das Symbolverstehen kinder- und jugendkultureller Themen und Ausdrucksbedürfnisse sollten folgende Punkte beachtet werden: – Charakterisierung des Ortes und der Zeit (soweit aus dem Bild heraus möglich); symbolische Aspekte des Körperausdrucks (Mimik, Gestik, Haptik) und einzelner Gegenstände im Hinblick auf ein bestimmtes Thema, Bedürfnis, Interesse; Art der Präsentation vor der Kamera; Verhältnis von gegenständlichen und mehr abstrahierenden Symbolisierungen; emotionale „Färbung“ des Fotos. – Aussagen zu Freundschafts-, Familien- und Milieubezügen (Raumgestaltung, Körperausdruck/-haltung, Kleidung, Accessoires); Beziehung der Personen zueinander und zur gezeigten Umgebung (kommunikative Bezüge, Geselligkeitsformen); Geschlechterbilder und –stereotypen; Anhaltspunkte für einen Adressatenbezug (Mitteilungsfunktion des Fotos); Anhaltspunkte für interaktive Bezüge zwischen Bildproduzent/in und abgebildeten Personen. – Globale und kulturraumspezifische Symbolwelten; intermediäre Symbolbezüge; genretypische Gestaltungsmerkmale; deutlich werdende ethische und sozial-moralische Muster und Orientierungen. – Hinweise auf latente Symbolisierungsgehalte, offene Fragen, Brüche. – Einschätzung zur (vermuteten) Kulturzugehörigkeit und zur Bildkompetenz des Bildproduzenten. 3.5 Kontextwissen Zur Relevanz und zu den einzelnen Dimensionen von Kontextwissen wurden im Teil 2.4 dieses Beitrags alle notwendigen Aussagen gemacht. Das Kontextwissen sollte idealiter erst nach der Generierung von Lesarten und Bedeutungshypothesen („Symbolverstehen“) herangezogen werden, um ihre Plausibilität zu prüfen und möglicherweise Hinweise für weitere Lesarten des Fotos zu gewinnen.11
11 Vgl. auch die Abb. 1 („Arbeitsschritte für kontextbezogene Bildinterpretation“) im Beitrag von Holzwarth (in diesem Band). 283
3.6 Zusammenfassung der Einzelbildanalyse Die Zusammenfassung stützt sich auf die Analyseschritte 2-5. Verschiedene Lesarten sind zu dokumentieren und auf ihre jeweilige Plausibilität hin zu begründen. Verwendete Interpretationsfolien (Theoriebezüge) sind offen zu legen, insbesondere bei Aussagen zu latenten Symbolgehalten. Abduktiv gewonnene Lesarten sind also zu kennzeichnen und in der weiteren Argumentation durch Erkenntnisse aus den Analyseschritten 2-5 zu bestätigen oder zu hinterfrage bzw. einzuklammern. Fokus der Zusammenfassung sind die erkenntnisleitenden Fragestellungen der jeweiligen Studie. 3.7 Intersubjektive Überprüfung und kommunikative Validierung Die Fotodokumente, Kontextmaterialien und Ergebnisse aus dem Prozess des Bildverstehens sind anderen Forschungspersonen zugänglich zu machen, z.B. im Rahmen einer (projektbezogenen) Forschungsgruppe oder speziellen Forschungskolloquien und –werkstätten. Aufgabe ist es, die vorhandenen Lesarten kritisch zu prüfen. Je nach vorhandenen Ressourcen kann dieser Überprüfungsprozess unterschiedlich intensiv und komplex gestaltet werden – von einem direkten Austausch über Lesarten, die nur von einer Person entwickelt wurden, bis hin zu einer vergleichenden Diskussion von Lesarten auf der Basis mehrerer Analysen, die von verschiedenen Forscher/innen zu gemeinsam ausgewählten Fotos durchgeführt wurden. Um spezielles Fachwissen einzubeziehen (vor allem kulturspezifisches und fotografisches Wissen), ist die Integration weiterer Expert/innen zu bedenken.12 Schließlich bietet es sich gerade bei medienpädagogischen Projekten an, Ergebnisse der Praxisforschung an die Beforschten in geeigneter Weise zu rückzuvermitteln. Dies kann im Rahmen einer abschließenden Projektpräsentation oder spezieller Nachtreffen und Interviews geschehen. Rückmeldungen und Selbstinterpretationen von Kindern/Jugendlichen zu ihren Produktionen gehören zum festen Bestandteil subjektorientierter Forschungsansätze (vgl. Niesyto 1991, Gauntlett 1997, Neuß 1999). Lebensweltorientierte Bildhermeneutik im Kontext medienpädagogischer Projekte ist ein kommunikativer Prozess, der nicht auf die Destillation der „einzig richtigen Interpretation“ abzielt, sondern an der Dokumentation von Entwicklun12 Aus der vergleichenden Diskussion über Lesarten und Bedeutungshypothesen, die sich auf einzelne Fotos beziehen, können sich Überlegungen ergeben, weitere fallinterne und/oder fallexterne Analysen durchzuführen, um Typenbildungen und Generalisierungsleistungen zu ermöglichen. 284
gen interessiert ist.13 Jugendliche erinnern sich z.B. an ihre Blickweise, die in dem Foto erinnert ist – das Foto wird so zum Medium zwischen zwei Blickweisen (damals und heute). „Die symbolische Wahrnehmung, die wir vor Photographien anwenden, besteht aus einem Blicktausch. Wir erinnern den Blick, der seinerseits in einem Photo erinnert ist. In diesem Sinne ist die Photographie ein Medium zwischen zwei Blicken“ (Belting 2001, 224). Diese Qualität, die im kommunikativen Austausch über Fotos angelegt ist, sollte von Forschungsprojekten mehr genutzt werden.
Literatur Beck, Christian (2003): Fotos wie Texte lesen: Anleitung zur sozialwissenschaftlichen Fotoanalyse. In: Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard: Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch, Opladen (Leske). S. 55-71. Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie, München (Wilhelm Fink). Gauntlett, David (1997): Video Critical: Children, the Environment and Media Power, University of Luton Press. Geerz, Clifford (1983): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main (suhrkamp). Neuß, Norbert (1999): Symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in Kinderzeichnungen. Eine empirische Studie mit Vorschulkindern, München (kopaed). Niesyto, Horst (1991): Erfahrungsproduktion mit Medien, Weinheim und München (Juventa). Niesyto, Horst (Hrsg.) (2003): VideoCulture. Video und interkulturelle Kommunikation. Grundlagen, Methoden und Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts, München (kopaed). Niesyto, Horst (2001): Qualitative Jugendforschung und symbolischer Selbstausdruck. In: Belgrad, Jürgen/Niesyto, Horst (Hrsg.): Symbol. Verstehen und Produktion in pädagogischen Kontexten, Hohengehren (Schneider). S. 55-73. Pilarczyk, Ulrike/Mietzner, Ulrike (2003): Methoden der Fotografieanalyse. In: Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch, Opladen (Leske). S. 19-36. Prosser, Jon (Ed.) (1998): Image-based Research. A Sourcebook for Qualitative Researchers, London (Routledge-Falmer). 13 Formen der kommunikativen Validierung von Forschungsergebnissen gehören auch zum Transparenz-Gebot einer guten Forschungspraxis (vgl. hierzu die Bemerkungen von Holzwarth im Schlussteil seines Beitrags). 285
Schiffauer, Werner/ Baumann, Gerd/ Kastoryano, Riva/ Vertovec, Steven (Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Interkulturelle Bildungsforschung Bd. 10. Münster und New York (Waxmann). Witzke, Margrit (2004): Identität, Selbstausdruck und Jugendkultur. Eigenproduzierte Videos Jugendlicher im Vergleich mit ihren Selbstaussagen. Ein Beitrag zur Jugend(kultur)forschung, München (kopaed).
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Autorenverzeichnis Bohnsack, Ralf, Prof., Dr. rer. soc., Dr. phil. habil., Freie Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Dokumentarische Methode, Gesprächsanalyse, Bildinterpretation, Evaluationsforschung, Milieuforschung. Fuhs, Burkhard, Prof. Dr. Dr., Universität Erfurt. Arbeitsschwerpunkte: Kindheitsforschung, Biographieforschung, Technisierung des Alltags. Holzbrecher, Alfred, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Fotopädagogik; Interkulturelle Didaktik; Schulpädagogik/Schulentwicklung. Holzwarth, Peter, Dipl.-Päd., Doktorand und Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Medienpädagogik; visuelle Forschungsmethoden; Migrationsforschung; Interkulturelle Pädagogik; medienpädagogische Praxisforschung. Marotzki, Winfried, Prof. Dr., Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Lern- und Bildungstheorie, Qualtiative Bildungs- und Sozialforschung, Internet Research, Pädagogische Anthropologie. Niesyto, Horst, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkte: Grundfragen und Konzepte der Medienpädagogik, Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede, interkulturelle Medienbildung, ästhetisch-symbolische Fragen in Bildungsprozessen. Peez, Georg, Prof. Dr., Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik; digitale Medien im Kunstunterricht und in der Kunstvermittlung; ästhetisches Verhalten von Kindern und Jugendlichen; Evaluations- und Wirkungsforschung in der kulturellen Bildung. Pilarczyk, Ulrike, PD Dr., Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: bildanalytische Forschung, historische Bildungsforschung, Medienpädagogik (Computer und Computerspiel). Sowa, Hubert, Prof. Dr. phil., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildtheorie, -philosophie. Hermeneutik, Performanztheorie/Bildpragmatik, Kunstdidaktik. Stoetzer, Katja, Diplompädagogin, Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Technisierung und Gesellschaft“ der Technischen Universität Darm-
stadt. Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, visuelle Medien und Methoden, Raumtheorien. Stutz, Ulrike, M.A., Doktorandin der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Kunstvermittlung, Künstlerische Praxis, Qualitative empirische Forschung in der künstlerischen Bildungsarbeit, Künstlerische Medienbildung, Ästhetische Bildung. Tell, Sandra, Dipl.Soz.Päd., Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Digitalfotografie und Bildbearbeitung für die Jugendmedienarbeit; Jugendfotos als Quelle für erziehungswissenschaftliche Forschung. Uhlig, Bettina, Prof.in Dr. phil., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkte: Kunst- und Bildrezeption, Grundschuldidaktik, Vermittlung von Gegenwartskunst.