Michael Jäckel (Hrsg.) Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation
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Michael Jäckel (Hrsg.) Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation
Konsumsoziologie und Massenkultur Herausgegeben von Kai-Uwe Hellmann Dominik Schrage In der Reihe „Konsumsoziologie und Massenkultur“ erscheinen Sammelbände und Monografien, die sich dem in der deutschen Soziologie bislang vernachlässigten Forschungsgebiet der Konsumsoziologie widmen. Der Akzent liegt auf Beiträgen, die den Bereich der Konsumsoziologie mit Blick auf gesellschafts- und kulturtheoretische Fragestellungen erschließen und den modernen Konsum als Herausforderung für die soziologische Theoriebildung begreifen. Das Konzept der Massenkultur verweist vor allem auf die gesellschaftsdiagnostische Komponente konsumsoziologischer Forschung. „Massenkultur“ kann als die übergreifende Kultur der gegenwärtigen Gesellschaft verstanden werden, die kulturelle Gehalte und Bedeutungen auf vielfältige Art und Weise für die Gesamtheit der Bevölkerung verfügbar macht. Massenkultur leistet die wichtigste Orientierung in der modernen, durch Technisierung, Ökonomisierung, Ästhetisierung und Demokratisierung geprägten Wirklichkeit, indem sie all jene Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bereitstellt, die in ihrer Gesamtheit für jeden Einzelnen ein Universum von Selbstverständlichkeiten ausmachen. Deren Geltung ist dabei keine primär normative, sondern abhängig von der am Markt, in den Medien und durch den Konsum manifestierten Akzeptanz eines Massenpublikums. Durch die Verbindung von Konsumsoziologie und Massenkultur können die in den einzelnen Beiträgen erforschten Konsumphänomene auf die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Konsums in modernen Gesellschaften bezogen werden.
Michael Jäckel (Hrsg.)
Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Tagung wurde als Rundgespräch durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Tagung und der Tagungsband wurden durch die Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz (ZIRP) im Rahmen des Projektes „Zukunftsradar 2030“ zu den Marktchancen im Demographischen Wandel unterstützt (www.zukunftsradar2030.de).
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1. Auflage April 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15272-1
Inhalt Inhalt Vorbemerkung ...................................................................................................... 7 Michael Jäckel Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation ...................... 9
Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven .............. 19 Thomas Lenz Konsum und Großstadt. Anmerkungen zu den antimodernen Wurzeln der Konsumkritik ...................................................................................................... 41 Kai-Uwe Hellmann Zur Historie und Soziologie des Markenwesens................................................. 53
Hubert Knoblauch Märkte der populären Religion ........................................................................... 73 Jan D. Reinhardt und Felix Gradinger Behinderung in der Werbung – zwischen Unsichtbarkeit und Provokation ....... 91 Gabriele Siegert Werbung und Konsum: Marken als zweiseitiger, zweidimensionaler Kommunikationsprozess................................................................................... 109 York Kautt und Herbert Willems Ambivalenzen werblicher Kommunikation – Formen und Funktionen............ 125
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Inhalt
Elmar Lange Zur Verschuldung von Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 24 Jahren – Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher ...................................................................................................... 141 Michael Jäckel The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten .. 161 Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert) Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle. Anwendung des Konzeptes der emotionalen Polarisierung auf die Konsumstimmung – eine induktivdeduktive Forschungsgeschichte ...................................................................... 187 Ingo Schoenheit Politischer Konsum. Ein Beitrag zum faustischen Konsumentenverhalten ...... 211 Georgios Papastefanou Variatio delectat? – Verbreitung und sozialstrukturelle Differenzierung der Konsumvariabilität ........................................................................................... 235 Sebastian Langguth und Heinz Kolz Der ältere Konsument – Marktchancen im demographischen Wandel............. 261
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ......................................................... 275
Vorbemerkung Vorbemerkung
Die vorliegende Publikation fasst die Beiträge der Tagung „Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation“, die vom 07. bis 09. Juni 2006 an der Universität Trier stattfand, zusammen. Für die Drucklegung sind alle Beiträge aktualisiert und erweitert worden. Mein erster Dank gilt an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren, die zum Gelingen dieser Publikation beigetragen haben. Marissa Maurer und Thomas Lenz danke ich für die Unterstützung während des gesamten Projekts, ebenso Nicole Zillien und Christian Gerhards sowie Sabine Wollscheid und Heike Hechler. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei an dieser Stelle noch einmal herzlich für die Förderung des Vorhabens gedankt sowie der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz für die erfahrene Unterstützung.
Trier, im Februar 2007
Michael Jäckel
Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation Michael Jäckel Michael Jäckel Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation
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Thematische Einführung
Am Anfang der Konsumgesellschaft steht eine Ambivalenz. Zumindest könnte man Adam Smith und seine Aussage, dass Sinn und Zweck der Produktion der Konsum ist, in diesem Sinne interpretieren. Formuliert hatte er diese Feststellung im Rahmen einer kritischen Diskussion der merkantilistischen Wirtschaftsordnung: „Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen des Produzenten eigentlich nur soweit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das Wohl des Konsumenten zu fördern.“ (Smith 1978 [zuerst 1789], S. 558) Schutzzölle begünstigten dagegen das Entstehen von Monopolen, die wiederum zum Unwohl des Konsumenten erhöhte Preise mit sich bringen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts formuliert, entstand diese Beobachtung in einer markanten ökonomischen und sozialen Umbruchsituation, gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von staatlicher Kontrolle und ökonomischem Unabhängigkeitsstreben, durch ein Nebeneinander von Tradition und Fortschritt, ein Nebeneinander von Besorgnissen und Wünschen. Was sich vollzog, hat der britische Historiker Eric Hobsbawm als eine doppelte Revolution bezeichnet (vgl. Hobsbawm 1978): eine politische (vor allem in Frankreich) und eine ökonomische (zunächst vorwiegend in England). Diese Veränderungen waren wiederum folgenreich. Sie bedeuteten eben nicht nur eine Loslösung aus Bindungen an bestehende Herrschaftsstrukturen, sondern auch die wachsende Notwendigkeit der Selbstpositionierung auf neu entstehenden Märkten. Wenn John Brewer als Merkmal der Konsumgesellschaft eine „tiefe Ambivalenz, manchmal sogar offene Feindschaft gegenüber dem Phänomen des Konsums“ (Brewer 1997, S. 52) nennt, dann könnte für diese Anfänge auch von einer offenen Feindschaft gegen alles, was nicht den gewohnten Abläufen und Traditionen entsprach, gesprochen werden. Diese Feindschaft selbst hatte wiederum viele Ursachen: Der Kleinhändler schimpfte auf das Warenhaus, der Adlige auf den Bürger, der Agrarier auf den Industriellen, der Arbeiter auf den Stehkragenproletarier und der Konservative auf den Sozialisten. Cleavages sind
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also immer leicht zu identifizieren gewesen. Ein Beispiel ist die Klage eines pommerschen Gutsherrn aus den 1830er Jahren: „Wenn heute jemand Schornsteinfeger ist, morgen Rittergutsbesitzer, und übermorgen den Pfarrer ernennt, so ist dies nicht passend [...], ich spreche davon, was alle Tage der Fall ist, daß gewöhnliche Wirtschaftsinspektoren, Schulzen, Müller, Schumacher, sogar Scharfrichter [...] Rittergutsbesitzer werden.“ (zit. nach Reif 1995, S. 79).
Spätestens seit Walt W. Rostow das „Zeitalter des Massenkonsums“ als eines von fünf Wachstumsstadien der wirtschaftlichen Lage einer jeden Gesellschaft charakterisierte, ist das Problem von Wunsch und Erfüllung evident. Rostow bemerkte im Amerika der 1950er Jahre einen sinkenden Grenznutzen für dauerhafte Konsumgüter. In Anlehnung an Thomas Manns Familiensaga bezeichnete er seine Feststellung als „Buddenbrook-Dynamik“ und wollte damit auf die wechselnden Wünsche der Generationen hinweisen (vgl. Rostow 1960, S. 27). Dadurch, dass Dinge als selbstverständlich hingenommen werden, verändern sich die Bewertungsmaßstäbe. Bei Thomas Mann strebt die erste Generation nach Geld, die zweite nach sozialer und gesellschaftlicher Stellung und die dritte – die beides besitzt – sucht ihr Glück in der Musik. Darin wird eine besondere Eigenheit des Konsums deutlich, die bereits Immanuel Kant in einem Brief an den russischen Schriftsteller Nikolai Karamzin wie folgt beschrieb: „Man gebe dem Menschen alles, wonach er sich sehnt, und in demselben Augenblick, da er es erlangt, wird er empfinden, daß dieses Alles nicht alles sei.“ (Kant, zit. nach Karamzin 1922, S. 34) Der von Brewer verwandte Begriff der Ambivalenz galt Robert King Merton unter anderem als ein Resultat von sozialen Strukturen, die einen Konflikt unterschiedlicher Rollenerwartungen evozieren. Mertons Analysen verdeutlichten, dass solche Konflikte eher der Normalfall als die Ausnahme sind. Der Einzelne ist immer in soziale Strukturen eingebunden und mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. Die soziologische Ambivalenz, wie sie von Merton aufgezeigt wird, meint die Doppelgerichtetheit, die entsteht, wenn unvereinbare normative Erwartungen an den Inhaber einer Position oder mehrerer Positionen gerichtet werden. Im Konkreten unterscheidet Merton sechs Typen soziologischer Ambivalenz, die er von Formen individueller Verarbeitung ambivalenter Situationen abgrenzt (vgl. Merton 1976, S. 8ff.): 1. 2. 3. 4.
Ambivalenz, die in einer sozialen Position begründet ist, Ambivalenz, die aus Status-Sets resultiert, Ambivalenz aus Rollen, die mit einem sozialen Status verbunden sind, Ambivalenz als Konsequenz von gegensätzlichen kulturellen Werten,
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Ambivalenz als Resultat eines Widerspruchs kulturell geprägter Sehnsüchte und vorhandener Gelegenheiten und Ambivalenz, die aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen entsteht.
Robert Lynd konnte am Beispiel des Wertesystems der amerikanischen Gesellschaft bereits in den 1930er Jahren zeigen, dass an die Stelle eines Wertekonsenses häufig Widersprüche treten, z.B. Glorifizierung des persönlichen Erfolgs versus Vorrangstellung des Wertes der Gesamtpersönlichkeit (vgl. Lynd 1939). Galbraith (1959) war einer der Autoren, die Widersprüchlichkeit bzw. Ambivalenz durch eine Widerlegung der Nachfragebegründung aufdecken wollten. Dringliche Bedürfnisse, so seine Behauptung, bedürfen keiner künstlichen Weckung. Auch Riesman (1958) hat diese Konflikte z.B. mit der Unsicherheit des außengeleiteten Konsumenten verdeutlicht, der seinem persönlichen Kompass nicht mehr vertraut und zur Entscheidungsunsicherheit gelenkt/sozialisiert wird, die nunmehr das Feld der Beratung umso mehr erforderlich macht. Ebenso ist die Werbung ein Feld, in welchem vor allem in jüngster Zeit mit Ambivalenzen gespielt wird, die aus der Existenz dieser Kommunikationsform resultieren. Die Aufmerksamkeitserzeugung um jeden Preis führt mittlerweile fast alljährlich zu Appellen zur Zurückhaltung seitens der Selbstkontrollorgane. Die Pressemitteilung des Deutschen Werberats vom 15. März 2005 lautete: „Werbung muss zumutbar bleiben“. Luciano Benetton wiederum bemerkte in einem SpiegelInterview zur Werbestrategie seines Unternehmens: „Am Ende waren die Provokationen nicht mehr provokant.“ (N.N. 2005, S. 106) Merton selbst hat viele Amivalenzen aus dem Alltag von Organisationen beschrieben. Bekannt z.B. seine „displacement of goals“-These, die einen Konflikt zwischen den Bedingungen einer erfolgreichen Karriere und der dadurch verhinderten Flexibilität von Bürokratien beschreibt, oder die Doppelbindung des bürokratischen Intellektuellen, dessen Wirkungspotenzial sich von einem „frei schwebenden“ Intellektuellen wie folgt unterscheidet: „[...] he who innovates is not heard; he who is heard does not innovate.“ Aber an einer Stelle beschreibt Merton auch ein Beispiel aus dem Feld des Konsums: „The rise of consumerism can be ascribed, at least in part, to a growing public which, surfeited with material possessions, now demands that these same possessions be imbued with qualities that are not only economically profitable but socially desirable. Thus, in our autos we demand seat belts rather than chrome strips; in our drugs, efficacy rather than palliatives (or worse), in our health care, adequacy for all rather than for the few.“ (Merton 1976, S. 85f.)
Ambivalenz meint also nicht – wie man vereinfachend sagen könnte – dass etwas immer zwei Seiten hat, z.B. eine gute und eine schlechte. Man könnte von
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hier sofort den Sprung in die Welt der Fernsehserien machen. Schließlich gelten Sendungen wie „Gute Zeiten schlechte Zeiten“, „Desperate Housewives“ und „Gilmore Girls“ als Beispiele für „genussvolle Ambivalenz“, in denen das Spiel mit der Übertreibung die Eindeutigkeit aus der Welt vertreibt. Vielleicht spiegelt sich in diesen Phänomenen das moderne Beispiel für „Hassliebe“, das der Psychoanalyse als Paradebeispiel für eine affektive Doppelgerichtetheit gilt. Sigmund Freud nennt in „Das Unbehagen in der Kultur“ eine lange Liste an Annehmlichkeiten und Vorteilen, die uns der Fortschritt gebracht hat, um sogleich eine fiktive Gegenliste aufzumachen. Sie lautet: „Gäbe es keine Eisenbahn, die die Entfernungen überwindet, so hätte das Kind die Vaterstadt nie verlassen, man bräuchte kein Telephon, um seine Stimme zu hören. Wäre nicht die Schiffahrt über den Ozean eingerichtet, so hätte der Freund nicht die Seereise unternommen, ich brauchte den Telegraphen nicht, um meine Sorge um ihn zu beschwichtigen. Was nützt uns die Einschränkung der Kindersterblichkeit, wenn gerade sie uns die äußerste Zurückhaltung in der Kindererzeugung aufnötigt, so daß wir im ganzen doch nicht mehr Kinder aufziehen als in den Zeiten vor der Herrschaft der Hygiene [...].“ (Freud 1953, S. 84f.)
Aber offensichtlich bleibt ein Widerspruch zwischen dem, was die Menschen denken, und was sie über Dinge denken, die man ihnen plötzlich vorenthält. Haffner hat in einem Essay einmal zugegeben: „Nein, ich gehöre nicht zu den Leuten, die lieber im 18. Jahrhundert gelebt hätten. Wenn man mich plötzlich dahin beförderte, würde mir zwar einiges bestimmt besser gefallen – die Architektur, das Mobiliar, die Literatur, Malerei und Musik [..] –, aber vieles würde mir doch fehlen: Wasserklos, Badewannen, Kopfschmerztabletten,[...], Zentralheizung.“ (Haffner 1985, S. 312)
Auf lange Sicht hat offenbar die Dimension des Komforts jene der Konsumkritik zurückgedrängt und Teilhabe am Wohlstand attraktiver gemacht als Entsagung des Fortschritts. Die Bewunderung des einfachen Lebens, die den Fortschritt immer begleitet hat, entfaltet kein Potenzial für nachhaltige Revolten gegen den Wohlstand. Vielmehr hat sich eine Einschätzung bestätigt, die David Ogilvy (unter Berufung auf Roosevelt und Churchill) als Werbefachmann wie folgt umschrieb: „Die Werbung ist der Nährboden für den Konsum der Menschheit. Sie zeigt dem Menschen eine bessere Wohnung als sein Ziel, bessere Bekleidung, bessere Ernährung für sich und seine Familie. Das spornt jeden einzelnen zu größeren Leistungen an.“ (Ogilvy 1963, S. 204) Parallel zu diesem Aufstiegsstreben wird der Einzelne zunehmend in eine Welt wachsender Optionsspielräume entlassen, jede Stufe in dieser Entwicklung
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wird begleitet von neuen Öffnungsimpulsen (vgl. Habermas 1998, S. 126). Diese gehen „von neuen Märkten, Kommunikationsmitteln, Verkehrswegen und kulturellen Vernetzungen aus, [...].“ (ebd., S. 126) Habermas stuft diesen Prozess als ambivalent ein, da dem Einzelnen durch die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten die Augen geöffnet werden. Die Vergangenheit und die sie bestimmenden Verhältnisse kehren nicht mehr zurück, Selbstverpflichtungen nehmen zu und „das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können.“ (Habermas 1998, S. 126f.)
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Thematischer Überblick
Die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume, die u. a. Habermas hervorgehoben hat, dient auch Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger als Orientierung für ihre Betrachtung der sozial- und wirtschaftshistorischen Entwicklung. In ihrem Beitrag „Konsum im Kontext“ verdeutlichen sie, dass Konsum eine gesellschaftliche Institution darstellt, die räumlich und zeitlich unterschiedliche Gesichter und verschiedene gesellschaftliche Funktionen einnimmt bzw. eingenommen hat. Eine soziologische Theorie über Sozialstrukturen kann durch die Einbindung der jeweiligen Konsummuster eine fruchtbare Ergänzung erfahren. Am Beispiel der Konsumentwicklung nach 1945 wird dies exemplarisch veranschaulicht. Die historische Dimension zeigt nachdrücklich, dass Bedürfnisse stets zwischen individuellen und sozialen Motivationen schwanken. Diese Ambivalenz beschreibt auch Thomas Lenz am Beispiel verschiedener Konsumdiskurse, die sich insbesondere an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beobachten lassen. Sein Beitrag „Konsum und Großstadt. Anmerkungen zu den antimodernen Wurzeln der Konsumkritik“ stützt sich insbesondere auf die Arbeiten von Georg Simmel und eine Differenzierung von subjektiver und objektiver Kultur. So erfährt im Zuge des Aufkommens einer Konsumgesellschaft und des gleichzeitigen Aufkommens eines Warenhaussystems insbesondere die Rolle von Mann und Frau eine Neubewertung. Im Zusammenhang mit dem Aufstreben des Konsumverhaltens wird auch von einer Verweiblichung der Gesellschaft gesprochen. Damit wurde gleichsam eine neue gesellschaftliche Problematik genannt, die sowohl Ablehnung, Vorbehalte, teilweise sogar erbitterte Gegnerschaft erkennen ließ. So vermittelt auch die Geschichte des Konsums zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Unterscheidung von Modernisierungsbefürwortern und Modernisierungsgegnern in diesem Feld der Erfahrung eine große Bedeutung hat. Kai-Uwe Hellmann schließt daran seine Ausführungen zur Historie und Soziologie des Markenwesens an. Nach seiner Auffassung ist der Kenntnisstand über die Bedeutung von Marken nach wie vor konfus. Sie erfüllen mehr als eine
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Orientierungsfunktion und lassen sich entlang verschiedener, in der Soziologie bekannter Unterscheidungen, verorten: Sie vermitteln sowohl einen Gebrauchsals auch einen Tauschwert, sie sagen etwas über Inhalte, sie vermitteln aber auch Beziehungen (in Anlehnung an die Unterscheidung von Watzlawick). Insofern sind Marken in der Lage, auch eine Eigenwertbildung zu evozieren. Durch eine Inflationierung des Markenbegriffs wird diese Funktion aber strapaziert. Marken unterliegen daher in besonderer Weise nicht nur dem Produkt-, sondern eben in zunehmendem Maße dem Kommunikationswettbewerb. Die dazu entwickelten Geschichten und „Narrationen“ haben sich in diesem Zusammenhang stets auch aus der „Zeugkammer des Religiösen“ (Reichertz 1998, S. 273) bedient. Hubert Knoblauch skizziert in seinen Ausführungen über „Märkte der populären Religion“, dass sich nicht nur eine neue Form der Religiosität herauszubilden beginnt, in der religiöse Surrogate in populärkulturelle Formen eingebunden werden. Er macht darüber hinaus deutlich, dass die Grenzen zwischen der populären und der religiösen Kommunikation immer unschärfer werden, aber auch gerade aus diesem Grund die Angemessenheit der Markt-Metapher hinterfragt werden muss. Jedenfalls weitet sich der Kommunikationswettbewerb auf die Ebene von Institutionen aus. Dass Provokation in diesem Kontext ein probates Mittel des Stilbruchs darstellen kann, beweist im übrigen auch ein Blick in die Entwicklung der Konsumgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Provokation ist aber insbesondere in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vermehrt zum Einsatz gekommen, zumeist aber nur punktuell, und nicht als dauerhafte Strategie. Jan Reinhardt und Felix Gradinger haben diese Diskussion aufgearbeitet und zugleich an einem Beispiel gezeigt, dass Provokation in vielfacher Hinsicht Ambivalenzpotenzial enthält. Nach ihren Beobachtungen stellen behinderte Menschen eine wichtige Konsumentengruppe, jedoch bis auf Spezialprodukte kaum eine Zielgruppe der Werbung dar. Diese Unterrepräsentanz bedeutet für viele Behindertenverbände eine Provokation, zumal die durch die Werbung generell vermittelten Attraktivitäts- und Bewegungsideale die Erfahrung des Behindertseins gleichsam subkutan verstärken. Wenn Werbung nunmehr versucht, auch diese Zielgruppe zu integrieren, wird der Verdacht einer weiteren „moralischen Unternehmung“ zur Deckung anderer Zwecke neu belebt. Denn nicht zuletzt lässt sich auch die Normalbevölkerung von ungewöhnlichen Darstellungen behinderter Menschen in den Medien provozieren, werden doch normative Erwartungen des Zeigbaren und Gewohnheitsgrenzen überschritten. Ein Erotikkalender des italienischen Fotografen Gianfranco Angelico Benvenuto, der Aktaufnahmen von Frauen im Rollstuhl zeigte, löste zum Beispiel nicht nur in der italienischen Öffentlichkeit heftige Dispute aus. So wird auch hier bestätigt, dass Kommunikation ein reflexiver Prozess ist. Diesen Gedanken greift Gabriele Siegert auf, die
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sich – ähnlich wie Kai-Uwe Hellmann – mit der Bedeutung von Markenkommunikation auseinandersetzt. Ihr Beitrag „Werbung und Konsum: Marken als zweiseitiger, zweidimensionaler Kommunikationsprozess“ begründet, dass es sich eben nicht um einen einseitigen Beeinflussungsprozess handelt, sondern die kommunikative Rückkopplung der Konsumenten ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation über Marken selbst darstellt. Die monetäre Dimension spielt dabei natürlich auch eine Rolle, trägt aber nicht alleine zu einer Markenidentität bei den Konsumenten bei. Markenidentität und Markenimage lassen sich nicht einseitig bestimmen, sondern sind Bestandteil eines Zirkulationsprozesses, in dem auf Seiten der Konsumenten die Rolle der Bezugsgruppen, aber auch der massenmedial erzeugten Referenzgruppen, eine zentrale Rolle spielt. Damit deutet Gabriele Siegert bereits einen Gedanken an, den Newcomb und Hirsch mit dem Begriff „kulturelles Forum“ (Newcomb/Hirsch 1986) umschrieben haben. Werbung ist Teil des Mediensystems und in spezifischer Weise auf die Alltagskultur bezogen. Sie tut dies stets selektiv und erweist sich von daher offen für neue Entwicklungen. York Kautt und Herbert Willems nehmen die Ergebnisse ihrer Inhaltsanalysen von Werbeanzeigen zum Anlass zu illustrieren, wie die Inszenierungen von Geschlecht und Alter die Differenzierung von Vorstellungssystemen in diesen Bereichen (z. B divergierende Rollenerwartungen) integriert und wiederum nach eigenen Regeln in spezifische Inszenierungen einbaut. Damit setzt sich die Werbung bewusst einem Ambivalenzverdacht aus, um darauf bezogene Kommunikation auch in Gang zu halten. Obwohl Werbung offensichtlich also ihr Wirkungspotential nicht einseitig entfalten kann und damit auch nicht einem einfachen Stimulus-Response-Modell folgt, wird die Diskussion über bestimmte Konsumphänomene nach wie vor von dieser eher deterministischen Perspektive geprägt. Elmar Lange zeigt in seinem Beitrag „Zur Verschuldung von Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 24 Jahren – Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher“, dass sich in der kritischen Phase des Erwachsenwerdens auch die Verschuldungsraten erhöhen. Eine Reihe von Studien konnte den Anstieg der Verschuldungsrate belegen. Als besonders kritische Lebensphase hat sich in diesem Zusammenhang der Übergang von den Minderjährigen zu den Erwachsenen im Alter von 18 bis 21 Jahren erwiesen. In dieser Phase werden die Jugendlichen rechtlich selbstständig, können eigenständig Kredite aufnehmen und einen Führerschein erwerben. In dieser Phase verlassen sehr viele das „schützende“ Elternhaus, beziehen eine eigene Wohnung und erwerben vielfach bereits ein eigenes Auto, alles das kostet viel Geld. Diese Orientierung an bestimmten Konsumansprüchen vollzieht sich häufig in einer Situation der Statusinkonsistenz, weil parallel zu der rechtlichen und sozialen Selbstständigkeit noch eine finanziellökonomische Selbstständigkeit erreicht wurde. Im Falle des Hinzukommens kri-
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tischer äußerer Ereignisse können sich diese Konstellation zu einem bedeutsamen und nachhaltigen Problem für Heranwachsende entwickeln. Während der heranwachsende Konsument sich noch in einer Situation des Begehrens zahlreicher Güter befindet, wird für den modernen Konsumenten die Produktvielfalt offensichtlich zunehmend zu einem besonderen Problem. Michael Jäckel erläutert in seinem Beitrag „The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten“, dass die Idee der Konsumentensouveränität noch nie so ernst genommen wurde wie heute, der moderne Konsument gleichzeitig aber unter dieser Delegation von Verantwortung leidet. Er sucht nach Lösungen, die einer „rationality of avoiding choice“ (Randall Collins) entsprechen. Es mag daher kaum überraschen, dass sich daraus eine Erforschung von Entscheidungsanomalien entwickelt hat. Michael Jäckel zeichnet diese Debatte bis zur aktuellen Kontroverse um die Konsumentenverwirrtheit fort. Vor allem wird auch die Vorgeschichte dieser konsumistischen Überforderung beleuchtet, die sich beispielsweise in der von Paul Wachtel gegebenen Diagnose einer „poverty of affluence“ (Wachtel 1983) bereits Anfang der 1980er Jahre wiederfindet. Insbesondere beleuchtet er die historische Perspektive und zeigt, dass Knappheit letztlich eine Systemeigenschaft darstellt und unterschiedliche Formen von Kostenbewusstsein hervorbringen kann. Die „Welt der Knappheit“, die der Historiker Thomas Nipperdey für das Jahr 1900 noch konstatierte, schien in der Mitte des 20. Jahrhunderts bereits einer Demokratisierung zu weichen, um gegen Ende des Jahrhunderts wiederum neue Polarisierungen zu generieren. Jedenfalls sind solche zyklischen Bewegungen kaum erklärbar, wenn man nur das unabhängige Urteil des Konsumenten gelten lässt. Konsumentscheidungen und Konsumerfahrungen gehen Hand in Hand. Selbst im Grenzfall der Erfüllung unserer Wünsche, so Albert T. Hirschman, bleibe Enttäuschung ein zentraler Bestandteil der menschlichen Lebenserfahrung (vgl. Hirschman 1984, S. 50ff.). Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in zunehmendem Maße in den empirischen Beobachtungen der Wirtschafts- und Konsumforschung. Stefan Dahlem und Stefanie Buchert zeigen in ihrem Beitrag „Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle“, dass Längsschnittbeobachtungen der öffentlichen Gefühlslage, die auch als „public mood“ bezeichnet wird, mit Konjunkturklimaindikatoren und darauf bezogenen Konsumklimadaten der Bevölkerung in einem engen Verhältnis stehen. Dazu wird ein Modell der „emotionalen Polarisierung“ entwickelt. Es geht davon aus, dass sich Gesellschaften mit ihren widerstreitenden Interessen im Rahmen von Spannungsfeldern entwickeln, und die verschiedenen Ausprägungen der „öffentlichen Gefühlslage“ die Konsumstimmung beflügeln, bremsen oder zum Stillstand bringen können. Dieser Gedanke hat gleichwohl eine lange Tradition, die auf die Forschungen von George Katona zurückgeht. Letztlich bewegt sich aber diese Form der Erklärung von Konsumentscheidungen in der Tradition der Kon-
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sumentensouveränität, die wiederum von egoistischen Motivlagen ausgeht. Ingo Schoenheit diskutiert in seinem Beitrag „Politischer Konsum. Ein Beitrag zum faustischen Konsumentenverhalten“ , ob in der jüngeren Vergangenheit der Konsum bzw. Konsumentscheidungen von neuen Motiven überlagert werden. Er stellt Konsumformen vor, in denen zumindest als Nebenmotiv bestimmte gesellschaftliche, soziale oder ökologische Änderungen erreicht werden sollen. Konsumenten benutzen also das Einkaufen, um gesellschaftliche und politische Zustände zu beeinflussen. Diese Sekundärmotivationen lassen sich auch als neue Motivallianzen beschreiben, die aus einer Verknüpfung zweck- und wertrationaler Bestimmungsgründe resultieren. Dies zeigt sich im übrigen auch in Phänomenen wie „Ethic Food“ oder „Slow Food“. Die zuletzt genannten Entwicklungen verweisen auf die wachsende Bedeutung der Soziologie der Ernährung, zu der Georgios Papastefanou Ergebnisse aus der empirischen Forschung präsentiert. Sein Beitrag „Variatio delectat? – Verbreitung und sozialstrukturelle Differenzierung der Konsumvariabilität“ stellt ein Analysemodell zur Diskussion, in dem auf der Basis von Longitudinaldaten das Ausmaß von Gewohnheit und Abwechslung im Rahmen alltäglicher Handlungen, wie zum Beispiel der Lebensmittelkäufe, erfasst wird. Auf seinem Weg „in das Tal der Daten“ zeigt er zwar am Beispiel von zahlreichen Lebensmittelprodukten, dass sich ein deutlicher Abwechslungseffekt beobachten lässt, eine genauere und zweifelsfreie Strukturierung dieser Sequenzmuster aber noch aussteht. Zumindest ist sein Beitrag ein Beleg dafür, dass auch im Bereich der Ernährung die Analyse ambivalenter Entscheidungssituationen an Bedeutung gewinnen wird und sozialstrukturelle Merkmale Beachtung finden müssen. Dies gilt in besonderer Weise für den Wandel der demografischen Struktur, den Sebastian Langguth und Heinz Kolz zum Anlass nehmen, neue Marktchancen einer alternden Gesellschaft zu diskutieren. Der vorliegende Band unterstreicht somit, dass die Konsumsoziologie und die Konsumforschung mit einer Fokussierung der hier beispielhaft skizzierten Problemfelder an einer zentralen Stelle der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung operiert.
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Literatur
Brewer, John (1997): Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen? In: Siegrist, Hannes u.a. (Hrsg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt am Main, New York, S. 51-74. Freud, Sigmund (1953): Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur [zuerst 1930]. Frankfurt am Main, Hamburg.
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Galbraith, John Kenneth (1959): Gesellschaft im Überfluß. [Aus d. Amerik.]. München, Zürich. Habermas, Jürgen (1998). Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt am Main. Haffner, Sebastian (1985): Im Schatten der Geschichte. Historisch-politische Variationen aus 20 Jahren. Stuttgart. Hirschman, Albert O. (1984): Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. [Aus d. Amerik.]. Frankfurt am Main. Hobsbawm, Eric (1978): Europäische Revolutionen. [Aus d. Engl.]. Darmstadt. (Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes, Band XV). Karamzin, Nikolay M. (1922): Briefe eines reisenden Russen. [Aus d. Russ.]. Wien usw. Lynd, Robert S. (1939): Knowledge for what? Princeton. Merton, Robert King (1976): Sociological Ambivalence and Other Essays. New York. Newcomb, Horace; Hirsch, Paul M. (1986): Fernsehen als kulturelles Forum. Neue Perspektiven für die Medienforschung. In: Rundfunk und Fernsehen 34, S. 177-190. N.N. (2005): Spiegel-Gespräch mit Luciano Benetton: „Eine neue Welt verstehen lernen“. In: Der Spiegel, Nr. 19, S. 105-106. Reichertz, Jo (1998): Werbung als moralische Unternehmung. In: Jäckel, Michael (Hrsg.): Die umworbene Gesellschaft. Analysen zur Entwicklung der Werbekommunikation. Opladen/Wiesbaden, S. 273-299. Reif, Heinz (1995): Von der Stände- zur Klassengesellschaft. In: Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.): Scheidewege der deutschen Geschichte. München, S. 79-90. Riesman, David (1958): Die einsame Masse. [Aus d. Amerik.]. Reinbek bei Hamburg. Rostow, Walt W. (1960): Stadien wirtschaftlichen Wachstum. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie.[Aus d. Engl.]. Göttingen. Smith, Adam (1978): Der Wohlstand der Nationen. [Aus d. Engl., nach der 5. Aufl. 1789]. München. Wachtel, Paul L. (1983): The Poverty of Affluence. New York.
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven Die Gesellschaften, in denen wir heute leben, werden in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten immer häufiger auch als Konsumgesellschaften bezeichnet. Damit drückt sich die Zentralität von Konsum aus: Wir produzieren, um zu konsumieren. Wird die Rolle des Konsumenten verweigert, ergeben sich Schwierigkeiten für den volkswirtschaftlichen Zyklus von Herstellung und Verbrauch. Forschungen über Konsum und über die Art unterschiedlicher Konsummuster in einer Gesellschaft als auch in verschiedenen Gesellschaften geben wichtige Informationen zum tieferen Verstehen der Sozial- und Wirtschaftsstruktur. Der Beitrag betrachtet das Thema des Konsums in Wirtschaft und Gesellschaft (erstens) in einem Kontext von sozialer Veränderung und entsprechender (zweitens) soziologischer Problematisierung und stellt (drittens) empirische Daten für drei ausgesuchte Haushaltstypen und deren Veränderung in Deutschland seit den 1960er Jahren vor.
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Konsum als eine gesellschaftliche Institution
Es gibt keine a-priori Rationalität von Konsumakten, wozu selbstverständlich auch die Unterlassung von Konsum gehören kann. Eine sozialwissenschaftliche Institutionalismusforschung zeigt1, dass historische, juristische, geographische, ökonomische, psychologische und soziologische Aspekte dazu beitragen, konkrete gesellschaftliche Formen von Konsum zu spezifizieren. Konsum, also die Art und Weise, in der Menschen Geld für Güter ausgeben, dürfte selbst bei demselben nominell verfügbaren Einkommen anders aussehen, wenn wir nur Menschen in Köln, im Kongo oder in Korea untersuchen und vergleichen. Außerdem dürfte sich die Betrachtung nach der historischen Zeit verändern: So mögen die Präferenzstruktur von Wirtschaftsindividuen und deren Zwänge und Handlungs1
Als ein wichtiger Starting-Point einer sozialwissenschaftlichen Institutionalismusforschung auf dem Gebiet der Konsumforschung muss zweifelsohne das Werk von Veblen (1899) angesehen werden. Zur Fortentwicklung der soziologischen Ideengeschichte in der Konsumforschung siehe Jäckel (2006).
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alternativen etwa am Anfang des 21. Jahrhunderts andere als am Beginn des 20. Jahrhunderts sein. Die konkrete Verwendungsordnung der Ausgaben ist eine relativ offene Frage. Jenseits der Zwänge für eine Reihe von universell notwendigen Ausgaben für alle Haushalte gibt es einen offenen Bereich von Ausgaben, der von den Präferenzsystemen von Wirtschaftsindividuen vorgegeben wird. Diese Präferenzsysteme sind zwar auch in hohem Maße gesellschaftlich vermittelt, dennoch sind sie für historische Veränderungen und individuelle Interpretationen in weiten Teilen amorph (Bögenhold 1994, 2001). Um ein Beispiel zu geben: Jemand, der ein durchschnittliches Einkommen hat, kann Teile seines Einkommens entweder für den Konsum der eigenen Familienmitglieder verwenden oder aber auch für die Unterstützung hilfsbedürftiger anderer Menschen oder für karitative Zwecke spenden. Wer empirisch die erste Option wählt – und das ist bekanntlich die Majorität – hat wiederum die Alternative, sein Einkommen entweder für sich unmittelbar zur eigenen Befriedigung zu verwenden oder etwa zur Unterstützung von Familienangehörigen auszugeben. Die finanzielle Unterstützung von Familienangehörigen, wie insbesondere der eigenen Kinder, stellt beispielsweise eine solche empirisch übliche Verwendung von (individuellem) Einkommen dar. Aber auch in dem Fall der exklusiven Eigenverwendung von Einkommen ergeben sich Wahlmöglichkeiten, die mit dem jeweiligen Lebensstil einhergehen. Bei relativ beschränktem Einkommen lassen sich so wechselseitige Substitutionseffekte in Rechnung stellen, etwa Jahresurlaub versus PKW versus kostspielige Freizeitaktivitäten in Sport oder Kultur versus größerer Wohnkomfort. Die Liste der Beispiele ist fast endlos. Begrenzte finanzielle Ressourcen vorausgesetzt verhindert eine Konsumentscheidung für X gleichzeitig eine Kaufentscheidung für Y und vice versa. Wir müssen demnach mit anderen Worten zwischen der Seite der Einnahmen und der der Ausgaben a priori eine relative Autonomie konstatieren, demnach der eine Tatbestand nicht das Spiegelbild des anderen ist. Genau das macht das Attraktive des Themas Konsumforschung aus, nämlich: Wie gehen Menschen mit variierenden Freiheitsgraden in Abhängigkeit von Raum und Zeit und Lebensstilen und Milieus um? In einer Konsumgesellschaft unterliegen diese Freiheitsgrade vielfältigen Einflüssen, von denen eine mit dem Begriff Mode zu charakterisieren ist (Bögenhold 2000). Konsum und Mode gehören sachlich und thematisch eng zusammen. Mode bzw. Moden sind gewissermaßen Verstärker von Konsum. Sie formen Präferenzen und zugrunde liegende Rationalitäten. Diesbezüglich lässt sich bis auf Simmel und Sombart zurückgehen: Sombart zeigt den Zusammenhang zwischen moderner Konsumgesellschaft und Mode
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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auf2. Er selbst nennt „Die Mode des Kapitalismus liebstes Kind“ (Sombart 1986, S. 104). Unterschieden wird zwischen dem Begriff Massenbedarf und dem massenhaften Bedarf: Der so genannte Massenbedarf impliziert den Gedanken der Uniformität – ein großer Teil der Bevölkerung verlangt ein und denselben Artikel; wohingegen der massenhafte Bedarf den Anstieg des Verlangens nach vielen verschiedenen Arten von Artikeln bezeichnet. In der heutigen modernen Gesellschaft ist das Phänomen des Massenbedarfs allgegenwärtig und eben dieses versucht Sombart zu erläutern. Mit dem Massenkonsum geht eine „Urbanisierung des Geschmacks“ und eine „Schablonisierung des Gehirns“ einher. Es ändern sich auch die Anforderungen an Gebrauchsgüter. Während früher noch auf Langlebigkeit und Dauerhaftigkeit gesetzt wurde, so tritt nun „die Lust am Gefälligen, Leichten, Graziösen, am Chic“ (Sombart 1986, S. 86) an ihre Stelle. Laut Sombart beginnen die Menschen nun, ihre innere Unruhe nach Außen zu projizieren, indem sie ein immerwährendes Bedürfnis nach etwas Neuem verspüren. Menschen konsumieren Gebrauchsgegenstände in viel kürzerer Zeit und wenden sich Neuem zu, obwohl das Alte noch funktionsfähig wäre. Laut Sombart passiert dies nicht immer ganz freiwillig, sondern ein äußerer gesellschaftlicher Zwang führt zu diesem andauernden Druck. Um seinen Status eines Konsumenten von heute – und eben nicht von gestern – aufrecht zu erhalten, ist jeder gezwungen, der Mode zu folgen. An dieser Stelle zeigt Sombart den Zusammenhang zwischen Mode und Wirtschaft auf: Mode beruht auf Wechselhaftigkeit einerseits und auch auf der Vereinheitlichung der Nachfrage andererseits: „Jede Mode zwingt immer eine große Anzahl von Personen, ihren Bedarf zu unifizieren, ebenso wie sie sie nötigt, ihn früher zu ändern, als es der einzelne Konsument, wäre er unabhängig, für erforderlich halten würde“ (Sombart 1986, S. 91).
So ist der andauernde Modewechsel ein typisches Merkmal unserer Zeit, und dieser Wechsel wird vom kapitalistischen System beschleunigt. Mode ist nämlich nur so lange als Mode zu bezeichnen, bis sie auch für die breite Masse zugänglich gemacht wird. So kommt es vor, dass einer Mode nur eine kurze Zeit Exklusivität gewährt wird und schon bald preisgünstige Modelle auf den Markt gebracht werden, um eine neue Mode zu rechtfertigen. Bei Sombart finden wir diese Eigenart unter dem Begriff „Moderaserei“ zusammengefasst. Max Weber hatte die Entstehung des Kapitalismus noch als Koinzidenz mit der protestantischen Ethik und der entsprechenden Enthaltsamkeit (auch und vor allem gegenüber Konsumgegenständen) konzeptualisiert. Demgegenüber hatte sich spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts das Bild geändert: Kapitalisms 2
Neben vielen weiteren Erörterungen über Luxus und Kapitalismus in Sombart (1922, 1967) siehe Sombart (1902, 1986), weiterführend dann Jäckel/Kochhan (2000).
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Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
war zunehmend darauf angewiesen, dass konsumiert wurde. Mode war gewissermaßen ein wirtschaftlicher Wachstums- und Innovationsfaktor geworden. Es ist freilich nicht ganz so, dass Mode nur oktroyiert wird, nur konspirativ in Hinterzimmern herrschender Kreise des Kapitalismus immer neu ausgedacht wird. Nein – alle diese Entwicklungen treffen auch auf einen Resonanzboden von Akzeptanz. Das war das Thema bei Georg Simmel3. Zwar wird auch in seinem Verständnis Mode zumeist importiert, vor allem die Pariser Mode, aber sie wird akzeptiert, zunächst von den herrschenden Klassen, dann adaptiert von den niederen. Getreu seinem in verschiedenen Schriften wiederkehrendem Prinzip der Wechselwirkung, wendet er stets das Prinzip der Nachahmung einerseits und das des Sich-Unterscheiden-Wollens andererseits als gewissermaßen physiologische Grundlagen der menschlichen Natur an. Der Mensch bemüht sich in der Vorstellungswelt von Simmel (1986) mit Hilfe der Mode, seiner Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen und ein bestimmtes Bild seiner Selbst entstehen zu lassen. Der Bezug zu unserem Thema besteht in der Wirkung von Moden als Konsumverstärkern und als Generatoren von Konsumentscheidungen. Konsumentscheidungen sind häufig auch Geschmacksentscheidungen von „für“ bzw. „gegen etwas“. Geschmack wird dabei verstanden als ein Klassifizierungsprinzip (Bourdieu 1993). Solche Klassifizierungsprinzipien sind Grundlage von Präferenzsystemen und diese sind damit wiederum ein Paradethema der Soziologie. Konsum ist als eine gesellschaftliche Institution zu betrachten, die räumliche und zeitlich unterschiedliche Gesichter und verschiedene gesellschaftliche Funktionen einnimmt bzw. eingenommen hat.
2
Einbindung von Konsummustern in soziologische Theorie über Sozialstrukturen
Bourdieu bezieht Ergebnisse der Sozialisationsforschung, des Konsumverhaltens und der Bildungssoziologie in eine Art interdisziplinärer Kultursoziologie ein4. Unter Beibehaltung einiger Annahmen der materialistischen Klassentheorie bezüglich sozialer Ungleichheit verfeinert Bourdieu seine Betrachtung so radikal, dass Ungleichheiten selbst noch in subtilsten Repräsentationsfeldern von Individuen nachgewiesen werden können, z.B. in Geschmacksfragen, Wohnungseinrichtungen, Urlaubsorten und ähnlichem. Gerade wenn sich Ungleichheiten in gegenwärtigen, entwickelten Marktgesellschaften nicht mehr primär an materiellen Verteilungskämpfen festmachen lassen, sondern an Distinktionspraktiken im 3 4
Unter mehreren Artikeln siehe hier nur Simmel (1911, 1986). Beispielhaft demonstriert Bourdieu das in seiner Studie (1982).
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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Bereich der symbolischen, d.h. kulturellen Präsentationsformen, gewinnt Bourdieus Perspektive aktuelle Relevanz. Seine Art der Gesellschaftsanalyse lässt sich vielleicht am besten als eine Soziologie sozialer Praxisformen im Rahmen einer Soziologie bezeichnen, die die Einheit von Wirtschaft und Gesellschaft ernst nimmt und nach deren Formung im jeweiligen Zeit-Raum-Kontext fragt. Konsum stellt hier einen entsprechenden Anwendungsbereich dar, in dem Wirtschaft und Kultur einer Gesellschaft sich spezifizieren und dessen Soziologie sich dem widmet. Wo vormals in der Soziologie eine zunehmend als unbefriedigend empfundene Klassentheorie dominierte, die Menschen gemäß ihrer Stellung im System der gesellschaftlichen Produktion spezifischen Klassenkategorien und vermeintlichen Bewusstseinslagen subsumierte, machte Bourdieu hier eine Zäsur und postuliert die relative Autonomie von Lebensstilen und gesellschaftlichen Milieus mit einer eigenen Sozialprägungskraft. In der „Theory of the Leisure Class“ prägt Veblen (1899) den Begriff „conspicious consumption“, also den „auffälligen“ oder „demonstrativen“ Konsum. Nach Veblen gibt es einen steten gesellschaftlichen Konflikt zwischen Geschäftsleuten („businessmen“) und Technikern. Die „Klasse“ der Businessmen fungiert bei Veblen als die „Leisure Class“, also als Klasse von Müßiggängern, die eine parasitäre Rolle in der Gesellschaft innehaben. Ihre Mitglieder sind primär von dem Motiv getrieben, „Geld zu vermehren“ und ihren Reichtum in für andere Menschen sichtbarem Konsum zur Schau zu stellen. Ausdrücklich schloß Veblen die Aristokratie in seine Betrachtung mit ein. Veblen näherte sich der Konsumthematik von der Seite der Ökonomik bzw. als Kritik an der Ökonomik. In einem Artikel von 1909 im „The Journal of Political Economy“ (Veblen 1909) setzte er sich beispielsweise mit Fragen des ökonomischen Wandels oder der Grenznutzenschule auseinander. In der „Theory of the Leisure Class“ geriet ihm das Thema eher zur essayistischen Abhandlung: Warum ist es nicht so, dass mit steigenden Preis für Waren die Nachfrage kontinuierlich zurückgeht? Stattdessen beginnt die Nachfrage für einige Produkte erst dort zu steigen, wo die meisten Menschen diese Güter nicht mehr erwerben. Veblen sagt – konträr zur Schulmeinung – dass genau darin bereits die Begründung liegt. Was wir bei Bourdieu finden, verlängert die aus der Sozialstrukturanalyse kommende Lebensstilforschung zu einer Konsumsoziologie und bezieht diese wiederum auf die Sozialstruktursoziologie zurück. Im Kern geht es um die Relationierung von Haben zu Sein, um hier den Buchtitel von Erich Fromm zu paraphrasieren. Veblen hingegen ging es um ein anderes Thema, nämlich um eine institutionalistische Einbettung von ökonomischen Phänomenen.
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Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
Was verbindet – bei allen Unterschieden im konkreten Thema, der Argumentationsfronten und der akademisch-historischen Entstehungskontexte – die beiden Autoren Veblen und Bourdieu? Beide machten erst zum Forschungsthema, was viele ihrer Forscherkollegen häufig als axiomatisch gegeben ansahen: Soziologen die Annahme, dass der Überbau, d.h. die realen Lebensverhältnisse inklusive der Formen des Konsums, eine Entsprechung zur Basis habe, also zu der Organisation und Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse (Basis bestimmt Überbau), während Ökonomen – angefangen bei der Grenznutzentheorie bis zu moderneren Spielarten der Neoklassik – Verhalten als gegeben annahmen, indem sie mit dem Modell eines homo oeconomicus operierten. Im Hinblick auf die Analyse empirisch vorfindbarer Differenzierungen ist unseres Erachtens demgegenüber zumindest nach vier Aspekten zu unterscheiden, nämlich 1) nach der grundsätzlichen Verfügbarkeit von Ressourcen, 2) nach der Rationalität der Individuen, mit der Verfügbarkeit umzugehen, 3) nach den sozial vermittelten „Lebensphilosophien“ sowie schließlich 4) nach der jeweiligen Einbettung in soziale Milieus und den dort gelebten „Lebensstilen“. Abbildung 1:
Aspekte der Analyse von Differenzierungen im Konsum
Verfügbarkeit von Ressoucen
Rationalität der Individuen, mit der Verfügbarkeit umzugehen sozial vermittelte „Lebensphilosophien“
Quelle: Eigene Erstellung
Einbettung in soziale Milieus und den dort gelebten „Lebensstilen“
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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Überblickt man die bisherigen Werke, so zeigt sich, dass die soziologische Theorie über Sozialstrukturen eine fruchtbare Ergänzung in der Einbindung von Konsummustern in den jeweiligen Gesellschaften erfahren kann.
3
Individuelle und soziale Motivation von Bedürfnissen
3.1 Rationalitäten und Haushaltstypen Für eingehende empirische Forschungsanstrengungen lassen sich wichtige Differenzierungen in vielerlei Hinsicht anstellen: So sind gleichermaßen makro-, wie meso- und mikrosoziologische und -ökonomische Untersuchungen von Relevanz. Darüber hinaus lassen sich natürlich inter- und intranationale Differenzierungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, aber auch in der Gliederung nach Berufs- und Klassenlagen anschließen. Schließlich fragt sich auch, welchen Stellenwert Differenzierungen nach Alter und Biographie bei Konsumentscheidungen haben können. Der empirische Teil widmet sich einem dieser zahlreich möglichen Differenzierungskriterien – u. a. geschuldet dem für wissenschaftliche Analysen zugänglichen Material des Statistischen Bundesamtes5. Im Detail, d. h. auf einzelne Güter bezogen, lassen sich mannigfaltige Beispiele für eine Diversifizierung des Konsums und der Herausbildung von spezifischem Konsumverhalten finden. Es gilt aber, diese erstens in ein Gesamtkonzept einzuordnen und zweitens festzustellen, ob die häufig konstatierte gesellschaftliche Ausdifferenzierung auch auf höherem Aggregationsniveau zu finden ist oder ob sie lediglich ein Zeichen für die Heterogenität von Lebensstilen ist, die von ihrem quantitativen Ausmaß her aber eher unbedeutend sind. Hier geht es um den Entwurf eines Gesamtbildes der Ausgaben und deren Entwicklung über einen sehr großen Zeitraum. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, ob sich im Zeitablauf ein Prozess der Konvergenz oder der Divergenz vollzogen hat und ob damit die These einer sich im Zeitablauf nivellierenden Mittelstandsgesellschaft empirisch eher Unterstützung oder Ablehnung findet6.
5
Außer den Erhebungen der kommerziellen Marktforschung, die für wissenschaftliche Analysen in aller Regel nicht zur Verfügung stehen, ist für Deutschland zur Einkommensverwendungsforschung neben den amtlichen Statistiken auf zwei Datensätze zu verweisen: 1) die Media Analyse Daten des Forschungszentrums der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln sowie 2) die ZUMA (Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen) Verbraucherpanel-Daten der Gesellschaft für Konsumforschung. 6 In dieses Gesamtbild wären dann güterspezifische Analysen, die auf eine Gütergruppe oder gar auf ein einzelnes Gut bezogen sind oder die eine der zahlreichen Facetten des Einkommensverwendungsverhaltens zum Gegenstand haben, einzuordnen.
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Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
Um derartige Entwicklungstendenzen bzw. -muster der Ausgaben privater Haushalte bei sich ändernden wirtschaftlichen Bedingungen zu entdecken und säkulare Effekte zu identifizieren, sind Daten, die einen großen Zeitraum umfassen, erforderlich. Anhand des Datenmaterials sollten sich zudem die Ausgaben privater Haushalte im Zeitablauf alters- und geschlechtsspezifisch darstellen lassen – zwei Strukturierungsmerkmale, die grundsätzlich bei empirischen Analysen zu berücksichtigen sind. Für die Bundesrepublik Deutschland existiert solches Datenmaterial in Form von amtlichen Längsschnittstichproben zur Erfassung der Ausgaben privater Haushalte im Zeitablauf nicht. An offiziellen Statistiken zur Beschreibung der Ausgaben privater Haushalte sind nur die Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) sowie die laufenden Wirtschaftsrechnungen (LWR) des Statistischen Bundesamtes vorhanden. Da die LWR einen erheblich größeren Zeitraum abdecken – beginnend in den 1950er Jahren – wurden diese Erhebungen für die Analyse verwendet7. Die LWR basieren allerdings nicht auf repräsentativen Stichproben, sondern es werden die Ausgaben von drei spezifischen Haushaltstypen erfasst:
7
Haushaltstyp I: Zweipersonenhaushalte von Renten- und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen8 – „Hierbei handelt es sich überwiegend um ältere Ehepaare, deren Haupteinkommensquelle Übertragungen vom Staat (Renten und Pensionen) und vom Arbeitgeber sind. …“9. Gemäß Schmucker handelt es sich bei diesem Haushalt um einen „auslaufenden Haushalt“, dessen Bezugsperson zwischen 65 und 67 Jahre alt ist10. Haushaltstyp II: Vierpersonenhaushalte von Angestellten und Arbeitern mit mittlerem Einkommen – „Hierbei handelt es sich um ein Ehepaar mit 2 Kindern, davon mindestens 1 Kind unter 15 Jahren. Ein Ehepartner soll als Angestellter/Angestellte oder Arbeiter/Arbeiterin tätig und alleiniger Einkommensbezieher sein. …“11. Haushaltstyp III: Vierpersonenhaushalte von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen – „Hierbei handelt es sich ebenfalls um Ehepaare mit
Siehe zu den LWR im Kontext empirischer Analysen der Ausgaben privater Haushalte ausführlich Bögenhold/Fachinger (2005), S. 25 ff. 8 In den Jahren 1996 und 1997 haben in Westdeutschland keine Sozialhilfeempfänger an der Befragung teilgenommen. Für Ostdeutschland wird die Einschränkung „mit geringem Einkommen“ nicht verwendet; siehe z. B. Statistisches Bundesamt (1997), S. 562 f. 9 Statistisches Bundesamt (1997), S. 563. 10 Schmucker (1978), S. 65. 11 Statistisches Bundesamt (1997), S. 563. „… Bei der Festlegung der Einkommensgrenzen wurde 1964 von einem Mittelwert ausgegangen, der etwa dem durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst eines männlichen Arbeiters in der Industrie bzw. eines Angestellten entsprach. Die Einkommensgrenzen werden seitdem entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung fortgeschrieben. …“. (Statistisches Bundesamt 1997, S. 563).
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2 Kindern, davon mindestens 1 Kind unter 15 Jahren. Ein Ehepartner soll Beamter/Beamtin oder Angestellter/Angestellte und der Hauptverdiener in der Familie sein. …“12. Die enge Definition dieser Haushaltstypen bedingt, dass die Heterogenität von privaten Haushalten bezüglich deren Ausgaben nicht umfassend erfasst und dargestellt werden kann. Die Haushalte entstammen allerdings drei unterschiedlichen Milieus, so dass zumindest ein Teilbereich der sozialen Differenzierung erfasst ist. Die geringe Differenzierung ist einerseits von Vorteil, da hierdurch im Zeitablauf konstante Beobachtungseinheiten bezüglich soziodemographischer Eigenschaften vorliegen und somit Änderungen im Konsummuster bzw. im Ausgabeverhalten nicht durch Änderungen soziodemographischer Merkmale verursacht sind, und diese Effekte somit nicht isoliert werden müssen. Andererseits bedingt dies aber auch gewisse Probleme bei der Analyse und Interpretation der Ergebnisse. Zunächst ist zu beachten, dass bestimmte sozio-ökonomische Variablen nicht identisch sind. So sind die Personen im Haushaltstyp I älter und es können deswegen Unterschiede in der Ausgabenstruktur vorliegen13, da Konsumausgaben auch altersabhängig sind. Die Personen im Haushaltstyp I haben zudem
keine mit der Berufsausübung verbundene Ausgaben zu tätigen, ein anderes Zeitbudget, da sie nicht erwerbstätig sind,14 und keine Kinder. Dadurch entfallen spezifische Ausgabenkategorien. Zu denken ist hier beispielsweise an Ausgaben für Hygieneartikel für Kleinkinder (Windeln u. ä.), Spielsachen sowie Aufwendungen im Zusammenhang mit der Schul- bzw. der Berufsausbildung.
Hinsichtlich der Aussagefähigkeit ist ferner darauf zu verweisen, dass die Relevanz der Haushaltstypen II und III – gemessen anhand des Verbreitungsgrades – im Zeitablauf deutlich zurückgegangen ist. Problematischer sind allerdings die vorgegebenen Einkommensgrenzen. Diese bedeuten zum einen eine Zensierung der Beobachtungseinheiten – es werden nicht alle den soziodemographischen Merkmalen zuzurechnenden Haushalte erfasst, da diejenigen mit niedrigen und 12
Statistisches Bundesamt (1997), S. 563. „… Das Einkommen hatte bei der Festlegung im Jahr 1964 einen nominalen Abstand von etwa 1.000 DM zum Einkommen des Typs 2. Die ersten Einkommensgrenzen werden seitdem entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung fortgeschrieben. …“. (Statistisches Bundesamt 1997, S. 563). 13 Siehe hierzu z. B. Fachinger (2001, 2002, 2006). 14 Die vormals für die Erwerbstätigkeit aufgewendete Zeit kann von diesen Haushalten z. B. für die Haushaltsproduktion, die Instandhaltung der Wohnung und die Reparatur von Gegenständen oder die Erstellung von Gütern verwendet werden.
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Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
hohen Einkommen nicht berücksichtigt werden. Zum anderen sind die Einkommensgrenzen im Zeitablauf nicht konstant geblieben, so dass in den im Zeitablauf unterschiedlichen Einkommenshöhen je Haushaltstyp ein Grund für die strukturellen Unterschiede liegen kann15. Im Rahmen der laufenden Wirtschaftsrechnungen werden zahlreiche Ausgabenkategorien erhoben und zu neun Gütergruppen zusammengefasst ausgewiesen:16
Wohnungsmiete, Energie, Nahrungs- und Genussmittel, Möbel, Hausrat, Verkehr, Nachrichtenübermittlung, Bekleidung, Schuhe, Bildung, Freizeit, Gesundheit, Körperpflege, Persönliche Ausstattung, Reisen.
Durch diese Kategorisierung ergeben sich weitere, für die Interpretation relevante Aspekte:
15
Die Gütergruppen sind in der Regel sehr heterogen17 und bestehen zumeist aus hoch- und niedrigpreisigen Gütern. Dies bedeutet, dass die Ausgabenhöhe sehr sensitiv auf die Änderungen der Mengen und Preise für hochpreisige Güter reagiert. Die Ausgaben für die Gütergruppen können nicht in eine Mengen- und eine Preiskomponente zerlegt werden. Es ist damit nicht möglich, die Auswirkungen von Preisänderungen auf die Ausgaben zu untersuchen oder Mengeneffekte zu identifizieren. Weiterhin bereiten die unterschiedlichen Preis- bzw. Einkommenselastizitäten für die einzelnen Güter innerhalb der Gruppen Probleme bei der Interpretation. So gilt beispielsweise für die Gruppe der Güter für Gesundheit und Körperpflege, dass für bestimmte Gesundheitsgüter – insbesondere bei
Siehe zur Entwicklung der Einkommen Bögenhold/Fachinger (2005), S. 27 ff. Siehe zu den Gütergruppen ausführlich z. B. Fachinger (2002), S. 132 ff. In den Publikationen des Statistischen Bundesamtes werden als oberste Kategorie die Wohnungsmieten und Ausgaben für Energie aggregiert angegeben. Im folgenden wird hiervon allerdings abgewichen und die Ausgaben für Wohnungsmieten und Energie getrennt ausgewiesen, um die Relevanz der jeweiligen Ausgabenkategorien erfassen zu können. 17 So beinhaltet die Gütergruppe Bildungswesen beispielsweise Internatskosten, die Gütergruppe Verkehr neben den Ausgaben für Dienstleistungen auch die für den Kauf von Fahrzeugen. 16
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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Vorliegen von Krankheiten – die Preiselastizität eher gering ist18, wohingegen für Güter der Körperpflege dies im allgemeinen nicht zutrifft. Als letztes sei auf das Problem der qualitativen Änderung von Produkten eingegangen, die eine Preisänderung bedingen kann. So reduziert sich der Preis z. B. für Personalcomputer gleichartiger Qualität: Nach der Einführung neuer, leistungsfähigerer Speichermedien oder Mikroprozessoren verringert sich der Preis für die „alten“ Produkte – bis diese dann vom Markt genommen werden. Ein anderes Beispiel gilt für die Gruppe Wohnungsmieten. Die Qualität der Wohnungen hat über den hier betrachteten Zeitraum bei gleicher Wohnfläche im Durchschnitt zugenommen und damit auch die Preise pro Quadratmeter. Für dieselbe Wohnfläche sind damit höhere Mieten allein schon aufgrund der qualitativen Verbesserungen zu zahlen. Es ist nicht möglich, für die Gütergruppen Preisänderungen, die nur auf qualitativen Veränderungen beruhen, zu identifizieren.
Trotz der offensichtlichen Schwachpunkte der Datenbasis existiert kein anderes Datenmaterial, das geeigneter wäre, die Entwicklung von Ausgaben privater Haushalte und deren Struktur über einen großen Zeitraum zu analysieren.
3.2 Haushaltskonsum im Kontrast: Empirische Ergebnisse Die Entwicklung in Westdeutschland nach dem 2. Weltkrieg ist geprägt von einem beträchtlichen Wirtschaftswachstum, damit einhergehendem Wohlfahrtsgewinn und der Ausformung einer Massenkonsumgesellschaft. Anhand der LWR lassen sich die Auswirkungen der Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt auf die Entwicklung des Konsums exemplifizieren und damit ein Abbild der Veränderungen gewinnen. Um die Effekte von Wohlfahrtszuwachs und Preissteigerungen trennen zu können, wurde zunächst eine Preisbereinigung durch die Deflationierung mit dem Verbraucherpreisindex für die jeweilige Gütergruppe, Basis 1995 = 100, zur Ermittlung der realen Werte durchgeführt. Hierdurch wird das Preisniveau „konstant“ gehalten und es werden ausschließlich die Effekte der Wohlfahrtssteigerung berücksichtigt.
18
Das heißt, dass die Personen bzw. die Haushalte hinsichtlich der Ausgaben für diese Produkte nur wenig auf Preisänderungen reagieren.
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Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
3.2.1 Die realen Ausgaben In den nachfolgenden Abbildungen 2, 3 und 4 ist die Höhe der realen Ausgaben getrennt nach den Gütergruppen für die drei Haushaltstypen dargestellt19. Abbildung 2:
Höhe und Struktur der realen Ausgaben von Haushaltstyp II, Westdeutschland, Basis 1995 = 100
5.000 4.500
Ausgaben in DM pro Monat
4.000 Persönliche Ausstattung, Reisen Gesundheit, Körperpflege Bildung, Freizeit Bekleidung, Schuhe Verkehr, Nachrichten Möbel, Hausrat Nahrungs- und Genußmittel Energie Wohnungsmiete
3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500
1996 1998
1988 1990 1992 1994
1986
1978 1980 1982 1984
1974 1976
1968 1970 1972
1962 1964 1966
1958 1960
1950 1952 1954 1956
0
Jahr
Quelle:
Eigene Berechnungen und Darstellung nach Statistisches Bundesamt (v. J.)
Bemerkenswert ist zunächst, dass sich die drei Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung gemessen anhand der realen Einkommen der drei Haushaltstypen – in den 1960er Jahren ein konstantes Wohlfahrtsniveau, in den 1970er Jahren ein stetiger Wohlfahrtszuwachs und in den 1980er Jahren eine Stagnation der Wohlfahrt – in den Ausgabenaggregaten nicht widerspiegeln. Es fand im Prinzip ein beständiger Anstieg statt, unterbrochen durch kurze Phasen einer auch in absoluten Werten erfolgten Reduzierung der Gesamtausgaben Weiterhin verdeutlichen die Abbildungen, dass die Haushaltstypen II und III in ihrem Konsumverhalten auf wirtschaftliche Änderungen stärker reagierten als der Haushaltstyp I.
19
Die LWR wurden zuerst für den Haushaltstyp II durchgeführt. Zur differenzierteren Beschreibung der Entwicklung folgten dann die für die anderen Haushaltstypen. Aus diesem Grund beginnen die Zeitreihen zu unterschiedlichen Jahren.
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven Abbildung 3:
31
Struktur der realen Ausgaben von Haushaltstyp I, Westdeutschland, Basis 1995 = 100
2.400 2.200 2.000 Ausgaben in DM pro Monat
1.800
Persönliche Ausstattung, Reisen Gesundheit, Körperpflege Bildung, Freizeit Bekleidung, Schuhe Verkehr, Nachrichten Möbel, Hausrat Nahrungs- und Genußmittel Energie Wohnungsmiete
1.600 1.400 1.200 1.000 800 600 400 200 1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
1958
0
Jahr
Quelle:
Eigene Berechnungen und Darstellung nach Statistisches Bundesamt (v. J.)
Abbildung 4:
Struktur der realen Ausgaben von Haushaltstyp III, Westdeutschland, Basis 1995 = 100
7.000 6.500 6.000
Ausgaben in DM pro Monat
5.500
Persönliche Ausstattung, Reisen Gesundheit, Körperpflege Bildung, Freizeit Bekleidung, Schuhe Verkehr, Nachrichten Möbel, Hausrat Nahrungs- und Genußmittel Energie Wohnungsmiete
5.000 4.500 4.000 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
0
Jahr
Quelle:
Eigene Berechnungen und Darstellung nach Statistisches Bundesamt (v. J.)
32
Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
Deutlich wird dies für den Zeitraum 1967 bis 1969 mit einer Reduzierung der Ausgaben und für die Zeit um 1978 bis 1980 sowie ab 1989 bis 1992 jeweils mit einer Erhöhung der Ausgaben. Vor diesem Hintergrund verläuft die grobe Entwicklung der Ausgaben für die Gütergruppen auf den ersten Blick wie folgt:
deutliche Zunahme bei Wohnungsmiete, Verkehr und Nachrichten, Bildung und Freizeit; leichter Anstieg bei Gesundheit und Körperpflege sowie bei Bekleidung und Schuhe; relative Konstanz bei Nahrungs- und Genussmittel, Möbel und Hausrat.
Im Detail liegen jedoch einige Unterschiede zwischen den Haushalten vor. So verzeichnet der Haushaltstyp I eine deutliche Zunahme bei den Ausgaben für Energie, wohingegen die Ausgaben für diese Gütergruppe bei den anderen Haushaltstypen relativ konstant blieben. Bei der Ausgabengruppe "Güter der persönlichen Ausstattung" und "Reisen" kam es bis Ende der 70er Jahre bei den Haushaltstypen I und II zu einer Zunahme. Von da ab verblieben die Ausgaben bei allen Haushaltstypen in etwa auf demselben Niveau. Vergleicht man die Ausgaben der Haushalte für die Gütergruppen in Relation miteinander, so lassen sich einige weitere Strukturmerkmale identifizieren. Zunächst zu den beiden Haushaltstypen I und II. Hinsichtlich der Kategorie Nahrungs- und Genussmittel kam es über den Zeitraum zu einer unterproportionalen Veränderung, m. a. W. diese Ausgaben haben mehr an Bedeutung beim Haushaltstyp I verloren als beim Haushaltstyp II. Das Verhältnis der Ausgaben für die Gütergruppen Energie, Möbel und Hausrat sowie Bildung und Freizeit sind bei den Haushalten über den betrachteten Zeitraum in etwa gleich geblieben. Demgegenüber erhöhten sich die Ausgaben für Wohnungsmiete, Bekleidung und Schuhe, persönliche Ausstattung und Reisen – aber insbesondere bei Gesundheit, Körperpflege und Verkehr und Nachrichten – beim Haushaltstyp II stärker, so dass es hier zu einer Annäherung der Ausgabenhöhe von 1964 bis 1998 gekommen ist. Damit hat sich die Höhe der Ausgaben der beiden Haushaltstypen über den Gesamtzeitraum im Prinzip angeglichen. Selbiges lässt sich auch für die Ausgabenhöhen der Haushaltstypen I und III konstatieren. Hier verblieb zwar die Relation der Ausgabengruppen Nahrungsund Genussmittel, Energie, Bekleidung und Schuhe sowie Möbel und Hausrat in etwa auf demselben Niveau. Eine Annäherung erfolgte jedoch insbesondere bei den Güterkategorien Wohnungsmiete, Gesundheit und Körperpflege, Verkehr und Nachrichten sowie persönliche Ausstattung und Reisen. Diese Entwicklung
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
33
ist das Ergebnis der im Vergleich zu der Haushaltsgruppe III überproportional stark gestiegen Ausgaben beim Haushaltstyp I. Auch bei den beiden Haushaltstypen II und III kam es zu einer prinzipiellen Annäherung der Ausgabenhöhen, da die Ausgaben für die überwiegende Zahl der Güterkategorien beim Haushaltstyp II stärker anstiegen als beim Haushaltstyp III: Wohnungsmiete, Energie, Verkehr und Nachrichten sowie persönliche Ausstattung und Reisen. Bei den Gruppen Gesundheit und Körperpflege sowie Möbel und Hausrat blieb die Relation der Ausgaben in etwa gleich und lediglich bei Nahrungs- und Genussmittel sowie Bekleidung und Schuhe erfolgte ein geringerer Anstieg der Ausgaben beim Haushaltstyp II. Diese unterschiedliche Entwicklung der Ausgabenhöhen für die einzelnen Gütergruppen hat dann entsprechende Auswirkungen auf die Struktur der Ausgaben der Haushalte. Im folgenden werden hier die zentralen Ergebnisse kurz dargestellt.
3.2.2 Strukturelle Veränderungen der Ausgaben Zur Darstellung und Analyse der Veränderung der Ausgabenstruktur im Zeitablauf werden die Anteile der Ausgabenkategorien an den Gesamtausgaben pro Jahr ermittelt. Hierdurch ist es möglich, den Bedeutungsgewinn der jeweiligen Ausgaben darzustellen. In Abbildung 5 sind die Ausgabenstrukturen für den Haushaltstyp II exemplarisch angegeben. Ein Blick auf die Abbildung zeigt eine deutliche Entwicklung der Ausgabenstruktur: eine säkulare Abnahme bei den Gütergruppen Nahrungs- und Genussmittel sowie Bekleidung und Schuhe20 sowie eine säkulare Zunahme bei den Gütergruppen Wohnungsmiete sowie Verkehr und Nachrichten. Dabei ist die Entwicklung umso schwächer, je höher die Einkommensgrenzen sind, d. h. am stärksten wirkt sie sich beim Haushaltstyp I und am wenigsten beim Haushaltstyp III auf die Struktur aus, wie Abbildung 6 zu entnehmen ist. Die Abbildung vermittelt einen Eindruck von den gravierenden strukturellen Änderungen der Ausgaben der Haushaltstypen I bis III im Verlauf von 35 Jahren: Es kam zu einem
20
Bedeutungsverlust bei Nahrungs- und Genussmittel, Bekleidung und Schuhe sowie Möbel und Hausrat und zu einer Bedeutungszunahme bei Wohnungsmiete, Gesundheit und Körperpflege, Verkehr und Nachrichten sowie Bildung und Freizeit. Dies lässt sich auch für die USA feststellen; siehe Greenwood/Uysal 2003.
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Abbildung 5:
Ausgabenstruktur von Haushaltstyp II, Westdeutschland
100 90
Relative Häufigkeit in v. H.
80 Persönliche Ausstattung, Reisen Gesundheit, Körperpflege Bildung, Freizeit Bekleidung, Schuhe Verkehr, Nachrichten Möbel, Hausrat Nahrungs- und Genußmittel Energie Wohnungsmiete
70 60 50 40 30 20 10
1998
1996
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Jahr
Quelle:
Eigene Berechnungen und Darstellung nach Statistisches Bundesamt (v. J.).
Abbildung 6:
Ausgabenstruktur der Haushaltstypen im Jahr 1964 und 1998, Westdeutschland 1964
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Eigene Berechnungen und Darstellung nach Statistisches Bundesamt (v. J.).
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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Im Ganzen spiegelt die Änderung der Anteile die Wohlstandsposition des jeweiligen Haushaltstyps: Beim Haushaltstyp I sind sie am stärksten ausgeprägt, gefolgt vom Haushaltstyp II, und der Haushaltstyp III weist in der Regel die geringsten Änderungen auf. Insgesamt gesehen hat sich somit eine Entwicklung vollzogen, die zu einer Angleichung der Ausgabenstrukturen geführt hat, wobei der Haushaltstyp III das Muster vorzugeben scheint, dem sich die anderen mehr und mehr annähern.
3.2.3 Konsummuster im gesellschaftlichen Kontext Nun sind die westdeutschen Haushalte hinsichtlich des Konsumverhaltens zum überwiegenden Teil in der selben Gesellschaft sozialisiert worden. Um festzustellen, ob ein Einfluss von soziokulturell vermittelten Wertdispositiven und Deutungsmustern mit Blick auf Konsumpräferenzen auf der Aggregatsebene vorzufinden ist, wurde ein Vergleich von west- und ostdeutschen Haushalten durchgeführt. Dabei bietet sich die Situation in Deutschland im Jahr 1991 für den Vergleich von Konsummustern zwischen zwei verschiedenen Gesellschaftsformen an, da das Jahr recht zeitnah an der ursprünglichen Gesellschaftsform der DDR liegt und sich Konsumgewohnheiten nicht abrupt ändern. Der Vergleich kann Unterschiede bezüglich der sozialen Motivation im Konsum aufzeigen: Einerseits die fortgeschrittene Massenkonsumgesellschaft in Westdeutschland, andererseits die auf einem zentralistischen Wirtschaftssystem basierende Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen in der DDR. In der folgenden Abbildung sind die Strukturen der Ausgaben für das Jahr 1991 im linken Teil dargestellt. Die Abbildung zeigt ferner, wie sich die Struktur in Ostdeutschland bis zum Jahr 1998, dem letzten Beobachtungsjahr, geändert und sich der in Westdeutschland vorhandenen angepasst hat. Freilich ist stark zu vermuten, dass es sich hier zu einem großen Teil um Automobilisierung und Tourismus handelt. Nach der „Wende“ war für viele ehemalige DDR-Bürger gerade der eigene PKW ein hoch angestrebtes Wirtschaftsgut, dasselbe galt für Reisen, insbesondere Flugreisen, zu den Zielen des Massentourismus, die bis 1990 nur den Westdeutschen offen standen.
36
Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
Abbildung 7:
Gegenüberstellung der Ausgabenstruktur des Haushaltstyp II für die Gütergruppen des privaten Verbrauchs, in DM je Haushalt und Monat, in den Jahren 1991 und 1998 1991
1998
100 90
Persönliche Ausstattung, Reisen Gesundheit, Körperpflege Bildung, Freizeit Bekleidung, Schuhe Verkehr, Nachrichten Möbel, Hausrat Nahrungs- und Genußmittel Haushaltsenergie Wohnungsmiete
Relative Häufigkeit in vH
80 70 60 50 40 30 20 10 0 Westdeutschland Ostdeutschland
Quelle:
Westdeutschland Ostdeutschland
Eigene Berechnungen und Darstellung nach Statistisches Bundesamt (v. J.).
Aber gerade hierin sehen wir, dass Konsum und dessen zugrunde liegende Präferenzen keine universellen anthropologisch konstanten Bedürfnisse sind, sondern dass hier der soziokulturelle „Drill“ an universell geteilten Werten gut sichtbar wird. Wer lange auf einen eigenen PKW verzichtete, weil dieser in Ostdeutschland in DDR-Zeiten zu teuer war, für den stand der Konsumwunsch nach einem Auto auf der obersten Liste der Güterpräferenzen. Ähnliches galt für Flugreisen auf Ziele im Mittelmeer und den Kanarischen Inseln. Dieses Verbraucherverhalten lässt sich mit Theoremen des „demonstrativen Konsums“ (Veblen 1899), der in Westdeutschland vorgelebt wurde, viel eleganter und adäquater erklären als mit schematisch-ökonometrischen Analysen.
3.2.4 Konsumprofile und Konsumentenpräferenzen Fragt man nach den Gründen für die Entwicklung des Konsums in Deutschland, wie er sich in den Daten darstellt, so muss zunächst auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen verwiesen werden. Einerseits war die Preisentwicklung für die Gütergruppen unterschiedlich, es kam mit anderen Worten
Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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zu einer Veränderung der relativen Preise auch zwischen den Gütergruppen. Insbesondere die Preise für Wohnungsmieten stiegen überproportional stark – und dies ist ein Grund für die Zunahme der anteiligen Ausgaben für diese Güterkategorie. Andererseits war aber auch die Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt für die Entwicklung zur Massenkonsumgesellschaft relevant. Neben diesen beiden „objektiven“, i. e. messbaren, Einflussfaktorgruppen werden zusätzlich subjektive und nicht unmittelbar beobachtbare Faktoren die Strukturen über den Zeitraum von 35 Jahren beeinflusst haben. Hierzu dürfte u. a. der viel zitierte Wertewandel gehören, der durch massenmediale Leitbilder vermittelt wird und die Präferenzstruktur der Konsumenten moduliert. Der soziale Kompass, der bestimmt, was in einer Gesellschaft „in“ ist und was „out“ ist, gehorcht einer sozialen Rationalität, die in einer Gesellschaft relativ universell ist und die das Konsumentenverhalten erheblich beeinflusst. Aber auch Fragen nach Familienleitbildern sind kulturell und historisch stark in Veränderung begriffen. Vorstellungen über die Familie und den Zeitpunkt der Familiengründung bestimmen unter anderem den Kinderwunsch und die Kinderzahl. Darin besteht eine weitere wesentliche Variable der Konsumstruktur. Singles und kinderlose Ehepaare werden ein anderes Konsumentenprofil aufweisen als es Personen mit Kindern haben, da der primäre Unterhalt von Kindern bereits bei durchschnittlichen Einkommensbeziehern so große finanzielle Ressourcen bindet, dass für manch andere Konsumgüter wie etwa Fernreisen kein finanzieller Spielraum übrig bleibt. Bereits dieses Beispiel der Familiengröße und der damit zusammenhängenden Familienleitbilder zeigt die enge thematische Verzahnung von Konsumentenprofilen und -präferenzen mit soziokulturellen Kontexten. Auffällig sind auch die überproportionalen Zunahmen bei den Ausgabenkategorien Nachrichten und Verkehr, Gesundheit und Körperpflege und bei Reisen und persönliche Ausstattung. Die Zusammensetzung der Gütergruppen ist teilweise derart breit und beinhaltet relativ heterogene Güter, so dass man bei der konkreten Interpretation häufig eher auf Spekulationen verwiesen ist. Der vergleichsweise extrem auffällig hohe Anstieg in der Kategorie Nachrichten und Verkehr in der Haushaltsgruppe I könnte etwa damit interpretiert werden, dass hier in dem Zeitraum von 1964 bis 1998 in erheblichem Maße PKW angeschafft wurden, die in den anderen Haushaltskategorien tendenziell bereits 1964 eher vorhanden waren. Aus den unseres Erachtens ausgesprochen informativen empirischen Befunden der vorliegenden Darstellung ergibt sich damit zwangsläufig die Forschungsperspektive, spezifischen Fragen disaggregierter nachzugehen.
38 4
Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Das 20. Jahrhundert ist im Rückblick nicht nur das Jahrhundert der Entwicklung und Etablierung des industriellen Kapitalismus, sondern auch das der Entwicklung und Bereitstellung historisch neuer Konsum(massen)märkte mit neuen Produkten und neuen Bedarfen ganz eigener Art. Hieraus leitet sich auch die Formulierung ab, dass moderne Gesellschaften heute vielleicht am ehesten als Konsumgesellschaften zu bezeichnen sind. Insbesondere lassen sich vier Tendenzen einer Konsumfelderweiterung ausmachen: 1) Eine Ausdifferenzierung der Produktpalette und eine gleichzeitige Erschließung neuer Zielgruppen, 2) eine Massenverbreitung billiger Konsumgüter, 3) die Ausweitung des Konsummarktes auf vormals nicht konsumierbare Bereiche (z.B. Kunst, Sex, Freizeit) und schließlich 4) eine Expansion der Mode und Aufladung der Güter mit Emotionen und sozialer Symbolik (Schneider 2000: 18 f.). Je mehr eine Gesellschaft den Individuen und ihren Haushalten als Warensortiment bereithält, desto schwieriger wird bei insgesamt zwar gestiegener, dennoch begrenzter Kaufkraft die notwendige Wahl der Konsumgegenstände. Damit wird Konsum immer mehr zu einem „socially constructed historically changing process“ (Bocock 1993: 45). Mit dieser Formulierung werden die so genannten sekundären Bedürfnisse bezeichnet, die vielfältigen sozialen Lernvorgängen unterliegen. Wiswede (2000) spricht einmal von der sozialen Formung des Konsums und andererseits von der sozialen Ausrichtung des Konsums. Mit der ersten Formulierung ist gemeint, dass Konsumverhalten durch soziale Einflussgrößen und Bedingungen gelernt wird, die dann in entsprechende Lebensstile münden. Die soziale Formung des Konsums thematisiert demgegenüber den Umstand, dass Konsum eigentlich selten bis nie von einem Individuum in autistischer Form ohne soziales Umfeld ausgeübt wird. Vielmehr findet dieser stets in einem gesellschaftlichen Umfeld statt. Insofern haftet fast jedem Konsum auch ein „für Andere“ an. Gerade weil Konsum allzumeist unter Beobachtung der Öffentlichkeit stattfindet, ist Konsum meistens auch ein aktiver Akt des „Sich-Bekennens“ und des „Sich-Anderen-Zeigens“. Genau das hatte bereits Thorstein Veblen mit seiner klassischen Formulierung von dem „demonstrativen Konsum“ (Veblen 1899) in ausführlicher Erörterung inszeniert.
5
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Konsum im Kontext: Sozial- und wirtschaftshistorische Perspektiven
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Dieter Bögenhold und Uwe Fachinger
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Konsum und Großstadt. Anmerkungen zu den antimodernen Wurzeln der Konsumkritik Thomas Lenz Thomas Lenz Konsum und Großstadt. Anmerkungen zu den antimodernen Wurzeln der Konsumkritik Konsum und Großstadt Konsumkritik ist ein konsumierbares Kulturprodukt geworden: „Blackspot“Turnschuhe, „No-Logo“-Shirts und der Online-Shop der „Adbusters“ verdeutlichen, wie die Kritik am Konsum sich zum Konsum der Kritik wandelt. Ein Blick auf die Vorläufer dieser modernen Formen konsumierbarer Konsumkritik zeigt jedoch, dass die Ablehnung der Konsumgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als Abwehrbewegung gegen die aufkommende Moderne verstanden werden kann, selbst also noch nicht Teil der Konsumgesellschaft gewesen ist. Die mittlerweile konsumierbar gewordene Ambivalenz gegenüber dem Konsum zeigt sich um 1900 noch sehr viel unversöhnlicher als heute: Nicht nur einzelne Erscheinungen der neuen Konsumgesellschaft trafen auf Vorbehalte – die „Moderne“ an sich sollte mit Hilfe der Konsum- und Kulturkritik getroffen werden. Der moderne Konsum treibe, so die Kritiker der Konsumgesellschaft, den Einzelnen immer weiter in die Isolation. Um 1900 sind jedoch nicht nur diese ersten Stimmen apokalyptischer Konsumkritik laut geworden, vielmehr finden sich auch differenziertere Reflexionen zum Problem der Integration in hochindividualisierte Konsumgesellschaften. Georg Simmel beispielsweise hat sehr früh die Frage nach der durch Konsum induzierten Individualisierung gestellt. Er formulierte bereits im Jahr 1900 in seiner „Philosophie des Geldes“ Thesen zum Zusammenhang von Moderne und Konsum, die über die damals verbreitete Kulturkritik weit hinausweisen.
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Modernisierung und Konsum bei Georg Simmel
Konsum ist für Simmel eine Interaktion zwischen subjektiver und objektivierter Kultur. Das heißt, dass Individuen sich die sie umgebende objektivierte Kultur (beispielsweise Gegenstände des täglichen Gebrauchs oder Luxuswaren) aneignen müssen. Individuen müssen also objektivierte Kultur durch Konsum ins eigene Leben integrieren. Konsum wird damit zum Ausgangspunkt eines Kultivierungsprozesses von Individuen.
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Thomas Lenz
Die Rolle, die die Entwicklung des privaten Konsums und der damit verbundene Kultivierungsprozess für den historischen Übergang von der Prä-Moderne zur Moderne spielt, wird von Simmel mit Hilfe einer idealtypischen Gegenüberstellung von traditionalen und modernen Gesellschaften beleuchtet. In traditionalen Gesellschaften wurde der private Konsum durch zwei Limitierungen beschränkt: Einerseits gewährte ein enges Netzwerk sozialer Beziehungen kaum Raum zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Soziale Vorschriften und Gebräuche, Abhängigkeiten und Traditionen durchzogen alle sozialen Beziehungen. Privater Konsum, auch da, wo er über das unmittelbar Notwendige hinausging, orientierte sich deshalb fast ausschließlich daran, was allgemein als schicklich angesehen wurde. Die zweite Limitierung des privaten Konsums ist darin zu sehen, dass die Warenproduktion meist eine lokale Angelegenheit war, was das Angebot der jeweils verfügbaren Konsumgüter stark beschränkte. Das Warenangebot wurde also weniger von individuellen Wünschen und Bedürfnissen als viel mehr von kollektiven Notwendigkeiten und regionalen Möglichkeiten diktiert. Die objektivierte Kultur, die – so Simmel – vor allem aus Konsumgütern besteht, reflektierte also weitgehend die lokalen Gegebenheiten. Wenn der Satz „Du bist, was du isst“ gilt, könnte man mit Simmel argumentieren, dass in vormodernen Gesellschaften alle dasselbe waren, weil sie dasselbe konsumierten. In traditionalen Gesellschaften stimmten subjektive und objektivierte Kultur also sehr stark überein. Diese Übereinstimmung von subjektiver und objektivierter Kultur wurde durch die Verbreitung der Geldwirtschaft aufgehoben. Das Tauschmittel und der Wertspeicher Geld war die Voraussetzung dafür, dass aus lokalen, direkten und langfristigen Wirtschaftsbeziehungen transnationale, indirekte und kurzfristige werden konnten. Der abstrakte, objektive und quantitative Charakter des Geldes ging auf das gesamte System der Warenproduktion, der Warenkonsumtion und schließlich auf alle sozialen Beziehungen „der Moderne“ über. In der „Philosophie des Geldes“ (1900) beschreibt Simmel, wie diese Charakteristika der Moderne – Abstraktion, Objektivierung, Rationalisierung – die Möglichkeiten des Einzelnen zur Individualisierung und zur Integration erweitert haben. In der Moderne fallen die traditionalen Konsumbeschränkungen – die Enge des gesellschaftlich Schicklichen und die eingeschränkte lokale Verfügbarkeit von Waren – einfach weg. Zum einen werden soziale Beziehungen anonymer und damit für den Einzelnen freier gestaltbar, zum anderen kommt es zu einer enormen Ausweitung des Angebotes an Konsumgütern. Diese Ausweitung des Angebotes verlangt vom Verbraucher aber gleichzeitig auch eine größere Integrationsleistung. Die „objektivierte Kultur“ in Form von Konsumgütern ist durch das System der Massenproduktion abstrakter, allgemeiner und standardisierter geworden und deshalb muss jeder Einzelne ein Mehr an Arbeit aufbringen, um
Konsum und Großstadt
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diese objektivierte Kultur in eigene, subjektive Kultur zu verwandeln. Objektivierte Kultur verlangt also von Individuen eine eigene Integrationsleistung. Nach Simmel trägt diese Spannung zur Beschleunigung des sozialen Wandels bei, sie ist also ein Motor von gesellschaftlichen Veränderungen. Weiterhin veränderte die Moderne auch die Beziehung zwischen Konsument und Produkt. Während in einer traditionalen Gesellschaft Waren aufgrund ihres direkten Gebrauchswertes hergestellt und geschätzt wurden, wird der Warenwert in einer modernen Gesellschaft monetär quantifizierbar. Güter werden in der Moderne zu Distinktionsmitteln, der wahre Wert eines Gutes wird zum Warenwert. Zum Gebrauchswert tritt der Tauschwert und damit die Möglichkeit der Distinktion durch Konsum. Ein Satz wie „Sage mir was du isst, und ich sage dir wer du bist“ fasst die Möglichkeit der Distinktion durch Konsum griffig zusammen. Der Gebrauch von Waren wird damit für Simmel ein Schlüssel zur Identität. Identität und Selbstreflexion sind nach Simmel keine angeborenen, quasianthropologischen Eigenschaften des Menschen, sondern Eigenschaften, die sich durch Interaktion mit der Umwelt erst herausbilden und verfestigen. Konsum ist für Simmel zweierlei: zum einen ein Akt der Identitätsausbildung, zum anderen aber auch eine Form der gesellschaftlichen Integration. Simmel betont also schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Doppelcharakter des Konsums als Individualisierungs- und Integrationskraft (vgl. Simmel 1895). Diese positive Sichtweise der Konsumgesellschaft wird ergänzt durch den Blick auf die problematischen und desintegrierenden Wirkungen des Konsums.
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Der Prunk, die Stadt und der Konsum
Privater Konsum ist für Simmel ein zentrales Feld gesellschaftlicher Modernisierung und sozialen Wandels. Simmel verortet die entstehende Konsumgesellschaft als Modernisierungsmotor in den Großstädten des Kaiserreichs und hier natürlich insbesondere in Berlin; Simmels berühmter Essay über die Großstädte und das Geistesleben (Simmel 1903) gründet dann auch auf eigenen Anschauungen des Berliner Soziologen. Dieser Essay und insbesondere auch Simmels Aufsatz „Infelices possidentes“, den er bereits 1893 unter dem Pseudonym Paul Liesegang in der Zeitschrift „Die Zukunft“ veröffentlichte (Simmel 1893), sind heute als Kulturkritik am großstädtischen Lebensstil lesbar. Die Stadt ist für Simmel der paradigmatische Ort der Moderne, Schau- und Sammelplatz einer objektiven, über alles Individuelle hinauswachsenden Kultur. Die Großstadt ist Ursache und Wirkung von Veränderung zugleich. In „Infelices Possidentes“ beschreibt Simmel die neuen Unterhaltungs- und Konsumangebote Berlins, den „hohlen
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Thomas Lenz
Prunk modernster Vergnügungen“ (Simmel 1893, S. 83). Publikum für diesen „hohlen Prunk“ sind die „Gewinner der Modernisierung“ (Simmel 1893, S. 83), die sich die neuen Vergnügungen zwar leisten können und dennoch unglücklich bleiben müssen, da sie aus alten Bindungen herausgelöst wurden, sich der neu gewonnenen Freiheiten aber nicht recht erfreuen können (vgl. Jung 1990, S. 61). Die Großstadt bedrohe letztlich die subjektive Kultur und überfordere den Menschen: der Warenautomat und das Warenhaus werden für Simmel zum Sinnbild für die in der Stadt übermächtige objektivierte Kultur, der Warenautomat und das Warenhaus sind „das restlose Beispiel für den mechanischen Charakter der modernen Wirtschaft“ und stehen stellvertretend für einen Objektivierungsprozess, der sich in die intimsten Bereiche des Alltagslebens ausbreite (Frisby 1992, S. 123f.). Simmel sieht in der entstehenden Konsumgesellschaft also nicht nur die Grundlage für eine Ausweitung persönlicher Freiheiten, sondern erkennt auch das Entfremdungspotential, dass der konsumgetriebene Modernisierungsschub birgt. Wechselnde Rollenanforderungen, die Lösung von Traditionen und sozialen Bindungen und das Verschwinden eines einheitlichen Erfahrungsraums sind für Simmel die negativen Konsequenzen der Moderne. Er konstatiert also schon um 1900 die Entstehung eines fragmentierten Subjekts, das darauf verwiesen ist, Identität selbst zu generieren. Diese Identitätsfindungsprobleme des modernen Individuums sind bis heute die Grundlage für die Aufladung von Konsumprodukten mit Bedeutung. Warenwerbung versieht Güter mit Sinn und belädt sie mit einem identitätsstiftenden Mehrwert. Die Zeit um 1900 zeichnet sich durch einen extrem beschleunigten sozioökonomischen Wandel aus, ein Wandel, der von einem starken Verstädterungsschub, der Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten und vor allem einem Aufschwung der Massenproduktion vorangetrieben wurde. In den fünf Jahren zwischen 1895 und 1900 hatte sich beispielsweise im Deutschen Kaiserreich die Warenproduktion um mehr als ein Drittel vermehrt. Dieser stark beschleunigte Warenausstoß musste – wollte man nicht für das Warenlager produzieren – ebenso schnell wie er produziert wurde, Abnehmer finden. Die „natürliche“ Nachfrage nach Konsumartikeln reichte mit der Ausweitung der Produktion nicht mehr aus, um die Waren schnell genug in Zirkulation zu bringen. „Unnatürliche“ Nachfrage musste also geweckt werden. Zu diesem Zweck wurde die Sichtbarkeit der Waren in den Städten des Kaiserreichs stark vergrößert: Reklame, Litfasssäulen, Schaufensterwerbung und nicht zuletzt die großen Warenhäuser der Jahrhundertwende entstanden und veränderten rasant das Gesicht der Städte (vgl. beispielsweise die Darstellung bei Mataja 1910). Immer mehr Handwerksbetriebe machten Warenhäusern, Krämern und dem Kleinhandel Platz. Die Innenstädte wandelten sich von Plätzen der handwerklichen Produktion zu Orten des Kon-
Konsum und Großstadt
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sums. Sharon Zukin spricht von den durch Konsum geprägten Städten als den „spaces of modernity” (Zukin 1995, S. 190), also von Geschäften, Restaurants usw., die technologische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen sowohl vermarktet wie auch akkulturiert haben. Simmel geht davon aus, dass die erdrückende Ansammlung objektivierter Kultur, die die moderne Konsumgesellschaft ausmacht, zu einem Bindungsverlust des Individuums an die es umgebenden Waren und Güter führt. Die schiere Zahl der Dinge verursacht ihren Bedeutungsverlust und deshalb müssen Waren, deren Wert immer ungewisser wird, mit Sinn und mit Emotionen aufgeladen werden. Warenimages machen aber nicht nur die Güter bedeutender und überhaupt erst unterscheidbar, sondern statten auch die Käufer mit neuen Möglichkeiten der Selbstdefinition aus. Deshalb gedeihen in den Großstädten, so Simmel, die „tendenziösesten Wunderlichkeiten der Selbstdarstellung“. Der moderne Großstadtmensch entwickelt eine Fähigkeit zur Selbstinszenierung zu der er Konsumgüter benutzt und benötigt. Damit überspiele der Großstädter aber letztlich nur seine Sehnsucht nach Lebenssinn: „Durch die moderne Zeit […] geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der Dinge“ (Simmel 1900, nach Jazbinsek 2001, S. 24).
Die „Steigerung des Nervenlebens“ in der Großstadt treibe die Menschen dazu, „in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen“ (Lohmann 1999, S. 52). Eine Suche, die ihren Ausdruck in der „Reisemanie“ und in der „typisch modernen“ Untreue gegenüber Geschmack, Stil, Einstellungen und persönlichen Beziehungen fände. Simmel sieht und thematisiert also die Ambivalenzen des Konsums bereits um 1900. Er erkennt die Möglichkeiten der Individualisierung durch Konsum und er beschreibt, wie Individuen sich – jenseits von politischen, religiösen oder moralischen Appellen – durch Konsum gesellschaftlich integrieren lassen. Andererseits analysiert Simmel auch die desintegrierende Wirkung eines Prozesses, der Individuen immer stärker aus traditionalen Bindungen herauslöst und in dessen Verlauf Individualisierung sich auf Vereinzelung verkürzen kann. Simmel, wie wohl er heute als Vater der modernen Stadtsoziologie gehandelt wird und als Urbanist und Modernist gilt, war tatsächlich auch ein Kritiker der Großstadt. Dietmar Jazbinsek schreibt Simmels Leben in der Großstadt Berlin gar als „Geschichte einer Antipathie“ und tatsächlich findet sich in Simmels Schriften zur Stadt ein gehöriger Schuss Kulturkritik (vgl. Jazbinsek 2001). Die Modernisierungsprozesse im Deutschland der Jahrhundertwende verliefen selbstverständlich nicht ohne auch auf Ablehnung, Vorbehalte und teilweise
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Thomas Lenz
erbitterte Gegnerschaft zu treffen. Der heterogenen Gruppe der Modernisierungsbefürworter – zu denen Simmel trotz einiger deutlicher Abstriche zu zählen ist – stand eine ebenso heterogene Gruppe von Modernisierungsgegnern gegenüber.
3
Diskursive Pathologisierungen des Konsums
Es können in Anlehnung an die (recht grobe) Differenzierung von Wagner (Wagner 1995) zwei Arten von Diskursen über die Folgen der Modernisierung unterschieden werden: einerseits der „Befreiungsdiskurs“ und andererseits der „Disziplinierungsdiskurs“.1 Der Befreiungsdiskurs versucht, die Rolle, die Konsum, Technik und wissenschaftlicher Fortschritt für die Entfesselung des Einzelnen aus den Bindungen der Natur und überkommenen Traditionen spielen, in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Die europäische Aufklärung und auch die sich aus ihr entwickelnden Anfänge der Soziologie als Wissenschaft wären in dem hier interessierenden Zusammenhang als Träger dieses Diskurses zu nennen. Im Disziplinierungsdiskurs dagegen wird – um es mit Max Weber zu formulieren – das „stahlharte Gehäuse“ der Disziplinierung und des Zwangs, das als unmittelbare Folge von Modernisierung entsteht, in den Vordergrund gerückt. Der Disziplinierungsdiskurs wurde zum Teil von Personen vorangetrieben, die sich Vorteile vom Festhalten an Traditionen versprachen. Die traditionalen, populistischen und religiösen Gruppen, die die „Moderne“ durch einen verklärenden Rückblick auf eine bessere Vergangenheit abzubremsen oder zu stoppen versuchten, konnten als „fundamentalistische Bewegungen“ (van der Loo/van Reijen 1997, S. 82) durchaus Einfluss auf die sich entwickelnde moderne Konsumgesellschaft nehmen. Auch die geistesgeschichtlichen Auswirkungen der deutschen Romantik waren in der Mitte und zum Ende des 19. Jahrhunderts noch spürbar und wirkten auf den Disziplinierungsdiskurs um die Folgen des sozialen Wandels. Anhänger der romantischen Ideenwelt empfanden die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft als extrem rationalistisch und glaubten, Rationalisierung und Technik entfremde den Menschen von seiner wahren (inneren wie äußeren) Natur (vgl. hierzu näher van Reijen 1997). Die ideengeschichtlichen „Ausläufer“ der Romantik in der Mitte beziehungsweise zum Ende des 19.Jahrhunderts können wohl am ehesten als „Kontrapunkt“ (vgl. Wertheim 1965, van der Loo/van Reijen 1997) zur Leitmelodie der Modernisierungsentwicklung verstanden werden. Ein Kontrapunkt, der seinen Widerhall vornehmlich den nicht-intendierten Folgen der Rationalisierung 1
Modernisierung ist aber, so Wagner, natürlich immer ambig und deshalb greifen beide Diskurse für sich genommen jeweils zu kurz.
Konsum und Großstadt
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verdankt: überfüllte städtische Zentren, schlechte Arbeitsbedingungen in Fabriken und Manufakturen einerseits und andererseits ein öffentlicher Geist, der als „platt materialistisch“ (van der Loo/van Reijen 1997, S. 84) empfunden werden konnte. Auch wenn die Romantiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr im Rousseau´schen Sinne „zurück zur Natur“ wollten, trauerten sie dennoch der Einfachheit traditionaler Gesellschaften nach.2 Besonders in Deutschland, wo die Modernisierung vergleichsweise spät einsetzte und das Bürgertum bis zum Ende des 19. Jahrhundert schwach war, blieb die romantische Idee lange virulent. Reaktionäre und Romantiker versuchten, über eine Diffamierung der entstehenden Konsum- und Massengesellschaft, ihrem allgemeinen Unbehagen an der Moderne Ausdruck zu verleihen. Eine Strategie innerhalb dieses Abwehrkampfes gegen die Moderne war die Pathologisierung des Konsums, und hier insbesondere des weiblichen Konsums. Das langsame Vordringen von Frauen in die Öffentlichkeit und die gleichzeitige Entstehung einer auf Massenkonsum basierenden Massenkultur wurde durch den kulturkritischen Diskurs im Kaiserreich und während der Zeit der Weimarer Republik miteinander verschmolzen und als gleichsam minderwertig beurteilt. Tatsächlich fand damals eine „Feminisierung der Gesellschaft“ ihren Ausgangspunkt. Die beginnende Emanzipation eröffnete Frauen Zugang zu männlichen Karrieren, gleichzeitig änderten sich die Normansprüche an die Männer. Bei diesem „Austausch der Werte“ kam der Massenkultur und der Großstadt eine Schlüsselrolle zu (vgl. Bernold 1997, S. 441ff): Sie waren die Orte der Bestätigung weiblich definierter Werte wie Individualität, Liebe und Glück, und sie dienten der Verbreitung von modernern Frauenbildern und Images in der Öffentlichkeit durch die entstehende Produktwerbung. Frauen wurden plötzlich sowohl Objekt als auch Ansprechpartner für öffentliche Reklame (vgl. Passerini 1998, S. 356f). Die Vermischung von Konsum, Urbanität und Weiblichkeit diente der Pathologisierung von Konsum an sich und ist damit Teil eines kulturkritischen Abwehrreflexes gegen allgemeine Modernisierungserscheinungen. Insbesondere in der kultur- und konsumkritischen Literatur um 1900 finden sich zahlreiche pathologisierende Darstellungen weiblichen Konsumverhaltens: Besonders auffällig und beispielhaft sind hier die Diskussionen um die so genannte Kleptomanie und die Entdeckung der Agoraphobie, der Platzangst.
2
Die Idee des „simple life“ ist auch heute noch eine der Visionen gegenkultureller „Konsumrebellen“ (vgl. Heath/ Potter 2005).
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Thomas Lenz Kleptomanie
Um 1890 entwickelte sich in Deutschland mit der Ausbreitung des Warenhaussystems ein medizinischer und juristischer Diskurs, der um die Frage kreiste, warum und unter welchen Bedingungen in Geschäften, vor allem in Warenhäusern, gestohlen wurde. Die Fragen, die man sich aus medizinischer Sicht stellte, lauteten: Warum stehlen Menschen, die es eigentlich nicht nötig haben und war es ein Zufall, dass vor allem Frauen Diebstähle in Warenhäusern begingen (vgl. Briesen 2001, S. 83ff) ? Im Medizinsystem bildete sich recht schnell der Begriff der „Klausucht“, der Kleptomanie heraus, ein Begriff, der dann hauptsächlich auf stehlende Frauen Anwendung fand. Innerhalb des medizinischen Diskurses wurde die Tatsache, dass Diebstähle nicht nur ein Jugenddelikt, sondern ein Delikt von Frauen bis 50 Jahre war, physiologisch mit weiblicher Körperlichkeit in Zusammenhang gebracht. Die Aufgeregtheiten der damaligen medizinischen, juristischen und moralischen Diskussion um den Warenhausdiebstahl sind nicht allein aus den steigenden Diebstahlzahlen erklärbar. Vielmehr ist die Diskussion um „krankhaftes Stehlen“ nur verständlich, wenn man den konsum- und kulturkritischen Impetus der an dem Diskurs beteiligten Mediziner, Juristen usw. mit einbezieht. Die entstehende Konsumgesellschaft wurde als „krankhaft“ bewertet, Diebstahl war dabei ein Indikator für eine insgesamt „kranke“ Gesellschaft. Die Diskussion um die so genannte Kleptomanie diente einerseits der Pathologisierung weiblicher Delinquenz, andererseits wurde die entstehende Konsumgesellschaft als krankhaft und krankmachend „entlarvt“. Warenhausdiebstahl und Kleptomanie werden als ebenso unvermeidliche wie typisch weibliche Reaktionen auf das überbordende Warenangebot angesehen (vgl. Spiekermann 1999). Weiblichkeit und Konsum fielen in der Kleptomaniediskussion in eins, ins Pathologische. Der Warenhausdiebstahl wurde somit zur Folie, vor der die Gefahren der neuen Zeit diskutiert wurden (vgl. König 2000, S. 374).
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Agoraphobie
Doch nicht nur der Diebstahl, sondern auch die Eroberung des öffentlichen Raumes durch Frauen – eine Eroberung, die durch die moderne Massen- und Konsumgesellschaft erst möglich wurde – wurde pathologisiert. Die Ausweitung des Konsumangebots zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte zu einer paradoxen Feminisierung von Öffentlichkeit (vgl. Bernold 1997). Die Konsumentin trat aus dem privaten Rahmen des Hauses und der Familie in die – noch männlich konnotierte – Öffentlichkeit. Die Macht der einkaufenden Haus-
Konsum und Großstadt
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frau wurde von Genossenschaften, Werbestrategen, Zeitschriften, Händlern und Parteien erkannt, und um diese Macht wurde gebuhlt. Langsam veränderte sich der öffentliche Raum in einen weiblich konnotierten Konsumraum. Damit durchbrach die Konsumgesellschaft die Ausgehbeschränkungen für Frauen aus dem Bürgerstand. Denn noch im 19. Jahrhundert waren Bürgerfrauen aus dem Straßenbild der Städte weitgehend verbannt. Die Folgen der Industrialisierung hatten eine große Anzahl arbeitsloser Tagelöhner in die Städte gezwungen, die das Straßenbild des 19. Jahrhunderts entsprechend dominierten. Für die Frauen des Bürgertums hatte dies allerlei Ausgehbeschränkungen zur Folge, um Berührungen mit diesen „niederen Volksschichten“ zu vermeiden und um den Standesunterschied zwischen Bürgertum und Tagelöhnern zu wahren. In Anstandsbüchern des Jahres 1895 finden sich deshalb Formulierungen wie: „Am Arme des Vaters darf ein junges Mädchen sich überall sehen lassen, aber nicht allein“ (vgl. deSwaan 1991, S. 176). Diese Ausgehbeschränkungen für Frauen dienten dem Bürgertum zur Wahrung des physischen und sozialen Abstandes zur Arbeiterschaft. Straßen und öffentliche Plätze waren zu bedrohlichen Stätten geworden, wo – zum Teil nur in der Phantasie des Bürgertums, zum Teil aber auch tatsächlich – Rohheit und Gewalt auf der Lauer lagen. Frauen sollten sich in dieser Art von Öffentlichkeit nicht zeigen, wenn sie dies dennoch taten, zeigte das, dass ihre Männer nicht in der Lage waren, ihre Familie aus eigener Kraft zu ernähren. Frauen, die sich in der Öffentlichkeit ohne Begleitung zeigten, waren also nicht anständig, oder wie Abram deSwann es formuliert: „[E]ine Frau, die sich ohne Begleitung in der Öffentlichkeit zeigte, rief damit Zweifel an der Kreditwürdigkeit und dem sexuellen Monopol ihres Mannes hervor, stellte seine materiellen und physischen Fähigkeiten in Frage; sie untergrub das gemeinsame eheliche Prestige“ (deSwaan 1991, S. 177).
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts änderte sich die Lage für die Frauen des Bürgertums langsam: Straßenbeleuchtung, Ordnungsmaßnahmen und der Rückgang der Massenarmut machten die Straßen sicherer und Frauen nahmen Arbeit auch außer Haus an. Das Warenhaus spielte bei dieser Entwicklung eine besondere Rolle. Zum einen eröffnete es vor allem Frauen aus der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht eine ganze Reihe von Arbeits- und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Zum anderen war das Warenhaus einer der wenigen öffentlichen Plätze, an dem sich Frauen ungestört treffen und verabreden konnten. Zu genau dieser Zeit, in der die Ausgehbeschränkungen für Frauen wegfallen und die Erlebniswelt Warenhaus entsteht, entwickelt sich ein Phänomen, das unter dem Namen Agoraphobie, der Angst vor Plätzen, bekannt werden sollte (vgl. deSwaan 1991, S. 1*78ff). Was zunächst verboten war, erweckt jetzt Angst; eine
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Thomas Lenz
Angst, die von Medizinern als typisch weibliche Form der psychischen Erkrankung bezeichnet wurde. 1872 wird der Begriff „Agoraphobie“ geprägt und die ersten klinischen Fallbeschreibungen werden veröffentlicht. Die betroffenen Patienten reproduzieren aus einer für sie selbst unbegreiflichen Angst genau die Tabus, die man den Bürgerfrauen auferlegt hatte bzw. teilweise immer noch auferlegte. Die Patienten bzw. besser die Patientinnen, denn Frauen bildeten den übergroßen Anteil der Agoraphobiker, klagten über eine unerklärliche „Angst vor der Angst“, das Haus zu verlassen, einen vollen Saal zu betreten usw. In „vertrauter Gesellschaft“ stellte sich diese Angst nicht ein. Die „Platzangst“ lässt sich mit den Tabus der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringen: Die Ausgehverbote für Frauen waren ein Ausdruck der kollektiven Phantasien über die öffentliche Ordnung und über Gewalt auf der Straße. Die Familie, der Ort an dem Frauen sich aufzuhalten hatten, galt als sicherer Hafen in einer herzlosen Welt. Mit dem Ende der Ausgehbeschränkungen verwandelten sich die kollektiven Phantasien in individuelle Ängste. Der Wegfall von Verhaltensbeschränkungen im Rahmen der entstehenden Konsumgesellschaft eröffnete also Frauen neue Möglichkeiten, zwang sie gleichzeitig aber auch dazu, als sicher erlebte Verhältnisse zu verlassen. Ängste, die vorher überhaupt nicht auftreten konnten, zeigten sich und wurden vom medizinischen Diskurs als typisch weiblich anthropologisiert.
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Antimoderne und Konsumkritik
Die medizinischen und feuilletonistischen Diskurse um Kleptomanie und Agoraphobie sind eng mit der im 19. Jahrhundert entstehenden Konsumgesellschaft verbunden. Weiblichkeit, Urbanität und Konsum wurden miteinander verknüpft, um den rasanten Wandel der Gesellschaft – wenn man ihn schon nicht stoppen konnte – zumindest zu lenken und zu verlangsamen. Georg Simmel hat als einer der ersten die Frage nach den Chancen und Grenzen der durch Konsum induzierten Individualisierung aufgeworfen. Er hat erkannt, dass die entstehende Konsumgesellschaft die Position des Einzelnen im Gesellschaftssystem stärkt und dass Konsum dennoch integrierend wirken kann. Die Fragen nach Individualisierung und Integration trieb auch die Kritiker der Konsumgesellschaft um, allerdings wurden hier ausschließlich die negativen Folgen des sozialen Wandels thematisiert. Den Konsumkritikern ging es dabei weniger um eine nüchterne Bestandsaufnahme und Prognose der Konsumgesellschaft als vielmehr um die Möglichkeit mit der Kritik am privaten Konsum weitere politische und kulturelle Modernisierungserscheinungen pathologisieren zu können.
Konsum und Großstadt
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Die Kritik am Konsum, die heute vor allem aufklärerisch und kritisch auftritt, ist damit zumindest zum Teil tief in romantischen und antimodernen Ideen verwurzelt. Heute allerdings wird die Verknüpfung von Weiblichkeit, Urbanität und Konsum nicht mehr von kulturkonservativen Feuilletonisten, Medizinern und Juristen geleistet, sondern von profitorientierten Werbefachleuten, Marketingspezialisten und Verkäufern. Der Sieg der Konsumgesellschaft lässt sich heute in jeder Innenstadt direkt erfahren: Wo vor 100 Jahren noch produziert wurde, wird heute konsumiert. Aus einem männlich dominierten Ort ist eine Shopping Mall geworden, deren Angebote und Werbestrategien sich zu einem großen Teil explizit an Frauen richten. Die Verschmelzung von Konsum, Urbanität und Weiblichkeit hat seit den Anfangstagen der Konsumgesellschaft also eine nicht unironische Neudefinition erfahren: Diese Verschmelzung, die Ende des 19. Jahrhunderts der Pathologisierung des Konsums diente, dient heute der Befeuerung desselben. Aus der Konsumkritik des späten 19. Jahrhunderts ist der Konsumismus des späten 20. Jahrhunderts geworden.
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Literatur
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Thomas Lenz
Mataja, Viktor (1910): Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben. Leipzig. Passerini, Luisa (1998): Frauen, Massenkonsum und Massenkultur. In: Duby, Georges/ Perrot, Michelle (Hrsg.): Geschichte der Frauen, Bd. 5: 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M., S. 355-374. Simmel, Georg (1895): Zur Psychologie der Mode – Soziologische Studie. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. 5. Jg., Nr. 54, S. 22-24. Simmel, Georg (1900): Philosophie des Geldes. Berlin. Simmel, Georg (1903): Die Großtädte und das Geistesleben. In: Petermann, Thomas (Hrsg.): Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Dresden, S. 185-206. Simmel, Georg (aka Liesegang, Paul) (1893): Infelices possidentes! In: Die Zukunft 8, S. 82-84. Spiekermann, Uwe (1999): Basis der Konsumgesellschaft. Geschichte des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914. München. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem (1997): Modernisierung. Projekt und Paradox. München. van Reijen, Willem (1997): Modernisierung oder Disziplinierung – Einschluß oder Ausschluß? In: Zeitsprünge (Band 1), Heft 3/4 S. Wagner, Peter (1995): Soziologie der Moderne. Frankfurt a.M. Wertheim, Willem Frederik (1965): East-West Parallels: Sociological Approaches to Modern Asia. Chicago. Zukin, Sharon (1995): The Culture of Cities. Oxford.
Zur Historie und Soziologie des Markenwesens Kai-Uwe Hellmann Kai-Uwe Hellmann Zur Historie und Soziologie des Markenwesens
Was heißt Markenwesen? Markenwesen ist eine leicht veraltete Bezeichnung für die Einheit von Theorie und Praxis der Markenbildung und Markenführung. Heutzutage sprechen wir vorwiegend von Marken und meinen damit bestimmte Produkte, die eine allgemeine, teilweise weltweite Bekanntheit und Verbreitung gefunden haben, wie Coca-Cola, McDonald's, Nike oder Porsche, und die für viele Menschen hochbedeutsam sind. Marken gehören demnach zum Gegenstandsbereich des Markenwesens, dies macht den Unterschied aus. Von daher empfiehlt sich die Beibehaltung des Begriffs „Markenwesen“, weil er umfassender ist. Und worin besteht der Unterschied zwischen Produkt und Marke? Nun, Produkt kann alles werden, was sich als marktfähig erweist, während ein beliebiges Produkt erst dadurch zu einer bestimmten Marke sich wandelt, wenn das Produkt als vertrauenswürdig empfunden wird. Somit entpuppt sich die Unterscheidung Produkt/Marke als eine Frage der Zurechnung von Vertrauenswürdigkeit. Systemtheoretisch präziser gefasst, betrifft das Produkt eine Leistung, die gemeinhin zur Lösung eines alltäglichen Problems beizutragen verspricht, sei es privater oder professioneller Natur, und die einen bestimmten Preis hat. Demgegenüber bietet die Marke ebenfalls eine Leistung, die in erster Linie aber mit dem Erwerb genau dieses Produktes zu tun hat; die Marke bietet somit einen Mehrwert und kostet deshalb einen gewissen Aufschlag. Betrachtet man daraufhin das jeweilige Bezugsproblem, bezieht sich die Leistung eines Produkts in der Regel auf ein Problem, das mit der Situation des Produkterwerbs selbst nichts zu tun hat; zumeist geht es darum, irgendein Problem des Alltags für die Verbraucher zu lösen, also um die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, ob primärer oder sekundärer Natur, und dafür muss bezahlt werden. Hingegen bezieht sich die Leistung einer Marke in der Regel auf ein Problem, das gerade auf diese Situation des Produkterwerbs bezogen ist; zumeist geht es darum, ein zentrales Problem in der Beziehung zwischen Herstellern, Händlern und Verbrauchern zu lösen, nämlich Risikobewältigung durch Vertrauensaufbau, und auch dafür muss bezahlt werden. Das Bezugsproblem des Produkts befindet sich also außerhalb der Situation des Produkterwerbs, während das Bezugsproblem der Marke gerade innerhalb der Situation des Produkterwerbs zu finden ist.
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Schaut man schließlich noch auf die Systemreferenz, geht es beim Produkt um eine bestimmte Technik zur Lösung eines Problems in der Umwelt dieser Situation, bei der Marke um eine bestimmte Technik zur Lösung eines Problems dieser Situation selbst. Systemtheoretisch gesprochen, symbolisieren Produkte die Fremdreferenz der Situation des Produkterwerbs, weil sie sich auf Probleme in der Umwelt des Systems beziehen, während Marken die Selbstreferenz dieser Situation anzeigen, weil sie sich auf Probleme im System richten. In diesem Sinne stellen Produkt wie Marke gleichermaßen eine Leistung dar, nur mit dem feinen Unterschied, dass sich die Leistung der Marke auf die Situation des Erwerbs dieses Produktes als Leistung bezieht. Mit Bezug auf die Produktleistung bietet die Marke eine Metaleistung an und kann deshalb als Metaprodukt bezeichnet werden. Es gibt also zwei Sorten von Produkten: auf der einen Seite das ursprüngliche Produkt, auf der anderen die Marke, wobei von Marke dann als Produkt gesprochen wird, wenn sich über die Kommunikation zwischen Hersteller und Verbraucher bezüglich eines bestimmten Produktes eine gemeinsame Beziehung und Geschichte zwischen Hersteller, Produkt und Verbraucher, also ein gegenüber dem eigentlichen Produkt eigenständiges Phänomen entwickelt hat, das in dieser Form emergent ist und im besten Falle eine unaustauschbare Bindung erzeugt, die man „Markentreue“ nennt. Voraussetzung dafür ist freilich, dass nicht nur die Qualität der Produktkommunikation, sondern auch die Qualität des Produktes selbst möglichst hochwertig ist, und das heißt: Die jeweilige Produktinformationspolitik sollte aus Sicht der Verbraucher integriert, d.h. in sich stimmig und weitgehend widerspruchsfrei erscheinen. Denn nur, wenn es gelingt, über ein bestimmtes Produkt integriert zu kommunizieren, fassen die Verbraucher Vertrauen ins Produkt, und erst dann hat man es soziologisch betrachtet mit einer Marke zu tun. Ausgehend von dieser Unterscheidung von Produkt und Marke, wird sich der folgende Beitrag zuerst der Historie und anschließend der Soziologie des Markenwesens widmen, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung. So wird die Geschichte des Markenwesens relativ kurz abgehandelt, während die Darstellung dessen, was die soziologische Relevanz des Markenwesens ausmacht, sehr viel mehr Raum erhält. Hierzu sind drei Schritte geplant: Im ersten Schritt steht die Relevanz des Markenwesens für die Wirtschaftssoziologie zur Diskussion, Stichworte sind Markt und Geld. Im zweiten Schritt geht es speziell um die Funktion von Marken für die Werbung, Stichwort Eigenwertbildung. Und im dritten Schritt wird nach der Bedeutung von Marken für den Konsum gefragt, Stichwort Distinktion und Markengemeinschaft. Zum Abschluss wird sich dieser Beitrag noch kurz mit Ambivalenzen des Konsums von Marken befassen.
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Eine kurze Geschichte des Markenwesens
Die Geschichte des Markenwesens, konzentriert man sich auf die bloße Markierung bestimmter Sach- oder Dienstleistungen zur Hervorhebung von Herkunft und Qualität, reicht weit zurück. Im Prinzip hat die Warenmarkierung den Warenverkehr nämlich von Anbeginn begleitet, mit einer ersten Hochzeit der Ingebrauchnahme durch Zünfte und Gilden in der frühen Neuzeit. Der eigentliche Durchbruch ereignete sich jedoch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die Zunftwirtschaft durch die Marktwirtschaft verdrängt wurde, ein Vorgang, der es durchaus rechtfertigt, von einer Art Epochenschwelle des Markenwesens zu sprechen, weil die aufkommende Marktwirtschaft ganz neue Anforderungen an Markengestaltung und Markenführung stellte. Fragt man vor diesem Hintergrund nach einer Rekonstruktion der Markenentwicklung im 19. Jahrhundert, bietet sich das 3-Perioden-Modell von Eugen Leitherer (1955) an: 1.
2.
3.
Die erste Periode erstreckte sich von 1815 bis 1840 und umfasste die frühen kleinbetrieblichen Hersteller- und Sachmarken, die schon auf einzelne Personen, Betriebe und Unternehmen gemünzt waren, wie das eisenproduzierende Gewerbe, die Parfümerieindustrie oder die gerade erst anlaufende Schaumweinherstellung, aber noch keine ausgebildete industrielle Produktion kannten und auf der Nachfrageseite keine Motivstellung vorfanden, wie sie später dominant wurde. Die zweite Periode umfasste die Zeit von 1840 bis 1890 und brachte die ersten großbetrieblichen Hersteller- und Sachmarken hervor, die vorrangig im Bereich der chemischen und pharmazeutischen, später auch der kosmetischen Industrie zur Anwendung kamen. Parallel dazu entwickelten sich neue Techniken der Vermarktung, wie das Inseratenwesen, aus dem später die Reklame und die heutige Werbung entstanden. Die dritte und bislang letzte Periode begann Leitherer zufolge 1890, weil es erst in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts zur Herausbildung der uns heute so geläufigen Markengestalt kam, die nicht nur auf der Produktions-, sondern mehr noch auf der Konsumtionsseite Bedingungen vorfand, die die Entwicklung von Marken enorm beschleunigt haben, wie Landflucht und die damit rasant wachsende Nachfrage der Käufermassen nach Massenwaren. Mit der Jahreszahl 1890 markiert Leitherer mithin den Beginn des modernen Markenwesens in Deutschland, was sich durch eine Reihe noch heute erfolgreicher Marken belegen lässt, wie Maggi Würze, Leibniz Keks, Dr. Oetker Backpulver oder Odol Mundwasser, die allesamt um 1890 begründet wurden.
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Fragt man vor diesem Hintergrund nach bestimmten Veränderungen, die für die Entstehung des modernen Markenwesens in der aufkeimenden Marktwirtschaft ausschlaggebend waren, nennt Julius Hirsch (1925) vier an der Zahl: der Zug zum fertigen Produkt, die Vereinheitlichung des Bedarfs, der schnelle Wechsel des Geschmacks und der Kaufverkehr unter Fremden. Hierbei setzte die zuerst genannte Veränderung die Abkehr von der Kundenproduktion voraus, wie sie in der Zunftwirtschaft vorherrschte, in der die Herstellung vieler Waren in der Regel nur auf Bestellung erfolgte. Denn Kundenproduktion bedeutet, dass der Kunde nicht nur von der Beschaffenheit der Ware eine relativ genaue Kenntnis besitzt, sondern auch mit dem Hersteller in persönlichem Kontakt steht, was das Vertrauen in die Warenqualität absichert: Die Marktpartner sind direkt haftbar zu machen – ein Umstand, der in der Marktwirtschaft so gut wie gar nicht mehr gilt, weil kaum noch für konkrete Kunden auf Bestellung, sondern für eine anonyme Masse („Kaufverkehr unter Fremden“) jeweils eine für alle gleiche, hochstandardisierte (Konfektions-)Ware angeboten wird, die wiederum hochstandardisierte Bedürfnisstrukturen voraussetzt. Eben dies bezeichnete Hirsch als Vereinheitlichung des Bedarfs, die durch die Urbanisierung der Konsumstile beschleunigt wurde – konterkariert vom ständigen Bestreben nach Distinktion, das ebenfalls in den Großstädten aufkam, sich in den meisten Fällen jedoch mit der bloßen Variation der „Warenästhetik” (Haug), also mit geringfügigen Abweichungen der Warendarbietung bei grundsätzlicher Ähnlichkeit des Warennutzens zufrieden gibt, wie es heutzutage gang und gäbe ist.
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Wirtschaftssoziologie und Markenwesen
Wendet man sich nach der Markenhistorie der Markensoziologie zu, geht es vorrangig um die Frage, welche Relevanz dem Phänomen in der Soziologie zukommt. Hierfür bieten sich zunächst drei Ansatzpunkte an, und zwar die Markt-, die Preis- und die Werbefunktion, setzt man als selbstverständlich voraus, dass der Wirtschaftssoziologie die erste Zuständigkeit für diese Fragestellung zufällt.
2.1 Zur Relevanz von Marken für die Marktfunktion Der erste Ansatzpunkt für die Relevanz von Marken ist die Funktion von Märkten, eine vollständige Versorgung mit Sach- und Dienstleistungen sicherzustellen. Menschenmassen müssen mit Massenwaren versorgt werden. Eine Konsequenz dieses Anspruchs auf Vollversorgung ist, dass heutige Märkte eine enorme Komplexität aufweisen. Augenfällig wird dies insbesondere am Leistungsange-
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bot der Konsumgütermärkte, das vom Standpunkt des einzelnen Verbrauchers oftmals völlige Unübersichtlichkeit, ja Überforderung bedeutet. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, wodurch eine erfolgversprechende Lösung dieses Komplexitätsproblems moderner Märkte erreicht werden kann, und eine Antwort hierauf lautet: durch Marken, weil Marken, dies ist einhellige Überzeugung von Theorie und Praxis, Märkte überschaubarer machen. Dabei wird die Wiederherstellung der Übersichtlichkeit moderner Märkte, die mit diesem Problem schon im ausgehenden 19. Jahrhundert zu kämpfen hatten, allein dadurch befördert, dass sämtliche Märkte, zumindest in ihren Anfangsjahren, einer Binnendifferenzierung in zwei Klassen von Leistungsangeboten unterzogen werden: auf der einen Seite das Gros der Nicht-Marken, zahl- wie namenlos, Massenware fast ohne jede Unterscheidungskraft und Qualitätsgarantie – auf der anderen Seite die Marken, nur sehr wenige an ihrer Zahl, klar differenziert, qualitativ hochwertig, schön verpackt und aufwendig beworben. Sicherlich ist mit dieser Maßnahme keine letzte Sicherheit gegeben. Doch erleichtert die Markendifferenzierung moderner Märkte die Übersicht und hilft bei der Kaufentscheidung durch drastische Komplexitätsreduktion des Angebots.
2.2 Zur Relevanz von Marken für die Preisfunktion Ein zweiter Ansatzpunkt, um die wirtschaftssoziologische Relevanz von Marken zu ermitteln, ist die Funktion von Preisen. Grundlegend hierfür ist die Annahme, dass das Medium „Geld“ die Aufgabe hat, die Verbraucher über die Warenqualität in Form der Warenpreise so gut zu informieren, dass allein der Preisvergleich ausreicht, um die jeweils gesuchte Ware zu finden. Denn der Preis wird als Qualitätsindikator behandelt: Je teurer, desto besser und vice versa. Der Preisvergleich, der rein quantitativ erfolgt, ersetzt somit den Qualitätsvergleich, der sich mitnichten auf eine vergleichbar effiziente Art und Weise bewerkstelligen lässt, sondern intensive, heute kaum mehr erreichbare Warenkenntnis voraussetzt. Insofern läuft auch die Funktion von Preisen auf Komplexitätsreduktion hinaus. Offenbar jedoch scheint diese Funktion von Preisen nur in wenigen Fällen optimal zu funktionieren. Zumindest ist für viele Märkte bekannt, dass Preisvergleiche den Verbrauchern keine zuverlässigen Qualitätsvergleiche erlauben. Dies wirft die Frage auf, wodurch eine erfolgversprechende Lösung dieses Informationsproblems moderner Märkte erreicht werden kann, und wiederum lautet eine Antwort hierauf: durch Marken. „The effectiveness of brand names rests on the imperfections of markets; consumers often lack the information to judge the merits of competing products. A familiar
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Kai-Uwe Hellmann brand gives the customer the promise of reliability, which is often valued more than lower price.” (Block 1990, S. 61f.)
Marken stellen sozusagen ein funktionales Komplement zu Preisen dar, weil sie den Verbrauchern ebenso, wenn nicht besser dabei helfen, sich über das jeweilige Qualitätsbündel einer bestimmten Ware zu vergewissern. Erreicht wird dies, indem die Hersteller mit den Verbrauchern mittels Werbung Kontakt suchen, mit ihnen über ein bestimmtes Produkt, das im Erfolgsfalle dann als Marke bezeichnet wird, kommunizieren, Vertrauen aufbauen und Beziehungen ausbilden. Der Kaufakt ist dann gewissermaßen ein Vertrauensakt: Gekauft wird, weil vertraut wird. Markenkauf ist damit Folge einer vertrauensvollen Beziehung, die zwischen Verbraucher und Hersteller entstanden ist, zum Zwecke der Entlastung der Preisfunktion.
2.3 Zur Relevanz von Marken für die Werbefunktion Ein dritter Ansatzpunkt, der eben schon anklang, ist die Funktion von Werbung, wie sie in der berühmten AIDA-Formel zum Ausdruck kommt: „attention“ wecken, „interest“ säen, „desire“ nähren und schließlich Kauf-„action“ auslösen. Im Deutschen haben dafür Siegfried J. Schmidt und Brigitte Spieß (1996) die nicht minder prägnante Formulierung „folgenreiche Aufmerksamkeit“ gefunden: Aufmerksamkeit erregen, die Folgen zeigt, mithin zum Kauf der Waren führt. Dabei operiert Werbung zumeist im Medium der Massenkommunikation, die ein zentrales Problem hat: Sie verläuft in der Regel anonym, Empfänger und Adressat begegnen sich nicht persönlich, kennen sich nicht und bleiben füreinander unbekannt („Verkehr unter Fremden“). Aus diesem Grund fällt es gerade Werbung schwer, nicht bloß Aufmerksamkeit, sondern folgenreiche Aufmerksamkeit zu erreichen. Denn wie soll Werbung folgenreich wirken, wenn die Verbraucher nicht wissen, wer dahinter steckt? Warum sollte man sich jemanden anvertrauen, dessen Motive man nicht kennt? Damit lautet die entscheidende Frage: Wie löst Werbung das Problem des Motivverdachts, der unweigerlich mit ihr verbunden ist? Wobei dieses Problem, so Gitte Katz (2002, S. 207), sogar noch ein veritables Paradox impliziert: „Einerseits ist Werbung … auf einen glaubwürdigen Auftritt angewiesen, andererseits hat man es … gerade bei ihr … mit erheblichen Glaubwürdigkeitsproblemen zu tun.“ Denn was diesen Motivverdacht gewiss nicht auszuräumen hilft, ist der Versuch, die Glaubwürdigkeit einer Behauptung durch die Behauptung ihrer Glaubwürdigkeit herzustellen. Übrigens könnte man mit Herbert Willems und Martin Jurga (1998) auch von einem „Unglaubwürdigkeitsstigma” sprechen, das Werbung pauschal anhaftet.
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Wie löst Werbung dieses Paradox auf? Wodurch gelingt es Werbung, das ihr anhaftende Unglaubwürdigkeitsstigma abzustreifen? Eine Antwort lautet erneut: durch Marken. Denn Marken, dies wurde schon angedeutet, zeichnen sich dadurch aus, dass sie Vertrauen stiften, um diesen Verdacht zu beschwichtigen, der das Unglaubwürdigkeitsstigma der Werbung begründet. Und wie gelingt Marken dies? Durch Inszenierung einer glaubwürdigkeitsgenerierenden Produktkommunikation, die maßgeblich auf das Mittel der Wiederholung setzt. Denn die Bildung von Marken, die durch eine solche, um Glaubwürdigkeit bemühte Form von Produktkommunikationspolitik angestrebt wird, greift auf die fortwährende Wiederaufnahme und Wiederholung bestimmter Elemente der Produktkommunikation zurück, ein Verfahren, das im Sinne Heinz von Försters als Entstehung eines Eigenwertes beschrieben werden kann. Dabei bedient sich die Erzeugung von Glaubwürdigkeit durch Wiederholung vor allem einer Technik, die bei der Glaubwürdigkeitsgenerierung generell höchst erfolgreich ist, dem „Storytelling“, weil die konsequente Anwendung des Wiederholungsmotivs zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit auf das Erzählen von Geschichten über die dadurch entstehende Marke hinausläuft. Um diesen Zusammenhang etwas eingehender zu erörtern, geht es nunmehr um die Funktion von Marken, das Unglaubwürdigkeitsstigma der Werbung durch das Mittel der Wiederholung zu bewältigen.
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Marken als Eigenwerte der Werbung
Weil Werbung sich so schwer tut, gegen das ihr anhaftende Unglaubwürdigkeitsstigma wirkungssicher vorzugehen, da jede nur erdenkliche Bemühung um mehr Glaubwürdigkeit, die als solche sichtbar wird, das Verdachtsmoment gegen sie nur zu verstärken droht, bedient sich Werbung gleich mehrerer glaubwürdigkeitsgenerierender Inszenierungstechniken (vgl. Willems/Jurga 1998). So kommt es etwa zur Einsetzung von Drittparteien, wie James Coleman dieses Vorgehen genannt hat, die eine besondere Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen und quasi als Bürgen (Testimonials) fungieren, um zwischen Werbung und Publikum zu vermitteln. Mit Vorliebe werden hierfür Wissenschaftler, praktische Experten und erfahrene Genießer, moralische Autoritäten, Sympathieträger sowie ältere Personen, die aufgrund ihres Alters den Nimbus von Erfahrung, Weisheit und Klugheit für sich beanspruchen können, eingesetzt. Der Grund für diese Maßnahmen ist nur allzu durchsichtig: Konkrete Personen generieren ungleich leichter Vertrauen als abstrakte Systeme, beinahe ein archaischer Reflex mit der Eigenschaft technischer Reproduzierbarkeit. Daneben wird versucht, durch inszenierte Praxisnachweise deutlich zu machen, dass Werbeversprechen und Produktleistung sich decken. Hierzu gehören Vorführeffekte („Man glaubt, was man sieht”) wie
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bei der berühmten VW-Anzeige („Der VW läuft … und läuft … und läuft…“), das Vorher/Nachher-Schema, das oftmals bei Waschmitteln, Shampoos und Schlankheitskuren zum Tragen kommt, welche die außeralltägliche Bewährung alltäglicher Produkte „beweisen“, zumeist unter schwierigsten Belastungsbedingungen (z.B. der Audi auf der Skischanze), oder Kulanzen, Garantien und GeldZurück-Wenn-Unzufrieden-Kampagnen, die als Quasi-Sicherheiten für hohe Produktqualitätsansprüche angeboten werden. Bei all diesen Techniken der Werbung geht es darum, der Glaubwürdigkeitsparadoxie, die jede Behauptung der Glaubwürdigkeit einer Behauptung riskiert, durch praktische, der Wahrnehmung zugängliche Leistungsnachweise zu entgehen. Denn die Wahrnehmung lässt sich viel weniger leicht hinters Licht führen als das bloße Zuhören oder Lesen, weil es viel schwieriger ist, die nonverbale Kommunikation ebenso unter Kontrolle zu halten wie die verbale. Die Körpersprache ist sozusagen ungleich verräterischer als die Sprechsprache. Freilich kann auch dieser Risikofaktor durch entsprechende Übung unter Kontrolle gebracht werden, zumindest über eine gewisse Zeit hinweg. Was dann noch bleibt, ist der Nachweis, dass man nicht bloß einmalig, sondern mehrmalig die Wahrheit sagt, möglichst sogar immer unter allen erdenklichen Umständen, und somit durch Wiederholung überzeugt. Das Wiederholungsmotiv kommt also deshalb zum Einsatz, weil die Glaubwürdigkeit einer Behauptung letztlich nur in der Zeitdimension überprüft werden kann, da niemand in der Lage ist, eine Lüge unbegrenzt lange aufrechtzuerhalten: Irgendwann macht jeder Fehler.
3.1 Die Entstehung von Eigenwerten Im Jargon des Marketing wird das, was hier mit Erzeugung von Glaubwürdigkeit durch Wiederholung gemeint ist, als „Integrierte Kommunikation“ bezeichnet. „Der Aufbau von Verbraucherbindung verlangt Stimmigkeit zwischen allen Kommunikationsinstrumenten, wechselseitige Verstärkerwirkung und nicht zuletzt – bei aller gestalterischen Abwechselung im einzelnen – Kontinuität des grundlegenden Nutzenversprechens im Zeitablauf.“ (Köhler 1993, S. 346) Betrachtet man daraufhin die Art und Weise, wie es zur kontinuierlichen Integration, also zur reflexiven Abstimmung sämtlicher Kommunikationsmaßnahmen einer Werbekampagne für ein bestimmtes Produkt über längere Zeit hinweg kommt, handelt es sich um einen rekursiven Prozess der Wiederanwendung bestimmter Kommunikationssymbole, die am Anfang einer Werbekampagne, zumeist bei der Neueinführung eines Produkts, in Gebrauch kamen und sich bis dato bewährt haben, wie der Name, die Schriftart, das Logo, der Slogan, Farben, Formen, eben alles, was zur Vermarktung dieses Produkts jeweils herangezogen
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wurde. Technisch gesprochen bedeutet das: Jede neue Kommunikationsmaßnahme zieht bestimmte Komponenten, die sich bislang bewährt haben, gleichermaßen selektiv wie anschlussfähig zu sein, erneut zur Anwendung heran und speist sie in den Kommunikationsprozess wiederholt ein, wodurch sich im Zuge einer solchen Iterationssequenz ein zunehmend stabileres Erscheinungsbild dieses Produkts herausbildet, das gerade in seiner Stabilität das ausmacht, was hier mit „Marke“ gemeint ist. Das Resultat eines solchen iterativen Prozesses der Wiederanwendung bestimmter Komponenten der Produktkommunikation kann als „Eigenwert“ bezeichnet werden. Der Begriff des Eigenwerts stammt in dieser Ausprägung von Heinz von Förster (1985) und bezeichnet einen Vorgang und einen Zustand. Der Vorgang betrifft die mehrfache Wiedereingabe des Ergebnisses einer bestimmten mathematischen Rechnung in diese Rechnung für einen neuerlichen Berechnungsdurchlauf, woraus im Laufe der mehrfachen Wiederholung ein zusehend stabileres Endergebnis entsteht, das auf einen bestimmten Zustand hinausläuft, weil sich immer weniger ändert, je öfter man diesen Vorgang wiederholt. Übrigens hat auch Luhmann sich des Eigenwertbegriffs bedient, insbesondere bei der Beschreibung der Funktionen und Codes von Funktionssystemen. Überdies benutzt Luhmann (2002, S. 30) den Begriff des Eigenwerts zur Plausibilisierung des Personenbegriffs: „Es sind Konstrukte, die sich aus der Rekursivität der Operationen des Kommunikationssystems Gesellschaft ergeben. Personen entstehen, sie fallen gleichsam als Nebenprodukte an, wenn überhaupt kommuniziert wird”. Allgemein gesprochen, bezeichnet Luhmann (1990, S. 113f.) Eigenwerte als „Sinnmarken (oft sagt man ungenau Zeichen, besser ‚tokens‘), die Anhaltspunkte für ein weiteres Beobachten fixieren, die stabil sind, auch wenn (und gerade weil) sie aus unterschiedlichen Perspektiven benutzt werden und dies durchschaut wird.“ Und was die Herausbildung eines Eigenwertes betrifft, übernimmt Luhmann (1997, S. 394) Formulierungen von Heinz von Förster weitgehend unverändert: „Die Eigenwertbildung ist ein Resultat der Wiederverwendbarkeit, der Anwendung von Operationen auf das Resultat vorheriger Operationen desselben Mediums.“ In jedem Fall bezeichnen Eigenwerte das Ergebnis einer wiederholten Selbstbeobachtung, also der Beobachtung eigener Beobachtungen, mit Bezug auf die Gestaltung der eigenen Kommunikationsgeschichte, wobei sich dieses Ergebnis nach einer gewissen Zeit quasi selbständig herausbildet und dann zunehmend invarianter wird.
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3.2 Nivea als Eigenwert der Werbung Betrachtet man daraufhin die Bildung bestimmter Marken, ist durchaus plausibel zu machen, Marken als Eigenwerte der Werbung zu konzipieren. Leider gibt es bislang, so sehr sich das Markenwesen darauf versteht, insbesondere erfolgreichen Marken eindeutige Profile zu bescheinigen, kaum ernsthafte Bemühungen, die Herausbildung eines erfolgreichen Produktkommunikationsprofils, das von den Verbrauchern als Marke betrachtet wird, im Sinne eines kommunikativen Ausleseprozesses im Detail zu rekonstruieren. Es fehlt schlichtweg Forschung. Von daher steht der empirische Nachweis dafür, dass und inwiefern Marken als Eigenwerte der Werbung verstanden werden können, noch aus. Gleichwohl kann anhand von Einzelbeispielen aufgezeigt werden, wie ein solcher Nachweis durchzuführen wäre. Ein solches Beispiel ist die Marke „Nivea“, die unbestritten ein höchst erfolgreiches Exempel von Eigenwertbildung darstellt. Die Anfänge von „Nivea“ gehen auf das Jahr 1911 zurück, als die Firma Beiersdorf in Hamburg die Rechte am Patent des Wirkstoffs Eucerinum anhydricum, kurz „Eucerin“, und die dafür erforderlichen Fabrikationsanlagen erwarb. „Eucerin“ ermöglichte erstmals die stabile Emulgation von Wollfett und Wasser. Anschließend wurden über Monate hinweg Laborversuche unternommen, und schon Dezember 1911 gelang es, die Herstellung einer völlig neuen Hautcreme aufzunehmen. 1912 startete dann die erste Werbekampagne, sozusagen die öffentliche Geburt von „Nivea“. Unter dem Gesichtspunkt der Eigenwertbildung ist nun bemerkenswert, dass „Nivea“ keineswegs ein Erfolg von Anbeginn beschieden war. Vielmehr sprang die erste Zielgruppe, Frauen der Mittelschichten und des Kleinbürgertums, auf die in den Anzeigen abgebildeten „ätherisch exklusiven Damen“ kaum an. Auch die Nachkriegszeit erwies sich für „Nivea“ als so unerfreulich, dass 1924 sogar überlegt wurde, den Namen zu ändern. Nur der Überzeugungsarbeit von Juan Gregorio Clausen, dem damaligen langjährigen Werbeleiter Beiersdorfs, ist es zu verdanken, dass statt dessen ein grundlegender Relaunch vorgenommen wurde, der eine vollständige Neugestaltung von Schriftzug und Dose, eine neue Farbgebung (tiefblau) und eine Neuausrichtung der Werbung umfasste, mit der Folge eines kompletten Umschwungs der Geschäftsentwicklung ab 1926. Erst mit diesem Relaunch erhielt das Produkt „Nivea“ kommunikationswirksame Formen, die bis heute weitgehend unverändert geblieben sind, was für Zusammensetzung, Farbe und Anwendung der Creme ohnedies galt. Allerdings kam es zu einer erheblichen Ausweitung der Zielgruppen: anfangs Frauen, danach Familien, und in den letzten Jahren „reifere“ Frauen, Männer und „Teenager“, jedoch allesamt auf Grundlage des Kernnutzens „Hautpflege“. Hingegen blieb die Form der Dose im Prinzip erhalten, ebenso wie der Name, und selbst der Preis erfuhr
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über Jahrzehnte hinweg keine Anhebung. Nur Schriftzug und Dosenfarbe haben sich (leicht) geändert (vgl. Abb. 1). Was dieser Fall sehr schön zeigt, sind die üblichen Anlaufprobleme und den sukzessiven Abstimmungsbedarf, bis sich über „trial and error“ allmählich ein Kommunikationskonzept herausmendelt, das langfristig Erfolg verspricht, wie beim Produkt „Nivea“, das heutzutage als äußerst erfolgreiches Modell für integrierte Produktkommunikation diskutiert wird, als Marke mit Vorbildcharakter, die sich dem kollektiven Gedächtnis der Verbraucher fest eingeprägt hat und an der sich die gesamte Branche ein Beispiel nimmt. Freilich rührt der Erfolg dieser Abbildung 1: Die Entwicklung des Markenbildes von NIVEA
Quelle: Gries 2003, S. 531.
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Marke nicht bloß daher, dass Produkt und Verpackung über Jahrzehnte hinweg weitgehend unverändert wiederverwendet wurden. Denn das Wiederholungsmotiv begnügt sich bei Marken keineswegs mit derart konkreten, unmittelbar wahrnehmbaren Komponenten. Vielmehr gibt es noch eine zweite Ebene, auf der nicht bloß solche Zeichen, sondern bestimmte Bedeutungen des Produkts eine vergleichbare Form von Wiederholung im Produktkommunikationsprozess erfahren. Ausgangspunkt für diese Betrachtungsweise ist, dass sich jede Produktkommunikation als ein multimedialer Prozess beobachten lässt, bei dem eine Mehrzahl von Kommunikationsmedien zum Einsatz kommt. Freilich konzentriert sich das Markenwesen oftmals auf die ästhetische Seite der Produktkommunikation, obgleich der Erfolg von Marken sehr viel mehr noch davon abhängt, welche Bedeutungen die Hersteller und Verbraucher ihnen zuschreiben.
3.3 Branding by Storytelling Vom Standpunkt der Markensoziologie sind es nämlich diese Bedeutungen, die über den langfristigen Erfolg von Marken entscheiden und die sich angesichts ihrer Summe und Vernetztheit als die Produktion und Rezeption von Narrationen, sprich Erzählungen analysieren lassen. Kurzum: Markenerfolg setzt Geschichtenerzählen, oder wie es in der Branche heißt: „Branding by Storytelling“ voraus, weil praktisch jede Produktkommunikation sich aus mehreren Erzählsträngen zusammensetzt, je nachdem, worüber und wie kommuniziert wird und wer sich an dieser Kommunikation beteiligt. Über die Zeit verselbständigen sich diese Erzählstränge dann, dies ist aufgrund ihrer Serialität unvermeidlich. Die einzelnen Geschichten gewinnen sozusagen an Autonomie: Je länger eine Geschichte erzählt wird, desto mehr löst sie sich vom Zufall ihrer Entstehung ab und entwickelt ein Eigenleben, eine Geschichte der Geschichten, gewissermaßen ein geschichteninternes Gedächtnis, auf das mit der Zeit immer stärker rekurriert wird, und zwar von allen Seiten, um die Geschichte bei jeder weiteren Episode möglichst einheitlich zu gestalten. Entscheidend ist hieran, dass durch diesen Prozess der sukzessiven, episodischen Entstehung einer solchen Geschichte der Geschichten, die über ein bestimmtes Produkt erzählt werden, bei involvierten Kunden eine höchst vertrauensvolle Beziehung zu diesem Produkt und seinen Geschichten entsteht, also das, was hier mit „Marke“ gemeint ist – nicht viel anders, als wenn wir zu bestimmten Personen Vertrauen fassen. Der Markenerfolg hängt somit von der narrativen Qualität der Produktkommunikation ab, die sehr stark auf das Prinzip der Serialität, auf das Wiederholungsmotiv setzt, wie bei einer Fernsehserie, deren Geschehen durch das Verhalten bestimmter Protagonisten vorangetrieben wird, die jede
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Menge Herausforderungen, Probleme, Krisen etc. erleben und sich wiederholt darin bewähren müssen. Funktional äquivalent wird auch das Produkt unterschiedlichen Szenarien ausgesetzt, um sich darin zu bewähren, indem es wiederholt unter Beweis stellt, welche Funktion es erfüllt. Mit der Zeit entsteht dadurch aus dem Produkt eine Marke, ein Produkt mit Persönlichkeit, ein Held des Alltags mit klarem Profil, dem man vertraut, sich anvertraut und eine soziale Beziehung zu ihm aufbaut. Sehr klar lässt sich die narrative Qualität der Produktkommunikation wiederum bei „Nivea“ nachweisen. So versuchte man es zu Anfang mit dem Motiv „femme fragile“, dem damals vorherrschenden Fraubild in den gebildeten Kreisen: sanft lächelnde, verträumt wie verklärt wirkende Luxusgeschöpfe, die einer transzendenten, besseren, heilen Welt verhaftet waren. Ab 1925 setzte man dann auf die sportliche Frau außer Haus, in der Sonne, am Strand, sowie Familienidylle, beides mit großem Erfolg, an dem vor allem die psychologisch-mythologische Bedeutung der Farbe „Tiefblau“ großen Anteil hatte (vgl. Gries 2003, S. 465ff.). In den 1950er Jahren dominierte hingegen die Narration „Schutz und Sicherheit durch Konvention und Ritual“ das „Storytelling“. „Was auch immer im Argen liegt – ‚Nivea’ ist die Erlösung, rettet vor aller Unbill.“ (Gries 2003, S. 491) In den 1960er Jahren trat das „outdoor“-Motiv aus den dreißiger Jahren wieder in den Vordergrund, während die achtziger Jahre vom „Rückzug in die Idylle“ geprägt wurden, nach einem kurzen Intermezzo anlässlich der „Creme 21“-Attacke Anfang der siebziger Jahre. In den neunziger Jahren setzte sich „Nivea“ schließlich als Universalcreme für jeden und alles durch. So lautet der Befund, fragt man Kunden nach dem Image von „Nivea“, übereinstimmend: „für die ganze Familie“, „überall erhältlich“, „vertrauenswürdige Marke“, „hochwertige Qualität“, „dezente Duftnote“, „mild und hautverträglich“, „problemlose Hautpflege“ (vgl. Gries 2003, S. 545). Auf diese Art und Weise könnten nun auch ganz andere Kommunikationsmotive untersucht werden. Zu denken wäre etwa an Marken, die selbst wie Persönlichkeiten aufgebaut wurden, etwa „Bruno“, dies der brancheninterne Name des HB-Männchens, das 1957 von der British American Tobacco (BAT) eingeführt wurde: ein kleiner Mann, Typ Choleriker, der fortlaufend die Fassung verliert und erst durch das Rauchen einer HB wieder zur Ruhe kommt. So erzählte jeder einzelne Fernsehspot eine eigene Kurzgeschichte, die sich aus Problementstehung und Problemlösung zusammensetzte und ihr Hauptaugenmerk darauf richtete, die Auflösung dieser Spannung zu beschreiben, d.h. wie der Held „Bruno“ diese heikle Situation (mittels HB) zu meistern verstand. Oder es kommen Testimonials wie die „Klementine“ von „Ariel“ in Frage, deren Art und Weise des „Storytelling“ zwischen 1968 bis 1986 so unnachahmlich war, dass Procter &Gamble nach mehreren Jahren des Aussetzens 1996 erneut auf dieses Wieder-
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holungsmotiv setzte. Ähnlich lief es übrigens bei der Marke „Jägermeister“ ab, der mit der Anzeigenkampagne „Ich trinke Jägermeister, weil …“ ein gleichfalls einzigartiges „Storytelling“ gelang: 1973 wurde diese Kampagne erstmals eingeführt und konnte durch tausendfache Wiederholung dieses Werbemotivs große Erfolge feiern. 1988 wurde sie zwar eingestellt; doch nach acht Jahren Pause 1996 ging das Motiv nochmals für zwei Jahre auf Sendung. All dies sind lediglich Beispiele dafür, wie „Branding by Storytelling“ funktioniert. Zumeist geht es darum, im Rahmen einer Werbekampagne zwei Optionen zu beachten: „story“ und „history“, Narratives und Historisches in Einklang miteinander zu bringen. Denn „Storytelling“ bedeutet nicht nur, Geschichten zu erzählen, die, ist man mit ihnen hinlänglich vertraut, nur ganz wenige Komponenten noch brauchen, um nahezu vollständig erinnert und verstanden zu werden, sondern dadurch auch kollektive Gedächtnisleistungen zu generieren, um die Geschichte dieser Marke selbst erinnerungsfähig zu halten. Als Zwischenbilanz ist festzuhalten: Marken können als Produkte eines iterativen Produktkommunikationsprozesses konzipiert werden, der sich durch die Wiederholung bestimmter ästhetischer und semantischer Elemente auszeichnet. Indem der Name, das Logo, gewisse Formen, Farben, Melodien und vor allem bestimmte Bedeutungen und Geschichten über das Produkt (Gründer, Gründungsumstände, Unternehmen, Branche, Produkteigenschaften etc.) in der Produktkommunikation ständig wiederholt werden, prägen sich diese rekursiv zur Anwendung kommenden Elemente dem kollektiven Gedächtnis der Verbraucher immer mehr ein. Im Ergebnis führt dieser Iterationsprozess zur Ausbildung und Kristallisation eines gleichermaßen ästhetisch wie semantisch elaborierten Produktkommunikationscodes, dessen sich Hersteller und Verbraucher im täglichen Gebrauch bedienen, und dies nicht nur miteinander, sondern auch untereinander. So hat „Nivea“ diesen C2C-Effekt (von Consumer-to-Consumer) sogar eigens in einer Werbekampagne von 1952 thematisiert, die den Titel trug: „Man spricht von Nivea“. Darin werden Gesprächssituationen nachgestellt, die Beiersdorf aus der Lektüre von Kundenpost erfahren hatte. Beispielsweise sprechen Männer nicht nur über Beruf und Politik, sondern bei Fragen der Körperpflege, insbesondere wenn es die Rasur betrifft, auch über „Nivea“; am Samstagnachmittag rufen sich Hausfrauen nach dem gründlichen Reinemachen an, und „Nivea“ wird zum Thema; nach einem längeren Bad, hat man sich anschließend mit „Nivea“ eingecremt, kommt das Gespräch darauf; wenn man sich im Regen trifft, unter einem tropfenden Regenschirm wartend, spricht man über „Nivea“, oder auch im kleinen, geselligen Kreis, wenn „Nivea“ dazu beiträgt, die Hände nach der Arbeit zu pflegen (vgl. Gries 2003, S. 493f.). Obgleich nur nachgestellt, vermitteln diese Gesprächssituationen doch eine ungefähre Vorstellung davon, dass und wie sich die Geschichten einer Marke
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auch unter den Verbrauchern alltäglich verbreiten. Man erzählt sich wechselseitig Erfolge wie Misserfolge, die man mit der jeweiligen Marke erfahren hat, empfiehlt und lobt oder macht sie schlecht, streut nachteilige Gerüchte über sie aus oder tritt diesen vehement entgegen, falls sie der geliebten Marke schaden könnten, je nach Standort und Stimmungslage. Letztlich sind es sogar solche Gespräche, die Verbraucher miteinander führen, die ein beliebiges Produkt erst zur geliebten Marke machen. Das Marketing mag dies zwar anders sehen. Aber soziologisch ist entscheidend, dass erst in dem Moment, da sich der Kreis schließt, wenn also die Kommunikation über ein bestimmtes Produkt außerhalb der eigentlichen Einflusssphäre der Unternehmen sich verselbständigt, autonom wird, in der Wahrnehmung und Kommunikation der Konsumenten untereinander, ein Produkt die Aura der Marke verliehen bekommt. Denn Marke hat mit Vertrauensbildung und Beziehungsaufbau zu tun, und hierbei geht es primär ums Vertrauen der Verbraucher ins Produkt und die Bildung vertrauensvoller Beziehungen zwischen Herstellern und Verbrauchern, mehr noch aber zwischen den Verbrauchern, die sich anhand ihrer gemeinsam bewunderten Marken als gleichgesinnt erkennen und anerkennen. Damit freilich betreten wir einen neuen Gegenstandsbereich: Marken im Reich des Konsums.
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Konsum, Marken, Kultur
Der Begriff des Konsums besitzt mindestens zwei Bedeutungen: eine engere und eine weitere. Unter Konsum im engeren Sinne versteht man die Einkommensverwendung für Zwecke des Konsums im weiteren Sinne, unter Konsum im weiteren Sinne hingegen die Nutzung von Leistungen knapper Güter zum Zwecke der unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse der Letztverbraucher. Wendet man sich speziell dem Konsum im weiteren Sinne zu, der dem soziologischen Konsumverständnis entspricht, kann zwischen Konsum erster und zweiter Ordnung unterschieden werden. Der Konsum erster Ordnung bezieht sich auf die Befriedigung primärer Bedürfnisse. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht das physische Wohlbefinden der eigenen Person. Die Befriedigung primärer Bedürfnisse ist damit eine Sache der Notwendigkeit, die keine Kontingenz duldet. Der Konsum zweiter Ordnung richtet sich demgegenüber auf die Befriedigung sekundärer Bedürfnisse, also sämtlicher Bedürfnisse, für die keine echte Notwendigkeit reklamiert werden kann, und betrifft damit – in Anlehnung an die gleichermaßen simple wie triftige Formulierung „Luxus ist jeder Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht“ von Werner Sombart – durchweg Luxusbedürfnisse. Denn zu jedem Bedürfnis sekundärer Natur gibt es Alternativen, die ebenso gut befriedigt werden könnten, weil Austauschbarkeit innerhalb
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dieser Klasse von Bedürfnissen besteht. Zudem zeichnen sich sekundäre Bedürfnisse dadurch aus, dass sie die soziale Position einer Person im sozialen Raum markieren, sei es aus Gründen der Identifikation mit anderen, sei es aus Gründen der Differenzierung von anderen – und eben hier kommt die herausragende Rolle von Marken für den Konsum ins Spiel. Marken ermöglichen nämlich eine vergleichsweise wirkungssichere Zurechnung von Zugehörigkeitsmerkmalen, weil sie über eine eigene Grammatik der Inklusion und Exklusion verfügen. Man kann dies besonders gut am Beispiel Kleidung durchspielen, die von vornherein auf die wechselseitige Erkennbarkeit der jeweiligen Milieuzugehörigkeit ausgerichtet ist. Cornelia Bohn (2000) hat Kleidung sogar als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium konzipiert, mit eigenem Code (tragbar/nichttragbar) und auswechselbaren Programmen. Angesichts dessen dürfte es kaum überraschen, wenn gerade Markenkleidung, aufgrund der ihr dezidiert zugedachten Distinktionsfunktion, von den Konsumenten, nicht zuletzt vielen Kindern und Jugendlichen, instrumentalisiert wird. „Kleidermarken ermöglichen Gruppenmitgliedschaften, sorgen für eine bestimmte Gruppenidentität und liefern damit gleichzeitig Verhaltensanleitungen sowie bestimmte Wertvorstellungen mit: Der kindliche oder jugendliche Träger eines Homeboy-T-Shirts wird sich innerhalb wie außerhalb der Skater-Gruppe eben wie ein Skater verhalten und Wertvorstellungen entwickeln, wie man sie als Skater nun einmal hat; um sich damit der Gruppe anzupassen, sich mit ihr solidarisch zu zeigen, aber auch um sich von anderen Gruppen oder vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen.“ (Grabowski 1998)
Dabei beschränkt sich die Instrumentalisierung des Konsums zur Selbstauskunft der Verbraucher über ihre wirkliche oder angestrebte Milieuzugehörigkeit keineswegs auf Markenkleidung, bei der diese Möglichkeit geradezu ins Auge springt. Vielmehr kann jede Marke dazu benutzt werden, etwas über denjenigen mitzuteilen, der sich ihrer bedient. Marken verfügen sozusagen über erheblichen Distinktionswert. Will man daher herausfinden, wie und in welchem Maße Distinktionspolitik heutzutage funktioniert, empfiehlt sich ein Blick auf die Praxis des Markenwesens. Wobei inzwischen sogar ein solches Ausmaß an Verbreitung und Aneignung solcher Markenprodukte beobachtbar ist, dass man schon fast von einer weitgehenden Verselbständigung des Markenkonsums sprechen muss. Bekannte Beispiele hierfür sind die Konkurrenz zwischen Adidas und Nike, MacIntosh und IBM-Kompatiblen, Camel und Cabinet oder Manta und Golf GTI, die erstaunlich geschlossene, markentreue Nutzergruppen um sich scharen, die wegen der Ausschließlichkeit des Tragens oder Nutzens einer dieser Marken in Abgrenzung zur jeweils anderen über ein sehr ausgeprägtes „Wir-Gefühl“ verfügen. Bemerkenswert hieran ist ferner, dass es vorrangig die Verbraucher selbst
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sind, die Marken einen solchen symbolischen Mehrwert abgewinnen. Empirisch greifbar wird der Trend insbesondere an der noch relativ jungen Entwicklung von „brand communities“, intensiv gepflegte Beziehungsnetzwerke zwischen Kunden spezieller Markenprodukte, die drei signifikante Merkmale aufweisen: Erstens zeichnet sie ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, ein kollektives Bewusstsein ihrer Einheit aus; zweitens besitzen sie in der Regel eine Vielzahl von Ritualen, Traditionen und Mythologien; und drittens verfügen sie über etwas, was als „moral responsibility“, als moralisches Solidaritätsgefühl bezeichnet wird (vgl. Muniz/O’Guinn 2001). Sozialstrukturell handelt es sich um eine Gemengelage von Bindungslockerung, Themenspezifikation und Effektkumulation, wie Luhmann einst die Besonderheit sozialer Bewegungen zu bestimmen suchte, oder um eine neuere Formulierung von Ronald Hitzler (1998) anzubringen: um eine relativ neue Form posttraditionaler Vergemeinschaftung. Ob dieses Phänomen Trendcharakter und Avantgardepotential hat, bleibt abzuwarten. Doch in jedem Fall trägt die Entwicklung solcher Markengemeinschaften dazu bei, die Konsumsphäre kulturell aufzuwerten, ihr Eigenständigkeit zu vermitteln, weshalb es längst legitim geworden ist, nicht bloß von Unternehmens-, sondern auch von Konsumkulturen zu sprechen, die an Bedeutung stetig zunehmen und das öffentliche Gesicht der modernen Gesellschaft um einige höchst markante Züge bereichern.
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Ambivalenzen des Markenkonsums
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Markenwesen für die Wirtschaftsund Konsumsoziologie durchaus eine gewisse Relevanz besitzt. So tragen Marken zur Komplexitätsreduktion auf modernen Märkten bei; sie bieten Lösungen für das Problem asymmetrischer Informationsverteilung an; sie flankieren die Preisvergleichsfunktion; sie helfen der Werbung bei ihrem Unglaubwürdigkeitsstigma; sie stellen prägnante Orientierungspunkte beim Verkehr unter Fremden dar und eignen sich vorzüglich als Distinktions- und Kommunikationsmedium. Nichtsdestotrotz haftet Marken auch etwas eigentümlich Dubioses an; sie erscheinen kulturkritisch als höchst frag-, ja kritikwürdig. Insbesondere Naomi Klein (2001) hat sich dieser Schattenseite des Markenkonsums auf beeindruckende Art und Weise zugewandt – beeindruckend in ihrer Vorgehensweise, aber auch hinsichtlich des öffentlichen Erfolgs. Gleichzeitig wurde mehrfach festgestellt, dass etwa solche Markengemeinschaften über erhebliches moralisches Kapital verfügen, dass sie keineswegs bloß ein Anhängsel der Unternehmen sind, sondern über bemerkenswert viel Eigenständigkeit verfügen, die soweit gehen kann, für sich den Besitz der geliebten Marken zu beanspruchen und
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entsprechend renitent gegen Maßnahmen der Unternehmen vorzugehen, falls diese eine Beschädigung der Markenidentität vorzunehmen beabsichtigen (vgl. O’Guinn/Muniz 2005). Insofern weist der Konsum von Marken gewisse Ambivalenzen auf. Marken polarisieren im Positiven wie im Negativen, und zwar Praxis wie Theorie gleichermaßen. Marken stellen einerseits kulturelle Errungenschaften dar, gerade wenn man sich mit dem Konsum zweiter Ordnung befasst; andererseits sind Marken, als exponierte Produkte der Kulturindustrie sozusagen, ständigen Angriffen und Diffamierungen ausgesetzt. Wer Recht hat, scheint gleichfalls eine Frage von Standort und Stimmungslage zu sein. Wie dem auch sei: Für die Forschung zur Historie und Soziologie des Markenwesens gilt, dass sie sich bislang in einem sehr frühen Stadium befindet (vgl. Hellmann 2003). Es wäre schön, wenn sich dies alsbald ändert, so dass die Befassung der Wirtschafts- und Konsumsoziologie mit Marken zur normalen Wissenschaft wird.
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Literatur
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Märkte der populären Religion1 Hubert Knoblauch Hubert Knoblauch Märkte der populären Religion
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Einleitung
Stellt man Religion in den Zusammenhang mit Konsum, kommt rasch der Vorwurf der „Konsum- und Warenreligion“ auf. In unseren Zeiten beinahe schon unübersehbar, ist dieser Vorwurf einer der leitenden religions- und gesellschaftskritischen Topoi der marxistisch orientierten Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Besonders ausdrücklich im Rahmen der (Kritik an der) so genannten „Warenästhetik“ wurde nicht nur der Religion eine Verbrämung der gesellschaftlichen Zusammenhänge vorgeworfen, in Anlehnung an Marx’ Beschreibung des Fetischismus der Ware wurde die Ware selbst zum Inhalt einer Art religiösen Glaubens stilisiert. Als Warenreligion kann sie dann die Funktionen erfüllen, die religionskritische Schriften auch herkömmlichen Formen der Religion zuschreiben. „Die Warenreligion“, so heißt es in einem Text von 1973, „ist die zeitgenössische Form der Trivialreligion. Sie hat die Funktion der alten ‚Seelentröster’ übernommen. Sie will nicht mehr den Nationen-Sieg bringen, wohl aber dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem zu Stabilität und Ordnung verhelfen, indem sie vorgibt, dem einzelnen Stabilität und Anerkennung zu verleihen. Im Vertrösten tröstet sie“ (Bühler 1973, S. 126).
Dass nicht nur Waren religiös werden, sondern dass auch die Religion zunehmend konsumiert werde, ist ein Topos, der schon vor der Ausweitung der Konsumgesellschaft aufkommt. Im Grunde führt die für religiöse Organisationen strukturell zwangsläufige Aufteilung in Laien und Experten (auch in jenen Religionen und Konfessionen, die sich gegen eine entsprechende Aufteilung wehren) dazu, dass eine Spaltung zwischen den Produzenten und Rezipienten, zwischen Vorführern und Publikum, zwischen Anbietern und Konsumierenden religiöser Symbole, religiösen Wissens und religiöser Handlungen erfolgt. Deswegen liegt die Vermutung durchaus nahe, dass der Konsum der Religion mit der Ausbildung dessen zu tun hat, was man auch als Markt der Religion bezeichnet. Aller1
Dieser Text schließt an frühere Überlegungen (Knoblauch 2000) an, die ich derzeit in verschiedene Richtungen und in verschiedenen (zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Textes noch nicht erschienenen) Publikationen ausbaue.
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dings ist dieser Begriff des Marktes – gerade dann, wenn es gar keine (offizielle) Konkurrenz unter den Anbietern gibt – höchst ungenau. In diesem Beitrag möchte ich mich deswegen weniger mit der Frage nach der Konsumption der Religion beschäftigen, sondern das vorgängige Problem angehen, in welchem Sinne von einem Markt der Religion gesprochen werden kann. Gerade aus soziologischer Sicht ist ja die Verwendung einer ökonomischen Sprache im Zusammenhang mit Religion und Kirchen durchaus erklärungsbedürftig. Zwar hatte schon Max Weber (1920/88) gezeigt, dass sich die ökonomische Logik des Handelns in der Moderne in immer größerer Reinheit ausbildet und die Rationalitätsstandards des Handelns auch außerhalb der Ökonomie soweit prägt, dass sie religiöse Legitimationen überflüssig macht. Zugleich aber war es auch Weber, der deutlich gemacht hat, dass die ökonomische Rationalität (also das Modell des zweckrationalen Handelns) lediglich eine Form der Rationalität neben anderen darstellt. Nicht nur der optimale Nutzen ist ein idealtypisches Handlungsziel, sondern auch etwa die Wahrung der Tradition oder die Einhaltung der Werte. Schon an dieser Auflistung sieht man, dass ein Großteil dessen, was wir gemeinhin als Religion betrachten, eher auf dieser nichtzweckrationalen Seite des Handelns zu sehen ist, die auch nur denjenigen als „irrational“ erscheint, die Rationalität mit ihrer ökonomischen Ausprägung gleichsetzen. In der Tat könnte man mit Weber vermuten, dass die ökonomische Rationalität das Andere der Religion darstellt, führt ihre Ausbildung doch unmittelbar in das, was Weber so poetisch als Entzauberung bezeichnet hat: Die paradoxe Entwicklung, dass die Religion erst die Ausbildung der ökonomischen Rationalität in ihrer Reinform ermöglicht, um dann ihr Opfer zu werden. Dies drückt sich etwa im massiven Rückgang der Zahl der Kirchenmitglieder und ihrer Beteiligung am kirchlichen Leben aus, aber auch in der massiven „inneren Säkularisierung“, der geistigen Auswanderung der Menschen aus den Kirchen. Vor diesem Hintergrund ist es beinahe paradox, dass die Religion nun selbst als ein Markt betrachtet wird. Wir wollen uns deswegen im Folgenden mit der Frage beschäftigen, ob die Betrachtung der Religion als Markt Sinn macht – und wenn ja, wie diese Verbindung Sinn machen kann. Dabei möchte ich die These vertreten, dass es dreierlei Märkte der Religion gibt: auf der einen Seite den Markt der religiösen Organisationen als Organisationen, auf der anderen Seite den Markt der religiösen Organisationen als Religionen. Eine besondere Bedeutung übernimmt dabei der „schwarze“ Markt der populären Religion, dessen Konturen ich am Schluss skizzieren möchte. Alle drei Märkte, so meine These, unterscheiden sich nicht nur, sie funktionieren auch nach anderen Prinzipien.
Märkte der populären Religion 2
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Der metaphorische Begriff des religiösen Marktes
In den 1980er Jahren hatte die Zeitschrift „Stern“ einige Werbeagenturen damit beauftragt, Werbekampagnen für Kirchen zu entwerfen. Dies wurde damals noch sowohl von den Lesern wie von den Kirchen wenn schon nicht als ketzerisch, so doch als „provokativ“ empfunden. In den 1990er Jahren veränderte sich das Verhältnis von Kirchen und Öffentlichkeit dagegen in einem solchen Maße, dass man schon bald die Aufregung um diese Stern-Aktion nicht mehr nachempfinden konnte. Die Alltagssprache wie auch der öffentliche Diskurs hatten sich schon längst daran gewöhnt, den Marktbegriff in allen möglichen Zusammenhängen zu verwenden. Verwunderlich ist das nicht: Nach dem Ende des Sozialismus und dem Triumph des Kapitalismus gewöhnte man sich zunehmend daran, die innere „Eigenlogik“ der Institutionsbereiche der Gesellschaft – von der Wirtschaft selbst über den Sport bis hin (wie wir erst jüngst immer deutlich zu spüren bekommen) zu Universitäten und Wissenschaft – nach dem Muster der Wirtschaftsunternehmen zu fassen: Als kollektive Akteure, deren Ziele als „Produkte“ gefasst werden, die auf einem Markt mit anderen Produkten (und kollektiven Akteuren) um den möglichst großen Erfolg bei möglichst geringem Einsatz konkurrieren. Im alltäglichen Sprachgebrauch (der durchaus auch das Feuilleton gehobener Zeitschriften prägt) wurde Markt auch bald zu einer Metapher für jede Situation der Konkurrenz. Deswegen ist vom Markt der Religion häufig in einem metaphorischen Sinn die Rede. Aspekte des metaphorischen Quellbereichs werden auf den Zielbereich Religion übertragen, ohne den Zielbereich selbst einer Betrachtung zu unterziehen. Damit wird zwar Verständlichkeit erzeugt in einer Kultur, die zu wissen glaubt, was „Markt“ bedeutet, eine Analyse allerdings der Religion wird so gerade unterlassen. Wenn wir von der „metaphorischen Religion“2 reden, sollten wir nicht verschweigen, dass die metaphorische Übertragung auch in die andere Richtung vorgenommen wird: der Markt (oder auch „der Kapitalismus“, „das Geld“, „die Medien“) wird zur „Religion“ erklärt. Dadurch glaubt man die kulturelle Signifikanz dieser Phänomene verständlich machen zu können, unterschlägt aber gerade die zentrale Frage, was denn die „eigentlichen“ Religionen von diesen Kulturphänomenen unterscheidet (also z.B. jene besondere Form der Transzendenz, die die historischen Religionen auszeichnet). Damit soll nicht bestritten werden, dass der Markt für viele Menschen mit handlungsleitendem Sinn verbunden ist. Doch bezeichnen wir diese Art von Sinn gemeinhin nicht als Religion, sondern als
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Der Begriff der metaphorischen Religion wurde von Jean Sequy geprägt, der ihn aus einer WeberLektüre entwickelt (Vgl. Séquy 1989).
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Kultur. Nur für sehr wenige Menschen ist der Markt in der Tat auch so etwas wie eine quasi-religiöse Sinngebung.3
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Das ökonomische Marktmodell der Religion
Im Unterschied zum metaphorischen Begriff gibt es auch einen im engeren Sinn ökonomischen Begriff des Marktes der Religion. Dieser geht, soweit ich sehe, nicht auf einen Ökonomen zurück, sondern auf den Religionssoziologen Peter Berger, der schon 1965 ein „Marktmodell der Religion“ entwickelte, das er, zusammen mit Thomas Luckmann (1967/1991), in der Folgezeit zu einem wesentlichen Bestandteil einer Religionssoziologie ausbaute. Dass Berger und Luckmann vom Markt sprachen, hängt mit ihrer Diagnose der Privatisierung der Religion zusammen, also der Verlagerung der Religion in die Privatsphäre. Erst diese Verlagerung ermöglicht es, dass das Verhältnis der Menschen zur organisierten Religion überhaupt als Nachfrage erscheinen kann. Eine zweite Voraussetzung für diese Entwicklung ist die (auch als quasi evolutionäre „Differenzierung“ beschriebene) institutionelle Spezialisierung der Religion: Religion gilt nicht mehr als alle anderen Institutionen umfassende Legitimationsinstanz, sondern als ein Institutionsbereich neben anderen (Wirtschaft, Politik, Recht), der eine eigene „Funktion“ hat (bzw., in der metaphorischen Rede, ein eigenes „Produkt“).4 Wie Berger zeigen konnte, erfolgte der Eintritt in die unterschiedlichen konfessionellen Denominationen aufgrund der besonderen Leistungen, die sie für die Einzelnen bzw. für Paare und Familien erbringen: Kindergartenplätze, soziale Kontakte oder Prestige gehören für die Mitglieder auf die „Haben-Seite“, die sie zum Eintritt motivieren. Der Kern des Bergerschen Marktmodells der Religion besteht darin, dass einzelne Organisationen als Anbieter betrachtet werden, die ihren Kunden Angebote unterbreiten. Die großen Kirchen, Denominationen und Sekten stellen sich dem Wettbewerb mit kleineren und randständigeren religiösen Gemeinschaften und konstituieren durch diesen Wettbewerb die Religion als einen Markt. Dies kann zwar zu einem „Massenangebot“ führen, doch kann sich im religiösen Be3
Dies gilt etwa (auch hierzulande) für den sektenartigen „charismatischen Kapitalismus“, der sich religiöser Kommunikationsformen bedient (Biggart 1989). 4 Die Privatisierung der Religion ist also eine Folge des gesamtgesellschaftlichen Differenzierungsprozesses, in dem sich nicht nur die Wirtschaft, sondern auch andere gesellschaftliche Teilbereiche verselbständigen. Deswegen ist die berühmte These von Casanova (1994), die auf andere, vor allem politische Institutionsbereiche einwirkende „public religion“ widerspreche der Privatisierungsthese, keineswegs triftig. Privatisierung ist nicht der Gegenbegriff zur „Öffentlichkeit“, sondern eine Folge der Spezialisierung der Religion, die als eigener Institutionsbereich natürlich mit den anderen interagieren kann.
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reich auch eine Differenzierung des Angebots und der Nachfrage einstellen: Wenn die Angebote große Unterschiede aufweisen, sind auch die ‘Kunden’ dieser ‘Firmen’ in ‘Marktsegmente’ von Gruppen unterteilt, die ähnliche religiöse Präferenzen haben und sich im Sinne des Prinzips der Nutzenmaximierung an ihnen orientieren. Wie auch Stark und Bainbridge (1985) zeigen, neigen beispielsweise Angehörige höherer Schichten zu Religionen, die weniger Ansprüche stellen und besser in die Gesellschaft integriert sind als Angehörige benachteiligter sozialer Gruppen. Wie man sieht, entwickeln sich diese Vorstellungen des religiösen Marktes vor allem in den Vereinigten Staaten, in denen die religiöse Konkurrenz eine große Rolle spielt. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass es auch in den Vereinigten Staaten war (bezeichnenderweise kurz nach dem Fall der Mauer), wo die ökonomische Vorstellung des Marktes einen solchen Durchbruch erlebte, dass man sie gerade als „neues Paradigma“ der Religionssoziologie bezeichnete. Sie beruft sich nicht nur auf den Markt als eine besondere Art der institutionellen Regulierung von Religion; sie betont vor allem die Rolle des utilitaristischen Handelns im Bereich der Religion. Es wird also angenommen, dass sich Menschen beim Handeln immer am ökonomischen Prinzip der Nutzenmaximierung orientieren (Iannaccone 1992; Finke und Stark 1992): Individuen gewichten ihre Entscheidungen nach den antizipierten Kosten und Erträgen ihrer Handlungen so, dass sie ihre Nettoerträge maximieren. Das gilt, so wird behauptet, auch in der gleichen Wiese für die Religion. Ihre Besonderheit besteht lediglich darin, dass für die diesseitigen Einsätze (finanzielle Unterstützung, aktive Beteiligung, Zeitaufwand und Einsatz für religiöse Organisationen) jenseitige „übernatürliche“ Erträge angeboten werden. Im Unterschied zu weltlichen Waren versprechen Religionen ewiges Leben, Erlösung, Heil oder den Frieden auf Erden. Weil diese Waren in dieser Welt unerhältlich sind, beruht Religion in besonderem Maße auf Vertrauen und bedarf besonderer Sicherheiten. Das Vertrauen wird dadurch hergestellt, dass Religion in Gemeinschaften Gleichgesinnter organisiert wird, die um so mehr Sicherheit geben, je weniger persönlichen, diesseitigen Gewinn sie aus der Religion ziehen und je mehr Einsatz sie erfordern: strenge Kleidungsvorschriften, Speiseverbote, Alkoholverbote, Kopfrasuren und Heiratsvorschriften erhöhen das Vertrauen und verhindern, dass „Schwarzfahrer“ die Vorzüge der religiösen Gemeinschaft nutzen können, ohne selbst einen eigenen Beitrag zu leisten. Daraus erklärt sich auch der Unterschied zwischen verschiedenen religiösen Organisationen, der an den Extremen von Kirchen und Sekten illustriert werden kann: Kirchen bieten ein allgemeines, pauschales religiöses Angebot gegen wenig diesseitiges ‘Entgelt’; Sekten errichten dagegen hohe Barrieren für den Eintritt, bieten dafür aber auch „sicherere“ übernatürliche Kompensationen. Weil sie größere Anforderungen an ihre Mitglieder stellen, stehen
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Religionen, die große und sichere Versprechungen bzw. „Kompensationen“ im Jenseits anbieten, allerdings auch in größerem Konflikt zur Gesellschaft als Religionen, die weniger „Kompensationen“ versprechen. Abbildung 1:
Marktmodell 1 (Offenes Modell)
Quelle: Eigene Erstellung
Auf der Grundlage solcher Kalküle, so wird von den Vertretern dieses Ansatzes behauptet, sei nicht nur das Funktionieren des Marktes der Religion zu erklären, dieses Modell sei auch in der Lage, das Wachstum der Religion durch die auf dem Markt herrschende Konkurrenz zu erklären – und ebenso die Stagnation durch „monopolistische“ Marktsituationen. Als Beispiel kann die (im Grunde schon aus der Untersuchung der religiösen Diaspora bekannte) Beobachtung dienen, dass Gesellschaften, in denen der Katholizismus eine Monopolstellung einnimmt, einen enormen Priestermangel aufweisen. So kommen in Argentinien durchschnittlich zwei Priester auf 100.000 Einwohner, in Kolumbien 1,3 und in Brasilien 1,1. In Gesellschaften mit einer starken religiösen Konkurrenz, in denen Katholiken eine Minderheit bilden, nehmen weitaus mehr Menschen die hohen persönlichen Kosten des katholischen Priesterberufs auf sich: in Kanada sind es 10,8, in den USA 10,9 und in England sogar 14,3 pro 100.000 Katholiken (vgl. Iannaccone 1992). Solche Unterschiede zeigen sich sogar innerhalb von Gesellschaften. So weisen die amerikanischen Diözesen mit dem geringsten Anteil an Katholiken in der Bevölkerung die höchste Zahl an Priesterweihen auf. Ähnliche Ergebnisse finden sich auch etwa hinsichtlich der Fragen, wie groß der
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Anteil der Kinder ist, die auf kirchliche Schulen geschickt werden, wie viele Menschen kirchliche Zeitschriften abonnieren usw. 5 (zur Veranschaulichung des Marktmodells siehe Abbildung 1). Religiöse Anbieter stellen verschiedene Angebote zur Verfügung, die von Nachfragern nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül abgerufen werden. Je mehr Nachfrage entsteht, umso mehr Angebote kommen auf den Markt, und zwar einander ähnliche Angebote (1, 1’, 1’’etc) wie auch neue Angebote (1, 2, 3). Die Kommunikation übernimmt dabei die zentrale Aufgabe der Information über die Angebote, ohne die ein großer, anonymer Markt nie funktionieren könnte. Gerade an dieser Stelle beginnen jedoch die Probleme mit diesem Ansatz (und für einen so gefassten Markt): Die Annahme nämlich, dass Kommunikation auf dem Markt nur dazu diene, „Informationen“ über Angebote sich auf dem Markt zu vermitteln, stellt eine ökonomische Vereinfachung dar. Wir wissen, dass Nachfrage auch und sehr wesentlich über die symbolische Bedeutung geregelt wird, die Produkten durch Kommunikation (z.B. durch Werbung) verliehen wird und die den Wert der Produkte wenn schon nicht erzeugt, so doch immens steigern kann. Beziehen wir diese symbolische Bedeutung aber mit in unsere Überlegungen ein, dann genügt dieses Modell der Religion als eines Marktes nicht mehr.
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Das sozial-symbolische Modell des Marktes
Schon Marcel Mauss hat in seinem berühmten Essay über die Gabe gezeigt, dass selbst der Warentausch nicht nur eine „rein“ wirtschaftliche Transaktion ist, sondern immer auch Teil und Baustein sozialer Beziehungen. Neben dem „Zweck“ gibt es immer auch einen symbolischen Sinn, der selbst in der Transaktion vermittelt wird. Bekanntlich wurde diese Beobachtung von Pierre Bourdieu (1992) fortgeführt, der sie als Grundlage für eine Ausweitung des Marktkonzeptes nimmt. Märkte werden nicht einfach von Einzelinteressen getragen, die sich wunderbar durch eine „unsichtbare Hand“ zusammenfügen. Zwar kann das ökonomische Modell die Lebendigkeit etwa der amerikanischen Religiosität erklären. Warum aber gerade im religiös vom Katholizismus als „Monopolreligion“ beherrschten Polen oder Irland die Religion so blüht, lässt sich erst verstehen, wenn man Märkte als etwas ansieht, das ganz wesentlich vom Wettstreit sozialer Interessen geprägt ist, in denen es immer auch um Prestige, Macht und damit „symbolisches Kapital“ geht. 5
Allerdings wirft etwa Bruce (1999) den vorderhand imponierenden empirischen Argumenten der Vertreter dieses ökonomischen Modells vor, sie seien fehlerhaft und unhaltbar.
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Bourdieu hat vielfach gezeigt, dass dieses Marktmodell keine bloße theoretische Konstruktion ist, sondern für die Kunst ebenso zutrifft wie für die Sprache – oder eben die Religion (Bourdieu 2000). In diesem Abschnitt möchte ich dieses Modell skizzieren, das, wie ich behaupte, neben dem ökonomischen Modell wirkt. Der Markt ist für ihn ein Institutionsbereich, auf dem etwas (zu dem auch Wissen und religiöses Wissen gehört) gegen Geld oder Leistungen ausgetauscht wird. Der Markt ist ganz wesentlich von Institutionen geprägt. Um sich die Rolle dieser Institutionen klar zu machen, hilft nicht nur ein Blick auf die Rolle der Diakonie und der Caritas – immerhin Europas größte nicht-staatliche Arbeitgeber. Man sollte sich auch vor Augen führen, dass der so genannte „freie Markt“ der Religion nur dann funktionieren kann, wenn rechtliche Regelungen die religiösen Angebote als „freie Angebote“ regulieren – und wenn religiöse Angebote als solche definiert werden können. Die Wirkung von Institutionen und des symbolischen Kapitals zeigt sich, wie gesagt, schon im Wirtschaftsbereich: Selbst die Privatisierung der wirtschaftlichen Nachfrage basiert auf einer sehr massiven rechtlichen „Regulierung“ der Religion, die nun ja nicht mehr im Raum anderer Institutionen auftreten darf. Wie immer man von einem Markt reden kann – er ist nicht „frei“, sondern selbst ein Produkt gesellschaftlicher (politischer, rechtlicher, institutioneller) Regulierungen, die sich nicht nur auf den Wert, sondern auch die Art von „Waren“ und ihre Rubrizierung beziehen. Gerade mit Blick auf die Religion müssen unterschiedliche Formen der Regulierung und damit der institutionellen Rolle der Religion in unterschiedlichen Gesellschaften besonders beachtet werden. Während wir in vielen europäischen Staaten eine enge Verknüpfung der institutionalisierten Religion mit dem politischen System und damit dem Staat haben (der viele Aspekte der Religion rechtlich regelt, Aufgaben der religiösen Institutionen übernimmt und ihnen staatliche Aufgaben überlässt6), zeichnen sich zum Beispiel die Vereinigten Staaten durch eine vergleichsweise geringe staatliche Regulierung und die Ausbildung starker Marktmechanismen aus.7 Diese Marktmechanismen beruhen übrigens auch darauf, dass die religiösen Organisationen dort 6
Zum Vergleich verschiedener Verhältnisse von Staat und Religion siehe Pollack (2003). Diese Unterschiede werden in einen Zusammenhang mit der religiösen Dynamik gebracht: Das Christentum, insbesondere in Gestalt des Evangelikalismus, der Pfingstbewegung und der charismatischen Bewegung, wächst in Nord- und Südamerika sowie in Teilen Afrikas und Asiens, der Islam gewinnt mehr und überzeugtere Anhänger und auch der Neohinduismus verschärft sich. Allerdings bleiben weite Teile Europas von diesem Trend ausgenommen. Wie auch die Debatten um das Kreuz in der Schule, den Religionsunterricht oder das Kopftuchverbot zeigen, wird die Religion aus der öffentlichen Sphäre nach wie vor ausgegrenzt (und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft oder in den Medien). Man kann auch nicht behaupten, dass Religion – im Sinne der als religiös definierten Institutionen – zunehme. Ganz im Gegenteil bleibt die Religion (als „öffentliche“ Religion) in unseren Breiten deutlich auf dem Rückzug (vgl. Knoblauch 2002). 7
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auch als eigenständige kommunikative Medienorganisationen (und damit auch richtige Marktpartner) auftreten können – und damit der Religion auch in den gesellschaftsweiten Diskursen traditionell sehr viel mehr symbolisches Gewicht verliehen wird.8 Dieses Gewicht bezieht sich nicht nur auf das, was kommuniziert wird, sondern auch auf die kommunizierenden Institutionen, die eine eigene Legitimität besitzen, das Religiöse definieren zu können. Dies trifft sicherlich auf die Vereinigten Staaten zu. Für unsere Breiten indessen kann man kaum behaupten, dass die religiösen Institutionen, die die Legitimität besitzen, das Feld der Religion zu definieren, in einer wirklich marktförmigen Konkurrenz stehen. Damit haben wir zwar keinen „freien“ Markt, wir können aber mit Bourdieu durchaus von einem Markt in einem anderen Sinne reden. Denn es herrscht durchaus ein Kampf um die Legitimität der Definition dessen, was Religion ist: Kirchen kämpfen mit Sekten und neuen religiösen Bewegungen um Anerkennung; erst diese Anerkennung bzw. Legitimität ermöglicht es, das symbolische Kapital des Feldes (als „Religion“) gegen andere Kapitalien einzutauschen: Bildungsabschlüsse theologischer Fakultäten, Steuereinnahmen durch den Staat, finanzielle Unterstützung durch Unternehmen oder, im Falle der „freien Wirtschaft“, Bezahlung von religiösen Leistungen durch die Gläubigen. Die Andeutung der Wirtschaft als eines benachbarten institutionellen Feldes in Abbildung 2 soll diese Interaktion zwischen den Feldern illustrieren. Die Darstellung des zweiten Modells soll keineswegs das erste Modell widerlegen. Vielmehr besteht die These dieses Beitrags darin, dass (mindestens) beide Modelle gleichzeitig am Werke sind. Der erste Markt wird geprägt von der Konkurrenz der religiös verfassten Organisationen. Wie schon der Vergleich zwischen Europa und den USA zeigt, ist diese institutionelle Verfasstheit jedoch recht unterschiedlich. Im europäischen Falle haben wir es hauptsächlich (aber nicht nur) mit großen Kirchen zu tun, die das ökonomische Modell nur schwach zur Entfaltung kommen lassen.9 In den Vereinigten Staaten treten vor allem Denominationen als Akteure auf, die geradezu durch Konkurrenz definiert sind.
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Es ist interessant, dass die Kirchen hierzulande mit ihren „medialen“ Ablegern große und dabei vor allem ökonomische Schwierigkeiten haben. 9 Wie eingangs bemerkt, wird dieses Modell jedoch von den hiesigen Kirchen durch die Ökonomisierung gestärkt, so dass sie selbst erst die Art von „Markt“ schaffen, von dessen Existenz sie wegen des ungeklärten Marktbegriffes ausgehen. Eine der wahrscheinlichen und vermutlich unbeabsichtigten Folgen dieser Maßnahme wird dann auch sein, dass sich die Kirchenmitglieder so verhalten werden, wie sie es solchen zweckrational wirkenden Organisationen gegenüber tun: wie Kunden.
82 Abbildung 2:
Hubert Knoblauch Marktmodell 2 (institutionelles Modell)
Quelle: Eigene Erstellung
Dabei sollten wir die religiöse Verfassung keineswegs nur auf die rechtlichen Aspekte beschränken. Zwar wird die Legitimität religiöser Institutionen aus der Perspektive des Staates (der, wie vor allem in den USA auch im Bereich der Religion spürbar, das Gewaltmonopol hat) rechtlich legitimiert. Aus soziologischer Perspektive aber ist mindestens ebenso wichtig, ob dieser Anspruch, eine „Religion“ (also eine als Religion anerkannte Organisation) zu sein, von den anderen Institutionsbereichen (Wissenschaft, Erziehung, Wirtschaft etc.) anerkannt wird. Und schließlich ist für die Legitimität die Anerkennung durch die Gesellschaftsmitglieder zentral: Damit die Religion als Markt funktioniert, müssen auch sie anerkennen, dass die Anbieter auf diesem Markt die Religion definieren. Genau dies wird durch das zweite Modell thematisiert, das deutlich macht, dass die Definition des religiösen Feldes nicht ein für allemal von den rechtlich verfassten und institutionell anerkannten Anbietern repräsentiert wird. Der Umstand, dass „Religion“ auch durch die Gesellschaftsmitglieder anerkannt werden muss, schafft die Möglichkeit für „Heterodoxien“ und damit neue Anbieter auf dem Markt, die zunächst gar keinen Anspruch auf „Religion“ erheben dürften. Der zweite Markt wird gebildet durch die Konkurrenz um die Legitimität als Religion. Auch auf diesem Markt ist die Dynamik im amerikanischen Raum weitaus größer. Deswegen verwundert es nicht, dass die meisten dieser heterodoxen „Innovationen“ der letzten Jahrzehnte aus dem amerikanischen Raum stammen.
Märkte der populären Religion
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Gleichwohl zeigten die hiesigen Debatten um „Jugendreligionen“, „New Age“, „Okkultismus“, „VPM“ oder „Scientology“, dass auch hierzulande auf diesem Markt eine gewisse Dynamik herrscht. Wie am unteren Ende der Grafik aber schon angedeutet, erschöpft sich die Dynamik keineswegs auf die beiden begrenzten Märkte. In der Tat beobachtet schon Bourdieu die „Auflösung“ des von ihm skizzierten „Feldes der Religion“: „Heutzutage besteht also ein unmerklicher Übergang von den Geistlichen alten Schlags (innerhalb deren ein Kontinuum vorliegt) zu Mitgliedern von Sekten, Psychoanalytikern, Psychologen, Medizinern (Psychosomatikern, Heilpraktikern), Sexologen, Lehrern diverser Formen des körperlichen Ausdrucks und asiatischer Kampfsportarten, Lebensberatern, Sozialarbeitern. Alle sind Teil eines neuen Feldes von Auseinandersetzungen um die symbolische Manipulation des Verhaltens im Privatleben um die Orientierung der Weltsicht […]“ (Bourdieu 1992, S. 233).
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Der Schwarzmarkt der populären Religion
Die von Bourdieu konstatierte „Auflösung des religiösen Feldes“ führt in eine Situation, die schon Luckmann (1967/1991) als „unsichtbare Religion“ bezeichnete: Die Religion verändert ihre soziale Form auf eine so grundlegende Weise, dass sie gar nicht mehr als Religion erkennbar sein muss. Für unser Thema ist das deswegen von Bedeutung, weil auch diese unsichtbare Religion im Sinne Luckmanns einen „Markt“ ausbildet. Auf diesem Markt geht es jedoch nicht mehr um die Konkurrenz von religiös verfassten Organisationen oder um die Konkurrenz von Organisationen um die Legitimität der Religion, sondern um einen Markt, auf dem „die Religion“ überhaupt nicht mehr den leitenden Wert darstellt. In diesem metaphorischen Sinne können wir denn auch von einem „Schwarzmarkt“ reden: In Konkurrenz treten hier traditionell religiöse Sinndeutungen mit politischen Weltanschauungen, mit ästhetischen Attitüden (man denke nur an die Vielfalt der jugendkulturellen Symbolsysteme), mit dem Sport oder mit anderen Formen von Gesinnungen (Ökologie, Tierschutz usw.). Diese Konkurrenten stellen keine Religion im Sinne eines thematisch organisierten sozialen Institutionsbereichs dar. Sie können aber, und darauf scheint es anzukommen, die Funktionen der Religion für die Individuen erfüllen. Und dies gelingt ihnen aus einem Grunde, der selbst die Voraussetzung der anderen beiden Märkte darstellt: der Privatisierung. Privatisierung bedeutet keineswegs einen Rückzug in
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eine unöffentliche Privatsphäre.10 Gerade die vermeintlichen „Medienreligionen“ machen ja sehr deutlich, wie sehr das Private öffentlich und dieses veröffentliche Private zu einem leitenden Sinn werden kann. Privatisierung bedeutet zum einen, dass die Einzelnen – im Sinne des modernen politischen und Wirtschaftsmodells – selbst darüber entscheiden, was für sie wichtig und von letzter Bedeutung ist. Privatisierung bedeuten aber zum anderen auch, dass zunehmend diejenigen Themen letzte Bedeutung annehmen, die das Leben der einzelnen Person betreffen. Diese Privatisierung der Religion wird durchaus treffend mit dem Begriff der Spiritualität erfasst, der mehr und mehr an die Seite, zuweilen sogar an die Stelle der „Religion“ tritt (Knoblauch 2006). Privatisierung muss keineswegs „Individualisierung“ bedeuten, lässt sich die Privatsphäre durchaus auch kollektivistisch gestalten. Vor allen Dingen aber ist sie nicht identisch mit der Individualisierung, weil sie in der Thematisierung des Einzelnen sehr wesentlich am Schlauch des Kollektivs hängt.11 Quelle und Medien dieser „unsichtbaren Religion“ sind die öffentlichen Diskurse der Massenmedien, der interaktiven Foren und Blogs, aber auch der öffentlichen Kommunikation. Deswegen ist diese „unsichtbare Religion“ auch gar nicht unsichtbar, sie ist höchst sichtbar. Ich ziehe deswegen die Bezeichnung der „populären Religion“ vor (Knoblauch 2000). Im Unterschied zu den anderen beiden Märkten besteht das wesentliche Merkmal dieser populären Religion in der religiösen Kommunikation. Das bedeutet, dass hier keine als religiös markierten Organisationen (Kirchen, Sekten etc.) auftreten müssen, es muss auch nicht um die Legitimation als Religion gehen; hier kann religiöse Kommunikation (in den im kollektiven Gedächtnis verankerten Formen und Inhalten) durchgeführt werden, die weder institutionell noch aus dem subjektiven Verständnis heraus als religiös markiert wird bzw. mit den religiösen Institutionen in Verbindung gebracht werden muss. Zwar bemühen sich Weltjugendtage oder Kirchentage nach Kräften, die religiösen Züge ihrer Veranstaltungen erkennbar zu halten (was jedoch nicht immer gelingt), die von ihnen eingesetzten populären Kommunikationsformen treten jedoch auch an anderen Stellen der populären Kultur auf: Das Bekenntnis ebenso wie das Event, die Besinnung ebenso wie die kollektive „Efferveszenz“. Ja noch mehr: die Ars moriendi, die Kunst und Anleitung zum guten Sterben, ist heute eher ein Thema der nichtreligiös markierten Kommunikation, und selbst die Tiefendimension der urchristlichen Liebe scheint, so darf man fürchten, in ihrer Komplexität heute mehr von der Populärkultur vermittelt als von den Kirchen. 10
Deswegen täuscht sich m. E. auch Casanova (1994) in seiner Kritik am Privatisierungsbegriff: Die Privatisierung grenzt sich nicht gegen die Öffentlichkeit, sondern gegen die gesellschaftlichen Funktionssysteme ab. 11 Das gilt, wie Roy (2002) zeigt, durchaus auch für den Islam.
Märkte der populären Religion
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Freilich kann kein Zweifel bestehen, dass es sich hier nicht mehr um „Religion“ handelt – wenn man darunter bestimmte soziohistorische Erscheinungsformen des Sakralen fasst. Gleichwohl besteht auch kaum mehr ein Zweifel, dass diese „populäre Religion“ in einer gewissen Konkurrenz steht zu dem, was auch im engeren Sinne als Religion gilt. Diese Religion kämpft, so könnte man schließen, auf mehreren Märkten, und dies tut sie, weil die Religion eben auch ein sehr vielschichtiges Gebilde ist (vielschichtiger jedenfalls als die Ökonomie): Auch wenn sie mittlerweile durchgängig (selbst im Islam) eine privatisierte Kundschaft voraussetzt, hat sie es im einen Fall (idealtypisch) mit rationalen Nachfragern, im zweiten Fall mit dem nach sozialer Anerkennung strebenden Homo religiosus und im dritten Falle mit den Menschen, die neben jeder Ökonomie und Soziologie noch Subjekte ihres Lebens sind, zu tun.
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Populäre Kultur und populäre Religion
Die populäre Religion, die ich schildern will, zeichnet sich in der Tat dadurch aus, dass sie sich nicht mehr auf das Feld der religiösen Institutionen beschränkt. Ihre Ausweitung über die Grenzen des Feldes hinaus verdankt sie vor allem der Ausbildung einer populären Kultur – ein Begriff, den wir aus dem Englischen übernahmen. Im Englischen wird unter populärer Kultur zunächst das verstanden, was wir auch als „Volkskultur“ kennen: Es ist die Kultur der einfachen Leute, zumal der Bauern, die sich vor allem von der höfischen Kultur des Adels unterscheidet. Die Industrialisierung führt wiederum in Großbritannien dazu, dass sich eine eigenständige Kultur der Arbeiterschaft entwickelt, als deren Gegenstück die Kultur der Bürger auftritt. Die populäre Kultur der Arbeiterschaft bringt nicht nur eine eigene materielle Kultur hervor, sondern auch eine eigene Literatur und eine eigene populäre Musik – wie wir ja durch den Import der populären Musik aus dem angelsächsischen Raum schon vor Jahrzehnten erfuhren (Hoggart 1958). Auch wenn in Deutschland ein stark vom Kulturbürgertum geprägtes Milieu bestand, spielte der deutliche Kontrast zu den Arbeitern hier eine geringere Rolle. Dieser Kontrast verlor sich auch in der zunehmenden Vermarktung dieser populären Kultur, die sich seit den 1960er Jahren abspielte. Man begann von einer „Massenkultur“ zu reden, weil sie sich durch die Massenmedien enorm rasch ausbreitete. Dank einer zunehmenden Differenzierung der populären Kultur, die sich in viele Stile und Varianten aufteilte, hat sich diese Ausbreitung im Laufe der jüngeren Jahre bis weit in das hinein vollzogen, was heute noch als Bürgertum bezeichnet werden kann. Massenkulturelle Kulturgüter sind, wie Bourdieu (1982) in Frankreich und auch Schulze (1992) in Deutschland zeigen, zu einem zentralen Instrument der gesellschaftlichen Differenzierung ge-
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worden. Man kann vermuten, dass mittlerweile die populäre Kultur in der Gesellschaft eine ebenso große Bedeutung einnimmt wie die in den höheren Schulen vermittelte „Hochkultur“. In verschiedenen Kunstbereichen – vom Film über das Theater bis hin zur neu entdeckten Malerei – können wir zudem immer mehr Vermischungen und „Cross-overs“ zwischen den Restbeständen einer Hochkultur und der populären Kultur (z.B. Comics) erkennen. Die populäre Kultur verbreitet sich zwar aufgrund von Medien, muss jedoch keineswegs aus Medien bestehen. Abgesehen von materiellen Kulturgütern – etwa den Devotionalien der Fankultur – hat die populäre Kultur beispielsweise auch soziale Veranstaltungen kreiert, wie etwa „Events“, und sie dient häufig auch zur Bildung von kurzfristigen Gemeinschaften. Im Unterschied zu den Vorwürfen gegen die so genannte „Massenkultur“, die Konsumenten würden zu bloß passiven Rezipienten eines „manipulativen“ Angebots, zeigen neuere Studien vielmehr, dass die populäre Kultur eigentlich erst in der Art der aktiven Rezeption und Weiterverarbeitung der massenmedial vermittelten Angebote entsteht.12 Auch wenn die Medien also eine große Rolle spielen, ist die populäre Kultur deutlich mehr als nur mediale Kommunikation: Sie schließt die Formen des Umgangs mit den medial verbreiteten Produkten und ihrer subjektiven Aneignung mit ein – und bildet erst damit eine eigenständige Kultur. Die populäre Kultur zeichnet sich durch die vielfältigen Gemeinsamkeiten dieser Umgangsund der Aneignungsformen aus, die durch die gesellschaftsweite Kommunikation eine enorm große Verbreitung erhalten. Deswegen findet die populäre Kultur in allen kulturellen Feldern ihren Ausdruck – wie eben auch in der Religion. Im Unterschied zum Volkstümlichen ist das Populäre systematisch an Markt und Medien geknüpft. Es ist ein vom Markt und den Medien geschaffener Sinnraum für Gemeinsamkeiten – aber auch für Distinktionen (Grossberg 1999). Die populäre Religion, von der wir im Folgenden reden, ist nicht einfach „Teil“ einer populären Kultur. Kulturen sind ja nicht einfach Container, die sich in verschiedene Schubladen auffächern. Populäre Religion, so möchte ich betonen, ist eine Form der Religion, die einige Merkmale der populären Kultur teilt: Sie wird wesentlich von der Vermittlung durch moderne interaktive und Massenmedien getragen, sie folgt einem Marktprinzip und sie bedient sich der kommunikativen Formen der populären Kultur. Auch die populäre Religion ist nicht einfach eine Medienreligion. Sie findet ihren Ort ebenso in Treffen, Veranstaltungen und Events, in denen Menschen von Angesicht zu Angesicht aufeinander treffen. Die populäre Religion umfasst auch neue Ritualformen etwa von Begräbnissen. Neue Modelle des Jenseits oder der Besinnung können durchaus "medienreligiös" vermittelt werden – sofern sie 12
Das hat Willis (1990) vorbildlich am Beispiel der Jugendkultur gezeigt.
Märkte der populären Religion
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nicht als fiktiv erlebt werden. Man könnte sagen: populäre Religion wird in den Gattungen und Veranstaltungstypen der populären Kultur präsentiert, also in kommunikativen Formen, die nicht unbedingt als religiös erkennbar sind. Dagegen stehen die Themen oder Topoi, über die kommuniziert wird, für die Angehörigen der Kultur erkennbar in einer religiösen Tradition – ihre Topik bleibt also die der Religionen, in deren Tradition sie steht: die Frage nach dem Jenseits, der Transzendenz, die Erfahrungen des Numinosen, das Problem des Todes und des Lebens nach dem Tod. Dabei geht es nicht um „universale“ Themen der Religion – sofern es so etwas gibt. Es geht um Themen, die selbst für unreligiöse Menschen als zur Religion gehörig angesehen werden: um Themen, die im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft verankert sind – wenn auch in neuen Formen (und in einem neuen strukturellen Zusammenhang).13 Freilich behandelt die populäre Religion diese Themen nicht nach Art einer gelehrten und spezialisierten Theologie. Die populäre Religion vermittelt ihre Inhalte in den kommunikativen Formen des Journalismus, der Populär-Literatur und der urbanen Legende – eben in den Gattungen der populären Kommunikation, wozu natürlich auch die vielen anderen populären Gattungen anderer Medien, wie etwa die Fernsehreportage, die Talk-Show von Betroffenen und die „Meldung“ gehören. Kurz gesagt: Die populäre Religion behandelt Themen aus dem kulturellen Gedächtnis der Religion in nichtreligiösen kulturellen Formen und Kontexten. Die populäre Religion ähnelt damit durchaus der „Volksreligion“ oder „popularen Religion“.14 Damit werden etwa die Rituale des Tischgebets, des Zimmer- und Wandschmucks, Wahrsagerei oder Heilmagie, aber auch religiöse Massenphänomene, wie Wallfahrten oder Prozessionen und religiös inszenierte Feste bezeichnet, wie Taufe oder Weihnachten. Wie die populare Religion kann sich auch die populäre Religion sowohl auf magische wie auch im engeren Sinne religiös-transzendente Phänomene beziehen. Während jedoch die „Volksreligion“ als eine Religion der einfachen Leute erscheint (Ebertz und Schultheis 1986), die auf die legitime Religion bezogen ist (auch negativ als „Aberglaube“), ist die populäre Religion Teil einer breiten Kultur, die nicht entscheidend von der offiziellen Religion definiert wird (selbst wenn sie auch, was häufig geschieht, von ihren Mitgliedern geteilt wird). 15 Man kann dies als Ergebnis einer Entwick13
Das Problem der modernen, insbesondere europäischen Religion liegt also nicht, wie HervieuLéger meint, im Verlust dieser Tradition, sondern in der Transformation der Tradition durch neue Formen der Kommunikation (Vgl. Hervieu-Léger 1993, S. 119). 14 Der Begriff der popularen Religiosität stammt aus dem romanischen Raum („religion populaire“, „religiosità populare“). Im deutschsprachigen Raum ist er unter den Titeln Volks- und Aberglaube, Volksfrömmigkeit, Volksreligiosität bzw. religiöser Volksglaube bekannt, die sich jedoch wegen des vorbelasteten „Volks-“ und „Volkstumsbegriffs“ als problematisch erwiesen. 15 Das zeigt sich sehr deutlich, wenn man den angelsächsisch geprägten Begriff verwendet. Dort kann Religion etwas sein, das entweder in der populären Kultur (aber dann nicht mehr als Religion) auftritt
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lung sehen; so verstehen sich die alternativ-religiösen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre bis hin zum „New Age“ noch anfangs als „gegenkulturell“. Seit dem Ende der 1980er Jahre verliert sich dieser gegenkulturelle Zug jedoch mehr und mehr (Knoblauch 1989). In älteren Zeiten stand für solche Formen der Religion der Begriff des „Aberglaubens“ zur Verfügung. Besonders für die esoterischen, magischen und okkulten Lehren und Praktiken innerhalb der populären Religion legte sich dieser Begriff nahe, unterlagen sie doch schon gleichsam traditionell diesem Verdikt. Sofern der Begriff (der ja als Kampfbegriff dient) überhaupt benutzt werden kann, ist er selbst unter den Akteuren nur dann sinnvoll, wenn wir von einem sozial dominierenden Wissenssystem reden können, das in der Lage ist und über die Machtmittel verfügt, (in der Regel sozial untergeordnete) alternative Wissenssysteme als Abweichler zu etikettieren. Dies trifft auf die populäre Religion nicht zu, denn ihre Legitimität ist nicht von Experten abhängig, sondern besteht in ihrer Akzeptanz als breites Allgemeinwissen. Selbst die Kritik von Experten beeinträchtigt sie kaum, wie man etwa an der Persistenz von esoterisch ausgerichteten alternativ-medizinischen Praktiken und Vorstellungen erkennen kann, die sich selbst gegen die Attacken der „Schulmedizin“ bis tief in die Reihen der paramedizinischen und medizinischen Experten ausbreiten konnte.16 Der „Markt“ der populären Religion folgt damit anderen Prinzipien als die anderen beiden Märkte. Während es im ersten Fall um die Konkurrenz anerkannter religiöser Anbieter geht, dreht sich die Konkurrenz im zweiten Fall um die Anerkennung als religiös bzw. die Legitimation des Religiösen. In beiden Fällen bildet das Religiöse eine – zumindest institutionell – ausgegrenzte soziale Wirklichkeit, der – wenigstens prinzipiell – ein entsprechend ausgegrenzter heiliger Kosmos entspricht. Diese Trennung zwischen dem Sakralen und dem Profanen trifft schon aus strukturellen Gründen für die entgrenzte Religiosität der populären Religion nicht mehr zu. In diesem Sinne handelt es sich auch nicht mehr um Religion in einem engeren Sinn – wohl aber noch etwas wesentlich Religiöses17: Große Transzendenzen sind die leitenden Orientierungen dieser populären Religion, deren Religiosität weniger von den Institutionen, Märkten und Systemen, sondern von den Subjekten begründet wird.
oder etwas, das die populäre Kultur selbst zu etwas Religiösem verklärt oder etwas Religiöses, das in populäre Formen gegossen wird (Forbes und Mahan 2000). 16 Historisch gibt es hier sicherlich Übergangsformen, wie etwa in der Bekämpfung des Aberglaubens unter den Soldaten im Ersten Weltkrieg durch die militärische Führung und die Kirchen. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass schon diese Formen in vielen Fällen durch industrielle Produktion und massenmediale Propagierung gestützt wurden. 17 Zur Unterscheidung zwischen Religion und Religiösem vgl.Knoblauch (1991).
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Literatur
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Behinderung in der Werbung – zwischen Unsichtbarkeit und Provokation Jan D. Reinhardt und Felix Gradinger Jan D. Reinhardt und Felix Gradinger Behinderung in der Werbung – zwischen Unsichtbarkeit und Provokation Der Beitrag strukturiert das Thema Behinderung in der Werbung auf theoretischer Ebene sowie im Hinblick auf empirische Forschung. Dies geschieht durch eine Verknüpfung des von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten integrativen Rahmenmodells der Funktionsfähigkeit und Behinderung mit der Theorie der Inklusion und Exklusion. Ein daran orientierter Überblick über die Forschungslage konstatiert, dass diese als relativ unterentwickelt betrachtet werden muss. Die vorgeschlagene Strukturierung des Feldes ermöglicht jedoch die Entwicklung einer umfassenden Forschungsagenda unter dem Gesichtspunkt der massenmedialen Inklusion und Exklusion von Menschen mit Behinderungen.
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Einleitung
Die am 13.12.2006 von der Generalversammlung der United Nations (UN) verabschiedete „Convention on the Rights of Persons with Disabilities” (UN 2006) mit dem Zweck “to promote, protect and ensure the full and equal enjoyment of all human rights and fundamental freedoms by all persons with disabilities, and to promote respect for their inherent dignity” nennt in Artikel 8 (“Awareness-raising”) als Subziel u.a. “[e]ncouraging all organs of the media to portray persons with disabilities in a manner consistent with the purpose of the present Convention”. Damit wird (implizit) erkannt, dass Massenmedien in der modernen Gesellschaft zentrale Vermittlungsinstanzen von Realitäts- und Normalitätsvorstellungen sind, die über den in Interaktionen erlebbaren sozialen Nahraum hinausweisen, diesen aber zugleich mit (neuen) Bedeutungen anreichern (Luhmann 1996, Gerbner 2002). Medienbotschaften in Form von z.B. Werbeplakaten, Fernsehspots oder Musikstücken im Radio sind zumindest im abendländischen Kulturkreis derart omnipräsent, dass man ihnen kaum entgehen kann. Die Realität der Massenmedien stellt damit nolens volens einen bedeutsamen Hintergrund für Identitäts- und Differenzerfahrungen im Hinblick auf das eigene Selbst und andere Personen dar (Reinhardt 2006). In diesem Zusammenhang liefert die Wer-
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bung nicht nur Orientierungspunkte für Geschmacksbildung und Konsum. Sie (re-)produziert Idealvorstellungen von Normalität in Form von funktionalen und ästhetischen Identitätswerten. Ein zumindest ambivalentes Verhältnis von Werbung zu Behinderungen kann daher erwartet werden. Einerseits dient Werbung letztlich dazu Produkte zu verkaufen, und Menschen, die von Behinderungen betroffen sind, stellen mit schätzungsweise 600 Millionen Personen weltweit (WHO 2005) eine mögliche Zielgruppe für Werbemaßnahmen dar. Andererseits mag die realistische Darstellung von Behinderung in der Werbung die Gefahr bergen, ästhetische Standards anderer Konsumentengruppen zu verletzen, während vereinfachende oder humoristische Formate behinderte Menschen (ungewollt) diskriminieren können. Ebenso wie diskriminierende Darstellungen mag aber auch die Nicht-Behandlung von Behinderung in der Werbung auf Seiten behinderter Menschen Erfahrungen des Andersseins und der ästhetischen Minderwertigkeit gleichsam subkutan verstärken. Auf Seiten der (noch) nicht von Behinderungen betroffenen Bevölkerung mögen dagegen Gefühle des Fremd- und Außergewöhnlich-Seins von Behinderung ihren Nährboden finden, die wiederum zu Kontaktvermeidungsstrategien oder diffusem Mitleidsverhalten in Interaktionen mit behinderten Menschen beitragen können. Bereits an diesen beispielhaft angestellten hypothetischen Überlegungen lässt sich aufzeigen, dass das Thema Behinderung in der Werbung alles andere als eine exotische Spezialsoziologie repräsentiert. In ihm treffen sich vielmehr zentrale Fragen der Gegenwartssoziologie um Medien und Konsum, Inklusion und Exklusion, Identität und Alterität. Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation in der (post-)modernen Gesellschaft lassen sich geradezu prototypisch vorführen. Dennoch ist Behinderung in den Massenmedien und insbesondere in der Werbung – besonders im deutschsprachigen Raum – bislang nur gelegentlich ein Thema der öffentlichen Diskussion und noch seltener wissenschaftlicher Auseinandersetzungen gewesen. Eine deskriptive Bestandsaufnahme von Werbematerial, das Behinderung thematisiert oder Menschen mit Behinderungen als Fotomodelle einsetzt sowie systematische quantitative und qualitative Inhaltsanalysen sind so gut wie nicht vorhanden. Vor diesem Hintergrund strukturiert der Beitrag die oben angedeuteten Ambivalenzen des Themas Behinderung und Werbung. Dies geschieht durch eine Verbindung der Theorie der Inklusion und Exklusion (Luhmann 1995) mit dem konzeptionellen Rahmenmodell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF; WHO 2001).
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Strukturierung des Themas – Verbindung von ICF und Theorie der Inklusion und Exklusion
Mit der Verabschiedung der ICF (WHO 2001) auf der 54. Weltgesundheitsversammlung hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 22.05.2001) einen Meilenstein gesetzt. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als das erste weltweit akzeptierte biopsychosoziale Rahmenmodell der Funktionsfähigkeit und Behinderung (siehe Abb. 1). Ein dazugehöriges 1424 Codes umfassendes Klassifikationssystem kann zur international einheitlichen Erfassung von Funktionsfähigkeit und Behinderung in klinischen (Stucki 2005) und Public Health (Lollar et al. 2003) Kontexten eingesetzt werden. Zentrum des Modells ist die Funktionsfähigkeit (functioning) von Menschen mit Gesundheitsproblemen (health conditions). Funktionsfähigkeit (functioning) umfasst die Komponenten Körperfunktionen und -strukturen inkl. psychologischer Funktionen (body functions and structures), Aktivitäten (activities) und Partizipation (participation). Bei gegebenem bzw. nach der International Classification of Diseases (ICD 10) diagnostizierbarem Gesundheitsproblem liegt eine Behinderungserfahrung dann vor, wenn eine oder alle Komponenten der Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sind. Dies kann in Form von geschädigten (impaired) Körperfunktionen und -strukturen sowie Einschränkungen (limitations) von Aktivitäten oder der Partizipation (restrictions of participation) der Fall sein. Das WHO Modell berücksichtigt insbesondere, dass Erfahrungen von Behinderung auch bei ähnlichen diagnostizierten Gesundheitsproblemen in Folge kontextueller Einflussgröβen erheblich variieren können, und hebt sich damit wesentlich von dem Vorgängermodell ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps, 1980) ab. Den Kontext von Funktionsfähigkeit oder Behinderung stellen sog. Umweltfaktoren und personale Faktoren dar. Umweltfaktoren reichen von klimatischen Bedingungen über Gebäudearchitektur und Transportsysteme bis zu gesellschaftsweiten Einstellungen, Gesetzen und Politikansätzen. Sie sind dem Individuum extern und können hinderliche oder förderliche Faktoren in Bezug auf die Funktionsfähigkeit darstellen. Ein Bus ohne Neigetechnik oder Rampe stellt z.B. einen hinderlichen und damit behindernden Faktor für einen Rollstuhlfahrer dar, während ein umgebautes mit Handgas und -bremse steuerbares Kraftfahrzeug ein Förderfaktor sein kann, der Funktionsfähigkeit in Hinblick auf Mobilität erhält oder wiederherstellt. Die Soziologie kann insbesondere mit Mitteln der Theorie und Analyse von Sozialstruktur und Kultur und ihrer Auswirkungen auf unterschiedliche Ebenen der Gesellschaft wie Interaktion, Organisation und Funktionssystem einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis von Umweltfaktoren leisten.
94 Abbildung 1:
Jan D. Reinhardt und Felix Gradinger Das Rahmenmodell der ICF
Quelle: WHO 2001, 18.
Personale Faktoren sind gegenüber Umweltfaktoren untrennbar mit dem Leben oder der Lebensführung eines Individuums verbunden bzw. werden entsprechend zugeschrieben. Personale Faktoren sind bis dato nicht in der ICF klassifiziert. Als Beispiele werden aber unter anderem Geschlecht, Alter, Bildung, CoMorbidität, Bewältigungsstrategien, Lebensstile und -erfahrungen sowie Charakterzüge genannt. Als soziologische Instrumente zur Modellierung personaler Faktoren erscheinen z.B. Rollentheorie, Sozialisationstheorie und Habituskonzept (Bourdieu 1979) geeignet. Die Gesellschaft kommt in dem ICF-Modell explizit im Grunde dreimal vor: 1) als Partizipation (also Inklusion) von Individuen mit bedeutsamen Implikationen für partizipative Identitäten (Hahn 1997), 2) in den strukturellen und kulturellen Umweltbedingungen der Funktionsfähigkeit oder Behinderung, und 3) in der Enkulturation der Individuen und der damit verbundenen Formung und Zuschreibung personaler Faktoren. Indirekt können soziale Prozesse und Strukturen, z.B. durch Disstress infolge unangemessener Gratifikationsmodelle (Siegrist 2005), auch mit den anderen Komponenten in Verbindung stehen. Auch die Massenmedien sind in der dem Rahmenmodell zugeordneten Klassifikationsstruktur der ICF vorgesehen: explizit subsumiert unter Umweltfaktoren als Mediendienste, -systeme und -politik, implizit z.B. in dem den Komponenten Aktivitäten und Partizipation zugeordneten Kapitel Kommunika-
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tion. Mögliche Auswirkungen der (Nicht-)Teilhabe an Massenkommunikation und der Art und Weise der Gestaltung von Medientexten und -bildern auf die Behinderungserfahrung sind hiermit allerdings nicht impliziert, so dass es erweiterter theoretischer Arbeit bedarf. Für eine erste Strukturierung des Themas bietet sich die (System-)Theorie der Inklusion und Exklusion an (Luhmann 1995). Diese geht nicht wie die ICF von der Funktionsfähigkeits- oder Behinderungserfahrung aus, sondern nimmt ihren Ausgangspunkt in der Perspektive von Kommunikationssystemen. Inklusion meint dann den Tatbestand, dass Kommunikationssysteme wie soziale Gruppen, Organisationen, aber auch Funktionssysteme wie Politik oder Wirtschaft, Individuen oder soziale Gruppen als Teilnehmer oder Themen von Kommunikation berücksichtigen. Von Exklusion ist dagegen die Rede, wenn sich Kommunikationssysteme Indifferenz oder gar Intoleranz gegenüber Individuen leisten, woraus entsprechende Einschränkungen der Partizipation resultieren. Inklusion und Exklusion sind dabei nicht als statische Zustände, sondern als Prozesse aufzufassen (vgl. Stäheli 2004). Diese Perspektive ergänzt die ICF um einen Blickwinkel, der seinen Ausgangspunkt in der Gesellschaft nimmt: die individuelle Funktionsfähigkeit wird zur Umwelt der gesellschaftlichen Kommunikation. Über Möglichkeiten der Inklusion und damit Partizipation wird in der Gesellschaft entschieden, oder in der Sprache der ICF: Inklusion oder Exklusion verknüpfen gesellschaftliche (Umwelt-)Prozesse mit Partizipation. Es können vier verschiedene Formen der Inklusion und Exklusion unterschieden werden, die hier anhand der Massenkommunikation (vgl. für einen nutzungsorientierten Ansatz Jäckel 1999) kurz exemplarisch dargestellt seien: Leistungsrollen, Publikumsrollen, Thematisierung und Anschlusskommunikation (vgl. auch Luhmann 1981, Stichweh 1988). Nach Stichweh (1988: 261) lässt sich „[d]er Prozess der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems […] als eine charakteristische Sequenz von Schritten beschreiben. Er beginnt mit vereinzelt anfallenden Situationen funktional spezialisierter Kommunikation, setzt sich fort mit der Entstehung und Institutionalisierung spezialisierter Rollen, deren Definition zugleich als Identifikation des funktionalen Problembezugs gilt, und er findet einen eigentlich überraschenden Abschluss dadurch, dass zusätzlich zu den systemdefinierenden Leistungsrollen Publikumsrollen entstehen, die die Inklusion der Gesamtbevölkerung in das jeweilige Sozialsystem über komplementär zu den Leistungsrollen definierte Formen der Partizipation sichern.“
Wiederum komplementär hierzu ist die in Leistungsrollenkontexten selektierte Inklusion über die Thematisierung von Personengruppen und Rollenzusammenhängen in Kommunikationssystemen zu betrachten, die wiederum Anschluss-
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kommunikation auf Seiten des Publikums hervorbringen kann. Letztere mag wiederum auf Seiten der Leistungsrollen (nicht) antizipiert werden. Die Inklusion über sog. Leistungsrollen erfolgt über Karrieren, formale Mitgliedschaft und entsprechende Rollenzumutungen in Organisationen. Im Falle der Massenmedien geht es um die aktive Mitarbeit bei der Selektion publikationswürdiger Information und der Gestaltung entsprechender Mitteilungen. Freilich hat hier nicht jedes mitarbeitende Mitglied der Medienorganisation gleiche Einflusschancen. Insbesondere die sog. Gatekeeperforschung (vgl. Kepplinger 1989) hat hervorgehoben, dass es in Medienorganisationen spezifische Schlüsselpositionen gibt, die den Informationsfluss kontrollieren, und denen Letztentscheidungen darüber zugeschrieben werden können, wer oder was in den Medien thematisiert wird. Ein zweiter Modus der Inklusion bzw. Exklusion sind sog. Publikumsrollen. Hier ist einerseits zu berücksichtigen, dass massenmediale Organisationen ihre Kommunikationen im Hinblick auf Publika (vgl. Luhmann 1996) organisieren. Immer wird im Hinblick auf ein disperses Publikum (Maletzke 1963) entschieden, was gesendet, gedruckt usw. wird. So kann man sagen, dass die eigentliche Massenkommunikation über einen Code läuft, der zwischen Publikationswürdigkeit und Nicht-Publikationswürdigkeit unterscheidet (Reinhardt 2006). Entsprechende Publikumskonstruktionen setzen ihren Focus dann auf bestimmte Personengruppen wie Angehörige einer Nationalität oder spezifische Zielgruppen und exkludieren damit weite Personenkreise. Wissenschaftliche Studien zur Werbung haben z.B. immer wieder gezeigt, dass ältere Menschen trotz beachtlicher Kaufkraft häufig als Zielgruppe vernachlässigt werden bzw. worden sind (vgl. z.B. Thimm 1998, Ross/Healey 2002). Auf der anderen Seite sind mehr oder minder freiwillige Selbstinklusionen und -exklusionen möglicher Publika zu erwähnen (vgl. Bohn 2006). Von zentraler Bedeutung erscheinen hier Interessens- und Verstehensgrenzen generierende Sozialisationsschicksale und damit zusammenhängende Strukturprobleme wie Analphabetismus (vgl. Abadzi 2003). Als dritter Inklusions- bzw. Exklusionsmodus lässt sich die Thematisierung von Personen und Personengruppen (im Sinne von Merkmalsgruppen und nicht unbedingt im Sinne von sozialen Gruppen) anführen. Die Agenda-SettingForschung (McCombs/Shaw 1972, McCombs/Reynolds 2002) hat z.B. darauf hingewiesen, dass für die Thematisierung von Problemlagen weniger statistische sog. real world indicators als sog. trigger events eine Rolle spielen. Solche „trigger“ sind bspw. Katastrophen mit hohen Opferzahlen oder die Betroffenheit von Prominenten. Das bekannteste Beispiel ist hier wohl die massenmediale Thematisierung von AIDS im Zusammenhang mit der Erkrankung Rock Hudsons (vgl. Dearing/Rogers 1996).
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Schließlich ist noch ein vierter Inklusions- bzw. Exklusionsmodus der Massenmedien zu thematisieren. Es geht um Inklusion und Exklusion als Folge der Teilhabe bzw. Nicht-Teilhabe an Massenkommunikation. Das Stichwort ist hier Anschlusskommunikation. Hier ist insbesondere die Folgethematisierung und Adressierung von Personen(gruppen) in anderen Interaktions- und Organisationszusammenhängen sowie Funktionssystemen einzuordnen. So mag z.B. die politische Aufmerksamkeit gegenüber spezifischen Problemlagen von Personengruppen in steigendem Maße von deren Repräsentanz durch Sprecher in den Medien abhängen (vgl. Stichweh 1997). Diese verschiedenen Inklusions- bzw. Exklusionsmodi sind eng ineinander verzahnt. Sie dienen im Folgenden zur Strukturierung des Themas Behinderung in der Werbung.
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Inklusion von Menschen mit Behinderungen über Leistungsrollen und Implikationen der Exklusion
Nach unserem Kenntnisstand muss der Forschungsstand zur Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen in den Organisationen der Massenmedien im Allgemeinen und in der Werbung im Besonderen als mehr als dürftig angesehen werden. Unsere (nicht systematische) Literaturrecherche in mehreren sozialwissenschaftlichen sowie medizinischen Datenbanken sowie der Internetsuchmaschine Google Scholar förderte gerade einmal eine über zehn Jahre zurückliegende Studie zutage (Huainigg 1996a, 1996b). In dieser von einer Initiative des Österreichischen Rundfunks ausgehenden Studie wurden Verantwortliche in internationalen Fernsehstationen u.a. danach gefragt, inwieweit behinderte Menschen in die inhaltliche und gestalterische Arbeit der Sendeanstalt sowie in Gremien eingebunden sind. Obgleich die meisten Sendeanstalten behaupteten, Menschen mit Behinderungen seien sehr wohl integriert und häufig auf eine gesetzlich vorgeschriebene „Behindertenquote“ verwiesen wurde, ließ sich den Antworten wohl entnehmen, dass „[a]uf die Programm- und Sendegestaltung […] nur sehr wenig behinderte Beschäftigte Einfluss nehmen“ (Huainigg 1996b: 14). Ähnliches galt für Positionen in entscheidenden Gremien. Dies wurde laut Huainigg (ebd.) häufig mit einem unzureichenden Ausbildungsstand von Menschen mit Behinderungen begründet. Als eine der wenigen Ausnahmen wird die BBC genannt, die für Mitglieder mit einer Behinderung spezielle Berufs- und Fortbildungsprogramme und inzwischen auch eine Internetplattform von und für Menschen mit Behinderung anbietet (Thoreau 2006).
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Ähnliche Studien zur Repräsentanz behinderter Personen in den Organisationen der Werbebranche sind uns nicht bekannt. Haller/Ralph (2001) erwähnen in einem Review-Artikel zu Behinderung und Werbung allerdings eine wiederum in Großbritannien von der Leonard Cheshire Stiftung in Kooperation mit dem National Disability Council gestartete Initiative. Die Kampagne und Agentur ‚VisAble’ (www.visablemodels.co.uk) verfolgt den Zweck, die Integration behinderter Fotomodelle in die MainstreamWerbung zu fördern. So wurde z.B. ein Modelwettbewerb veranstaltet, bei dem 500 Menschen mit Behinderung teilnahmen. Die Gewinner, eine gehörlose Frau und ein Mann im Rollstuhl, bewarben im Anschluss Produkte für die Marks/Spencer-Kette (Haller/Ralph 2001). Inzwischen gibt es eine gleichnamige Agentur auch für den deutschen Raum (www.visable.de). Systematische Studien zum Erfolg derartiger Kampagnen liegen unseres Wissens allerdings nicht vor. Trotz des erschreckend unterentwickelten Forschungsstandes zu der Thematik muss davon ausgegangen werden, dass behinderte Menschen in den Leistungsrollen der Massenmedien und der Werbung wie z.B. auch in der Wissenschaft (Tregaskis/Goodley 2005) unterrepräsentiert sind. Diese Unterrepräsentanz dürfte mit der Zentralität der in Frage stehenden Positionen ansteigen. Daraus resultierende mangelnde Chancen der Einflussnahme behinderter Personen auf die Inhalte und Gestaltung von Massenkommunikation inkl. Werbung (vgl. auch Radtke 2003) dürften dazu führen, dass Behinderung selten ein Thema ist, Menschen mit Behinderungen als wichtige Subgruppe des Medienpublikums und als Zielgruppe von Werbung nicht ernst genommen werden und Behinderungserfahrungen auf diese Art und Weise verstärkt werden. Derartige Einflüsse können hier allerdings nur vermutet werden. Eine Möglichkeit für zukünftige Forschung bestünde z.B. darin, Medienorganisationen, in denen behinderte Individuen Schlüsselpositionen bekleiden, im Hinblick auf ihre Themenwahl mit solchen zu vergleichen, in denen dies nicht der Fall ist. Eine eigene informell durchgeführte Internetstudie zeigt trotz methodischer Einschränkungen interessante Tendenzen. Die Webseiten verschiedener Fernsehanstalten der ARD wurden mit Hilfe der internen Suchmaschinen nach den Begriffen „Behinderung“ und „Querschnitt(s)lähmung“ durchsucht. Da der amtierende Intendant des MDR, Prof. Dr. Udo Reiter, selbst querschnittgelähmt ist, erwarteten wir, dort auch deutlich häufiger Verweise auf die Thematik „Behinderung“ zu finden. Ganz im Sinne der gatekeeping-Hypothese fanden sich auf der Internetseite des MDR zu dem Suchbegriff „Behinderung“ insgesamt 579 relevante Dokumente, während sich in den Archiven der jeweiligen Schwesteranstalten auffällig weniger Treffer zeigten (SWR: 293, BR: 241, WDR: 200, NDR: 213, HR: 92, SR: 1). Ähnliches galt für den Suchbegriff „Quer-
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schnitt(s)lähmung“ (MDR: 90 Treffer; SWR: 20, BR: 21, WDR: 39, NDR: 11, HR: 5, SR: 0).
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Inklusion von Menschen mit Behinderungen über Publikumsrollen und Implikationen der Exklusion
Betrachtet man den Anteil von Personen mit Behinderung an der Gesamtbevölkerung sowie die damit verbundene Kaufkraft dieser Konsumentengruppe, so überrascht es, dass diesen allein aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten hierzulande nicht mehr Aufmerksamkeit zukommt. Laut Statistischem Bundesamt (2005) leben in Deutschland ca. 6,64 Millionen Menschen mit einer Behinderung (ca. 8% der Bevölkerung; Kriterium: Schwerbehindertenausweis, mindestens 50%). Einkommensschätzungen liegen für Deutschland unseres Wissens allerdings nicht vor. Eine ungefähre Vorstellung erhält man allerdings, wenn man entsprechende Daten aus den USA und Großbritannien betrachtet. In den USA kommen 48,5 Mio. Menschen (über 15 Jahre alt) mit Behinderung auf ein geschätztes Gesamteinkommen von 175 Milliarden Dollar (Prager 1999; zit. nach Haller/ Ralph 2001), in Großbritannien wiederum sind es 6,5 Mio. Menschen mit einem geschätzten Einkommen von 33 Milliarden Pfund (Deakin 1996, zit. nach Haller/Ralph 2001). Vermehrt wird dieses schlummernde Marktpotential, insbesondere in den USA und Großbritannien, erkannt: “In the new millennium, advertisers are realizing that disabled people buy soap, milk, socks, jewellery, makeup, home improvement goods, use travel services, live in houses, and enjoy nice home furnishings. There is some evidence that the disabled consumer is more brand loyal than other consumers […]. For example, the hotel chain Embassy Suites found that becoming sensitive to the needs of disabled people lead to more business. And a study by the National Captioning Institute found that 73 percent of deaf people switched to a brand that had TV ad captioning […]” (Haller/Ralph 2001: 4).
Wie groß der Anteil der Werbetreibenden, die Menschen mit Behinderungen als bedeutsame Konsumentengruppe für ihre Produkte oder Dienstleistungen ansehen, tastsächlich ist, kann allerdings anhand der momentanen Forschungslage nicht beurteilt werden. Erste Hinweise ergeben sich aber aus Studien, die die Thematisierung von Behinderung und insbesondere die Darstellung behinderter Menschen in Werbematerial untersuchen (siehe Punkt 5). Dabei spricht die nicht-diskriminierende Darstellung von Personen mit Behinderung in Alltagskontexten, in gemischten
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Gruppen und in Werbung für nicht-behinderungsspezifische Produkte für die Beachtung dieses Publikums. Ebenso mag die Berücksichtigung eingeschränkter Wahrnehmungsmöglichkeiten im Falle bestimmter Behinderungen (z.B. gehörlose, sehbehinderte Personen) in der Gestaltung der Werbung ein Zeichen dafür sein, dass Werbende sich mit den Lebensumständen behinderter Menschen auseinandergesetzt haben und diese als Zielgruppe ernst nehmen. So benötigen hörgeschädigte Menschen Bildunterschriften, um z.B. Fernsehspots vollständig verfolgen zu können, sehbehinderte Menschen dagegen brauchen akustische Hinweise oder Informationen in Blindenschrift. Von wenigen positiven Beispielen abgesehen scheinen Menschen mit Behinderungen allerdings in der Regel auf der Rechnung von Werbetreibenden nicht aufzutauchen. Es mag sein, dass viele werbende Unternehmen und Werbeagenturen es nach wie vor als rein altruistisch betrachten, behinderte Menschen zu beachten und anzusprechen (Haller/Ralph 2001). Nichtsdestotrotz zeigen die oben wiedergegebenen Zahlen die Größe des entsprechenden Konsumentenmarktes. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Werberezipienten, die selbst nicht von Behinderungen betroffen sind, eine Berücksichtigung behinderter Menschen in der Werbung begrüßen würden, ohne dies als Hinweis zu deuten, die beworbenen Produkte seien ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht (Stirling 2000, zit. nach Haller/Ralph 2001). Alles in allem darf die Publikumsrolle des (potentiellen) Rezipienten oder Konsumenten, der entsprechend umworben wird, in ihrer Bedeutung für (erwachsene) Identität1 und Selbstachtung nicht unterschätzt werden. Mechanismen der diesbzgl. Inklusion und Exklusion behinderter Personen bedürfen daher weiterer Forschung sowie öffentlicher Diskussion.
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Die (Nicht-)Thematisierung von Behinderungen in der Werbung
Werbung bedient ästhetische Standards, die sie selbst (mit-)hervorbringt. Ein grosser Teil der Gattung setzt dabei auf die Darstellung von Idylle, Schönheit und körperlicher Perfektion. Dies geschieht nicht nur durch die Auswahl entsprechender Fotomodelle, sondern insbesondere durch die technische Manipulation des Bildmaterials. Dadurch werden in der Realität kaum anzutreffende Personen- und Körpertypen erzeugt (Koppetsch 2002; Reinhardt 2006), die Minderwertigkeitsgefühle auslösen mögen, wie folgendes Zitat von Erving Goffman (1963: 128) illustriert: 1
Die Autoren erinnern sich jedenfalls an die unangenehme Erfahrung, als Kinder gelegentlich an der Ladentheke ignoriert worden zu sein.
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“In an important sense there is only one complete unblushing male in America: a young, married, white, urban, northern, heterosexual, protestant, father, of college education, fully employed, of good complexion, weight, and height, and a recent record in sports […] Any male who fails to qualify in any one of these ways is likely to view himself - during moments at least - as unworthy, incomplete, and inferior.”
Die Werbung bietet allerdings zugleich den Ausweg aus der von ihr erzeugten Inferioritätskrise: die Investition in die dargestellten Produkte und Dienstleistungen werden als probate Mittel für die Attraktivitäts- und Leistungssteigerung der Person präsentiert. Der Körperperfektionismus der Werbung dient demnach zuallererst der Erzeugung einer Soll-Ist-Diskrepanz und darauf bezogener Bedürfnisse. Im Allgemeinen kann daher von einer spärlichen Verkörperung von Behinderung in der Werbung ausgegangen werden, die kreisförmig wiederum die ästhetische Entwertung von Behinderung zementiert (Hahn 1987). Eine Bestätigung der damit zusammenhängenden Unsichtbarkeit von behinderten Menschen (mit sichtbaren physischen Beeinträchtigungen; gesamter Bevölkerungsanteil in den USA ca. 6,5%) in der Werbung erbrachte z.B. eine zwei Jahre umfassende, quantitative Inhaltsanalyse von Werbespots bedeutsamer US amerikanischer Fernsehsender zur Hauptsendezeit (Ganahl/Arbuckle 2001; siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Werbespots mit und ohne Personen mit sichtbarer physischer Behinderung zur Hauptsendezeit (1998: ABC, CBS, NBC; 1999: ABC, FOX)
1998 % 1999 % Total % Total Number
Ads with disabled persons
Ads without disabled persons
Total
0,6 0,4 0,5 15
99,4 99,6 99,5 2984
100 100 100 2999
Quelle: Ganahl/Arbuckle 2001, 38.
Von Harlan Hahn (1987) vorausgesagte Trends eines zunehmenden Einsatzes von Diversität zum Zwecke der Profitabilität sind nur ansatzweise zu erkennen. Hier sind US-amerikanische Unternehmen, wie oben bereits angedeutet, beispielhaft, da viele Unternehmen bereits in den 80er und 90er Jahren mehr oder minder erfolgreich damit begonnen haben, Menschen mit Behinderung in allgemeinen Produktwerbungen zu integrieren. Im Bereich der TV Werbespots waren dies vor allem McDonald’s, Levi’s, Crest, Citibank, Citicorp, Apple, Pacific Telesis, Nissan und Target (vgl. Haller/Ralph 2001).
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Diese Beispiele scheinen allerdings noch immer Ausnahmen zu sein. Die Konsumentengruppe behinderter Personen wird demnach augenscheinlich nur selten von Werbemaßnahmen direkt angesprochen. Eine US amerikanische Studie zeigt z.B. anhand von Interviews mit zehn Rollstuhl-Basketball-Spielern, dass diese der Meinung sind, Werbung reflektiere in der Regel nicht ihre Lebenswelt, und in der Folge Werbeanzeigen und -spots zumeist ignoriert werden. Werbematerial, das positive Darstellungen behinderter Personen enthielt, wurde demgegenüber durchaus geschätzt (Hardin 2003). Die generelle Unterrepräsentanz behinderter Personen in Werbematerial dürfte zudem ergänzt werden durch eine Überrepräsentanz spezialisierter Produkte, auf behinderte Rezipienten spezialisierte Medien und werbende Unternehmen aus dem Wohltätigkeits-, Versicherungs- oder Gesundheitsbereich. Werbespots und -anzeigen, die Behinderung thematisieren, dürften ferner zu bestimmten Zeitpunkten wie Weihnachten häufiger geschaltet werden (Haller/ Ralph 2001). Ebenso sind bestimmte Behinderungsarten wie Rollstuhlfahrer (allerdings kaum Tetraplegiker) oder Menschen mit Down-Syndrom überrepräsentiert, wodurch andere Behinderungsformen marginalisiert werden. Dies gilt insbesondere für Schwerstbehinderungen, aber auch für ‚unsichtbare’ Behinderungsarten wie Diabetiker oder Dialysepatienten (Radtke 2003). Des Weiteren ist damit zu rechnen, dass dort, wo Behinderung thematisiert wird, oftmals (ungewollte) Diskriminierungen und Stigmatisierungen stattfinden. Diese können sprachlicher Art – z.B. wenn substantivistisch von „Behinderten“ gesprochen wird (vgl. Barnes 1992, Radtke 2003, Haller 2006) – sein sowie in der bildlichen Darstellung oder der Einbettung behinderter Figuren in den Handlungskontext liegen. Colin Barnes (1992) identifiziert in einem grundlegenden Text bspw. zehn in der Mediendarstellung von Menschen mit Behinderungen wiederkehrende Stereotype: 1) die behinderte Person als bemitleidenswert und leidend; 2) als Gewaltopfer; 3) als hinterlistig und böse; 4) zur Untermahlung einer mysteriösen oder kuriosen Atmosphäre; 5) als „Superkrüppel“, die oder der die Behinderung durch neuartige Fähigkeiten kompensiert; 6) als lächerlich, 7) als ihr eigener schlimmster Feind, 8) als Belastung, 9) als unfähig am Gemeinleben teilzunehmen, 10) als sexuell abnormal. Die mangelnde Repräsentanz behinderter Personen in den verantwortlichen Medienorganisationen führt zudem dazu, dass Behinderung extern und wahrscheinlich zumeist anhand eines medizinischen Modells rekonstruiert wird. Dadurch mag der Einfluss der Gesellschaft auf den Prozess der Behinderung durch Etikettierung und Aufrechterhaltung von Barrieren oftmals verschleiert werden (Barnes 1992, Radkte 2003). Systematische Untersuchungen von Werbung in Bezug auf solche Stereotypen und das Vorherrschen eines überwiegend medizinischen Modells der Behinderung liegen unseres Wissens nicht vor.
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Rein quantitative Inhaltsanalysen von Fernseh- oder Printwerbung sind ebenso selten und für den deutschsprachigen Raum so gut wie nicht vorhanden. Lediglich Gerd Buschmann (2005) führte eine Inhaltsanalyse sämtlicher SpiegelAusgaben des Jahres 2002 unter dem Titel „Das Menschenbild in der Werbung“ durch. Hierbei berichtet er von lediglich zwei Anzeigen, die explizit (in einer Werbung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung wurde eine Frau mit Prothese gezeigt) bzw. implizit (Anspielung auf einen Skiunfall) Behinderung zum Thema hatten. Bei einer eigenen Stichprobe von vier SpiegelAusgaben des Jahres 2006 ließen sich allerdings bereits fünf Anzeigen finden, wovon sich vier den Sparten Gesundheit oder Wohltätigkeit zuordnen lassen (zwei für pharmakologische Forschung, die eine Frau mit Osteoporose und einen Mann nach einem Schlaganfall zeigen, wobei in beiden Fällen die Behinderung nicht sichtbar ist; eine Anzeige für eine Krankenversicherung und betreutes Wohnen, die eine Frau mit einem nicht spezifizierten Leiden, einen Pfleger und einen Hund abbildet; und eine Anzeige für die Wohltätigkeitsorganisation Aktion Mensch, die bürokratische Probleme bedürftiger Menschen thematisiert und hauptsächlich darauf abzielt, freiwillige Helfer zu rekrutieren). Eine Anzeige von IBM handelt von einer Anwendung für intelligentes Wohnen, die z.B. den Blutzuckerspiegel misst und im Notfall das Krankenhaus informieren kann. Die allenfalls rudimentäre Thematisierung von Behinderung in der Werbung impliziert auf Seiten behinderter und nicht-behinderter Rezipienten im Sinne der Kultivierungstheorie (Gerbner et al. 2002) eine Unterschätzung der Inzidenz (Häufigkeit) und Prävalenz (Verbreitung) von Behinderung, was gleichsam als Fremdheits- und Exklusionsverstärker wirken mag und die ästhetische Entwertung von Behinderung fortschreibt. Durch die Selektion von Ausnahmefällen oder besonders anschaulicher Menschen könnten zudem Verharmlosungseffekte erzeugt werden, die die Isolation behinderter Menschen, die diesen „Idealfällen“ nicht nahe kommen, befördern mag.
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Anschlusskommunikation und Problembewusstsein
Ihren Abschluss und ihren Anfang nimmt die Exklusionsspirale, die wir hier versucht haben für das Thema Behinderung und Werbung anzudeuten, in dem Mediensystem vor- und nachgelagerter Kommunikation bzw. der prognostischen Rekonstruktion letzterer. Die Befürchtung aufgrund falscher oder ungewollt stigmatisierender Darstellung empörte Reaktionen auf Seiten von behinderten Rezipienten und Behindertenverbänden auszulösen, mag dazu führen, dass die Thematik von vornherein als heißes Eisen gilt und auf die Darstellung behinderter Personen lieber ver-
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zichtet wird, womit „eine Verkrampfung eines an sich bereits verkrampften Verhältnisses“ (Radkte 2003: 9) betrieben wird. Beispielhaft sei die überaus kontroverse Debatte genannt, die der Einsatz von Kindern mit Down-Syndrom als Fotomodelle für einen Benetton-Katalog auslöste (Schönwiese 2001, Petzel 2003). Hinzu kommt, dass die Antizipation einer Provokation (vgl. Jäckel/Reinhardt 2002) des nicht-behinderten Publikums besonders geneigt ist, ohnehin bereits marginalisierte Themen wie Sexualität und Behinderung (vgl. Petzel 2003) weiter zu tabuisieren. Auch die Darstellung von Frauen mit Behinderungen im Zusammenhang mit nicht-behinderten Männern scheint sich negativ auf Kauf- und Nutzungsintention des Publikums auszuwirken (Panol/McBride 2001). Korrespondierende Vermeidungstendenzen der Werbetreibenden und die folgende thematische Ausschaltung von Behinderung mögen wiederum dazu führen, dass Behinderung in der öffentlichen Diskussion sowie in Politik und Wirtschaft im Sinne des Agenda-Setting Ansatzes (Dearing/Rogers 1996) ein Sonderthema ist und bleibt. Demgemäß können Tendenzen, behinderte Menschen als wichtiges und kaufkräftiges Publikum von Massenkommunikation und Werbung zu übersehen, befestigt werden. Eine Nicht-Wahrnehmung dieser vielschichtigen und im Hinblick auf demographische Merkmale und Funktionseinschränkungen überaus heterogenen Bevölkerungsgruppe mag wiederum bewirken, dass das Potential behinderter Individuen für Leistungsrollen der Massenmedien unterschätzt wird und kein Bedarf für ein kreatives Einbringen ihrer besonderen Erfahrungen gesehen wird. Die Exklusion aus dem Leistungsrollenbereich verstärkt wiederum die Nicht-Wahrnehmung als Publikum und den Ausschluss von Behinderung aus dem behandelbaren Themenkreis usw. Der Aufbau einer Forschungsagenda, die mit Hilfe von Netzwerkanalysen, Befragungen, Inhaltsanalysen und Wirkungsexperimenten den gesamten Exklusionszusammenhang abzubilden vermag, wird noch Jahrzehnte dauern. Der Mangel an (brauchbaren) empirischen Untersuchungen ist augenfällig. Die Forschungslücke ist insbesondere im deutschsprachigen Raum frappierend. Dies mag daran liegen, dass hierzulande „disability studies“ bislang als akademisches Gebiet nicht etabliert sind. Wir haben gezeigt, wie sich das Thema Behinderung in der Werbung (und in den Massenmedien im Allgemeinen) mit Hilfe des integrativen WHO-Modells der Funktionsfähigkeit und Behinderung (ICF) sowie der Theorie der Inklusion und Exklusion strukturieren lässt, und erste Hinweise gegeben, wie empirische Forschung angeschlossen werden könnte. Eine wissenschaftlich fundierte Erweiterung unseres theoretischen und empirischen Verständnisses von Inklusions- und Exklusionszusammenhängen im Spannungsfeld von Behinderung und Medien kann, so hoffen wir, auch ein erster Schritt zur Transformation von Exklusion in Inklusion darstellen:
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„[r]ecognizing the valued existing and potential contributions made by persons with disabilities to the overall well-being and diversity of their communities, and that the promotion of the full enjoyment by persons with disabilities of their human rights and fundamental freedoms and of full participation by persons with disabilities will result in their enhanced sense of belonging and in significant advances in the human, social and economic development of society and the eradication of poverty” (UN 2006).
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Werbung und Konsum: Marken als zweiseitiger, zweidimensionaler Kommunikationsprozess Gabriele Siegert Gabriele Siegert Werbung und Konsum: Marken als zweiseitiger, zweidimensionaler Kommunikationsprozess Werbung und Konsum Marken sind keine einseitigen Beeinflussungsversuche, sondern zweiseitige Kommunikationsprozesse. Sie sind insofern auch zweidimensional, als sie eine Beziehungs- und eine Sachebene aufweisen. Aus Marketingperspektive versuchen Unternehmen mittels ihrer strategischen Markenkommunikation die konzipierte Markenpositionierung bei den Konsumenten zu verankern. Diese geben via Markenimage und Kaufentscheidung Feedback über die Akzeptanz dieser Positionierung, bleiben aber hinsichtlich der Konstruktion von inhaltlichen Markenbedeutungen gleichsam machtlos. Erst wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Sinnstrukturen sowie kulturelle Verwendungskontexte in der Markenkommunikation analytisch berücksichtigt werden, zeigt sich die eigentliche Rolle der Konsumenten bei der Konstruktion von Marken. Denn die inhaltlichen Bedeutungen, die einer Marke zugeschrieben werden, gründen sich u.a. auf die vielfältigen Funktionen von Marken, z.B. als Integrations- und Distinktionsmerkmal.
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Die Beziehungs- und Sachebene von Kommunikation
Marken werden im Folgenden als Kommunikationsprozesse analysiert. Damit knüpft der Beitrag zwar an John Brewer (1997) an, der Konsumgesellschaften als Sozialsysteme beschreibt, die u.a. über hoch komplizierte Kommunikationssysteme verfügen, die Waren mit Bedeutung versehen und das Bedürfnis nach ihnen wecken. Dennoch basiert er nur bedingt auf der klassischen Literatur zur Konsumsoziologie (vgl. dazu beispielhaft: Baudrillard 1970; McCracken 1988; Featherstone 1991; McKendrick/Brewer/Plumb 1982; Hellmann/Schrage 2004; Jäckel 2006), sondern versucht vor allem Marken als Marketingstrategien auf ihr kommunikatives Fundament hin zu analysieren. Markenkommunikation wird nicht als einseitiger Beeinflussungsprozess verstanden, sondern als zweiseitiger Kommunikationsprozess, in dem die kommunikative (nicht nur die rein monetäre) Rückkopplung der Konsumenten ein wichtiger Bestandteil ist, wenn auch die
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Machtverhältnisse in dieser Kommunikationsbeziehung nicht immer ausgeglichen sind. Damit baut der vorliegende Beitrag auf einem spezifischen Verständnis von Kommunikation auf, das im Folgenden erläutert wird (vgl. dazu u.a. Bonfadelli 2005, S. 75ff.). Kommunikation bezieht sich demnach auf die Konzepte des sozialen Handelns und der symbolischen Interaktion, auf die Orientierung an Normen und Konventionen sowie auf ein geteiltes Symbolsystem. Kommunikation ist also untrennbar mit der Interaktion zwischen Menschen verknüpft. Nur so gelingt die wechselseitige Verschränkung der Perspektiven: Ohne Kommunikation keine Interaktion – ohne Interaktion keine Kommunikation. Daraus folgt in Analogie zum Modell von Theodore M. Newcomb (1953, S. 394), dass Kommunikation nicht nur zweiseitig ist, sondern immer auch zwei Dimensionen, d.h. zwei Ebenen, aufweist: eine Beziehungsebene und eine Sachebene. Es werden sowohl die spezifischen Beziehungen zwischen Personen analysiert (u.a. Macht, Kontrolle und Sanktionsmöglichkeiten) als auch der inhaltliche Aspekt des gegenseitigen Informationsaustausches und der wechselseitigen Verständigung. Zugleich kann Kommunikation nicht nur zwischen Individuen stattfinden, sondern auch zwischen Organisationen und Individuen, wobei Organisationen dann entweder durch Menschen oder durch strategische Konstrukte wie Marken repräsentiert werden. Organisationen können auch völlig hinter ihren Marken verschwinden und die Marken selbst die Rolle einer Persönlichkeit einnehmen, wie das im Konzept der Markenpersönlichkeit angenommen wird (vgl. u.a. Upshaw 1995).
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Die Unternehmens- und Marketingperspektive von Marken
Analysiert man Marken aus einer Marketingperspektive, dann sind sie als Differenzierungsstrategie einzuordnen, die Unternehmen entwickeln, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Diese Strategie bietet sich vor allem in Märkten an, in denen sich die angebotenen Produkte und Leistungen funktional immer mehr angleichen und für die Konsumenten immer schwerer unterscheidbar sind. Bei der Entwicklung einer Markenstrategie orientieren sich Unternehmen auch an ihrer wirtschaftlichen Umwelt, die vor allem durch die Wettbewerber repräsentiert wird. Zugleich streben Unternehmen mit einer Markenstrategie natürlich die Präferenzbildung bei den Konsumenten zugunsten ihrer Marke an. Darüber hinaus sollen Marken aber weitere Funktionen, so z.B. Absatzförderung bzw. -stabilisierung oder Qualitätssicherung, erfüllen (vgl. zum Markenmanagement u.a. Aaker 1996; Bruhn 2003; Esch 2002; Keller 2003; Murphy 1990).
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Alle mit der Markenbildung verbundenen Marketingfunktionen bauen letztlich auf der Kommunikationsfunktion von Marken auf. Damit ist gemeint, dass die Marke einen Kommunikationskanal vom Anbieter zum Abnehmer eröffnet und innerhalb dieser Kommunikationsbeziehung als 'Signalcode', als Kennwort für die Vermittlung von Botschaften verschiedenster Art dient (vgl. HenningBodewig; Kur 1988, S. 7). Aus dieser Perspektive haben Marken SignalingFunktion: Die besser informierte Marktseite, also die Unternehmen, signalisieren damit der schlechter informierten Marktseite, den Konsumenten, eine bestimmte Qualität – in einem sehr allgemeinen Sinn. Um die Botschaften in diesem Kommunikationsprozess nicht beliebig erscheinen zu lassen, sind Marken auf eine klare, eindeutige Identität angewiesen. Markenidentität geht dabei weit über die bloße Markierung eines Produkts hinaus: “A product is something to sell, but a brand is who you are and what you stand for.” (Schrage, zit. nach Mei-Pochtler 1998, S. 667). Markenidentität ist in diesem Kontext zu verstehen als die Art, wie die Unternehmensstrategen die Marke wahrgenommen haben wollen – als Selbstbild. Die konzeptionierte Markenidentität muss dann in der Positionierung entsprechend deutlich umgesetzt und kommuniziert werden. Markenpositionierung ist also derjenige Teil der Markenidentität, der aktiv kommuniziert wird und sich auf den Differenzierungsvorteil gegenüber der Konkurrenz bezieht (vgl. Aaker 1996, S. 71 und S. 176). Die Markenpositionierung ist gemäß dem eingangs vorgestellten Kommunikationsmodell der Sachaspekt in der Kommunikationsbeziehung, das Aussagekonzept. Die Kommunikation bedient sich dabei nicht nur aber vor allem der Markenwerbung und der Marken-PR. Markenwerbung hat insofern einen deutlich instrumentellen Charakter. Mittels Werbung sollen Konsumenten beeinflusst werden. Ohne auf die unterschiedlichen Phasen der Beeinflussung im Detail einzugehen, geht es darum, Markenwissen (brand knowledge) und Markenbekanntheit (brand awareness) aufzubauen, Sympathie und ein Markenimage (brand image) zu erzeugen sowie eine Präferenz für die Marke (brand preference) zu schaffen. Langfristig soll die Markenpräferenz bei den Verbrauchern so gefestigt werden, dass von einer Markentreue, also einer Verbundenheit mit der Marke (brand loyalty), gesprochen werden kann. Das Markenimage ist vereinfacht das erste umfassendere Feedback auf die Kommunikation der Markenidentität und dementsprechend ein Akzeptanzkonzept. Aus Unternehmens- und Marketingperspektive zielen Marken vor allem aber auf das Kauf- und Entscheidungsverhalten der Konsumenten. Marken können das Risiko der Kaufentscheidung (Vertrauens- und Garantiefunktion) und die Komplexität der Entscheidungssituation mindern, was angesichts der immer zahlreicher werdenden Kommunikations- und Warenangebote besonders nützlich
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erscheint. Denn die Marke kann sowohl als eigenständiges Wahrnehmungs- und Beurteilungsobjekt betrachtet werden, als auch als Schlüsselinformation ('information chunk') für die ihr zu Grunde liegenden Produkte und Leistungen. In der Attributtheorie (vgl. u.a. Kroeber-Riel 1984; Palupski 1999; Wiswede 1992) wird ausgehend von der Selektivität der Wahrnehmung die Rolle der Schlüsselinformationen für die gesamte Qualitätsbeurteilung thematisiert. Die Chance der Wahrnehmung erhöht sich für jedes Objekt, wenn es z.B. über 'information chunks' wahrnehmbar gemacht wird. Eine Marke ist insofern ein bedeutungsreicher 'information chunk', als sie bestimmte Qualitäten der von ihr markierten Produkte und Leistungen signalisiert. Sie funktioniert einerseits bei einfachen, andererseits bei impulsiven und gewohnheitsmäßigen Entscheidungen als informationsentlastender Mechanismus: „Ein bekannter Markenname wirkt wie eine Denkschablone: Er beeinflußt automatisch die gesamte Produktwahrnehmung.“ (Kroeber-Riel 1984, S. 290). Mit einer für das Unternehmen positiven Kaufentscheidung kommunizieren Konsumenten jenseits des Markenimages auf rein monetärem Weg Akzeptanz. Das folgende Modell soll den eben skizzierten Kommunikationsprozess veranschaulichen. Abbildung 1:
Marken als zweiseitiger, zweidimensionaler Kommunikationsprozess: Die Unternehmens- und Marketingperspektive
Quelle: Eigene Erstellung
Bereits in einer rein ökonomischen Betrachtung sind Marken Kommunikationsprozesse, die in zwei Dimensionen verlaufen, einer Beziehungs- und einer Sachebene. Zudem hat die Sachebene der Kommunikation zwei Aspekte. Sie betrifft zum einen die rein monetäre Verständigung über den Preis (Kauf) und zum anderen die inhaltliche Verständigung, indem Markenidentität und Markenimage korrespondieren.
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Auch die Beziehungsebene des Kommunikationsprozesses ist bereits in der Unternehmens- und Marketingperspektive berücksichtigt und zwar grundlegend durch das ökonomische Konzept von Anbieter und Nachfrager. Die Gestaltung der Beziehung hängt dabei nicht unwesentlich von der jeweiligen Menge des Angebots und der Nachfrage ab. Angesichts des bestehenden Überangebots an Waren (Käufermarkt) haben die Nachfrager eine durchaus machtvolle, gleichwohl aber auch ambivalente Position. Einerseits verfügen sie über Macht, denn die Kaufentscheidung wirkt zumindest in aggregierter Form sehr direkt auf die Überlebensfähigkeit des Unternehmens. Und zugleich sind die Konsumenten via Markenimage – meist ebenfalls in aggregierter Form – an der Etablierung des Symbolcharakters der Marke sehr wohl beteiligt. Diese machtvolle Position der Konsumenten wird auch von John M. Murphy (1990, S. 8) besonders betont: „A brand is a pact between the brand owner and the consumer, and branding, therefore, is by no means a cynical activity imposed on the unsuspecting consumer against his or her will.“ Andererseits ist die Macht der Konsumenten, den Bedeutungsgehalt der Marke mitzubestimmen, beschränkt. Der Aspekt, dass der Marke als Symbol von den Individuen in Interaktionen mit ihren Mitmenschen Bedeutung zugeordnet wird, die auch auf subjektiver Erfahrung beruht und im Rahmen des interpretativen Prozesses der Auseinandersetzung mit ihnen auch geändert werden kann (vgl. u.a. Kapferer 1992, S. 52ff; Kelz 1989, S. 33ff), wird insgesamt in der Unternehmens- und Marketingperspektive vernachlässigt. Betont wird vielmehr, dass mit der Formulierung der Markenidentität das Unternehmen versucht, steuernd in den Prozess dieser Bedeutungszuordnung einzugreifen und über die Verwendung kultureller Symbole Bedeutungen vorzugeben. Das Unternehmen hat damit eindeutig einen Kontrollvorteil in Bezug auf Bedeutungen.
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Gesellschaftliche Sinnstrukturen und kulturelle Verwendungskontexte in der Markenkommunikation
In besonderen Fällen ist die Marketingstrategie jedoch gerade nicht der Anfang der Markenbildung, ist mithin nicht Prädisposition der Verwendung. Vielmehr kann sich die ökonomische Verwertung i.S.e. Marketingstrategie erst als zweiter Schritt anschließen. Marken entwickeln sich dann über die Verwendung und Nutzung in der Alltagskultur ohne eine dahinter stehende Marketingstrategie und werden erst danach, wenn überhaupt, ökonomisch verwertet. Typische Beispiele hierfür sind Medienmarken wie die Tagesschau oder Szenemarken. Diese Abfolge findet sich nicht oft, aber erwähnenswert ist sie allemal, denn sie entspricht dem permanenten Bedarf der Kulturindustrie nach neuen Ideen und frischem,
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ökonomisch verwertbarem Input (vgl. u.a. Luger 1992, S. 434). Dass diese Markenanleihen aus Subkulturen und Szenen mit der massenhaften Verwertung auch ihre Symbolkraft für die jeweilige Gruppe oder Szene verlieren, weil sie nicht mehr zur Abgrenzung taugen, erscheint logisch und wird billigend in Kauf genommen. Die 'Vernutzung' ist Teil des ökonomischen Prozesses, dem die Gruppen und Szenen mit der Entwicklung neuer Symbole, die gegebenenfalls noch schwieriger zu (be)schaffen und weniger zur Massenverwertung geeignet sind, begegnen. Dieses Phänomen verweist aber darauf, dass das Modell in Abbildung 1 erweitert werden muss, indem gesellschaftliche Sinnstrukturen und kulturelle Verwendungskontexte stärker berücksichtigt werden. Bezieht man sich auf die etymologischen Bedeutungen des Begriffs 'Marke' und des Verbs 'markieren', sind diese ebenfalls nicht auf rein ökonomische Zusammenhänge bezogen. Die drei Bedeutungsdimensionen 'Grenze zur Unterscheidung', 'Zeichen zur Erkennung' sowie 'Vortäuschen, so tun als ob' und zugleich über das Verb 'merken' auch die Bedeutung 'das Kenntlichgemachte beachten' können vielmehr prinzipiell gelten, sind aber immer mit einem Bedeutungstransfer und einer entsprechenden Decodierung verbunden (vgl. u.a. Kelz 1989, S. 22ff; Latour 1996, S. 24). Im Folgenden wird das Modell ergänzt um erstens strukturelle Aspekte zur gesellschaftlichen Verfasstheit, d.h. um die Rahmenbedingungen des Kommunikationsprozesses, zweitens um eine vertiefte Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Aspekten der Markenkommunikation, d.h. dem Sachaspekt des Kommunikationsprozesses und drittens um eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Verwendung durch und den Funktion für die Konsumenten, d.h. dem Beziehungsaspekt des Kommunikationsprozesses. Die Betrachtungsweise bezieht damit stärker als bisher die Marke als eigenständiges Wahrnehmungsobjekt mit ein.
3.1 Strukturelle Aspekte der gesellschaftlichen Verfasstheit Markenkommunikationsprozesse sind nicht isoliert zu betrachten, sondern eingebettet in Rahmenbedingungen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Diese Makro-Entwicklungen können hier nur ansatzweise genannt werden: Konzepte wie die Erlebnisgesellschaft oder die Mediengesellschaft benennen Logiken, an denen sich auch die Markenkommunikation orientieren muss. Das Konzept der Inszenierungsorientierung (vgl. z.B. Willems/Jurga 1998; Schicha/Ontrup 1999) rekurriert auf die enge Verzahnung von Erlebnissen und Medien. Inszenierungsorientierung bedeutet dann, dass Erfolg sowohl für Individuen als auch für korporative Akteure wie Unternehmen je nach Handlungsfeld (z.B. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft) mehr oder weniger von Inszenierungsas-
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pekten abhängt, die so auch zu einem (kauf-)entscheidenden wirtschaftlichen Faktor werden können (vgl. Willems 1998, S. 56). Das korrespondiert besonders deutlich mit der Markenkommunikation, weil diese seit anher auf Inszenierung zurückgreift und darauf aufbaut. Aber auch die Medienlogik insgesamt bleibt nicht ohne Folgen: Beim Konzept der Mediatisierung (vgl. u.a. Marcinkowski 2005; Imhof/Schulz 1998; Krotz 2001a und b; Imhof 2006) geht es dementsprechend darum, „dass immer mehr Menschen ihr soziales und kommunikatives Handeln immer häufiger und immer differenzierter auf immer mehr ausdifferenzierte Medien und mediale Inszenierungen ausrichten und dass dies vielfältige Auswirkungen auf soziale Beziehungen und Identitätsstrukturen, auf Kultur und Gesellschaft hat.“ (Krotz 2001b, S. 201)
Mediatisierung beschreibt also ebenfalls einen Metaprozess sozialen und kulturellen Wandels, der in einer Veränderung sozialen und kommunikativen Handelns gründet, aus dem Alltag, soziale Beziehungen und Identität, Kultur und Gesellschaft entstehen. Wenn Markenkommunikation vor allem die Inszenierung einer Marke, eines Produktes, einer Leistung oder einer Organisation ist, dann wird es relevant, die Bedeutungen, die die Inszenierungen in der Öffentlichkeit haben, zu antizipieren. Inszenierungsgesten müssen permanent auf die Bedeutungsentschlüsselung in der Öffentlichkeit oder in Teilen davon abgestimmt werden, denn die Bedeutungsentschlüsselung ist ein beweglicher, wandelbarer und sich verändernder Prozess. Unter gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen alles, auch eigentlich private Themen, potenziell öffentlich – d.h. in den Medien – verhandelt werden kann, unter denen vieles inszeniert und skandalisiert wird, um Auflage und Quote zu erzielen, sehen sich Unternehmen mit ihrer Markenkommunikation einem nie vorher gekannten Ausmaß an kommunikativer Konkurrenz gegenüber. Dies verändert entsprechend die Markenkommunikation und zwar einerseits in Bezug auf den Transport der Botschaften zu den Konsumenten und andererseits in Bezug auf die Botschaften selbst. Das Modell muss also diesbezüglich um gesellschaftliche Rahmenbedingungen ergänzt werden.
3.2 Inhaltliche Aspekte der Markenkommunikation Bereits zur Konstruktion der Markenidentität greifen Unternehmen und ihre Agenturen auf 'Kultur' zurück, auf gesellschaftliche Weltdeutungen und Sinnstrukturen. Marken können insofern als sekundäre Sinnstiftungsagenturen bezeichnet werden, als sie zwar nicht als Primärinstanz Sinn schaffen, aber Sinnangebote
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unterbreiten und dabei in der Gesellschaft vorhandenen Sinn aufgreifen, überhöhen oder verklären (vgl. für werbliche Kommunikation insgesamt: Reichertz 1998, S. 289). In ähnlicher Weise fasst Grant McCracken (u.a. 1993, S. 126ff.) in seinem „meaning transfer model“ Marken konsequent als Bündel kultureller Bedeutungen: Danach versuchen Markenstrategen mit der Ausarbeitung der Markenidentität bestimmte Bedeutungen vorzugeben, indem sie spezifische Symbole mit der Marke kombinieren. Dabei schöpfen sie wesentlich aus den zu Grunde liegenden kulturellen Alltagspraktiken und orientieren sich an den Wünschen, Werten, Konsum- und Erlebnisweisen der Konsumenten. Konkret basieren besonders in Märkten mit einem umfassenden Angebot und ausgeprägtem Wettbewerb Neueinführungen wesentlich auf der Beobachtung von Milieus und Szenen. Nicht selten werden auf diese Weise spezifische Szene-Objekte und -vorlieben entdeckt, die dann aufgegriffen werden und den Weg in die Massenproduktion und -vermarktung gehen. Allein über die Beobachtungen von Szenen werden diese schon Teil des Marktsystems, von dem sie sich ggfs. einmal abheben wollten. „Die beobachtete und dadurch als Marktelement etablierte Szene vermittelt zwischen Konsum und Kultur.“ (Bolz/Bosshart 1995, S. 50f.) Die Markeninszenierung greift auch in ihrer Botschaft auf vorhandene Weltdeutungen zurück und erzählt dergestalt kulturell „abgesicherte“ Geschichten. Die kommunikationspolitischen Instrumente, insbesondere die Werbung, dienen dabei der Geschichtenerzählung, indem sie bestehende Bedeutungen, die in den Codes der Kultur vorliegen, mit den Marken verbinden (vgl. Karmasin 1998, S. 150). Werden Marken und ihre Geschichten als Sinnzusammenhänge weitgehend kollektiv akzeptiert, lässt sich auch von Markenmythen sprechen. Beste Beispiele hierfür sind klassische Marken wie der VW Käfer, Marlboro und Harley Davidson. Der Markenmythos wird dann besonders deutlich (vgl. Boltz 1994, S. 122f.), wenn die Verknüpfung massenmedialer und interpersonaler Kommunikation, individueller und gesellschaftlicher Lernprozesse auch noch erfolgreich mit dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft und untrennbar mit den kulturellen Alltagspraktiken und Ideen verknüpft sind. Werbung allein reicht aber unter den skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen nicht aus, solche Mythen zu etablieren. Bereits die genannten Beispiele haben ihren Mythos nicht unwesentlich über den nicht-werblichen Teil der Medien aufgebaut, namentlich über Filme. Sowohl für den Aufbau von Markenmythen als auch für die Inszenierung singulärer Markenereignisse müssen unterschiedliche Arten von Kommunikation miteinander verknüpft werden – neben der Werbung auch die sonstige mediale Berichterstattung. Es verwundert daher nicht, dass sogenannte programmintegrierte Werbung und die Platzierung von Marken in redaktionellen und künstle-
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rischen Inhalten mittlerweile gängige Bestandteile der strategischen Markenkommunikation sind. Das Beispiel der medialen Bearbeitung der Karl-LagerfeldKollektion des schwedischen Textilhändlers H&M im Herbst 2004 liefert dafür reichlich Anschauungsmaterial (vgl. Siegert/Brecheis 2005, S. 86). Auf der einen Seite setzte sie auf klassische Werbemittel wie Plakate und Zeitungsanzeigen. Auf der anderen schaffte sie den Weg in die redaktionelle Berichterstattung sowohl von Printmedien als auch von TV-Programmen. Auch Qualitätsmedien wie die österreichische Tageszeitung 'Der Standard' druckten neben kritischer Berichterstattung eine Auflistung der H&M-Filialen, der erhältlichen LagerfeldStücke und der Preise im redaktionellen Teil ab, wenn auch mit dem bissigen Hinweis „Eiliges Hetzen zum edlen Fetzen“ (Der Standard vom 12.11.04, S. 9). Bezogen auf das Modell muss im ersten Teil des Markenkommunikationsprozesses die Inszenierung I, d.h. konstruierte Geschichten und Mythen als Kommunikationsangebote an die Konsumenten, hinzugefügt werden.
3.3 Funktionen von Marken für die Konsumenten Die Konsumenten gehen auf durchaus selbstständige Art und Weise mit Marken um – bis hin zur oppositionellen Decodierung, z.B. in der oft selbstironischen Verwendung in Kontexten der Jugendszene (vgl. Vollbrecht 1995, S. 8). Dann arbeitet die entsprechende Szene sehr eigenständig interpretierend mit Marken und bezieht sie von Anfang an in die symbolische Arbeit mit ein. Mit der Konsequenz, dass sich die Marke verselbstständigen und völlig der Kontrolle der Marketingstrategen entziehen kann (vgl. Bismarck/Baumann 1995, S. 98). Wahrscheinlicher und üblicher ist allerdings eine wesentlich weniger oppositionelle Decodierung und Interpretation von Marken bzw. eine Decodierung, die der vom Absender bevorzugten Leseart entspricht. In einer solchen Interpretation wird auch die Bedeutung von Welt- und Selbstbild für das Konsumentenverhalten thematisiert: Der Versuch, mittels eines bestimmten Konsumverhaltens reales, ideales und externes Selbstbild und Weltbild aufeinander abzustimmen, wird nicht nur von kulturellen Aspekten beeinflusst, sondern auch von sozialen (Bezugsgruppe, Rollen etc.), persönlichen (Alter, Beruf etc.) und psychologischen (Motivationen, Einstellungen etc.). Hier zeigt sich einmal mehr die immense Rolle der Bezugsgruppen und der sozialen Motivationen, allen voran der Bedürfnisse nach sozialer Akzeptanz, nach Gruppenzugehörigkeit, aber auch nach Distinktion, sozialem Vergleich, Status und Prestige (vgl. ausführlicher: Kroeber-Riel 1984, S. 427ff.; Mayer/Mayer 1987, S. 24). Marken erfüllen für die Konsumenten in diesem Kontext verschiedene individuelle und soziale Funktionen, die auch über die von den Markeninhabern intendierten Funktionen hinaus-
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gehen können. Fokussiert man Funktionen von Marken bezogen auf die Verwendung in der alltäglichen Lebenswelt, lassen sich die Folgenden unterscheiden (vgl. u.a. Hellmann 2003, S. 126ff.; Sommer 1998; Bismarck/Baumann 1996; Karmasin 1998; insbesondere: Buß 1998, S. 98f): 1.
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Eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion, da Marken Entscheidungsprozesse beschleunigen und vereinfachen, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit reduzieren, von aufwändigen Vergleichen entlasten und Sinn erzeugen. Eine biografische Funktion, indem sich persönliche Erfahrungen und Lebensetappen in der Symbolik einer Marke bündeln lassen. Eine Identifikationsfunktion, indem sie (tatsächliche oder gewünschte) Anschauungen, Lebenshaltungen und Lebensstile verdeutlichen. Die Marke wird dann Teil der Selbstinszenierung, die im Rahmen des Selbstkonzeptes zur Schaffung und Aufrechterhaltung der eigenen Identität beiträgt.1 Eine Integrations- bzw. Distinktionsfunktion, da sie als soziales Erkennungszeichen, als kultureller Code fungieren. Marken stellen dabei Chiffren der Zugehörigkeit bzw. der Abgrenzung dar und erlauben es, Distanz abbzw. aufzubauen. Eine Statusfunktion, weil Marken Teil des Selbstinszenierungsrituals sind. Über die soziale Praxis der Verwendung gibt die Marke Auskunft über den Status der Verwender. Mit der öffentlichen Selbstinszenierung geht auch die Inszenierung der Szene einher.
Die Marke als Form der Kommunikation bezieht sich vor allem auf die öffentliche bzw. öffentlich gemachte Markenverwendung und ermöglicht es anderen, die Identität einer Person zu erahnen und eine passende soziale Einordnung zu treffen. Dies setzt allerdings voraus, dass der lebensweltliche Kontext der Marke vorab wenigstens ansatzweise kommunikativ verankert wurde. Ist dies der Fall, zeigt der/die Einzelne mit der Verwendung der Marke deutlich und zum Teil international gültig seine/ihre Zugehörigkeit zu einer (Marken-)Gemeinschaft. So entwickeln sich Marken zu sozialen Erkennungszeichen, die Zugehörigkeit oder Abgrenzung signalisieren. Letztlich fungiert die Markenwahl und -verwendung dann wie eine 'Uniform' und konstruiert zusammen mit der Kommunikation darüber Gruppenidentität. Da die jeweiligen Subkulturen einen je anderen Hintergrund für die Decodierung von Markenbedeutungen liefern, Subkultur und Marke sich dabei wechselseitig zur Bedeutungszuordnung benutzen und sich in diesem Prozess wech1
Selbst Markenagenturen berücksichtigen diesen Sachverhalt, so z.B. die Markenkern-Analyse von Grey Düsseldorf, die den Markenkern u.a. wesentlich dadurch bestimmt sehen, wie sich die Markenverwender präsentieren und welche Persönlichkeitsstruktur sie haben (vgl. Hundt 1993, S. 98)
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selseitig ihrer Identität versichern, kann damit teilweise ausgeschlossen werden, dass zufällige Markenverwender fälschlicherweise als Mitglieder einer (Marken-)Gemeinschaft eingeschätzt werden. In dieser Konzeption muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich beim lebensweltlichen Kontext einer Marke zwar um wechselseitig abgestimmte, aber dennoch nur um Zuschreibungen handelt. Die aus der Zugehörigkeit zu einer Markengemeinschaft abgeleiteten Verhaltenserwartungen an die Mitglieder rekurrieren auf diese Zuschreibungen, reichen aber weit über die reine Markenverwendung hinaus und beziehen sich auf den dahinter vermuteten Lebensstil, auf Einstellungen etc.. Sie werden u.a. durch die werbliche Kommunikation inszeniert und sind insofern nicht aus der Luft gegriffen, als auch der Markenaufbau (professionelle Strategie und Umsetzung vorausgesetzt) auf der sehr detaillierten Typologisierung von Konsumenten aufbaut. Inklusion und Exklusion basieren also auf dem Besitz und der Verwendung der entsprechenden Marken, haben aber weit reichende Konsequenzen für die Gesamteinschätzung des Individuums. Der Druck, der dadurch auf Einzelnen lasten kann, wird gegenwärtig vor allem in Bezug auf Jugendliche und Markenkleidung öffentlich thematisiert und hat die Forderung nach Schuluniformen aufleben lassen. Der eigentliche Vergemeinschaftungsprozess durch Marken kann aber erst dann berechtigt vermutet werden, wenn den wechselseitigen Zuschreibungen insofern Taten folgen, als die wechselseitigen Verhaltenserwartungen im Alltag sozial relevant werden. Die Integrations- und Distinktionsfunktion von Marken baut wie die meisten anderen Funktionen von Marken nachgerade auf der Öffentlichkeit des Konsums und der Verwendung auf. So z.B. der Prestigewert und der Demonstrationseffekt, die beide wesentlich auf das Öffentliche bzw. das öffentlich machen angewiesen sind. Mithin geht es auch um das 'sich in Szene setzen', um die Errichtung von Konsumfassaden und -kulissen, die wiederum auf die relevanten Bezugsgruppen rekurrieren (vgl. Kroeber-Riel 1984, S. 483ff.). Öffentlichkeit wird auch insofern relevant, als die Symbolik der Marke, also die Vermittlung von spezifischen Bedeutungen durch eine Marke, nicht nur bewusst eingesetzt wird: „Kein Konsument kommt heute um die Botschaft herum, die er mit der Entscheidung für eine bestimmte Marke kommuniziert, was längst nicht mehr allein für die Wahl der Automarke gilt, sondern zumindest für alle öffentlich konsumierten Produkte zutrifft.“ (Fritz 1994, S. 36) Funktionen und Verwendungszusammenhänge führen zu einer dritten Erweiterung des Modells um die durch die Konsumenten generierte Inszenierung II. Diese Inszenierung II kann sich mehr oder weniger eng an der Inszenierung I orientieren, wirkt zugleich aber wieder auf die Konzeption der Markenidentität zurück.
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3.4 Modellerweiterung durch Einbezug gesellschaftlicher Sinnstrukturen und kultureller Verwendungskontexte Die skizzierten Rahmenbedingungen des Kommunikationsprozesses, die auf gesellschaftliche Sinnstrukturen bezogenen inhaltlichen Aspekte der Markenkommunikation und die kulturellen Verwendungszusammenhänge von Marken, führen zu mehreren Ergänzungen des Modells. Damit ergibt sich das erweiterte Modell von Marken als zweidimensionalem Kommunikationsprozess. Abbildung 2:
K U L T U R
Medieninhalte
Marken als zweiseitiger, zweidimensionaler Kommunikationsprozess: Einbezug gesellschaftlicher Sinnstrukturen und kultureller Verwendungskontexte Inszenierung II Wettbewerb
Unternehmen (Akteur) È Markenidentität Markenpositionierung (Aussagekonzept) È u.a. Markenwerbung und Marken -PR
Konsumentscheidung Ç Markenimage (Akzeptanzkonzept) Ç Bekanntheit/Sympathie Ç Konsument (Akteur)
Öffentlichkeit
Funktionen
Referenzgruppen
Inszenierung I
gesellschaftliche Rahmenbedingungen, u.a. Erlebnis- und Inszenierungsorientierung, Mediatisierung
Quelle: Eigene Erstellung
Markeninszenierung bezieht sich bei ihrer Produktion auf kulturelle Codes und bedient diese spätestens mit der Inszenierung II gleichzeitig. Über Markenwerbung und Marken-PR sowie über redaktionelle oder künstlerische Medieninhalte wird eine Inszenierung I generiert und den Konsumenten angeboten. Über die soziale Praxis der Markenverwendung, die verschiedenen Funktionen, die Marken erfüllen können, und vor allem über deren Öffentlichkeit wird eine In-
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szenierung II erzeugt, die sowohl Eingang in die Formulierung der Markenidentität als auch Eingang in die Kultur findet. Marken werden Bestandteil von Kultur, z.B. auf so pragmatische Weise, dass Markennamen in den allgemeinen Wortschatz aufgenommen werden. Eben darüber werden sie auch zur Hintergrundfolie, vor der je neue Marken entwickelt werden. Marken sind Konstruktionen, die dem Einfluss der kulturellen Bedingungen und so auch dem kulturellen Wandel unterliegen. Aber die Beeinflussung ist wechselseitig, weil Kultur auch als kontinuierlicher Prozess der Identitätswahrung einer Gesellschaft bezeichnet werden kann, zu dem Konsum und Marken Wesentliches beitragen.
4
Fazit
Im Modell in seiner ersten Version wird die Macht der Konsumenten, den Bedeutungsgehalt der Marke mitzubestimmen, als eingeschränkt gesehen. In der zweiten Version des Modells wird dagegen Marke als kulturelles Ganzes konzipiert. So wird der wechselseitige Bezug zwischen dem kulturellen Umfeld einer Marke und der Marke als Vermittlerin, Trägerin und Zulieferin dieser Kultur berücksichtigt. Damit kommt auch der Aspekt zum Tragen, dass die Marke als Symbol von den Individuen in Interaktionen mit Anderen Bedeutung zugeordnet wird, diese Bedeutung auf subjektiver Erfahrung beruht und im Rahmen des interpretativen Prozesses der Auseinandersetzung mit ihnen auch geändert werden kann. So dienen Marken zum Abgleich des individuellen Selbstverständnisses mit dem gesellschaftlichen Sinnpotenzial. Sie bieten dem/der Einzelnen an, sich im Spiegel gesellschaftlicher Weltdeutungen zu verorten und individuelle Sinnbedürfnisse an die Gesellschaft rückzukoppeln. Betrachtet man den Beziehungsaspekt der Markenkommunikation in dem erweiterten Modell, eröffnet sich eine neue Dimension, die mit dem Konzept von Anbieter und Nachfrager nicht mehr ausreichend bezeichnet wird. Denn beide Akteure sind nicht nur über monetäre Transaktionen miteinander verbunden, sondern konstruieren auch als Produzenten von Inszenierungen gemeinsam Marken. Aus dieser Perspektive kann theoretisch – und auch häufig sehr praktisch – die Marke selbst die Rolle eines sozialen Akteurs einnehmen, zu dem man bestimmte Beziehungen aufbauen kann. Die Marke, die ursprünglich dazu da war, den Produzenten eines Gutes sichtbar zu machen, wird dann selbst zum sozialen Akteur, hinter dem das Unternehmen bzw. einzelne Produkte unsichtbar werden können. Die Beziehung zwischen Marke und Konsumenten wird geprägt von der Einstellung und dem Verhalten der Konsumenten gegenüber der Marke und vice versa von der Einstellung und dem Verhalten der – personifizierten – Marke ge-
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genüber den Konsumenten. Die Marke wird damit eigenständiges Wahrnehmungsobjekt.
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Ambivalenzen werblicher Kommunikation – Formen und Funktionen York Kautt und Herbert Willems York Kautt und Herbert Willems Ambivalenzen werblicher Kommunikation – Formen und Funktionen Der Beitrag beschäftigt sich theoretisch und empirisch-analytisch mit einem als ambivalent bezeichneten Typus von Werbungsinszenierungen. Exemplarischer Bezugsrahmen sind mit den Darstellungen der Geschlechter und des Alter(n)s zwei werbungszentrale Identitäts-Konstruktionen. Nach der Beschreibung einiger Inszenierungsmuster wird abschließend die Frage behandelt, welche Funktionen Ambivalenz als spezifischer Modus der Imagebildung übernimmt.
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Einleitung
Konsum hat immer auch mit Sinn, Bedeutung und Wissen zu tun. Man könnte also in Anlehnung an Watzlawicks berühmtes Axiom von der Unmöglichkeit nicht zu kommunizieren sagen: Man kann nicht sinnlos konsumieren. Sinn, Bedeutung, Wissen verschiedenster Art ‚steckt’ im konsumierten Objekt wie im konsumierenden Subjekt wie in den ‚Kontexten’ des Konsums. Und nicht erst seit Bourdieu, sondern in einem soziologisch höchst elaborierten Sinn spätestens seit Marx oder Veblen wissen wir, beim Konsum kann der Sinn des Konsumierten das Primäre sein; der Sinn des Konsums kann im Sinn des Konsumierten liegen. Es ist höchstens noch in soziologischen Einführungsveranstaltungen der Rede wert, dass Produkte und Dienstleistungen als Symbole von Status, Zugehörigkeit oder/und Distinktion fungieren, dass sie von ,Semantiken’ umgeben und durchdrungen sind, dass sie auf Stile und Lebensstile, Habitus, Diskurse und Deutungsmuster verweisen u.s.w. Natürlich ist es nicht selbstverständlich und nicht alternativenlos, den komplexen Gesamtzusammenhang des Konsums unter dem Fokus von Kultur zu betrachten. Eben diesen Fokus wollen wir der folgenden Untersuchung einer besonderen Voraussetzungs- und Folgeseite des Konsums (und natürlich der Vermarktung) zu Grunde legen: der Werbung. Die heutige Werbung ist bekanntlich (nach entsprechenden historischen Prozessen) ein ‚eigensinniges’ Feld oder, wenn man so will, ein Subsystem, in dem Sinn zweckspezifisch prozessiert wird.
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York Kautt und Herbert Willems
Gerade unter aktuellen Bedingungen ist die spezifische Sinnhaftigkeit und Sinnladung des Konsums zum Thema des Werbungsfeldes und der zugehörigen Klasse von Berufen geworden. Die Funktion der Werbung besteht, ganz allgemein gesprochen, in einem strategischen Sinnmanagement, in der Produktion, Destruktion und Modulation von Sinn in der Form von textuellen und visuellen Inszenierungen, die ein Publikum gezielt beeinflussen und vor allem motivieren sollen: zum Kauf eines Produktes, zur Wahl einer Partei, zur Unterlassung eines Verhaltens u.s.w. Indem die Werbung so fungiert, ist sie zugleich ein Operator, Transformator, Moderator, Generator von Wirklichkeit, auch von Konsumwirklichkeit. Der Sinn, den die Werbung verbreitet, wandert gleichsam in die konsumierten Objekte und in die Konsumpraxis ein; er wird auch sozusagen mitkonsumiert, was zumindest teilweise im strategischen Sinn der Erfinder der jeweiligen Werbung ist: Wenn wir einen Volvo fahren, fahren wir auch das Gefühl von Sicherheit, das uns die Werbung dramatisch vermittelt hat und immer wieder aufs Neue vermittelt. Wie produktiv, destruktiv oder dekonstruktiv Medienrezipienten generell auch immer sein mögen, werbliche Sinngehalte dringen immer mehr oder weniger prägend auch in das Vorerleben, Erleben, Miterleben und Nacherleben des Konsums ein. Diese Rolle als Sinninstanz, aus der sich vielfältige Valenzen des Konsums ergeben, spielt die Werbung natürlich nicht aus dem Nichts, nicht ohne Voraussetzungen und Grenzen der eigenen Möglichkeiten. Eine fundamentale infrastrukturelle Voraussetzung ist das moderne Mediensystem, das im Zuge seiner Evolution immer mehr und immer vielfältigere Foren – oder besser: Bühnen – liefert, auf denen die Werbung ihre Sinngehalte qua Inszenierung für mehr oder weniger disperse und große Publika entfalten kann. Die diversen medialen Bühnen strukturieren, limitieren und eröffnen jeweils die Kontingenzspielräume der werblichen Inszenierung und damit Sinnmanifestation. So ergibt sich z. B. aus dem Format des Werbespots, welche kulturellen Zeichenvorräte überhaupt und in welchem Maße inszenatorisch brauchbar sind. Diejenigen, die sich der medialen Bühnen als professionelle Werber strategisch bedienen, sind aber nicht nur an die strukturellen Bedingungen des Mediensystems gebunden, sondern in Verbindung mit diesem System auch an die zu beeinflussenden Gruppen oder Gruppierungen und damit an deren Kultur. Die Werber haben, genauer gesagt, einen Hauptverbündeten und einen Hauptfeind, die insbesondere traditionell-habituelle, also dem Publikum selbst unbewußte Kultur des Publikums. Sie ist gleichsam der auch über Erfolg oder Misserfolg der Werbung entscheidende Grundstoff und Rohstoff, den die Kulturschaffenden der Werbung für ihre Inszenierungen verwenden müssen. Werber sind m.a.W. Verarbeiter, Verwerter und Verkäufer von sich in Zeichen verkörpernden Sinn-
Ambivalenzen werblicher Kommunikation – Formen und Funktionen
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gehalten, deren werbliche Verwendung – außer durch das Recht – durch nichts begrenzt ist als durch die Konditionen der Medien und der Märkte, und d.h. auch durch die Erfolgsbedingungen, die das Publikum durch sich selbst, d.h. eben durch seine Kultur, setzt. Sahlins hat daher im Blick auf mediale Akteure wie die Werber von „Symbolverkäufern“ gesprochen, die mit einem spezialisierten und speziell geschärften Sinn für den Sinn des Publikums einen neuen oder erneuerten Sinn produzieren, der beim Publikum mit den jeweils gewünschten Handlungsfolgen ‚ankommen’ soll. Die entsprechend relevante Kultur des Publikums muss also zunächst im Zentrum der Beobachtung der Werbung und der Werber stehen. Aber dies muss sie eben nicht im vollen Umfang, sozusagen als eigener und gemeinter Sinn des Publikums, sondern nur insofern sie als Medium der strategischen Beeinflussung des Publikums dienlich ist oder dienlich zu sein verspricht. Der werbliche Bezug auf die Publikumskultur zeichnet sich also durch eine systematische Selektivität aus, die sich aus der strategischen Fungibilität der Publikumskultur für das konkrete Werbungsprojekt im Rahmen des jeweils medial Inszenierbaren ergibt. Generell sind es, um es mit Parsons zu unterscheiden, kathektische, moralische und kognitive Normen und Werte, z. B. (säkulare) Paradiesvorstellungen, die die Werbung als Sinngehalte strategisch in Dienst nimmt. Dabei hat sie vor dem Hintergrund ihrer Publikumskonstruktion natürlich immer auch das beworbene Objekt buchstäblich im Sinn. Der ‚Sinn-Status’ des Werbungsobjekts, sein ‚Image’, seine Einbettung in kulturelle Traditionen u.s.w. ist eine eigenständige Struktur der werblichen Kulturbühne, die ihre ‚Rückkoppelung’ an die Publikumskultur wesentlich organisiert. Es ist also zwar zweifellos wahr, dass ‚praktizierende’ Werber ihre jeweilige Publikumskultur tendenziell mit höchster Sensibilität beobachten und letztlich in medialen Kommunikationen verarbeiten; es ist aber ebenso falsch, dass die Werbung damit die Kultur ihres Publikums ‚spiegelt’ oder auch nur ‚symptomatisch’ repräsentiert. Dies kann jedenfalls niemals generell oder auch nur normalerweise der Fall sein. Vielmehr steht die Werbung prinzipiell in einem asymmetrischen und bedingt durch ihre empirischen Erfolgsbedingungen systematisch kontingenten Verhältnis zur jeweiligen Publikumskultur. Diese, z. B. ein Weltbild, ist nicht mehr und nicht weniger als eine poly- oder ambivalente Inszenierungsbasis im strategischen Verhältnis und Verhalten zum Publikum. So kann die Werbung mit Publikumskultur sozusagen konform gehen, um das Publikum nicht zu irritieren. Und ebenso kann sie von derselben Publikumskultur abweichen, um das Publikum, z. B. zum Zweck der Aufmerksamkeitserzeugung, zu irritieren. In jedem Fall manifestiert sich aber Publikumskultur in dieser oder jener Selektivität unter diesem oder jenem Vorzeichen in irgendeinem Sinne in der Werbungskommunikation. In ihr hat man aber weniger ein ‚Forum’ von Kultur zu sehen, als eine Bühne, hinter der sozusagen Parasoziologen und praktische
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York Kautt und Herbert Willems
‚Poeten’ im Dienst eines strategischen Ziels agieren. Der Sinn, um den es dabei geht, ist ebenso unterschiedlich wie die Publikumskulturen mit ihren Semantiken, Diskursen und Ästhetiken, Deutungsmustern, Ideologien, Images, Ritualen, Stilen u.s.w. Die Werbung reproduziert und unterstützt also schon durch ihre unmittelbare Publikumskulturabhängigkeit den universellen kulturellen Pluralismus, mit seinen Inkonsistenzen, Antagonismen, Widersprüchen, Paradoxien und Ambiguitäten. Neben diesem allgemeinen Pluralismus, den man, zumindest auch, als Anpassung der Werbung an eine zunehmende Subkulturalisierung (Pluralisierung von Lebensstilen, Milieus u.s.w.) der Gesellschaft interpretieren kann, ist zu beobachten, dass auch auf der Ebene einzelner Werbungen solche Inszenierungen an Häufigkeit zunehmen und an Prägnanz gewinnen, deren Inhalte und Wertorientierungen gerade nicht durch Eindeutigkeit, sondern durch Mehrdeutigkeit und Interpretationsoffenheit gekennzeichnet sind. Der Begriff der Ambivalenz bietet sich als analytische Kategorie an, da die entsprechenden Inszenierungen – wie noch zu zeigen ist – oftmals zwei scheinbar gegenläufige Wert-Komplexe so in Beziehung setzen, dass zwischen beiden keine eindeutige Hierarchie, sondern eine Symmetrie hergestellt wird, die sie beide als erstrebenswert erscheinen lässt. Die folgenden Überlegungen knüpfen an eine umfangreiche empirische Untersuchung an1, indem sie einige Ergebnisse der Studie – nämlich die Beschreibung bestimmter Muster der Darstellung der Geschlechter und des Alter(n)s – als Hintergrund der Analyse neuerer Werbungsanzeigen unter dem Gesichtspunkt der Ambivalenzherstellung benutzen.
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Ambivalente Geschlechterdarstellungen zwischen Traditionalismus und Modernismus
Um besser verständlich zu machen, dass und inwiefern man von ambivalenten Geschlechterdarstellungen sprechen kann, ist zunächst ein Hinweis auf solche Werbungen sinnvoll, die Eindeutigkeit herstellen, indem sie die zum Einsatz gebrachten Zeichen mit einer semantischen Gleichgerichtetheit ausstatten, die in der sozialwissenschaftlich orientierten Interpretation verschiedener ästhetischer Phänomene im Anschluß an Lévi-Strauss als „Homologie“ bezeichnet wird.2 Gemeint ist die Realisierung eines wechselseitigen Verweisungsbezugs der Zeichen, der eine bestimmte Bedeutung – z. B. das (Identitäts-)Attribut „Natürlichkeit“ – zum Ausdruck bringt. Im Kontext der werblichen Geschlechterinszenie1
Zur Datenbasis, zur methodischen Vorgehensweise und zu den Ergebnissen dieser Untersuchung im einzelnen vgl. Willems/Kautt 2003. 2 Zu dem Konzept der Homologie vgl. z.B. Hebdige 1979.
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rung lassen sich bis in die aktuelle Gegenwart z. B. Homologien beobachten, die über die bildliche Umsetzung zueinander passender Merkmale auf ein traditionelles Bild von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit abzielen. Trotz aller faktischen Wandlungen und trotz einer Vielzahl von Wandlungen, die sich auf den zweiten, analytischen Blick als Scheinwandlungen zu erkennen geben, gehören altbekannte Geschlechterstereotypen nach wie vor zum Kernbestand der Werbung. Typologisiert man diese Stereotypen in Bezug auf den (Geschlechter-)Körper als das Ausdrucks-Medium geschlechtsspezifischer Unterschiede und deren (Re-) Inszenierung, kann man einen nicht unerheblichen Anteil der Darstellungen immer noch mit analytischen Kategorien und Begriffen fassen, die Goffman in seinem Werk „Gender Advertisements“ (1979) unter dem Konzept der „Hyperritualisierung“ subsumiert hat – so z. B. das überdeutlich markierte („hyperritualisierte“) „Prinzip der relativen Größe“ (zwischen Männern und Frauen), das „ausweichende Verhalten“ (der Frauen) oder die in entsprechenden KörperKonstellationen betonte „Rangordnung nach Funktion und Kompetenz“, die Frauen als das subordinierte Geschlecht erscheinen lässt. Zudem kann man ein bis in die Gegenwart fortgeschriebenes traditionelles Rollenverständnis an verschiedenen Symbolisierungen, Kontextierungen und Bildsemantiken festmachen, die neben und mit der Korporalität der Geschlechter eine erhebliche Rolle spielen, wenn es der Werbung darum geht, alltagstheoretische GeschlechterVorstellungen ins Bild zu setzen. Neben den ‚Lebenswelten’ des Berufs, der Familie, des Haushalts und der Freizeit (z. B.: Sport, Geselligkeit) ist die Thematisierung von Krankheit (Gesundheit) oder Schönheit ein diskursives Feld, an dem sich in der Analyse traditionelle Normalitäts-Erwartungen ebenso ablesen lassen wie traditionelle Idealisierungen oder Stigmatisierungen.3 Obwohl traditionelle Geschlechter-Images bis in die aktuelle Gegenwart durchaus zahlreich kontinuieren, sind andererseits Entwicklungen und Transformationen verschiedener Geschlechter-Images nicht zu übersehen: Alte Klischees sind erodiert, verschwunden oder mutiert, Grenzen haben sich verschoben, neue Formen und Deutungsmuster haben das Licht der Reklamewelt erblickt. Insgesamt ist die Werbungskultur komplexer, vielschichtiger und ambiguer geworden. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre wird ein Bild (unter anderen Bildern) von Werbefrauen relevant, das diese als selbstbewusst, selbstbestimmt und unabhängig präsentiert. Als ‚gleichberechtigte‘ Wesen konsumieren Frauen wie Männer und fällen Kauf- und Konsumentscheidungen, die einstmals den Männern vorbehalten waren. Frauen agieren auch auf sich selbst gestellt in Bereichen, die traditionell nahezu ausschließlich mit männlichen Akteuren verbunden wurden; z. B. unternehmen sie abenteuerliche Urlaubstrips, betreiben anforderungsreiche Frei3
Vgl. dazu Willems/Kautt 2003, 309-330.
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zeitsportarten u.s.w. Auch in der werblichen Berufswelt sind Frauen längst nicht mehr nur ‚unten‘ und – Männern – untergeordnet zu finden. Im Zuge einer kontinuierlichen Expansion der Darstellung weiblicher Berufstätigkeit in der Werbung hat sich zugleich ein neues Rollen- bzw. Erscheinungsbild der berufstätigen Frau herauskristallisiert und ausdifferenziert. Man findet nun Managerinnen, die zugleich die (früher Männern vorbehaltene) Aufgabe der finanziellen Zukunftssicherung der Familie übernehmen ebenso wie die junge, und innovationsfreudige Forscherin oder die harte Unternehmerin mit „kühnem Blick“. Nicht selten ist es nunmehr auch sie, die ‚Karriere macht‘ und mit ihm in den oberen Etagen der Bürowelt kooperiert und konkurriert, z.B. als Architektin, Ärztin, Managerin, Unternehmerin, Rechtsanwältin. Neben der ‚modernisierten‘ Frau trifft man in der neueren Werbung immer häufiger auf ‚neue Männer‘ bzw. Aspekte ‚neuer Männlichkeit‘. Schönheit, Gepflegtheit, Wohlgeruch (vgl. Borstnar 2002), Mode und Schmuck werden, wenn auch (noch) zurückhaltend und mit deutlicher Kumulation in den entsprechenden Produktbereichen, zunehmend zu männlichen Identitätsthemen. Mit dieser Ästhetisierung geht häufig eine Erotisierung einher. Man denke hier z. B. an die, wenn auch zögerliche Einführung männlicher Erotikkörper als ‚Eyecatcher‘. Weiterhin dringen mit der ästhetischen ‚Feminisierung’ des Mannes auch narzisstische Posen und Attitüden, die einst ausschließlich auf der Seite der Frauen zu finden waren, in die Männer-Welt ein. Auch sind in der neuesten Werbung auffallend viele Männer mit ihren Klein- und Kleinstkindern in der Rolle des fürsorglichen und liebevollen Vaters zu sehen, der seine Kinder im Arm hält, füttert und mit ihnen spielt. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dieses Motiv sei derzeit sogar populärer als das der Mutter im Kreise ihrer Lieben. Bei näherer Analyse emanzipierter Geschlechter-Images zeigt sich jedoch, dass diese mit dem Traditionellen in einer engeren Verbindung stehen, als es zunächst scheint. Exemplarisch sei hier nur die Werbedramatisierung des männlichen Körpers als ‚Anblick‘ erwähnt. Sie tritt bis heute im wesentlichen nur in Werbungen für eine bestimmte Produktpalette (Parfum-, Kosmetik- und Modewerbung) in Erscheinung und relativiert schon durch diesen Rahmen die Thematisierung von (Körper-)Schönheit als zentrales Identitätsattribut des Mannes. Die Aufwertung der Körperformen erfolgt dann nicht, wie bei Werbefrauen durchaus üblich, in Abkopplung des (Sinn-)Rahmens, den das Produkt etabliert. Auffällig und signifikant relativierend ist auf der semantischen Ebene der Bilder zudem, wie der männliche Körper als Blickfang in Szene gesetzt wird. Im Unterschied zu den entsprechenden Frauen werden Männer z. B. immer wieder so abgebildet, dass ihre Körper einen skulpturalen Charakter bekommen bzw. an kulturgeschichtlich gerahmte Rollen erinnern, z. B. an den Typ des Adonis oder den des Herkules. Die klassizistische Anmutung rührt dabei nicht nur von (athletischen)
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Körperformen, sondern auch von pathetischen Gesten, entsprechenden Staffagen (Säulen, fallende Stoffe u.s.w.), (Produkt-)Namensgebungen und einer systematischen Ausblendung lebensweltlicher Bezüge her. Werbung leistet hier in einem spezifischen Sinn ‚Arbeit am Mythos‘. Im Zitat der Antike findet sie eine Methode, die Nacktheit und nackte Schönheit der Geschlechter differentiell zu behandeln. Indem sie den Schleier (kunst-)historischer Motive über den Mannskörper legt, hebt sie dessen bloße Nacktheit auf. In Entsprechung ihrer allgemeinen Tendenz zur Hyperstilisierung, Vereinfachung und Pointierung lebensweltlicher Sinnstrukturen und Ästhetiken (Stile) tendiert die Werbung also zu einer Schematisierung und Polarisierung ‚traditioneller’ und ‚moderner’ Rollenbilder. Gerade auch die Herstellung ambivalenter Geschlechter-Images geht von dieser ‚Leitdifferenz’ aus. Deren systematische Handhabung kann über bestimmte Darstellungsformen rekonstruiert werden. Recht häufige Stilmittel, über die absichtsvoll unentschieden bleibt, ob die Images ein traditionelles oder ein modernes Rollenverständnis propagieren, sind Humor und Ironie. Beide kommen z. B. in den bereits selbst zur Tradition gewordenen Inszenierungen zum Einsatz, in denen der ‚neue Mann’ als Hausmann in Erscheinung tritt. Zentrales Medium der Ambivalenzherstellung ist der Körper als metakommunikative Zeichenbasis. So gibt ein unsicheres Hantieren mit Kochtöpfen oder auch ein kommentierendes Augenzwinkern bei entsprechenden Tätigkeiten zu erkennen, dass der Mann für die Sphäre des Haushalts weder geeignet ist noch geeignet sein will. Es scheint oft so, als sei die in anderen Werbekontexten betonte Fähigkeit des Mannes, seinen Körper instrumentell zu nutzen, verloren gegangen und in eine Ungeschicklichkeit verkehrt, die es sogar möglich macht, ihn als Benutzer einfach zu bedienender Haushaltsgeräte vorzuführen. Vom Staubsauger über die Windel bis zu Fertiggerichten reicht die Palette von Produkten, die gerade in ihrer Simplizität die Steuerungsdefizite des Werbemannes in dem ihm ‚wesensfremden‘ Handlungsbereich verkörpern. Indem geschirrspülende, kochende oder staubsaugende Männer humorvoll als Ausnahmezustand gekennzeichnet werden oder die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten unter ironischen Vorzeichen erscheint, entsteht ein Image, das sich weder einem wertkonservativen noch einem progressiven Rollenverständnis eindeutig zuordnen lässt. Das gilt seit längerem und in der zeitgenössischen Werbung um so mehr, als die von Goffman beschriebenen Rollendistanzen der Werbe-Hausmänner keineswegs immer als einfache Konservierungen traditioneller Schemata gedeutet werden können.4 Vielmehr sieht man zunehmend Inszenierungen, in denen die Nichtbeherrschung der Haushaltstätigkeiten in Vorführungen eines modernen 4
In der Möglichkeit, den Mann als „lächerlich oder kindisch darzustellen, und zwar auf unrealistische Weise“, erkennt Goffman die Strategie, „das Könner-Image des wirklichen Mannes zu retten“ (Goffman 1981, 150).
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Lebensstils eingebettet ist, die an eine Emanzipation beider Geschlechter von Traditionsfixierungen denken lässt. Das besagte Klischee des AusnahmeHausmanns wird dann ebenso bedient wie das Bild moderner (Patchwork-)Familien gezeichnet wird, in denen beide Elternteile für Erziehung und Erwerbsarbeit zuständig sind (vgl. Abb. 1).5 Abbildung 1:
Hausmann zwischen Rolle und Rollendistanz
Quelle: Brigitte, Heft 25, 2001
Ein anderes, ebenfalls häufigeres Instrument der Ambivalenzherstellung besteht in einer systematischen Ausblendung solcher Kontexte, die eindeutige ImageFestlegungen auf einen der beiden Pole ‚traditionell’ oder ‚modern’ verhindern. Diesem Zweck sind z. B. Inszenierungen unterstellt, die Frauen mit Haushaltsprodukten in Verbindung bringen, ohne Assoziationen zur Rolle der Hausfrau wachzurufen: Wenn Frauenaugen durch ein (sauberes) Weinglas blicken, oder wenn Frauenhände Staubsauger umfassen und dabei keinerlei Kontext (wie z. B. 5
Die Abbildungen sollen dem Leser exemplarisch u.a. die hier im Text nicht rekonstruierbare Informationsfülle der Inszenierungen vor Augen führen.
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die Küche), sondern nur ein weißer Hintergrund als (Nicht-)‚Bühne‘ dient, ist das der Fall. Einen ähnlich selektiven Umgang mit Kontexten kann man in Bildern sehen, die moderne „Karrierefrauen“ zeigen und dabei – ganz im Unterschied zur Darstellung männlicher Macher – auf Vorführungen professioneller Handlungsfelder verzichten. Das Fehlen eines sich agierend präsentierenden Expertentums pasteurisiert dann gleichsam die Professionalität der Frau. Bemerkenswert ist auch, dass die Karrierefrau äußerst selten in Situationen gezeigt wird, in denen sie als statushöhere Berufsrolleninhaberin neben statusniederen Männern erscheint. Während der hohe Status männlicher ,Macher‘ immer wieder und gerade durch statusniedere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unterstrichen wird, vermeidet die Werbung Gegenüberstellungen in umgekehrter Geschlechtsrollenbesetzung, und sie vermeidet damit die konkrete Vorführung von Umkehrungen ihrer normalen rituellen Ordnung. Statt dessen zeigt sie Karrierefrauen immer wieder allein oder unter ,Kolleginnen‘. Eine weitere Methode, mit der die Werbung Tradition und Moderne gleichermaßen bedient, besteht in der Integration entsprechender Bildsemantiken. Ein solcher Fall ist die Frau, die im Haushalt gerade nicht als ‚Heimchen am Herd’, sondern als ‚Managerin’ dargestellt wird. Die Verschränkung der symbolischen Sphären lässt dann die Frage offen, ob es sich um die Darstellung einer berufstätigen Frau handelt, die nebenbei den Haushalt ‚managt‘, oder (nur) um eine ‚Aufwertung‘ der mit einem Negativimage besetzten Hausfrauenrolle, also um die Konstruktion eines neuen Images für eine alte Rolle. Ähnlich doppelwertig sind Darstellungen von Männern in familialen Kontexten dann, wenn ihre Berufsrolle so thematisiert wird, dass unklar bleibt, ob die Rolle des erziehenden Vaters oder die des ‚Ernährers’ gemeint ist. Ein Beispiel hierfür gibt eine Anzeige, die mit der veranschaulichten Vater-Kind-Idylle und der Feststellung „Erfolgreiche Manager gucken jeden Tag Sandmännchen“ sowohl den erfolgreichen Haushaltsmanager wie den ‚Part-time-Papa’ idealisiert, der nach getaner Erwerbsarbeit den Abend mit dem Sohn vor dem Fernseher ausklingen lässt.
3
Ambivalente Alter(n)sdarstellungen zwischen Jugendlichkeit und würdigem Alter
Wenngleich die Inszenierungen des Alters, des Alterns und der Alten bislang deutlich weniger vielfältig sind als die der Geschlechter, ist auch hier eine zunehmende Differenzierung der Werbungskultur nicht zu übersehen. Es gibt kein homogenes Alter(n)sbild der Werbung und das gilt um so mehr, als bereits der traditionelle Kernbestand von Images keineswegs nur – wie gelegentlich behauptet – auf ein Defizitmodell reduziert ist, das Alter(n) als Prozess des Krankwer-
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York Kautt und Herbert Willems
dens und Zustand des Krankseins definiert. So stehen Alte in der Werbung schon seit langem nicht nur für Gebrechlichkeit, sondern auch für das Bewahren ‚guter’ Traditionen (Brauchtum), für Muße und Gemütlichkeit oder für ein besonderes Könner- und Expertentum (z. B. im Beruf). Auch Szenen eines genussvoll erlebten ‚Lebensabends’, z. B. im Rahmen vorgeführter Partnerschaftsidyllen, sind alles andere als neu. Das Bild des Alter(n)s ist dabei insofern polyvalent, als verschiedene Werbungen verschiedene Attribute und Identitätsaspekte auf diese Lebensphase projizieren. Diese Polyvalenz ergibt sich in Kopplung zu den jeweils beworbenen Objekten, die der Werbung als spezifisch mit Sinn ‚aufgeladene’ Objekte aus strategischen Gründen unterschiedliche Vorstellungen von Alter(n) nahelegen. Was Alter ist (z. B.: ‚Feel Age’ versus ‚Look Age’) und ab wann Altern beginnt variiert entsprechend mit den beworbenen Gegenständen: Während Alter(n) in der Kosmetik-Reklame mit 30 schon fortgeschritten sein kann, können in anderen Werbungen 60-Jährige geradezu als Jugendliche dargestellt werden (z. B. in der Werbung für Herzpräparate, Versicherungen u.s.w.). Von einer ambivalenten Identifizierung des Alters, des Alterns und der Alten kann man daneben insofern sprechen, als auf der Ebene einzelner Inszenierungen Alter als Negativ- wie als Positivwert zugleich anklingt. In den entsprechenden Images wird der Versuch unternommen, das Defizitmodell des Alterns bzw. den dazugehörigen Gegenwert von ‚Altheit’ – nämlich eine bestimmte (positive) Vorstellung von ‚Jugendlichkeit’ – in eine Semantik einzubinden, die das Altern würdigen soll. Beispiele für diesen ambivalenten Typus sind zum einen der in der Kosmetik-Reklame traditionsreich entfaltete Themenkomplex „reife Haut“ und zum anderen der in jüngerer Vergangenheit expandierende und vermutlich weiter expandierende Image-Komplex der so genannten „jungen Alten“. In Bezug auf den ersten Themenkomplex kann man zunächst eine Ambivalenz der Texte konstatieren. Einerseits spricht man von „reifer“ Haut der Frau „above 30“ (und erst recht: der Frau „above 40“ oder „50+“) und davon, dass diese Haut „besondere Bedürfnisse“ hat, insgesamt „anspruchsvoller“ geworden ist und daher einer entsprechend „wertvollen“ Pflege bedarf. Ganz in Passung zu Vokabeln wie „Best Agers“, die sich im Marketing-Jargon zur Beschreibung und Adressierung einer älteren Konsumentengruppe und auch zunehmend in der Alltagssprache etablieren, geht es hier um eine (wenn auch nur scheinbare) Würdigung des Alters über die Behauptung eines Qualitätssteigerungsprozesses. Reife soll hier wie in anderen Zusammenhängen als Reife der Persönlichkeit und des Charakters stilisiert werden. Dass die positive Seite dieses Prozesses nur die eine Seite der Medaille ist, machen die Texte aber ebenso deutlich. Sie sprechen offen von „Age Repair“ und von „Anti-Aging“, stellen also unmissverständlich klar, dass Alter eine
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Krankheit ist, die es zu bekämpfen gilt und die Haut ein Kampfplatz, an dem sich Siege bzw. Niederlagen gegen das Alter(n) ablesen lassen. Ähnlich ambivalent strukturiert sind die Bilder. Sie geben einerseits über das Hautbild der Darstellerinnen eine gewisse ‚Reife’ zu erkennen. Schon seit den 1970er Jahren sind immer wieder Models zu sehen, die anhand feiner und feinster Unterschiede (z. B. Fältchen) auf ein Alter zu schätzen sind, das deutlich über dem der jungen Frauen zwischen 15-25 Jahren liegt, die in der Kosmetikreklame gewöhnlicherweise als Darstellerinnen fungieren. Insofern ältere Frauen hier als Schönheitsideale stilisiert werden, kann man in einem gewissen Sinne von einer Würdigung des Alters sprechen. Dies gilt um so mehr, als Zeichen-Spielräume zu Zwecken der Altersmarkierung seit den 90er Jahren zunehmen. Die in dieser Zeit bekannt gewordene (und seitdem fortbestehende) Kampagne für die Marke „Nivea-Vital“ steht exemplarisch für einen breiteren Trend der Werbung in Richtung einer ‚realistischeren’ Darstellung des älteren (Frauen-)Körpers in der Kosmetikwerbung. Aber auch bei diesen Images – ja gerade dann – wird bildlich sichtbar gemacht, in welchen (engen) Grenzen und in welcher ambivalenten Weise ‚Reifungsprozesse’ als Wertsteigerungsprozesse zu verstehen sind. Trotz aller Hinweise auf faktisches (chronologisches) Alter wird nämlich in erster Linie Jugendlichkeit als Zentralwert von Schönheit stilisiert, ja er tritt hier als solcher forciert in Erscheinung (vgl. Abb. 2). Abbildung 2:
Alter(n) zwischen Reife und Jugendlichkeit
Quelle. Brigitte Woman, Heft 11, 2006
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York Kautt und Herbert Willems
Die ‚produktive‘ Zielmarke wird von den entsprechenden Werbungen bei allem Realismus anspruchsvoll in Richtung Jugendlichkeit (und nicht etwa in Richtung ‚würdiges Alter‘) definiert: Die abgebildeten ‚reifen‘ Frauen zwischen 30-50 nähern sich, genauer gesagt, in fast jeder Hinsicht den werbetypischen Idealen an (glatte Haut, symmetrische Gesichtszüge, weiße Zähne, schlanke Figur, modische Perfektion u.s.w.), obgleich das chronologische Alter der Darstellerinnen durchscheint. Manifest wird also die Konstruktion einer altersspezifischen Jugendlichkeit. Die Neuerung besteht darin, dass die Diskrepanz zwischen den am Körper festzumachenden Jugendlichkeitszeichen einerseits und der vom selben Körper ermöglichten Schätzbarkeit des realen Alters andererseits größer wird, ohne (und das ist die strategische Absicht) als störende Dissonanz wahrgenommen zu werden. Insofern Bilder die eigentlichen Kommunikationskanäle der Werbebotschaften sind, leistet deren Ambivalenz zugleich eine Verstehensanweisung für die Werbetexte – sie legt nämlich nahe, dass „Reife“ ein Euphemismus ist, d.h. dass die Erlangung der zur Reife führenden Attribute möglichst (lange) verhindert werden sollte. Die Reife-Images dekonstruieren also Jugendlichkeit nicht als (Körper-)Wert für die ältere Generation, sondern erschließen denselben mehr oder weniger subtil. Das Ideal der Jugendlichkeit wird gerade in der scheinbaren Annäherung an die Körper-Realität der Älteren zur praktischen Forderung und Anforderung.6 Ein anderes Inszenierungsspektrum, in dem die semantischen Gegenpole ‚Altheit’ und ‚Jugendlichkeit’ zu ambivalenten Konstruktionen verschmolzen werden, bilden die Images der ‚jungen Alten’. Als solche werden sie durch einen ‚jugendlichen’ Lebensstil und durch Jugendlichkeits-Attribute identifiziert. In Bezug auf letztere ist ein spezifisches körperliches Erscheinungsbild der Darsteller signifikant: Die gezeigten Individuen sehen, gemessen an den gängigen, an Jugendlichkeit orientierten Schönheitsidealen (s.o.), für ihr Alter meist relativ ‚gut’ aus. Analog zur Oberflächenselektion wird das (Bewegungs-)Verhalten der Körper in Szene gesetzt, nämlich so, dass Identitätsattribute wie Fitness, Dynamik, Beweglichkeit u.s.w. zum Ausdruck kommen. Neben und mit der Ausgestaltung einer jugendlichen Alters-Korporalität werden Themen wie Mode, Design, Musik und Freizeit zur Charakterisierung eines neuen, ‚jugendlichen’ Alter(n)s genutzt. Ambivalent sind die entsprechenden Images insofern, als eine Orientierung am Neuen, Modischen, Modernen und Extremen, d.h. eine Orientierung an Werten, die bei der Adressierung jüngerer Altersklassen seit langem eine Rolle spielen, sowohl erkennbar angesteuert wie zugleich in spezifischer Weise heruntermoduliert und transformiert wird. So sieht man Ältere und Alte zunehmend umgeben von ‚modernem’ Design und ‚moderner’ Architektur (z. B. 6
Eine andere Richtung dieser Expansion besteht in der werblichen ‚Verschönerung‘ des Mannes. Sie betrifft allerdings bislang eher den jüngeren Mann.
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im Bauhaus-Stil), während zugleich ‚Gemütlichkeit’ als Wohn- und Design-Wert tradiert wird. So ist die Kleidung zunehmend modebewusst, doch dominiert gerade dann, wenn Mode als zentraler Identitätsaufhänger stilisiert wird, eine Orientierung am Ideal der ‚schlichten Eleganz’, das die Gesetze der Mode ebenso beachtet wie es zum ‚Modischen’ im Sinne kurzfristiger Trends und Formenspiele (die in allen anderen Altersklassen zu sehen sind) auf Distanz geht. Auch die sich seit längerem ausdifferenzierende Freizeitwelt der Werbe-Älteren ist ambivalent strukturiert: Einerseits folgt sie unverkennbar dem allgemeinen Trend hin zum Erlebnis- und Action-Schema (vgl. Jäckel 1998). Andererseits wird mit ihr im Unterschied zu den Images für jüngere Rezipienten keineswegs die Suche nach dem letzten ‚Kick’ propagiert. Diese eigentümliche Spannung verdeutlicht eine Anzeige, die einen etwa 70-jährigen „Wellengott“ mit seinem Surfbrett ganz in Passung zu traditionellen Alten-Images inszeniert: Gezeigt wird „Walter“ nicht beim Wellenritt, sondern im Rahmen einer Ruhe und Gelassenheit ausstrahlenden Szenerie (Sonnenuntergang) nebst (s)einer (Ehe-)Frau, die in Entsprechung altbekannter Geschlechter-Hyperritualisierungen zu ihrem Helden stolz aufblickt (vgl. Abb. 3). Abbildung 3: Alter(n) zwischen jugendlicher Action und würdigem Alter
Quelle: Der Spiegel, Heft 13, 2005
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Auch die Musik, die in Spots mit älteren Darstellern häufiger nicht mehr vergangene Jugend über Hits zurückliegender Jahrzehnte in Erinnerung rufen, sondern ein ‚Mithalten’ an aktuellen (Musik-)Entwicklungen signalisieren soll, trägt zu einer Heruntermodulation des Jugendlichen insofern bei, als es sich immer um Mainstream-Pop handelt, dessen Formen nicht auf subkulturelle Vorlieben, sondern auf den Kernbestand einer seit langem kontinuierenden, allgemeinen (altersübergreifend akzeptierten) Popkultur verweisen. Die verschiedenen Dimensionen dieses Lebensstils und seiner Ambivalenzen zeigen, dass die jungen Werbe-Alten nur bedingt bzw. in einem sehr bestimmten Sinne als Bestätigung der bekannten Tenbruckschen Auffassung interpretiert werden können, dass Jugendlichkeit zu einer die Altersklassen übergreifenden „einheitlichen Idealform“ geworden ist (vgl. Tenbruck 1965). Die Analyse zeigt vielmehr, dass Jugendlichkeit als generelles Ideal nur eine Ressource zur Konstruktion einer spezifischen Form von Jugendlichkeit ist, die als solche Bestandteil der Identität der jungen Alten ist. Anders formuliert: Neben dem Jugendlichen und den Jugendlichkeiten der Jugendlichen stehen das Jugendliche und die Jugendlichkeiten der älteren und alten Erwachsenen als Bestandteile alterscharakterisierender (Jugendlichkeits-)Images.7
4
Schluss
Was lässt sich nun im Rahmen einer nach Funktionen der Ambivalenz fragenden Perspektive vermuten? Von zentraler Bedeutung dürften die Möglichkeiten sein, mittels ambivalenter Botschaften einem Bezugsproblem entgegenzuwirken, mit dem die Werbungskommunikationen prinzipiell konfrontiert sind. Dieses Problem besteht darin, dass die Werbung Individuen unterschiedlicher Schichten, Lagen und Milieus bzw. Individuen mit verschiedenen Lebensstilorientierungen zugleich ansprechen muss. Ihre „Zielgruppe“ ist in der Regel keine faktisch vorhandene Gruppe oder Gemeinschaft, sondern eine fiktive Assoziation von Gesellschaftsmitgliedern mit heterogenen Wertorientierungen, Normen und Geschmackspräferenzen. Dieser Sachverhalt gilt zwar für Werbungen in den verschiedenen „Formaten“ der unterschiedlichen Verbreitungsmedien in unterschiedlichem Maße. Während z. B. die in den von uns untersuchten so genannten 7
Man kann in Bezug auf die hier nicht thematisierte Jugendlichkeit der Jugendlichen sogar feststellen, dass sie in vielen Hinsichten geradezu einen Gegenpol zu dem allgemeinen ,Jugendlichkeitskomplex‘ der Werbung darstellt. So wird das Ideal des jugendlichen Körpers (verstanden als Glätte, Frische u.s.w.) nicht nur erheblich weniger herausgestellt oder sogar abgelehnt, sondern es werden auch die mit dieser allgemeinen Jugendlichkeit verbundenen Kontextierungen (Bühnen, Kulissen, Gestaltungsformen) entschieden variiert bzw. dekonstruiert (entidealisiert).
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„Publikumsmedien“ (so z. B. die Magazine „Stern“ oder „Brigitte“) plazierten Werbungen stark mit diesem Problem konfrontiert sind, trifft dies für die Werbung in „Special-Interest“-Formaten um so weniger zu, je mehr die Werbung von einem homogenen Zielpublikum ausgehen kann. Aber auch in diesen Fällen bleibt das Problem prinzipiell bestehen. Die Integration mehr oder weniger divergierender Semantiken zu Images, in denen verschiedene Positivwerte gleichsam ‚parallel’ wirksam werden können oder in denen zumindest allzu deutliche Festlegungen auf bestimmte Wertesets und Lebensstilmuster vermieden werden, soll die Akzeptanzchancen der Werbungsinszenierungen über die verschiedenen kulturellen Positionierungen der Rezipienten hinweg steigern. Das Problem, heterogene Publika überzeugen zu müssen, besteht für die Werbung um so mehr, als die über Verbreitungsmedien (Druck, Funk, Film/Fernsehen) verbreitete Werbung unter anonymen Kommunikationsverhältnissen Akzeptanz herstellen muss. Zwar kann über die verschiedenen Methoden der Markt- und Konsumforschung pro- oder retrospektiv immer wieder mehr oder weniger genau erfasst werden, welche Rezipienten welche Werbungen mit welchen Folgen sehen werden oder gesehen haben. Das ändert aber nichts daran, dass bei der Herstellung von Werbung prinzipiell nicht genau gewusst werden kann, wer die jeweiligen Botschaften rezipieren wird. Schon dieser Sachverhalt legt der Werbung bestimmte inszenatorische Techniken wie Generalisierung oder Ambivalenz näher als andere. Eine weitere Funktion ambivalenter Images kann man als eine Variation der allgemeinen Werbungs-Notwendigkeit beschreiben, sich im Sinne eines „kulturellen Forums“ (Newcomb/Hirsch 1986) möglichst eng an die jeweilige Alltagskultur anzubinden. Denn mit den hier nur sehr kursorisch dargestellten Ambivalenzen im Bereich der Geschlechter- und Alter(n)sdarstellungen reagiert sie auf eine Unübersichtlichkeit (spät-)moderner Verhältnisse, d.h. auf eine polykontexturale Gesellschaft, in der sich die einzelnen Individuen (Rezipienten) zunehmend vor das Problem gestellt sehen, sich zwischen Lebensstilen, Moden, Werthaltungen u.s.w. entscheiden zu müssen. Ambivalenz mag insofern auch als ein Mechanismus interpretiert werden, mit dem man Entscheidungen treffen und zugleich aufschieben kann. Man hat sich, z. B. im konsumtiven Handeln (man denke etwa an das ‚Tragen’ bestimmter (Marken-)Images in Form von Kleidung), entschieden und signalisiert doch – qua ambivalentem Image – eine Offenheit, die sich im alltagspraktischen Handeln für verschiedene Aus- und Festlegungen nutzen lässt.
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York Kautt und Herbert Willems Literatur:
Borstnar, Nils (2002): Männlichkeit und Werbung. Inszenierung und Bedeutung im Zeichensystem Film, Kiel. Goffman Erving (1981): Geschlecht und Werbung, Frankfurt am Main. Hebdige, Dick (1979): Subculture. The Meaning of Style, London. Jäckel, Michael (1998): „Warum Erlebnisgesellschaft? Erlebnisvermittlung als Werbeziel“, in: ders. (Hg.): Die umworbene Gesellschaft. Analysen zur Entwicklung der Werbekommunikation, Opladen/Wiesbaden, S. 245-272. Newcomb, Horace/Hirsch, Paul (1986): „Fernsehen als kulturelles Forum. Neue Perspektiven für die Medienforschung“, in: Rundfunk und Fernsehen. Zeitschrift für Medien- und Kommunikationswissenschaften, 34. Jg., H. 2, 177-190. Sahlins, Marshall (1976): Culture and practical Reason, Chicago. Tenbruck, Friedrich (1965): Jugend und Gesellschaft, Freiburg. Willems, Herbert/Kautt, York (2003): Theatralität der Werbung. Theorie und Analyse massenmedialer Wirklichkeit, Berlin/New York.
Zur Verschuldung von Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 24 Jahren – Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher Elmar Lange Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher Elmar Lange Zur Verschuldung von Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 24 Jahren - Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher 1 Fragestellungen In den letzten Jahren sind mehrere Studien durchgeführt worden, die im Zusammenhang mit dem kindlichen und jugendlichen Konsumverhalten auch deren Verschuldungsmuster untersucht haben, so dass ein einigermaßen verlässliches Bild entstanden ist (vgl. Lange/Fries 2006, Lange 2004, IJF 2004a/IJF 2004b). Mit Bezug auf diese Studien soll im Einzelnen den folgenden Fragen nachgegangen werden: 1.
2.
3. 4. 5. 6. 7. 8.
Was verstehen wir unter Sozialisation zum marktkonformen Konsumverhalten und welche nicht-marktkonformen Konsumverhaltensweisen, einschließlich der Verschuldung, lassen sich beobachten? Wie hoch sind der Grad und die Höhe der Verschuldung bzw. der Überschuldung der Kinder und Jugendlichen, einschließlich der Jungerwachsenen? Für welche Güter und Dienstleistungen verschulden sich die Kinder und Jugendlichen, bei wem verschulden sie sich und wo erhalten sie Hilfe? Wie lässt sich die Entstehung der Verschuldung und Überschuldung soziologisch erklären? Wie erklären die Jugendlichen selbst ihren Eintritt in die Verschuldung bzw. Überschuldung? Welche Probleme ergeben sich für die Kinder und Jugendlichen mit der Verschuldung? Was unternehmen die Kinder und Jugendlichen, um aus der Verschuldung zu entkommen und wieweit gelingt es ihnen? Was geschieht beim Übergang vom Minderjährigen zum Erwachsenen?
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Elmar Lange Was verstehen wir unter Sozialisation zum marktkonformen Konsumverhalten und welche nicht-marktkonformen Konsumverhaltensweisen, einschließlich der Verschuldung, lassen sich beobachten?
Sozialisation bezeichnet nach Geulen und Hurrelmann allgemein den Prozeß der „Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51). Im Verlauf dieses Prozesses werden dem Mensch die allgemein, situationsspezifisch und rollenspezifisch vorgegebenen kulturellen Werte, Normen und Symbole sowie das zugehörige Wissen vermittelt und von ihm übernommen (internalisiert), um in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen handlungsfähig zu werden. Werte, Normen, Symbole und Wissen stellen für ihn gleichzeitig Handlungsressourcen und Restriktionen dar. Sozialisation aber bedeutet auch die Entwicklung eines eigenen Selbsts, einer Ich-Stärke und Individualität, die es ermöglicht, sich kritisch mit den vorgegebenen normativen und kognitiven Strukturen auseinanderzusetzen, um sie ggf. verändern zu können. Sozialisation läuft lebenslang in allen gesellschaftlichen Teilsystemen, in denen die Menschen Mitgliedschaftsrollen erwerben; hierzu gehören vor allem auch die Systeme der Familie, der Schule, der Freundes- und Bekanntenkreise, der Politik sowie nicht zuletzt der Wirtschaft, in der u.a. auch die Berufsrolle und die Konsumentenrolle gelernt werden (müssen). Die „erfolgreiche“ Sozialisation in die Konsumentenrolle bedeutet unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, sich konform auf den verschiedenen Märkten verhalten zu können. Um das zu verstehen, sei kurz ein einfaches Modell eines Konsumgütermarkts vorgestellt, das auf der Nachfrageseite die individuellen Präferenzen und Ressourcen und auf der Angebotsseite Güter und Dienstleistungen sowie deren Kosten sieht (vgl. Abb. 1). Unter Bezug auf dieses Modell kann ein marktwirtschaftlich konformes Konsumverhalten jetzt wie folgt präzisiert werden: Das Konsumverhalten erscheint dann als marktkonform, wenn es diejenigen Güter und Dienstleistungen nach Quantität und Qualität auswählt, die individuelle Präferenzen optimal zu befriedigen versprechen, wobei die Ressourcen so eingesetzt werden, dass die Kosten minimiert werden. Rational ist dieses Verhalten als wissenschaftliches Konstrukt, d.h. als ein Konstrukt 2. Ordnung im Sinne von Schütz.
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher Abbildung 1: Präferenzen
„Magisches Viereck“ des Konsumverhaltens Materielle Ebene
(Bedürfnisse Wünsche)
Güter/Dienste (Quantität Qualität)
Nachfrage Ressourcen
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Angebot Monetäre Ebene
(Geldmittel Arbeitskraft)
Kosten (Preis Gebühren)
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Dörge (1990)
Legt man dieses Modell zugrunde, dann bedeutet Sozialisation zu marktkonformem Konsum, dass sich die Kinder und Jugendlichen ihrer Bedürfnisse bewusst werden müssen, dass sie lernen müssen, welche Güter und Dienstleistungen welche Bedürfnisse zu befriedigen vermögen, dass sie erkennen müssen, dass sie zum Kauf und Konsum von Gütern und Dienstleistungen Geldmittel einsetzen müssen, die chronisch knapp gehalten werden, weil auch andere Menschen um diese Güter und Dienstleistungen konkurrieren, und dass die Güter und Dienstleistungen mit Preisen versehen sind, die deren relative Knappheit unter der Bedingung des jeweiligen Verhältnisses von Angebot und Nachfrage indizieren. Das alles zu begreifen, ist aber für junge Menschen höchst aufwendig, verlangt Reifung und bewusstes Lernen und ein ständiges In-Beziehung-Setzen der eigenen Präferenzen und Ressourcen zu den angebotenen Gütern und Dienstleistungen und ihren Kosten. Grundlegend sind dabei die eigenen Erfahrungen mit den Interaktionspartnern am Markt. Einige der Elemente und Beziehungen sollen hier ein wenig näher erläutert werden. Präferenzen werden in der mikroökonomischen Konsumtheorie üblicherweise als Bedürfnisse bezeichnet, die sich ganz grob wie folgt unterscheiden lassen, ohne hier auf die psychologische Diskussion über Bedürfnisse näher einzugehen zu können (vgl. Jäckel 2006, S. 63ff.):
Physiologische Grundbedürfnisse, z.B. nach Nahrung, Kleidung, Wohnung. Für sie gilt offenbar das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens: Je stärker ihre Befriedigung, desto eher wird eine Sättigung erreicht. Luxusbedürfnisse, die auf Güter und Dienstleistungen zielen, die über die Befriedigung von Grundbedürfnissen hinausgehen, z.B. besondere Nah-
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Elmar Lange rungsmittel, hochwertige Kleidung, Luxuswohnungen, Autos, Urlaubsreisen usw. Für sie sind keine immanenten Sättigungsgrenzen erkennbar, im Gegenteil: Sie scheinen mit den Möglichkeiten ihrer Befriedigung nach dem bekannten Motto zu wachsen: Je mehr er hat, je mehr er will. Grenzen werden allerdings durch das gerade vorhandene Güterangebot mit seinen Preisen, die eigenen Ressourcen, die natürlichen Ressourcen und durch soziale Normen gezogen. Soziale Bedürfnisse nach Liebe, Zuneigung und Freundschaft, Anerkennung und Achtung sowie Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Entfaltung des eigenen Persönlichkeitspotentials. Für diese Bedürfnisse gilt allerdings: Sie sind nicht direkt über den Besitz und Konsum materieller Güter und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen zu befriedigen, sondern nur durch Leistung im sozialen Kontext und durch Kommunikation und Selbstreflektion. Gleichwohl wird immer wieder versucht, auch diese Bedürfnisse nach Anerkennung und nach Selbstverwirklichung unmittelbar und ausschließlich über materielle Güter zu befriedigen.
Mit Bezug auf dieses Modell und seine Elemente sind nun einige marktwirtschaftlich „irrationale Konsumverhaltensweisen“ zu identifizieren, bei denen entweder Elemente oder aber Beziehungen zwischen den Elementen bei den Konsumenten ausgeblendet erscheinen, zumindest aus der Sicht des wissenschaftlichen Beobachters: So fehlt z.B. dem kompensatorischen Konsum und der Kaufsucht das Element der Nutzung der gekauften Güter, dem demonstrativen Konsum liegt schwerpunktmäßig ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung zugrunde, das letztlich nur durch Leistung im sozialen Kontext und allenfalls indirekt über Güter und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen erfüllt werden kann (vgl. Lange 2004, S. 113ff.). Bei der Verschuldung wird in einer Zeitperiode das Verhältnis der Einnahmen zu den Ausgaben negativ. Bleibt dieses Verhältnis dauerhaft negativ, tritt mittelfristig Überschuldung und langfristig Insolvenz auf. Subjektiv, d.h. als Konstrukte 1. Ordnung, können den Konsumenten aber auch diese Verhaltensweisen als völlig rational erscheinen.
3
Wie hoch sind der Grad und die Höhe der Verschuldung bzw. Überschuldung der Kinder und Jugendlichen?
Grundlage der folgenden Aussagen sind im Wesentlichen zwei Studien: Die erste Studie ist eine von der DFG geförderte empirische Untersuchung zu Konsummustern bei insgesamt 846 Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jah-
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
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ren, die ich im Jahr 2002 in Deutschland durchgeführt habe (vgl. Lange 2004). Die zweite Studie habe ich gemeinsam mit dem Institut für Jugendforschung in München im Auftrag der SCHUFA zur Erfassung der Verschuldungssituation von Minderjährigen bei insgesamt 1003 Kindern und Jugendlichen und einem Elternteil im Jahr 2005 durchgeführt (vgl. Lange/Fries 2006). Ergänzend herangezogen werden zwei weitere Studien des Instituts für Jugendforschung aus früheren Jahren zum Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Geld (vgl. IJF 2004a, IJF 2004b); die Ergebnisse zeigt Tabelle 1. Tabelle 1: Verschuldungsraten und Verschuldungshöhen bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 24 Jahren Alter 10 bis 12 13 bis 17 18 bis 20 21 bis 24 Verschuldungsrate 5% 11% 17% 19% Verschuldungshöhe 6€ 60€ 930€ 1930€ Überschuldungsraten 5% 12% Überschuldungshöhen 2290€ 3420€ Quelle: IJF 2004a, IJF 2004b
Die Verschuldungsraten und –höhen sind als arithmetische Mittelwerte aus den in diesen Studien vorfindbaren Mittelwerten gebildet worden. Die Verschuldungsraten sind aufgrund der zum Teil geringen absoluten Fallzahlen in den Einzelstudien (n zwischen 60 und 120) mit Vorsicht zu interpretieren. Das gleiche gilt für die Verschuldungshöhen, die hier ebenfalls über das arithmetische Mittel gemessen werden; dieses wird bekanntlich stark durch „Ausreißer“ beeinflußt. Von Überschuldung wird hier gesprochen, wenn bei den Jungerwachsenen, also den über 18-Jährigen, die Höhe der Schulden höher ist als die Höhe der monatlichen Einkünfte. Unter inferenzstatistischen Aspekten ist bei der Art der Stichprobenziehung nach dem ADM-Verfahren ein Konfidenzintervall von +/- 2% zu berücksichtigen. Fasst man die Ergebnisse der verschiedenen Studien zusammen, dann steigen die Verschuldungsraten von 5% bei den 10-12-Jährigen über 11% bei den 13-17-Jährigen auf 17% bei den 18-20-Jährigen und 19% bei den 21-24-Jährigen an. Gleichzeitig steigen die Verschuldungshöhen von etwa sechs Euro in der Gruppe der Jüngsten auf 1930 Euro in der Gruppe der Ältesten. Bemerkenswert ist besonders der Sprung ab dem 18. Lebensjahr. Aber auch die Überschuldungsraten und Überschuldungshöhen gehen bei den Jungerwachsenen ab dem 18. Lebensjahr deutlich in die Höhe.
146
Elmar Lange
Verschuldungen und Kreditaufnahmen sind in einer Marktwirtschaft völlig normal, vor allem dann, wenn sie bewusst eingegangen werden. Sie sind für den Konsumenten auch unproblematisch, sofern sie denn, in der Regel in Raten und mit Zinsen, zurückgezahlt werden können. Vor diesem Hintergrund sind auch die Verschuldungsraten und -höhen zu beurteilen. Der Anstieg der Verschuldungsraten der Jugendlichen allein kann somit nicht an sich als problematisch, sondern kann auch als Ausdruck einer wachsenden Kompetenz im Umgang mit Krediten betrachtet werden. Auch die Verschuldungshöhen sind an sich ohne Aussagekraft; diese gewinnen sie erst, wenn man sie vor dem Hintergrund der jeweiligen Vermögenswerte und der Einnahmen der Jugendlichen sieht. Überschuldungen hingegen bedeuten, dass den Kreditnehmern nach Zahlung von Tilgungsraten und Zinsen in einer bestimmten Periode nicht mehr genügend finanzielle Mittel zum Leben, z.B. zur Befriedigung der Grundbedürfnisse bleiben. Grenzen werden hier und heute etwa durch den Pfändungsfreibetrag oder die Sozialhilfe gezogen. Überschuldungen und ihr Anstieg stellen dagegen sehr wohl ein Problem für den Einzelnen wie für die Gläubiger dar, besonders dann, wenn sie längerfristig auftreten. Sie können darüber hinaus zu einem sozialen Problem werden, wenn letztlich die Öffentlichkeit für die Folgen aufkommen muß.
4
Für welche Güter und Dienstleistungen verschulden sich die Kinder und Jugendlichen, bei wem verschulden sie sich und wo erhalten sie Hilfe?
Fragen wir jetzt nach den Dingen, für die sich die Kinder und Jugendlichen verschulden. Dabei geht es zunächst um die Gruppe der 10-17-Jährigen (vgl. Abb. 2). Die vorliegende Grafik enthält die 10 wichtigsten Güter bzw. Dienstleistungen, für die die 10 – 17jährigen Kinder und Jugendlichen Geld geliehen haben, das sie nicht sofort zurückzahlen können.
An erster Stelle steht Fast Food mit knapp einem Viertel aller Nennungen. Gemeint sind damit alle Speisen, die außerhäuslich in entsprechenden Restaurants, Kiosks, Tankstellen und anderen Einrichtungen gekauft werden. An zweiter Stelle stehen das Ausgehen und die Kleidung mit jeweils 16% aller Nennungen. Es folgen Computersoftware, Computerspiele, Getränke und Süßigkeiten, auf die jeweils etwa ein Achtel aller Nennungen entfallen. An letzter Stelle stehen gleichermaßen das Handy, Zeitschriften und Zeitungen, Kosmetik und Sonstiges mit jeweils 8% aller Nennungen.
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher Abbildung 2:
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"Top 10" der Gründe für Verschuldung Kosmetik
7%
Sonstiges
8%
Zeitschriften/Zeitungen
8%
Handy
8%
Süßigkeiten
11%
Getränke
11%
Computer-Software
13%
Kleidung
16%
Weggehen
16%
Fast Food
23%
Frage J27: "Und wofür hast du dir denn Geld geliehen?" Basis: n=62 Jugendliche, die Schulden haben, 10 bis 17 Jahre; geschlossene Frage; Angabe in Prozent Quelle: UF Institut für Jugendforschung
Bezieht man das zuletzt genannte Ergebnis auf die in den Medien immer wieder diskutierte Frage, inwieweit das Handy zur Verschuldung der Jugendlichen insgesamt beiträgt, dann lautet die Antwort: Der Umfang aller durch das Handy verschuldeten Kinder und Jugendlichen liegt unter einem Prozent. Vergleicht man diese Zahlen mit den Daten der Jugendlichen zwischen 15 und 24-Jahren, zeigt sich auch hier: Der Anteil der verschuldeten Jugendlichen, die ihre Verschuldung auf das Handy zurückführen, liegt nahezu gleichauf bei 9% aller Nennungen. Bezogen auf alle Jugendlichen dieser Altersgruppe trägt auch hier das Handy nur bei 1% der Jugendlichen zur Verschuldung bei. Was die Gläubiger der Jugendlichen angeht, so liegen die Freunde mit 57% vor den Eltern, die in 44 % aller Fälle angesprochen werden. Geschwister spielen mit nur 10% und andere Verwandte mit 2% keine nennenswerte Rolle. Bei Banken und Sparkassen findet keine Verschuldung statt (siehe auch das gesetzliche Verbot der Kreditgewährung an Minderjährige). Knapp die Hälfte der Jugendlichen mit Schulden hat schon einmal mit jemandem über seine Schulden gesprochen. Überwiegend werden natürlich die
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Elmar Lange
dominanten Gläubiger, die Eltern und die Freunde angesprochen, hin und wieder auch Geschwister und Verwandte. Wenn die Jugendlichen jemanden um Hilfe bitten, dann tun sie dieses ebenso fast ausschließlich bei ihren Eltern und Freunden. Sie sind auch diejenigen, von denen die Hilfe in den meisten Fällen stammt. Schuldnerberatungsstellen spielen als Anlaufstelle für die Jugendlichen keine Rolle. Betrachten wir nun die Gruppe der älteren Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren (vgl. Lange 2004, S. 157ff.). In dieser Gruppe finden wir andere Anlässe für die Verschuldung bzw. Überschuldung. Im Vordergrund stehen hier „größere Anschaffungen“ (vgl. Abb. 3). Abbildung 3:
Verschuldungsanlässe bei größeren Anschaffungen (Mehrfachnennungen)1 Schmuck
1,3%
Handy Freizeit
9,3% 11,8%
Einrichtungsgegenstände
18,4%
Computer
18,7%
Kleidung Reisen elektronische Geräte Auto, Motorrad
19,7% 20,5% 22,1% 37,7%
Quelle: Lange 2004
An erster Stelle steht die Anschaffung eines Autos, bei einigen wenigen auch eines Motorrads, im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, die für immerhin 38% der Jugendlichen zum Anlass für die Überschuldung geworden ist. Vermutlich haben sich die Jugendlichen diesbezüglich beim Kauf, der Finanzierung und dem Unterhalt übernommen. Dieser Anlass steht besonders bei den jungen Männern sowie auch generell bei den Jugendlichen in den neuen Bundesländern im Vordergrund. 1
Die Grafiken 2-5 stammen aus Lange 2004.
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
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In der weiteren Rangfolge erscheinen mit jeweils etwa 20% gleichauf die Anschaffung elektronischer Geräte wie Fernseher, Videorekorder, Musikanlagen, die Anschaffung von Computern und Computerzubehör, die Ausgaben für teure Reisen sowie für Einrichtungsgegenstände und Kleidung. Dabei sind geschlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten, die wir aus dem Kauf von Konsumgütern kennen. So führen bei den jungen Männern besonders die Ausgaben für Computer und deren Zubehör und bei den jungen Frauen die Ausgaben für Reisen, Einrichtungsgegenstände und Kleidung in die Überschuldung. Für nur etwa 10% der Jugendlichen, insbesondere für die jungen Männer, sind Anschaffungen für die Freizeit und den Sport Anlass für die Überschuldung. Das in den Medien häufig genannte Handy rangiert auch in dieser Studie bei den überschuldeten Jugendlichen mit nur 9% an vorletzter Stelle vor den Ausgaben für Schmuck. Was die Gläubiger der älteren Jugendlichen und Jungerwachsenen angeht, finden wir gegenüber den Jüngeren eine leicht veränderte Reihenfolge: An erster Stelle stehen bei mehr als der Hälfte (57%) der Jugendlichen die Eltern; an sie wenden sich überwiegend die jungen Frauen, seltener die jungen Männer. Auch sind es eher die Schüler und Studierenden als die Auszubildenden und die Berufstätigen, die sich an die Eltern wenden. An zweiter Stelle rangieren mit 20% jetzt die Freunde, an sie wenden sich besonders die Schüler. An dritter Stelle stehen die Bekannten und Kollegen, bei denen 12% Schulden haben. Die Jungerwachsenen über 18 Jahre gehen darüber hinaus zu über 40% zu einer Bank oder Sparkasse, um einen Dispositions- oder Ratenkredit zu erhalten. An sie wenden sich eher die jungen Männer als die jungen Frauen und unter Statusaspekt eher die Studenten, Auszubildenden und Berufstätigen als die Schüler. Wenn man Hilfe sucht, wendet man sich verständlicherweise zunächst einmal an seine Eltern: 58% der Jugendlichen haben denn auch ihre Eltern um Hilfe gebeten; in nahezu allen Fällen haben sie auch Hilfe erfahren. An zweiter Stelle stehen, wie bekannt, die Freunde und Bekannten: Ein gutes Fünftel hat sich an sie gewandt und auch zu 80% Hilfe erfahren. Verwandte wurden immerhin noch von 15% der überschuldeten Jugendlichen um Hilfe angesprochen; in drei Viertel aller Fälle wurde ihnen auch Hilfe zuteil. Arbeitgeber oder institutionelle Anbieter, z.B. das Sozialamt, werden dagegen von den Jugendlichen so gut wie gar nicht aufgesucht (2% bzw. 3%). Zur Schuldnerberatung, die immerhin gut der Hälfte der Jugendlichen (52%) bekannt ist, ist von den hier untersuchten Jugendlichen noch niemand gegangen.
150 5
Elmar Lange Wie lässt sich die Entstehung der Verschuldung und Überschuldung soziologisch erklären?
Zur Erklärung der Verschuldung, sowie der jugendlichen Konsummuster insgesamt, haben wir in beiden Studien das aufgeklärte Modell der Rational ChoiceTheorie gewählt, wie wir es abstrakt bei Coleman (1995) und Esser (1993, 19992001) ausgearbeitet finden. Es sollte prinzipiell sowohl die Erklärung von Unterschieden in der statischen Betrachtung als auch der Entwicklung in der dynamischen Betrachtung ermöglichen. Zu erklären sind im Rahmen unserer Fragestellung nach diesem Modell auf der Makroebene die Verschuldungsmuster der Jugendlichen und ihre Veränderung im Lebenslauf. Diese Verschuldungsmuster erscheinen nach der Theorie als aggregierte Folgen individuellen Konsumverhaltens der Jugendlichen auf der Mikro-Ebene, die als Ergebnis eines Prozesses der subjektiven Nutzenoptimierung zustande kommen, wobei die Jugendlichen während ihres Sozialisationsprozesses sowohl von den situativen Kontextstrukturen auf der Mesoebene, wie z.B. Strukturen im Bereich der Familie, des Bildungssystems, der Freundesgruppen und der Konsumgütermärkte, als auch von den institutionellen und kulturellen Bedingungen auf der Makroebene beeinflusst erscheinen. Beeinflussung bedeutet soziologisch zum einen die Vermittlung der mit den Strukturen verbundenen Optionen und Restriktionen durch die Sozialisationsinstanzen und zum anderen die subjektive Orientierung der Jugendlichen an diesen Strukturen (Definition der Situation). Statistisch sollten wir daher Zusammenhänge zwischen den institutionellen und kontextuellen Bedingungen (als unabhängigen Variablen), den individuellen Handlungsbedingungen (als intervenierenden Variablen) und den konsumbezogenen Handlungen bzw. den Konsummustern (als abhängigen Variablen) finden. Die statistische Modellierung sollte über Pfadanalysen möglich sein (vgl. Abb.4). Wenngleich dieses Modell hervorragend geeignet ist, rationales, demonstratives und kompensatorisches Konsumverhalten zu erklären (vgl. Lange 2004, S. 113ff.; Lange u.a. 2005, S.97ff.; Lange/Fries 2006), versagt es in allen drei Untersuchungen völlig, wenn es darum geht, die Frage zu klären, wovon der Eintritt in die Verschuldung abhängt. Jeder Versuch, den Eintritt der Jugendlichen in die Verschuldung aus familiären, schulischen oder Peergruppen spezifischen Bedingungen zu erklären, scheitert genauso wie der Versuch, die Verschuldung auf individuelle Handlungsbedingungen, wie Persönlichkeitsmerkmale oder Einstellungen, zurückzuführen. Die verschuldeten Jugendlichen zeigen damit im Unterschied zu den nicht-verschuldeten Jugendlichen weder ein „gestörtes“ Persönlichkeitsprofil noch kommen sie aus „zerrütteten“ Familienverhältnissen.
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
Makro- u. Mesoebene
Abbildung 4:
Theoretisches Modell zur Erklärung jugendlicher Konsummuster
I. Rahmenbedingungen
IV. Explanandum
Makroebene
institutionelle und kulturelle Rahmenbedingungen
Mesoebene
kontextuelle Bedingungen - familiäre Bedingungen - schulische Bedingungen - Peergruppenbedingungen - Alters- u. Geschlechtsnormen
Konsummuster - rationales Konsummuster - demonstratives Muster - kompensatorisches Muster - Verschuldungsmuster
Logik der Situation
Logik der Aggregation
II. Individuelle Handlungsbedingungen Mikroebene
151
Optionen u. Restriktionen - Ressourcen/Einnahmen - Präferenzen/Bedürfnisse - Erwartungen und Einstellungen
III. Individuelle Handlung
Logik der Selektion
konsumbezogene Handlungen
- rationales Handeln - demonstratives Handeln - kompensatorisches Handeln - Verschulden
Quelle: Eigene Erstellung
Wir finden keinerlei Zusammenhänge z.B. zur Schichtzugehörigkeit, zu allgemeinen familiären Erziehungszielen oder -stilen, zum familiären Kommunikationsstil, zur elterlichen Finanz- und Haushaltserziehung. Auch die Finanz- und Werbeerziehung in den Schulen spielt hier keine Rolle. Kein Zusammenhang ergibt sich zu Art und Grad der Einbindung in die Freundesgruppen. Und auch die Affinität zur Werbung hat keinerlei Einfluß darauf, ob die Kinder und Jugendlichen in die Verschuldung geraten. Auch die individuellen Präferenzen wie Wertorientierungen der verschiedensten Art und individuelle Ressourcen wie Einkommen und Vermögen, ökonomische Kenntnisse, speziell Finanzkenntnisse sind genauso irrelevant wie etwa besondere Lebensstile, Kontrollorientierungen und die Selbstwertschwäche, um nur einige individuelle Bedingungen zu nennen, die mit erhoben wurden. Der einzige Zusammenhang der Verschuldung ergibt sich zum kompensatorischen Konsum und zur Kaufsucht: Kompensatorisch konsumierende Jugendliche bzw.
152
Elmar Lange
kaufsüchtige Jugendliche sind eher verschuldet als rational konsumierende Jugendliche2. Halten wir also zunächst einmal fest: Soziologisch gesehen ist Verschuldung ein ganz normales und in der Regel auch vorübergehendes Phänomen im Rahmen der biographischen Entwicklung junger Menschen zu marktkonformen Verbrauchern. Für diese These spricht auch, dass über 80% der 10-17-jährigen Kinder und Jugendlichen ihre Schulden so schnell wie möglich zurückzahlen wollen und dass auch genau so viele glauben, das auch in einem Monat erledigen zu können. Für diese These spricht weiterhin, dass sich über 60% der Jugendlichen in der Altersgruppe der 15-24-Jährigen, die bereits einmal in einer Überschuldungssituation waren, bereits wieder aus dieser Situation lösen konnten, und weitere 30% kurz davor standen, wenn man den Daten glauben darf. Auch die Schufa-Daten über die Verschuldung junger Erwachsener (Eintrag von Negativmerkmalen) zeigen eine hohe Dynamik in der Gruppe der 18-24-Jährigen: Nach drei Jahren (solange bleiben Eintragungen bestehen, wenn keine neuen vorgenommen werden) sind knapp 30% der Jungerwachsenen wieder aus der Kartei verschwunden (vgl. Lange/Fries 2006; Lange 2004; SCHUFA 2005).
6
Wie erklären die Jugendlichen selbst ihren Eintritt in die Verschuldung bzw. Überschuldung?
Wenn wir schon mit dem gewählten Ansatz nicht erklären können, warum es zur Verschuldung kommt, können wir aber diejenigen jungen Leute, die bereits einmal in einer Überschuldungssituation waren, fragen, warum sie in diese Situation
2
Dieter Korczak hat im Rahmen von 20 (!) biographischen Interviews, über die er im Schuldenkompaß 2005 berichtet (vgl. Korczak 2005), nachzuweisen versucht, dass sich „eindeutige Zusammenhänge zwischen Herkunftsfamilie und dem späteren Eintreten von Überschuldung“ ergeben. U.a. glaubt er, Zusammenhänge zum frühen Verlust des Vaters erkennen zu können, eine unzureichende finanzielle Allgemeinbildung und – ganz allgemein – einer nichtgelungenen Identitätskonstruktion. Unsere Studien mit über 1800 Kindern und Jugendlichen aber zeigen unter familienstrukturellen Aspekten weder die Unvollständigkeit der Familie (Vaterverlust), noch eine unzureichende Finanzerziehung (auch dann, wenn man statt auf Skalen auf die Einzelitems abstellt) keinerlei signifikante und/oder relevante Zusammenhänge zur Verschuldung der Jugendlichen. Hinsichtlich der von uns untersuchten Persönlichkeitsmerkmale ergeben sich schwache, allerdings nur bei einzelnen Items signifikante, in keinem Fall aber relevante (d.h. Koeffizienten >.10) Zusammenhänge: So zeigen die Verschuldeten tendenziell eine leicht erhöhte externale Kontrollorientierung, eine leicht erhöhte Selbstwertschwäche und eine niedrigere Leistungsorientierung. All diese Faktoren aber tragen zum kompensatorischen Konsum bzw. zur Kaufsucht bei, die allein einen deutlichen Effekt auf die Verschuldung besitzen, wie oben ausgeführt.
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
153
geraten sind3; wir können also nach den subjektiven Begründungen für die Überschuldung fragen. Erste Antworten gibt Abbildung 5. Abbildung 5:
Subjektive Begründungen der Überschuldung (Mehrfachnennungen in Prozent) Arbeitsplatzverlust
3,2%
Unterstützung von Familienmitgliedern
3,2%
Geburt eines Kindes
4,2%
Krankheit/Unfall
5,2%
Verleitung durch Kreditgeber
5,3%
Verdienstausfall psychische Probleme Gaststätten- u. Discobesuch Erhöhung der fixen Lebenskosten unzulängliche Wirtschaftsplanung größere Anschaffung
6,3% 10,4% 11,8% 22,1% 36% 67%
Quelle: Lange 2004
Wenn wir von den größeren Anschaffungen, die für zwei Drittel aller Jugendlichen zur Überschuldung geführt und die wir bereits oben im Einzelnen behandelt haben, absehen, dann wird von mehr als einem Drittel der Jugendlichen auf eine unzureichende Wirtschaftsplanung verwiesen. Die Jugendlichen gestehen sich also ein, nicht vernünftig mit ihrem Einkommen bzw. Vermögen umgegangen zu sein und schlicht über ihre Verhältnisse gelebt zu haben. Hier sind es eher die jungen Frauen als die jungen Männer und eher die Jugendlichen in den neuen als in den alten Ländern, die für sich eine unzureichende Wirtschaftsplanung eingestehen. Ein Fünftel der Jugendlichen verweist auf eine Erhöhung ihrer fixen Lebenshaltungskosten, zu denen sie z.B. die Miete, die Wohnungseinrichtung, die Kosten für den Unterhalt eines Fahrzeugs, Nahrungsmittel und Kleidung zählen, die die Jugendlichen mit ihrem Einkommen offensichtlich nicht aufzufangen in
3
Wir greifen hier auf eine Zusatzerhebung von 113 Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren zurück, die angaben, schon einmal in einer Überschuldungssituation gewesen zu sein.
154
Elmar Lange
der Lage waren. Möglicherweise liegen aber hier keine Erhöhungen vor, sondern falsche Einschätzungen der jeweiligen Höhe der Kosten für die Lebenshaltung. Auf der anderen Seite spielen Verdienstausfälle, Arbeitsplatzverluste, aber auch Krankheiten für die Jugendlichen eine eher untergeordnete Rolle, wobei allerdings die Geburt eines Kindes – immerhin 5% der 15-24-Jährigen haben bereits ein Kind – offensichtlich direkt in die Überschuldungssituation geführt hat. Auf eine Verleitung durch Kreditgeber wird nur von 5% der Jugendlichen hingewiesen. Auch aus der Perspektive der Jugendlichen wird damit den Kreditinstituten eine im Großen und Ganzen sorgfältige Kreditvergabe bescheinigt. Immerhin 10% der Jugendlichen verweisen auf psychische Probleme, die sie mit der Überschuldung in Beziehung setzen. Handelt es sich hier etwa um familiären, schulischen und beruflichen Stress, der dann über den kompensatorischen Konsum und die Kaufsucht zur Überschuldung führt? Halten wir fest: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehen mit dem Hinweis auf eine unzulängliche Wirtschaftsplanung die Ursachen für ihre Überschuldung überwiegend bei sich selbst und weniger in äußeren Umständen. Damit sind sie auch in der Lage zu lernen und ihr zukünftiges Verhalten an die Marktbedingungen anzupassen.
7
Welche Probleme ergeben sich für die Kinder und Jugendlichen mit der Überschuldung?
Verschuldung und Überschuldung gehen bei den Jugendlichen mit ökonomischen, sozialen und psychischen Problemen einher, die gleichzeitig Hinweise auf wahrgenommene Problemlösungsmöglichkeiten bieten. In welchem Umfang diese Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten bei den Jugendlichen nach ihren eigenen Vorstellungen aufgetreten sind bzw. noch auftreten, zeigt Abbildung 6. An erster Stelle stehen nach Auskunft der Jugendlichen ökonomische Probleme. D.h. die Jugendlichen mussten bzw. müssen ihre Ausgaben einschränken, so dass sie mit ihrem Einkommen besser auskommen können. Fast 60% der Jugendlichen mussten bzw. müssen mit diesen Problemen leben. Ökonomische Einschränkungen werden häufiger von den jungen Frauen als von den jungen Männern und häufiger in den älteren als den jüngeren Altersgruppen genannt. An zweiter Stelle stehen Probleme im sozialen Bereich: 30% der Jugendlichen berichten von erheblichen familiären Konflikten, die sich aus ihrer Verschuldungs- bzw. Überschuldungssituation ergeben haben. Offensichtlich wird diese Situation auch von den Eltern wahrgenommen und gegenüber den Jugendlichen thematisiert. Aber auch mit den Freunden und Bekannten gibt es Schwierigkeiten: Immerhin 6% der Jugendlichen berichten von einer Abnahme der sozi-
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
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alen Kontakte. Wenn das Geld knapper wird, kann man weder mit den Freunden und Bekannten regelmäßig ausgehen noch mit seinen Ausgaben Eindruck zu machen versuchen. Abbildung 6:
Probleme bei der Verschuldung/Überschuldung (Mehrfachnennungen in Prozent)
Gefährdung des Arbeitsplatzes
4,8%
Verschlechterung der Schulleistung
4,9%
Abnahme des sozialen Kontakts
5,8%
Schwierigkeit der Zahlung der Kreditzinsen
5,8%
Bedrohung durch rechtliche Verfahren Minderwertigkeitsgefühl Resignation Süchtiges Verhalten Stress familiäre Konflikte ökonomische Einschränkung
6,7% 10,6% 14,4% 16,3% 19,2% 29,5% 58,5%
Quelle: Lange 2004
An dritter Stelle stehen psychische Probleme: Ein Fünftel der überschuldeten Jugendlichen berichtet von zunehmendem Stress, 16% sehen einen Anstieg des Suchtverhaltens, besonders bei den legalen Süchten wie Alkohol und Nikotin. 14% berichten von resignativen Tendenzen und noch 11% von Minderwertigkeitsgefühlen. Stress und Resignation sind vor allem Reaktionen der Mädchen und der jungen Frauen, während Jungen und junge Männer eher in Suchtverhaltensweisen wie Alkohol und Nikotin ausweichen und ihre Probleme zu lösen suchen. Insgesamt zeigt sich hier eine erhebliche Problembelastung der überschuldeten Jugendlichen im psychischen Bereich: Etwa die Hälfte aller Nennungen entfällt auf psychische Probleme. Viele der hier von den überschuldeten Jugendlichen berichteten psychischen Belastungen lassen sich dabei als Indikatoren eines Rückzugsverhaltens deuten, das das eigentliche Überschuldungsproblem kaum zu lösen in der Lage ist. Zuletzt wird von den Jugendlichen auch auf erhebliche „harte“ Belastungen ihrer Alltagssituationen hingewiesen: Immerhin jeweils 5% der Schüler berichten von Verschlechterungen ihrer Schulleistungen und 5% der Berufstätigen
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Elmar Lange
von einer Gefährdung ihres Arbeitsplatzes. 6% der erwachsenen Jugendlichen haben erhebliche Schwierigkeiten, ihre Kreditzinsen zu bezahlen, und 7% sehen sich bereits durch rechtliche Verfahren, wie z.B. eine Zwangsvollstreckung bedroht. Halten wir fest: Die Überschuldung stellt für die Jugendlichen und Jungerwachsenen eine auch subjektiv als erheblich wahrgenommene Problemsituation dar, die sie so schnell wie möglich überwinden wollen.
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Was unternehmen die Jugendlichen, um aus der Überschuldung zu entkommen und inwieweit gelingt es ihnen?
Um aus ihrer Überschuldungssituation heraus zu kommen, haben die Jugendlichen im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: entweder die Ausgaben einzuschränken oder aber die Einnahmen zu erhöhen. Sieht man einmal davon ab, dass man auch gar nichts tun kann, weil man glaubt, mit den Schulden gut leben zu können – immerhin 15% der Jugendlichen (20% der jungen Männer und 9% der jungen Frauen) wählen diese Strategie – dann finden wir die in Abbildung 7 gewählten Lösungsmöglichkeiten. Abbildung 7:
Entschuldungsstrategien der Jugendlichen (Mehrfachnennungen in Prozent) billigere Wohnung mehr Taschengeld nichts
Sparen bei den Betriebskosten des Autos besserbezahlte Arbeit Verzicht auf Reisen/Urlaub Sparen beim täglichen Einkauf Sparen der Handygebühren
5,7% 13,6% 14,6% 26,2% 28,8% 35% 44,8% 50,5%
weniger ausgeben
53,3%
mehr arbeiten
53,8%
Einschränkung des Gaststättenbesuchs
54,3%
Verschiebung größerer Anschaffungen
Quelle: Lange 2004
71,4%
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
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Auf der Ausgabenseite setzen die Jugendlichen mit ihren Entschuldungsstrategien konsequenterweise dort an, wo sie auch die wichtigsten Ursachen für ihre Verschuldung bzw. Überschuldung gesehen haben, nämlich bei den größeren Anschaffungen: Immerhin 71% geben an, in der nahen Zukunft auf größere Anschaffungen verzichten zu wollen. Diese Strategie wird eher von den jungen Frauen als von den jungen Männern gewählt. Darüber hinaus versucht man, in kostenträchtigen Bereichen zu sparen: So wollen 54% den Besuch in Gaststätten oder Diskotheken einschränken, 53% weniger für Kleidung, Kosmetik und Schmuck ausgeben, 51% bei den Handy- bzw. Telefongebühren und 45% bei Ausgaben für die tägliche Lebensführung sparen. Immerhin 35% setzen den Rotstift bei den Reisen und 26% bei den Betriebskosten ihrer Autos, Motorräder oder Mofas an. All diese Entschuldungsstrategien werden häufiger von den jungen Frauen als von den jungen Männern gewählt. Sofern die Jugendlichen auf der Einnahmeseite ansetzen, wollen bzw. wollten immerhin 54% mehr arbeiten, 29% eine besser bezahlte Arbeit annehmen und 14% der jüngeren Jugendlichen die Eltern um mehr Taschengeld bitten. Unter der erheblichen Problembelastung einer Überschuldungssituation erweisen sich die Jugendlichen und Jungerwachsenen also durchweg als lernfähig, lernbereit und setzen mit ihren Entschuldungsstrategien bei ihrer eigenen unzureichenden Wirtschaftsplanung, und dort konsequenterweise bei den Ursachenkomplexen auf der Ausgaben- und der Einnahmenseite an, die sie für ihre Überschuldungssituation verantwortlich machen. Die Folge ist, wie bereits oben erwähnt, dass sich die meisten Jugendlichen zwar mit großen Anstrengungen und vermutlich auch großen Schmerzen selbst sowie mit Hilfe ihrer Eltern und Freunde aus dieser Situation befreien können. Verschuldung und Überschuldung bleiben für die meisten Jugendlichen damit eine zwar problematische, aber vorübergehende Passage während ihrer Sozialisation zu einem marktkonformen Verbraucher. Gleichwohl bleibt als Desiderat die Betrachtung derjenigen, die sich nicht aus dieser Situation befreien können.
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Was geschieht beim Übergang vom Minderjährigen zum Erwachsenen?
Als kritische Lebensphase hat sich der Übergang von den Minderjährigen zu den Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren erwiesen. In dieser Phase
steigen die Verschuldungs- und Überschuldungsraten deutlich an, steigen die Verschuldungs- und Überschuldungshöhen überproportional an.
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Elmar Lange
Wie ist dieser Anstieg zu erklären? Unserem theoretischen Modell entsprechend ist hier auf Veränderungen in rechtlicher, ökonomischer und sozialer Hinsicht einzugehen, also im Bereich der institutionellen und kontextuellen Bedingungen:
Mit 18 Jahren werden die Jugendlichen volljährig und damit rechtlich selbstständig. Mit der Volljährigkeit können sie einen Führerschein für einen PKW erwerben und ein eigenes Auto fahren. Mit der Volljährigkeit können sie eigenständig Mietverträge unterschreiben und in eine eigene Wohnung einziehen. Mit der Volljährigkeit können sie bei Banken und Sparkassen Kredite aufnehmen. Allgemein kann man sagen, dass mit dem Übergang in die Volljährigkeit die Optionen steigen und die Restriktionen sinken.
Zwischen dem 18. und dem 21. Lebensjahr schließen viele Jugendliche ihre Schulausbildung ab und nehmen entweder eine berufliche Ausbildung, ein Studium oder auch eine Berufstätigkeit auf. Damit sind in vielen Fällen auch ein Auszug aus der elterlichen Wohnung und die Einrichtung einer eigenen Wohnung oder eines eigenen Zimmers verbunden (56% der über 18-Jährigen leben bereits in einer eigenen Wohnung; bei den Studierenden sind es 74% und bei den Berufstätigen 62%). Damit ist vielfach auch eine erhöhte Mobilität erforderlich oder auch gewünscht. Die Folge ist zunächst die Führerscheinprüfung und vielfach die Anschaffung eines eigenen Autos (von den über 18-Jährigen verfügen bereits 38%, von den über 20-Jährigen sogar 45% über ein eigenes Auto). Eine eigene Wohnung und ein Auto mit ihren festen und laufenden Kosten verlangen bekanntermaßen viel Geld. Da sich die meisten Jugendlichen in dieser Phase aber entweder noch in einer beruflichen Ausbildung, einschließlich eines Studiums oder aber in einer Berufstätigkeit mit noch niedrigen Einkünften befinden, werden viele Ausgaben zumeist über Banken- oder Sparkassenkredite finanziert, die ihrerseits mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Über 40% der über 18-Jährigen und über 55% der über 22-Jährigen haben bereits bei Kreditinstituten Kredite aufgenommen (51% der Studierenden und 76% der Berufstätigen). Mit dem Auszug aus dem „schützenden“ Elternhaus sinkt darüber hinaus die soziale Kontrolle der Jugendlichen durch die Eltern und steigt der Einfluss der Freunde und Bekannten. Ökonomisch ausgedrückt: Zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr steigen die Einnahmen der Jungerwachsenen allenfalls linear und nur leicht an. Die größtenteils über Kredite finanzierten Ausgaben aber steigen bis zum 25. Le-
Ambivalenzen in der Sozialisation zum marktkonformen Verbraucher
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bensjahr überproportional an. Der finanzielle Engpass ist damit in der Gruppe der 25-Jährigen am größten, um danach aufgrund der mit einer Berufstätigkeit verbundenen steigenden Einnahmen wieder zurückzugehen. Auch die jüngsten SCHUFA-Daten (vgl. SCHUFA 2006) belegen, dass die eine Überschuldung indizierenden Negativeinträge in dieser Altersgruppe einen Höhepunkt erreichen, um anschließend wieder abzunehmen. Soziologisch ausgedrückt: Die Jungerwachsenen geraten mit der Volljährigkeit im 18. Lebensjahr bis zur beruflichen Etablierung etwa um das 25. Lebensjahr in eine Situation der Statusinkonsistenz: Der rechtlichen und sozialen Selbstständigkeit entspricht noch keine finanziell-ökonomische Selbstständigkeit. Die frühere rechtliche Verantwortung der Eltern wird durch Selbstverantwortung ersetzt. Wenn die Jungerwachsenen aber zu dieser Selbstverantwortung aufgrund unzureichender eigener Wirtschaftsplanung noch nicht in der Lage sind, tritt Verschuldung und häufig auch Überschuldung auf. Besonders kritisch wird diese Situation, wenn die jungen Erwachsenen mit ihren teils noch hohen Kreditverpflichtungen nach ihrem Eintritt ins Beschäftigungssystem und nach einer Eheschließung und Familiengründung einige Jahre später entweder arbeitslos und/oder geschieden werden. Dann treten zu den eigenen unzureichenden Wirtschaftsplanungen kritische äußere Ereignisse ein, die direkt in die Überschuldung führen und aus der die jungen Erwachsenen nicht so schnell wieder hinaus finden. Arbeitslosigkeit und Scheidung sind nämlich die für die Erwachsenen bedeutsamsten Ursachen für eine Überschuldung (vgl. Korczak 2000). Damit kommen wir zu dem bekannten und in den Medien immer wieder herausgestellten Phänomen der Klassenabhängigkeit der Überschuldung: Da von Arbeitslosigkeit vor allem diejenigen betroffen sind, die keinen Schul- und/oder Berufsabschluß besitzen, trifft die Überschuldung jetzt diejenigen, die sich selbst in den unteren sozialen Klassen befinden. Aber auch mit der Scheidung und der, wenn Kinder vorhanden sind, damit verbundenen Situation des Alleinerziehenmüssens sowie der Kosten einer doppelten Haushaltsführung ist ein sozialer Abstieg verbunden. Erst bei den arbeitslos gewordenen ehemals Berufstätigen und/oder bei den geschiedenen, ehemals verheirateten Erwachsenen, die darüber hinaus noch Kinder haben, gilt: Überschuldung ist vor allem ein Phänomen der unteren sozialen Klassen. Für die Kinder und Jugendlichen selbst gilt das nicht.
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Elmar Lange
10 Literatur Coleman, James Samuel (1995): Grundlagen der Sozialtheorie, Bde 1-3, München/Wien. Dörge, Friedrich-Wilhelm (1990): Verbraucherverhalten in der Sozialen Marktwirtschaft. In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 173, Bonn, S. 7-23. Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt a.M./New York. Esser, Hartmut (1999-2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bde 1-6, Frankfurt a.M./New York. Geulen, Dieter; Hurrelmann, Klaus (1980): Zur Programmatik einer umfassenden Sozialisationstheorie., In: Hurrelmann, Klaus; Ulich, Dieter (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel, S. 51-67. Institut für Jugendforschung (2004): Die Finanzkraft der 13-20-Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland (2004): Daten, Fakten, Trends. München (zitiert als 2004a). Institut für Jugendforschung (2004): Taschengeldkalender 2004. München (zitiert als 2004b). Jäckel, Michael (2006): Einführung in die Konsumsoziologie. Fragestellungen – Kontroversen – Beispieltexte. 2. Auflage, Wiesbaden. Korczak, Dieter (2000): Überschuldung in Deutschland. Gutachten im Auftrag des BMfFSFJ. München. Lange, Elmar (2004): Jugendkonsum im 21. Jahrhundert. Wiesbaden. Lange, Elmar; Choi, Sunjong; Yoo, Dojin; Adamczyk, Grzegor (2005): Jugendkonsum im internationalen Vergleich. Eine Untersuchung der Einkommens-, Konsum- und Verschuldungsmuster der Jugendlichen in Deutschland, Korea und Polen. Wiesbaden. Lange, Elmar; Fries, Karin (2006): Jugend und Geld 2005. Eine empirische Untersuchung über den Umgang von 10-17-jährigen Kindern und Jugendlichen mit Geld. Münster/ München. SCHUFA Holding AG (Hg.) (2005): Schuldenkompass 2005. Wiesbaden.
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten Michael Jäckel Michael Jäckel The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 1
Das Rätsel des Konsums
Spätestens seit der Währungsumstellung von D-Mark auf Euro gehört das Thema „Verbraucherlaune“ zu jenen, das der Öffentlichkeit als erklärungsbedürftiges Phänomen beschrieben wird. Dabei wusste bereits Ludwig Erhard, dass das Wirtschaftswachstum mindestens zur Hälfte von der Stimmung im Lande abhängt (vgl. Wisdorff 2006, S. 24). Dass diesen Stimmungen in der ökonomischen Theorie dennoch eine vergleichsweise geringe Wertschätzung zuteil wurde, hat insbesondere George Katona zu der Begründung einer Forschungsrichtung veranlasst, die heute unter der Bezeichnung „Psychological Economics“ bekannt ist. Katonas Untersuchungen dienten vorwiegend dem Nachweis, dass auch Verbraucher launisch und impulsiv sein können und ihre Kaufentscheidungen an der Erwartung konjunktureller Entwicklungen und der persönlichen Einschätzung ihrer wirtschaftlichen Lage festmachen (vgl. Katona 1965, 1975). In diesen Stimmungen fließen ohne Zweifel viele unterschiedliche Faktoren zusammen, zu denen auf Grund einer sich verändernden „Architektur“ unserer Gesellschaft häufig eben nicht mehr nur kurzfristige, sondern vor allem langfristige Erwartungen eine Rolle spielen. Man blickt nicht nur auf das Interesse an bestimmten Produkten, die man in nächster Zeit erwerben möchte, sondern immer auch auf die langfristige Sicherheit in einem Umfeld, das sich in zunehmendem Maße nicht mehr dem Einfluss internationaler Entwicklungen entziehen kann. Von einem Verbraucher zu erwarten, dass er all diese Faktoren ständig unter guter Beobachtung halten kann und seine Kaufentscheidungen wohlüberlegt trifft, kommt einer Überforderung gleich, die durch die Betonung der Konsumentensouveränität eher verniedlicht wird. Mitten in diese Debatte um Zuversicht und Angst, um Vertrauen und Misstrauen, um Konsumfreude und Konsumverdruss, meldete sich im Frühjahr 2006 das Frühjahrsgutachten der großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute mit einer nüchternen Beobachtung und Erkenntnis. Unter der Überschrift „Das Rätsel des Konsums“ wurde dort in einem Exkurs den wechselnden Intentionen der
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Verbraucher eine klare Ursache zugewiesen. In der Süddeutschen Zeitung schrieb Piper hierzu: „Warum konsumieren deutsche Verbraucher derzeit so wenig? Viele populäre Theorien sind zu der Frage in Umlauf; die meisten kommen aus dem Bauch des Analysierenden oder sind sonst wie psychologielastig: Die Verbraucher haben Angst vor der Zukunft, sie haben sich von der „Geiz ist geil“-Mentalität anstecken lassen und vieles mehr. Die Wahrheit, so steht es in dem Frühjahrsgutachten, ist viel einfacher und deckt sich mit dem gesunden Menschenverstand: Die Leute hatten einfach nicht mehr Geld zum Ausgeben. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Die Entwicklung der letzten Jahre widerspiegelt im wesentlichen das schwache Einkommenswachstum“. (Piper 2006, S. 17)
Der Tenor des Gutachtens lässt sich also dahingehend zusammenfassen, dass die Konsumenten nach wie vor sehr rational mit ihrem Geld umgehen. Man könnte sagen: Dass er – der Verbraucher – als unberechenbar wahrgenommen wird, kümmert ihn wenig. Das Fazit von Piper lautete daher auch: „Deutschlands Verbraucher sind ziemlich normal“ (Piper 2006, S. 17). Hinter dieser nüchternen Diagnose können sich gleichwohl Entscheidungsprozesse verbergen, die eine Einstufung als „normal“ nicht rechtfertigen. Der Begriff der Normalität unterstellt Selbstverständlichkeiten, die in unterschiedlichsten Feldern des Alltagshandelns leider alles andere als selbstverständlich sind. Unternehmen, die sich auf Konsumgütermärkten orientieren wollen, ist mit dieser Diagnose wenig geholfen. Sie können allenfalls zu der Schlussfolgerung gelangen, dass man wohl so weiter machen muss wie bisher und damit hoffentlich Erfolg hat. Denn das Rätsel des Konsums begegnet uns im Grunde genommen auf sehr vielen Ebenen, von denen im Folgenden einige etwas näher betrachtet werden sollen. Es begegnet uns nicht nur bei der Wahrnehmung der wirtschaftlichen Entwicklung und den daraus resultierenden Konsequenzen für das kurzfristige Kaufverhalten. Es wird vor allem auch dann thematisiert, wenn es um den Umgang mit Vielfalt auf Konsumgütermärkten geht und der Konsument mit neuen Knappheiten konfrontiert wird. Bevor diese weiterreichenden Rätselbereiche skizziert werden, soll zunächst die Vorstellung eines rationalen Verbrauchers in Anlehnung an Vorstellungen von zweckrationalem Handeln beschrieben werden.
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Der rationale Konsument
Nahe liegend ist zunächst die Frage, ob diese launischen Dimensionen des Verbrauchers mit dem Modell des homo oeconomicus vereinbar sind. Nach Max
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 163 Weber galt Zweckrationalität immer als Grenzfall, der folgenden Bedingungen genügen muss: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“ (Weber 1984 [zuerst 1921], S. 45)
Der Idealtypus der Zweckrationalität, der im Falle des homo oeconomicus Pate steht, ist einer von mehreren Bestimmungsgründen sozialen Handelns, die Max Weber in seiner Handlungslehre aufführt. Neben das zweckrationale Handeln treten dort das wertrationale Handeln (z. B. Orientierung an moralischen Wertmaßstäben, die es unbedingt einzuhalten gilt), traditionales Handeln (Bezugnahme auf seit langem gültige Handlungsprogramme) und affektuelles Handeln, also die emotionale, häufig auch spontan erfolgende Reaktion. Das tatsächliche Handeln ist daher im Sinne eines Mischungsverhältnisses dieser vier Idealtypen zu verstehen. Auch Esser hat darauf mehrfach hingewiesen. Der Idealtypus des ‚homo oeconomicus‘, der hier als Orientierung dient, lasse sich wie folgt definieren: „[..] daß er seinen individuellen Nutzen auf der Grundlage vollkommener Information und stabiler und geordneter Präferenzen im Rahmen gegebener Restriktionen maximier[t].” (Esser 1993, S. 236) Restriktionen können zeitlicher (Zeitbudget), ökonomischer (Kaufkraft), sozialer (Orientierung an bzw. Berücksichtigung der Interessen anderer) oder normativer Art (geltende Normen) sein. Eine erneute Auseinandersetzung mit dem Begriff „Wertrationalität“ führte Esser des Weiteren zu dem Ergebnis, dass gerade die Betonung einer kontrafaktischen Einstellung, die Betonung des Wunsches, dass die Dinge anders sein sollen, als sie sind, die „Wert“-Komponente dieses Rationalitätstypus ausmacht. Er sei eben nicht, wie auch Weber betont, unreflektiert und ‚dumpf’, sondern entspreche einer systematischen, bewussten Stellungnahme (vgl. Esser 2004, S. 103). Die Besonderheit dieses Bestimmungsgrunds von Handlungen rührt in erster Linie daher, dass an übergeordnete, nicht-individuelle Ziele gedacht wird: Man sieht die soziale Ordnung bedroht, man denkt an gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. In Anlehnung an Boudon spricht Esser auch von den „guten Gründen“ (reasons). Seine Schlussfolgerung lautet: „So gesehen schrumpft der Unterschied des zweckrationalen zum wertrationalen Handeln also darauf, dass es jetzt um „gesellschaftliche“ Konsequenzen geht und dass der betreffende Wert als eine nicht substituierbare „notwendige“ Bedingung dafür angesehen wird, an der alles Weitere hängt, und dass daher das betreffende Tun „unbedingt“ erfolgen muss.“ (Esser 2004, S. 106, Hervorh. Im Original)
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Michael Jäckel
Weber selbst hat seine Definition von Zweckrationalität durch den Hinweis ergänzt: „Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann [..] ihrerseits wertrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational.“ (Weber 1984 [zuerst 1921], S. 45) Wer also beispielsweise Vielfalt auf Konsummärkten nicht mehr als Wert an sich empfindet, rahmt seine Entscheidungen in einen als nicht-optimal wahrgenommenen Kontext ein. Dennoch folgt daraus nicht die Zufälligkeit von Entscheidungen. Eine daraus abgeleitete Forderung ist für eine Handlungslehre bedeutsam: „Die „Logik der Selektion“ muss um den Vorgang der Selektion von „Typen“ des Handelns, und das heißt: von besonderen Orientierungen und/oder von Graden der Informationsverarbeitung, erweitert werden.“ (Esser 2004, S. 97). Auf diese Erweiterung hat Esser bereits 1990 hingewiesen: „[..] daß die – unbezweifelbare Existenz – verschiedener „Typen“ des Handelns – z.B. zweckrational, wertrational, traditionell, affektuell – keineswegs heißt, daß man Handeln und soziale Prozesse nicht aus einer einheitlichen Handlungstheorie heraus erklären könnte.“ (Esser 1990, S. 244) Auch Talcott Parsons lehnt eine rein utilitaristische Erklärung von Handlungen ab. Nach seiner Auffassung müssen Menschen erst zur Erkenntnis der sozialen Realität kommen, um ihre (langfristigen) Interessen umsetzen zu können. Daher sind Bezugspunkte erforderlich, die sich beispielsweise in Normen und Werten bereits konkretisiert haben. Auf diese Art und Weise wird eine normative Einbindung individueller Handlungen angestrebt. Parsons unterscheidet dabei vier strukturelle Komponenten: die subjektiven Ziele (ends), die Mittel des Handelns als eine Komponente der Situation eines Akteurs (means), die Bedingungen der jeweiligen Situation (conditions) und die Normen (norms) als regulierender Faktor. Das Ziel ist daher: „Die Theorie des Handelns versucht, die Analyse des Handelns oder des Verhaltens lebender Organismen zu systematisieren (beide Begriffe sollen für den vorliegenden Zweck als Synonym betrachtet werden). Verhalten besteht hier aus ‚motivierten’ oder ‚zielintendierten’ Beziehungen zwischen dem Organismus und den seine Situation oder seine Umwelt bildenden Objekten.“ (Parsons 1967, S. 154)
Sowohl Weber als auch Parsons betonen also ein Mischungsverhältnis verschiedener Komponenten. Das wird auch im Homo oeconomicus-Modell mit gedacht, dort aber – zumindest von Seiten der Kritiker – als zu pauschale ‚Kontextvariable’ thematisiert. Das Modell des homo oeconomicus ist darüber hinaus nicht nur ein Maximierungsmodell, sondern auch ein Modell, das Annahmen bezüglich der Informiertheit der Akteure und der Stabilität ihrer Präferenzen trifft. Bereits Gary S.
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 165 Becker hatte deutlich darauf hingewiesen, dass der ökonomische Ansatz nicht von der Annahme ausgeht, „that all participants in any market necessarily have complete information or engage in costless transactions. Incomplete information or costly transactions should not, however, be confused with irrational or volatile behavior.“ (Becker 1976, S. 6)
Auch Opp, der ein Hauptvertreter des ökonomischen Ansatzes in Deutschland ist, hält die Behauptung, das Modell gehe von einem vollständig informierten Akteur aus, für wenig hilfreich (vgl. Opp 1989, S. 107). Dennoch liegt in einer Präzisierung dessen, was eine Abweichung von der vollständigen Informiertheit impliziert, ein Schlüssel zur Integration scheinbar divergierender Auffassungen. Zunächst kann man das Kernmodell des ökonomischen Ansatzes in der Soziologie mit Opp in drei Hypothesen zusammenfassen: 1.
2. 3.
„Die Motivationshypothese: Die Präferenzen (d. h. Ziele, Wünsche oder Motive) von Individuen sind Bedingungen für soziales Handeln, das – aus der Sicht der Individuen – zur Realisierung ihrer Ziele beiträgt. [...] Die Hypothese der Handlungsbeschränkungen: Handlungsbeschränkungen, die Individuen auferlegt sind, sind Bedingungen für ihr Handeln. [...] Die Hypothese der Nutzenmaximierung: Individuen führen solche Handlungen aus, die ihre Ziele in höchstem Maße realisieren – unter Berücksichtigung der Handlungsbeschränkungen, denen sie sich gegenübersehen“ (ebd., S. 105).
Nach Opp fühlen sich Ökonomen „nur dann wohl, wenn sich die Präferenzen der Akteure auf Sachverhalte beziehen, die man anfassen, schmecken, riechen oder sehen kann" (ebd., S. 106). Ökonomen bevorzugen eine „harte“ Spezifikation des Modells, insbesondere, wenn es um die Spezifizierung der Nutzenfunktion geht. Dass Menschen beispielsweise aus reinem Pflichtgefühl an einer politischen Wahl teilnehmen oder altruistische Motive handlungsleitend sein können, wird von vielen Ökonomen, so Opp, nicht als Spezifikation des Modells akzeptiert. Ebenso finden auch Gewohnheiten und Routinen kaum Beachtung. Harte, materielle Anreize werden als Motive bevorzugt. Die Hypothese von der Nutzenmaximierung kann aber auf viele soziale Sachverhalte nur dann sinnvoll angewandt werden, wenn man diese Einschränkung aufgibt (vgl. ebd., S. 120 f.). Die Rationalität des Handelns im Rahmen von Wahlhandlungen und die daran gekoppelte Nutzenorientierung (Hypothese 3) kann zudem Abweichungen von diesem Kalkül nicht nur mit dem Hinweis auf die Berücksichtigung von Handlungsbeschränkungen in das Modell integrieren. Es ist auch eine Präzisie-
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rung des Rationalitätsbegriffs erforderlich. Für Boudon steht dabei außer Frage, „daß man zweifellos den Begriff der Rationalität nicht allgemein definieren kann, sondern lediglich innerhalb besonderer Handlungs- (oder Interaktions-) Zusammenhänge.“ (Boudon 1980, S. 18) Auch Diekmann und Voss schlagen vor, Rationalität weiter zu fassen und als „Handeln in Übereinstimmung mit den Annahmen (Axiomen) einer Entscheidungstheorie“ (2004, S. 13) zu definieren. Aus der Tatsache, dass es mehrere Entscheidungstheorien gibt, folgt dann, dass auch Rationalität unterschiedlich bestimmt werden kann. Bevor man diesen Einwand weiterverfolgt, ist der Idealtypus einer zweckrationalen Handlung zu skizzieren (vgl. zum Folgenden Simon 1993, S. 21 f.): 1.
2. 3. 4.
Das Individuum muss über eine Möglichkeit verfügen, den Nettonutzen aus verschiedenen Handlungsalternativen zu bestimmen. Es muss im mathematischen Sinne über eine Nutzenfunktion verfügen. Das Individuum muss in der Lage sein, die relevanten Alternativen von den nicht relevanten Alternativen unterscheiden zu können. Das Individuum muss Informationen darüber haben, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit der ins Kalkül gefassten Alternativen ist. Das Individuum wird jene Handlung ausführen, die unter Zugrundelegung der zuvor erforderlichen Entscheidungen den höchsten Nutzen verspricht.
Perfekte Information würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass man über sichere Kenntnisse der Gegenwart und der Zukunft verfügt, man mit anderen Worten von Erwartungssicherheit sprechen kann. Simon sieht darin eine große Theorie mit geringem Nutzen, da sie keine Anwendung findet und finden wird (vgl. ebd., S. 22 f.). Dem „Göttlichkeitsmodell der Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens" setzt er das Verhaltensmodell der begrenzten Rationalität entgegen (vgl. ebd., S. 29). Die Grundzüge dieses Verhaltensmodells lassen sich wie folgt skizzieren (vgl. ebd., S. 27 sowie Hindess 1988, S. 69-71): 1. 2.
3.
Die Entscheidungen, die Individuen im Alltag zu treffen haben, sind in der Regel keine weitreichenden, in die Zukunft gerichtete Entscheidungen. Entscheidungen im Alltag basieren nicht auf detaillierten Kalkulationen über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens zukünftiger Ereignisse, sondern auf Vorstellungen davon, was man möchte und was man sich leisten kann. Nicht alle Alternativen werden in Erwägung gezogen. Es gibt nicht eine übergreifende Nutzenfunktion für alle Entscheidungen; die Aufmerksamkeit, die man einem Problem widmet, variiert mit dem Entscheidungsbereich.
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 167 4.
Eine Erhöhung des Nutzens aus Entscheidungen liegt bereits dann vor, wenn man aufgrund einer begrenzten Informationssammlung sich der eigenen Präferenzen hinsichtlich eines bestimmten Produkts bewusst wird.
An die Stelle eines „maximizing“ setzt Simon ein „satisficing“ (Simon 1982, S. 332 f.). Erwartungen richten sich an dem Erreichbaren aus, Entscheidungsprozesse werden an bestimmten Stellen beendet, wenngleich es durchaus noch weitere Alternativen gibt, von denen man weiß, die man aber nicht in Anspruch nimmt. Collins hat für den hier beschriebenen Sachverhalt eine treffende Formulierung gefunden: „The Rationality of Avoiding Choice. “ (Collins 1993) Eine wichtige Fähigkeit besteht gerade darin, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Alternativen zu lenken. Häufig wird diese Fähigkeit bereits durch die Reihenfolge der wahrgenommenen Alternativen aktiviert (vgl. Simon 1993, S. 33). Die Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, ist also für eine Beurteilung des Modells eines Homo oeconomicus nicht unwichtig. Mit dem Versuch, verschiedene Formen nicht-optimaler Rationalität in eine soziologische Handlungstheorie zu integrieren, verbindet sich der Anspruch, idealistische und damit auch unrealistische Annahmen in angemessene Modellvorstellungen zu überführen. Zur Wahrnehmung der Situation gehört nun auch, dass die jeweiligen Optionen oder Wahlmöglichkeiten selbst die Einschätzung von Entscheidungen als überlegt oder unüberlegt, zufrieden oder unzufrieden, befriedigend oder unbefriedigend erscheinen lassen. Diese Problematik ist unter dem Etikett „Entscheidungsanomalien“ diskutiert worden (vgl. Frey 1990, Eichenberger 1992). Angebot und Nachfrage regeln zwar den Preis, aber ohne die Kenntnis zusätzlicher Nebenbedingungen ist der Preis alleine kein ausreichender Erklärungsfaktor für Kaufhandlungen. Wer beispielsweise energiebewusst lebt, mag bereits aus diesem Grund Geländewagen mit einem hohen Benzinverbrauch als unakzeptable Marktangebote einstufen. Wer somit über eine klare Präferenzenstruktur verfügt, kann dadurch den Kreis der relevanten Produkte oder Dienstleistungen bereits deutlich reduzieren. Wenn die verbleibenden Alternativen darüber hinaus klar unterscheidbar sind, ist das tatsächliche Entscheidungsverhalten vom Idealtypus der Zweckrationalität wahrscheinlich nicht weit entfernt. Die Untersuchung von Entscheidungsanomalien hat gerade zu zeigen versucht, dass die Art und Weise der Informationsdarbietung zu bestimmten Kaufalternativen einen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten nehmen kann. Hier sollen nur wenige Beispiele angeführt werden:
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Michael Jäckel Die Informationsverarbeitung der Konsumenten verläuft häufig sehr selektiv. So mag der Hinweis „Jetzt nur noch x Euro!“ dazu führen, dass der Konsument sich für den ursprünglichen Preis gar nicht mehr interessiert. Der Nutzenzuwachs, der durch einen Preisnachlass erzielt werden kann, wird nicht absolut, sondern relativ bewertet. Frey nennt hierzu ein Beispiel: „Geht’s um den Kauf von Waschmitteln oder Benzin, nimmt man nicht selten erhebliche Mühen auf sich, um auch nur 1 DM zu sparen; kaum jemand geht hingegen zur Konkurrenz, wenn dort das von ihm gekaufte Auto 20 DM billiger ist [...].“ (Frey 1990, S. 71) In Anlehnung an Kahneman und Tversky spricht Eichenberger in diesem Zusammenhang auch von einer Psychophysik der Preise. Übertragen auf die heutigen Währungsbedingungen bedeutet dies: Ein Konsument strengt sich mehr an, den Preis eines Produktes von 300 Euro auf 200, als von 20.000 Euro auf 19.900 Euro zu verringern (vgl. Eichenberger 1992, S. 15). Entscheidungen müssen nicht nur in die Zukunft gerichtet sein, sondern können sich auch an der Vergangenheit orientieren. Dieser so genannte „Sunk cost“-Effekt zeigt sich beispielsweise dann, wenn bestimmte Verhaltensweisen auf Grund einer Erhöhung der dafür zu zahlenden Beiträge nun vermehrt zu beobachten sind, z. B. die Ausübung bestimmter Sportarten nach Erhöhung des Mitgliedsbeitrags. Das Phänomen tritt aber auch dann auf, wenn jemand Geld ausgibt, das ihm geschenkt wurde. Mit diesem Geld wird wesentlich fahrlässiger umgegangen als mit dem Einkommen, das man auf Grund regelmäßiger Erwerbstätigkeit erhält (vgl. hierzu ebenfalls Eichenberger 1992, S. 11f.) Schließlich beschreibt der so genannte Framing-Effekt, dass Konsumenten durch die Art und Weise der Beschreibung von Produktalternativen in der Bestimmung eines Referenzpunkts für ihre Entscheidungen irritiert werden können. So assoziieren Kunden beispielsweise mit Großpackungen ein besseres Preis-Leistungsverhältnis. Ebenso kann der Kauf eines bestimmten Produkts durch das unmittelbare Produktumfeld beeinflusst werden. Der Kauf eines Kugelschreibers soll als Beispiel dienen: „Im Regal gibt es drei Sorten: einen billigen für 1,90 € , einen für 3,90 € und einen edlen für 19 € . Welchen wählen Sie? Wahrscheinlich den für 3,90 € . Auch hier zählt nicht der absolute Preis. Hätte der teurere Kugelschreiber nicht zur Wahl gestanden, hätten Sie nämlich mit größter Wahrscheinlichkeit den billigsten gewählt. Einfache Experimente zeigen, dass sich allein durch Aufnahme eines teuren Artikels in das Sortiment die Verkaufsanteile der billigeren Produkte verändern [...].“ (Schneider 2006, S. 73)
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 169 Die Nebenbedingungen des Handelns können also vielfältig sein. Während die gerade beschriebenen Entscheidungsanomalien vorwiegend in einer Zeit analysiert wurden und werden, die für die Mehrheit der Bevölkerung nicht durch eine Bewältigung unverzichtbarer Grundbedürfnisse gekennzeichnet ist, war der Weg zur Beseitigung dieser Notwendigkeit von der Erwartung angetrieben worden, dass die Konsumgesellschaft den Menschen vom Gefühl der Knappheit befreien könnte. Bevor daher das „Paradox of choice“-Phänomen der Gegenwart diskutiert wird, soll zunächst der Blick auf diese historische Erwartung gelenkt werden.
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Knappheit und Überfluss
Auf Hondrich geht der Vorschlag zurück, neben so genannten Grundbedürfnissen auch eine weitere, wesentlich wichtigere Bedürfnisorientierung zu berücksichtigen: Ansprüche. Diese Unterscheidung steht bei ihm für unverzichtbare und ersetzbare Bedürfnisse (vgl. Hondrich 1983, S. 62f.). Auch Keynes hat in seinen „Essays in Persuasion“ vorgeschlagen, absolute und relative Bedürfnisse zu unterscheiden. Die absoluten Bedürfnisse seien jene, die wir ohne Rücksicht auf die Lage unserer Mitmenschen empfinden; relativ dagegen seien jene Formen von Befriedigungen, die uns ein Gefühl der Überlegenheit vermitteln. Von der ersten Kategorie glaubte Keynes, dass sie gesättigt werden kann, die zweite Kategorie von Wünschen erschien ihm als eine unersättliche (vgl. Keynes 1972 [zuerst 1931], S. 326). Unterscheidungen dieser Art findet man in ähnlicher Form in zahlreichen Bedürfnistheorien. Auch die Maslowsche Bedürfnispyramide lässt sich in zeitlicher Perspektive als ein Kontinuum wechselnder Bedürfnisrelevanzen interpretieren: Mal haben Defizitbedürfnisse den Vorrang, mal Selbstverwirklichungs- oder Wachstumsbedürfnisse. Der Hinweis auf die zeitliche Dimension verdeutlicht des Weiteren, dass unsere Vorstellungen von Knappheit kein universelles oder gar anthropologisches Phänomen widerspiegeln. Knappheit resultiert aus den jeweils verfügbaren Ressourcen und stellt daher eine Systemeigenschaft dar: „Die Bedingungen der Produktivitätssteigerungen gehen offenbar Hand in Hand mit sozial erzeugten Erhöhungen von Ansprüchen, so dass die aufklärerische Hoffnung von der Vermehrbarkeit des Glücks durch die Verbesserung der Güterversorgung sich als illusionär erweist.“ (Hahn 1987, S. 121) Die Vorstellung von dringlichen und nicht-dringlichen Bedürfnissen kann daher nicht ohne Berücksichtigung des vorhandenen Alternativenreichtums interpretiert werden. Im Gegenteil: Knappheit entsteht stets neu und entwickelt sich parallel zu dieser Erfahrung. Damit bleibt Knappheit letztlich also ein Phänomen, das aus Kostenbewusstsein in unterschiedlichen sozialen Kontexten
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Michael Jäckel
entsteht. Aber letztlich bleibt evident, was McKendrick für den Anfang der Konsumgesellschaft festgestellt hat: „[…] the consumer revolution was the necessary analogue to the industrial revolution, the necessary convulsion on the demand side of the equation to match the convulsion on the supply side.“ (McKendrick 1982, S. 9) In der Umbruchphase des 19 Jahrhunderts bewahrheitet sich eine Beobachtung von Veblen, wonach „unser Aufwandsniveau genau wie auch andere Wettbewerbsziele von jener Klasse bestimmt [werden], die im Hinblick auf das Prestige eine Stufe höher steht als wir selbst.“ (Veblen 1958 [zuerst 1899], S. 85) Zugleich hebt auch Veblen hervor, dass die Mittelschichten in diesem Prozess eine tragende Rolle zu spielen beginnen: „ [...] wenn wir die gesellschaftliche Stufenleiter hinabsteigen, erreichen wir einen Punkt, an dem die Pflichten der stellvertretenden Muße und des stellvertretenden Konsums allein auf der Frau lasten. In den westlichen Ländern befindet sich dieser Punkt gegenwärtig in der unteren Mittelklasse.“ (Veblen 1958 [zuerst 1899], S. 71)
Die Verbreitung ehemals luxuriöser Produkte führt in diesem Zusammenhang zu Statusverlusten, da der Mangelzustand, der diese einmal zu Luxusgütern werden ließ, aufgehoben wird. Damit wurde zugleich ein bekannter Vorgang beschleunigt: reichere Bevölkerungsschichten sahen sich gezwungen, ihren Lebensstil zu ändern und erneut ihren einmaligen Status zu demonstrieren (vgl. z. B. Braudel 1985, S. 191). Auch hier wird somit das relative Element evident. Die Auseinandersetzung um Notwendigkeit und Luxus verändert sich je nach ökonomischen Bedingungen und Lebensverhältnissen. Während in der vorindustriellen Zeit Luxus für die Oberklasse ein wichtiges Mittel der Selbstbehauptung darstellte, erweiterte sich dieser Prestigefaktor mit dem Aufkommen von Massenproduktion und Massenkonsum auch auf statusniedrigere Bevölkerungsgruppen. Das vermeintlich Überflüssige wurde für viele Verbraucher erreichbarer. Diese verhältnismäßige Nivellierung hat langfristig aber nicht zu einer Uniformierung der Gesellschaft geführt. Die Erwartung, dass sich schichttypische Verhaltensstrukturen im Bereich des Verbrauchs und der Unterhaltung soweit anpassten, dass auch der Konsumgesellschaft ihre prägnanten Strukturen verloren gingen, hat sich nicht bestätigt (vgl. hierzu insbesondere Jäckel 2006, S. 179ff.) Die von René König beschriebene „Demokratisierung gewisser Ernährungsgüter“ (König 1965, S. 502), die dann auch im Sinn einer Demokratisierung des Luxus interpretiert wurde, spiegelt viel mehr einen Wandel in der Erreichbarkeit von Gütern des alltäglichen und außeralltäglichen Bedarfs wider. Nun, da die wachsenden Dispositionsspielräume des Verbrauchers Optionenvielfalt Wirklichkeit werden lassen, wird auch deutlich, was Konsumentensouveränität bedeuten kann.
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Demokratisierung und Polarisierung
Theodor Geiger (1891-1952) hat den Beobachtern gesellschaftlicher Strukturen einmal folgenden ‚Ratschlag’ mitgegeben: „Hat man als Statistiker sein Papier fein säuberlich in Spalten eingeteilt und Zahlen rechts und links vom Strich gesetzt, so muß man als Soziograph das Handgelenk locker halten: das Leben zieht keine klaren Grenzen, sondern verspielt sich in tausend Zwischenformen.“ (Geiger 1932, S. 14)
Es gehört somit zu den falschen Wahrnehmungen, dass man Homogenität erwartet, wo Heterogenität fortbesteht. Eine vertikale Gliederung der Gesellschaft in drei (Unter-, Mittel-, Oberschicht) oder sieben (z.B. das Goldthorpe-Schema, vgl. Hradil 1999, S. 363) Stufen ist ein Modell, nicht Realität. Es bleiben Mobilitäten und Differenzen, aber hinsichtlich bestimmter, zumeist statusrelevanter Merkmale, sind Ähnlichkeiten gegeben. Seit einigen Jahren nimmt nunmehr eine Diskussion der Frage zu, inwieweit eine wirkliche Demokratisierung im Konsumbereich zu beobachten ist und damit letztlich Knappheit reduziert wird. Hierzu zählt zunächst eine Arbeit von Peterson und Kern, die ihre These, wonach in den USA ein “shift from snobbishness to omnivorousness” (1996, S. 904) stattgefunden hat, auf die Musikpräferenzen der erwachsenen Amerikaner stützen. Sie sehen darin einen Hinweis auf eine größere Offenheit gegenüber den zahllosen Konsumangeboten (“openness to appreciating everything”, 1996, S. 904), im speziellen gegenüber verschiedenen Musikrichtungen, und folgern: “In this sense it is antithetical to snobbishness, which is based fundamentally on rigid rules of exclusion [...].” (Peterson/Kern 1996, S. 904) Mehrere Faktoren werden für diesen Präferenzenwandel angeführt (vgl. Peterson/Kern 1996, S. 905):
Strukturelle Veränderungen: Verbesserte Lebensbedingungen, die Bildungsexpansion und die allgemeine Verfügbarkeit von Medien haben zur Verbreitung hochkultureller Geschmacksorientierungen geführt; gleichzeitig fand durch Migration und soziale Mobilität eine stärkere Durchlässigkeit zwischen Gruppierungen mit unterschiedlichen Geschmacksorientierungen statt. Wertewandel: Ein allgemeiner Trend zu größerer Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Wertsystemen führt zum Rückgang exklusiver Konsumformen. Veränderungen im Kunstbereich: Die Wertigkeit von Kunst liegt weniger in den Arbeiten selbst als in den Bewertungen des Kunstbetriebs, der sich global ausgerichtet hat.
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Michael Jäckel Generationsbezug: Populärmusik beispielsweise wird seit den späten 1960er Jahren nicht mehr als „Übergangskultur“ der Teenager verstanden, sondern als dauerhafter Kulturbezug. Dominante Statusgruppen: „Hochkultur-Snobismus“ passt zu älteren Eliten, während „Allesfresserei“ (omnivorousness) zu neuen ManagementGruppierungen passt.
Diese „Allesfresser“-These soll verdeutlichen, dass es einen Kern unumstößlicher Präferenzen gibt, von dem von Fall zu Fall (und hier: unter Berücksichtigung der Schichtzugehörigkeit) abgewichen werden kann. Auch die Studie von Gebesmair unterstreicht diese Abkehr von ausschließlich exklusiven Verhaltensweisen und sieht darin ein Indiz für „Renditen der Grenzüberschreitung“. Unter Bezugnahme auf Bourdieus Kapitaltheorie sieht er in einem Trend zu Genregrenzen überschreitenden Vorlieben eine Verschleierung weiterhin vorhandener Ungleichheiten. Basierend auf Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage für die Sozialwissenschaften aus dem Jahr 1998 (ALLBUS) werden Interessensfelder der so genannten Hochkultur und Populärkultur auf individuelle Schnittmengen geprüft. Das Ergebnis (Einzelheiten zur methodischen Vorgehensweise bei Gebesmair 2004, S. 191ff.) zeigt Tabelle 1: Tabelle 1: Grenzüberschreitung von Hochkultur zu Populärkultur Alters- und Berufsgruppen
60 Jahre und älter "Oberschicht", Nmin =95 Andere Berufgruppen, Nmin=487 Differenz 40 bis 59 Jahre "Oberschicht", Nmin =157 Andere Berufgruppen, Nmin=513 Differenz 18 bis 39 Jahre "Oberschicht", Nmin =157 Andere Berufgruppen, Nmin=513 Differenz
Durchschnittlicher Umfang der Interessen und Vorlieben
Durchschn. Anzahl der Grenzüberschreitungen
8,36 8,10 0,26
16,40 12,94 3,46**
8,63 8,61 0,02
17,95 14,54 3,41***
8,83 8,20 0,63
18,04 12,76 5,32***
Quelle: Gebesmair 2004, S. 195; *p ≤ 0,01, **p ≤ 0,005, ***p ≤ 0,001
Während sich die verglichenen Gruppen (hier: Oberschicht vs. andere Berufsgruppen) unabhängig vom Alter hinsichtlich der durchschnittlichen Anzahl an
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 173 Interessen und Vorlieben nicht signifikant unterscheiden, gilt dies für die durchschnittliche Anzahl der Grenzüberschreitungen (z.B. Popmusik und klassisches Konzert) nicht. Hier macht sich die vertikale Differenzierung unabhängig vom Alter bemerkbar. Daraus folgert Gebesmair:
Statuspositionen werden nicht mehr über die Nähe zur Hochkultur und die symbolische Abgrenzung von Populärkultur legitimiert. An die Stelle der hochkulturellen Distinguiertheit tritt die demonstrative Grenzüberschreitung. Diese Grenzüberschreitung fungiert als neues kulturelles Kapital und führt zur Verschleierung sozialer Unterschiede.
Seine Schlussfolgerung lautet: „Wer auf der Überlegenheit seines Geschmacks beharrt und für alles Populäre nur Abscheu zeigt, darf nicht mit der Anerkennung rechnen, die jenen entgegengebracht wird, die sich gegenüber einer Vielzahl von kulturellen Praktiken offen zeigen.“ (Gebesmair 2004, S. 199). Diese Interpretation bewegt sich innerhalb eines theoretischen Rahmens, der das Bedürfnis nach Distinktion in besonderer Weise hervorhebt. Allgemeiner könnten diese Ergebnisse auch so interpretiert werden, dass mit wachsenden Optionsspielräumen auch mehr Freiräume entstehen, die zu einem Anstieg von Idiosynkrasien führen können. Die Grenzen des Handelns lassen sich auch hier nicht exakt benennen; so, wie es nicht möglich ist, Schicht A an einem bestimmten Punkt einer hierarchischen Ordnung enden zu lassen. Unter Bezugnahme auf den Schichtbegriff von Theodor Geiger hat Geißler diesbezüglich die so genannte Überlappungshypothese formuliert (1996, S. 333). Klassen, Schichten, Milieus und alle anderen sozialstrukturanalytischen Kategorien sind „in der Realität der modernen Sozialstruktur keine Gruppierungen mit klaren Grenzen. In diesem Sinne sind sie keine ‚Realtypen’ oder ‚Realbegriffe’, sondern vielmehr heuristische Instrumente, deren Charakter eher an den Weberschen Idealtypus erinnert.“ Bezüglich schichtspezifischer Verhaltens- und Einstellungsmuster wird mit der so genannten Staffelungshypothese eine Annahme formuliert, die in besonderer Weise eine Antwort auf die Frage gibt, wie sich soziale Strukturen auf Handlungen auswirken können: „In einem Modell der konzentrischen Kreise lässt sich diese Staffelung wie folgt denken: ein Kern von stark schichtspezifischen Segmenten ist umgeben von Zonen mittlerer und schwach schichtspezifischer Segmente und diese schließlich von einem Ring schichtneutraler Segmente“ (Geißler 1996, S. 334). Die These, das zeigen die Beispiele, bewegt sich gegenwärtig vorwiegend im Bereich von „Kunstkonsum“. Auch neuere Arbeiten bestätigen dies (siehe Gebesmair 2006 und Rössel 2006). „Kulturelle Allesfresser“ so Kaube unter Be-
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zugnahme auf neuere Analysen von Peterson und Rossman, seien Personen, „die nicht mehr dem Schema gehorchen, daß hoher beruflicher Status auch ein ausschließliches Interesse an Hochkultur nach sich zieht [..]“ und „daß insbesondere die an Hochkultur interessierten Personen Vorlieben für immer mehr musikalische Genres entwickeln.“ (Kaube 2006, S. 78) Die Bildunterschrift zu diesem Beitrag erweitert den Konsumbereich bereits: „Popcorn im Autorenkino, Vorlieben für Spaghetti-Western und Brahms – das muß sich nicht ausschließen.“ (ebenda, S. 78) Sucht man nach weiterreichenden Bestätigungen für den Konsumgüterbereich, wird insbesondere das Ernährungsverhalten vermehrt unter diesem Gesichtspunkt untersucht1. Aber auch der Erfolg eines ausschließlich an Preisen orientierten Wettbewerbs mag zu einer Demokratisierung des Konsums beigetragen haben. Die Struktur eines solchen Konsummarktes müsste dann aber eher einer Zwiebel entsprechen, in Anlehnung an Vorstellungen, die mit Schelskys Konstrukt einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft in Verbindung gebracht werden. Rodenhäuser u.a. sprechen in ihrer Analyse dagegen von Sanduhrmärkten (vgl. 2005, S. 134) und führen drei Argumente für die These einer toten Angebotsmitte an: „1. Mit der sozialen Polarisierung geht der Mitte sozusagen die Stammkundschaft verloren. 2. Veränderungen in den Wertsetzungen der Verbraucher und im Verbraucherverhalten lassen die Mitte aus der Mode geraten. 3. Misserfolge von Unternehmen in der Mitte bei gleichzeitigen Erfolgen an den Rändern führen zum Entstehen von „Sanduhr-Märkten“ mit einer hauchdünnen Mitte.“ (Rodenhäuser u.a. 2005, S. 130)
Die Ursache liegt im Erfolg des Discount-Konzepts, das immer mehr Produktbereiche erfasst (vgl. Bosshart 2004). Das Discount-Phänomen hat ohne Zweifel die Diskussion um die Präferenzen der Verbraucher in den letzten Jahren dominiert. Aber auch dieses Segment zeigt vermehrt Anzeichen der Differenzierung, was sich beispielsweise an neuen Gestaltungskonzepten für Discount-Märkte ablesen lässt (vgl. Jäckel 2006, S. 275f.). Wein wird z.B. nicht mehr im aufgerissenen Karton angeboten, sondern in ansprechender Form. Das untere Preissegment soll durch Differenzierungen dieser Art nach oben erweitert werden, weil die Wachstumsraten im klassischen Discountsektor an ihre Grenzen stoßen. Gleichzeitig entwickelt sich ein Leasing-Luxusmarkt, der die Chancen auf demonstrativen Konsum erweitert, vielleicht aber auch den Luxuskonsum vom Vorwurf der Verschwendung entlastet (vgl. hierzu auch Kessler 2006, S. 69).
1
Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Papastefanou im vorliegenden Band.
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 175 Märkte, insbesondere Konsummärkte, sind somit weit davon entfernt, homogen zu sein. Daher ist auf Grund der Parallelität der Entwicklungen, also des Ausgreifens von Konsumpräferenzen von oben nach unten und der Erweiterung des Konsumfeldes durch Orientierung an oben für Konsumenten von unten, schwer zu entscheiden, wie eng der Hals der Sanduhr ist. Jedenfalls reduzieren sich die Nebenbedingungen nicht, sie werden durch Ausweitung der Präferenzen und durch Ausweitung der Erreichbarkeit vergrößert. Ansonsten müssten alle Diskussionen um Konsumentenverwirrtheit, um den Verdruss an Überangeboten, sich darauf reduzieren, permanent aus vermeintlich Unterschiedlichem auswählen zu müssen. Dieser Hinweis führt zurück zu den Kaufentscheidungen.
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Vielfalt und Kaufentscheidung
Die Entwicklung und der Wandel menschlicher Bedürfnisse wird häufig in einen Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit eingebettet, der nicht wirklich zur Ruhe kommt. Albert O. Hirschman hat diesen Sachverhalt in seiner Analyse „Engagement und Enttäuschung“ (1984) sehr anschaulich beschrieben. Von ihm stammt der wichtige Hinweis, dass jede Form des Konsums den Keim der eigenen Zerstörung in sich trägt. Das Glück der Menschen, so Hirschman, sei daher immer enttäuschungsbedroht, weil die Erfüllung eines Wunsches gelegentlich auch zur Qual werden kann. Dies gelte in besonderer Weise für langlebige Konsumgüter. Sobald man ein Produkt gekauft habe und es sich eine gewisse Zeit im Besitz des Konsumenten befinde, gehe das Vergnügen an diesem neuen Gut verloren und es werde zunächst durch ein Wohlbefinden ersetzt. Insgesamt aber werden langlebige Güter mit der Zeit einfach langweilig. Besonders eindringlich verdeutlicht Hirschman diesen Zeitfaktor des Konsums mit einer Aussage von George Bernhard Shaw: „Es gibt im Leben zwei tragische Erfahrungen: Die eine ist, daß man nicht bekommt, was man sich sehnlichst wünscht, die andere ist, daß man es bekommt.“ (Hirschman 1984, S. 67f.) Hirschmans Beobachtungen werden nicht durch empirische Daten untermauert. Dennoch wird man angesichts der Beschleunigung der Innovationszyklen heute alleine deshalb gelegentlich enttäuscht, weil man sich irgendwann entscheiden muss. Der Bereich der modernen Unterhaltungselektronik ist dafür ein gutes Beispiel. In solchen Situationen fällt es auch dem modernen Konsumenten leicht, Gegnern des Materialismus zuzustimmen, beispielsweise dem amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-1862). Der folgende Satz jedenfalls würde sich gut in die modernen Minimalismus-Strategien einreihen lassen: „Ein Mensch ist reich in Proportion zu den Dingen, die sein zu lassen er sich leisten kann.“ (zit. nach Liffers 1995, S. 3)
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Aber dieses Enttäuschungspotential ist nicht die einzige Quelle, die den Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit in Gang halten kann. Paul Wachtel hat in seiner Analyse „The Poverty of Affluence“ gezeigt, dass die amerikanische Mittelklasse von einem Anspruchsniveau zum nächsten getrieben wird. Im Jahr 1958 war es beispielsweise Luxus, als Familie im Besitz von zwei Autos zu sein. Im Jahr 1983 waren zwei Autos fast schon eine Notwendigkeit und wurden nicht mehr als eine Erhöhung des Lebensstandards wahrgenommen. Die provokante These von Wachtel (1983, S. 16) lautete damals: „[...] the way the growth economy has been constructed, it creates more needs than it satisfies and leaves us feeling more deprived than when we had “less”.” Die Paradoxie, die sich daraus ableiten lässt, lautet daher: Je mehr wir haben, desto unzufriedener werden wir. In einer Fortschreibung dieser Entwicklung hat schließlich Barry Schwartz in seinem Buch „The Paradox of Choice“ den Weg von einem Zeitalter der Entbehrung in ein Zeitalter des Überflusses als Übergang von einer notgedrungenen Übersichtlichkeit zu einer nicht-intendierten Verwirrtheit beschrieben: „When people have no choice, life is almost unbearable. As the number of available choices increases, as it has in our consumer culture, the autonomy, control, and liberation this variety brings are powerful and positive. But as the number of choices keeps growing, negative aspects of having a multitude of options begin to appear. As the number of choices grows further, the negatives escalate until we become overloaded.” (Schwartz 2004a, S. 2)
Diese Überlast-Diagnose entspricht nach Luhmann den Konsequenzen einer funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft. Die Reflexionsund Selektionslast moderner Individuen werde nicht mehr durch stabile Institutionen, die vorgeformte und sozial eingewöhnte Entscheidungen bereitstellen, gewährleistet, sondern sei nun dem einzelnen überlassen. Moralische Präformierungen solcher Entscheidungen schwinden, der Individualismus wird institutionalisiert. Aber offensichtlich wird dieser Individualismus in zunehmendem Maße als eine unstrukturierte Reflexionslast wahrgenommen im Sinne von „Jetzt mach etwas aus deinem Leben!“ (vgl. hierzu Luhmann 1989, S. 149f.) Diese Reflexionslast wird in der Literatur zum Käuferverhalten seit einiger Zeit als Consumer Confusion bezeichnet. Eine solche Diagnose muss als normal eingestuft werden, wenn man sich von den Produktzahlen beeindrucken lässt. Schuh und Schwenk nannten im Jahr 2001 folgende Entwicklungen (vgl. Schuh/Schwenk 2001, S. 17): In einem Zeitraum von zehn Jahren hat/haben sich
die Anzahl der Artikel um bis zu 130 Prozent erhöht, die Produktvarianten um bis zu 420 Prozent erhöht und die Produktlebenszyklen um bis zu 80 Prozent verkürzt.
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 177 Es überrascht daher nicht, dass diese Grenzüberschreitungen immer häufiger als ungewünschte Nebenbedingungen eingestuft werden. In diesem Umfeld wird der Preis für Horx „ein unheimlich betörender und einfacher Differenzierungsfaktor“ (Hanser 2006, S. 31). Bereits in den 1970er Jahren konnten Jacoby u.a. (1974) nachweisen, dass die Anzahl korrekter Entscheidungen in keinem positiven linearen Verhältnis zur Zahl verfügbarer bzw. erhaltener Informationen steht. Probanden, deren subjektives Anforderungsprofil gegenüber dem Kaufobjekt (Waschmittel) bekannt war, wurden mit einer unterschiedlichen Alternativenauswahl (4,8,12 Waschmittelmarken) und unterschiedlichen Detailinformationen zu den jeweiligen Produkten (2,4,6 Eigenschaften) konfrontiert. Sobald die Anzahl verfügbarer Informationen einen Wert von 24 (z.B. 4 Marken und sechs Eigenschaften) überschritt, nahm die Entscheidungsqualität ab. Nun lassen sich Kaufentscheidungen nach dem Ausmaß des kognitiven Involvements unterscheiden, wobei das Spektrum von impulsiven über habitualisierte und limitierte bis hin zu extensiven Entscheidungen reicht. Solange der Konsument über eine Regel verfügt, die ihn beim Kauf anleitet, dürfte die Qual der Wahl kein Problem darstellen. Solche Regeln, die auch als Entscheidungen zweiter Ordnung bezeichnet werden (vgl. Schwartz 2004b, S. 126), erleichtern den Verzicht auf Produktvergleiche. Solche Regeln aber geraten sehr rasch unter Druck, wenn der Markt immer häufiger Einfluss auf Entscheidungsroutinen zu nehmen versucht. Die Studie Markenprofile 11 ermittelte beispielsweise eine Gruppe von Verunsicherten, die einen Anteil von 17 % umfassen soll (vgl. Abbildung 1). Diese Gruppe wird durch Rabattaktionen verunsichert, kann sich nur schwer entscheiden und verliert rasch den Überblick in einem Warenüberangebot. Hier wird der evoked set, also der für einen Konsumenten kaufrelevante Produktbereich, aufgebrochen. Dieser vielzitierte set scheint empirisch nicht gut erforscht zu sein. Foscht und Swoboda (2004, S. 155) zitieren Befunde aus den 1970er Jahren, wonach der individuelle evoked set für Zahnpasta bei drei, für Waschmittel bei fünf Produkten lag. Kroeber-Riel und Weinberg (2003) nennen Zahnpasta und Windeln (bei vereinfachter Wahl nur zwei Marken) und berufen sich auf Publikationen zu Beginn der 1980er Jahre. Solomon wiederum nennt den Bierkonsum der Amerikaner, die sich auf weniger als drei Alternativen beschränken, und den der Kanadier, die es bis auf sieben verschiedene Marken bringen, sowie den Autokauf der Norweger (zwei Marken) und den der Amerikaner, die mehr als acht Varianten in Betracht ziehen, als Beispiele (vgl. Solomon 2006, S. 318).
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Abbildung 1: Der verunsicherte Konsument
Ich habe manchmal das Gefühl, beim Warenangebot den Überblick zu verlieren.
Beim Einkaufen kann ich mich oft nur ganz schwer entscheiden.
Ich fühle mich durch die ganzen Rabattaktionen verunsichert.
0
5
10
15
20
25
30
35
40
Quelle: Gruner + Jahr 2005, S. 517ff.
Über die Stabilität von evoked sets ist offensichtlich wenig bekannt. Als Entscheidungshilfe – das dürfte außer Zweifel stehen – reduzieren sie in jedem Falle Informationskosten. Fehlen diese Hilfen, dann steigt auch das Risiko der (vorläufigen) Nicht-Entscheidung. Das Phänomen ist aus der Alltagsbeobachtung bekannt und auch Gegenstand experimenteller Untersuchungen gewesen. Dhar (1997) ist in diesem Zusammenhang von folgenden Hypothesen ausgegangen:
Wenn der Konsument mit neuen Alternativen, die hinsichtlich ihrer Gesamtattraktivität ähnlich und weitgehend homogen sind, konfrontiert wird, dann bevorzugt er das Nicht-Entscheiden. Wenn der Konsument dagegen mit zusätzlichen Alternativen, deren Attraktivität gegenüber den bereits vorhandenen Produkten geringer ist, konfrontiert wird, werden häufiger keine Entscheidungen getroffen.
Daraus folgt zunächst grundsätzlich, dass nicht jede Zunahme von Heterogenität zu einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit des Aufschiebens von Entscheidungen führt. Ohne eine Beschreibung des qualitativen Umfelds der Entscheidungsfindung sind allgemeine Je-desto-Aussagen im Sinne von „Wenn die Alternativen steigen, werden Kaufentscheidungen aufgeschoben“ relativ wertlos. Das Expe-
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 179 riment von Dhar (1997) beruht auf dem Vergleich von vier Versuchsanordnungen, die sich bezüglich der vorhandenen Entscheidungsalternativen unterscheiden. Variiert wurden die Zahl der attraktiven Alternativen, die Zahl der ähnlichen Alternativen sowie die Zahl der Funktionsmerkmale bei ansonsten sehr ähnlichen Produkten. An dem Experiment nahmen insgesamt 190 Studenten teil, die auf vier Versuchsbedingungen zufällig verteilt wurden. Dabei ging es um folgende Produktkategorien: Lautsprecher für Bücherregale, Anrufbeantworter, Laptops und Elektrorasierer. Die Resultate (vgl. Tabelle 2) zeigen, dass im Falle aller Produktkategorien das Hinzufügen einer ähnlichen Alternative die Kaufentscheidung reduziert: Dies gilt sowohl für die „High“- als auch die „Low“Variante. Auch die Zahl der Merkmale, an Hand derer sich die Produktalternativen unterscheiden lassen, änderte nichts an diesem signifikanten Unterschied. Des Weiteren führte das Hinzufügen einer gegenüber der ersten Alternative minderwertigen Variante zu einem signifikanten Anstieg der Kaufentscheidung für die zunächst vorhandene Alternative. Dies bestätigt die in Hypothese 2 formulierte Annahme, dass Kaufentscheidungen wahrscheinlicher werden, wenn die zusätzlich offerierten Produkte eine minderwertige Qualität haben. Besonders deutlich zeigt sich dies im Falle der Produktkategorie „Anrufbeantworter“: Hier steigt die Kaufentscheidung von 58 % (eine Alternative) auf 77 % (hinzufügen einer zweiten, geringerwertigen Alternative) an. Erstaunlich an diesen Befunden ist darüber hinaus, dass auch die Komplexität der Produkte offensichtlich keinen Effekt auf die Entscheidungsfindung gehabt hat. So sind relativ hochpreisige Produkte, z. B. tragbare Computer, im vorliegenden Experiment keine Variante, die in besonderer Weise Anlass zur Suche nach weiteren Informationen gegeben hat. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass im Rahmen dieses Experiments die Studenten natürlich nicht vor einer wirklichen Entscheidung standen und ihr persönliches Einkommen von dieser eher theoretischen Entscheidung nicht beeinflusst wurde. Trotz dieser Validitätsproblematik konnte Dhar auch in weiteren experimentellen Untersuchungen Hinweise für das Zutreffen seiner Ausgangshypothesen finden. Offensichtlich besteht also ein positiver Zusammenhang zwischen der Ähnlichkeit der Alternativen und der Häufigkeit einer NichtEntscheidung.
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Tabelle 2: Entscheidung oder Nicht-Entscheidung in verschiedenen Auswahlsituationen: ein Experiment von Dhar Hinzufügen einer zweiten Alternative Anzahl der Vergleichsmöglichkeiten Eine Alternative (n=45)
Hoch (n=58)
Niedrig (n=48)
Minderwertig (n=48)
Bücherregal-Lautsprecher Kauf (% ) W eiterer Informationsbedarf (% ) Suche nach anderen Marken (% )
62 25 13
50* 8 42
52* 12 36
69 17 12
Anrufbeantworter Kauf (% ) W eiterer Informationsbedarf (% ) Suche nach anderen Marken (% )
58 7 35
45** 5 49
42** 7 51
77* 2 19
Laptop Kauf (% ) W eiterer Informationsbedarf (% ) Suche nach anderen Marken (% )
58 9 32
52 11 37
50 8 42
70** 9 21
Elektrorasierer Kauf (% ) W eiterer Informationsbedarf (% ) Suche nach anderen Marken (% )
58 9 33
48 7 45
44 12 44
74** 4 21
Produkt-Kategorie
Quelle: Dhar 1997, S. 220 ; * p ≤ .05; ** p ≤ .10
Eine weitere Studie, die auch in journalistischen Beiträgen zur Reizüberflutung von Konsumenten gerne zitiert wird (vgl. z.B. Schneider 2006, S. 73), stammt von Iyengar und Lepper. Während Dhar in seinem Experiment die Qualität zusätzlicher Optionen merklich differenzierte, wählten Iyengar und Lepper einen anderen Weg: Sie fügten Alternativen hinzu, die für die Mehrzahl der Konsumenten wahrscheinlich keine erkennbare Differenzierungsleistung mit sich brachten. Sie gingen dabei von der Überlegung aus, dass Konsumenten es zunächst einmal als wünschenswert betrachten, aus einer Vielzahl von Produkten auswählen zu können. Die Untersuchungen zur Entscheidungsqualität bei Zunahme von Alternativen lassen in diesem Zusammenhang erwarten, dass sich die unabhängige und die abhängige Variable nicht in einem linearen Verhältnis zueinander verändern. Im Folgenden soll eine Versuchsvariante etwas ausführlicher dargestellt werden. Es handelt sich um ein Feldexperiment, das in einem Supermarkt durchgeführt wurde, der ein eher hochpreisiges Produktsegment anbietet. An zwei aufeinanderfolgenden Samstagen wurden unterschiedliche Präsentationsstände mit
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 181 verschiedenen Marmeladensorten präsentiert. In der limitierten Versuchsanordnung standen den Besuchern des Supermarktes sechs verschiedene Marmeladensorten zur Verfügung, in der extensiven Versuchsanordnung 24 verschiedene Sorten. Diese Sorten stammten jeweils von derselben Firma, wobei darauf geachtet wurde, dass die populärste Geschmacksrichtung in beiden Versuchsanordnungen nicht zur Verfügung stand. Das mag für einen Gewohnheitskäufer, der genau nach diesem Produkt sucht, bereits eine nicht zu unterschätzende Einschränkung (Nebenbedingung) gewesen sein. Iyengar und Lepper weisen zwar darauf hin, dass ein Produktbereich ausgewählt wurde, mit dem die meisten Konsumenten vertraut sind, allerdings nicht so vertraut, dass sich bereits feststehende Präferenzen etabliert hätten. Dennoch wird durch den – zumindest in der limitierten Versuchsanordnung - Ausschluss der bevorzugtesten und unbeliebtesten Sorten (eine Entscheidung, die durch eine Vorstudie evaluiert wurde), die Entscheidungsfindung auf einen mittleren Bereich gedrängt. Der Aufbau eines Verkostungsstands war dagegen nichts Ungewöhnliches für den Supermarkt. Jeder Konsument, der sich an dem Stand aufhielt, erhielt einen Rabatt-Coupon, so dass auch Käufe, die gegebenenfalls in der darauffolgenden Woche getätigt wurden, noch registriert werden konnten. Zu den zentralen Ergebnissen dieser Versuchsanordnung gehörte, dass im Falle der extensiven Versuchsanordnung (24 Marmeladensorten) 242 Konsumenten den Verkostungsstand passierten, von denen wiederum 60 % an diesem Stand verweilten. In der limitierten Versuchsanordnung blieben dagegen nur 40 % der den Stand passierenden Konsumenten stehen. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Zunahme der Alternativen zunächst einmal positiv wahrgenommen wird. Das tatsächliche Verhalten am Verkostungsstand zeigt dagegen, dass sich der Effekt einer hohen Alternativenzahl offensichtlich bereits im Hinblick auf die Zahl der getesteten Geschmacksrichtungen verflüchtigt. In der extensiven Versuchsanordnung wurden durchschnittlich 1,5 Marmeladensorten getestet, in der limitierten 1,38. Der Effekt der unterschiedlichen Alternativenanzahl auf die tatsächliche Kaufentscheidung ist jedoch noch beträchtlicher: Während nur 3 % der Konsumenten, die an dem extensiven Verkostungsstand verweilten, eine Kaufentscheidung tätigten, waren es im Falle der limitierten Variante fast 30 % (vgl. Tabelle 3). Eine hohe Alternativenanzahl wird also zunächst als attraktiv wahrgenommen, führt aber im Anschluss zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Nicht-Kaufs.
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Tabelle 3: Großes versus limitiertes Warensortiment: das „Marmeladen“Experiment von Iyengar und Lepper Kundenreaktion Kunden, die interessiert stehen blieben Von den interessierten Kunden kauften... Anteil kaufender Kunden
24 Sorten 60% 3% 2%
6 Sorten 40% 30% 12%
Quelle: Iyengar/Lepper 2000
Damit wird durch dieses Experiment indirekt auch eine Bestätigung der Analysen von Dhar geliefert. Letztlich werden dadurch keine Voraussetzungen für klare und eindeutige Empfehlungen geschaffen. Wie sollte beispielsweise ein Marktleiter auf die Befunde dieses Experiments reagieren? Für den Konsumenten wiederum gilt, dass er sich in der Regel nicht in einer Situation befindet, die ihm eine endgültige Entscheidung abverlangt. Eher wandelt er zwischen zahlreichen Appetenz-Appetenz-Konflikten (erfordert eine Entscheidung zwischen zwei für den Konsumenten positiv bewerteten Alternativen mit gleichem Wert) und geht diesen auf Grund der Nicht-Dringlichkeit solcher Entscheidungen zunächst einmal aus dem Weg. Riesige Sortimente für eine spezifische Produktgruppe wirken auf Konsumenten wie „category killers“, weil bereits der Anblick von Vielfalt zu einer Entwertung des eigentlichen Produktwunschs beiträgt. Huffman und Kahn nennen in diesem Zusammenhang riesige „Book Stores“ oder Supermärkte für Spielzeugprodukte (z. B. Toys“R“Us) (vgl. Huffman/Kahn 1998, S. 491). Wenn unter solchen Kaufbedingungen keine erkennbaren Entscheidungshilfen angeboten werden, der Konsument also im Grunde genommen nur alternativenbasiert entscheiden soll, wird er im Falle des Nichtvorhandenseins eines evoked set wahrscheinlich wieder unverrichteter Dinge davonziehen. Letztlich wird man somit auf eine bekannte Erkenntnis verwiesen: Es ist immer gut zu wissen, was man will.
6
Fazit
Am Ende dieser Ausführungen ist auf das Ausgangsproblem, das Rätsel des Konsums, zurückzukommen. Offensichtlich stehen Produktvielfalt und Konsumentenverdruss in einem sehr ambivalenten Verhältnis zueinander. Schwartz hat betont, dass die freie Wahl mindestens zwei zentrale Funktionen übernimmt: Sie steht zum einen für einen instrumentalen Wert, der Menschen in die Lage versetzt, jene Dinge auswählen zu können, die im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die beste Befriedigung verschaffen. Die freie Wahl hat darüber hinaus
The Paradox of Choice. Konsumentscheidungen auf ambivalenten Märkten 183 aber auch eine Signalfunktion, einen expressiven Wert. Sie ermöglicht der Umwelt Mitteilungen über uns selbst. Das kann in demonstrativen Konsum münden, verschafft zugleich aber auch ein Gefühl der Selbstbestimmung, das auf Anerkennung durch Dritte hofft. Wenn dagegen in allen Lebensbereichen die Aufforderung zu wählen zunimmt, erhöhen sich die Entscheidungskosten häufig offensichtlich ohne wirklichen Zugewinn: „Die Wahl, wann wir wählen wollen, ist möglicherweise die wichtigste Wahl, die wir treffen können.“ (Schwartz 2004b, S. 117) Dass ein Erlernen dieser Fähigkeiten vom Markt nicht systematisch unterstützt wird, ist nicht überraschend. Die permanenten Versuche, den Konsumenten mit Preisen (=Spareffekte) zu überzeugen, führen häufig gerade zu Verhaltensweisen, die zumindest dem Außenstehenden als irrational erscheinen. So konnten Darke und Dahl zeigen, dass die Zeit, die Käufer für das Aushandeln eines Rabatts investieren, häufig in keinem Verhältnis zu dem finanziellen Gewinn steht (vgl. Darke/Dahl 2003). Ebenso konnten Kahneman und Tversky feststellen, dass Konsumenten mehr Anstrengungen in einen höheren prozentualen Rabatt (33 % versus 4 % ) investieren, obwohl in beiden Fällen nur 5 $ gespart wurden (vgl. Kahneman/Tversky 1984). Der Markt lädt sozusagen täglich zum „Bargaining“ ein. Mal hat der Konsument das Gefühl, zu den Gewinnern zu gehören, mal das Gefühl, wieder einmal nicht geduldig genug gewesen zu sein. Das mag ein Baustein in der Erklärung des Phänomens sein, „dass der Zuwachs an materiellem Wohlstand keinen Zuwachs an subjektiven Wohlgefühl gebracht hat.“ (Schwartz 2004b, S. 121) Auch dies ließe sich als Wachstumskrise bezeichnen, weil der Konsument unter diesen Bedingungen ebenfalls zu einem Opfer der „Tyrannei kleiner Entscheidungen“ wird. Diese Formulierung verwandte Fred Hirsch in seiner ökonomischen Analyse „Die sozialen Grenzen des Wachstums“ (1980, S. 58). Der Markt stellt den Konsumenten nie vor die grundsätzliche Wahl, ob er lieber eine Marktstruktur A oder eine Marktstruktur B haben möchte. Hirsch gab dazu nachfolgendes Beispiel: „Wahlhandlungen werden oft auf [der] Basis einer Einzelentscheidung getroffen. So führt beispielsweise der Erwerb von Büchern in Discountläden am Ende zur Schließung der Buchhandlung am Ort. Trotzdem können die Käufer von Büchern niemals wählen, ob sie lieber billige Bücher und keine Buchhandlung oder teure Bücher und eine Buchhandlung haben möchten. Sie haben lediglich die Wahl zwischen billigen und teuren Büchern und selbstverständlich ziehen sie das erstere vor. Die eigentliche Entscheidung für den weiteren Betrieb einer Buchhandlung um den Preis teurerer Bücher wird von ihnen zu keiner Zeit getroffen.“ (Hirsch 1980, S. 68f.)
Hätte Robert King Merton dieses Beispiel gekannt, er hätte es wahrscheinlich in seinen Beitrag über die unbeabsichtigten Folgen absichtsgeleiteter Handlungen aufgenommen (vgl. Merton 1936). Dieses Rätsel des Konsums ist letztlich ein
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Paradebeispiel für Ambivalenz. Das Unangenehme an diesem Rätsel ist nur, dass viele Teilerklärungen gefunden werden können, aber wohl kaum endgültige „Lösungen“ in Aussicht stehen.
7
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Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle Anwendung des Konzeptes der emotionalen Polarisierung auf die Konsumstimmung – eine induktiv-deduktive Forschungsgeschichte Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert) Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert) Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle. Anwendung des Konzeptes der emotionalen Polarisierung auf die Konsumstimmung – eine induktiv-deduktive Forschungsgeschichte Die Politik hat immer wieder versucht, durch kommunikative und volkswirtschaftliche Maßnahmen Einfluss auf die Stimmungen und Verhaltensweisen der Konsumenten auszuüben, um damit die Binnenkonjunktur positiv zu beeinflussen. Der Erfolg solcher Maßnahmen ist strittig. Er stellt sich jedoch umso schwerer ein, je weniger die emotionalen und sozialpsychologischen Wahrnehmungen der Bürger als Äußerungen einer „öffentlichen Gefühlslage“ berücksichtigt werden. Der Beitrag zeichnet anhand kontinuierlicher Umfragedaten Entwicklungen von Konsumklimaindikatoren in Deutschland nach und stellt ein neues Modell zur Beschreibung des emotionalen Klimas in der Bundesrepublik vor, das er in seinen Grundzügen aus zentralen Ansätzen der Emotionspsychologie entwickelt.
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Einleitung
Die Verbraucherstimmung ist in modernen Ökonomien mit ihren hohen Sättigungsgraden an Gütern und Dienstleistungen sowie den an der Nachfrage orientierten Märkten ein zentraler Faktor des ökonomischen Erfolgs sowohl der einzelnen Unternehmen als auch der gesamten Volkswirtschaft. An der Konsumstimmung orientieren sich Unternehmen und Staat in ihren Planungen, die Anleger an den Börsen sowie die Journalisten in ihrer Wirtschaftsberichterstattung. Vom ungetrübten und ungebremsten Konsum hängen Wirtschaftswachstum, die Einnahmen von Unternehmen und Staat, Arbeitsplätze und damit letztlich das Wohl und Wehe aller ab. Deshalb haben Indikatoren des Konsum- oder Konjunkturklimas schon seit langem eine hohe Konjunktur. Bei den Konsumklimaindikatoren werden ihre kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungen betrachtet. Dahinter stehen jedoch häufig unterschiedliche Entwicklungen verschiedener Komponenten oder Variablen, mit denen der Indikator gebildet wird. Diese Komponenten können jeweils in unterschiedlichem Ausmaß rationale oder emotionale Elemente der Urteilsbildung enthalten. So
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kann sich die Antwort auf die Frage, ob sich die Wirtschaft in einem Jahr positiv oder negativ entwickelt, einerseits auf die Hochrechnung von Wirtschaftsindikatoren und ihren Verlauf in der Vergangenheit gründen oder andererseits auf ein grundlegendes Gefühl, das die Hoffnungen oder Befürchtungen einer Mehrheit der Verbraucher ergreift. Dementsprechend werden sich auch die Maßnahmen unterscheiden, mit denen die Konsumstimmung beeinflusst werden soll. Begreift man die Konsumstimmung eher rational, wird man sie vor allem mit betriebsund volkswirtschaftlichen Instrumenten zu beeinflussen suchen. Begreift man sie dagegen eher emotional, scheinen vor allem sozialwissenschaftlich begründete und kommunikationsstrategische Maßnahmen angebracht. Bemerkenswert an den vorliegenden Arbeiten zur Konsumstimmung ist, dass Emotionen bisher kaum systematisch berücksichtigt wurden oder in die Modelle einflossen. Wie die Konsumklimaindikatoren und ihre operationalen Grundlagen theoretisch begriffen werden können, steht bisher weniger im Vordergrund, entscheidend ist vielmehr, wie gut sie prognostizieren. Der vorliegende Beitrag geht hier einen Schritt weiter. Er qualifiziert in den gängigen Indikatoren die Elemente, die am stärksten auf Stimmungsschwankungen reagieren und zugleich den größten emotionalen Gehalt besitzen. In einem zweiten Schritt liefert er auf der Basis von Erkenntnissen der Emotionspsychologie sowie der Hirn-Forschung ein Modell, welches das emotionale Klima abbildet und erklärt, was hinter Konsumstimmung bzw. Konsumverweigerung steht. Dieses Modell sieht den Menschen in einem Spannungsfeld widerstreitender Gefühlslagen, die er bei sich selbst und in seiner Umwelt wahrnimmt. Anhand des Modells der emotionalen Polarisierung kann die „Gefühlslage“ bzw. die emotionale Lage einer Gesellschaft beschrieben und in ihren Auswirkungen auf die Ambivalenzen des Konsums untersucht werden.
2
Theoretische Grundlagen
2.1 Konsum, Konsumstimmung, Konsumklima, Konjunkturklima Konsum hängt wie ökonomische Handlungen bzw. Entscheidungen im Allgemeinen mit den persönlichen, kulturellen, situativen und gesamtwirtschaftlichen Gegebenheiten der Verbraucher zusammen (vgl. Kirchler 1999, S. 15f.). Diese Dispositionen der Konsumenten werden wiederum wechselseitig durch ökonomische Entscheidungen beeinflusst. Für die gesamtgesellschaftliche Stimmung spielt das subjektive Wohlbefinden der Konsumenten (hinsichtlich deren Zufriedenheit, Hoffnungen etc.) eine zentrale Rolle. Van Raaji (1981) zeigt in seinem wirtschaftpsychologischen Kreislauf, dass die individuelle Konsumentenstim-
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mung und persönliche Befindlichkeiten über eigene Gesundheit, Beziehung zum Partner, zur Arbeit etc. insgesamt in der Lebenszufriedenheit einer Person münden. Diese individuellen Zufriedenheitswerte bilden über alle Personen aggregiert die gesamtgesellschaftliche Zufriedenheit bzw. (Miss-) Stimmung im Staat (vgl. Kirchler 1999, S. 18). „Analog zum meteorologischen Klimabegriff, der eine Zusammenfassung jahreszeitlich und räumlich spezifischer Bestandteile der Witterung (z.B. Temperatur, Niederschlagsmengen, Sonnenscheindauer) beinhaltet, bezeichnet man verschiedene, insbesondere für den privaten Verbrauch in einem Wirtschaftsgebiet wichtige Einstellungen und Erwartungen der Konsumenten zusammenfassend als Konsumklima.“ (Kuß 1980, S. 101)
Hagen weist dabei auf zwei Implikationen des Begriffs „Klima“ hin: Ziel entsprechender Konsumklimaerhebungen sind zum einen nicht die individuellen Urteile über die Wirtschaftsentwicklung, sondern „eine vorherrschende Tendenz“ über alle Verbraucherurteile. Zum anderen beinhaltet dieser Begriff nicht allein das kognitive Wissen, sondern bezieht Gefühle und Stimmungen ein (vgl. Hagen 2005, S. 15, grundlegend Katona 1949). Die Konsumstimmung ist damit abhängig sowohl von rational materiellen Faktoren wie dem verfügbaren Einkommen der Verbraucher als auch von weichen emotionalen, immateriellen Komponenten, die die Bereitschaft zum Sparen bzw. zum Konsum mitsteuern. Diese emotionalen Anteile der Konsumstimmung sind durch eine Vielzahl psychologischer Faktoren, wie Erwartungen, Einstellungen, Stimmungen und Gewohnheiten geprägt (vgl. Batz 1995, S. 5f.; Güntzel 1994). Als Vertreter der verhaltenswissenschaftlichen Ökonomik (behavioral economics) und Vorreiter der Erfassung des Konsumklimas entwickelte Katona (vgl. Katona 1975) den Index of Consumer Sentiment (ICS). Regelmäßig wird die Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage im vergangenen Jahr sowie für das kommende Jahr, die finanzielle Lage des eigenen Haushalts im vergangenen und im kommenden Jahr, aber auch die momentane Ratsamkeit größerer Anschaffungen abgefragt, um Veränderungen im Zeitablauf beobachten zu können. Zweck ist die Vorhersage von Wendepunkten in der wirtschaftlichen Entwicklung, indem der Index Optimismus und Pessimismus bezüglich der finanziellen Zukunft berücksichtigt. Auf dieser Grundlage erhebt die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK, Nürnberg) mit dem Konsumklimaindex auf Basis repräsentativer Befragungen privater Haushalte die Konsumneigung der deutschen Bevölkerung (vgl. Greitemeyer 2005, S. 81; zur genauen GfK-Erhebung: Batz 1995, S. 36ff.). Der Zeithorizont bezieht sich im Wesentlichen auf die gesamtwirtschaftliche bzw. persönliche Lage in einem Jahr. Die Dimension der aggregierten Urteile des Konjunktur- bzw. Konsumklimas ist „allgemein bewertend:
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gut versus schlecht“ (Hagen 2005, S. 15), verweist also primär auf die Bewertungs-/Valenzdimension.1 Das Konsumverhalten spiegelt dabei den Optimismus und die Stimmung der Konsumenten. Ergebnisse der Konsumklimabefragungen werden auch als Konjunkturindikatoren herangezogen, da sie eng mit den Veränderungen der Gesamtwirtschaft zusammenhängen (vgl. Hagen 2005, S. 16; Caspers 1993, S. 125ff.). Das subjektive und individuelle Wohlbefinden der Konsumenten determiniert somit auch die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. „Das über die wirtschaftenden Personen im Staat aggregierte subjektive Wohlbefinden, definiert als Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität, ergibt das gesamtgesellschaftliche Stimmungsbild“ (Kirchler 1999, S. 322f.). Dabei entsprechen Erwartungen konkreten Annahmen über zukünftige Zustände (vgl. Greitemeyer 2005, S.78) und die Stimmung der Verbraucher spielt eine wichtige Rolle, um Informationslücken bei der Erwartungsbildung zu schließen (vgl. SchnittkerReiner 1987, S. 144). Selbstverständlich beeinflusst nicht nur die Stimmung der Konsumenten, sondern auch ihr Verhalten die Wirtschaftslage. Bereits Katona (1949) verweist auf die Relevanz von Erwartungen für die Erklärung des Sparverhaltens der Konsumenten. Stimmungen und Erwartungen determinieren über die Konsum- bzw. Sparneigung der Haushalte die Zuversicht der Unternehmer und deren Investitionstendenzen, die sich direkt in der wirtschaftlichen Entwicklung niederschlagen. Aus diesem Grund fanden schon früh Erwartungen und Stimmungen der Wirtschaftssubjekte als Determinanten der Konjunkturentwicklung in der Konjunkturtheorie Berücksichtigung.2 Sparen bzw. Konsum der Verbraucher ist damit nicht allein von objektiven Faktoren abhängig, wie vom verfügbaren Einkommen und damit der Fähigkeit zum Konsumieren oder zum Sparen, sondern zudem beeinflusst durch eine Viel1
Der Stimmungsindex ist nicht unumstritten, da über ein relativ grobes, vereinfachtes Maß die Stimmung der Konsumenten und damit komplexe Einstellungen und Erwartungen mittels fünf Themen abgefragt werden. (vgl. Kirchler 1999, S. 336). Außerdem kommen wirtschaftliche Veränderungen aufgrund komplexer Wechselwirkungen zwischen subjektiven Daten und objektiven Wirtschaftsentwicklungen zustande (vgl. Van Raajn 1981). Zur Prognose wirtschaftlicher Entwicklungen müssen daher neben den Stimmungen auch rationale Faktoren wie Einkommensänderungen etc. miteinbezogen werden. Dennoch belegt die Messung der Konsumstimmung, dass wirtschaftliche Veränderungen auf psychologischen Phänomenen basieren (vgl. Kirchler 1999, S. 336). 2 Gemeinhin bezeichnet der Begriff des Konjunkturklimas im Alltagsverständnis „die kurz- bis mittelfristige, nicht saisonal bedingte Veränderung der volkswirtschaftlichen Aktivität“, die im wesentlichen in der realen jährlichen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ihren Niederschlag findet. Auch bei der Messung der einzelnen Komponenten des Konjunkturklimas unter den Verbrauchern liegt dieses Verständnis zugrunde (vgl. Hagen 2005, S. 14, Güntzel 1994, S. 1-87). Das reale BIP misst Wirtschaftswachstum und Konjunkturentwicklung, wobei der größte Teil durch privaten Konsum bestimmt wird (vgl. Caspers 1993, S. 2).
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zahl von subjektiven psychologischen Faktoren, wie die individuelle Bereitschaft zum Sparen und damit letztlich auch vom Gefühl (vgl. Katona 1965, S. 357-359; Greitemeyer 2005, S. 81).
2.2 Stimmung, Emotion, Emotionspsychologie, Emotionsmodelle Der Terminus „Konsumstimmung“ verweist bereits in seinem zweiten Wortbestandteil auf die Nähe zu einer grundlegenden Konzeption der Psychologie: der Emotion sowie der Teildisziplin Emotionspsychologie, die sich mit Gefühlen, Stimmungen und verwandten Kategorien beschäftigt. Stimmungen (englisch moods) werden hier – wie auch Gefühlszustände (feeling states) – häufig als kleine, alltägliche und Low-Level-Emotionen angesehen (Otto/Euler/Mandel 2000, S. 12f.; Isen 1984). Ein häufiges und anschauliches Unterscheidungskriterium zwischen Stimmungen und Emotionen stammt aus der Anwendung der gestaltpsychologischen Figur-Grund-Unterscheidung auf das Gebiet des emotionalen Erlebens (Abele 1995; Morris 1989; Ewert 1983). Otto/Euler/Mandel (2000, S. 12f.) bringen dies auf den Punkt: „Dieses Gestaltgesetz beschreibt die Tendenz des perzeptiven Feldes, sich in Figurund Grundkomponenten zu gliedern. Die Figur ist eindrucksvoll, bedeutsam und steht im Vordergrund. Sie hat eine Form und die Eigenschaft eines Gegenstandes. Der Grund hingegen ist formlos und erstreckt sich hinter der Figur. Er ist gegen standslos und hat die Eigenschaft ungeformten Materials. Stimmungen werden mit dem Grund verglichen, der eine Art Dauertönung des Erlebnisfeldes darstellt, von dem sich mehr oder weniger scharf umrissen andere Erlebnisgegebenheiten abheben. (…) Es wird aber aufgrund der Umkehrbarkeit des Figur-Grund-Verhältnisses für möglich gehalten, dass Stimmungen, wenn ihnen Aufmerksamkeit zuteil wird, auch zu Figurphänomenen werden können. Emotionen hingegen werden nur mit der Figurkomponente verglichen.“
Zahlreiche Autoren unterscheiden Stimmungen von Emotionen, wobei sie Stimmungen hinsichtlich ihrer Objektbezogenheit und Intensität von geringerer und bezüglich ihrer Dauer von größerer Ausprägung als Emotionen ansehen (Ewert 1983; Morris 1989; Scherer 1990; Schmidt-Atzert 1996; Ulich 1995). Diese Abgrenzung ist umstritten (Otto/Euler/Mandel 2000, S. 13); sie soll im folgenden Beitrag auch lediglich zwei mögliche Ausprägungen und Sichtweisen des Gegenstandsbereiches liefern, den wir dem Konsum zugrunde legen, indem wir Konsum als eine Folge emotionaler Zustände begreifen und untersuchen. Mit der Konzeptualisierung, Messung, Beschreibung und Erklärung von Emotionen beschäftigt sich die Emotionspsychologie. Bei der Klassifizierung
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und Messung von Emotionen lassen sich dimensionale und diskrete Emotionstheorien unterscheiden (vgl. Zentner/Scherer 2000, S. 152ff.). Dimensionale Modelle untersuchen Emotionen als Konzepte, die aus spezifischen Komponenten bzw. Dimensionen zusammengesetzt sind. Dabei sind unidimensionale von multidimensionalen Konzepten zu unterscheiden. Unidimensionale Theorien konzentrieren sich auf eine zentrale Dimension der Emotion, wie Aktivation/Erregung oder Valenz. Haben eindimensionale Modelle, die sich auf die Aktivierungs- bzw. Erregungsdimension stützen (Duffy 1941), über die Jahre hinweg an Bedeutung verloren, so hält sich die Ansicht, derzufolge Valenz das wichtigste Prinzip der Emotionsdifferenzierung darstellt (vgl. Zentner/Scherer 2000, S. 152). Demnach lassen sich Emotionen auf einer Dimension anordnen, die vom Pol „unangenehm“ oder „schlecht“ bis zum Pol „angenehm“ oder „gut“ reicht. Die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Emotionen ist in verschiedener Hinsicht bedeutsam. Die Dimension „positiv-negativ“ bildet ab, was oft als wichtigste Gefühlsqualität angesehen wird, und die beiden Pole der Valenzdimension entsprechen den Verhaltensorientierungen der Annäherung und Vermeidung (Schneirla 1959). Die Betonung der Valenzdimension ist sowohl für das Studium von Affekten und Stimmungen in der sozial-kognitiven Forschung der Sozialpsychologie (Clore/Parrott 1991; Forgas 1991, 1995; Schwarz 1990) zentral, als auch in der Persönlichkeitsforschung (Watson/Tellegen 1985) und neurophysiologisch orientierten Forschungsprogrammen (Borod 1992; Davidson 1993; Lang/Greenwald/Bradley/Hamm 1993). Auch die bekannte SchachterSinger-Theorie kann in diesem Bereich verortet werden, wobei sie die Beziehung zwischen verbal etikettiertem Gefühlszustand und den physiologischen Reaktionskomponenten in den Vordergrund stellt (Reisenzein 1983). Multidimensionale Theorien betrachten mehrere Dimensionen der Emotion. Dabei lassen sich im wesentlichen Differenzierungsmodelle von Polarisierungsmodellen unterscheiden. Bei Differenzierungsmodellen werden verschiedene Emotionen unterschieden, für die sich auch verschiedene Begriffe finden, z.B. Liebe, Hass, Freude, Trauer, Wut, Lust, Ärger etc. (Roseman 1984, 1991). Konzeptionell reizvoller und auf dieser Basis vielversprechender sind Polarisierungsmodelle, zumal sie Elemente der Differenzierungsmodelle aufnehmen. Wundt (1902) schlug als einer der ersten ein dreidimensionales System vor, um komplexe emotionale Gefühlszustände zu charakterisieren. Dieses System besteht aus den Achsen Angenehmheit vs. Unangenehmheit, Erregung vs. Depression und Anspannung vs. Entspannung und hatte einen starken Einfluss auf Emotionskonzeptionen in der Mitte des 20. Jahrhunderts (Osgood, Suci, Tannenbaum 1957; Osgood, May, Miron 1975). Plutchik (1962, 1982) und Russell (1980) entwickelten das Konzept weiter, indem sie die Emotionen in einem
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Kreis anordneten, der durch die beiden Dimensionen bzw. Achsen Valenz und Aktivation definiert wird. Diese Konzeption wird auch als Kreismodell („circumplex model“, Marcus 1988, S. 738ff.) bezeichnet und liegt einem Teil der folgenden empirischen Operationalisierungen zugrunde. Diskrete Emotionstheorien bauen vorwiegend auf neuropsychologischen Ansätzen auf und gehen davon aus, dass die Differenzierung und Anzahl fundamentaler Emotionen von evolutionär entwickelten neuralen „Circuits“ (Schaltkreisen) bestimmt wird. Panksepp (1982, 1989) geht von vier fundamentalen Circuits bzw. „emotionalen Kommandosystemen“ (Zentner/Scherer 2000, S. 154) aus: Wut, Angst, Erwartung und Panik. Demgegenüber postulieren Gray (1990) und Watson und Tellegen (1985) die Interaktion zweier neurobiologischer Circuits bzw. Zentren, die einerseits Verstärkungsmechanismen und andererseits Verhaltensinhibition moderieren. Da es sich gut zur weitergehenden Interpretation des zweidimensionalen „Circumplex Models“ eignet, ziehen wir im folgenden auch das Zweikomponeten-Circuit-Modell heran.3
3
Vorgehensweise und methodische Grundlagen
Wir betrachten im Folgenden, wie Emotionen bzw. die emotionale Lage in der Bundesrepublik mit der Konsumstimmung korrespondieren und sie erklären. In der Logik des gestaltpsychologischen Figur-Grund-Vergleiches analysieren wir den Hintergrund (Stimmung) auf Basis der Figur im Vordergrund (Emotion), die bisher kaum eine systematische Betrachtung in der Konsumklimaforschung fand. Die Konsumklimaindikatoren werden in verschiedenen Studien unterschiedlich operationalisiert. Die gängigen Indikatoren, wie beispielsweise der GFKKonsumklimaindex, werden ausschließlich in indexierter Form und in Ausschnitten publiziert, nicht zugänglich sind die vollständigen Rohdaten. Wir können im Rahmen dieses Beitrages für die Analyse des Konjunkturklimas auf vier Datenreihen zurückgreifen, die die ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft im Rahmen ihres Werbetrackings Zeitungsmonitor erhebt. Beim Zeitungsmonitor handelt es sich um eine repräsentative Bevölkerungsumfrage (CATI) unter der bundesdeutschen Bevölkerung ab 14 Jahren.4 Die erste Datenreihe bildet die allgemeine künftige Wirtschaftserwartung ab5, die zweite die persönliche künftige
3
Beide Modelle erläutern wir differenzierter bei der Präsentation der mit ihnen strukturierten empirischen Befunde. 4 Zu den Einzelheiten vgl. Dahlem/Kretschmer 2004. 5 Die Frageformulierung lautet: „Wie wird es mit der Wirtschaft in einem Jahr sein? Wird es uns in einem Jahr wirtschaftlich gut oder wirtschaftlich schlecht gehen?“
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Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
Wirtschaftserwartung6, die dritte die persönliche aktuelle Wirtschaftslage7 und die vierte die Anschaffungsneigung8. Für die Messung der emotionalen Lage in Deutschland entwickelte der Autor auf der Basis emotionspsychologischer Erkenntnisse ein neues Instrument, das in mehreren Erhebungswellen des Zeitungsmonitors getestet wurde. Es folgt dem Grundgedanken, dass sich Gefühle in Spannungsfeldern entwickeln und in einem Raum der emotionalen Polarisierung abgebildet werden können.9
4
Empirische Befunde
4.1 Die allgemeine Wirtschaftserwartung als zentraler Prädiktor Betrachtet man den Verlauf und die Reagibilität der vier Datenreihen zum Konsumklima im Zeitungsmonitor der ZMG, ist die Wahrnehmung der allgemeinen künftigen Wirtschaftserwartung den größten Veränderungen unterworfen. Sie scheint am stärksten auf Schwankungen der Konsumstimmung zu reagieren und der beste Frühwarnindikator für Veränderungen zu sein.10 Die Entwicklung dieser Datenreihe seit Sommer 200211 bis Herbst 2006 zeigt verschiedene Besonderheiten. Seit Oktober 2002 sind die allgemeinen Wirtschaftserwartungen in der Bundesrepublik Deutschland sehr negativ. Die Mehrheit (ca. 60%) erwartet, dass es der Wirtschaft in einem Jahr eher schlecht geht. Nur eine Minderheit (ca. 20%) ist frohen Mutes und glaubt, dass sich die Wirtschaft in einem Jahr gut entwickelt. Von diesem anhaltenden und wie zementierten Wirtschaftpessimismus gibt es zwei Abweichungen. Die erstaunlichste betrifft den September 2002. Hier kehrte sich das Stimmungsklima innerhalb eine Monates um.12 Was war passiert? Vier Wochen vor der Bundestagswahl im September 2002 überflutete die Elbe weite Teile Ostdeutschlands mit katastrophalen Folgen. Die dramatischen Vorgänge wurden breit und kontinuierlich im Fernsehen 6
Die Frageformulierung lautet: „Und wie wird es Ihnen (und Ihrer Familie) in einem Jahr gehen? Wird es Ihnen in einem Jahr finanziell besser oder schlechter gehen?“ 7 Die Frageformulierung lautet: „Glauben Sie, dass es Ihnen (und Ihrer Familie) derzeit finanziell besser oder schlechter geht als vor einem Jahr?“ 8 Die Frageformulierung lautet: „Glauben Sie, dass derzeit ein günstiger oder ein ungünstiger Zeitpunkt zum Kauf größerer Haushaltswaren ist?“ 9 Die genaue Operationalisierung des Modells der emotionalen Polarisierung wird im Zusammenhang der damit gewonnenen Befunde weiter unten dargestellt. 10 Vgl. dazu auch Batz (1995). 11 Das ist der Zeitraum, seit dem die vier Indikatoren erhoben wurden. 12 Dieser empirische Befund mit seinen induktiven Ableitungen und Deutungen war der Ausgangspunkt für die deduktive Entwicklung und Operationalisierung des Konzepts der emotionalen Polarisierung. Wir folgen damit einer „induktiv-deduktiven Forschungsgeschichte“.
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
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übertragen, ebenso wie die beherzten Maßnahmen der zahlreichen Helfer vor Ort. Es entstand das Bild eines Landes, das sich auch aus einer schwierigen Situation selbst befreien kann. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nutzte diese Situation zur Eigenprofilierung als Mann der Tat, der das Land sicher in die Zukunft führen kann, und gewann die Bundestagswahl in der Endphase des Wahlkampfes (vgl. dazu auch Podschuweit/Dahlem, im Druck). Nach dem Wahltag kam der „Zahltag“; die Haushaltsprobleme der Regierung und die wirtschaftlichen Probleme des Landes traten in den Vordergrund und bestimmten für die folgenden drei Jahre das Konsumklima. Erst nach der Ankündigung von Neuwahlen im Mai 2005 wurden die Erwartungen wieder positiver, was durch die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 noch weiter befördert wurde. Allerdings gab es nicht wieder den gleichen „Ruck durch Deutschland“ wie im Spätsommer 2002. Dieser empirische Befund ist der Ausgangspunkt für die weiteren Analysen in diesem Beitrag, denn er markiert einen drastischen, wenn auch kurzfristigen Umschwung des reagibelsten Indikators der Konsumstimmung und wirft die Frage auf, was die Mehrheit von einer verhaltenen in eine optimistische und hoffnungsvolle Stimmung versetzt hatte. Abbildung 1:
Konjunkturklimaindikator. Allgemeine künftige Wirtschaftserwartung (Basis: Bevölkerung ab 14 Jahren)
Wie wird es mit der Wirtschaft in einem Jahr sein? Wird es uns in einem Jahr wirtschaftlich gut oder wirtschaftlich schlecht gehen? Kassensturz „Rot-Grün“ 2002
Wirtschaft in einem Jahr
80%
Fußball-WM 2006
60%
40%
Bewältigung Elbe-Flut 2002
Neuwahlankündigung 2005
20%
% August 2002
Dez.
April Juli/ Aug. Nov. 2003
März Juni/Juli 2004
gut
Quelle: Zeitungsmonitor
Februar 2005
Sept./Okt. Jan. 2006
schlecht
April
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Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
Die übrigen drei Indikatoren laufen – mit Ausnahme der Anschaffungsneigung – parallel zu den allgemeinen künftigen Wirtschaftserwartungen, wenngleich mit weniger deutlichen Ausschlägen und auf anderen Niveaus. Die Bundesbürger sind bei ihren persönlichen künftigen Wirtschaftserwartungen deutlich positiver gestimmt als bei den allgemeinen. Dagegen ist die Einschätzung der aktuellen persönlichen Wirtschaftslage ähnlich negativ wie die Erwartung der künftigen allgemeinen Wirtschaftslage. Bei den drei Erwartungs- und Bilanz-Indikatoren scheinen subjektive Verzerrungen vorzuliegen, die auf emotionale Komponenten der Wahrnehmung zurückzuführen sein dürften. So ist die Wahrnehmung der persönlichen wirtschaftlichen Entwicklung deutlich negativer als die tatsächliche Entwicklung, denn den meisten Bundesbürgern ging es 2006 nicht schlechter als 2005. Allerdings haben sie doch den Eindruck. Umgekehrt hoffen sie, dass es ihnen in der Zukunft besser geht als es die Entwicklung der Gesamtwirtschaft vermuten lässt. Dies deutet auf verschiedene konkurrierende „emotionale Treiber“ hin. Die Hoffnungen für die persönlichen wirtschaftlichen Entwicklungen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Bundesrepublik im Vergleich der drei Indikatoren am positivsten, man befürchtete jedoch für die Allgemeinheit eher Schlimmes und bewertet bei dieser Diskrepanz die bisherige persönliche Entwicklung eher skeptisch. Dies ist ein erster deskriptiver Beleg für das eingangs skizzierte CircuitModell: Das eine emotionale System drängt auf positive persönliche Verstärkungsmechanismen – man erhofft für sich das positive –, das andere drängt angesichts aufziehender dunkler Wolken am Horizont auf Verhaltensinhibition – man befürchtet sehr negative Rahmenbedingungen und sieht sich in der aktuellen Entwicklung beeinträchtigt. Der Mensch strebt also offenkundig nach positiver Selbstentwicklung und reagiert äußerst sensibel auf negative Entwicklungen in seiner Umwelt, seien sie nun für ihn tatsächlich beobachtbar oder über die Medien kommuniziert und verstärkt.
4.2 Hoffnungen und Befürchtungen als Treiber der emotionalen Lage Dieser Trend zeigt sich auch bei der langfristigen Betrachtung der Hoffnungen und Befürchtungen in der Bundesrepublik Deutschland. Das Institut für Demoskopie Allensbach befragt die Bundesbürger seit 1949 zum Jahresende, ob sie mit Hoffnungen oder Befürchtungen ins neue Jahr blicken. Die Zeitreihe zeigt hier über 50 Jahre hinweg ein deutliches Übergewicht der Hoffnungen gegenüber den Befürchtungen. Der Deutsche sieht trotz aller Unkenrufe lieber positiv in die Zukunft, jedenfalls zumindest in der besinnlichen Zeit vor dem Jahreswechsel. Davon gibt es jedoch einige bemerkenswerte Abweichungen. Während des Ko-
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
197
rea-Kriegs, nach dem Bau der Berliner Mauer, während der ersten und zweiten Ölkrise und dem ersten Golfkrieg nahmen die Befürchtungen deutlich zu und verdrängten die Hoffnungen. D.h. Schlüsselereignisse von globaler Bedeutung mit einem hohen Bedrohungspotenzial sorgten für eine Eintrübung der Stimmung und waren in der Regel immer mit Rückgängen des Bruttoinlandsproduktes bis hin zur Rezession verbunden. Anfang des neuen Jahrtausends häuften sich dann solche Schlüsselereignisse. Der 11. September 2001 zeigte die Angreifbarkeit der Supermacht USA und lieferte mit den Life-Bildern der brennenden und einstürzenden Türme des World-Trade-Center eine apokalyptische Vision der Weltwirtschaft. Die Einführung des Euro am 1. Januar 2002 bescherte den Deutschen eine neue Währung, beraubte sie jedoch zugleich einer wichtigen Stütze ihres nationalen Selbstwertgefühls: der D-Mark.13 Eine solch anhaltend negative Sicht, in der die Befürchtungen die Hoffnungen zurücktreten ließen, gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht. Zuvor traten nach Phasen der Befürchtungen immer wieder die Hoffnungen in die Zukunft in den Vordergrund, besonders eindrucksvoll beim historischen Ereignis der deutschen Vereinigung und zuletzt beim Milleniumssprung in das neue Jahrtausend. Abbildung 2:
Hoffnungen und BIP im Langzeitvergleich
1)Zeitreihe des Statistischen Bundesamtes zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) preisbereinigt, bis 1991 Westdeutschland 2) Befragung zum Jahresende Befragte mit Hoffnungen2) Anteil in %
Wirtschaftswachstum (BIP)1) %
10%
Berliner Mauer
Milleniumssprung
2. Ölkrise
8% 6%
Deutsche Einheit
1. Ölkrise
Golfkrieg
KoreaKrieg
75%
11. September
65%
Euro
55%
4%
mit Hoffnungen
BIP
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach; Statistisches Bundesamt
Vgl. dazu auch die qualitative Forschung des rheingold-Instituts (Grünewald 2006).
20 05
0 20 0
5 19 9
0 19 9
19 85
19 80
19 75
0 19 7
19 6
19 6
5
35% 0
% 19 55
45%
19 50
2%
-2%
13
85%
25%
198
Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
Der im Menschen angelegte Drang zu positiven Verstärkungsmechanismen scheint sich angesichts der Empfindung anhaltender Bedrohungen in Deutschland derzeit nicht gegen eine Verhaltensinhibition aufgrund der empfundenen und kommunizierten Befürchtungen durchsetzen zu können. Dies wirft die Frage auf, wie diese „Angststarre“ und „German Angst“ erklärt und gelöst werden können. Dazu ist ein Blick auf die emotionale Lage in der Bundesrepublik nötig.
4.3 Die emotionale Lage in der Bundesrepublik Deutschland Ausgangspunkt der Erhebung der emotionalen Lage in Deutschland sind die Circumplex Models von Russell (1980) sowie Watson und Tellegen (1985).14 Daraus entwickelte der Verfasser das Kreismodell der „emotionalen Polarisierung“. Es verortet die Emotionen in einem Kreis, der aus den beiden Dimensionen Valenz (positive vs. negative Bewertung) und Aktivierung (hoch vs. niedrig) gebildet wird. Die beiden Achsen teilen den Kreis in vier Felder, die vier emotionale Basis-Zustände repräsentieren. Positive Valenz mit niedriger Aktivierung wird als „Ruhe“ bezeichnet, positive Valenz mit hoher Aktivierung als „Begeisterung“, negative Valenz mit niedriger Aktivierung als „Depression“ und negative Valenz mit hoher Aktivierung als „Stress“. Innerhalb dieser emotionalen BasisZustände lassen sich weitere Emotionen differenzieren. Die dabei unterschiedenen Emotionen werden in repräsentativen Bevölkerungsumfragen ermittelt. Hierbei handelt es sich um die Items froh/begeistert, traurig/ depressiv, lustvoll, lustlos, entspannt, angespannt, zufrieden, unzufrieden, stark, schwach, aktiv, passiv. Die Emotionen werden dabei jeweils mit beiden Gegenpolen erhoben, was dem Modell seinen Namen gibt: „emotionale Polarisierung“. Da bei direkter Erhebung der Gefühle der Befragten mit einem Overreporting positiver Gefühle zu rechnen ist, wurde die emotionale Lage über einen Umweg ermittelt, eine Projektion anhand der Urteile über die Umwelt.15 14
Vgl. dazu auch die Abbildung in Pekrun (2000, S. 338). Durch umweltbeschreibende Urteile werden Verfälschungstendenzen der Selbstbeschreibung (Beurteilung im Sinne sozialer Erwünschtheit, z.B. Negierung) eher vermieden (Debus 2000, S. 412). Dies zeigt auch ein Methodentest, den der Verfasser im Vorfeld der Erhebungen durchführte. Das neue Instrument zur Messung der emotionalen Lage wurde für den Einsatz im Kontext der ursprünglich für 2006 geplanten Bundestagswahl entwickelt. Hierzu wurden anlässlich der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 sowohl die Einschätzung der individuellen Gefühle als auch der allgemeinen Gefühlslage erhoben. Die Ergebnisse bestätigen die Tendenz in Richtung sozialer Erwünschtheit zu antworten, wenn man nach seinen eigenen Gefühlen gefragt wird, und damit den Trend zur Überschätzung positiver Emotionen: Wenn man von jemandem wissen möchte, wie es ihm geht, sagt er in der Regel „gut“. Man muss denjenigen schon sehr gut kennen, damit er sich öffnet und auch negative Gefühle berichtet. In den nationalen Erhebungen für die überraschend um ein Jahr vorgezogene Bundestagswahl wurden dann alleine die umweltbeschreibenden Urteile erhoben. 15
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
199
Dies ist ein gängiges Verfahren bei der Ermittlung und Abbildung von Emotionen mittels Befragungen. Die Stichprobe wurde also mit der Frage konfrontiert, wie sich ihrer Meinung nach die meisten Bundesbürger fühlen.16 Dieses Vorgehen liefert Informationen in zwei Richtungen. Erstens werden tausende von Befragten in der repräsentativen Stichprobe als Beobachter der Gefühlslagen in ihrer Umwelt genutzt – dies ist der Blick auf die vorherrschenden Gefühle im gesellschaftlichen Aggregat. Aus diesen als Hypothesen über die Umwelt zu verstehenden Urteilen kann dann auch direkt auf emotionales Verhalten und Erleben der Individuen geschlossen werden (Debus 2000, S. 412) – dies ist der Blick auf die vorherrschenden Gefühle im Individuum. Wie sehen nun die Ergebnisse aus? Kurz nach der Ankündigung der Neuwahlen waren die Bundesbürger im Juli 2005 überwiegend in einem Stresszustand. Sie sahen ihre Umwelt vor allem als „unzufrieden“ (37%) und „angespannt“ (32%) und viele empfanden sie „traurig/depressiv“ (23%) oder „schwach“ (20%). Begeisterung und Ruhe fanden sich demgegenüber deutlich seltener.17 Dies änderte sich während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Jetzt empfanden viele ihre Umwelt eher als „stark“ (26%) und „froh/begeistert“ (25%), d.h. es zeigte sich eine echte Begeisterung. Das Instrument der „emotionalen Polarisierung“ scheint sich also als nützlich, relevant und valide zu erweisen, die emotionale Lage in einem Gemeinwesen bzw. der Öffentlichkeit abzubilden. Zentral dabei ist, dass es in der Lage ist, gleichzeitig sowohl die positiven als auch negativen Pole in der Gegenüberstellung bzw. Polarisierung zu erheben und abzubilden, was einem zentralen Befund der Emotionspsychologie Rechnung trägt. Demnach haben Menschen immer sowohl positive als auch negative Empfindungen und leben damit in emotionalen Spannungsfeldern. (Marcus 1988, Marcus 2002) Das Modell ist damit auch in der Lage, die emotionalen Spannungen in einer Gesellschaft abzubilden.18 Dies ist bedeutsam, denn gerade solche Spannungen scheinen Dynamik und Entwicklungen in Gesellschaften zu induzieren und damit Evolution und Problemlösung in bedrohlichen Situationen zu ermöglichen.
16
Die genaue Frageformulierung lautet: „Was glauben Sie, wie sich die meisten Deutschen in letzter Zeit so im Allgemeinen fühlen? Sie können Ihre Antwort abstufen, je nachdem wie häufig das Gefühl Ihrer Meinung nach auftrat. Waren die meisten Deutschen in letzter Zeit häufig, gelegentlich, selten oder nie froh/begeistert...“. In den folgenden Darstellungen wird der Skalenpunkt häufig abgebildet. 17 Diese Stresssituation verstärkte sich noch bis unmittelbar vor der Bundestagswahl. 18 Aufgrund seines Aussehens und seiner Funktion lässt sich das Instrument auch als „Emotionenmikroskop“ bezeichnen. Denn es betrachtet die Anordnung und Polarisierung der zentralen Gefühle und emotionalen Zustände in einer Gesellschaft wie unter einem Mikroskop.
200
Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
Abbildung 3:
Emotionale Lage in Deutschland (Basis: Bev. ab 14 Jahre)
Was glauben Sie, wie sich die meisten Deutschen in letzter Zeit so im Allgemeinen fühlen? (4er Skala: häufig, gelegentlich, selten, nie) aktiv angespannt
stark 4 0
32% 31%
30% 26%
unzufrieden 2 0
37%
25% 18%
25% 23% 15%
lustlos -
23%
froh / begeistert
22%
0
16% 16% 15% 20%
traurig / depressiv
22% 18%
+ lustvoll
22% 16% 18% 19%
zufrieden
schwach
entspannt
nach der Neuwahlankündigung 2005 (KW 25-28) während der Fußball WM 2006 (KW 25-28)
passiv
Quelle: Zeitungsmonitor
Die besondere Bedeutung der Valenzdimension bestätigen Faktorenanalysen der Daten zum emotionalen Polarisierungsmodell. Sie erbringen in der Regel ein Zwei-Faktoren-Modell mit den positiven und negativen Emotionen. Lediglich unmittelbar vor der Bundestagswahl 2005 ergab sich ein Drei-Faktoren-Modell, das zusätzlich im Bereich der negativen Valenz die beiden Faktoren Stress und Depression anhand der Aktivierungsdimension differenzierte.19 In erster Linie scheint also die Bewertung wirksam zu sein und erst dann die Aktivierung. Dies regt zu Spekulationen über die Bedeutung von Emotionen und emotionalen Zuständen für die Entwicklung von Gesellschaften und Ökonomien an. Keine Gesellschaft und kein Wirtschaftssystem scheint dauerhaft mit negativen Zuständen bzw. einer negativen Kommunikation über ambivalente Zustän19
Das Modell wurde bisher in drei Befragungswellen des Zeitungsmonitors erhoben, im Juli und September 2005 sowie im Juli 2006. Damit sind Auswertungen auf der Basis von etwa 4.200 Fällen möglich. Im Juli 2005 und Juli 2006 war die emotionale Lage ausgeglichener als im September 2005, in dem der Basis-Zustand des Stresses stark überwog, was vermutlich die Drei-Faktoren-Lösung erklärt. Bisher liegen keine Daten zu einem Zeitpunkt vor, in dem ein positiver Zustand und hier insbesondere die Begeisterung überwog. Wir gehen für diesen Fall davon aus, dass sich dann auch die positive Valenzdimension in zwei Faktoren gliedern lässt, so dass sich die vier emotionalen Basis-Zustände Begeisterung, Ruhe, Stress und Depression auch faktorenanalytisch zeigen dürften.
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
201
de existieren und überleben zu können. Die emotionale Lage in einer solchen Gesellschaft dürfte zunächst in den Stress und dann in die Depression abgleiten.20 Ist eine Gesellschaft, wie beispielsweise die Bundesrepublik, derzeit mit Herausforderungen und Bedrohungen konfrontiert, scheint zumindest für die Zeit der Problembearbeitung ein gewisser Stress nötig, um die Probleme überhaupt wahrzunehmen, zu erkennen und dann zu lösen. Danach scheint es jedoch auch unabdingbar, den Zustand der Begeisterung zu leben und zu empfinden, der sich in den Gefühlen der Freude und Stärke ausdrückt. Nur durch einen ausgeglichenen Ausdruck aller vier Gefühlszustände dürften sowohl Individuen als auch Gesellschaften einen dauerhaft stabilen und für das Zusammenleben verträglichen Charakter ausprägen: Sie kommen so immer wieder in ihre Mitte. Diese Interpretation wollen wir im folgenden weiter vertiefen.
4.4 Emotionale Polarisierung und emotionale Systeme Marcus wies bereits 1988 auf die besondere Bedeutung von Emotionen für die Urteilsbildung hin und arbeitete 2002 in seinem Buch „The sentimental Citizen“ die Literatur aus Emotionspsychologie und Hirnforschung in einem umfassenden Konzept zur Funktion der Emotion in demokratischen Gesellschaften auf. In Anlehnung an die Circuit-Modelle unterscheidet er drei verschiedene emotionale Systeme: erstens das „fight/flight-system“, zweitens das „disposition system“ und drittens das „surveillance system“. Das Angriff/Flucht-System ist in der Verhaltens- und Instinktforschung bestens untersucht, wird in modernen Gesellschaften jedoch nur selten aktiviert. Dagegen sind die beiden anderen emotionalen Systeme bei den Bürgern moderner Gesellschaften in der Regel permanent aktiv, da sie ihnen Informationen über ihre Handlungen und ihre Umwelten kontinuierlich zurückmelden. Das „disposition system“ ist tief verbunden mit dem richtigen Lernen und Ausführen von Bewegungsabläufen, Gewohnheiten und Verhaltensroutinen. Es gibt der Person eine positive emotionale Rückmeldung, wenn sie eine Handlung erfolgreich ausführt oder in einer Sache erfolgreich ist bzw. eine negative Rückmeldung, wenn das nicht der Fall ist. Die beiden emotionalen Pole dieses Systems sind damit auf der einen Seite Begeisterung („enthusiasm“) und auf der anderen Seite Depression („depression“, Marcus 2002). Die Handlungs- und Verhaltensregulierung erfolgt so unmittelbar über ein positives oder negatives emotionales Feedback. 20
Hier denkt man unmittelbar an die Zeit der „großen Depression“ Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts bzw. an die Weimarer Republik.
202
Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
Das „surveillance system“ ist fest verbunden mit der Wahrnehmung und Beobachtung der Umwelt, um Informationen zu sammeln und zu verarbeiten, ob eine Situation sicher ist und die Ausübung von Tätigkeiten und damit die Aktivierung des „disposition system“ ermöglicht. Das „surveillance system“ überwacht zwei Informationsströme: Es vergleicht erstens die Informationsabsichten des Individuums mit den Bedingungen und Signalen aus seiner Umwelt, wozu es zweitens kontinuierlich die Empfindungen und Eindrücke aus allen fünf Sinnen verarbeitet: sehen, hören, riechen, berühren/fühlen und schmecken. Die beiden emotionalen Pole dieses Systems sind auf der einen Seite Angst („anxiety“) und auf der anderen Seite Ruhe („calm“, Marcus 2002). Dieser Ansatz soll anhand eines spezifischen Circuit Models noch konkreter beschrieben werden: dem BIS-BAS-Modell von Gray (1990) und Watson/Tellegen (1985). Das „Behavioral-Activation-System (BAS)“ korrespondiert mit dem „disposition system“ nach Marcus (2002). Als Inputs gehen folgende Impulse in das BAS-System: Positive emotionale Belohnung, wenn Handlungen erfolgreich ausgeführt werden, sowie das Gefühl, Aktionen zu beherrschen („Mastery“). Als Outputs erfolgen Handlungsaktivierung in der Form von Erfahrungslernen und Handlungsbeherrschung, ein Zuwachs positiver Erregung durch Aufregung und Begeisterung in der Ausführung der Handlung sowie ein positives sensorisches Feedback durch Belohnungsreize. Abbildung 4:
BIS-BAS-Modell und emotionale Polarisierung
Inputs: Impulse Belohnung „Nicht“-Bestrafung Beherrschung
Outputs: Behavioral Activation System BAS / Positive Emotional.
Inputs: Impulse Bestrafung „Nicht“-Belohnung Unbekannte Reize Angeborene Angstauslöser
Handlungsaktivierung (Erfahrungslernen, Beherrschung)
Erregungszuwachs (Aufregung, Begeisterung)
Sensorisches Feedback (Auslöser von Belohnungs-/ NichtBestrafungsreizen)
Outputs: Behavioral
Handlungshemmung
Inhibition
Erregungszuwachs
System
(Ängstlichkeit)
Gesteigerte Aufmerksamkeit BIS / Negative Emotional.
Quelle: Marcus 1988
Das „Behavioral-Inhibition-System (BIS)“ korrespondiert mit dem „surveillance system“ nach Marcus (2002). Als Inputs gehen folgende Impulse in das BIS-
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
203
System: unbekannte Reize, die identifiziert werden müssen, angeborene Angstauslöser sowie generelle Signale der Bestrafung und Bedrohung („Threat“), wenn man sich einer ungünstigen Situation aussetzt. Als Outputs erfolgen Handlungshemmung, ein Zuwachs negativer Erregung durch Ängstlichkeit aufgrund einer nicht beherrschten Situation und schließlich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Umfeld, die die Ausübung von Handlungen (das BAS-System) bremst. Im Idealfall arbeiten beide Systeme in einem ausgeglichenen Zustand. Das BIS-System veranlasst das Individuum Situationen aufzusuchen und zu erkennen, die optimal für die Handlungsauslösung und positive Weiterentwicklung im Rahmen des BAS-Systems sind, bzw. gegenteilige Umfelder und Situationen zu meiden. Ist das nicht möglich, sind positive Handlungsausübung und -entwicklung eingeschränkt. Bringt man das Modell der emotionalen Polarisierung mit seinen Befunden zur emotionalen Lage in der Bundesrepublik zusammen, so scheint der vorherrschende emotionale Zustand von Stress und der negativer Valenz primär mit dem „surveillance system“ bzw. „BIS-System“ verbunden zu sein. Welche Auswirkungen dies auf Konsum und Konsumneigung besitzt, betrachten wir im Folgenden.
4.5 Emotionale Lage, emotionale Systeme und Konsumneigung Im BIS-System dominiert die negative Emotionalität als Warnsignal mit ihrem Pol der Ängstlichkeit bzw. des Stresses, wie er sich auch im „surveillance system“ findet. Durchdringende emotionale Botschaft an das Individuum ist hier Bedrohung („Threat“). Im BAS-System dominiert die positive Emotionalität als befördernder Feedback-Mechanismus für die Handlungsauslösung, wie er sich auch im „disposition system“ findet. Durchdringende emotionale Botschaft an das Individuum ist hier Beherrschung („Mastery“). Die beiden emotionalen Systeme lassen sich damit unmittelbar mit dem Kreismodell der emotionalen Polarisierung verbinden. Entspricht die emotionale Lage in einer Gesellschaft überwiegend dem Zustand Stress bzw. Ängstlichkeit, wie das in der Bundesrepublik in den letzten Jahren vornehmlich der Fall war, wird vor allem die FeedbackBotschaft Bedrohung („Threat“) aktiviert. Dies ist ein weitgehend automatisierter Vorgang im emotionalen System, der von den Individuen nicht gezielt gesteuert wird, sondern im Rahmen des üblichen Alltagshandelns weitgehend unbewusst abläuft. Als Folge davon wird – ebenso unbewusst – die Handlungsausübung gebremst und reduziert. Für die Handlungssausübung und -entwicklung der Individuen dagegen förderlich ist ein Zustand positiver aktiver Emotionalität, wie er sich in dem Feld Begeisterung findet, und welcher die Feedback-Botschaft Beherrschung („Maste-
204
Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
ry“) aktiviert. Auch dies ist ein überwiegend unbewusster, aber für das Handeln und auch den Konsum wirkungsmächtiger emotionaler Prozess. So zeigen Konsumenten in der Bundesrepublik Deutschland, die ihr Umfeld mit einer positiven Emotionalität wahrnehmen und vermutlich eher in einem positiven Grundgefühl sind, eine deutlich stärkere Kaufneigung, als Konsumenten, die ihr Umfeld mit einer negativen Emotionalität wahrnehmen und sich eher in einem negativen Gefühlszustand befinden. Abbildung 5:
Emotionale Lage, Erregungssystem und Kaufneigung (Basis: Bevölkerung ab 14 Jahre mit Angabe "häufig")
aktiv angespannt TH 45% R EA 39% T unzufrieden
stark A ST ER
44%
M
41%
49%
froh / begeistert
48%
20
38%
33%
Stress lustlos - 49%
Y
40
Begeisterung 0
35%
40%
Depression
47% + lustvoll
Ruhe
36%
39%
48%
50%
traurig / depressiv
zufrieden
37% 41% 48%
44%
schwach
entspannt passiv
Quelle: Zeitungsmonitor 2005 (KW 25-28/KW 35-37)
günstiger Kaufzeitpunkt ungünstiger Kaufzeitpunkt
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle 5
205
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Die vorliegenden Befunde lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen: 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Das Konsumklima in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere die allgemeinen künftigen Wirtschaftserwartungen waren in den letzten Jahren anhaltend negativ. Davon gab es zwei bemerkenswerte Ausnahmen. Im Kontext der Elbeflut im Sommer 2002 kehrten sich die allgemeinen Wirtschaftserwartungen kurzfristig ins Positive und nach der Ankündigung von Neuwahlen im Frühjahr 2005 hellten sie sich auf. Der Einfluss von Schlüsselereignissen zeigt sich auch im langfristigen Vergleich bei den Hoffungen und Befürchtungen für die Zukunft. Die Hoffnungen in die Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland waren langfristig in der Regel stärker als die Befürchtungen. Auch bei den Erwartungen zur persönlichen Wirtschaftslage zeigen sich Hoffnungen. Diese wurden jedoch in den letzten Jahren getrübt durch negative Erwartungen zur allgemeinen Wirtschaftslage. Die Verbraucher befanden sich somit in einem Zwiespalt der Erwartungen und Stimmungen. Dies spiegelt sich in der emotionalen Lage in der Bundesrepublik. Die Bundesbürger waren im Wahljahr 2005 eher im Stress und sahen ihre Umwelten in angespannten und unzufriedenen emotionalen Befindlichkeiten. Erst im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 kam Begeisterung auf und die Deutschen fühlten sich stark und froh bzw. begeistert. Die Wahrnehmung einer Nation war im Stress verbunden mit einer stärkeren Ansprache des emotionalen Warnsystems („Behavioral-InhibitionSystem“), das vor allem die Botschaft „Bedrohung (Threat)“ empfing. Erst die gute Stimmung bei der Weltmeisterschaft ließ das emotionale Aktivierungssystem („Behavioral Activation System“) wieder zur Geltung kommen, das die Botschaft aussendete, alles im Griff zu haben („Mastery“).21 Die Verbraucher befanden sich somit auch in einem Zwiespalt der Emotionen. Der Einfluss positiver Emotionen zeigt sich bei der Anschaffungsneigung. Konsumenten, die ein positives emotionales Umfeld wahrnahmen, sahen eher einen günstigen Zeitpunkt für Anschaffungen.
Die vorliegende Darstellung leistet verschiedene Beiträge zur Konsumforschung. Sie macht die gestaltpsychologische Form-Grund-Differenzierung für die Be21
Eine ähnliche emotionale Lage dürfte den kurzfristigen Umschwung des Konsumklimas während der Elbeflut erklären, wobei hierzu keine Informationen vorliegen.
206
Stefan Dahlem (unter Mitarbeit von Stefanie Buchert)
trachtung des Konsumklimas nutzbar. Vor dem Hintergrund der Entwicklung von Konsum- und Konjunkturklima steht als Form die emotionale Lage in einem Gemeinwesen, die dieses in eine bestimmte Richtung drängt, entweder in die „Konsumbremse“, wenn die Bedrohungsbotschaften dominieren, oder in den Konsum, wenn Begeisterung und die damit verbundenen „Mastery“-Botschaften überwiegen. Zusätzlich zu den rationalen Rahmenbedingungen des Konsums (frei verfügbare Einkommen und ihre Entwicklung, Sparquoten etc.) müssen also immer auch die emotionalen Besonderheiten der Situation betrachtet werden, um die Konsumenten und ihr Verhalten vollständig zu begreifen. Dafür liefert das Modell der emotionalen Polarisierung Konzept und Operationalisierung. In weit entwickelten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen wie der Bundesrepublik Deutschland setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass sie vor und in gewaltigen Umbrüchen und Anpassungsprozessen stecken. Nach langen Jahren des Wirtschaftswachstums scheinen „die fetten Jahre“ vorbei zu sein und mit ihnen das „Wirtschaftswunder“ als Quelle und Synonym des deutschen Selbstwertgefühls ebenso wie die D-Mark. Hier sind nicht nur die Problemlösungsfähigkeit von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gefordert, sondern auch ihre Fähigkeit zu einer Kommunikation, die der emotionalen Lage Rechnung trägt. Hierbei geht es darum, glaubwürdig positive Signale („Mastery“) zu setzen und damit die Signale der Bedrohung (Massenentlassungen, Kürzungen von Sozialleistungen oder Gehältern der Arbeitnehmer bei gleichzeitiger Erhöhung von Vorstandsbezügen etc.) auszugleichen. Auch der Journalismus mit seinen Selektionsregeln und seinem verstärkten Negativismus (Schulz 1976) in einem ökonomisierten Mediensystem mit einer alles durchdringenden Ökonomie der Aufmerksamkeit ist hier gefordert. Denn die vorgefundenen Ergebnisse zu Konsumstimmung und emotionaler Lage stützen das Konzept der Ambivalenz (Merton 1976). Die Bürger und Konsumenten sehen sich jedoch nicht nur in konfligierenden Rollenerwartungen, sondern ebenso in konfligierenden Stimmungen und Gefühlen. Dabei scheint es von zentraler Bedeutung zu sein, dass die verschiedenen Gegensätze immer wieder ausgeglichen oder in ihren Ambivalenzen ausgehalten werden müssen, damit auf Befürchtungen wieder Hoffnungen bzw. auf Enttäuschungen auch Glaube an die Zukunft erwächst. Das dürfte eine wesentliche emotionale Triebkraft für die positive Entwicklung von Gesellschaften sein. Deutschland scheint als ein Land der Mitte besonders empfänglich für das Ausschlagen der emotionalen Lage in die eine oder andere Richtung. Ob die abgebildeten Befunde Indikatoren einer spezifischen „public mood“ der Deutschen sind, kann nur internationale For-
Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
207
schung zeigen.22 Auch hierfür liefert das Modell der emotionalen Polarisierung eine deduktiv abgeleitete Operationalisierung. Unabhängig davon zeigt die Betrachtung der emotionalen Lage jedoch, in welche emotionalen Umwelten die Bürger eingebunden sind und welche Anpassungsleistungen auch emotionaler Art sie zu erbringen haben. Es liegt damit nahe, das Konzept der „embeddedness“, wie es von Granovetter (1985) beschrieben wurde, über die Einbindung sozialer Strukturen hinaus auf die Einbindung in emotionale Strukturen im Sinne eines breite Gesellschaftskreise erfassenden Gefühls bzw. einer „emotionalen Lage“ auszudehnen. Denn der Verbraucher befindet sich nicht allein in einer ambivalenten sozialen, sondern ebenso in einer zwiespältigen emotionalen Lage, die nach Anpassung und Ausgleich drängt.
6
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22
Public Mood wird als eine allgemeine, eher ungerichtete Stimmung angesehen, die weite Teile der Gesellschaft bzw. ganze Nationen synchron erfasst (vgl. Hagen, Zeh, Müller-Klier 2003, S. 265; Rahn 2000; Rahn, Kroeger, Kite 1996).
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Der Konsument im Zwiespalt der Gefühle
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Politischer Konsum. Ein Beitrag zum faustischen Konsumentenverhalten Ingo Schoenheit Ingo Schoenheit Politischer Konsum. Ein Beitrag zum faustischen Konsumentenverhalten Politischer Konsum
Es liegen zahlreiche empirische Hinweise vor, dass es Nutzenstiftungen im Konsum gibt, die – auf den ersten Blick – nicht der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung des konsumierenden Subjekts dienen. Konsumentscheidungen werden in modernen Wohlstandsgesellschaften vermehrt dazu genutzt, um bestimmte gesellschaftliche, soziale oder ökologische Veränderungen zu erreichen. Privater Konsum wird zu einer Ausdrucksform gesellschaftspolitischer Präferenzen und Meinungen, der Konsument wird zum Consumer-citizen. Er entwickelt hybride Präferenzen und verändert Marketing und Werbung. Er wertet die nichtstaatliche Verbraucherpolitik auf, die das knappe Gut des zivilgesellschaftlichen Sanktionspotenzials politisierter Konsumenten inszenieren und interpretieren kann.
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Konsumieren um die Welt zu retten – ein nicht ganz neues Phänomen
“The more you buy, the more you save!”. Dies ist motivierende Botschaft von zahlreichen Sonderangeboten, Schnäppchen, Rabattaktionen und von aggressiven Werbebotschaften des Einzelhandels, die bei den Konsumenten auf einen fruchtbaren Boden fällt. Der Grund: Das Versprechen ist zielführend und gut bekannt. Viel Leistung für wenig Geld! Durchaus anschlussfähig und dennoch überraschend anders ist eine neuere Botschaft, die beginnt als Hintergrundmetapher Einfluss auf das moderne Konsumentenverhalten zu erlangen: Wenn Du nur „richtig“ einkaufst und konsumierst, dann rettest Du auch noch gleich die ganze Welt. Zumindest – so die wohl realistische Rezeption dieses Claims – kann richtiges Konsumieren einen wirkungsvollen Beitrag zur Rettung der Welt leisten. “Shopping for a better world” ist der programmatische Titel eines kleinen Einkaufsführers, der mit einer beträchtlichen medialen Resonanz vom Council on Economic Priorities seit 1991 in den USA wiederholt herausgegeben wurdeŗ.ǯ Er 1
Der Shopping Guide erschien ca. alle zwei Jahre in aktualisierten Auflagen. Der letzte Guide wurde im Jahr 2000 vom CEP herausgegeben. Angeregt durch diese Publikationen sind in den neunziger Jahren auch in anderen Ländern vergleichbare Buchpublikationen erschienen (vgl. Schoenheit/Hansen 2004, S.244).
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steht für einen neuen Ansatz der zivilgesellschaftlichen Einflussnahme von Konsumenten auf die großen Fragen der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Umweltpolitik. Anders als der klassische consumerism eines Ralph NaderŘ, wird hier die mögliche Verbrauchermacht nicht für die eigenen unmittelbaren Verbraucherinteressen oder für problematische Entwicklungen im Konsum selbst ins Feld geführt. Es geht vielmehr um das Wohlergehen „Anderer“, um eine intakte Umwelt, um Fragen der Gleichberechtigung, um die Kinder in der Dritten Welt (vgl. CEP 1991). Obwohl sich dieser und vergleichbare Einkaufsführer an Bürger in ihrer Rolle als Konsumenten wenden, enthalten sie keine Aussagen zur Produktqualität oder zu den Preisen der Produkte. Sie bedienen explizit nicht die Standarderwartung (viel Leistung für wenig Geld) der Konsumenten. Das mit diesen Publikationen geförderte Konsumverhalten orientiert sich an Maßstäben der Angemessenheit von Unternehmenspolitiken. Es thematisiert zentrale gesellschaftliche Diskussionsfelder (Umweltschutz, Gentechnik, Gleichberechtigung, Menschenrechte, Selbstbestimmung) mit der eingängigen Unterstellung, dass insbesondere die global agierenden Unternehmen sowohl als Problemverursacher als auch als Problemlöser einen maßgeblichen Einfluss auf die jeweils aufgeworfenen gesellschaftspolitischen Fragen haben. Die in den letzten 15 Jahren in vielen Ländern publizierten Shopping Guides wollen ein eher alltägliches politisches Verhalten von Konsumenten fördern, das in zahlreichen Boykottaktionen zeitpunkt- und einzelthemenbezogen bereits ein sichtbarer Teil der Konsumwirklichkeit in den Wohlstandsländern geworden ist. Die bekannten internationalen Boykottaktionen gegen den Nestlékonzern, gegen das Apartheid-Regime in Südafrika oder gegen den Shell Konzern waren nur die weithin bekannten Spitzen eines Eisberges, der eine schleichende Politisierung des Konsums ankündigte. „No Sweatshops“ und „No Logos“ sind die aktuelleren Schlüsselbegriffe, die für zwei wichtige, aber auch unterschiedliche Ansatzpunkte der sogenannten Anti Corporate Movements stehen (vgl. Hellmann 2005). Während sich die weltweiten Protestaktionen gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Zulieferbetrieben (sweatshops) großer Unternehmen mit verschiedenen Strömungen der Gobalisierungskritiker vermischen, thematisieren die sogenannten „Anti-Branding-Kampagnen“ häufig unter kreativer Verwendung von Stilmitteln der Werbung die zunehmende Kommerzialisierung der Lebensführung3 (vgl. Rumbo 2002). 2
Auslöser des consumerism in den USA der sechziger und siebziger Jahre war die Kritik an der völlig unzureichenden Qualität und Sicherheitsstandards von Konsumgütern (z.B. Autobremsen) und an den neuen undurchschaubaren Marketingpraktiken („die geheimen Verführer“), die Nader zum Anlass nahm, Konsumenten für ihre Interessen zu mobilisieren (vgl. Meffert 1973). Die Besonderheit des US-amerikanischen consumerism in Abgrenzung zur institutionalisierten Verbraucherpolitik ist zu beachten. 3 Vgl. auch Naomi Klein (2002), die Elemente von beiden Kritikansätzen vorträgt.
Politischer Konsum
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Aber auch wo keine expliziten und medial verstärkten Boykottaufrufe vorliegen sind gelegentlich überraschende Reaktionen der Konsumenten auf unternehmerische Praktiken zu beobachten. So meldet die GfK beträchtliche Umsatzeinbrüche der Marke AEG in Deutschland und bietet als einzige Erklärung die Abstrafung durch die Konsumenten an. Sie wollten dem schwedischen Mutterkonzern Elektrolux offensichtlich die Schließung des AEG-Werkes in Nürnberg nicht durchgehen lassen (vgl. Der Spiegel 2006, S. 136). Gleichzeitig und für alle Marktkenner überraschend verzeichnet die Unternehmens- und Produktmarke Miele, die konsequent in Deutschland produzieren lässt, starke Umsatzgewinne (a.a.O.). Sollten die in empirischen Forschungen bekundeten Bereitschaften der Konsumenten, Unternehmen, die sich nicht verantwortlich verhalten, durch Nichtkauf zu „bestrafen“, doch mehr sein als eine wohlfeile Absichtserklärung und sogar eine gewisse Prognosekraft enthalten? Immerhin wird in einschlägigen Studien die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland als besonders relevanter potenzieller Boykottauslöser bei deutschen Konsumenten herausgestellt (vgl. Schoenheit/Bruns/Grünewald 2007, S. 11). Der unverstellte Blick auf die bundesdeutsche Konsumwirklichkeit zeigt, in welchem Ausmaß alltägliche Erwägungen und Meinungen im und zum Konsum bereits mit den großen gesellschaftlichen Umwelt- und Gerechtigkeitsfragen verknüpft sind: Fische, die nicht überfischt sind, Bananen von Plantagen mit akzeptablen Arbeitsbedingungen, Kosmetik ohne Tierversuche, Gentechnik im Reis, Mineralwasser von nachhaltigen Unternehmen, Biertrinken für den Regenwald, T-Shirts in Deutschland genäht, Bankdienstleistungen für Muslime, Grüner Strom für das Klima, Atomstrom auch für das Klima, Äpfel aus der Region, Fast Food, das dick macht, Spielzeug aus China, Erdgasfahrzeuge, Hybridfahrzeuge, Bio-Diesel, Brennstoffzellen - oder ist Fahrradfahren nicht doch noch besser? Dies sind die beliebig weiter zu ergänzenden Stichworte, die auf eine inzwischen fast selbstverständliche auch moralisch-politische Interpretation der modernen Konsumwelt hinweisen. Gerade wenn es um die Ambivalenzen des modernen Konsumverhaltens geht, ist es unerlässlich, diese Phänomene genauer zu betrachten und zu prüfen, ob die Rede vom politischen Konsum zum besseren Verständnis beiträgt und wohin sie führt.
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Politischer Konsum als Konzept
An den Schnittstellen zwischen Konsumforschung, Kampagnen- und Medienforschung erfahren die Phänomene der Artikulation von gesellschaftspolitischen Präferenzen im Konsumverhalten in den letzten Jahren eine größere Aufmerksamkeit. Um die Besonderheiten eines Konsumverhaltens, dem es ganz entschei-
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dend um die Wirkung auf „Andere“, in der Regel auf die Unternehmen, deren Produkte gekauft oder auch nicht gekauft werden, zu kennzeichnen, wird in der wissenschaftlichen Literatur vermehrt von einem sogenannten politischen Konsum gesprochen. So beschreibt Michelletti (2003) die Phänomene von politisch ausgerichteten Verbraucheraktionen und identifiziert mit umfragebasierten Forschungen eine Verhaltensbereitschaft und ansatzweise ein Verhalten von schwedischen Konsumenten, dass explizit als politischer Konsum oder als politisches Verbraucherhandeln bezeichnet wird (vgl. Stolle/Micheletti 2005). In den USA sieht Cohen (2001) im Zusammenwachsen von „Citizen and Consumer“ eine neue Herausforderung für das Marketing. Von einer generellen Tendenz zum politischen Konsum in Wohlstandsgesellschaften spricht Schoenheit (1996) und sieht in der geringen Differenzierbarkeit und Austauschbarkeit der Produkte, der Funktionsverlagerung des Konsums in Richtung Ausgestaltung eines individuellen Lebensstils und in den zunehmend öffentlich diskutierten Verantwortungsdefiziten der Unternehmen die grundlegenden Determinanten dieses Phänomens. Er greift damit eine Beobachtung auf, die im deutschen Sprachraum als erstes von Bennigsen-Foerder (1988) vorgetragen wurde, der vom „Kunden als Bürger und vom Bürger als Kunden“ sprach. Er prognostizierte, dass die vormals klar getrennten Rollen des politischen Bürgers, der wählt, sich politisch organisiert und ggf. auch mal einen Leserbrief schreibt, auf der einen Seite und des wirtschaftlich zweckrational handelnden Konsumenten, der seinen kleinen Vorteil stets im Blick hat, sich zusehends überschneiden werden (vgl. Bennigsen-Foerder 1988; Schoenheit 1996, S. 181). Auch Hansen/Bode (1999) sprechen in ihrer Entwicklungsgeschichte des Marketing von einer Politisierung des Konsums, die in Modellen des ethischen bzw. des nachhaltigen Konsums abgebildet werde. In seiner Analyse des Shell Boykotts sieht Priddat (2000) unübersehbare Zeichen für neue politische Ökonomie, in der Bürger als Konsumenten auftreten, „weil sie als politische oder Stimmbürger keine Durchsetzung ihrer Interessen erwarten“ (Priddat 2000, S. 130). Stärker dem Paradigma der „richtigen Lebensführung“ verpflichtet, spricht auch Koslowski (2006) dem Konsum eine politische Dimension zu, „weil er für die Lebensführung und Selbstwerdung des Menschen von Bedeutung ist.“ (Koslowski 2006, S. 30) Schließlich stellen Lamla/Neckel (2006) in einem Sammelband die Frage zur Diskussion, wie und warum sich aktuelle Kritikmuster und Engagementformen des politischen Konsums und moderne Formen des Politikkonsums wechselseitig fördern. Neben einer Politik mit dem Einkaufskorb werden auch ausgewählte Aspekte einer politischen Ästhetik des Konsums und des Konsumismus in der Politik untersucht.
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Auch wenn die Rede vom politischen Konsum besonders aktuell erscheint, ist sie – ansatzweise und in Nuancen auch anders4 – schon zuvor geführt worden. Bereits seit den siebziger Jahren gibt es Versuche in der Konsumentenforschung, ein vom erwarteten Standard abweichendes Konsumentenverhalten begrifflich besonders zu kennzeichnen. Wenn es in der Vergangenheit im Konsum – in welchen Varianten auch immer – nicht oder zumindest nicht nur um die Optimierung der privaten Bedürfniserfüllungen ging oder gehen sollte, sind in der Forschung, aber auch in der gesellschaftspolitischen Diskussion die jeweils dazu passenden Konsumhaltungen sehr schnell begrifflich markiert worden, die – wenn die Markierung in den Kommunikationsarenen auf Resonanz stieß – ansatzweise auch als konsumpolitische Leitbilder dienten. So wurde in Reaktion auf die ersten überraschten Diskussionen zu den möglichen „Grenzen des Wachstums“ in den siebziger Jahren beispielsweise der „qualitative Konsum“ definiert und anschließend auch entdeckt (vgl. Kuby 1983). Mit der Überführung dieser anfänglich wachstumskritischen Diskussion in stark vom Umweltthema dominierten optimistischeren Szenarien stand der „ökologische Konsum“ im Zentrum eines ansatzweise sogar zu beobachtenden und von einigen Akteuren vehement gewollten Konsumverhaltens (vgl. Roberts 1996). Mit den Erfolgen der nationalen Umweltpolitik und den ersten Einblicken in die sozialen Seiten einer globalisierten Wirtschaft wird der „ökologische“ zunehmend vom „sozialen Konsum“ überlagert oder gleich ganz konsequent im Windschatten der Rio Konferenz von 1992 in den „nachhaltigen Konsum“ überführt (vgl. Hansen/Schrader 1997). Qualitativer, ökologischer, sozialer und nachhaltiger Konsum stellen insofern Abweichungen vom erwarteten Standardverhalten dar, weil jeweils unterstellt wurde und wird, dass Konsumenten Produkte, die in den in diesen Konzepten ausgewiesenen Claims Anderen überlegen sind, auch dann bevorzugen wer4
Die Geschichte des politischen Konsums ist noch nicht geschrieben worden. Sie hätte beispielsweise auf den Boykott von jüdischen Geschäften und Geschäftsleuten als Gewöhnungsübung für den zielgerichteten Naziterror einzugehen. Sie müsste auch den „Montgomery Bus Boycott“ aus dem Jahr 1955 erwähnen, bei dem farbige US-Bürger erfolgreich auf ihr (selbstverständliches) Recht auf Sitzplätze in städtischen Bussen hinwiesen und damit die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King vorbereiteten (vgl. Friedman 1999). Eine Geschichte des politischen Konsums könnte insgesamt zeigen, in welchem Ausmaß unterschiedliche politische und moralische Auffassungen den jeweils zeitgenössischen Konsum prägen können. Auch eine vorsätzliche politische Instrumentalisierung des Konsums durch Regierungen oder politische Strömungen (z.B. der inszenierte Boykott dänischer Produkte durch fundamentalistische Muslime im Rahmen des „Karikaturenstreits“) müsste in seinen fließenden Übergängen zu den alltäglichen Formen des politisierten Konsums untersucht werden, in denen eher eine Hybridisierung moralischer Positionen und ihre Vermengung mit alltagsästhetischen Geschmacksmustern stattfindet. Die grundsätzliche Anfälligkeit des politischen Konsums für zielgerichtete Instrumentalisierungen wird auch durch die später vorgeschlagene faustische Interpretation des politischen Konsums unterstrichen.
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den, wenn sie teurer sind oder weniger Leistungen (unmittelbare Nützlichkeit für den Konsumenten) bieten. Bei den Konsumenten wird neben egoistischen Präferenzen, die das Standardverhalten bestimmen, implizit eine andere, weitere Klasse von Präferenzen unterstellt, die den Konsumenten als homo socialis erscheinen lässt. Selbst wenn das Free Rider Verhalten in der breiten Masse der Konsumenten nicht ausgeschlossen werden kann, berücksichtigen diese „ökologischen“, „sozialen“ oder „nachhaltigen“ Konsumenten bei ihren Kaufentscheidungen die Umweltverträglichkeit der Produkte, sie denken an die Produktionsbedingungen in der Dritten Welt oder ganz generell und abwägend an die Nachhaltigkeit. Immer wenn sie nicht nur dem Präferenzsystem der privaten Nutzenoptimierung folgen, wird ihr Verhalten generisch auch als „verantwortliches“, „ethisches“ oder als „moralisches“ Konsumverhalten bezeichnet (vgl. Koslowski/Priddat 2006). Der Begriff des politischen Konsums hat mit den genannten Konzepten zahlreiche Überschneidungen. Er thematisiert allerdings deutlicher als sie die Verschränkungen des privaten und des öffentlichen Raumes und die den Konsum mitbegründende Zielsetzung, Einfluss auf das Verhalten „Anderer“ zu nehmen, um so die gewünschten (sozialen, ökologischen, usw.) Veränderungen zu erreichen. In Unterscheidung von den genannten Begriffen sprechen wir von politischem Konsum, wenn Konsumenten ihre Einkaufsentscheidung dazu benutzen, um Einfluss auf bestimmte gesellschaftliche und politische Zustände zu nehmen. Der unmittelbare Hebel, mit dem Konsumenten ihren Einfluss geltend machen, ist der Kauf bzw. der Nichtkauf von Produkten und Marken (Exit) und / oder die Artikulation von Kritik gegenüber Unternehmen (Voice) (vgl. Hirschman 1974). Bei der Exit und Voice Option des politischen Konsums geht es inhaltlich nicht um die besonderen Qualitäten der Produkte oder Marken, sondern um einzelne Aspekte der Politik der hinter den Marken stehenden Unternehmen, die beeinflusst werden soll. Politischer Konsum ist im Kern unternehmensgerichtet. Politische Konsumenten orientieren sich in ihren Einkaufsentscheidungen in besonderem Maße an Gerechtigkeitsfragen. Sie nehmen Bezug auf die konkreten Herstellungsbedingungen oder auf die Vermarktungskonzepte der Produkte oder auf andere öffentlich problematisierte Einzelaspekte der Politik des herstellenden oder des in den Verkehr bringenden Unternehmens. Politischer Konsum5 ist nicht die schlichte Artikulation und Summation der individu5
Während der Begriff des politischen Konsums ein dezidiertes politisches Ziel als wesentlichen Bestimmungsgrund des Konsums unterstellt, verweist der Begriff der Politisierung des Konsums eher auf einen graduellen Prozess der Aufladung des Konsums mit politischen Inhalten (vgl. Lamla 2006, S. 12 ff, Schoenheit 1996, S. 181). Mit dem Begriff der Politisierung des Konsums können jedoch auch die Anstrengungen bezeichnet werden, bei der „Konsum“ zum Gegenstand von politischen Regulierungen („Konsumpolitik“) gemacht wird (vgl. Torp 2006, S.43).
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ellen politischen Präferenzen der Konsumenten. Er artikuliert Einstellungen zu Produkten, Marken und Unternehmen, in denen sich ihre medial vermittelten Verknüpfungen mit den Themenkonjunkturen der öffentlichen Meinungsbildung widerspiegeln. Er verschiebt die überkommenen Grenzen einer Zeit- und Raumgebundenheit, weil die politischen Konsumenten das Internet als eine neue kongeniale Kommunikations- und Organisationsplattform nutzen. Die Rede von politischem Konsum rekurriert auf einen Politikbegriff, der Politik nicht als einen überzeitlich gültigen, an bestimmten Institutionen und Verfahren des Staates gebundener Bereich fasst, sondern der die Erscheinungsformen politischen Handelns als historisch im Wandel begreift. Konstitutiv für diesen Begriff des Politischen ist Kommunikation, was insbesondere auf die den institutionalisierten Entscheidungen vorgelagerten öffentlichen Diskurse abhebt. Warum nun gerade die Sphäre des Konsums beim Artikulieren und Aushandeln von Fragen und Positionen zur Ausgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens eine wichtige Rolle spielen kann, soll im folgenden näher untersucht werden. Es werden Erklärungsansätze für die aktuellen Phänomene des politischen Konsums vorgestellt, um die Tragfähigkeit des Konzeptes zu überprüfen und seine Besonderheiten zu verdeutlichen.
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Erklärungsansätze des politischen Konsums
Warum Konsumenten beim Konsum nicht vor allem ihren privaten Nutzen individuell optimieren, sondern soziale, gesellschaftliche oder vor dem Hintergrund einer bestimmten Moralauffassung geprägte Ziele verfolgen sollten, ist im Rahmen der Prämissen der Standardökonomie6 nur schwer erklärbar. Eine explizite Beschäftigung mit diesen Phänomenen findet deshalb in der ökonomischen Mainstreamforschung, aber auch in der verhaltenswissenschaftlichen Konsumforschung bis auf einige Ausnahmen nicht statt7. Vielmehr wird auf die Marginalität dieser Phänomen verwiesen (vgl. Hedtke 2001, S. 34). Ergibt sich dennoch die Notwendigkeit, Phänomene eines normativ orientierten Konsums zu erklären, dann wird von der modernen Standardökonomie regelmäßig auf die Argumentationsfigur zurückgegriffen, nach der altruistische Motive (Handeln für An6
Homann/Suchaneck sprechen gelegentlich vom „Standardmodell der Ökonomie“ (vgl. Homann/Suchanek 2000, S. 426). Eine systematische Auseinandersetzung mit der sogenannten Standardökonomik und ihren unzureichenden Antworten auf wichtige Fragen von Markt und Konsum liegt von Hedtke (2001) vor. Zu ihren wichtigsten Annahmen zählt der methodologische Individualismus und die unterstellte Rationalität im Handeln. 7 Hansen/Bode (1999) stellen in ihrer „Marketinggeschichte“ die Bemühungen der Marketingwissenschaft heraus, die gesellschaftlichen Perspektive zu integrieren und für die verhaltenswissenschaftliche Konsumentenforschung fruchtbar zu machen.
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dere) im Grunde nur egoistische Präferenzen widerspiegeln8. Es wird auf ein gesteigertes Selbstwertgefühl verwiesen, das sich einstellen kann, wenn Menschen in Übereinstimmung mit den eigenen und am besten auch noch mit sozial anerkannten Werten handeln. Es wird auch auf die mit diesem Handeln erwartbare soziale Anerkennung abgehoben, wodurch mit dem Reputationsgewinn eine weitere, klar dem Eigennutz zuzurechnende Größe auftaucht. Altruismus ist (verkappter) Egoismus und insofern für die Standardökonomie nichts Besonderes. Wie wenig diese Argumentation letztlich zur Erklärung aktueller Phänomene der Konsumkultur beiträgt, zeigt u.a. die Finanzwissenschaft und die ihr zugrundeliegende Kapitalmarkttheorie. Für sie ist ein Investmentverhalten von privaten Anlegern (und selbstverständlich auch von Institutionen, also z.B. Kirchen, Stiftungen, Parteien, usw.) schlechterdings eine Anomalie9, wenn bei der Geldanlage andere Gesichtspunkte (moralische oder politische) eine Rolle spielen sollten, als es das magische Dreieck von Rendite, Liquidität und Sicherheit vorgibt (vgl. Oehler 1995). Referenzpunkt auch der modernen behavioral finance bleibt stets das „normale“ Verhalten der Anleger, die per Definition rational und allein auf die Vermögensmehrung bedacht sind. Wird neben dem Präferenzsystem der privaten Nutzenoptimierung eine andere Art von Präferenz eingeführt, schmälert dies die Rendite oder aber es erhöht sich das Risiko der Geldanlage. In der Sprache der Standardökonomie ist Moral grundsätzlich eine selbstauferlegte Restriktion in Bezug auf den Handlungsraum, die zu schlechteren Ergebnissen führen muss (vgl. Homan/Suchaneck 2000, S. 448). Insbesondere Priddat (2000) stellt in seiner sozial-ökonomischen Konzeptionierung des moralischen Konsums heraus, wie sehr dieses „Restriktionstheorem“ von der Marktrealität inzwischen überholt ist. Dazu knüpft er an konsumsoziologische Interpretationen an und verweist auf den Bedeutungsnutzen, der mit dem Kauf und der heraldischen Verwendung von Produkten verbunden sein kann (vgl. Jäckel 2004, S. 16). Konsum dient der Identitätsbildung, schafft Zugehörigkeiten, unterstützt Individuen und Gruppen dabei, sich abzugrenzen. Die Distinktionsfunktion von Konsum erfordert und ermöglicht auf Seiten des Marketing die Schaffung zusätzlicher Differenzierungsmöglichkeiten, was in einer 8
Vgl. Badhwar (1993), S. 115, die feststellt: „altruism achieves its highest moral worth only by virtue of its connection with self-interest.“ Dass diese Interpretation von Altruismus auch im Zusammenhang mit dem ökologischen und sozialen Nutzen von Produkten verwendet wird, stellen Hansen/Bode (1999, S. 429) heraus. 9 Die Vertreter des behavioral finance modellieren ihren Forschungsansatz so, dass beispielsweise der Wunsch, nicht in Unternehmen zu investieren, die Zigaretten herstellen, als „abweichendes Verhalten“, als Anomalie gekennzeichnet wird. Der wertfreie Ansatz dieser Forschungsrichtung wird durch das Versprechen unterstrichen, auch solchen Investoren durch eine geschickte Portfoliostrategie angemessene Gewinne zu ermöglichen (vgl. Schoenheit 2005, S. 151).
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Zeit, in der bei den funktionalen Nutzenfunktionen von Produkten weithin ähnliche Qualitäten vorliegen, wichtig wird. Priddat argumentiert, dass nun gerade Moral einen besonders geeigneten Differenzierungsmodus darstellt. Güter sind – das ist in der Konsumforschung nicht neu – Güter plus Bedeutung. Die Bedeutung wird heute jedoch – das ist die besondere Beobachtung – vielfach mit Moral aufgeladen10. Bedeutung und Moral sind nicht als Restriktionen aufzufassen. Sie erweitern vielmehr den Handlungsraum der Konsumenten und des Marketing. „Moralischer Konsum wird ein bedeutsames Thema der Ökonomie werden, nicht weil wir moralischer werden, oder nur moralisch konsumieren wollen, sondern weil die Inklusion von Gütern und Leistungen in den Attraktionskorridor der changierenden Bewertungen von gut/böse, Moral/Unmoral etc. neue Angebotsdiversitäten erzeugt, d.h. den Wettbewerb dynamisiert“ (Priddat 2000, S. 147).
Moralischer Konsum, insbesondere in seiner nach außen gewendeten Variante des politischen Konsums, hat für die Konsumenten eine Reihe von Vorteilen. Politischer Konsum,
schafft markante Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, ermöglicht Reputationsgewinne, hat geringe Opportunitätskosten (von Shell zu Aral zu wechseln ist nicht wirklich aufwändig), erleichtert komplexe Auswahlentscheidungen (Moral als selbsterlebtes Referenzsystem), ist exemplarisch (was angesichts der unübersehbaren Menge von möglichen Ansatzpunkten moralischen Handelns nicht anders geht, lautet die entlastende Rechtfertigung), ist unverbindlich (es gibt keine Aus- und Eintrittsformulare), und er ist kommunikativ und medial (relativ) leicht zu beeinflussen.
Die besondere Attraktivität des politischen Konsums in vom Individualisierungsfieber gekennzeichneten Gesellschaften ist bereits von Ulrich Beck hervorgehoben worden (vgl. Beck 1995; 1997). Allerdings bleibt Beck nicht bei der Individualisierungsthese als fundamentale Erklärung des Phänomens „politischer Konsum“ stehen, sondern argumentiert demokratietheoretisch. Ausgehend von den strukturellen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung, die durch einen Bedeutungsverlust nationaler Regierungen, dem Fehlen globaler Steuerungsin10
Moral erscheint dabei nur selten unter dem Label „Moral“, sondern ist in vielen „....Status-, Reputations-, Neid- und „social distance“, bzw. „social coherence“ Markierungen der gewöhnlichen Konsumakte“ enthalten (Priddat 2000, S. 144).
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strumente, dem Bedeutungsverlust traditioneller Formen der politischen Willensbildung und einem Bedeutungszuwachs global agierender Unternehmen gekennzeichnet ist, liefert Beck einen übergeordneten Begründungszusammenhang für die Frage, warum gerade der Konsum zu einer neuen Artikulationsform des Politischen insbesondere in den westlichen Wohlstandsländern werden konnte. Vor dem Hintergrund seiner Grundthese von der Entgrenzung der Politik, die mit einer neuen Politik der Lebensführung (life politics11) einhergeht, betont er insbesondere
das Auseinanderklaffen, aber auch das zunehmende Verwobensein der individuellen Lebenswelten mit den globalen Entwicklungen [Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch (vgl. Beck 1986, S. 48)], die Tendenz zur Individualisierung in den modernen Gesellschaften, die alle (und insbesondere die traditionellen) Formen eines auf ein Ziel hin gerichteten gemeinschaftlichen Handelns (fast) unmöglich machen, die Sichtbarkeit großer Unternehmen, die mit ihren Weltmarken auch beträchtliche Reputationsrisiken eingehen.
So ist es für Beck nicht verwunderlich, dass nun gerade in der Sphäre des Konsums, in der die individuellen Freiheiten am besten garantiert schienen, paradoxerweise zahlreiche Beispiele anzutreffen sind, in denen neue Formen eines solidarischen Handelns erprobt werden. „Der Bürger entdeckt den Kaufakt als direkten Stimmzettel, den er immer und überall politisch anwenden kann. Im Boykott verbindet und verbündet sich derart die aktive Konsumgesellschaft mit der direkten Demokratie – und dies weltweit.“ (Beck 1997, S. 124) Die so vorgezeichnete sozial- und wirtschaftshistorische Perspektive wird in einer neueren Forschung aufgegriffen, in dem die engen – allerdings in unterschiedlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Kontexten durchaus variierenden – Verschränkungen von Konsumpraktiken und bürgerschaftlichen Artikulationsformen thematisiert werden. Insbesondere die Forschungen zu unternehmensgerichteten Kampagnen und zur neuen Rolle der Zivilgesellschaft setzen an der von Beck vorgezeichneten Interpretationsperspektive an (vgl. Gosewinkel u.a. 2004; Scammell 2000; Lamla 2005; Micheletti et al. 2004, Baringhorst 2005). Auch in den Forschungen zur „Global Governance“ wird thematisiert, dass die weltweiten Steuerungsprobleme immer mehr die wechselseitigen Abstimmungen zwischen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Akteuren erfordern. Die Legitimität und damit auch die Wirksamkeit dieser „Verständigungen“ – so wird argumentiert – sei von dem Vorhandensein eines 11
Vgl. auch Giddens (1991)
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zivilgesellschaftlichen Sanktionspotenzials, z.B. auch durch politische Konsumenten, abhängig (vgl. Benz 2004; Budäus 2005). Damit wird der politische Konsum insbesondere mit seiner potenziellen Sanktionsmacht gegenüber den global agierenden Unternehmen zu einem relevanten Projekt. Er verbindet nicht nur privates mit öffentlichem Handeln, sondern spannt den Bogen vom lokalen Einkauf zur globalen Mitwirkung. Dieser Gedanke ist insbesondere von Peter Ulrich (2001, 2002) aufgegriffen und wirtschaftstheoretisch fundiert worden. In einer globalisierten Welt werden nach Ulrich republikanisch gesinnte Wirtschaftsbürger benötigt, die als kritische Weltöffentlichkeit und eine Art moralische Instanz einer weltumspannenden Zivilisation wirken. Sie, die republikanisch gesinnten Wirtschaftsbürger, nutzen „ihre Kaufentscheide, um den Anbietern auf dem Markt, der Politik und ihren Mitbürgern „Zeichen“ zu geben – Zeichen dahingehend, dass sie nicht nur an preisgünstigen und funktional guten Produkten interessiert sind, sondern auch nach den humanen, sozialen und ökologischen Bedingungen des Wertschöpfungsprozesses dieser Produkte fragen“ (Ulrich 2002, S. 113).
Grundlegend für seine wirtschaftstheoretische Konzeption ist die in der Konsumsoziologie und Sozioökonomik nicht unbekannte Auffassung, nach der Menschen als soziales Wesen zu verstehen sind, die Freiheit nicht gegen oder jenseits der sozialen Gemeinschaft, sondern im Kern nur in ihr finden können. „Die Bürger fühlen sich mitverantwortlich für die Res publica, die öffentliche Sache des gerechten und solidarischen gesellschaftlichen Zusammenlebens, und spalten ihr privates Handeln davon nicht ab.“ (Ulrich 2002, S. 87). Mit seiner Vision eines republikanischen Liberalismus begründet er theoretisch, was in aktuellen Diskussionen ein wenig modischer als eine Art empirische Beobachtung unter der Überschrift des Consumer-citizen aufscheint (vgl. Cohen 2001; Keum et al. 2004). Ulrich überwindet wirtschafts- und demokratietheoretisch argumentierend vor allem die unterstellte Dualität im Handeln, nach der Wirtschaftsbürger (Bourgeois) stets nur auf das Private, z.B. im Konsum, und der politische Bürger (Citoyen) auf das Allgemeine bei der Wahrnehmung ihrer Interessen fokussieren. Das hier aufscheinende Ideal des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens setzt auf die Vernunft des Bürgers und auf seine sozialen und moralischen Kompetenzen. Zu einem solchen Bürgersinn gehören für Dahrendorf, auf den sich Ulrich an dieser Stelle ausdrücklich bezieht, vor allem die tätige Teilnahme und die aus den Anrechten entstehende Pflicht und Verantwortung des Einzelnen für das Gesamte (vgl. Dahrendorf 1994, S. 68). Doch welchen Realitätsbezug hat diese Konzeption? Welche Selbsteinschränkungen können dem Consumer-citizen zugemutet, von ihm freiwillig erwartet werden? Und wird hier nicht ein unrealistisches Bild von altruistischen
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Gutmenschen zur Grundlage einer dem Anspruch nach lebensdienlichen Wirtschaftstheorie erhoben? Ulrich ist sich dieser Schwachstelle seines Ansatzes bewusst. Die Zumutungen einer wirtschaftsbürgerlichen Verantwortungsübernahme sind nach seiner Meinung überschaubar. Er setzt nicht auf weltfremde Altruisten, sondern auf Bürger, die durchaus privat motiviert und egoistisch agieren, die jedoch nicht von vorneherein jede Möglichkeit der Selbstbeschränkung ablehnen. „Gemischte Motive“ würden reichen, erklärt Ulrich etwas verschwommen (vgl. Ulrich 2002, S. 106). Gemischte Motive oder auch die „mixture between Homo economicus and Homo politicus” (Rosenkrands 2004, S. 59) bringen – ohne es auszusprechen – die Sozioökonomik ins Spiel, die ein spezifisches Verständnis von „gemischten Motiven“ in Form des Ich + Wir – Paradigmas zum Ausgangspunkt ihrer Modellierung des sozial-ökonomischen Verhaltens nimmt.
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Das Ich + Wir-Paradigma als integrierender Erklärungsansatz
Während die Standardökonomie und die verhaltenswissenschaftliche Konsumforschung vor unrealistischen Überschätzungen der Relevanz von Phänomenen des politischen Konsums warnen, heben die erwähnten sozial-ökonomischen Analysen die besonderen Distinktionsmöglichkeiten einer moralischen Aufladung des Konsums hervor. Sie betonen, dass der politische Konsum womöglich nur eine sichtbare Spitze einer sich verallgemeinernden Ausweitung von Handlungsoptionen moderner Konsumenten in Wohlstandsgesellschaften darstellt. Die weitreichende Interpretation lautet: Neben den klassischen Leistungsmerkmalen von Produkten entwickelt sich mit ihrer moralischen Kontextualisierung eine Art zweites Referenzsystem am Markt und – sich wechselseitig bedingend – auch ein marktgerichtetes moralisches Präferenzsystem der Konsumenten. Diese moralische Differenzierung ist nicht mehr die Ausnahme, sondern aufgrund der Attraktivitäten dieser Distinktion schon fast die Regel. Bei aller Unterschiedlichkeit der Analyse und der zu ziehenden Konsequenzen besteht die Gemeinsamkeit dieser Erklärungsversuche des politischen Konsums darin, dass bei den Individuen und insbesondere bei den auf anonymen Märkten agierenden Konsumenten ein ausschließlich auf Eigennutz ausgerichtetes Präferenzsystem unterstellt wird. Hier ergibt sich ein markanter Unterschied zu demokratietheoretischen und wirtschaftsethischen Erklärungsversuchen des politischen Konsums. Die dort teils beobachtete, teils visionär „geforderte“ Mitwirkung der Individuen an den großen gesellschaftlichen Diskussionen und Entscheidungen, die heute zunehmend in der Arena des Konsums stattfindet, wird als historisch-gesellschaftlich angemessene Ausdrucksform eines sich artikulierenden Bürgerwillens gesehen. Der
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moderne Consumer-citizen ist „erklärbar“ und er ist zu „beobachten“. Der dem Consumer-citizen zugrundeliegende, als republikanisch bezeichnete Bürgerwille, enthält die Ambivalenz, sich für das Allgemeine einsetzen zu wollen und das Private dabei nicht zu vernachlässigen. Wenn weder der Gutmensch noch der Egoist ganz ausgeschlossen werden, nähern wir uns einer faustischen Grundinterpretation des modernen Konsumenten, bei dem – zumindest unter den angenehmen Bedingungen des Wohlstandskonsums – immer öfter zwei Seelen in seiner Brust aufscheinen. Die Eine hält sich krude an den kleinen Vorteilen der Konsumwelt fest, erhöht – letztlich ganz dem Lustprinzip verhaftet – die Bequemlichkeit, steigert den Genuss, ggf. auch durch noch feinsinnigere Distinktionen. Die Andere hebt ab und greift nach den Sternen, sie regelt das Große und Ganze im Lichte einer bestimmten Moral und wird gar zum praktischen Weltgewissen12. Die von Goethe im Faust vorgestellte Disposition des hin- und hergerissenen und des vor allem strebenden modernen Menschen ist für das tiefere Verständnis des politischen Konsums ausgesprochen hilfreich. Die Sozioökonomik bietet für das Zweiseelenbild einen wissenschaftlichen Erklärungsansatz. In Deutschland ist die Sozioökonomik (socio-economics) vor allem durch die Werke vom Amitai Etzioni (1994, 1996) bekannt geworden. Sie versteht sich als eine integrative Wissenschaft, die Wirtschaftswissenschaften und die anderen Sozialwissenschaften in ein theoretisches System zum Vorteil aller zusammenführen will. Dazu ist jedoch ein anderes Paradigma insbesondere der ökonomischen Forschung erforderlich, das allein dadurch überzeugen soll, dass es wichtige Phänomene des Handelns realitätsnäher und damit besser erklärt als die Standardökonomik (vgl. Etzioni 1998, S. 541). Für den hier diskutierten Gegenstand des politischen Konsums ist insbesondere die Ablehnung der sogenannten Mononutzentheorie, die weithin unproblematisiert von der Standardökonomie zur Interpretationsgrundlage menschlichen Handelns herangezogen wird, durch die Sozioökonomik von Bedeutung. Die Mononutzentheorie geht davon aus, dass die vielgestaltigen menschlichen Interessen, Wünsche, Ziele auf einer allgemeineren Ebene stets dem Wohlbefinden des Subjekts und damit seinem Streben dienen, sein Vergnügen zu erhöhen und seine Pein zu mindern. Die Sozioökonomik lehnt diese Mononutzentheorie ab und stellt ihr das sogenannte Ich + Wir Paradigma gegenüber (vgl. Etzioni, 1996, S. 87ff.). Ausgangspunkt dieses Paradigmas ist die Beobachtung, dass Individuen in sozialen Kontexten leben, in denen sie sich wichtige Handlungsmotive aneignen, die – obwohl sie als ihre eigenen erlebt werden – eine Verpflichtetheit gegenüber der Gemeinschaft ausdrücken (die Wir-Dimension). Diesem Altruismus, verstanden als Sorge um den Anderen, steht der Eigennutz der Individuen gegenüber. Menschen 12
Interpretierende Paraphrasierung der berühmten Goethe-Zeilen (vgl. Goethe 2002, S. 170-171).
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verfügen demnach über mindestens13 zwei Arten von Präferenzsystemen. „We are subject to two forces, we hear two voices. One does reflect our desire for pleasure. The other voice we hear is the voice of „ought“ statements.“ 14 (Etzioni 1998, S. 545) Zur Erklärung vieler Phänomene erscheint es der Sozioökonomik insgesamt schlüssiger, von einer durchgehenden Dualität moralischen und eigennützigen Handelns, eben dem „Ich + Wir Paradigma“ auszugehen. Sie schlägt vor, den hier angelegten – an die faustische Disposition des modernen Menschen erinnernden – Konflikt zwischen den beiden Präferenzsystemen zum Ausgangspunkt von Hypothesenbildungen über das menschliche Verhalten zu nehmen. „Socioeconomists should try to understand their inconsistencies, their tendency to zigzag“ (Etzioni 1998, S. 547). Wird dieser Aufforderung gefolgt und wird insgesamt die starke soziale und kulturelle Formung des menschlichen Verhaltens als relevant erachtet, dann wäre konsequenterweise zu untersuchen, unter welchen Bedingungen, in welchen Handlungsfeldern oder Systemen sich die moralische oder die eigennützige Seite stärker oder schwächer ausprägen, welche widersprüchlichen, inkonsistenten Formen diese Ausprägungen annehmen, und in welcher Weise Institutionen hierauf wie Einfluss nehmen oder auch nehmen könnten. Dies wäre deshalb ein typisches sozioökonomisches Forschungsprogramm, weil die Sozioökonomik „von einem institutionellen Realismus durchdrungen ist, der die Akteure in soziale Kontexte einbettet, diese aber umgekehrt auch als von den Akteuren beeinflussbar sieht“ (vgl. Hedtke 2001, S. 272). Auch für den hier diskutierten politischen Konsum ergäben sich neue Sichtweisen. Die im Abschnitt 3. skizzierten Erklärungsversuche des politischen Konsums bräuchte man – diesem Paradigma folgend – nicht mehr als ein Entweder / Oder zu qualifizieren. Es ergäbe sich vielmehr die lohnende Aufgabe, sie in einer die institutionellen, situativen und personalen Rahmenbedingungen genauer zu fassenden Analyse zu integrieren. Die Überlegenheit dieses Ansatzes könnte sich u.a. dadurch zeigen, dass eine „life style-Variante“ des politischen Konsums ebenso entdeckt und verstanden werden könnte, wie es dann möglich wäre, auch eine „politisch-weltbürgerliche Variante“ des politischen Konsums zu iden13
Andere Vertreter der Sozioökonomik gehen über die duale Nutzenkonzeption hinaus und unterstellen multimotivierte Akteure (vgl. Etzioni 1998). Hattwick (1999) macht deutlich, dass sich unter dem Generalparadigma der Sozioökonomik ein breites Spektrum von Ansätzen versammelt. 14 Die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung eines Forscherteams des Züricher Instituts für empirische Wirtschaftsforschung geben Anlass zu der Vermutung, dass für das Dualismus-Paradigma auch eine neurophysiologische Begründung möglich ist. Knoch et al, (2006) lokalisieren „die Moral“ an einem bestimmten Ort (im rechten vorderen Stirnlappen des Gehirns), der immer dann aktiviert ist, wenn im Zuge einer spontanen Entscheidung normativ interpretierbare Erwägungen „selbstkontrollierend“ auftreten. Auch durch die zielgerichtete, experimentelle Aktivierung dieser Region lässt sich das Ausmaß der selbstkontrollierenden Impulse verändern.
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tifizieren. Die simplifizierenden Reden vom Gutmenschen oder von den schicken Neo-Ökos15 würden dadurch sicher nicht verschwinden. Die wissenschaftliche Diskussion hätte jedoch die Möglichkeit, die hinter diesen unbefriedigenden Distinktionen liegenden hybriden Präferenzstrukturen besser zu verstehen. Diesem Paradigma folgend wäre es sogar möglich, ohne inkonsistent im Denken und zynisch in der Argumentation zu werden, auch innerhalb unserer Wohlstandsgesellschaften Konsumenten in Lebenslagen zu entdecken, die sich mehr Gedanken um die Mahlzeit am nächsten Wochenende als um die Arbeitsplätze in Vietnam machen. Wenn der harmonisierende Mononutzenansatz der Standardökonomie überwunden und die faustische Ambivalenz des heutigen politisch-ökonomischen Handelns konstitutiv wird, ist es möglich, „ohne argumentative Kapriolen auch solches Konsumverhalten zu erklären, dass sich etwa an Umweltschutz, Solidarität, Gerechtigkeit oder Bescheidenheit orientiert.“ (Hedtke 2001, S. 276)
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Konsequenzen für Unternehmens- und Verbraucherpolitik
Auch wenn mit Blick auf den Forschungsstand zum politischen Konsum noch mehr von pauschalen Eindrücken als von detaillierten Erkenntnissen gesprochen werden kann, sind auf einer allgemeinen Ebene dennoch Konsequenzen für wichtige gesellschaftliche Akteure absehbar. Es kann davon ausgegangen werden, dass wichtige Rahmenbedingungen für eine weitere Politisierung des Konsums in den nächsten Jahren sprechen. So belegen jenseits aktueller Themenkonjunkturen zahlreiche empirische Studien eine generelle Erwartungshaltung bei relevanten Teilen der Konsumenten in den westlichen Ländern, die von den global agierenden Unternehmen und zunehmend weniger von den nationalen Regierungen Beiträge zur Lösung wichtiger sozialer und ökologischer Problemlagen verlangen (vgl. Schoenheit/Bruns/Grünewald 2007). Dabei ist die faustische Disposition bei Teilen der Konsumenten zunächst nichts anderes als eine einstellungsbezogene Voraussetzung für die prognostizierte weitere Politisierung des Konsums. Seine konkrete Ausformung wird von vielen Faktoren abhängig, insgesamt aber immer auch als Ergebnis von komplexen gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen zu verstehen sein, in denen neben Unternehmen auch eine Vielzahl von Akteuren in häufig schwer zu identifizierenden Netzwerken mitwirken. Die Herausbildung der jeweiligen „moral attractors“ (vgl. Priddat 2000) und der für den politischen Konsum relevanten „issues“ (vgl. Dahle/Häßler 15
So werden die politischen Konsumenten, die am liebsten mit der Kreditkarte – am besten natürlich mit Nachhaltigkeitsgarantie – politisch abstimmen, in einem Artikel im Handelblatt bezeichnet. (Tichy, R. 2006, S. 24)
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1996, Röttker 2001) ist ohne die Berücksichtigung der Besonderheiten der politischen Massenkommunikation nicht vollständig zu verstehen. Ohne hier differenzierter auf die potenziell steuernden Akteure eines politischen Konsums eingehen zu können, sollen zumindest exemplarisch mögliche Konsequenzen der Politisierung des Konsums für Unternehmen und für die zivilgesellschaftlichen Institutionen der Verbraucherpolitik formuliert werden.
5.1 Konsequenzen für Unternehmenspolitik und Marketing Für Unternehmen und ihr Marketing sind mit der Tendenz zur Politisierung des Konsums sowohl Risiken als auch Chancen verbunden. Das größte Risiko besteht darin, die hier beschriebenen Phänomene zu unterschätzen oder sie nur einer klar eingrenzbaren Gruppe besonders engagierter Bürger zuzuschreiben. Zumindest einige der großen, global agierenden Unternehmen scheinen diese Gefahr erkannt zu haben. Die wachsende Bedeutung der von einzelnen Unternehmen inzwischen auch in Deutschland aktiv gestalteten Diskussion um eine Corporate Social Responsibility, der damit in Zusammenhang stehende Bedeutungsgewinn des Corporate Branding und der Unternehmenskommunikation sind die wichtigsten Anzeichen für eine Einstimmung auf den politisierten Konsum. Die Vermarktung von Produkten über ihre Kernleistung, die zusätzliche Emotionalisierung und Aufladung der Produkte und Marken mit Bedeutungen, die alltagsästhetische Geschmacksmuster und Distinktionswünsche bedienen, reicht – das ist die Botschaft – auf vielen Märkten nicht mehr aus. Starke Produktmarken benötigen zumindest im Hintergrund die überzeugende Corporate Brand. Meister Proper braucht heute Procter&Gamble und Procter&Gamble kann im Produktmarketing als weltweit agierendes Unternehmen nur noch deshalb erfolgreich sein, weil das Unternehmen wichtige nationale und internationale Netzwerke der Öffentlichkeit von seinen Werten überzeugt hat und sich an den Stellen, an denen es immer mal kneift und zwickt, als dialogbereiter Partner zeigt16. Im Zeitalter des politisierten Konsums werden Unternehmen ihr Risk Assessment ausweiten und ihr Wertemanagement neu interpretieren. Sie werden beobachten, welche Moralvorstellungen und "issues" unternehmensgerichtet oder im Umfeld der jeweiligen Produktkategorien vorhanden sind und sie werden Vorkehrungen treffen, diese Moralvorstellungen möglichst nicht zu verletzen. 16
Procter&Gamble wird hier exemplarisch erwähnt, weil dieses im Kern auf weltweit gültige funktionale Produktqualitäten und starke Produktmarken fokussierte Unternehmen systematisch die Corporate Brand moralisch aufgeladen hat und heute beispielsweise als Top Performer im Dow Jones Sustainability Index auftaucht (vgl. http://www.sustainability-indexes.com/djsi_pdf/Bios07/Procter_ Gamble_07.pdf/Download am 6.12.2006).
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Die erforderlichen Prozesse lassen sich nicht kurzfristig erfinden. Sie benötigen einen vorausgehenden internen Kommunikationsprozess, der es überhaupt erst möglich macht, nicht mehr nur von Sachnotwendigkeiten, sondern auch von der Moral von Unternehmensentscheidungen zu sprechen. Eine Unternehmensethik, die die unternehmerische Sprach- und damit Governancelücke entdeckt und versprechen kann, die vagabundierenden Werte zu managen, wird in den Unternehmen offene Ohren und viele Aufgaben finden (vgl. Wieland 2004). Neben dieser substantiellen, aber wesentlich doch auf Risikoreduktion abzielenden Reaktion von Unternehmen auf die Politisierung des Konsums ist auch eine aktive, die Chancen aufgreifende Reaktion denkbar und ansatzweise auch zu beobachten. Besonders vordergründig gehen Konzepte des cause related marketing auf die moralische Sensibilisierung vieler Konsumenten ein. Beim cause related marketing („zweckgebundenes Marketing“) handelt es sich um ein Marketinginstrument, bei dem der Kauf eines Produktes oder einer Dienstleistung damit beworben wird, dass das Unternehmen einen Teil des Erlöses einem sozialen, ökologischen oder einem anderen „guten Zweck“ oder einer Organisation zukommen lässt (vgl. Varadaranjan/Menon 1988, S. 59 f.). Damit wird dem Konsumenten durch seinen Kauf die Möglichkeit gegeben, zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems beizutragen. Zumindest als Nebenwirkung positionieren sich die jeweiligen Macher des cause related marketing als moralisch intakte Unternehmen, weil sie ein deutliches Engagement für eine bestimmte „gute Sache“ zeigen17. Gerade das Konzept des cause related marketing zeigt, dass Moral längst keine extraökonomische Haltung, sondern ein das Angebot anreichernder und differenzierender Bestandteil der modernen Konsumwelt darstellt. Unternehmen werden sich – so lautet die weitergehende Prognose für das proaktive Umgehen mit der wachsenden Geneigtheit zum politischen Konsum – vermehrt nicht nur vordergründig moralisch positionieren. Sie werden sich in Zukunft deutlicher in die gesellschaftlichen Diskurse einmischen, um die spezifische moralische Qualität ihrer Produkte oder auch des gesamten unternehmerischen Handelns besser zu positionieren. Sie werden versuchen, selber aktiv „moral attractors“ zu generieren und „issues“ zu etablieren. So zeichnet sich ab, dass die im Agenda Setting besonders erfahrenen Unternehmen bereits dabei sind, die aktuelle Großdebatte um eine Corporate Social Responsibility von einem Bedrohungs- in ein Chancenszenario zu überführen18. 17
In der ersten in Deutschland durchgeführten Studie zur Konsumentenresonanz auf das cause related marketing geht Fuhljahn (2006) auch auf das in Deutschland kontrovers diskutierte Beispiel der „Krombacher Spendenoffensive 2006“ differenziert ein. 18 Das Chancenszenario der ansonsten lästigen „Verantwortungsdiskussion“ wird bereits als „Corporate Social Opportunity“ vermarktet (Grayson/Hodges 2004) und mit der üblichen „How-to-do Literatur“ illustriert: Make Poverty Business. Increase Profits and Reduce Risks by Engaging with the Poor (vgl. Lodge/Wilson 2006).
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Die moralischen Qualitäten von Produkten und Unternehmen existieren nicht per se als Differenzierungsmerkmal an den Märkten. Sie sind weder den Produkten noch den Unternehmen „anzusehen“. Moralische Qualitäten werden für die Konsumenten erst durch Kommunikation sichtbar. Es ist deshalb zu vermuten, dass es in Zukunft womöglich mehr um einen Kommunikations- als um einen Leistungswettbewerb gehen wird. Unternehmen, die substantielle Beiträge zur sozialund ökologisch verträglichen Wohlstandsmehrung liefern, werden sich systematisch der Gefahr ausgesetzt sehen, im Aufmerksamkeitswettbewerb von Trittbrettfahrern und Schreihälsen an den Rand gedrängt zu werden. Auch der Markt der Moral hat seine Abgründe. Er kennt strategisches Handeln und ist für Täuschung, Übertreibung und Irreführung sogar in besonderem Maße anfällig. Der einzelne Konsument ist in seinem Urteil – auch wenn er sich noch so faustisch mächtig fühlt – schnell überfordert. Er wird vermehrt nach Orientierung bei Personen und Institutionen suchen, denen er vertraut und die ihm die komplizierte Welt möglichst einfach erklären. Den Verbraucherorganisationen, die den Konsumenten bereits in den Anfangsjahren des deutschen Wirtschaftswunders die funktionalen Qualitätsunterschiede der neuen Produkte erfolgreich „erklärt“ hatten, wächst damit eine neue Aufgabe zu. Allerdings stehen heute vermehrt die moralischen Qualitäten der modernen Konsumwelt auf dem Prüfstand. Der feste, weil scheinbar wertfreie Boden des Gebrauchstauglichkeitstests müsste dazu verlassen und das glatte und dünne Eis des Moraltests vorsichtig betreten werden.
5.2 Konsequenzen für die Verbraucherorganisationen Die in Zusammenhang mit der Politisierung des Konsums beschriebenen Entwicklungen, insbesondere die zunehmende auch moralische Aufladung und Differenzierung des Konsumangebots, aber auch die wachsende Bereitschaft, sich individuell als Konsument für die großen Dinge der Globalisierung zumindepunktuell zu engagieren, finden auf der Seite der in Deutschland für die Verbraucherinformation und den kollektiven Verbraucherschutz zuständigen Institutionen19 ansatzweise einen Widerhall. So ist beispielsweise die einflussreiche Stiftung Warentest dazu übergegangen, ergänzend zu den klassischen Produkttests auch sogenannte Unternehmenstests oder auch Tests der Corporate Social Responsibility durchzuführen (vgl. 19
Im Vordergrund stehen hier die in Deutschland staatlich finanzierten, institutionell jedoch unabhängigen Organisationen und Institute, die sich in einer funktionalen Arbeitsteilung auf die Aufgaben der Verbraucherinformation und -beratung, des rechtlichen Verbraucherschutzes und der kollektiven Interessenvertretung spezialisiert haben.
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Schoenheit/Hansen 2004). Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die Stiftung mit ihren Produkttests seit mehr als 50 Jahren in besonderer Weise dafür sorgt, dass die Konsumenten ihre Standarderwartung beim Kauf erfüllen können (viel Leistung für wenig Geld). Sie liefert mit ihrem neuen Informationsangebot jetzt jedoch auch moralische Gesichtspunkte zur ergänzenden Bewertung des Produktangebots. Eine Vermischung der Testurteile zur Produktqualität mit den moralisch aufgeladenen - durch eine feinsinnige Kritereologie „messbar“ gemachte Aussagen zur Unternehmensverantwortung wird jedoch peinlichst vermieden. So werden bei den Unternehmensbewertungen auch nicht die aus den Produkttests bekannten Urteile „sehr gut“, „gut“ usw. ausgesprochen, sondern es wird eine hiervon deutlich unterscheidbare Semantik verwendet. Ein Leser, der beide Informationsangebote berücksichtigen will, wird jeweils auf den anderen Beitrag im selben Heft verwiesen (vgl. Schoenheit/Grünewald 2006). Das Zweiseelenmodell des modernen Konsumenten wird damit von der Stiftung Warentest methodisch kongenial umgesetzt. Auch auf der Ebene der kollektiven Interessenvertretung, die in Deutschland vor allem vom Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) wahrgenommen wird, ist eine ähnliche Doppelstrategie anzutreffen. Die Interessenvertretung und Lobbyarbeit fokussiert in vielen Fällen auf die Standarderwartung der Konsumenten und kritisiert beispielsweise die zu hohen Bahn- und Energiepreise. „Viel Leistung für wenig Geld“ ist dennoch nicht die Maxime der aktuellen verbraucherpolitischen Interessenvertretung. Die „Geiz-ist-geil-Mentalität“, die paradigmatisch für eine einseitige und kurzfristige gesehene Nutzenmaximierung der Konsumenten steht, wird nicht bedient. Es wird erkannt, dass ein überzogenes Preismotiv im Konsum ein Mitverursacher von sozialen und ökologischen Problemlagen darstellt (vgl. Pötter 2005). Als Leitbild der Interessenvertretung dient der nachhaltige Konsum. Der Konsument wird in diesem Leitbild ausdrücklich als aktiver Partner im Marktgeschehen gesehen. Als einzelner Konsument habe er nicht nur das Recht auf Schutz, sondern er sei sich „zugleich auch der Auswirkungen seiner Konsumentenentscheidungen bewusst und (übernimmt) Mitverantwortung für künftige soziale und ökologische Entwicklungen“ (Müller 2001, S. 9). Diese bewusst normative Sicht auf „den Konsumenten“ unterstreicht, dass es sich beim nachhaltigen Konsum auch um einen komplizierten Bildungsauftrag handelt, der Konsumenten befähigen soll, am Ende das zu wollen, was sie sollen. Allerdings reduziert die nichtstaatliche Verbraucherpolitik den nachhaltigen Konsum nicht auf die mehr oder weniger geschickte Lancierung eines nachhaltigen Lebensund Konsumstils20. Es geht ihr weniger um die individuelle Motivation, als viel20
So bewirbt beispielsweise die Kampagne „Echt gerecht – Clever Kaufen“, die im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz von einer PR-Agentur gesteuert wird, einfache Botschaften des „richtigen“ Konsumierens (vgl. http://www.echtgerecht.de).
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mehr um die infrastrukturellen Voraussetzungen von nachhaltigen Konsum- und Produktionsstrukturen (vgl. Müller 2002). Nachhaltiger Konsum ist deshalb für die aktuelle nichtstaatliche Verbraucherpolitik auch politischer Konsum, weil – und insofern er – unternehmens- und politikgerichtet auf die bewusste Gestaltung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abzielt21. Mit dieser Positionierung ist die zivilgesellschaftlich organisierte und zugleich staatsnahe Verbraucherpolitik vom Grundsatz her anschlussfähig an die sozialen Bewegungen, auch wenn deren Engagementformen und Protestkulturen ihr weitgehend fremd bleiben. Sie wird vor allen Dingen interessant für ein auf demokratische Legitimation angewiesenes staatliches Handeln, da sie den politischen Konsumenten als zivilgesellschaftliches Sanktionspotenzial überall dort ins Gespräch bringen kann, wo staatliche Regulierungen nicht mehr greifen22. Die Hofierung der Zivilgesellschaft, die von den intermediären Verbraucherverbänden gelegentlich bereits als sichtbarer Beleg für ihre neue Politikrelevanz genommen wird, ist jedoch selbst widersprüchlich. Sie könnte sich auf längere Sicht als bloßes staatliches Ersatzhandeln, als gekonnte Politikinszenierung entpuppen, die das Fehlen von verbindlichen nationalen und internationalen Regeln des Wirtschaftens nicht ersetzen kann. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob die in weiten Teilen öffentlich finanzierten Verbraucherorganisationen der Versuchung widerstehen können, in immer mehr prominenten Diskussionsrunden nicht nur als zivilgesellschaftlicher Problemlöser, sondern auch als Aushängeschild für eine Politik zu fungieren, die insbesondere auf die Herausforderungen der Globalisierung nicht mehr gestaltend, sondern nur noch symbolisch reagiert. Viel wird deshalb davon abhängen, ob und wie die durch die Politisierung des Konsums aufgewertete Verbraucherpolitik es verstehen wird, das Markt- und Meinungspotenzial der politisierten Konsumenten zu interpretieren und zu kanalisieren.
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Dabei werden auch neue Formen der politischen Einflussnahme und abnehmende Berührungsängste gegenüber der Wirtschaft sichtbar, der ganz offensiv die Unterstützung deutscher Konsumenten in Aussicht gestellt wird, wenn sie sich auf preissensiblen Weltmärkten mit qualitativ hochwertigen und nachhaltigen Produkten behaupten will (vgl. Müller 2005). 22 Auch die in England durchaus erfolgreichen „Watch Dog-Konzepte“ werden als möglicher Ansatz einer neuen Verbraucherpolitik diskutiert, bei dem Konsumenten (und nicht eine Behörde!) bestimmte Märkte „regulierend“ beobachten (vgl. vzbv 2005).
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Variatio delectat? – Verbreitung und sozialstrukturelle Differenzierung der Konsumvariabilität Georgios Papastefanou Georgios Papastefanou Variatio delectat? – Verbreitung und sozialstrukturelle Differenzierung der Konsumvariabilität Variatio delectat? 1 Einleitung Konsumvielfalt ist ein Phänomen eines andauernden Individualisierungsprozesses, in dem sich viele Produktanbieter gefordert sehen, immer variantenreichere Produktprogramme (bis hin zu kundenspezifischen Einzelfertigungen) zu verwirklichen. Dies gilt insbesondere im Lebensmittelsortiment, bei dem die Anbieter mittlerweile eine nahezu unüberschaubare Varietät produzieren. So wird z.B. für 1999 berichtet, dass ein klassischer Vollsortimenter (Supermarkt) bei einer Fläche von 800 bis 1500 Quadratmeter rund 10.000 Artikel führt (vgl. Mehler 1999, S. 25). Im (Lebensmittel-)Markt kann die Multi-Optionsgesellschaft schon lange als realisiert betrachtet werden, allerdings liegen noch wenige Ergebnisse darüber vor, wie sich dies auf die sozialstrukturelle Differenzierung von Konsumvariabilität auswirkt bzw. ausgewirkt hat. Der vorliegende Beitrag nähert sich dem Phänomen der Konsumvariabilität, indem er einerseits Ergebnisse aus Marketing-, Lebensstil-, omnivorousness- und habit-Forschung heranzieht, andererseits die Ansätze von Bourdieu, Giddens und Bauman zur Formulierung von Hypothesen über Ressourceneffekte auf die Variabilität beim alltäglichen Lebensmittelkonsum aufgreift und den Versuch einer empirischen Überprüfung unternimmt.
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Empirische Forschung zur Konsumvielfalt
2.1 Produktloyalität und variety-seeking Seit langem beschäftigt sich die Marktforschung mit der Frage, wie verbreitet die Wechselbereitschaft beim Kauf von Produkten ist und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Untersucht werden hierbei Marken- bzw. Produktloyalität, aber auch „variety-seeking“-Motivationen (für eine Liste verschiedener Indikatoren vgl. Scriven 2005).
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Als „abhängige Variablen“ werden subjektives „Loyalitätsbewußtsein bzw. Markenbedeutung (vgl. Lin/Wu/Wang 2000; Tidwell et al. 1992; Knox/Walker 2003; Dubois 1999; AARP 2002), „Loyalitätsabsichten“ (vgl. Knox/Walker 2003, Baldinger/Rubinson 1996; Straub 1998; Wansink et al. 2001; Williams Group 2005; Luarn/Lin 2003; Dubois 1999; Meixner 2005) und der faktische Wiederkauf betrachtet (vgl. Knox/Walker 2003; Cebollada 2004; Shum 2004; Gommans et. al. 2001; Bennett/Rundle-Thiele 2002; Grimm 1995). Insgesamt kann man aus diesen Studien keinen eindeutigen Befund hinsichtlich der Verbreitung von Produktloyalität bzw. Abwechslungsbereitschaft herauslesen. Einige Studien stellen ein niedriges Niveau (unter 50 %) der Wiederkaufneigung fest (vgl. AARP 2002; Shum 2004; Wild 2004; Grimm 1995), andere ein relativ hohes Niveau (vgl. Williams Group 2005; Cebollada 2004; Meixner 2005). Auch eine Betrachtung der zeithistorischen Veränderung der Verbreitung von Markenloyalität bzw. Abwechslungsneigung ergibt kein klares Bild. Während Catlin (2004) zwischen 1993 und 2003 einen Zuwachs an subjektiver Markenbedeutung feststellt, hält er auch fest, dass im Jahr 2003 eine größere Neigung zum Ausprobieren verschiedener Marken festzustellen war als 1993. Ähnlich widersprüchlich sind auch die Ergebnisse der Williams Group (2005). Einerseits stellen sie zwischen 1990 und 1996 in Kanada einen Zuwachs der Markenloyalität von 60 auf 65 % fest, andererseits aber auch eine Abnahme der Wertschätzung von Premiummarken und eine Präferenz von Sonderangeboten gegen eine Markenwahl. Marken werden nur dann gewählt, wenn diese im Sonderangebot sind. Als eindeutiges Ergebnis hat sich gezeigt, dass die Wiederkaufsneigung, sei es als subjektives Markenbewusstsein, Wiederkaufsintention oder faktisches Wiederkaufverhalten, sehr stark von der Produktkategorie abhängt (vgl. AARP 2002; Bettman 2000; Dubois 1999; Wild 2004; Cebollada 2004; Straub 1998; Sharp 2002; Knox/Walker 2003; Scriven 2005; Meixner 2005). Die Studie von AARP (2002) stellt bspw. eine geringe Produktloyalität bei Heimstereoausstattung, Heim-PCs, Mobiltelephonen, Sportschuhen und Businessanzügen fest, hohe Produktloyalität bei Badeseifen, Autos, Fernseher, Frühstückscerealien, Vitaminen und Alltagsschuhen. Insgesamt wurden sehr unterschiedliche Produkte bzw. Produktgruppen untersucht1, eindeutige systematische Hypothesen über die Produktabhängigkeit der Produktloyalität liegen aber nicht vor. Als tentative 1
Küchenpapier und Alufolie (Cebollada 2004), Reinigungsmittel, Körperkosmetik (vgl. Straub 1995), fast moving consumer goods vs. Subskriptionsprodukte (vgl. Sharp 2002), Produkte in grocery markets vs. Durables (vgl. Uncles et al. 1995), Kaffee, Teigwaren, Saft, Eiskreme und Biskuit (vgl. Dubois 1999), Zahnpasta (vgl. Scriven 2005), Butter, Margarine, Dessert (vgl. Meixner 2005), Kühlschränke (vgl. Lin et al. 2000), Süßwaren/Schokolade, Eiscreme, Röstkaffee, Kondensmilch, Joghurt, Spirituosen, Fertiggerichte, Tiefkühlkost, Zahncreme, Körperkosmetik, Waschmittel, Reinigungsmittel (vgl. Grimm 1995).
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Hypothesen formuliert Cebollada (2004), dass in Produktgruppen, in denen sensorische Faktoren dominieren, wie bei Lebensmitteln, die Produktloyalität geringer ist, als bei langlebigen Gebrauchsgütern oder Finanzdienstleistungen. Aus dem Bereich der soziodemografischen Faktoren wurde insbesondere das Alter untersucht (vgl. AARP 2002; Catlin 2004; Dubois 1999; Wild 2004; Meixner 2005), in einer Studie auch die Geschlechtszugehörigkeit und soziale Schicht (vgl. Dubois 1999), sowie die Haushaltsstruktur (vgl. Dubois 1999; Shum 2004). Die Ergebnisse hinsichtlich des Alterseffektes sind nicht eindeutig; während einerseits festgestellt wird, dass ältere Konsumenten sich subjektiv und faktisch eher markentreu verhalten (vgl. Meixner 2005; Dubois 1999; Catlin 2004), finden andere Studien diesen Zusammenhang nicht. Die Studie von AARP stellt fest, dass 45-Jährige in den meisten Kategorien nicht markentreuer als jüngere Konsumenten sind und dass die Produktkategorie einflussreicher ist als das Alter (vgl. AARP 2002). Wild (2004) beobachtet, dass Unterschiede im Grad der Markentreue zwischen den Altersgruppen in der Regel eher marginal sind. Die Studien sind zudem kaum vergleichbar, weil unterschiedliche Altersabgrenzungen verwendet worden sind. Hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit gibt es Hinweise, dass Frauen mehr dazu neigen, neue Marken auszuprobieren (vgl. Catlin 2004) und dass der Alterseffekt auf die Neigung, neue Marken auszuprobieren, bei Frauen größer ist als bei Männern. Nur eine Studie konnte gefunden werden, die den Einfluss der sozialen Position auf das Markenbewusstsein untersuchte (vgl. Dubois 1999). Hier wurde kein Unterschied zwischen „lower class“ und „upper class“ bezüglich des Markenbewusstseins festgestellt. Die Haushaltsform bzw. -größe scheint eine Rolle bei der Variabilität zu spielen. Einpersonenhaushalte zeigen über verschiedene Kaufsituationen hinweg konsistentere Markentreue als größere Haushalte. Haushalte mit fünf und mehr Personen zeigen jedoch mehr Wiederkaufbewusstsein in einfacheren Kaufsituationen (vgl. Dubois 1999). Leben im Haushalt Kinder unter 18 Jahren, dann ist bei diesen Haushalten verstärkter Wiederkauf beobachtbar (vgl. Shum 2004). Insgesamt scheinen soziodemographische Variablen keine signifikante Differenzierung der Wiederkaufneigung zu bewirken. Diese Schlussfolgerung ziehen auch Wansink et al. (2001) und Meixner (2005), ohne jedoch die Ergebnisse systematisch und quantitativ zu belegen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass eine allgemeine Tendenz untersucht wird, die man mit variety-seeking umschreiben kann. Dies zeigte sich schon in der Studie von Wansink et al. (2001), die zwischen Suchern, Neutralen und Vermeidern (in Bezug auf Sojaprodukte) unterschieden. Explizit hat Meix-
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ner (2005) eine allgemeine Disposition zur Varietät untersucht und festgestellt, dass diese, je stärker sie ausgeprägt ist, zu einer geringeren Wiederkaufintention führt (insbesondere bei Fruchtjoghurts, Milchmixgetränke, Käse Brot/Backwaren und Desserts). Ein zweiter Aspekt, der eine für die Wiederkaufsneigung relevante Situation beschreibt, ergibt sich daraus, ob die Personen spezifischen Werbemaßnahmen ausgesetzt sind. Es gibt Hinweise, dass Sonderangebote und Werbemaßnahmen die Markentreue als Wiederkaufintention (vgl. Straub 1998) und auch die faktische Wiederkaufsneigung (vgl. Shum 2004) reduzieren. Straub (1998) stellt aber auch fest, dass Werbemaßnahmen die intentionale Markentreue erhöhen können, dies wird auch in der Studie von Meixner (2005) bestätigt.
2.2 „(Konsum-)Vielfalt“ in der Lebensstilforschung Im gegenwärtigen Diskurs zum Stand der Lebensstilforschung (vgl. Otte 2004, 2005; Rössel 2004, 2005, 2006; Hermann 2004; Meyer 2001) scheint ein Aspekt nicht strittig zu sein, nämlich dass zum (Lebens)-Stil das Moment der Wiederholung gehört. Als zentral für die Stilbildung werden habitualisierte und kohärente, also gewohnheitliche Verhaltensmuster angesehen, die im Lebenslauf „relativ stabil“ bleiben (vgl. Zapf et al. 1987, S. 14; Lüdtke 1989, S. 39f., Georg 1998, S. 92; Schulze 1992, S. 103; Otte 2004, S. 33; Hartmann, 1999, S. 47). In der empirischen Umsetzung des Lebensstilansatzes mit seinem Holismusanspruch bezüglich der Erfassung des lebensweltlichen Alltags (vgl. Müller 1992, S. 374; Georg 1998, S. 94; Hölscher 1998, S. 97; Zerger 2000, S. 115) führen clusteranalytischer Methoden zur Abgrenzung spezifischer Personenaggregate, den sogenannten Lebensstiltypologien. Wenn man sich diese Typologien daraufhin anschaut, ob und wie auch Facetten der Gewohnheit bzw. der Abwechslung darin eingegangen sind, so findet man in den einzelnen Studien folgende Hinweise.
Vielfalt der Lebensführung vs. Verharren auf einer begrenzten Menge lebensnotwendiger Ausgaben (vgl. Uusitalo 1979), Experiencers (Selbstverwirklichung durch aufregende Aktivitäten) (VALSTypologie: vgl. Mitchell 1983; SRI-BI 2007; Novak et al. 1992), Erkundung von Neuem versus Beharrung beim Alten (Research Institut on Social Change RISC, vgl. Hartmann 1999, S. 65), Spannungserlebnis und Lebensfreude („List of Values“: vgl. Kahle 1983; Bearden et al. 1993),
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Pflicht/Akzeptanzbedürfnisse vs. Entfaltungsbedürfnisse (vgl. Gluchowski 1987, 1988), Genussorientierte Extravertierte, Trendsensible, Produktinnovationsorientierte, generell Konsumfreudige, verhinderte Viel-Konsumenten, BilligKäufer, zurückhaltende Konsumenten, Preis-Leistungs-Käufer. (Verbraucher-Analyse Axel SpringerVerlag), Vergnügen vs. Enthaltsamkeit im Konsum, Bewegung vs. Beharren (modern, neugierig, innovationsaufgeschlossen, modebewusst vs. sicherheitsorientiert, traditionell, familien- und häuslich orientiert) und emotionalspontanes vs. abwägendes Handeln. (vgl. Cathelat/Matricon 1976; Cathelat 1990), Bewegen vs. Beharren und Güter vs. Werte (Euro-Styles: vgl. GfK-Holding 1993), „Bewegen vs. Bewahren“ und „Aktiv vs. Passiv“ (vgl. Lüdtke 1995), junge Fast-Food-Männer und alternative Hedonisten (vgl. Giegler 1994), Spannungsschema (vgl. Spellerberg 1996), Unterhaltungsmilieu (vgl. Schulze 1992), passiver Unterhaltungstyp (vgl. Otte 1997, 1998), hedonistisches Milieu (z.B. „etwas Starkes und Neues erleben“ oder „genießen und möglichst angenehm leben") (vgl. Sinus 1998; Vester 2001), Modernität vs. Traditionalität der Lebensführung, Hedonisten und Unterhaltungssuchende (vgl. Otte 2004), hedonistisch-expressiver, prestigebezogener und zurückhaltend-konventioneller Lebensstil (vgl. Georg 1995).
Diese Aufzählung macht deutlich, dass die Lebensstilforschung mit syndrombeschreibenden Typologien keine explizite Auskunft über die Verbreitung und strukturelle Differenzierung von Gewohnheit und Abwechslung in der alltäglichen Lebenswelt geben kann. Allerdings finden sich bei den meisten Lebensstiltypologien deutliche Hinweise, dass ein bipolares Syndrom der Tendenz zu Neuem und damit zur Abwechslung ein wichtiges differenzierendes Phänomen der Alltagslebenswelt zu sein scheint.
2.3 „Präferenz der Vielfalt“ in der Omnivorousness-Forschung Ausgangspunkt der omnivorousness-Forschung waren Studien von Peterson/Simkus (1992) und Peterson (1992), denen mittlerweile verschiedene Studien in USA und Kanada, Australien, Israel and Europa gefolgt sind (vgl. Peterson 2005, S. 261 für eine Übersicht).
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Nach Peterson (2005) hat die empirische Omnivorousness-Forschung folgende zentrale Befunde ergeben.
Die Wertschätzung einer größeren Vielfalt kultureller Genres weitet sich aus. Snob-Einstellungen werden ersetzt durch einen toleranten Pluralismus. Die Wertschätzung der Vielfalt (sei es als kulturelles Unterscheidungssymbol oder als kulturelle Toleranz) ist spezifisch für höhere Klassen, kulturelle Toleranz ist ein Ausschließungsmerkmal. Die kulturelle Kompetenz zur Vielfalt (am Beispiel des Wissens über Marktangebote) ist auch positionsspezifisch. Personen, die Leitungspositionen (Selbstständige, Manager) bekleiden, verwenden ein umfangreiches und vielfältiges Kulturwissen für ihre Abgrenzung von und Kommunikation mit unteren Statuspositionen (vgl. Erickson 1996).
Der Bourdieus Ansatz folgenden These des statusspezifischen Konsums (Homologiethese) steht die These der postmodernen Nivellierung gegenüber (vgl. Peterson 2005). Diese behauptet, dass durch die erweiterte Vielzahl angebotener kultureller Konsumformen eine feste Hierarchie kultureller Formen aufgelöst ist. Der kulturelle Geschmack ist nicht mehr sozio-ökonomisch bedingt. Die These des statusspezifischen Konsums bezieht sich nicht allein auf Klassik- und Opernmusik. Sie findet Unterstützung auch bezüglich anderer Konsumaktivitäten. So fanden Warde et al (1999) auch beim Restaurantbesuch eine soziale, statusdistinkte Differenzierung. Positive Korrelate der Vielfältigkeit bei Restaurantbesuchen waren hohes Haushalts- und individuelles Einkommen, Universitätsabschluss, mittleres Alter, Angestelltenstatus (Selbständige und Manager) und studentischer Status. Warde et al. (1999) interpretieren diese Ergebnisse als Hinweis, dass die soziale Klassenzugehörigkeit ein wichtiger Faktor auch für die Konsumvielfalt ist. Andererseits finden sie jedoch auch Ergebnisse für die These Ericksons (1996, S. 219), wonach die Vielfältigkeit kulturellen Wissens (zu dem auch die Kenntnis von Speisegaststätten gehöre) gerade bei Führungspositionen instrumentelle Distinktionsmerkmale seien. Erickson (1996) fand bei spezifischen Sportarten, spezifischen Kunstformen, kanadischen Büchern, Kettenrestaurants und populären Magazinen keine sozio-ökonomischen Kompetenz- und Präferenzunterschiede, sondern nur bezüglich des Wissens über populäre Sportarten, mainstream-Kunst, nicht-kanadische Bücher, bessere Restaurants und Business-Magazine. Erickson interpretiert diese als Hinweis, dass es sich um Konsumgüter handelt, die eine direkte Relevanz für Geschäftsaktivitäten haben. Warde et al (1999) argumentieren, dass insbesondere der vielfältige Besuch ausländischer Restaurantsbesonders statusdistinktiv sei. Demnach gäbe das
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„Auswärtsessengehen“ der Mittelklasse die Möglichkeit zur persönlichen SelbstVergewisserung, sowie die Gelegenheit,soziale Kompetenz zu zeigen und damit Anspruch auf sozialen Ausschluss zu erheben. Diese Aktivität habe so auch eine symbolische Funktion der Zugehörigkeit (Kommunikation nach innen) und Abgrenzung gegenüber Fraktionen der Mittelklasse.
2.4 Habit-Forschung Seit Ende der 90er Jahre beginnt sich eine sozialpsychologisch ausgerichtete Forschung empirisch mit dem Phänomen der Gewohnheit zu beschäftigen (vgl. Ouellette/Wood 1998)2. Die neueren Forschungsarbeiten, die vor allem von Arbeitsgruppen um Wendy Wood und Bas Verplanken durchgeführt werden, knüpfen an Triandis (1977) mit dem Nachweis an, dass Handlungen unter stabilen Randbedingungen im Zuge ihrer Habitualisierung ohne bewusste, explizite Handlungsabsichten ausgeführt werden (vgl. Ji Song/Wood 2006, Ouellette/Wood 1998; Gollwitzer 1999; Verplanken et al. 1998; Verplanken/Aarts 1999 Verplanken 2006;). Verplanken und Wood (2006, S. 92) sprechen davon, „that a habitual mind-set is characterized by shallow, abbreviated decision making about action”. Dabei können vorhergehende Handlungen, Umweltreize wie Uhrzeit oder Ort, innere Zustände wie bestimmte Stimmungen, oder spezifische Interaktionspartner als Signalreize des Gewohnheitsverhaltens wirken (vgl. Ji Song/Wood 2006; Ouellette/Wood 1998; Wood et al. 2005). Die Etablierung einer Gewohnheit ist ein nach Wood/Verplanken (2006, S. 93) kognitiver und motivationaler Prozess. Ein habit entsteht dadurch, dass im Gedächtnis Assoziationen zwischen den Handlungen und Merkmalen der Situation, in der die Handlungen wiederholt ausgeführt werden, gebildet werden. Verhalten und Verhaltenskontext werden im Gedächtnis zu Informationseinheiten sog. „chunks of information“, zusammengebunden (vgl. Neal et al. 2006). Diese Habitualisierung vermindert die Wahrnehmung von kleineren Situationsveränderungen (vgl. Fazio et al. 2000), begrenzt die Informationssuche (vgl. Verplanken et al. 1997) und reduziert das Nachdenken über alternative Handlungen (vgl. Betsch et al. 2001). Gewohnheiten werden weniger stark etabliert (Wood/Verplanken 2006) sprechen von Gewohnheitsstärke), wenn die Handlungsaufgabe komplex ist (vgl. Wood, et al. 2002). Außerdem erhöht hoher zeitlicher Druck die Wahr2
Zur Bedeutung von habits aus soziologischer und ökonomischer Sicht siehe Camic (1986), Brown (1952) und Spinnewyn (1981), sowie Esser (1990) und Bourdieu (1983).
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scheinlichkeit, dass etablierten Routinen gefolgt wird und einfachere Entscheidungsstrategien gewählt werden (vgl. Betsch et al. 1998). Charakteristisch für Gewohnheiten ist, dass mit minimaler Aufmerksamkeit effektiv gehandelt werden kann: schnell, leicht und ohne Anstrengung und damit auch parallel zu anderen Handlungen (vgl. Betsch et al. 2004; Heckhausen/Beckmann 1990; Verplanken 2006; Verplanken/Orbell 2003, Schneider/Shiffrin 1977). Da einmal gemachte Erfahrungen leichter zugänglich sind, scheinen für Individuen diese Erfahrungsinformationen relevanter (vgl. Menon/Raghubir 2003). Dem entspricht, dass Konsumenten häufig gekaufte, niedrigpreisige Verbrauchsgüter mit geringerer Involviertheit in einer habituellen Weise erwerben (vgl. Kujala/Johnson 1993). Solche Entscheidungen folgen einem „path of least resistance“, auf dem Individuen so wenig wie möglich kognitive Anstrengung für eine Entscheidung aufwenden brauchen (vgl. Choi et al. 2001). Diese Befunde verweisen auf eine grundlegende Disposition, die für die Gewohnheitsbildung wichtig sein könnte, nämlich die des „cognitive miser“ (kognitiver Geizhals). Aufgrund der begrenzten kognitiven Kapazität zur Verarbeitung von Informationen werden Heuristiken verwendet, wann immer es möglich ist, Strategien werden eingeschlagen, um komplexe Probleme zu vereinfachen, schnelle Antworten werden gegenüber genaueren, jedoch langsameren Lösungen bevorzugt3. Neben den kognitiven Prozessen, die die Ausbildung von Gewohnheiten begleiten, spielen auch motivationale Prozesse eine Rolle. Affektive, nicht bewusste Reaktionen auf Stimuli sind oft die ersten automatischen Reaktionen, die die weitere Informationsverarbeitung steuern (vgl. Bargh 1989). Verschiedene, unmittelbare Belohnungen durch incentives (Bequemlichkeit) und SelbstwertErhöhung wie z.B. durch shopping (vgl. Verplanken et al. 2005), verstärken bzw. beschleunigen die Gewohnheitsbildung.
3
Soziologisch-theoretische Ansätze
Im folgenden werden theoretischen Überlegungen von Bourdieu, Giddens und Bauman skizziert, die die Bedeutung des Ressourcenrahmens für Konsumvielfältigkeit unterstreichen. 3
Habituelle Assoziationen können auch durch konkrete Handlungspläne gebildet werden (vgl. Gollwitzer/Schaal 1998). Handlungspläne führen zum gewünschten, von der Gewohnheit abweichenden Verhalten, solange dieses als zielführend betrachtet wird. (vgl. Sheeran et al. 2005). Es gibt allerdings auch Befunde, dass bei starken Gewohnheiten, wie z.B. Essgewohnheiten, Handlungspläne wirkungslos bleiben (vgl. Verplanken/Faes 1999; Orbell/Verplanken 2006).
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3.1 Bauman: Idealtypische Konsumgesellschaft, Identität und Konsumvielfalt In seiner Diagnose der modernen Konsumgesellschaft beschreibt Bauman (2001)4 den idealtypischen Konsumenten. Dieser
kennt keine Routine, hat permanent die Freiheit zu wählen, legt Gewohnheiten einfach beiseite (S. 313). sucht augenblickliche Befriedigung, bindet seine Aufmerksamkeit nicht längerfristig (S. 314), sucht immer neue Sinneseindrücke und kennt keinen Aufschub der Belohnung. folgt keinen normativen Vorschriften (S. 318).
Weiterhin behauptet Bauman (2001), dass in der modernen Konsumgesellschaft jeder die Freiheit hat, seine Identität selbst aufzubauen. Es wird jedoch von ihm erwartet, dass seine Identität flexibel angelegt ist, geleitet vom Prinzip, sich alle Optionen bzw. soviel wie möglich an Optionen offen zu halten (Bauman 1998, S. 317). Und schließlich diagnostiziert Bauman (2001), dass der moderne Konsument sich einem Gütermarkt mit ständig neuen Versuchungen gegenübersieht, einem Gütermarkt, der unendlich erfindungsreich zeitlich begrenzte und vorübergehende Konsumgüter anbietet (Bauman 2001, S. 318), in dem der Konsument permanent neuen Versuchungen ausgesetzt wird, um in einem Zustand ständiger, nie nachlassender Erregung gehalten zu werden (vgl. Bauman 2001, S. 314). Ein Gütermarkt, in dem der Sinn der Konsumgüter darin besteht, aufgebraucht zu werden und zu verschwinden, um neuen Platz zu machen. In diesem Spannungsfeld von normativer Erwartung, faktischem Güterangebot und selbstverantworteter Identitätssicherung – so behauptet Bauman (2001) – ist die Lebensweise des modernen Konsumenten dadurch gekennzeichnet, dass er von Attraktion zu Attraktion lebt, täglich den Marktplatz besucht ( S. 315), um seiner internalisierten Pflicht zur freien Wahl zu genügen und Langeweile zu vermeiden (vgl. Bauman 2001, S. 319). Der Wunsch nach Identität und der Schrecken vor den Schwierigkeiten, diesen Wunsch zu befriedigen, mischen sich und bewirken, dass der moderne Konsument sich in seiner Identitätssicherung in andauernder Ambivalenz und Konfusion befindet (vgl. Bauman 2001, S. 317). Die Eigenschaften moderner Konsumgüter und die endemische Ambivalenz moderner Identität entsprechen sich (vgl. Bauman 2001, S. 318). Das gute Leben ist in dieser Konsumkultur ein Le4
In einer früheren Arbeit hat Bauman (1988) eine ähnliche Argumentation vorgetragen, auf die hier nicht eingegangen werden kann (vgl. Papastefanou 2007).
244
Georgios Papastefanou
ben, das gegen Langweile versichert ist, in dem ständig etwas passiert (vgl. Bauman 2001, S. 329). Das Verhindern der Langeweile und ihr Pendant, die Freiheit zu vielfältigen Konsumentscheidungen, die Freiheit zur Mobilität, die Fähigkeit, Raum und Zeit zu überwinden, ist das neue schichtende Merkmal der Gesellschaft (vgl. Bauman 2001, S. 330). Dementsprechend gilt, dass je höher die Position in der sozialen Hierarchie, umso größer die Konsumfreiheit, umso höher die öffentliche Achtung und der persönliche Selbstwert. Wohlstand und Einkommen sind nach Bauman die entscheidenden Determinanten der Konsumfreiheit (vgl. Bauman 2001, S. 320). Armut heißt dementsprechend Deprivation von der Konsumvielfalt. Bleibt noch festzuhalten, dass nach Bauman (1998), in dieser auf individuelle Erlebnisorientierung gerichteten Konsumgesellschaft, Konsum nicht als soziale, sondern rein auf sich selbst bezogene Handlung aufzufassen ist. „Consumption“ is thoroughly individual, solitary, and in the end lonely activity. There is no such thing as „collective consumption. Consumers are alone, even when they act together“ (Bauman 2001, S. 320).
3.2 Bourdieu: Habitus als Vermittlung von Kapitalausstattung und Lebenspraxis Im Kern geht Bourdieus Ansatz davon aus, dass die gegenwärtige soziale Lage und die soziale Lage, in deren Rahmen die Sozialisation verlaufen ist, sich in der alltäglichen Lebenspraxis widerspiegeln (Homologiethese). Vermittelt werden soziale Lage (die sich aus mehreren Kapitalsorten bzw. Ressourcen bildet) und Lebenspraxis durch den sogenannten Habitus. Der Habitus umfasst spezifische ästhetische Präferenzen (d.h. Wahrnehmung und Einstellungen gegenüber Konsumobjekten) und ein Motiv zur Abgrenzung bzw. Demonstration der Überlegenheit. Vielfältigkeit in der Lebenspraxis ist von Bourdieu nicht explizit als Ausdruck des klassenspezfisichen Habitus und des Überlegenheitsmotivs thematisiert worden. Mit Warde et al. (1999) kann man jedoch davon ausgehen, dass Vielfalt für die gebildete Mittelklasse einen eigenen Wert darstellt, als Folge ihrer finanziell unrestringierten Modeorientierung, als Ausprobieren und Innovationslust, mit der sie auf die Unruhe reagiert, die aus ihrer Behaglichkeit entsteht, als Mittel zur verfeinerten Exzellenz und als Richtwert der Unterscheidung von anderen.
Variatio delectat?
245
Außerdem wird am Beispiel der Studie von Erickson (1996) Bourdieus These der Umwandlung von Kapitalien konkretisiert: Erickson (1996) zeigte, wie vielfältiges, kulturelles Wissen dazu beiträgt, soziale Netzwerke und die Machtposition in einer betrieblichen Hierarchie zu festigen, indem es die Fähigkeit zur Kommunikation mit verschiedenen Gruppen erweitert.
3.3 Giddens: Strukturierung, Routinisierung, Ko-Präsenz In seiner Theorie der Strukturierung unterscheidet Giddens (1984) Ressourcen und Regeln (vgl. Giddens 1984, S. 69), wobei Ressourcen Gelegenheiten eröffnen oder schließen und Regeln sich auf die Konstituierung von Sinn und Sanktionierung sozialer Verhaltensweisen beziehen (vgl. Giddens 1984, S. 71). Diese Strukturen realisieren sich in routinisierten Alltagspraktiken und als Erinnerungsspuren des Verhaltens bewusst handelnder Subjekte leiten (Giddens 1984, S. 69). Routinen bestehen aus alltäglichen Handlungen, die gewohnheitsmäßig wiederholt werden. Sie sind ein Grundelement des alltäglich wiederholten Handelns (vgl. Giddens 1984, S. 36) und konstitutiv für soziale Institutionen; diese existieren nur kraft ihrer fortwährenden Reproduktion (vgl. Giddens 1984, S. 112). Nach Giddens (1984, S. 336) halten routinisierte und gewohnheitliche Alltagshandlungen ein Gefühl der Seinsgewissheit aufrecht, sie bändigen unbewus ste Spannungszustände, ordnen und rahmen den Alltag (vgl. Giddens 1984, S. 37). Die Routinisierung und Gewohnheit ist notwendig für psychologische Mechanismen, mit deren Hilfe in den täglichen Handlungen des gesellschaftlichen Lebens ein Gefühl des Vertrauens aufrechterhalten wird.Giddens betont, dass eine Vielzahl von Alltagshandlungen nicht direkt motiviert sind. Es besteht vielmehr eine generalisierte motivationale Bindung an gewohnheitsmäßige Praktiken über Raum und Zeit (vgl. Giddens 1984, S. 116). Durch Verfolgung täglicher Angelegenheiten werden die umfassenden Institutionen des modernen Kapitalismus konstituiert und reproduziert (vgl. Giddens 1984, S. 112). Dieser grundlegende Strukturierungsvorgang durch Interaktion von Struktur und Handlung findet nach Giddens immer in spezifischen Kontexten statt, die sich aus spezifischen Raum-Zeit-Grenzen, der Ko-Präsenz Anderer und der reflexiven Beachtung dieser Phänomene bestehen (Giddens 1984, S. 336). Insbesondere unter der Präsenz anderer verlaufen Strukturierungsprozesse intensiver. Dies kann bedeuten, dass – je nach Kontext – die differenzierende Wirkung von Strukturunterschieden auf gewohnheitliches Alltagsverhalten oder die Intensität ausgebildeter Routinen und Gewohnheiten unterschiedlich ist.
246 4
Georgios Papastefanou Empirische Studie – habituelle Variabilität bei Lebensmittelkäufen
4.1 Hypothesen zur Variabilität im Lebensmittelkauf Vor dem Hintergrund der oben betrachteten Forschungsergebnisse, erscheint es sinnvoll, Konsumvielfalt (variety) von Konsumvielfältigkeit (variability) abzugrenzen. Konsumvielfalt (variety) kennzeichnet die Breite des Konsums zu einem Zeitpunkt bzw. man kann sie auch als Streuung, Varianz oder Diversität des Konsums bezeichnen. Konsumvielfältigkeit bzw. Konsumabwechslung (variability) bezieht sich demgegenüber auf Unterschiede des Konsums über die Zeit, sie bezeichnet die Verlaufsmuster in einem Pfad konsekutiver Konsumhandlungen. Außerdem erscheint es notwendig, Konsummuster auch hinsichtlich ihrer Habitualisierung zu unterscheiden. Der zentrale Aspekt der Habitualisierung ist die Handlungswiederholung. Dies verweist aber umittelbar auf eine längsschnittliche Perspektive, die konsekutive Konsummuster als habitualisiert identifiziert. Vor diesem Hintergrund können zur Überprüfung drei Hypothesen formuliert werden. Sie lauten folgenermaßen: 1. 2.
3.
Prävalenzhypothese: Beim Lebensmittelkauf ist das vorherrschende Konsummuster die habitualisierte Konsumvariabilität (Bauman) Ressourcenhypothese: Je mehr sozio-ökonomische Ressourcen verfügbar sind, umso größer ist die habitualisierte Konsumvielfältigkeit beim Lebensmittelkauf (Bourdieu, Bauman). Ko-Präsenzhypothese: Sozio-ökonomische Ressourcen beeinflussen die habitualisierte Konsumvielfältigkeit (beim Lebensmittelkauf) nur dann, wenn andere Personen im Handlungskontext anwesend sind (Giddens).
4.2 Datengrundlage Die oben formulierten Hypothesen richten sich auf die zeitlichen Veränderungen innerhalb von Konsumhandlungsketten. Zur Operationalisierung bedarf es deshalb Longitudinaldaten (vgl. Luarn, Lin 2003), in denen die Alltagskäufe im Lebensmittelbereich über einen längeren Zeitraum erfasst sind. Dies kann nur in Verbraucherpanels erreicht werden. Im vorliegenden Fall standen die Daten des ConsumerScan Panels der GfK aus dem Jahr 1995 zur Verfügung. Die verwendete Stichprobe umfasste ca. 5000 Haushalte, die über ein Jahr kontinuierlich ein Haushaltsbuch führten und darin u.a. alle Käufe verpackter Lebensmittel notierten (für 29 Produktkategorien). In diesen Datensätzen, in denen die Kauf-Ereignisfolgen aufgezeichnet waren, standen neben Informationen
Variatio delectat?
247
über den genauen Zeitpunkt des Kaufs auch die zentralen Merkmale der gekauften Produkte, wie z.B. Preis, insbesondere aber eine anonymisierte Artikelnummer (vgl. Papastefanou, 2001), zur Verfügung.
4.3 Operationalisierungen 4.3.1 Habitualisierte Konsumvariabilität Da für die längschnittliche Operationalisierung von Kaufvariabilität ein längeres Zeitintervall mit einer hinreichend langen Handlungskette nötig erschien, andererseits aber die Zahl der verschiedenen Handlungspfade sehr groß, je länger die berücksichtigte Handlungskette wird, wurde die Analyse auf Kaufhandlungsketten von bis zu sechs sukzessiven Käufen beschränkt. Zur Operationalisierung der Konsumvariabilität kamen zwei Indikatoren in Frage, nämlich a) die relative Häufigkeit von verschiedenen Artikeln in der Kaufhandlungskette oder b) die Differenzierung von verschiedenen Kategorien von Kaufsequenzen. Dass der erste, einfacher zu berechnende Indikator mit einem Informationsverlust verbunden ist, zeigt die Gegenüberstellung von zwei möglichen Kaufsequenzen (siehe Abbildung 1 und 2). Dargestellt sind zwei Haushalte, die innerhalb des Beobachtungszeitraums sechs Käufe getätigt haben. Abbildung 1:
Kaufsequenz I
Quelle: Eigene Erstellung
Abbildung 2:
Kaufsequenz II
Quelle: Eigene Erstellung
248
Georgios Papastefanou
Für beide Haushalte würde ein Indikator relativer Häufigkeit der verschiedenen Artikel die gleiche Konsumvariabilität anzeigen, nämlich 0.5 (3 von 6 gekauften Artikeln sind verschieden). Betrachtet man sich jedoch das Sequenzmuster der beiden Fälle, so liegt es auf der Hand, dass man nicht bei beiden von gleicher habitualisierter Kaufvariabilität sprechen kann. Der Fall in Abb. 1 zeigt vier Veränderungen und der zweite Fall zwei Wechsel des gekauften Artikels. Das Prozedere zur Identifikation habitualisierter Kaufsequenzen bestand aus mehreren Schritten: a.
b. c. d.
e.
Zunächst wurde jede der Kaufentscheidungen mit einer binären Variable dahingehend markiert, ob es sich hierbei – verglichen mit dem davor gekauften Artikel – um einen Wiederholungskauf handelte oder nicht. Im zweiten Schritt wurden die so entstandenen Varianten der sechsstelligen binären Kombination ausgezählt. Im dritten Schritt wurde die Vielzahl der empirisch vorkommenden Sequenzmuster in sieben Sequenzmusterklassen zusammengefasst. Für die vorliegende Studie wurde das Auftreten eines dieser sieben Sequenzmuster untersucht; es umfasst alle Kaufreihen, in denen höchstens ein Wiederholungskauf vorkam. Die nun für jede Lebensmittelgruppe gegebene Information, ob diese Kaufreihe vorlag, wurde für jeden Haushalt über alle Lebensmittelgruppen zu einem einzigen Wert zusammengefasst. Man könnte diesen Indikator als „Allgemeine Intensität der habitualisierten Konsumvariabilität“ bezeichnen.
4.3.2 Ressourcenindikatoren Zur Operationalisierung der Ressourcen wurden folgende Indikatoren verwendet: Tabelle 1: Empirische Ressourcenindikatoren Ressource
Indikator
ökonomisch kulturell zeitlich
Haushaltsnettoeinkommen Allgemeine und beruflicher Bildungsabschluss des Hauptverdieners Monatlicher Umfang der Erwerbszeit der den Haushalt führenden Person Zweitwagen vorhanden Beruflicher Status (bereinigt um Haushaltseinkommen und Bildungsabschluss) Kabelanschluss Haushaltsformen: Alleinlebende Frau, alleinlebender Mann, Paar ohne Kinder, drei und mehr Erwachsene ohne Kinder, Alleinerziehende, Paar mit einem Kind, Paar mit zwei und mehr Kindern
symbolisch Marktzugang Ko-Präsenz
Quelle: Eigene Erstellung
Variatio delectat?
249
4.3.3 Methode: OLS regression model Zur Überprüfung der oben aufgestellten Hypothesen wurde folgende Regressionsgleichung aufgestellt und per OLS-Verfahren geschätzt. Allgemeine Intensität des Sequenztyp-4 = f (Nettoeinkommen, Schulbildung, Berufsbildung, beruflicher Lage, Erwerbsumfang, Zweitwagen, Kabelfernsehen, Haushaltsformen). Diese Regressionsgleichung wurde einerseits über alle Fälle, und andererseits jeweils getrennt für spezifische Haushaltsformen geschätzt.
4.4 Ergebnisse 4.4.1 Verbreitung von habitualisierter Konsumvariabilität In Tabelle 2 kann man feststellen, dass es sich bei der habitualisierten Konsumvariabilität um das typische, dominante Kaufmuster bei Lebensmitteln handelt. Darüberhinaus ist zu sehen, dass die Verbreitung der habitualisierten Konsumvariabilität je nach Produktgruppe deutlich verschieden ist. Sie reicht von 86 Prozent bei Fertiggerichten bis zu 39 Prozent bei Nahrungsfetten. Dieses Ergebnis ist konsistent mit dem in der Marktforschungsliteratur weithin berichteten Befunden. Tabelle 2: Anteil der Typ4-Sequenzmusters in einzelnen Produktgruppen Produktgruppe Komplettmenüs in Schalen Backmischungen Instantfertiggerichte, - suppen, -eintöpfe Teilfertiggerichte in Dosen Trockenfertiggerichte Speisesalz Reis Backpulver, Hefe, Vanillinzucker Knabbergebäck Fertigkuchen Herbstartikel (Lebkuchen etc.) Salatsaucen, Mayonnaise, Remoulade Knäckebrot Kartoffelfertigprodukte
Anteil der Typ-4 Sequenzmuster (%) 86 85 83 83 82 81 75 74 71 70 68 68 66 64,6
Produktgruppe Ketchup, Würzsaucen, Tomatenmark Eiscreme Mehl Geflügel Joghurt Feinkostsalate Süßgebäck geröstete Cocktailartikel Sauerkonserven, Krautkonserven Teigwaren Dosenmilch, Kaffeesahne, Kaffeeweißer Tiefkühlkost Gemüsekonserven Nahrungsfette
Quelle: Eigene Berechnungen der ZUMA-Verbraucherpaneldaten 1995
Anteil der Typ-4 Sequenzmuster (%) 58,84 58,17 57,49 57,49 56,74 55,47 54,05 52,02 50,61 50,23 50,23 47,29 42,61 39,17
250
Georgios Papastefanou
4.4.2 Ressourcen und Konsumvariabilität Die Schätzung des allgemeinen Regressionsmodells zur Überprüfung der Ressourcenhypothese erbrachte folgende Ergebnisse (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Effekte auf die Sequenz-Typ4-Intensität (Constant)
16,2
Zwei Erwachsene ohne Kinder
Hauptverdiener Realschulschulabschluss 0,1
Alleinlebende Frauen
-4,7
Alleinlebende Männer Drei und mehr Erwachsene Alleinerziehend Zwei Erwachsene mit einem Kind
-7,8 1,3 -1
Zwei Erwachsene mit zwei oder mehr Kindern
Hauptverdiener Hauptschulabschluss
Hauptverdiener Abitur Hauptverdiener ohne Berufsabschluss
0,1
Hauptverdiener mit Berufsabschuss Hauptverdiener Angestellter
1,2
1,1
Hauptverdiener Landwirt
-2,3
2,5
Hauptverdiener Selbstständig
0,3
Hauptverdiener Freie Berufe
-1,1
Hauptverdiener Beamter Hauptverdiener Arbeiter Hauptverdiener erwerblos housekeeper* nicht erwerbstätig housekeeper voll erwerbstätig housekeeper halbtags erwerbstätig housekeeper gelegentlich erwerbstätig KabelTV nicht vorhanden KabelTV nicht vorhanden
-0,1 0,5 1
Nettoeinkommen unter 1000 (DM) 1000-1250 1250-1500 1500-2000 2000-2500 2500-3000 3000-3500 3500-4000 4000-4500 4500-5000 5000-5500
1,6 2,1 2,1 2,2 2,1 2,5 3,1 3,3 1,9 3,6
5500 und mehr
2,8
-1 0 0 0,7
(b-Koeffizienten, fett gedruckte Zahlen zeigen Signifianz p<0.05, die Vergleichsgruppe ist unterstrichen. * housekeeper = Haushaltsführende Person
Quelle: Eigene Berechnungen der ZUMA-Verbraucherpaneldaten 1995
Man kann feststellen, dass die Haushaltsform mit unterschiedlichen Intensitäten der habituellen Konsumvariabilität verbunden ist. Dabei scheint in erster Linie eine Rolle zu spielen, wieviele Personen in einem Haushalt leben. Je mehr Personen ko-präsent sind, umso höher ist die Variabilität des Lebensmittelkonsums in diesem Haushalt. Offen bleibt, ob die Präsenz von Kindern, unabhängig davon, dass sie den Haushalt vergrößern, einen eigenständigen Einfluss auf die Variabilität des Warenkorbs hat. Das Nettohaushaltseinkommen weist einen positiven Effekt auf, allerdings scheint dieser Effekt nicht linear zu sein. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der untersten und den anderen Einkommensgruppen, und andererseits ein Mehr an Variabilität bei Haushalten, die sich in der oberen Hälfte der Einkommensskala befinden.
Variatio delectat?
251
Der allgemeine Bildungsstatus des Haushalts scheint in einer übergreifenden Betrachtung, über alle Haushalte hinweg, keine Rolle für den Grad der Konsumvariabilität des Haushalts zu spielen. Nur wenn der Hauptverdiener des Haushalts einen beruflichen Bildungsabschluss hat, verglichen mit den Haushalten, in denen der Haupteinkommensbezieher ohne Berufsabschluss ist, ist dies mit einer größeren Variabilität des Lebensmittelkonsums im Haushalt verbunden. Haushalte, die aufgrund der beruflichen Stellung des Haupteinkommensbeziehers als Arbeiter bzw. als untere Statusgruppen gelten können, weisen eine höhere Konsumvariabilität auf als Haushalte mit höherem Status. Festzuhalten bleibt zudem, dass die volle Erwerbstätigkeit der haushaltsführenden Person (i.d.R. die Ehefrau) die Konsumvariabilität des Haushalts verringert. Schließlich kann man feststellen, dass Zugang des Haushalts zum Kabelfernsehen, und damit die Möglichkeit des werblichen Zugangs, die Variabilität des Lebensmittelkonsums des Haushalt signifikant vergrößert. Insgesamt und mit Blick auf die oben aufgestellten Hypothesen kann man an dieser Stelle festhalten, dass die Ressourcenhypothese nur teilweise Bestätigung findet. Finanzielle Ressourcen scheinen auch im Lebensmittelkonsum eine begrenzende Bedeutung für die faktische und habituelle Nutzung des vielfätigen Sortiments zu haben. Und dies gilt offenbar nicht nur als eine Grenze zwischen armen Haushalten (der untersten Einkommensgruppen) und nicht-armen Haushalten, sondern verstärkt sich auch in den oberen Einkommensbereichen. Die allgemeine These, dass die Ungleichheit kultureller Ressourcen sich auch in unterschiedlicher Konsumvariabilität spiegelt, konnte in dieser Analyse nicht bestätigt werden. Der allgemeine Bildungsstatus wirkt sich auf die habituelle Variabilität nicht aus. Allerdings muss man offenbar den Bildungsstatus differenzierter betrachten. Haushalte, in denen der Haupteinkommensbezieher einen berufsqualifizierten Bildungsabschluss hat, weisen tatsächlich eine höhere Konsumvariabilität auf, als Haushalte, bei denen der Haupteinkommensbezieher keine Berufsausbildung hatte. Auch hinsichtlich der symbolischen Ressourcen (Prestige), wie sie sich im beruflichen Status nach Kontrolle von Einkommens- und Bildungskorrelaten widerspiegeln, mit einem Befund konfrontiert, der unerwartet ist. Haushalte, die man aufgrund des Berufsstatus des Haupteinkommensbeziehers (Arbeiter, Erwerbslose), als Niedrig-Status-Gruppen bezeichnen würde, weisen eine höhere habituelle Konsumvariabilität auf als Gruppen mit höherem Haushaltsstatus. In Erweiterung der sozio-ökonomischen Ressourcenhypothesen konnten zudem Hinweise gefunden werden, dass auch Zeit und Medienzugang als Strukturressourcen wirken, von denen die habituelle Konsumvariabilität im Lebensmittelbereich auch abhängt.
252 4.4.3
Georgios Papastefanou Ko-Präsenz und Konsumvariabilität
Zur Untersuchung der Ko-Präsenz-Hypothese wurde das Ressourcenmodell der habituellen Konsumvariabilität getrennt für einzelne Haushaltsformen geschätzt. Die Ergebnisse sind insgesamt sehr disparat und heterogen und bedürften einer eingehenden Betrachtung, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann (vgl. hierzu Papastefanou 2007). Zwei bemerkenswerte Befunde können jedoch exemplarisch festgehalten werden: Die erklärte Varianz der einzelnen, haushaltsspezifischen Ressourcenmodelle liegt niederiger als die des Gesamt-Modells. Dies wies eine erklärte Varianz von ca. 14 Prozent auf, bei den einzelnen Haushaltsmodellen liegt die erklärte Varianz zwischen fünf und acht Prozent. Bei den Haushalten mit einem alleinerziehenden Elternteil erweist sich die Ressourcenlage jedoch als deutlich gewichtiger, sie erklärt immerhin 25 Prozent der Varianz der habituellen Konsumvariabilität dieser Haushalte. Es ist deshalb von Interesse, das Wirkungsmodell für diese Haushaltsform genauer zu betrachten (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Ressourceneffekte auf die allgemeine Intensität des Sequenztyp4Musters bei Haushalten mit einem Erwachsenen und Kindern. Konstante
13,2
Nettoeinkommen unter 1000 DM
Hauptverdiener ohne Berufsabschluss Hauptverdiener mit Berufsabschuss
-5,2
1000-1250 DM
4,5
Hauptverdiener Angestellter
1250-1500 DM
2,5
Hauptverdiener Landwirt
1500- 2000 DM
0,7
Hauptverdiener selbstständig
2000- 2500 DM
4,5
Hauptverdiener Freie Berufe
4,5
2500- 3000 DM
-0,6
Hauptverdiener Beamter
-8,3
3000- 3500 DM
2,3
Hauptverdiener Arbeiter
-0,7
3500- 4000 DM
3,2
Hauptverdiener erwerblos
4000- 4500 DM
5,4
housekeeper * nicht erwerbstätig
3
4500- 5000 DM
4,7
housekeeper voll erwerbstätig
5000- 5500 DM
-3,9
housekeeper halbtags erwerbstätig
8,1
5500 DM und mehr
housekeeper gelegentlich erwerbstätig
1,4
Hauptverdiener Hauptschulabschluss
KabelTV nicht vorhanden
Hauptverdiener Realschulschulabschluss Hauptverdiener Abitur
3,6
4,2
KabelTV nicht vorhanden
3,8
(b-Koeffizienten, fett gedruckte Zahlen zeigen Signifikanz p<0.05 an , die Vergleichsgruppe ist unterstrichen * housekeeper = Haushaltsführende Person
Quelle: Eigene Berechnungen der ZUMA-Verbraucherpaneldaten 1995
1,4
Variatio delectat?
253
Die finanziellen Ressourcen scheinen in dieser Kopräsenz-Situation keine restringierende bzw. mobilisierende Wirkung auf die Variabilität des Lebensmittelkonsums dieser Haushalte zu haben. Man kann jedoch feststellen, dass bei diesen Haushalten, in denen ein Erwachsener mit Kindern zusammenlebt, insbesondere die allgemeine Bildungsressource zur Steigerung der Konsumvariabilität beiträgt. Die berufliche Qualifikation als kulturelle Ressource wirkt jedoch anders als allgemein in der Bevölkerung. Alleinerziehende ohne berufliche Qualifikation weisen für ihren Haushalt eine höhere habituelle Konsumvariabilität auf als solche mit beruflicher Qualifikation. Während also in den unteren Allgemeinbildungsgruppen weniger Abwechslung im Lebensmittelkonsum praktiziert wird als in den oberen Bildungsgruppen (wobei es keinen Unterschied zwischen mittleren und höheren Bildungsgruppen gibt), wirkt sich die berufliche Qualifikation entgegengesetzt aus. Auch für die Folgen des Umfangs der Erwerbszeit spielt die Haushaltskonstellation eine Rolle. Konsumvariabilität ist hier größer, wenn der oder die Alleinerziehende neben der Berufstätigkeit auch erwerbsfreie Zeit zur Verfügung hat. Im allgemeinen wirkt sich dagegen nur volle Berufstätigkeit als variabilitätsreduzierend aus. Weiterhin ist es interessant, dass der berufliche Status, der hier aufgrund der Kontrolle von Bildung und Haushaltsnettoeinkommen als Indikator des Prestigestatus interpretiert werden kann, durchaus als Randbedingung für die Konsumvariabilität wirkt. Allerdings zeigt sich dies nur im Unterschied zwischen allein erziehenden Angestellten und Beamtenhaushalten. Letztere haben eine deutlich geringere habituelle Konsumvariabilität als Haushalte anderer Statusgruppen. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die allgemein signifikante Wirkung des KabelTV-Zugangs auf die Konsumvariabilität sich bei Haushalten mit Alleinerziehenden nicht wiederfindet.
5
Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlußfolgerungen hinsichtlich der Hypothesen
Die Prävalenzhypothese konnte in den deskriptiven Ergebnissen eine eindeutige Unterstützung erhalten. D.h., habituelle Konsumvariabilität beim Lebensmittelkonsum war Mitte der 90er Jahre das vorherrschende Konsummuster. Der finanzielle Ressourceneffekt ist vorhanden, aber nicht linear. Untere Einkommensgruppen weisen weniger Kaufvariation auf. Der Einkommenseffekt ist besonders bei alleinlebenden Frauen zu finden. Es ist kein allgemeiner schulischer Bildungseffekt festzustellen, jedoch deutlich bei Alleinerziehenden und moderat bei größeren Erwachsenenhaushalten. Haushalte, in denen der Hauptverdiener einen qualifizierten Berufsabschluss hat, weisen mehr Konsumvariabilität auf. Dies gilt
254
Georgios Papastefanou
jedoch nicht bei alleinlebenden Männern. Bei Alleinerziehenden mit Berufsabschluss wird die Abwechslungsbereitschaft deutlich reduziert. Die Wirksamkeit des beruflichen Status ist insgesamt nicht schlüssig beobachtbar. Erwerbsfreie Zeit wirkt als Ressource, die zur Erweiterung der habituellen Konsumvariabilität beiträgt. Zugang zum Kabelfernsehen wirkt sich auf das Konsummuster der Haushaltes aus, es erhöht tendenziell die habituelle Konsumvariabilität. Allerdings nur dann, wenn der Haushaltskontext aus Paaren ohne Kinder und Paaren mit mehr als zwei Kindern gebildet wird. Insgesamt erweist sich die Ko-Präsenz anderer Personen im Haushaltskontext als ein wichtiger differenzierender Faktor der Ressourcenwirkung auf habituelle Konsumvariabilität bei Lebensmittelkäufen. Dieser Kontext verstärkt manche Ressourceneffekte und schwächt andere ab. In den vorliegenden Ergebnissen ist jedoch kein eindeutiger Mechanismus erkennbar. Insgesamt bieten die Ergebnisse dieser Studie nur teilweise eine Bestätigung der allgemeinen Homologiethese. Vor allem, wenn der Haushaltszusammenhang differenziert betrachtet wird, werden Zusammenhänge sichtbar, die nicht eindeutig mit einer Ressourcenhypothese vereinbar sind. Dies mag auch daran liegen, dass eine allgemeine Intensität der Konsumvariabilität untersucht wurde. Um hier empirisch weiter zu kommen, ist es in weiteren Untersuchungen notwendig, stärker einem produktspezifischen Ansatz zu folgen. Allerdings sollte dabei vermieden werden, nur ausgewählte Produkte zu untersuchen, sondern – soweit möglich – das umfängliche Spektrum von Konsumentscheidungen z. B. im Lebensmittelmarkt zu berücksichtigen. Dies schließt an die Forderung an, die Peterson (2005, S. 265) z.B. für die omnivorousnessForschung stellt. Eine Möglichkeit, dies in einem quantitativen Modell zu berücksichtigen, bestünde darin, die Einkommenselastizität der einzelnen Produktgruppen als Variabilitätsfaktor hinzuzunehmen. Die hier gewählte longitudinale Operationalisierung von Konsumvariabilität und deren Habitualisierung erbrachte den Befund, dass (im Lebensmittelbereich) Abwechslung das dominante Gewohnheitsmuster ist. Studien, die auf experience sampling und Tagebuch-Methoden beruhen, berichten, dass 45 Prozent der alltäglichen Handlungen Gewohnheiten darstellen (vgl. Wood/Quinn 2005; Wood et al. 2002, S. 100). Für die Sozialstrukturforschung bedeuten diese Ergebnisse, dass es lohnend zu sein scheint, die Rahmeneffekte von Ressourcen und ihrer Kontexte auf die Herausbildung von Gewohnheitsmustern empirisch genauer zu untersuchen.
Variatio delectat? 6
255
Literatur
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Georgios Papastefanou
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Der ältere Konsument – Marktchancen im demographischen Wandel Sebastian Langguth und Heinz Kolz Sebastian Langguth und Heinz Kolz Der ältere Konsument – Marktchancen im demographischen Wandel Mit dem demographischen Wandel wird der Anteil älterer Konsumenten deutlich steigen. Bereits heute haben ältere Generationen in den Industrieländern eine erhebliche Nachfragemacht, wobei die älteren Kunden nicht nur immer zahlreicher werden, sie werden darüber hinaus auch immer konsumfreudiger. Das Verhalten der meisten Unternehmen entspricht jedoch nicht diesen Erkenntnissen. Im Gegenteil: Für viele Unternehmen sind ältere Konsumenten noch immer ein „unbekanntes Wesen“. So existieren bislang nur einige wenige Produkte und Dienstleistungen, die auf die Bedürfnisse und Wünsche Älterer abgestimmt sind.
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Einleitung
Wie viele andere Industrienationen steht Deutschland vor einem nachhaltigen demographischen Wandel. Aufgrund anhaltend niedriger Geburtenraten und einer stetig steigenden Lebenserwartung geht die Bevölkerungszahl insgesamt zurück. Des Weiteren sinkt der Anteil jüngerer Menschen an der Gesamtbevölkerung, der Anteil der Älteren dagegen steigt. War vor 50 Jahren jeder Dritte unter 20 und nur jeder Siebte älter als 59, so ist heute lediglich jeder Fünfte unter 20, dagegen erreicht schon fast jeder Vierte das Seniorenalter. Im Jahr 2050 wird gar jeder Dritte bereits älter als 60 Jahre sein und nur noch jeder Sechste unter 20 (vgl. Statistisches Bundesamt 2003, S. 28ff.; Birg 2004, S. 21f.). Ein zentrales Merkmal des Bevölkerungswandels ist letztlich seine Langfristigkeit – kurz- und mittelfristig wird er nicht aufzuhalten sein – selbst eine sprunghafte Erhöhung der Geburtenrate würde erst in vielen Jahrzehnten das Geburtendefizit ausgleichen (vgl. Birg 2001, S. 114ff.). Zuwanderungen werden das negative Bevölkerungswachstum zwar verlangsamen, das entstehende Geburtendefizit langfristig jedoch nicht kompensieren können (vgl. Statistisches Bundesamt 2003, S. 26f.; Deutscher Bundestag 2002, S. 33). Die Herausforderungen, die mit der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung einhergehen, sind dabei nicht nur auf das Rentensystem beschränkt. Es sind nachhaltige Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen
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und gesellschaftlichen Lebens zu erwarten und in Teilen schon heute erkennbar. Ob nun Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, den Konsum, soziale Sicherungssysteme oder das Gesundheitswesen; nicht wenige befürchten enorme Probleme für Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2004, S. 9). Da sich demographische Veränderungen kurz- und mittelfristig nicht umkehren lassen, ist eine Auseinandersetzung mit dem Bevölkerungswandel unverzichtbar. Eng mit dem demographischen Wandel ist auch das Thema Wertewandel verbunden. Ein neues Selbstbild des Alters und andere Konsumgewohnheiten der Senioren stellen Unternehmen – vom Tourismuskonzern bis zum Einzelhändler, vom Pharmahersteller bis zum Telekommunikationskonzern – vor große Herausforderungen. Dies verweist auf eine zentrale Ambivalenz: Vorwiegend junge Ingenieure, Designer oder auch Marketing-Experten entwickeln Produkte und Dienstleistungen für Altersgruppen, deren Lebenswelt sie nur von außen kennen. Mangelndes Einfühlungsvermögen und mangelnde Kenntnisse über die Bedürfnisse und Wünsche älterer Konsumenten sind häufig die Ursache für eine Entwicklung von Produkten, die nicht an den tatsächlichen Erwartungen der Zielgruppe orientiert sind (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 11). Der folgende Beitrag versucht im Rahmen eines allgemeinen Überblicks darzustellen, welche grundlegenden Auswirkungen durch eine Zunahme älterer Konsumentengruppen auf die Märkte zu erwarten sind, welche Ansprüche und Bedürfnisse diese aufweisen und wie sich Chancen und Lösungsansätze für Hersteller von Produkten und Dienstleistungen darstellen können.
2
Wertewandel und Konsumnachfrage – Bedeutungsgewinn älterer Konsumenten
Der Wertewandel hat die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren stark geprägt. Er beschreibt im Kern die Verschiebung sozialer Werthaltungen von einer „Akzeptanz- und Pflichtkultur“ hin zu einer „Kultur der Selbstverwirklichung“. Waren in den 1950er Jahren Werte wie Pflichterfüllung, Leistung, sicheres Einkommen, Familie und eheliche Treue von großer Bedeutung, so hat sich ab 1965 ein grundlegender Wandel vollzogen. In den Folgejahrzehnten haben Werte wie persönliche, politische und geistige Selbstverwirklichung immer mehr an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig haben sich aber auch die Lebensformen und die Lebensstile verändert und pluralisiert. Haben früher Herkunft, Geschlecht, Religion etc. die Biographien und Lebensstile in nahezu festgelegte Bahnen gelenkt, so haben diese Einflussfaktoren heute gravierend an Lenkungsmacht verloren. Vielmehr ist es heute eine Frage der individuellen Entscheidung,
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wie man lebt, welchen Beruf man ausübt, mit wem man zusammenlebt, ob man Kinder bekommt oder nicht (vgl. Burmeister/Daheim 2004, S. 176ff.; Deutscher Bundestag 2002, S. 38ff.). Im Zusammenhang mit anderen einschneidenden Einflüssen wie der Globalisierung, der gestiegenen Mobilität und der zunehmenden Flexibilisierung von Arbeitsformen und -zeiten haben sich auch die traditionellen Muster der Lebensbiographie verschoben und diversifiziert. Die klassische Dreiteilung der Lebensbiographie – Kindheit/Jugend, Erwerbsleben/Familienphase und Rente – wird zusehends durch eine fünfteilige Lebensbiographie ersetzt. So schließt sich an die Phase der Jugend die so genannte Postadoleszenz an, begründet beispielsweise durch längere Ausbildungszeiten. Viele der jungen Menschen leben in dieser Phase noch zu Hause und sind häufig finanziell von den Eltern abhängig. Doch nicht nur die Jugend- und Erwerbsleben/Familienphase hat sich gewandelt, sondern auch die Zeit danach. Hier schließt sich eine neue Phase an, die allgemein als „Viertes Lebensalter“ oder „neuer Aufbruch“ bezeichnet wird und in dem sich die so genannten „neuen Älteren“ befinden. Diese Phase ist dabei nicht mehr von Ruhe oder Routine geprägt, sondern von einer Neuorientierung. Primär in der Lebensphase ab 50 findet oft ein kompletter Neuanfang statt. So ist in diesem Alter die Kindererziehung zumeist abgeschlossen, viele Ehen und Beziehungen kommen auf den Prüfstand. Viele Menschen trennen sich und gründen häufig mit einem neuen Partner einen neuen Haushalt. In der Literatur wird dieser Lebensabschnitt häufig als so genannte „empty-nest-Phase“ bezeichnet (vgl. Müller 1992, S. 32). Aktive und gesunde Ältere ziehen häufig noch einmal um, verreisen viel, lernen neue Sportarten, beginnen ein Studium oder engagieren sich ehrenamtlich. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem gesundheitliche Beeinträchtigungen den Bewegungsradius einschränken, lässt diese aktive Phase nach. Gerade bei älteren Generationen zeichnet sich in den letzten Jahren ein deutlicher Wandel ab, beispielsweise in Hinblick auf veränderte Einstellungen zu Ruhestand, Freizeit und Konsum. Viele Ältere nehmen das Altwerden heute positiv wahr, sie bleiben länger gesund, mobil und aktiv. Gleichzeitig sind die Älteren heute gebildeter als frühere Seniorengenerationen, haben erweiterte finanzielle Spielräume und weniger Verpflichtungen (vgl. Deutsche Bank Research 2003 S. 4; Burmeister/Daheim 2004, S. 179f.). Hauptsächlich jedoch hat sich die Genuss- und Konsumorientierung der Älteren stark erhöht. Beispielsweise will sich heute die Hälfte der Bevölkerung im Alter von 50 bis 79 Jahren ein schönes Leben machen, anstatt zu sparen. Ältere werden so wegen ihrer steigenden Konsumneigung und wegen ihrer hohen Nachfragestärke zu einer zentralen Zielgruppe der Wirtschaft. Allein die Bevölkerung ab 65 Jahre besitzt über 30 Prozent des gesamtdeutschen Vermögens. So sind die deutschen Seniorenhaushalte schon heute nachfragestark. Im Durch-
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schnitt verfügen die über 65-Jährigen von heute über ein Haushaltsbruttoeinkommen zwischen 2.000 und 2.400 Euro, das sind bis zu 500 Euro mehr als bei der Gruppe der bis zu 25-Jährigen (Roman Herzog Institut 2004, S. 34f.; Burmeister/Daheim 2004, S. 180f.). Wie bereits angedeutet, ist es auch um die Vermögensstruktur älterer Menschen gut bestellt. So ist das Vermögen von Haushalten mit älteren Haushaltsvorständen (ab 65 Jahre) zwischen 1993 und 2003 deutlich stärker gestiegen als im gesamtdeutschen Durchschnitt. Während über alle Haushalte betrachtet das durchschnittliche Nettogesamtvermögen in diesem Zeitraum um rund 26 Prozent angestiegen ist, betrug diese Steigerung bei Seniorenhaushalten 40 Prozent. Neben Einkommen bzw. Vermögen sind weitere Einflussfaktoren auf den Konsum auszumachen, so beispielsweise die so genannte „Konsumquote“ (Anteil der Konsumausgaben am verfügbaren Einkommen). Diese sinkt bis zur Altersgruppe der 45- bis 54-Jährigen kontinuierlich (auf 74 Prozent) und steigt danach wieder an. Im Jahr 1998 lag die Konsumquote bei Haushalten, deren Haupteinkommensbezieher 70 Jahre und älter war, bei 83 Prozent. Erkennbar wird so, dass während der Erwerbsphase verstärkt gespart wird, danach aber ein größerer Prozentsatz des verfügbaren Einkommens konsumiert wird (vgl. Deutsche Bank Research 2002, S. 31; Deutsche Bank Research 2003, S. 4; Roman Herzog Institut 2004, S. 35). Des Weiteren wird die finanzielle Situation zukünftiger Senioren maßgeblich durch Erbschaften bestimmt werden. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird so viel Vermögen vererbt werden wie nie zuvor. Altersforscher erwarten dabei jedoch eine Veränderung des zeitlichen Ablaufs, in dem diese Erbschaften auf die nachfolgende Generation übertragen werden. War die Erbschaft früher häufig mit der Existenz- bzw. Familiengründung in Verbindung stehend, wird heute im Durchschnitt biographisch deutlich später geerbt. Diese Tendenz wird sich fortsetzen; Erbschaften verschieben sich entsprechend der längeren Lebensdauer der Erblasser und erreichen den Erbnehmer oft erst selbst kurz vor dem Übergang in den Ruhestand und kommen dementsprechend erst in seinem letzten Lebensabschnitt zum Tragen. Weiterhin werden künftig auch größere Gruppen der Bevölkerung von Erbschaften profitieren, als dies heute der Fall ist. Diese Erbschaften fließen oft in bereits bestehendes Vermögen ein. Aus diesem Grund und aufgrund der steigenden Volumina dieser Erbschaften, die den Umfang heutiger Erbschaften deutlich übertreffen, kann ein großer Teil der älteren Bevölkerungsteile als Element des Konsums und der Altersvorsorge auf diese Ressourcen zugreifen (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S.4; Roman Herzog Institut 2004, S. 36f.; Shell Deutschland Oil 2003, S. 13). Dieser Entwicklung entsprechen wiederum die angesprochenen Werteveränderungen, da vielerorts die Vererbungsmentalität der Nachkriegszeit dem
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Wunsch weicht, Teile seines Vermögens selbst zu konsumieren. So ergab eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), dass heute doppelt so viele Senioren wie noch vor einem Jahrzehnt bereit sind, ihr Geld auch auszugeben (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 4f.). Zwar ist es schwierig, zukünftiges Konsumverhalten Älterer aus dem Konsumverhalten heutiger Senioren abzuleiten und die heutige finanzielle Ausstattung von Senioren in die Zukunft fortzuschreiben, dennoch wird sich die erhebliche Marktmacht Älterer auf verschiedene Bereiche auswirken, beispielsweise bei der Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse Älterer, bei Verpackungsnormen, bei der Bedienbarkeit von Haushaltsgeräten oder bei der Entwicklung neuer Industriestandards. Erste Ansätze zeigen sich vereinzelt im Bereich der Werbung oder der Produktgestaltung (vgl. Deutscher Bundestag 1998, S. 247f.).
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Heterogenität im Alter – Eine Typologie der älteren Bevölkerung Deutschlands
Das Alter hat eine Vielzahl von Gesichtern, vergleichbar dem breiten Spektrum unterschiedlicher Jugendkulturen. Gerade in der Gruppe der Älteren wächst die Heterogenität sogar. So spielt mit der wachsenden Zahl an Lebensjahren neben dem kalendarischen vor allem das „gefühlte Alter“ eine zunehmende Rolle. Das gefühlte weicht oft deutlich vom kalendarischen ab, ist doch ersteres stark von der physischen und psychischen Konstitution des Einzelnen geprägt. Diese wiederum wird neben Veranlagung und Lebensweise nicht zuletzt von der Qualität der ärztlichen Versorgung beeinflusst. So wächst innerhalb einer Generation mit zunehmendem Alter das Spektrum an Fähigkeiten, Einschränkungen und Bedürfnissen. Zum anderen wächst die Heterogenität im Alter auch von Generation zu Generation. Viele Ältere erleben heute eine finanzielle Unabhängigkeit, medizinische Unterstützung und räumliche Mobilität, wie es sie noch nie zuvor gab. Diesen Älteren stehen aber weiterhin jene gegenüber, denen solche Möglichkeiten aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen versperrt bleiben (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 7). In einigen Untersuchungen wurde dieser Heterogenität mit der Entwicklung verschiedener Senioren-Typologien Rechnung getragen. Exemplarisch sei hier die bereits in den frühen 1990er Jahren durch die Bayerische Rundfunkwerbung (BRW) erarbeitete Studie „Ab 50-Jährige“ erwähnt, die vier Typen von Älteren unterscheidet:
Typ 1: Die aktiven, flexiblen Älteren: Ihr Anteil an den Erwachsenen über 49 Jahre beträgt 22 Prozent, was annähernd 6,3 Millionen Bundesbürgern entspricht. Dieser Typ besitzt ein sehr breites Interessenspektrum und ist
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Sebastian Langguth und Heinz Kolz voller Pläne und Ideen. Seine sehr aktive, positive Lebenseinstellung ist gepaart mit einem breiten Informationsinteresse und erstreckt sich auch auf seine deutlich positive und tolerante Einstellung zur Werbung. Diese Personen sind sehr probierfreudig (Hang zum Markenwechsel) und markenorientiert. Weiterhin leben sie überwiegend mit einem Partner (82 Prozent) und sind häufig noch berufstätig. Ihr sozialer Status ist relativ hoch. Die aktiven, flexiblen Älteren ähneln in ihren Einstellungen sehr stark jüngeren Gruppen bzw. übertreffen diese sogar häufig in ihrer positiven, aufgeschlossenen Haltung. So zeichnet sie eine sehr hohe Lebenszufriedenheit aus. Typ 2: Die aufgeschlossenen, interessierten Älteren: Sie stellen mit 31 Prozent die größte Gruppe unter den Älteren, etwa 8,9 Millionen Bundesbürger. Dieser Typ ist ebenfalls an Neuem interessiert, informationsorientiert, auch als Verbraucher aufgeschlossen und unternehmungslustig. Tendenziell eher markentreu, zeichnet sich dieser Typ durch eine ebenfalls überwiegend positive Einstellung zur Werbung aus, die er vor allem als Informationsquelle für Konsumangebote und Kaufempfehlungen schätzt. Typ 3: Die abgeklärten, zufriedenen Älteren: Knapp jeder Vierte über 49Jährige ist diesem Typ zuzurechnen (7,4 Millionen). Dieser Typ hat kaum noch große Pläne oder Ideen. Er zeigt sich zwar zufrieden mit seinem Leben, ist aber eher passiv und pflegt allenfalls noch seine Hobbys. Als Verbraucher ist er nur begrenzt an Informationen interessiert und Marken gegenüber ambivalent eingestellt. Typ 4: Die passiven, grauen Älteren: Rund 6,2 Millionen Bundesbürger gehören zu diesem Typ, der durch ein ausgeprägtes Desinteresse und Passivität gekennzeichnet ist. Die Personen dieses Typs haben nur eine geringe Lebensfreude und sind wenig konsumfreudig. Gleichzeitig stellen die passiven, grauen Alten den ältesten Typus und sind daher kaum berufstätig. Sie verfügen über eine formal geringere Bildung und waren im Berufsleben überdurchschnittlich bei den Arbeitern zu finden. Ein hoher Prozentsatz von ihnen lebt alleine und muss mit einem geringen Haushaltseinkommen auskommen. Dieser Typus nutzt kaum Informationsmöglichkeiten und hat eine eher negative Einstellung zur Werbung.
Es lässt sich feststellen, dass sich mindestens die Hälfte der älteren Zielgruppen in ihren Einstellungen kaum von jüngeren Alterszielgruppen unterscheidet. Sie sind anspruchsvolle, markenorientierte Konsumenten und Markenwechseln gegenüber aufgeschlossen. Die älteren Bevölkerungssegmente bekommen so nicht nur demographisch, sondern auch nach Kaufkraftpotenzial ein wachsendes Gewicht (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 7; Hölzel 2001, S. 83; Media.Line 2004, o.S.; Wild 2004, S. 252ff.).
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Bedürfnisse und Ansprüche Älterer
Die Betrachtung des finanziellen Status, wie auch der Konsumgewohnheiten heutiger Senioren, gibt allgemein Aufschluss darüber, dass in Zukunft mit Veränderungen des privaten Verbrauchs zu rechnen ist. Hierfür spricht auch die zu erwartende Zunahme des Anteils von Ein- und Zweipersonen(rentner)haushalten. Schwierig gestaltet sich jedoch ein differenzierter Blick auf die zukünftigen Konsumgewohnheiten aufgrund der bereits angesprochenen Heterogenität, weshalb sich die folgenden Ausführungen auf generelle und absehbare Veränderungen konzentrieren (vgl. Deutscher Bundestag 2002, S. 82). Dem liegt der Sachverhalt zugrunde, dass es trotz der Heterogenität eine Vielzahl von Bedürfnissen gibt, die generell mit dem Alter vermehrt auftreten und somit von grundlegender Bedeutung bei der Gestaltung von Angeboten für ältere Kunden sind. So muss auf die sensorischen und körperlichen Einschränkungen vieler Älterer Rücksicht genommen werden: Seh- und Hörvermögen lassen nach, physische Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit nehmen ab. Zwar läuft diese Entwicklung sehr individuell ab, eine generelle Tendenz ist jedoch auszumachen. Hinzu kommen altersbedingte psychische Veränderungen (Motivation, Wertevorstellungen etc.) die Einfluss auf die Gestaltung von Angeboten haben. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt „sentha“ (Seniorengerechte Technik im häuslichen Alltag) hat daher einige zentrale Bedürfnisse und Ansprüche Älterer im Umgang mit Produkten formuliert, die über die rein sensorisch-körperliche Komponente hinausgehen: 1. 2.
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Ältere Kunden verlangen oft ein höheres Maß an Nutzungskomfort, Sicherheit, Zuverlässigkeit und allgemeiner Produktqualität. Sie treffen ihre Konsumentscheidung oft erst nach eingehender Information und Abwägung. Neuanschaffungen erfolgen zudem oft nur aufgrund einer Anregung durch Freunde, Bekannte und Familienmitglieder. Attraktiv nehmen ältere Kunden Produkte wahr, die die Kommunikation mit Familie und Freunden ermöglichen. Face-to-Face-Kommunikation bleibt jedoch für Ältere der wichtigste Kanal für soziale Kontakte. Ältere wollen in der Mehrzahl selbständig und eigenverantwortlich ihr Leben gestalten. Produkte, die dieser Grundhaltung entsprechen, werden tendenziell durch ältere Konsumenten positiver wahrgenommen. Vor allem jüngere Senioren sind an (neuer) Technologie interessiert, sofern sie nicht von deren Komplexität überfordert werden (z.B. Bedienungsanleitungen). Eine solche Überforderung tritt bei Senioren meist schneller auf als bei Jüngeren.
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Sebastian Langguth und Heinz Kolz Dienstleistungen rund um ein Konsumgut haben für ältere Konsumenten eine besondere Bedeutung (intensive Beratung, Problembehebung). Dies gilt umso mehr, da Ältere ihre Produkte seltener erneuern.
Neben diesen Ansprüchen und Bedürfnissen ist von Bedeutung, dass Ältere explizit für sie konzipierte Güter, Dienstleistungen und Werbemaßnahmen oft als stigmatisierend empfinden. Dabei geht es nicht darum, dass das Alter überhaupt angesprochen wird, sondern vielmehr um die Art und Weise, wie es thematisiert wird. Insbesondere sollte vermieden werden, körperliche Defizite in den Vordergrund der Produktkommunikation zu stellen. Auch ältere Konsumenten sprechen eher auf Produkte an, die positive Assoziationen auslösen - anstatt sich durch Werbung und Konsum eigene Defizite bestätigen zu lassen (vgl. Deutsche Bank Research 2002, S. 8f.).
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Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Märkte
Die Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland reagierte bislang überwiegend zögerlich oder gar nicht auf die demographische Entwicklung und deren Auswirkungen (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 10). Der eigentliche Altersschub steht zwar noch bevor, jedoch geht es nicht um eine ferne Zukunft, sondern um eine Zeitspanne, welche die derzeitige Bevölkerungsmehrheit noch selbst erleben wird. Folglich wird es für Unternehmen unverzichtbar werden, Produkte und Dienstleistungen dem demographisch bedingten steigenden Durchschnittsalter der Konsumenten anzupassen. So standen über Jahrzehnte hinweg für weite Teile der Wirtschaft primär junge Zielgruppen im Mittelpunkt des Interesses. Die zentralen Argumente für die Vernachlässigung älterer Käuferschichten waren einerseits ihre vermutete hohe Markentreue und andererseits die vermutete Vorbildfunktion jüngerer, insbesondere beim Erwerb neuer Produktarten. Ein zusätzlicher Aufwand in Produktentwicklung und Marketing für Ältere schien selten gerechtfertigt. Gerhard Naegele fasst dies wie folgt zusammen: „In der Bundesrepublik ist es lange Zeit üblich gewesen, ältere Menschen in erster Linie als Nutzer vor allem von öffentlichen Gütern im Bereich sozialer Dienstleistungen zu sehen; dabei aber nicht primär in ihrer Rolle als handelnde, das Angebot lenkende Wirtschaftssubjekte.“ (vgl. Naegele, 2004, o.S.)
Gerade das Altern der Gesellschaft bietet jedoch Möglichkeiten, die bislang vielfach nicht hinreichend genutzt werden – für Konsumgüterhersteller und Dienstleister eröffnen sich damit neue Märkte. Man darf nur bei Konzept und
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Design die speziellen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Senioren nicht außer Acht lassen. Die angewandte, also die schließlich in Produkten mündende Forschung, ist immer auch eine Arbeit für Senioren. Eine wichtige Aufgabe von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wird sein, die Bedürfnisse und Interessen der älteren Menschen noch systematischer in den Blick zu nehmen, transparent zu machen und dieses Wissen zu verbreiten. Denn bislang besteht größtenteils Unkenntnis und Unsicherheit bei Anbietern von Produkten und Dienstleistungen hinsichtlich der Erwartungen, der Bedürfnisse und der finanziellen Möglichkeiten älterer Menschen. Aber auch für die Älteren selbst besteht hier eine Aufgabe, nämlich die, ihre Erwartungen zu formulieren (vgl. Naegele 2004, o.S.; Institut der deutschen Wirtschaft 2004, o.S.). Grundsätzlich wird sich der demographische Wandel auf das gesamte Wirtschaftsleben auswirken, wobei die einzelnen Märkte unterschiedlich stark betroffen sein werden. Künftig wird es deshalb eine zentrale unternehmensstrategische Aufgabe sein, ältere Konsumenten verstärkt in die Produktplanung und -gestaltung sowie in die Marketingüberlegungen einzubeziehen. Denn je besser man die Ansprüche und Bedürfnisse älterer Zielgruppen kennt, desto besser kann man sie bedienen.
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Das Projekt Zukunftsradar2030 der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz
Die Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz, kurz ZIRP, hat sich mit ihrem Projekt Zukunftsradar2030 dem demographischen Wandel, seinen Herausforderungen und Chancen angenommen. Die ZIRP verfolgte mit dem Projekt Zukunftsradar2030 das Ziel, die Auswirkungen und die damit verbundenen Chancen des demographischen Wandels in Rheinland-Pfalz zu durchleuchten und mögliche Handlungsempfehlungen für verschiedene Akteure aufzuzeigen. Das Projekt gliederte sich in vier Teilprojekte: „Kommune“, „Arbeitswelt“, „Miteinander der Generationen“ und „Neue Marktchancen“. Im Rahmen eines Foresight-Prozesses (Vorausschau) erarbeiteten Experten und engagierte Bürger Zukunftsszenarien und Zukunftsstrategien mit Blick auf das Jahr 2030. Ziel eines solch mehrstufigen Prozesses ist es, Ansätze für das Handeln in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft zu erarbeiten. In der letzten Phase des Projektes Zukunftsradar2030 mit dem Titel „Neue Marktchancen“ wurden die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Märkte untersucht. Es wurden Szenarien entwickelt, wie sich wichtige Märkte, beispielsweise Handwerk und Tourismus, bis zum Jahr 2030 verändern könnten. Produkte und Dienstleistungen werden sich künftig verstärkt daran messen lassen, ob sie den Ansprüchen und Wünschen älterer Menschen entsprechen.
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Sebastian Langguth und Heinz Kolz
Aufgrund der angesprochenen Werteveränderungen, der Kaufkraft und der Bedürfnisse älterer Menschen, sollte schon heute in den verschiedenen Branchen darüber nachgedacht werden, wie die zu erwartenden Veränderungen erfolgreich bewältigt werden können. Dies beinhaltet vor allem Überlegungen hinsichtlich der Entwicklung von neuen Angeboten, der Anpassung bestehender Produkte oder Änderungen beim Marketing, das nicht länger nur junge Menschen als attraktive Kunden ansprechen sollte. Entscheidend ist, dass sich ältere Konsumenten nicht grundsätzlich in ihren Wünschen von jüngeren Verbrauchern unterscheiden. Vor allem wird beim Produktdesign und auch in der Architektur noch in sehr engen Kategorien gedacht. Begriffe wie „Barrierefreiheit“ und „altersgerecht“ sollten nicht mehr nur im Zusammenhang mit körperlichen Einschränkungen begriffen werden. Vielmehr gilt es den Verbrauchern zu kommunizieren, dass es Produkte und Dienstleistungen gibt, die den Anforderungen aller Generationen entsprechen. So sind es leicht bedienbare und benutzerfreundliche, kurz barrierefreie Produkte, die sich nicht nur die Senioren, sondern auch junge Konsumenten wünschen. „Entwickle für die Jungen, und du schließt die Alten aus. Entwickle für die Alten und du schließt die Jungen ein“ (zit. nach Biermann/Weißmantel 2003, S. 1). Dieses Zitat von Gero von Randow unterstreicht die Relevanz obiger Aussagen. Letztlich ist aber jedes Unternehmen gefordert, sich der älteren Kundengruppe individuell anzunehmen. So kann das Handwerk beispielsweise mit einem individuellen Service, einer umfassenden Beratung und spezifischen Lösungen ebenso vom demographischen Wandel profitieren, wie Produzenten von technischen Geräten, die die Bedürfnisse aller Generationen in die Produktentwicklung und ein entsprechendes Marketing einfließen lassen. Allgemein bieten sich den Unternehmen hierfür unterschiedliche Vorgehensweisen, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden.
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Strategien der Produktentwicklung
Fragt man generell nach den Möglichkeiten der Produktentwicklung im Rahmen des demographischen Wandels, so können grundsätzlich die beiden folgenden Produktarten unterschieden werden: 1.
Produkte, die spezifische Bedürfnisse und Ansprüche Älterer adressieren. Bei vielen dieser Produkte steht das Beheben oder Abmildern von Defiziten im Vordergrund. Diese Produkte haben ihren Ursprung zumeist im Rehabilitations- und Behindertenbereich oder sind zumindest von solchen Produkten abgeleitet und wirken daher oft stigmatisierend; was vom Kunden je-
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doch, mit wachsender Ausprägung des körperlichen Defizits, zunehmend in Kauf genommen wird. Produkte, die sowohl Bedürfnisse und Ansprüche der jüngeren Altersgruppen als auch älterer adressieren, werden mit dem Begriff „Design-forall“ gefasst. Der Kerngedanke ist, Ältere und auch Behinderte nicht mehr von der Nutzung vieler Alltagsprodukte auszuschließen und somit Stigmatisierungen durch Spezialprodukte zu verhindern. So ist Seniorengerechtigkeit ein Teilaspekt dieses „Design-for-all“-Konzepts. Hinter diesem Konzept verbergen sich neben sozialen Gedanken auch ökonomische Vorteile: Zum einen für die Hersteller, die ein weitaus größeres Marktsegment abdecken können, und zum anderen für diejenigen Kunden, die zuvor Geräte nur mit aufwendigen Hilfsmitteln oder gar nicht benutzen konnten.
Aber nicht nur ältere Menschen haben Probleme bei der Nutzung moderner Konsumgüter; auch in weiten Teilen der Bevölkerung (unabhängig vom Alter) führt beispielsweise fehlendes technisches Verständnis zu Fehlbedienungen und Missverständnissen, was wiederum für das „Design-for-all“-Konzept spricht. Produktbeispiele für „Design-for-all“ sind Fahrzeuge mit hohem und damit leichterem Einstieg, Abstandswarner in Automobilen, aber auch Hörbücher. Diese Art der Produkte ist somit auch für jüngere Menschen attraktiv, da sie Erleichterungen mit sich bringen, ohne offensichtlich Altersdefizite anzusprechen. Entscheidender Nachteil des „Design-for-all“-Konzepts ist jedoch, dass die zielgruppenspezifische Gestaltung an Bedeutung verliert, weil das Konzept die gesamte Bevölkerung im Blick behalten möchte, und damit auch Chancen der Konfigurierung von Produkten für spezifische Nutzergruppen aus der Hand gibt (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 10f.; Göbel 2001, S. 21ff.; Gunkel 1999, o.S.; Weißmantel/Kissel 2002 S. 1, S. 57f.; Oberquelle/Oppermann/Krause 2001, S. 389f.). Eine Entscheidung zwischen beiden grundsätzlichen Arten der Produktgestaltung kann jedoch nur im Einzelfall sinnvoll getroffen werden und in Abhängigkeit vom angestrebten Produkt. Hier jedoch stößt die Produktentwicklung auf die bereits erwähnte zentrale Ambivalenz; vorwiegend junge Menschen entwickeln Produkte und Dienstleistungen für Ältere, deren Lebenswelt sie nur von außen kennen - und oft nicht als erstrebenswert erachten (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 12). In den letzen Jahren wurde deshalb der Versuch unternommen, diese Altersdifferenz zwischen Entwicklern und Kunden zu schließen. Im Folgenden werden drei wesentliche Methoden erläutert.
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Sebastian Langguth und Heinz Kolz Checklisten für Produkteigenschaften: In den vergangenen Jahren haben eine Reihe von Forschungsgruppen Gestaltungsrichtlinien entwickelt, deren Beachtung im Produktentwicklungsprozess seniorenfreundliche Produkte verspricht. Diese Kataloge enthalten eine Vielzahl von Erkenntnissen und Informationen über altersspezifische Bedürfnisse und Einschränkungen. Jedoch können aufgrund der Vielzahl angebotener Hinweise häufig nicht alle Spezialfälle erfasst und der Entwicklungsprozess teilweise reglementiert werden. Defizit-Simulation: Im Mittelpunkt steht hier das eigene Erfahren der Bedürfnisse Älterer mittels entsprechender Instrumente, wie dem so genannten „Age Explorer“. Sie reduzieren mit Hilfe von Brillen, Kopfhörern, Gewichten und Gelenkversteifungen die motorischen und sensorischen Fähigkeiten des Ingenieurs oder Designers und machen so Defizite des Alters für Jüngere erlebbar. Solche Simulationen können jedoch nur bruchstückhaft und grob sein, zudem fehlen die emotionalen Aspekte des Produkterlebens Älterer. Insgesamt bietet die Defizit-Simulation jedoch für den Entwickler meist neue und wichtige Perspektiven auf das entstehende Produkt. Partizipative Gestaltung: Die Methode der partizipativen Gestaltung bezieht den älteren Nutzer direkt in den Produktentwicklungsprozess mit ein – im Idealfall von der frühen Konzeptphase bis zum letzten Test vor dem Marktgang. Senioren können dabei zum einen direkt ihre Wünsche bezüglich eines bestimmten Produktes einbringen, zum anderen lernen die Entwickler die Anforderungen und Bedürfnisse Älterer besser kennen. Die Involvierung Älterer kann dazu beitragen, die Altersdifferenz zwischen Konsumenten einerseits und Entwicklern sowie Vermarktern andererseits zu minimieren bzw. zu überwinden. (vgl. Deutsche Bank Research 2003, S. 11f. und 15f.)
Fazit
Der demographische Wandel, und damit primär die Zunahme älterer Konsumenten, stellt die Wirtschaft vor große Herausforderungen, bietet aber gleichzeitig die Chance, sofern man sich frühzeitig auf die Veränderungen einstellt und diese annimmt, vom Bevölkerungswandel zu profitieren. Von zentraler Bedeutung ist eine leistungsfähige, innovative Anbieterseite, die in der Lage ist, eine sich verändernde und wachsende Nachfrage zu befriedigen. Gerade durch zunehmende qualitative Veränderungen in Alternsprozessen, werden die zukünftigen Senioren andere Nachfragemuster aufweisen, als die heutigen. Die Unternehmen werden sich zukünftig verstärkt deren Bedürfnissen
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annehmen müssen; einerseits wegen der beachtlichen ökonomischen Bedeutung älterer Konsumenten und andererseits, weil auch unternehmensintern die Belegschaften durchschnittlich immer älter werden, was sich letztlich auch auf die Entwicklung und Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen auswirkt. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass trotz der Erkenntnisse über den demographischen Wandel, seine weit reichenden Auswirkungen, wie auch dem Vorliegen entsprechender Forschungsergebnisse über altersbedingte Einschränkungen, generelle Nutzerwünsche und Konsumverhalten, bislang kaum entsprechende Produkte existieren, die diesen Sachverhalten Rechnung tragen. Vielen Unternehmen fehlt der Zugang zur Gruppe der älteren Konsumenten. Diese Ambivalenz zwischen Anbieter- und Nachfrageseite ist es, die es künftig zu überwinden gilt. Unternehmen die dies verinnerlichen und die Bevölkerungsentwicklung mit Produkten und Dienstleistungen innovativ begleiten, können vom demographischen Wandel profitieren (vgl. Haimann 2005, S. 215f.).
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Literatur
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dieter Bögenhold, geb. 1955, Dr. rer soc. habil., Vertragsprofessor an der Freien Universität Bozen, School of Economics and Management und Lehrtätigkeit am Institut für Soziologie, Universität Wien. Arbeitsgebiete: Wirtschafts- und Konsumsoziologie, Soziale Ungleichheit und Mobilität, Organisations- und Managementforschung, Entrepreneurship, Allgemeine Soziologie, Historische Soziologie. Stefanie Buchert, geb. 1973, Dipl.-Kffr., Key-Account-Managerin bei der ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft, Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Werbewirkungs- und Konsumforschung. Stefan Dahlem, geb. 1959, Dr. phil., Leiter Key-Account Handel/Marke bei der ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft, Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikationsforschung, Medienforschung und Wahlforschung. Uwe Fachinger, geb. 1956, Dr. rer. pol. habil., Privatdozent am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen und Mitarbeiter am Zentrum für Sozialpolitik, Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung, der Universität Bremen. Arbeitsgebiet: Ökonomische Analyse der Sozial- und Verteilungspolitik. Felix Gradinger, geb. 1977, Dipl.-Kulturwirt, MSc in Social and Cultural Theory; Projektleiter Schweizer Paraplegiker Forschung, Nottwil, Schweiz. Arbeitsgebiete: Funktionsfähigkeitswissenschaften, Schlafforschung, Sozial/Kulturtheorie. Kai-Uwe Hellmann, geb. 1962, Dr. habil., Privatdozent am Institut für Soziologie der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Arbeitsgebiete: Wirtschafts- und Konsumsoziologie, Gesellschaftstheorie. Michael Jäckel, geb. 1959, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Universität Trier. Arbeitsgebiete: Mediensoziologie, Konsumsoziologie, Neue Technologien und Arbeitsorganisation, Allgemeine Soziologie.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
York Kautt, geb. 1968, Dr. des. rer. pol., wiss. Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Giessen. Arbeitsgebiete: Kultursoziologie, Soziologie der (visuellen) Kommunikationsmedien und der Massenmedien, Qualitative Sozialforschung. Hubert Knoblauch, geb. 1959, Dr. rer. soc., Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin. Arbeitsgebiete: Wissenssoziologie, Kommunikation, Qualitative Methoden, Religionssoziologie. Heinz Kolz, geb. 1955, Dipl.-Kfm., Geschäftsführer der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz in Mainz. Arbeitsgebiete: Demographischer Wandel, Zukunft der Energie, Foresight-Prozesse im Rahmen des Projektes „Zukunftsradar2030“, Lehrbeauftragter an der TU Kaiserslautern. Elmar Lange, geb. 1943, Dr. sc.soc., Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Arbeitsgebiete: Sozialstrukturanalyse, Wirtschaftssoziologie, Methoden empirischer Sozialforschung. Sebastian Langguth, geb. 1979, Dipl.-Medienwiss., Projektleitung „Zukunftsradar2030“ bei der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz in Mainz. Arbeitsgebiete: Demographischer Wandel, Zukunft der Energie, Neue Technologien in einer alternden Gesellschaft. Thomas Lenz, geb. 1975, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Soziologie an der Universität Trier. Arbeitsgebiete: Medien- und Konsumsoziologie, Methoden empirischer Sozialforschung. Georgios Papastefanou, geb. 1954, Dr. phil., wissenschaftlicher Angestellter bei GESIS, Leitung: Haushaltsbudgetdaten Arbeitsgebiete: Konsumsoziologie, Sozialstruktur und Alltagsverhalten. Jan D. Reinhardt, geb. 1972, Dr. phil., Forschungsprogrammleiter an der Schweizer Paraplegiker Forschung, Nottwil, Schweiz; Lehrbeauftragter der Universität Luzern für Soziologie. Arbeitsgebiete: Medizinsoziologie, Funktionsfähigkeitswissenschaften, Mediensoziologie, Allgemeine Soziologie. Ingo Schoenheit, geb. 1949, Dr. phil., Vorstand des Instituts für Markt-UmweltGesellschaft an der Universität Hannover. Arbeitsgebiete: Konsumentenverhalten, Verbraucherinformation, Corporate Social Responsibility.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Gabriele Siegert, geb. 1963, Dr. rer. pol., Professorin für Publizistikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienökonomie an der Universität Zürich. Arbeitsgebiete: Medienökonomie, Medienmanagement (insb. Vermarktung), Medienmarken und Reputation, Werbung. Herbert Willems, geb. 1956, Dr. phil., Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Mikrosoziologie an der Justus-Liebig-Universität Giessen. Arbeitsgebiete: Kultursoziologie, Soziologie der Massenmedien, Werbung, Qualitative Sozialforschung, Soziologische Theorie.