Kai-Uwe Hellmann · Guido Zurstiege (Hrsg.) Räume des Konsums
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Kai-Uwe Hellmann · Guido Zurstiege (Hrsg.) Räume des Konsums
Konsumsoziologie und Massenkultur Herausgegeben von Kai-Uwe Hellmann Dominik Schrage In der Reihe „Konsumsoziologie und Massenkultur“ erscheinen Sammelbände und Monografien, die sich dem in der deutschen Soziologie bislang vernachlässigten Forschungsgebiet der Konsumsoziologie widmen. Der Akzent liegt auf Beiträgen, die den Bereich der Konsumsoziologie mit Blick auf gesellschafts- und kulturtheoretische Fragestellungen erschließen und den modernen Konsum als Herausforderung für die soziologische Theoriebildung begreifen. Das Konzept der Massenkultur verweist vor allem auf die gesellschaftsdiagnostische Komponente konsumsoziologischer Forschung. „Massenkultur“ kann als die übergreifende Kultur der gegenwärtigen Gesellschaft verstanden werden, die kulturelle Gehalte und Bedeutungen auf vielfältige Art und Weise für die Gesamtheit der Bevölkerung verfügbar macht. Massenkultur leistet die wichtigste Orientierung in der modernen, durch Technisierung, Ökonomisierung, Ästhetisierung und Demokratisierung geprägten Wirklichkeit, indem sie all jene Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bereitstellt, die in ihrer Gesamtheit für jeden Einzelnen ein Universum von Selbstverständlichkeiten ausmachen. Deren Geltung ist dabei keine primär normative, sondern abhängig von der am Markt, in den Medien und durch den Konsum manifestierten Akzeptanz eines Massenpublikums. Durch die Verbindung von Konsumsoziologie und Massenkultur können die in den einzelnen Beiträgen erforschten Konsumphänomene auf die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Konsums in modernen Gesellschaften bezogen werden.
Kai-Uwe Hellmann Guido Zurstiege (Hrsg.)
Räume des Konsums Über den Funktionswandel von Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15203-5
Inhalt
Kai-Uwe Hellmann Räume des Konsums: Zur Einführung..................................................................9
1
Konsumismus und Architektur ...............................................................17
Kai-Uwe Hellmann Das konsumistische Syndrom Zum gegenwärtigen Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform unter besonderer Berücksichtigung der Raum-Konsum-Relation..............19 Michael Makropoulos Architektur und Konsum als Medien objektvermittelter Vergesellschaftung.....51
2
Zur Produktion von Raum für den Konsum..........................................67
Karlheinz Wöhler Raumkonsum als Produktion von Orten .............................................................69 Robert V. Kozinets/John F. Sherry/Benet DeBerry-Spence/Adam Duhachek/ Krittinee Nuttavuthisit/Diana Storm „Themed Flagship Brand Stores in the Millennium“: Theorie, Praxis, Ausblicke..................................................................................87
3
Zum Konzept des Konsums Dritter Orte .............................................119
Guido Zurstiege Der Konsum Dritter Orte ..................................................................................121 Christian Schwarzenegger Das „Verräumen“ der Orte Konsum Dritter Orte als Ikonophagie...............................................................142
6 4
Fußball, Clubs und Burning Men..........................................................157
Christoph Jacke Verortungen des Dazwischen Vergesellschaftung durch Kommunikation und Konsum an den popkulturellen Dritten Orten Musik-Club und Fußball-Stadion............159 Thomas Düllo Temporary Community & Temporary Place Burning Man und der inszenierte Anti-Konsum...............................................178
5
Nachwort
Guido Zurstiege Über den Funktionswandel von Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus ...197
Autorenangaben ...............................................................................................201
7050_book.fm Page ii Wednesday, July 12, 2006 3:27 PM
Einführung
Räume des Konsums: Zur Einführung Kai-Uwe Hellmann „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“
1781 wurde die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant veröffentlicht. Darin befaßte Kant sich mit den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, und die für ihn zentrale, das Fach der Philosophie begründende Frage lautete: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“ (Kant 1956: 53*) Es ging ihm somit nicht um die wissenschaftliche (Er-)Klärung der Frage, ob, sondern daß und wie Erkenntnis überhaupt möglich ist. Zwei Phänomenen maß Kant dabei eine herausragende Bedeutung zu: Zeit und Raum. Denn Zeit wie Raum gehen jeder empirischen Erfahrung voraus, sie sind a priori gegeben, und deshalb eine notwendige Vorstellung, wie es im obigen Zitat heißt (vgl. Kant 1956: 67). Kommt man vor diesem Hintergrund auf die Bedeutung des Raums für den Konsum zu sprechen, ist festzustellen, daß die Raumkategorie im Fach lange Zeit kaum Aufmerksamkeit gefunden hat.1 Offenbar galt der Raum, in dem Konsum geschieht, vorkommt, sich ereignet, als derart selbstverständlich, a priori immer schon vorhanden, daß man ihn über Jahrzehnte hinweg übersehen hat − so wie es den Fisch nicht kümmert, daß Wasser ihn umgibt. „It has been said that the last thing a fish will discover is water; it finds out about water only when it has landed in a fisherman’s net.“ (Hofstede 1981: 27) An dieser Indifferenz der Konsumsoziologie gegenüber der Raumkategorie hat sich erst in den letzten fünfzehn Jahren etwas geändert − für die Zeitkategorie steht dies noch aus (vgl. Gibbs 1998) −, und seitdem rückt das Räumliche beim Konsumieren in all seinen Erscheinungen − Atmo1
Vgl. hierzu Gieryn (2000), Urry (2001), Löw (2001: 9ff.) und Kuhm (2003), was die Vernachlässigung der Raumkategorie in der Soziologie generell betrifft. Dabei wird im folgenden an den Begriff des Raums als einer relationalen (An)Ordnung auto- wie allopoietischer Körper unter der Bedingung der Kontingenz angeschlossen, den Löw (2001: 131) als Arbeitshypothse formuliert hat.
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sphären, Landschaften, Orte, Städte, Plätze, Gebäude, Wände, Wege, Gänge, Flure, Türen, Tore, Rolltreppen, Aufzüge, Etagen, Geschoße, Innenhöfe, Regale, Auslagen, Schaufenster − immer mehr in den Fokus der Konsumsoziologie.2 Verfolgt man nun die jüngste Entwicklung der Konsumsoziologie zur neu entdeckten Relevanz des Raums fürs Konsumieren, zeichnet sich zunehmend deutlicher ab, daß es nicht mehr bloß darum geht, spezifische Räume des Konsumierens zu untersuchen, sondern auch die Möglichkeit des Konsumierens von Räumen als solche mit ins Kalkül zu ziehen.3 Für diesen Funktionswandel zeichnet vor allem die Anbieterseite verantwortlich, wie im Falle des Lebensmitteleinzelhandels, der sich im Laufe der letzten Jahre immer stärker mit dem Problem wachsender Volatilität seiner Kunden konfrontiert sah. Die Einkaufsstättentreue der Kunden läßt nämlich seit Jahren rapide nach, weshalb ständig neue Kundenbindungsprogramme aufgelegt werden, und in diesem Zusammenhang wurde der Aufwertung und Renovierung der Einkaufsstätten in aufwendig gestaltete Erlebnisräume besondere Beachtung geschenkt.4 Aber auch andere Kandidaten kommen hier in Betracht, für welche der Konsum spezieller Räume zum Kerngeschäft gehört, wie Warenhäuser, Fußballstadien, Jahrmärkte, Vergnügungsparks, Discotheken, Tourismusorte5 oder Event- und Massenveranstaltungen.6 Das neu entfachte Interesse der Konsumsoziologie an der Raumkategorie orientiert sich somit an einer Interessenlage, das sich originär und schon länger in ihrem Gegenstandsbereich beobachten ließ, und erfüllt damit nur, was Max Weber (1985: 214) bereits vor mehr als 100 Jahren der Sozialwissenschaft ins Stammbuch geschrieben hat: Wenn die Kulturprobleme weitergezogen sind, rüstet sich die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Übrigens ergibt sich hier eine interessante Parallele zum Funktionswandel des Mediums Geld. Denn auch Geld als Mittel zum Zwecke des Erwerbs beliebiger Sach- und Dienstleistungen stellt inzwischen eine solche Selbstverständlichkeit dar, daß darüber kaum mehr zu Bewußtsein kommt, in welchem Maße der Mittelcharakter des Geldes zum Selbstzweck geworden ist − sofern man Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ folgt, in der er Geld als absolutes Mittel beschreibt, das sich vor die Zwecke schiebt und sie in ihrer Bedeutung für uns zu ersetzen sich anschickt.7 2
Vgl. Umiker-Sebeok 1992; Sherry 1998; Isenberg/Sellmann 2000; Woodward et al. 2000; Philips 2002; Lloyd 2003; Currah 2003; Moor 2003; Bareis 2003; Gehl 2004; Pringle 2005; Legnaro/Birenheide 2005; Rosenbaum 2006. 3 Vgl. Peterson 2002 sowie den Beitrag von Wöhler in diesem Band. 4 Vgl. Gröppel 1991; Evans 1999; Holland 2002; Hollein/Grunenberg 2002; Puhlmann 2003. 5 Vgl. Allon 2004; Wöhler 2005. 6 Vgl. hierzu die Beiträge von Düllo, Jacke, Kozinets et al. und Wöhler in diesem Band. 7 Vgl. hierzu den Beitrag von Hellmann in diesem Band.
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Wendet man sich angesichts dieses Funktionswandels der Frage zu, ob es Ansätze für eine Systematisierung der Raum-Konsum-/Konsum-Raum-Relation gibt, bietet sich hierfür die Unterscheidung Zweck/Mittel an: Wird ein konkreter Raum mehr als Mittel oder Zweck des Konsumierens eingesetzt? Welche Funktion dominiert? Daneben liegt es nahe, weil Konsum viele Formen kennt, ganz abstrakt zwischen der kommerziellen und der nicht-kommerziellen Nutzung eines Raums für den Konsum zu unterscheiden: Dominiert die Ökonomie das Geschehen? Oder sind es eher nicht-ökonomische Aspekte, die im Vordergrund stehen? Kombiniert man diese beiden Unterscheidungen, läßt sich daraus ein 4Feld-Schema bauen, das wie folgt ausschaut (vgl. Abb. 1): Abbildung 1:
Schnittstellen zwischen Raum und Konsum
Mittel Zweck 1.
2.
3.
8
Kommerziell 1 2
Nicht-kommerziell 3 4
Im ersten Feld befinden sich die klassischen Räume und Orte, in denen Handel auf die altmodische Art und Weise betrieben wird, wo noch der Vertrieb von Waren den Betrieb bestimmt − zu denken ist hier an Wochenund Flohmärkte, die meisten Einkaufsläden, Fachgeschäfte und viele Shopping Malls, aber auch Messen, Auktionen und eCommerce-Marktplätze. Im zweiten Feld lassen sich all jene Räume und Orte versammeln, bei denen das Räumliche selbst zum Konsumieren angeboten wird oder dafür zumindest eine zentrale Rolle spielt, wie Discotheken, Freizeit- und Vergnügungsparks, in gewisser Hinsicht auch Flaniermeilen, ausgesuchte Shopping Malls wie das CentrO8 und Sportpaläste oder neuerdings sogenannte „brand lands“, Markenwelten, in denen um einzelne Marken herum kunstvoll gestaltete Erlebnisräume errichtet werden.9 Ins dritte Feld gehören eindeutig jene Räume und Orte, in denen kulturelle Veranstaltungen angeboten werden, wie Oper, Theater, Konzerthaus10 − sofern man den Begriff „Kulturkonsum“ als nicht zu despektierlich empfindet,11 und teilweise auch Dritte Orte im Sinne Ray Oldenburgs, bei denen das räumliche, vor allem aber soziale Moment Gefallen findet.12
Vgl. Legnaro/Birenheide 2005: 119ff. Vgl. Isenberg/Sellmann 2000; Bryman 2004; Kagelmann et al. 2004; Hellmann 2005, Legnaro/Birenheide 2005; Ponsonby-McCabe/Boyle 2006; Lembke 2007. 10 Vgl. Peterson 2002. 11 Vgl. North 2004. 12 Vgl. Oldenburg 2001; Mikunda 2004; Rosenbaum 2006; Cuthill 2007. 9
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4.
Im vierten Feld könnte man Räume und Orte zusammenführen, die gewiß auch kommerzielle Funktionen erfüllen mögen, aber keineswegs in erster Linie, wie Denkmäler, Museen,13 Schwimmbäder, Tiergärten, Friedhöfe,14 Flughäfen,15 Parks,16 Städte, Landschaften, Regionen oder auch Videospiele und „Second Life“.17 Hier steht das Räumliche selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, seine Gestaltung, Herrichtung, Inszenierung, zudem ist oftmals auch die zeitliche Dimension von Belang: Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Die Beiträge in diesem Buch lassen sich nicht ohne weiteres einzelnen Feldern dieses Schemas zuordnen. Dennoch ergeben sich oftmals Anknüpfungspunkte und Überschneidungen. So befaßt sich Kai-Uwe Hellmann vorwiegend mit der Frage, wie man Konsum, Konsumieren und Konsumismus (wissens-)soziologisch beschreiben könnte. Zur Veranschaulichung dessen eignen sich das Shopping und die Räume des Shopping besonders gut. Insofern paßt dieser Beitrag am ehesten noch ins erste Feld. Ähnlich verhält es sich zunächst mit dem Beitrag von Michael Makropoulos, der ebenfalls um ein grundsätzliches Verständnis von Technik, Architektur und Konsum ringt, hinsichtlich der Raumkategorie aber so sehr auf den nicht-kommerziellen Zweckcharakter des Räumlichen eingeht, daß er eher ins vierte Feld gehört. Karlheinz Wöhlers Beitrag bemüht sich um eine konzeptionelle Erfassung des gesamten Raum/Konsum-Kontinuums, und in diesem Punkt ist vieles von dem, was er hierzu vorbringt, dem vierten Feld zuzurechnen; zugleich stammen seine Beispiele vorwiegend aus dem zweiten Feld. Hier hinein kann man auch den Beitrag von Robert V. Kozinets, John F. Sherry, Benet DeBerry-Spence, Adam Duhachek, Krittinee Nuttavuthisit und Diana Storm einordnen, die es besonders auf solche kommerziell genutzten Räume anlegen, die sich selbst für den Konsum eignen und speziell dafür gebaut werden. Der Beitrag von Guido Zurstiege nimmt bei Ray Oldenburgs wichtiger Studie über „Dritte Orte“ seinen Ausgang und verbindet hiermit die Vorstellungen und Hoffnungen von Victor Gruen, dem Erbauer der ersten Shopping Mall namens Southdale Center unweit von Minneapolis 1956. Dadurch gehört dieser Beitrag nicht nur dem zweiten Feld zu, sofern man Gruens Motive zugrundelegt, denen zufolge solche Shopping Malls dafür sorgen sollten, den US-amerikanischen traditionslosen Trabantenstädten neue gemeinschaftsbildende Zentren zur Verfügung zu stellen, wie Gruen sie aus seiner Vaterstadt Wien kannte.18 Christian Schwar13
Vgl.Goulding 2000. Vgl. Miller/Rivera 2006. 15 Vgl. Lloyd 2003. 16 Vgl. L’Aoustet/Griffet 2004. 17 Vgl. Gotved 2002; Schwartz 2006; Tomik 2007. 18 Vgl. den Artikel von Katja Gelinsky: Jeden Sonntag findet kein Gemeinschaftsausflug statt. Der Monsterstadtplaner und sein Geschöpf: Die „Shopping Mall“ begann als bürgerliche Utopie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. November 2004, S. 40. 14
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zeneggers Beitrag wendet sich Räumen und Orten wiederum mit einer konzeptionell sehr anspruchsvollen Haltung zu, die sich auf Marc Augé, Michel Foucault und andere stützt und etwa das Bordell als Beispiel nutzt, um daran aufzuzeigen, inwiefern ein Ort der Prostitution auch zur Prostitution eines Ortes führen kann − ein klarer Fall für das zweite Feld. Im Beitrag von Christoph Jacke werden exemplarisch Fußballstadien und Musikclubs dafür angeführt, in welchem Maße die Popularkultur Räume für semikommerzielle Zwecke einsetzt, wie es auch im „Dritte Orte“-Konzept von Oldenburg Berücksichtigung findet, so daß dieser Beitrag einen weiteren Beleg dafür darstellt, was sich im zweiten bzw. vierten Feld abspielt. Schließlich bleibt noch der Beitrag von Thomas Düllo, der sich mit einem speziellen Ereignis in den USA beschäftigt, dem Burning Man Festival in Black Rock City, das offiziell keinerlei kommerzielle Zwecke verfolgt und sich auf den Raum als Selbstzweck bezieht, weshalb dieser Beitrag gleichfalls ins vierte Feld gehört. Der vorliegende Band „Räume des Konsums“ aus der Reihe „Konsumsoziologie und Massenkultur“ wendet sich erneut einem in der deutschen Konsumsoziologie bislang vernachlässigten Phänomen zu, wenngleich ihm in der angelsächsischen Forschungslandschaft inzwischen eine beachtliche Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Die hier versammelten Beiträge können mitnichten beanspruchen, einen systematischen Überblick über diesen speziellen Erkenntnis„Raum“ zu geben. Gleichwohl hoffen wir, Interesse für diese Debatte zu wecken und damit zu weiterer Forschung anregen zu können.
Literatur Allon, Fiona (2004): Backpacker Heaven. The Consumption and Construction of Tourist Spaces and Landscapes of Sydney, in: Culture of Space 7, S. 49-63. Bareis, Ellen (2003): Überdachte, überwachte Straßenecken. Jugendliche im städtischen Konsumraum „Mall“, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung, Nr. 15, S. 63-90. Bryman, Alan (2004): The Disneyization of Society. London et al. Currah, Andrew (2003): The Virtual Geographies of Retail Display, in: Journal of Consumer Culture 3, S. 5-37. Cuthill, Viv (2007): Performing Betty’s Café and Revolution Vodka Bar, in: Space and Culture 10, S. 64-76. Evans, Doris (1999): Disneyfikation viktorianischer Werte. Bluewater: Futuristisches Einkaufszentrum mit hohem Anspruch und beachtlichem Erfolg, in: Lebensmittelzeitung vom 17. Dezember 1999, S. 28-30. Gehl, Jan (2004): Die Rückeroberung des öffentlichen Raums, in: Helmut Bott/Elke Uhl (Hg.): Perspektiven des urbanen Raums. Stuttgart, S. 46-53. Gibbs, P.T. (1998): Time, temporality and consumer behaviour. A review of the literature and implications for certain financial services, in: European Journal of Marketing 32, S. 993-1007.
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Gieryn, Thomas F. (2000): A Space for Place in Sociology, in: Annual Review of Sociology 26, S. 463-496. Goulding, Christina (2000): The museum environment and the visitor experience, in: European Journal of Marketing 34, S. 261-278. Gotved, Stine (2002): Spatial Dimensions in Online Communities, in: Space and Culture 5, S. 405-414. Gröppel, Andrea (1991): Erlebnisstrategien im Einzelhandel. Analyse der Zielgruppen, der Ladengestaltung und der Warenpräsentation zur Vermittlung von Einkaufserlebnissen. Heidelberg. Hellmann, Kai-Uwe (2006): Weltmarken und Markenwelten. Globalisierungseffekte durch Marken und die kommerzielle Inszenierung künstlicher Welten, in: Doktoranden der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim (Hg.): Weltkultur: Grenzen und Möglichkeiten globalen Denkens. Frankfurt/M. et al., S. 59-79. Hofstede, Geert (1981): Culture and Organizations, in: International Studies of Management and Organization 10, S. 15-41. Holland, Felix (2002): Erlebnis-Räume statt Ladenkisten. Supermärkte des Regionalfilialisten M-Preis im österreichischen Tirol fallen durch architektonische Besonderheiten auf. Die Wettbewerber ziehen nach, in: Lebensmittelzeitung vom 18. Oktober 2002, S. 41-42. Hollein, Max/Grunenberg, Christoph (Hg.) (2002): Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Ostfildern-Ruit. Isenburg, Wolfgang/Sellmann, Matthias (Hg.) (2000): Konsum als Religion? Über die Wiederverzauberung der Welt. Mönchengladbach. Kagelmann, H. Jürgen/Bachleitner, Reinhard/Rieder, Max (Hg.) (2004): ErlebnisWelten. Zum Erlebnisboom in der Postmoderne. München/Wien. Kant, Immanuel (1956): Die Kritik der reinen Vernunft. Hamburg. Karich, Swantje (2007): Im zweiten Leben für die Kunst. Auch der Kunstmarkt wächst in „Second Life“ ständig: ein Gang durch die virtuelle Welt und ihre Galerien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Juni 2007, S. K 2. Kuhm, Klaus (2003): Was die Gesellschaft aus dem macht, was das Gehirn dem Bewußtsein und das Bewußtsein der Gesellschaft zum Raum „sagt”, in: Thomas KrämerBadoni/Klaus Kuhm (Hg.): Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen, S. 13-32. L’Aoustet, Olivier/Griffet, Jean (2004): Youth Experience and Socialization in Marseille’s Borely Park, in: Space and Culture 7, S. 173-187. Legnaro, Aldo/Birenheide, Almut (2005): Stätten der späten Moderne. Reiseführer durch Bahnhöfe, shopping malls, Disneyland Paris. Wiesbaden. Lembke, Judith (2007): Das neue Lebensgefühl. Statt Kleider von der Stange präsentieren die Hersteller in eigenen Läden ihre Erlebniswelten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Januar 2007, S. 21. Lloyd, Justine (2003): Dwelltime. Airport Technology, Travel, and Consumption, in: Space and Culture 6, S. 93-109. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt/M. Mikunda, Christian (2004): Brand Lands, Hot Spots, Cool Spaces. Welcome to the Third Place and the Total Marketing Experience. London.
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Miller, DeMond Shondell/Rivera, Jason David (2006): Hallowed Ground, Place, and Culture. The Cementery and the Creation of Place, in: Space and Culture 9, S. 334-350. Moor, Elizabeth (2003): Branded Spaces. The scope of „new marketing“, in: Journal of Consumer Culture 3, S. 39-60. North, Michael (2004): Kultur und Konsum – Luxus und Geschmack um 1800, in: Rolf Walter (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. 23.-26. April 2003 in Greifswald. Stuttgart, S. 17-33. Oldenburg, Ray (Hg.) (2001): Celebrating the Third Place. Inspiring Stories about the “Great Good Places” at the Heart of Our Communities. New York. Peterson, Marina (2002): Performing the „People’s Place”. Musical Performance and the Production of Space at the Chicago Cultural Center, in: Space and Culture 5, S. 253-264. Philips, Deborah (2002): Consuming the West. Main Street, USA, in: Space and Culture 5, S. 29-41. Ponsonby-McCabe, Sharon/Boyle, Emily (2006): Understanding brands as experiential spaces: axiological implications for marketing strategies, in: Journal of Strategic Marketing 14, S. 175-189. Pringle, Patricia (2005): Spatial Pleasures, in: Space and Culture 8, S. 141-159. Puhlmann, Heinz (2003): Traumland Xanadu. Südlich von Madrid hat die amerikanische Mills Corporation Europas größtes Shopping-Center aufgestellt. Es setzt Maßstäbe in der Verknüpfung von Shopping, Freizeit und Entertainment, in: Lebensmittelzeitung vom 1. August 2003, S. 30. Rosenbaum, Mark S. (2006): Exploring the Social Supportive Role of Third Places in Consumers’ Lives, in: Journal of Service Research 9, S. 59-72. Schwartz, Leigh (2006): Fantasy, Realism, and the Other in Recent Video Games, in: Space and Culture 9, S. 313-325. Sherry, John F., Jr. (Hg.) (1998): ServiceScapes. The Concept of Place in Contemporary Markets. Chicago. Tomik, Stefan (2007): Dollars am Geldbaum. Die Welt der Avatare im künstlichen Megaversum: Das zweite Leben ist fast so schön wie das erste, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. März 2007, S. 4. Umiker-Sebeok, Jean (1992): Meaning Construction in A Cultural Gallery: A Sociosemiotic Study of Consumption Experiences in a Museum, in: Advances in Consumer Research 19, S. 46-55. Urry, John (2001): The Sociology of Space and Place, in: Judith R. Blau (Hg.): The Blackwell Companion to Sociology. Malden/Oxford, S. 3-15. Weber, Max (1985): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, S. 146-214. Wöhler, Karlheinz (Hg.) 2005: Erlebniswelten. Herstellung und Nutzung touristischer Welten. Münster. Woodward, Ian/Emmison, Michael/Smith, Philip (2000): Consumerism, disorientation and postmodern space: a modest test of an immodest theory, in: British Journal of Sociology 51, S. 39-354. Yakhlef, Ali (2004): Global Brands as Embodied „Generic Spaces”, in: Space and Culture 7, S. 237-248.
Konsumismus und Architektur
Man kann nicht nicht konsumieren, dies ist eine triviale Wahrheit − sofern man unter „Konsumieren“ lediglich versteht, daß der Mensch nicht autark ist und deshalb Sorge tragen muß dafür, daß seine physiologischen Bedürfnisse befriedigt werden. Wie er das tut, ist damit keineswegs vorentschieden − und genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister, und die Konsumsoziologie tritt auf den Plan. Denn die Mannigfaltigkeit der Formen, mittels derer nicht nur physiologische, sondern alle Bedürfnisse des Menschen befriedigt werden, entlarvt das Konsumieren als ein ganz und gar nicht triviales Phänomen. Dies gilt um so mehr, wenn der gesellschaftliche Reichtum die Möglichkeit des Auswählens zwischen Alternativen der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse zur Notwendigkeit macht, wenn also ausgewählt werden muß, weil zuviel zur Auswahl steht, und sich die Frage stellt: Welche Möglichkeit wähle ich heute aus? Dieselbe wie gestern? Oder eine andere? Wie soll ich mich entscheiden? Und welche Kriterien sollte ich meiner Entscheidung heute zugrunde legen? Dieselben wie gestern? Oder andere? Angesichts einer solchen Situation, wie sie uns tagtäglich begegnet und (über)fordert, erscheint es durchaus legitim, von der Nichttrivialität des Konsumierens zu sprechen − und sich zu fragen, welche Bedeutung dem Konsum und Konsumieren heutzutage zukommen, wenn wir ständig gezwungen sind, uns mit dieser Nichttrivialität des Konsums auseinanderzusetzen. Welchen Einfluß übt nichttriviales Konsumieren auf uns aus? Welchen Stellenwert besitzt diese Art von Konsum für unser Selbstwertgefühl? Kai-Uwe Hellmann befaßt sich in seinem Beitrag mit solchen Fragen grundsätzlich. Dabei lautet seine Ausgangsthese, daß die Vorherrschaft der Arbeitsgesellschaft sich allmählich ihrem Ende nähert, hierfür lassen sich viele Indizien anführen. Nur welche Ideologie, Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft nimmt dann diese Funktionsstelle ein? Könnte es die Konsumgesellschaft sein? Und ist es schon opportun geworden, das neue Zeitalter des Konsumismus auszurufen, wie es in der angelsächsischen Konsumsoziologie üblich geworden ist (und dabei Jean Baudrillard stillschweigend übergehend)? Was spricht dafür, was spricht dagegen?
18 Michael Makropoulos verfolgt in seinem Beitrag eine vergleichbar grundsätzliche Auseinandersetzung mit der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung heutigen Konsums, speziell des Massenkonsums, jedoch deutlich stärker unter Berücksichtigung des Räumlichen, speziell der Architektur. Seine These lautet, daß funktionalistische Architektur und Massenkonsum für die Herausbildung der modernen Gesellschaft konstitutiv sind, weil sie das individuelle und kollektive Verhältnis zur materiellen Wirklichkeit auf zweierlei Weise organisieren: Erstens erfolgt diese Einflußnahme anonym qua Versachlichung der Vergesellschaftungsprozesse, und zweitens konstruktivistisch im Sinne eines auf optimierungslogische Naturbeherrschung angelegten Weltverhältnisses.
7050_book.fm Page ii Wednesday, July 12, 2006 3:27 PM
Das konsumistische Syndrom Zum gegenwärtigen Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform unter besonderer Berücksichtigung der Raum-Konsum-Relation
Kai-Uwe Hellmann „Wann gehen meine Träume in Erfüllung?“ Der Wunschkredit mit sofortiger Kreditentscheidung. (Werbebroschüre der Berliner Sparkasse 2007) Im Jahre 2004 wurde im Journal of Consumer Culture ein Interview mit Zygmunt Bauman veröffentlicht. Gegenstand des Gesprächs waren die Beziehungen zwischen Produktion und Konsumtion und die Bedeutung dessen, was Bauman „the consumerist syndrome“ nannte, eine Formulierung, die dem Interview auch seinen Titel verlieh. Bauman vertritt in diesem Interview die Auffassung, daß für unsere Gesellschaft von einem fundamentalen Perspektivenwechsel auszugehen sei. So wurden die Individuen lange Zeit über ihre Rolle als Produzenten definiert, wobei dem Begriff „Arbeit“ eine Schlüsselstellung zukam. Denn, so Bauman, „it is work that does the job of the shared/integrating/coordinating axis around which the processes of individual constitution, social integration and systemic reproduction rotate. In such a society, work provides the kernel of identity, the key to social recognition of that identity and the anchor for social assignment and placement; it also offers the setting for social solidarities, community formation, articulation and pursuit of shared or common interests“ (Rojek 2004: 292f.). Mit anderen Worten fungierte Arbeit als zentrale Sozialisationsinstanz und dominantes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung. Alles drehte sich um die Arbeit, alles hing von ihr ab. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich der Fokus jedoch von der Arbeit auf den Konsum verschoben. „It is to say in addition that the perception and the treatment of virtually all fragments of social setting and of the actions they evoke and frame tends to be subordinated to the ‚consumerist syndrome’.“ (Rojek 2004: 293) Dabei versteht Bauman unter „consumerist syndrome” „a variegated bunch of attitudes and strategies, cognitive dispositions, value judgements and prejudgements, explicit and tacit assumptions of the ways of the world and the ways of walking them, visions of happiness and ways to pursue them, value preferences and Alfred Schütz’s ‚topical relevancies’“1, mithin eine ganz eigene Weltanschauung, ein in 1
Rojek 2004: 293; vgl. auch Bauman 2001.
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sich geschlossenes Weltverhältnis, in dem es vorrangig um die sofortige Befriedigung jeder Art von Bedürfnis geht, ohne Aufschub, ohne Verzögerung, ohne als Mittel für andere Zwecke zu dienen, weil das Mittel zum Selbstzweck geworden ist. Oder um es mit Karl Polanyi zu sagen: Konsumtion ist nicht länger „Anhängsel“ der Produktion, wie dies, so Bauman, Thorstein Veblen noch gesehen hatte, sondern „‚autotelic’, a value in its own right, pursued for its own sake“ (Rojek 2004: 294) und damit mindestens gleichberechtigt, wenn nicht bedeutender als das, was Produktion und speziell Arbeit bislang für uns gewesen sind. So unklar bleiben mag, was Bauman mit dem „consumerist syndrome“ konkret meint, und so sehr es irritieren dürfte, daß er den Perspektivenwechsel lediglich darauf bezieht, daß nicht länger die „role of producers“ vorherrscht, sondern die „role of consumers“ (Rolle im Singular!) ausschlaggebend geworden ist für die Entwicklung eines gänzlich neuen Weltverhältnisses, ist es doch gerade diese Annahme, die für den vorliegenden Beitrag als Leitidee und Leitdifferenz herangezogen wird. Untersucht werden soll nämlich, ob und inwieweit Konsumtion bzw. Konsum heutzutage eine prägende Rolle für unser Leben in dem Sinne spielt, daß Konsum zur zentralen Sozialisationsinstanz und zum dominanten Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung geworden ist. Und hierfür ist die Unterscheidung zwischen Arbeit und Konsum maßgebend. Da es sich bei dieser Untersuchung freilich um ein eher exploratives Unternehmen handelt, weil die gegenwärtige Forschungslage für eine zuverlässige Einschätzung noch zu wenig hergibt, wird die eigentliche Fragestellung in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt die These Uwe Schimanks erörtert, zwischen Gesellschafts- und Identitätsform gäbe es ein Entsprechungsverhältnis, eine durchaus geläufige These, die in mehreren Disziplinen vertreten wird. In einem zweiten Schritt wird die Annahme Baumans geprüft, das „productivist syndrome“ stelle nicht mehr das dominante Paradigma der gegenwärtigen Gesellschaft dar. Und in einem dritten Schritt geht es darum herauszufinden, ob und inwieweit tatsächlich davon gesprochen werden kann, daß das „productivist syndrome“ im Laufe der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte durch das „consumerist syndrome“ ergänzt oder gar ersetzt wurde, wobei dem Shopping und den Shoppingräumen hierfür besondere Aufmerksamkeit zukommen sollen.
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Zur Entsprechung von Gesellschafts- und Identitätsform
1985 veröffentlichte Uwe Schimank einen Aufsatz mit dem Titel „Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus“, in dem er sich, so die Grundthese,
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die auch im Untertitel Erwähnung fand, mit dem Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform auseinandersetzte. Mit Entsprechungsverhältnis ist gemeint, daß es zwischen einer Gesellschaft und den an ihr partizipierenden Individuen eine Ähnlichkeit, Analogie, ja Übereinstimmung gibt, welche Gesellschaft und Individuen als die zwei Seiten einer Medaille erscheinen läßt, gewissermaßen als Interdependenzeffekt von Genotyp und dazugehörigen Phänotypen, ohne gleich von einer schlichten Identität dieser beiden Formen auszugehen. „Die diversen Formen ‚kultureller Vergesellschaftung’ decken sich … keineswegs zwangsläufig mit den sozioökonomischen Formationen des gesellschaftlichen Substrats. Besitzen sie zwar recht häufig ihren Schwerpunkt innerhalb bestimmter Regionen, Schichten und Generationen, so erfassen sie in der Regel weder alle ihre Mitglieder noch beschränkt sich ihre Zusammensetzung darauf.“ 2
Und doch gibt es aufgrund vieler Anzeichen die empirisch nachprüfbare Vermutung einer gewissen Korrelation und Kovariation zwischen Gesellschaften und Individuen, einer Art Abstimmung oder Wechselwirkung, wie Georg Simmel es schon formuliert hatte, die für ein solches Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform sprechen. Die Annahme eines solchen Entsprechungsverhältnisses von Gesellschaftsund Identitätsform hat in der Ethnologie, Psychologie, Soziologie und Politologie seit langem Tradition. So ging der Ethnologe Ralph Linton davon aus, daß jede Gesellschaft durch ein bestimmtes System von Positionen gekennzeichnet werden kann, die jeweils von bestimmten Individuen in Form von Rollen einzunehmen sind. Die Individuen werden diesbezüglich erzogen und dahingehend ausgebildet, sich in diesen Rollen angemessen zurechtzufinden und diese funktionsgerecht auszuführen. Dabei ist festzustellen, daß die Mitglieder einer jeden Gesellschaft eine große Anzahl gemeinschaftlicher Persönlichkeitselemente besitzen, die zusammen einen wohlintegrierten Gesamtkomplex bilden, welchen Linton (1974: 105) den „Persönlichkeitsgrundtypus“ einer solchen Gesellschaft genannt hat. Daraus kann nun geschlußfolgert werden, daß jede Gesellschaft einen solchen Persönlichkeitsgrundtypus besitzt, der nur ihr eigen ist, was der Annahme eines Entsprechungsverhältnisses von Gesellschafts- und Identitätsform exakt entspricht. Ganz ähnlich argumentiert der Psychologe Erich Fromm, wenn er davon spricht, daß jedes Individuum einen bestimmten Charakter besitzt, der neben höchst individuellen Anteilen vieles gemeinsam hat mit dem Charakter anderer Individuen, die in der gleichen Gesellschaft aufgewachsen sind. „Bis zu welchem Grade der Charakter durch gesellschaftliche oder kulturelle Vorbilder 2
Neidhardt 1986: 16. Am konsequentesten hat Pierre Bourdieu (1987) von diesem Entsprechungsverhältnis her gedacht, mit dem Konzept „Habitus“ als Grundbegriff seiner Gesellschaftstheorie.
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geformt wird, zeigt sich darin, daß die meisten Angehörigen einer gesellschaftlichen Klasse oder eines Kulturbereichs bestimmte Charakterelemente gemeinsam haben, so daß man von einem ‚Gesellschafts-Charakter’ sprechen kann, der den Kern der Charakterstruktur repräsentiert, der den meisten Menschen in einer bestimmten Kultur gemeinsam ist.“ (Fromm 2005: 55f.) Für die Soziologie eignet sich wiederum die Studie „The Lonely Crowd“ von David Riesman, der sich ebenfalls an einer Art Entsprechungsverhältnis zwischen Charaktertypen und Gesellschaftsformen orientiert, weil jede Gesellschaft genau den Charakter ausbildet, den sie braucht. In den Worten Riesmans: „So findet sich die Verbindung zwischen Charakter und Gesellschaft in der Art und Weise, wie die Gesellschaft einen gewissen Grad von Verhaltenskonformität der ihr zugehörigen Individuen garantiert.“ (Riesman et al. 1958: 22) Der Begriff des sozialen Charakters, um präzise zu bleiben, nimmt also Fromms Terminologie auf und entspricht darüber hinaus dem Begriff des Persönlichkeitsgrundtypus, wie Linton ihn definiert hat. Und für die Politologie sei schließlich noch auf die Studie „The Civic Culture“ von Gabriel A. Almond und Sidney Verba aus dem Jahre 1963 verwiesen, in der es um das Entsprechungsverhältnis zwischen politischer Struktur und politischer Kultur geht, wobei unter politischer Kultur „the particular distribution of patterns of orientation toward political objects among the members of the nation“ (Almond/Verba 1963: 14f.) verstanden wird. So unterscheiden Almond/Verba drei Formen von politischer Struktur, denen auf der Seite der Individuen jeweils eine bestimmte politische Kultur entspricht: erstens die parochiale Form, die in archaischen Gesellschaften vorherrscht und noch keine spezifisch politische Orientierung aufweist, zweitens die autoritätshörige Form politischer Kultur, die zumeist unter vordemokratischen, etwa feudalen Verhältnissen anzutreffen und mit dem Typus des Untertanen verbunden ist, und drittens die partizipative Form, die umfassende Teilhabe am politischen Prozeß moderner Demokratien erwartet und auch einfordert. Sicher ist eine solche Annahme, zwischen Gesellschafts- und Identitätsform gäbe es eine derartige Entsprechung, äußerst gewagt (vgl. Luhmann 1984, 1987). Insbesondere die Sozialisationsforschung hat herausgefunden: Sozialisation ist immer Selbstsozialisation und keine externe Intervention der Gesellschaft in die Seelen der Menschen, gleichsam die unabänderliche Imprägnierung und Implementierung sozialer Strukturen ins psychische System. Was allenfalls behauptet werden kann, ist eine gewisse Auslösekausalität, aber gewiß keine Durchgriffskausalität, die von der Gesellschaft bezüglich des Erlebens und Handelns der Individuen ausgeht (vgl. Luhmann 2002). Betrachtet man das Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform evolutionstheoretisch, zeigt sich freilich, daß die Verhaltenskonformität
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der Individuen, wie Riesman dies genannt hat, in früheren Formen der Gesellschaft erstaunlich verbreitet war und die meisten Mitglieder einer Gesellschaft strikt einbezog. Erst für die heutige moderne Gesellschaft wird es zusehends schwieriger, weiterhin von einer derart verbreiteten, als solcher unschwer beobachtbaren Verhaltenskonformität auszugehen; hier sei nur auf die Individualisierungsthese von Ulrich Beck (1986) verwiesen. Um diesen Unterschied deutlicher zu machen, empfiehlt sich ein historischer Vergleich. Hierfür bietet sich die Unterscheidung von drei Gesellschaftsformen an: erstens die archaische Gesellschaft, die ihrer primären Form nach segmentär differenziert ist, zweitens die hochkulturelle Gesellschaft, die ihrer primären Form nach stratifiziert differenziert ist, und drittens die moderne Gesellschaft, die ihrer primären Form nach funktional differenziert ist.3 Die evolutionär früheste Gesellschaftsform trifft man bei den sog. primitiven, archaischen oder auch Stammesgesellschaften an, die als segmentär bezeichnet werden, weil sie vorrangig aus füreinander gleichen Segmenten wie Familien- bzw. Verwandtschaftsnetzwerken bestehen, die intern durchgängig multifunktional organisiert sind, sich fast ausschließlich im Modus der Interaktion begegnen und sich mittels Mythen und Ritualen ihrer Gruppenidentität vergewissern. Die Identität der Individuen stellt sich in solchen Gesellschaften ausschließlich über deren Familien- bzw. Stammeszugehörigkeit her, die sie mit einem festen sozialen Status versorgt. Mit anderen Worten fungiert die Familie in ihrer archaischen Gestalt und Größe als zentrale Sozialisationsinstanz und dominantes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung. Dabei wird jeweils eine kompakte, äußerst flache personale Identität vermittelt, die durch den Sozialverband weitgehend vorgegeben ist und keinen Außenbereich der individuellen Selbstdarstellung kennt, geschweige denn irgendwelche Tendenzen aufweist, wie sie heutzutage mit dem Schlagwort „Individualisierung” bezeichnet werden (vgl. Fuchs 1996, 1997). Die evolutionär anschließende Gesellschaftsform begegnet uns in den hochkulturellen Gesellschaften, die als stratifiziert bezeichnet werden, weil sie füreinander ungleiche Teilsysteme aufweisen, die schichtmäßig organisiert sind, indem es eine Oberschicht und zumeist mehrere darunter liegende Schichten gibt, die intern ebenfalls multifunktional organisiert sind und sich überwiegend durch schichtspezifische face-to-face-Begegnungen regulieren (vgl. Luhmann 1985). Die Identität der Individuen wird gleichfalls über Herkunft und Familie in Form fester sozialer Positionen und althergebrachter Personenzuschreibungen vermittelt, nur diesmal im Rahmen einer bestimmten Schicht, auf die sich der Lebensraum eines jeden nahezu ausschließlich beschränkt, mit Religion als schichtübergreifender 3
Vgl. Parsons 1986; Tenbruck 1989; Schimank 1996, Luhmann 1997a.
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ordnungsstiftender Institution (vgl. Schimank 1985; Gurjetwitsch 1986). Insofern kann von Individualisierung auch für hochkulturelle Gesellschaften allenfalls in Ansätzen die Rede sein. Vielmehr wird die gesamte, lebenslange Identitätsbestimmung primär am jeweiligen Status als Mitglied einer bestimmten Schicht festgemacht (vgl. Luhmann 1980a, 1980b, 1989). Die evolutionär jüngste Gesellschaftsform ist nun die moderne Gesellschaft, deren primäres Formprinzip funktionale Differenzierung lautet, weil es einige wenige, die Gesellschaft als Ganze übergreifende Teilsysteme gibt, die allesamt eine gesamtgesellschaftlich relevante Funktion wahrnehmen, nur jeweils eine andere, wie die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen (Politik), Konfliktregulierung (Recht), zukunftsorientierte Bedürfnisbefriedigung (Wirtschaft) oder Erkenntnisgewinn (Wissenschaft), um nur einige Beispiele zu nennen. Demgegenüber treten die ehemals vorherrschenden Differenzierungsformen wie Segmentierung und Stratifikation, die es durchaus noch gibt, ins zweite oder dritte Glied zurück. So sind etwa Familien und Organisationen segmentär verteilt, und auch die Zurechenbarkeit der Individuen zu Großgruppen gleicher Lebensführung läßt sich nicht bestreiten. Nur kann man nicht mehr von Schichtung im strengen Sinne reden, und empirisch fällt es noch viel schwerer, die gegenwärtige Gesellschaft schlichtweg als Klassengesellschaft zu beschreiben. Zudem gelingt es kaum mehr, die Integration der Gesamtgesellschaft noch mittels Religion, Moral oder Interaktion zu bewerkstelligen, wie es in vormodernen Gesellschaften der Fall ist; dies besorgen nunmehr die Funktionssysteme, vor allen Dingen das System der Massenmedien (vgl. Hellmann 1997). Für die Individuen haben diese Umstellungen zur Folge, daß sie ihre personale Identität, ihre Identitätsform – um es zunächst negativ zu formulieren – zusehends weniger von ihrer Familie oder Schicht erhalten, da auch diese Aufgabe verstärkt von den Funktionssystemen übernommen wird. Denn die moderne Gesellschaft erfordert eine ungleich höhere Flexibilität, Reflexivität und Mobilität, als sie Familien und Schichten noch adäquat vermitteln können (vgl. Schimank 1985). Aus diesem Grund ist die Sozialbindung der Individuen an Familie und Schicht auch gefährdet, ja zum Teil löst sie sich sogar schon auf und geht in immer größerem Ausmaß auf die Funktionssysteme über, die dadurch eine unaufhaltsam wachsende Zuständigkeit für die Sozialisation und Erziehung gewinnen, weil sich das soziale Leben maßgeblich in ihnen abspielt. So wird längst von einem Monopolverlust der Familie gesprochen (vgl. Meyer 1993; Peukert 1997). Und selbst die Rede von der Klassengesellschaft erweist sich für die heutige Verfassung der modernen Gesellschaft, ohne soziale Ungleichheit deshalb zu leugnen, inzwischen als problematisch.4 4
Vgl. Beck 1983; Schulze 1992; Kreckel 1998.
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Vom Zeitalter der Produktion ins Zeitalter der Konsumtion
Indes läuft der interne Strukturwandel der modernen Gesellschaft in einer solchen Geschwindigkeit, ja Beschleunigung ab, daß das Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform nicht bloß im Gesellschaftsvergleich, sondern auch im Laufe der Entwicklung der modernen Gesellschaft als solcher einer fortwährenden, größtenteils schleichenden Veränderung unterworfen ist. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft bleibt davon zwar weitgehend unberührt, doch die interne Relevanz einzelner Funktionssysteme verschiebt sich mitunter. So kann mit großer Plausibilität davon ausgegangen werden, daß die moderne Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Klassengesellschaft gewesen ist, Klasse verstanden als Kollektiv von Individuen, deren gesellschaftliche Position „aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt.“ (Weber 1985: 177) Demnach bedingte die jeweilige Stellung des Einzelnen im Markt und speziell im Produktionsprozeß, mithin die Arbeit, die jemand ausführte, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse. Der Faktor „Arbeit“ – dies läßt sich schon bei Karl Marx studieren5 – stellte damit die zentrale Sozialisationsinstanz und das dominante Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung im 19. und noch weit bis ins 20. Jahrhundert dar, wobei „Kapitalismus“ die damalige Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft gewesen ist. Dies dürfte unstrittig sein, ohne damit den Einfluß anderer Faktoren auf die Lebensführung und Selbstbestimmung der Individuen gänzlich in Abrede zu stellen und ohne zu behaupten, dies hätte für alle in gleichem Maße gegolten. Doch für die meisten Individuen kann dem Faktor „Arbeit“, genau so wie Bauman dies beschrieben hat, eine solch herausragende Bedeutung durchaus zugesprochen werden, zumindest für die in Rede stehende Zeitspanne.6 „In that classic era of modern 5
Vgl. Bahrdt 1983; Fetscher 1984: 93ff. So sprach Helmut Schelsky 1960 davon, daß „dem Sinn nach“ – in der Tradition der Berufsauffassung Martin Luthers stehend und vorbildlich propagiert und realisiert im Calvinismus – „die Arbeit und Berufserfüllung zum zentralen Lebensinhalt gemacht“ wurden, vgl. Schelsky 1979b: 255f. Sinnverwandt Delbert Barley (1971: 213) zwei Jahre danach: „Bisher war produktive Arbeit für die überwiegende Mehrheit der Menschen die Voraussetzung für Teilnahme am Produkt der Tätigkeit der Gemeinschaft. Diese Voraussetzung war so tief im Lebensgefühl verankert und so stark religiös oder ideologisch untermauert, daß produktive Arbeit weitgehend zum ‚Sinn des Lebens’ wurde, besonders im calvinistischen Arbeitsethos.“ Und noch 30 Jahre später bezeichnete Martin Baethge (1991: 268) die Erwerbsarbeit, soweit es diese Zeitspanne betrifft, als „das Feld von Vergesellschaftung par excellence“, ähnlich wie Bauman (1998: 17): „the workplace was the primary site of social integration; the setting in which the essential habits of obedience to norms and of disciplined behaviour were expected to be trained and absorbed and in which the ‚social character’ was to be
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industrial society, work was simultaneously the pivot of individual life, social order and the survival capacity (‚systemic reproduction’) of society as a whole.“ (Bauman 1998: 16) Von daher erklärt sich auch das damals vorherrschende Verständnis dessen, was man als „Arbeitsgesellschaft“ bezeichnet hat, in der der materielle Status wie der immaterielle Geltungsrang eines weit überwiegenden und noch wachsenden Anteils der Bevölkerung direkt oder indirekt durch ihre Arbeit, in der Regel: berufliche und gegen Kontrakteinkommen geleistete Erwerbsarbeit erlangt wurden; in der alle wichtigen institutionalisierten Normen und Werte auf die Arbeit bzw. die durch sie allein erwerbbaren Entschädigungen bezogen waren; und in der die zentralen Konflikte um politische Herrschaftspositionen und Fortschrittsmaßstäbe zum überwiegenden Anteil zwischen kollektiven Akteuren ausgetragen wurden, die sich ihrerseits auf kollektive Interessen der beiden Arbeitsmarktparteien bezogen, wobei sich als institutionalisierte Ziele bzw. Verantwortungsbereiche staatlicher Politik die beiden Ziele „Vollbeschäftigung“ und „Soziale Sicherheit“ herausgebildet hatten.7 Im Laufe des 20. Jahrhunderts stellte sich jedoch eine folgenreiche Veränderung ein, die Helmut Schelsky schon in den 1950er Jahren als „Entschichtungsvorgang“ beschrieb. Nicht daß damals klassentypische Verhaltensmuster und Umgangsformen gar nicht mehr vorgekommen wären. „Alles das ist noch sozial wirksam, aber nicht mehr dominante Sozialstruktur. In dieser Weise sind natürlich noch genügend ‚Klassenelemente’ in unserer sozialen Gegenwart vorhanden und aufweisbar, da ja diese soziale Schicht zu den jüngsten unserer Vergangenheit gehört, aber dies besagt noch lange nicht, daß sie auch noch die dominanten, das soziale Geschehen von heute primär bestimmenden und die zukünftige Entwicklung leitenden Sozialfaktoren wären.“ (Schelsky 1979c: 335)
Kurzum: „In diesem Sinne sind wir gegenwärtig keine Klassengesellschaft mehr.” Statt dessen hat die universale Konsumierbarkeit industrieller und publiformed – at least in all its aspects relevant to the perpetuation of an orderly society.” Schließlich Beck (2007 [1999]: 37) „Wie sehr die Arbeit in der europäischen Moderne mit dem Sein des Menschen, seiner Moral und seinem Selbstbild verschmolzen ist, wird daran deutlich, daß die Arbeit im westlichen Kulturkreis längst zur einzigen relevanten Quelle und zum einzig gültigen Maßstab für die Wertschätzung des Menschen und seiner Tätigkeit geworden ist. Nur, was sich als Arbeit ausweist, erkannt und anerkannt wird, gilt als wertvoll“. 7 So lautet die Definition des Begriffs „Arbeitsgesellschaft“, wie sie vom Vorbereitungsausschuß für den 21. Deutschen Soziologentag 1982 in Bamberg ausgearbeitet wurde, vgl. Matthes 1983: 13. Eine neuere Definition lautet: „Als Arbeitsgesellschaft wird eine solche Gesellschaft bezeichnet, in der sich der Identifikationsprozeß und die Sinnfindung der Mitglieder maßgeblich über die Erwerbsarbeit vollziehen und ihre soziale Stellung sowie das Sozialprestige an der Stellung im Beruf festgemacht werden. Aus der Erwerbsarbeit ergeben sich ganz wesentlich die Einkommens-, Teilhabe- und Lebenschancen der Menschen.“ (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Quelle: http://www.insm.de/ Lexikon/A/Arbeitsgesellschaft.html.)
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zistischer Massenproduktionen auf allen Lebensgebieten dafür gesorgt, die Vorherrschaft der Klassenstruktur zu überwinden und jedem das Gefühl umfassender Teilhabe an der Fülle und dem Luxus des Daseins zu geben. Zumindest Schelsky (1979c: 337) betrachtete Arbeit schon damals also nicht länger als zentrale Sozialisationsinstanz und dominantes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung: „Es scheint so, als ob an Stelle des Klassenstatus die Verbraucherposition zur zentralen Determinante aller Verhaltensformen wird, sei es in der Kindererziehung, in der Politik oder in den kulturellen Bereichen, so daß der negative Prozeß der Nivellierung der Klassengesellschaft positiv als die Herausbildung der hochindustriellen Freizeit- und Verbrauchergesellschaft zu bestimmen wäre.”
Übrigens vertrat David Riesman (et al. 1958: 23) zur gleichen Zeit die Auffassung, daß von einem Übergang aus dem Zeitalter der Produktion in das Zeitalter des Konsums auszugehen sei, in welchem nunmehr der außen-geleitete, auf die Anerkennung anderer bezogene Charaktertyp den Ton angeben würde.8 Ohne sich hier länger mit Fragen der exakten Datierung dieses Übergangs aufzuhalten,9 scheint doch offensichtlich, daß der Faktor „Produktion“ bzw. „Arbeit“ − bezogen auf die je eigene Lebensführung und Selbstbestimmung − mittlerweile erheblich an Bedeutung eingebüßt hat, ohne ihm deshalb jede Relevanz abzusprechen. Immerhin gibt es ja auch weiterhin noch Familien, nur mit anderer Wertigkeit, weshalb es in diesem Zusammenhang naheliegt, vom „Monopolverlust der Arbeit“ zu sprechen. Oder um es auf den Beruf zu beziehen, gewissermaßen die institutionelle Adelung der Arbeit: „Eine volle Lebenserfülltheit nur durch den Beruf ist heute zur Ausnahme geworden.“ (Schelsky 1979b: 256) Dabei hielt Schelsky dem Beruf ansonsten, vor bald 50 Jahren, noch vieles zu Gute, was heute längst in Frage steht. So ging Schelsky noch davon aus, daß das Verhältnis des Individuums zu seiner sozialen Umwelt gerade in unserer Gesellschaft vorwiegend berufsbestimmt sei, und daß die gewichtigsten sozialen Bedürfnisse von der Berufstätigkeit her befriedigt werden würden.10 „Die Berufstätigkeit ist für den modernen Menschen der wesentlichste Bereich personbildender sozialer Lebensaktivität.“ (Schelsky 1979b: 262) Ebenso vertrat er die Auffassung, daß die soziale Stellung und das soziale Ansehen damals mehr denn je von der Stellung im Beruf, von seiner Anerkennung bei anderen und seinen Erträgen abgeleitet werden könnten, was auch dazu führe, daß die Individuen im 8
Vgl. hierzu auch Bell 1991: 83ff.; Wiswede 2000: 52ff.; Zukin/Maguire 2004. So gibt es zweifelsohne mehrere Optionen für die Datierung, etwa 1890 wie bei Trentmann (2005, 2006), um 1900 wie bei König (2001, 2005) oder gar erst in den 1950er Jahren wie bei Andersen (1997) und Hellmann (2007), je nach Fragestellung. 10 Vgl. hierzu auch Kurtz 2005. 9
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wesentlichen nach ihren Berufen sozial eingeordnet werden würden. Außerdem sei die Arbeitswelt der wesentlichste Lebensraum, um mit anderen Individuen in Kontakt zu kommen. Vor allem jedoch stünde der Beruf für Dauerhaftigkeit, und zwar mehr als alles andere. „Manchmal möchte man meinen, daß heute Verpflichtungen, die ein hochentwickelter Beruf auferlegt, fast unlösbarer sind als etwa die sozialen und menschlichen Bande, die man mit der Eheschließung knüpft.“ (Schelsky 1979b: 264) Von daher begründet sich auch seine Einschätzung, daß Lebenskontinuität und Berufskontinuität auf das Engste miteinander verknüpft seien, während sich alle anderen Lebensbezüge ständig ändern könnten und tatsächlich änderten. Betrachtet man diese Qualitäten, wie Schelsky sie damals Arbeit und Beruf noch zuschrieb, unter heutigen Verhältnissen, zeigt sich unschwer, daß der fortlaufende Strukturwandel der modernen Gesellschaft auch an diesen einstigen Grundpfeilern personbildender sozialer Lebensaktivität nicht spurlos vorübergegangen ist (vgl. Mutz 2001; Verwiebe/Müller 2006). So kann wohl kaum noch davon gesprochen werden, daß allein Arbeit und Beruf verbindlich festlegen, welche soziale Position jemandem heute zugewiesen wird. Ebensowenig kann noch unverändert davon ausgegangen werden, daß berufliche Sicherheit, Leistung und Zufriedenheit im Beruf die wesentlichen Grundlagen für die seelische Gesundheit der Mehrheit der Bevölkerung darstellen (vgl. Kraemer 2006; Koppetsch 2006). Nicht daß Arbeit und Beruf dafür keinerlei Rolle mehr spielten. Doch heutzutage wiegt die Ungewißheit, angesichts von Globalisierung und weiterhin hoher Massenarbeitslosigkeit fortlaufend Arbeit zu haben, und dies mit nur einem einzigen Beruf, den man ein Leben lang auszuüben vermag, ungleich schwerer (vgl. Dörre 2006; Astheimer 2007). Denn das ständige Berufesterben, das Aufkommen neuer Berufe und die damit verbundene Notwendigkeit laufender Fortbildung, um auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, sprechen gegen eine allzu enge Verknüpfung von Lebens- und Berufskontinuität.11 Vielmehr scheint Diskontinuität, sei es wegen ständigen Arbeits- oder Berufswechsels, sei es wegen mehrfachen Pendelns zwischen Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit, zum vorherrschenden Merkmal der Arbeits- und Berufswelt zu werden. „Das sichtbarste Zeichen dieses Wandels könnte das Motto ‚nichts Langfristiges’ sein. In der Arbeitswelt ist die traditionelle Laufbahn, die Schritt für Schritt die Korridore von ein oder zwei Institutionen durchläuft, im Niedergang begriffen. Dasselbe gilt für das Hinreichen einer einzigen Ausbildung für ein ganzes Berufsleben.“ (Sennett 2006: 25) Noch mag diese Entwicklung die deutlich Jüngeren und altgedienten Älteren mit größerer Wahrscheinlichkeit treffen, tendenziell kann das Schicksal diskontinuierlicher Berufstä11 Vgl. Kalleberg 2000. In der grauen Literatur findet sich hierzu die vielsagende Studie „Auf dem Weg in die Weiterbildungsgesellschaft“, herausgegeben 1994 vom Profil-Verband der Privaten Träger für Berufliche Bildung in Bonn.
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tigkeit, unterbrochen von durchaus auch längeren Phasen der Arbeitslosigkeit, inzwischen aber jeden ereilen12 – so schaut die Zukunft der Arbeitsgesellschaft heute aus.13 Obgleich der fortschreitende Monopolverlust der Arbeit und die damit verbundenen Folgen, und sei es nur die im Zuge fortlaufender Arbeitszeitverkürzungen auftretende Notwendigkeit, zunehmend mehr Freizeit14 irgendwie ausfüllen zu müssen, schon in den 1950er Jahren diagnostiziert wurden, dauerte es mehr als zwei Jahrzehnte, bis sich diese Entwicklung zu einem spezifischen Syndrom verdichtete, welches zuerst in Ralf Dahrendorfs Merkur-Beitrag 1980 zur Sprache kam und zwei Jahre später dann in der Frage „Krise der Arbeitsgesellschaft?“, dem Thema des 21. Deutschen Soziologentages, seinen symptomatischen Ausdruck fand15 – und zugleich Startschuß war für eine bis heute anhaltende Forschungstätigkeit. Dabei zeichnete sich schon damals ab, daß Arbeit – bezogen auf die anfängliche Fragestellung – ihren Status als zentrale Sozialisationsinstanz und dominantes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung eingebüßt hatte. Sehr klar äußerte sich hierzu Claus Offe (1983: 57) in seinem Eröffnungsvortrag 1982, indem er keinerlei Zweifel daran aufkommen ließ, daß Arbeit, Leistung und Erwerb ihrer zentralen Rolle als persönlichkeitsintegrierende Bezugsnormen der Lebensführung verlustig geworden sind: „Nicht nur objektiv ist die Arbeit aus ihrem Status als einer zentralen und selbstverständlichen Lebenstatsache verdrängt worden, sondern auch subjektiv hat sie – im Einklang mit dieser objektiven Entwicklung, aber in Diskrepanz zu den offiziellen Werten und Legitimationsmustern der Gesellschaft – diesen Status im Motivhaushalt der Arbeitenden eingebüßt.“
Und heutzutage heißt es beinahe schon selbstverständlich: „A steady, durable and continuous, logically coherent und tightly-structured working career is however no 12
Vgl. Kohli 1989; Hecker 2000; Behringer et al. 2004; Jacob 2004; Struck 2006. Dabei setzt der Berufswechsel, läßt man die Ausbildungszeit unbeachtet, mitunter schon direkt nach Ausbildungsende ein, vgl. Seibert 2007. Und selbst im fortgeschrittenen (Berufs-)Alter nimmt der nicht erzwungene, durch Entlassung oder Berufsunfähigkeit bedingte, sondern freiwillige Berufswechsel zu, vgl. Schön 2003; Bröll 2007. 13 Vgl. Hirsch 1999; Beck 2007; Welsch 2000; Mutz 2001; Kocka 2006 sowie zur neuesten Entwicklung Friebe/Lobo 2006. Hierzu heißt es wiederum in der Einleitung des Artikels von Ralf Nöcker: „Die Zukunft gehört Einzelkämpfern“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Dezember 2006, S. C 1: „Zum Ende des Jahres ein Blick in die Zukunft der Arbeitswelt: Keine festen Jobs, kein fürsorglicher Arbeitgeber, keine Arbeitsteilung – so stellen sich Wissenschaftler und Trendforscher die Zukunft vor. Sie gehört Projektarbeitern und Einzelkämpfern.“ 14 Inzwischen ist sogar ein Punkt erreicht, da die Freizeitwirtschaft zu Deutschlands größtem Arbeitgeber geworden ist, vgl. Informationsdienst Wissenschaft, Pressemitteilung des Baltic College Güstrow – University of Applied Science vom 4. Januar 2007. 15 Vgl. Schelsky 1979a; Dahrendorf 1980; Matthes 1983.
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longer a widely available option.”16 Wenn dem aber so ist, was tritt dann an die Stelle von Arbeit, nachdem zuvor schon Familie und Schicht ihre Vorrangstellung eingebüßt hatten? Wenn alle diese Faktoren in früheren Gesellschaftsformen durchaus fähig waren, eine zentrale Rolle als persönlichkeitsintegrierende Bezugsnorm der Lebensführung zu spielen, heutzutage aber nicht mehr, was sorgt dann funktional äquivalent dafür? Oder ganz auf die Frage der Kontinuität des Lebenslaufs bezogen, wie Richard Sennett (2006: 31) dies tut: „Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?“
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Consumerism as a Way of Life
Schenkt man an diesem Punkt nochmals Zygmunt Bauman Gehör, so lautet dessen Antwort: Wenn es in der gegenwärtigen Gesellschaft eine zeitgemäße Identitätsform gibt, müßte es sich um ein hochflexibles Konstrukt, um ein lose gekoppeltes Arrangement von Identitätsoptionen handeln, dessen Zusammensetzung sich ständig ändert, während die Identitätsoptionen vorrangig dem „volatile, infinitely inventive and erratic market of consumer goods“ entstammen: „’Aggregate identities’, loosely arranged of the purchasable, not-toolasting, easily detachable and utterly replaceable tokens currently available in the shops, seem to be exactly what one needs to meet the challenges of contemporary living.” (Bauman 1998: 29) Nur wie ist es möglich, daß Konsumgüter sich für diese Aufgabe der Identitätskonstruktion eignen? Und warum betont Bauman mehrfach, wie sehr es dabei auf den Markt ankomme? „The roads to self-identity, to a place in society, to life lived in a form recognizable as that of meaningful living, all require daily visits to the market place.“17 Und inwiefern ermöglichen gerade tägliche Besuche öffentlicher Märkte die Konstruktion einer solchen zeitgemäßen Identitätsform?
3.1 The Medium is the Culture Geht man zunächst vom Begriff des Marktes aus, so bezeichnet dieser generell den öffentlichen Austausch von Sach- und Dienstleistungen. Alles, was marktfä16 Bauman (1998: 27) und kurz darauf: „Purely and simply, the prospect of constructing a lifelong identity on the foundation of work is, for the great majority of people … dead and buried.” 17 Bauman 1998: 26; vgl. hierzu auch Zavestoski 2002: 125.
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hig ist, d.h. angeboten und nachgefragt wird, kann auf Märkten getauscht werden, während Geld als universales Tauschmittel fungiert, universal deshalb, weil alle Leistungen, einschließlich aller Faktoren, die für deren Produktion, Distribution und Konsumtion erforderlich sind, einen bestimmten Preis haben und dadurch effizient, d.h. mit vergleichsweise geringem Aufwand, miteinander verglichen werden können. Andere Vergleichsgesichtspunkte, vor allem Handlungsbegrenzungen außerwirtschaftlicher Herkunft, ob seitens der Religion, Politik oder Familie, wie es in vormodernen Gesellschaften gang und gäbe ist, spielen demgegenüber kaum noch eine Rolle. Idealtypisch hat dies Max Weber (1985: 383) formuliert: „Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen bleibt, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen.“ Dadurch aber eröffnet die Symbiose von Markt und Geld in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht beinahe unbegrenzte Freiheitsgrade: In sachlicher Hinsicht steht fast jede Leistung weltweit in beliebiger Menge und Qualität zum Kauf bereit, in sozialer Hinsicht kann diese Leistung fast jeder erwerben, der zahlungsfähig ist, und in zeitlicher Hinsicht kann der Kauf einer Leistung bald rund um die Uhr getätigt werden.18 Anders formuliert, zeichnen sich Märkte durch einen enormen Kontingenzgewinn aus, weil alles, was in ihnen geschieht, auch anders möglich ist: Eine andere Leistung kann erworben werden, jemand anderes erwirbt sie oder sie wird zu einem anderen Zeitpunkt bzw. anderswo erworben. Die einzige Bedingung, die in jedem Fall erfüllt sein muß, ist ausreichende Zahlungsfähigkeit, der Rest verdankt sich dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage.19 Märkte konfrontieren also mit beinahe unüberbietbarer Kontingenz; sie steigern die Anzahl der Möglichkeiten, irgend etwas zu erwerben, um damit irgend etwas zu erreichen, in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht ins geradezu Unermeßliche, und insofern kann man dieses Netzwerk von Märkten, oder wie es umgangssprachlich heißt: die Marktwirtschaft, als Kontingenzkultur bezeichnen, d.h. als eine Kultur, die sich dadurch auszeichnet, alles als kontingent, d.h. auch anders möglich anzupreisen − höchstens sich selbst nicht.20 Dabei orientiert sich die Bestimmung der Marktwirtschaft als Kontingenzkultur im Wesentlichen an der kaum zu überschätzenden Bedeutung des Geldes für die moderne Gesellschaft. Denn Geld als universales Tauschmittel ist nicht bloß 18
Vgl. Kasuga 1987; Baecker 1988; Kraemer 1997; Paul 2004. Paradoxerweise konfrontiert die Situation vor dem Kauf einer Sach- oder Dienstleistung mit Überfluß und Knappheit zugleich: Während das Leistungsangebot Überfluß bietet, zeugt die eigene Zahlungsfähigkeit von Knappheit. 20 Zum Begriff der Kontingenzkultur im Sinne Hans Blumenbergs vgl. Makropoulos 2001, 2004 und sein Beitrag in diesem Band. 19
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bedeutsam, soweit es um rein wirtschaftliche Belange geht. Hierauf hatte schon Karl Marx aufmerksam gemacht − man denke nur an das erste Kapitel des Kapitals, das sich mit dem Kreislauf des Geldes befaßt: Während Geld anfangs nur zum Einsatz kam, um qualitativ Inkommensurables zum Ausgleich zu bringen, indem eine Ware gegen Geld getauscht wurde, um für dieses Geld wiederum neue Ware einzutauschen, wie es die berühmte Formel W–G–W zum Ausdruck bringt, schwingt sich Geld im Laufe der Zeit zur entscheidenden Antriebsgröße dieses Zirkulationsprozesses auf, indem Waren vornehmlich getauscht werden, um Geld zu erwerben (G-W-G) – mit den bekannten Folgen für die Bestimmung der modernen Gesellschaft als Kapitalismus. Somit hat Geld sich nach Marx vom bloßen Tauschmittel in den eigentlichen Erwerbszweck verwandelt, das Mittel avancierte zum Zweck der ganzen Zirkulation, oder anders gesagt: Geld ist als Mittel absolut geworden. So nämlich lautet die Formulierung von Georg Simmel, der sich ebenfalls mit den gesellschaftlichen Funktionen und Folgen von Geld befaßt hat, bezüglich der Verwandlung des Geldes vom Mittel zum Zweck. Insbesondere in seiner „Philosophie des Geldes“ geht Simmel dieser Verwandlung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die moderne Gesellschaft nach, mit dem Ergebnis, daß Geld nicht nur für die Marktwirtschaft im besonderen, sondern für die Gesellschaft im allgemeinen zu einer zentralen Instanz der Vergesellschaftung geworden ist.21 So heißt es bei Simmel (1996: 298f.), diese gesellschaftsweite Wirkung von Geld betreffend: „Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, daß es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv haltmacht. Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind.“
Nur wie hat man sich diese Vergesellschaftung vorzustellen, wenn Geld als absolutes Mittel für die meisten Individuen zum absoluten Zweck geworden ist? Nun, im Anschluß an Simmels Überlegungen kann gesagt werden, daß die Funktion des Geldes, eine äußerst effiziente Möglichkeit zu sein, beliebige Sach- und Dienstleistungen zu erwerben, um damit beliebige Zwecke zu verwirklichen, auch die Möglichkeit eröffnet, alle Möglichkeiten, die man mittels Geld realisieren zu können glaubt, als bloße Möglichkeiten wertzuschätzen, indem man an der Möglichkeit Gefallen findet, alles erreichen zu können, solange man diese Möglichkeit nicht
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Vgl. Simmel 1989; Deutschmann 2002; Paul 2004.
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wirklich nutzt. Dies klingt paradox.22 Gemeint ist, daß Geld als absolutes Mittel gewissermaßen einen „Möglichkeitsraum“23 schafft, dessen Reiz darin besteht, beliebige Möglichkeiten auf ihre möglichen Wirklichkeitseffekte hin zu betrachten, abzuwägen und zu vergleichen, solange man es dabei beläßt. Geld als absolutes Mittel verschafft gewissermaßen absolute Freiheit (vgl. Ehrlicher 1979) − die ihre Wirkung freilich nur im Rahmen dieses Möglichkeitsraums wirklich entfalten kann.24 Nichtsdestotrotz dürfte die rein psychologische Relevanz dieses Möglichkeitsraums erheblich sein, und auch soziologisch ist davon auszugehen, daß die gesellschaftsweite Verbreitung eines solchen Möglichkeitsraums, der für viele Individuen eine ganz eigene Attraktivität und Erlebnisqualität verspricht, nicht folgenlos bleibt.25 „Nichts beruhigt die Nerven und stimuliert die Phantasie gleichermaßen wie ein wohlgefülltes Bankkonto.“ (Paul 2004: 242) Dies gilt vor allen Dingen, wenn man sich bewußt macht, daß es sich bei diesem in Rede stehenden Möglichkeitsraum, der erst durch Geld als absolutes Mittel universal wurde, und der durch diesen Raum eröffneten „Unendlichkeit der im Geldvermögen angelegten Möglichkeiten“ (Deutschmann 2000: 310) um all das handelt, was wir heutzutage unter Konsum verstehen (vgl. Schrage 2003; Hellmann 2004). Denn Konsum ist für uns nicht bloß das, was wir erwerben und verbrauchen; viel mehr fungiert Konsum als eine Art Medium, das seine Wirkung nicht bloß dadurch entfaltet, bestimmte Formen des Konsums zu produzieren, sondern als Potentialität zu wirken, als Bedingung der Möglichkeit von Möglichkeiten.26 Plakativ formuliert: „Der Konsum ist heute das Medium einer Kultur des Selbst.“ (Bolz 2002: 102) 22 Entscheidend ist, daß die Situation vor der (Kauf)Entscheidung eine andere ist als nach der (Kauf)Entscheidung, vgl. grundsätzlich Luhmann 1997b. Dabei wird der Fokus hier auf die Vorkaufphase gelegt, weil das Erleben und antizipative Austesten von Kontingenz dann noch uneingeschränkt möglich sind. 23 Vgl. Deutschmann 2000: 305; Ullrich 2006: 55; Paul 2004: 245f.; und zuletzt Simmel: Geld „gibt die Möglichkeit, gleichsam mit einem Schlage zu gewinnen, was überhaupt begehrenswert erscheint.“ Geld ist wie ein „Zauberschlüssel im Märchen“, den man „nur zu gewinnen braqucht, um mit ihm zu allen Freuden des Lebens zu gelangen.“ (Simmel 1989: 89) 24 „Wer es besitzt, hält sich alle Möglichkeiten offen“ (Ullrich 2006: 62) – aber nur solange es nicht ausgegeben wird. Deutschmann (2000: 306) bezeichnet Geld daher auch als „Träger eines Nutzens zweiter Ordnung, der Wahlfreiheit, der es über die Reihe der gewöhnlichen Waren hinaushebt.“ 25 Vgl. Deutschmann (2000: 310): „Die Antriebskräfte des Kapitalismus liegen nicht nur in der Befriedigung bloß ‚gegebener’ Konsumentenwünsche, und auch nicht nur in dem Streben nach Effizienzsteigerung und ‚Rationalisierung’. Sie liegen vielmehr in der zutiefst irrationalen Faszination der Menschen durch die Möglichkeiten des Geldes.“ 26 Zu diesem Verständnis von Konsum als Medium gibt es mehrere Vorarbeiten, vgl. Douglas/Isherwood 1978; Sahlins 1981; Bohn 2000; Beck 2003; Makropoulos 2004; Leggewie 2006, Koppetsch 2006. Bemerkenswert ist vor allem die Liquidität dieses Mediums, seine reine Potentialität vor jeder Aktualisierung einer bestimmten Form, sozusagen der flüssige Zustand des Mediums, wie man in Anlehnung an Aleida Assmann (1991) sagen könnte, das nicht festgelegt ist, sondern alles im Fluß, alle Möglichkeiten offen hält, solange Unterscheidung und Entscheidung suspendiert sind.
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Vom Standpunkt der Subjekte, für deren jeweilige Erlebnis- und Handlungshorizonte, stellt sich dieses Medium als ein spezieller Sinn für Mögliches dar, man könnte auch Vorstellungsvermögen oder Phantasie dazu sagen.27 „The language of imagery is also the language of the dream world of the consumer.”28 Es handelt sich um eine Art Disposition, einen Habitus, der die Praxis vieler Konsumenten prägt. Denn heutzutage erschöpft sich unsere Konsumfähigkeit längst nicht mehr darin, konkrete, vor allem physische (primäre) Bedürfnisse zu befriedigen, wie dies für den Großteil der Bevölkerungen in vormodernen Gesellschaften der Fall ist. Vielmehr bedienen wir uns dieses Möglichkeitssinns ausgiebig, indem wir Konsumtion als imaginierendes Ausprobieren von Möglichkeiten dieses Möglichkeitsraums praktizieren, als das Erleben einer virtuellen Realisierung von Kontingenz.29 Insbesondere Colin Campbell (1987: 89) hat sich in „The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism” mit dieser Besonderheit des modernen Konsums beschäftigt: „The essential activity of consumption is thus not the actual selection, purchase or use of products, but the imaginative pleasure-seeking to which the product image lends itself, ‘real’ consumption being largely a resultant of this ‘mentalistic’ hedonism.” Campbell (1987: 77) bezeichnet diese Form hedonistischen Konsums auch als „day-dreaming”, also als Tagträumen, weil der moderne Konsument, von der Werbung gewiß angeregt, aber keineswegs allein durch sie veranlaßt,30 mit dem fortwährenden Erträumen alternativer Lebensentwürfe im
27 Vgl. Bierfelder 1959; Hirschman/Holbrook 1982; Holbrook/Hirschman 1982; Ewen/Ewen 1992; Elliott 1997; Belk/Costa 1998; Popcorn/Marigold 1999; Schau 2000; Makropoulos 2001, 2004; Beck 2003; Belk et al. 2003; d’Astous/Deschênes 2005; Ullrich 2006; Prisching 2006; Carù/Cova 2007. 28 Williams 1982: 82; ferner Holbrook/Hirschman (1982: 132): „Consumption has begun to be seen as involving a steady flow of fantasies, feelings, and fun encompassed by what we call the ‘experiential view’.” 29 An diesem Punkt ergeben sich bemerkenswerte Parallelen zwischen Konsumtion und Spekulation, vgl. Stäheli 2007. Demnach besteht die Faszination der Geldspekulation darin, sich ganz und gar auf den Möglichkeitsraum einzulassen, den Geld als Medium darbietet. „Mit dem Spiel werden die neuen Möglichkeiten des Mediums ausprobiert, seine Grenzen getestet und immer wieder neue Herstellungsweisen von Kontingenz im Medium Geld erkundet.“ (Stäheli 2007: 54) Geldspekulation ist Ausdruck einer „Faszination durch die Reflexivität des Geldmediums“ (Stäheli 2007: 67, 113), äquivalent zu den Verlockungen, die der Konsum als Medium verspricht, und die mit Geld eröffnete Kontingenz wird sogar als spannendes Chaos genossen − den Spieler „fasziniert einzig die Intensität des Spiels“ (Stäheli 2007: 71) −, was einer Aufhebung des Selbstexemptionsverbots gleichkommt: So wird Geld − wie Konsum − durch Selbstanwendung nahezu referenzfrei genutzt, als reines Medium, losgelöst von allen ökonomischen Zweckerfordernissen („Referenzverlust des Mediums“, Nutzung um seiner selbst willen, vgl. Stäheli 2007: 67f.). Nicht zuletzt besteht eine weitere Parallele darin, daß exzessive Geldspekulation als Pathologie betrachtet wird, wie auch exzessiver Konsum (z.B. Kaufsucht), und beides wird als irrationales Verhalten gebrandmarkt. 30 Vgl. Miller (1987: 190f.): „Commerce obviously attempts to pre-empt this process through practices such as advertising which most often relate to objects in terms of general lifestyle, but this does not mean that advertising creates the demand that goods should be subsumed in this way, and these images should not be confused with an actual process performed as a significant cultural practice by people in society.“ Ferner Belk et al. (2000: 99): „Advertising, packaging, display, media representations, conver-
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Kleinen wie im Großen befaßt ist. „The visible practice of consumption is thus no more than a small part of a complex pattern of hedonistic behaviour, the majority of which occurs in the imagination of the consumer.” (Campbell 1987: 89) Überträgt man dergestalt die Besonderheit des Geldes, ein absolutes Mittel zu sein, weil es die Möglichkeit der Verfügung über nahezu unbegrenzt viele Möglichkeiten bedeutet, wie Simmel es beschrieben hat, auf die Art und Weise, wie wir uns heutzutage dieser Möglichkeit bedienen, könnte man in Anlehnung an Simmel durchaus von einer „Philosophie des Konsums“ sprechen, weil Konsum nur die Fortsetzung dessen ist, was Geld bewirkt: die Eröffnung eines Möglichkeitsraums und die Vermittlung eines entsprechenden Möglichkeitssinns „which is the starting point for much day-dreaming.“31 Geld und Konsum sind gleichsam die zwei Seiten einer Medaille:32 Während beim Geld der Fokus auf der Erwerbsmöglichkeit sämtlicher Sach- und Dienstleistungen liegt, mit Zahlungsfähigkeit als zentraler Inklusionsbedingung, ist der Fokus beim Konsum auf die Erlebnismöglichkeit sämtlicher Sach- und Dienstleistungen gerichtet, mit einer Art Imaginationsfähigkeit als zentraler Inklusionsbedingung.33 Konsumfähig sind demnach alle, die über genügend Möglichkeitssinn sations, and the sight of certain others possessing an object help to fuel these fantasies, but desire exists only within the person or group who participates in creating, nurturing, and pursuing these illusions.” 31 Campbell 1987: 84. Freilich haben hieran viele Faktoren mitgewirkt. So führen Ewen/Ewen (1992: 41) die Entstehung des modernen Konsums als Möglichkeitsraum zum einen auf die Verbreitung der Versandkataloge von Montgomery Ward und Richard Sears in den 1870er Jahren zurück: „The catalog − which came to be known as ‚The Great Wish Book’ − pushed the need and desire for mass-produced goods beyond the established limits of contemporary imagination. It inspired promising fantasies of consumption among the customers. …through this window on a world of apparently unlimited possibility they caught a glimpse of things to come and received advice on how to get these things in the here and now.” Zum anderen machen Ewen/Ewen (1992: 45f.) für diese Entwicklung, Jahrzehnte später, die Warenhäuser verantwortlich, eine Annahme, die sich u.a. auch bei Williams (1982) findet, ergänzt um die wiederkehrenden Weltausstellungen seit 1855, welche um die Jahrhundertwende zu Konsumgütermessen erweitert wurden: „Consumer goods, rather than other facets of culture, became focal points for desire. The seemingly contrary activities of hard-headed accounting and dreamy-eyed fantaszing merged as business appealed to consumers by inviting them into a fabulous world of pleasure, comfort, an amusement” (Williams 1982: 66) 32 Diese Metapher, der zufolge Zahlungs- und Konsumfähigkeit unmittelbar aufeinander bezogen sind, findet historisch ihre Entsprechung in der Institutionalisierung und Akzeptierung der Konsumentenkredite nach dem Zweiten Weltkrieg, die es mit einem Schlage ermöglichten, daß beinahe jede/r zahlungs- und damit konsumfähig wurde, obgleich es die tatsächlichen Einkommensverhältnisse gar nicht zuließen, vgl. Bell 1991: 87; Baudrillard 1991: 194ff. Darüber hinaus darf natürlich die Werbung nicht vergessen werden, die zwischen den beiden Seiten dieser Unterscheidung vermittelt, vgl. Hellmann 2003: 234ff., 2004: 159ff. 33 Vgl. Hirschman/Holbrook 1982; Holbrook/Hirschman 1982; Schulze 1992; Schau 2000. Alternativ könnte man die jeweils Betroffenen, um den Negativfall, also Imaginationsunfähigkeit zu thematisieren, auch als „zur Fiktionalisierung ihres Lebens Unbegabte“ bezeichnen, vgl. Ullrich 2006: 59. Und Elena Esposito (2007: 72) geht sogar soweit, die Fähigkeit im Umgang mit Fiktionen als basale Bedingung für die Inklusion in die moderne Gesellschaft überhaupt zu betrachten: „Doch wer mit Fiktion nicht umgehen kann, der weiß sich schon deshalb in der realen Welt nicht zu bewegen, weil ihm jegliche authentische kommunikative Kompetenz abgeht.“
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verfügen, um die fortlaufende „construction of day-dreams“ vorzunehmen; andernfalls reduziert sich das Konsumieren auf die Befriedigung primärer Bedürfnisse. 3.2 „Multioptionalität“34 beim Shopping Man kann diese fortlaufende „construction of day-dreams“ sehr gut plausibilisieren, indem man sich der „practice of window-shopping” zuwendet, wie Campbell (1987: 92) vorschlägt, oder allgemeiner das Erleben und Handeln beim Shopping untersucht, das idealtypisch zwei Dimensionen aufweist: auf der einen Seite der Zweckkauf, der unmittelbar auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse bezogen ist, auf der anderen der Erlebniskauf, der mit konkreten Bedürfnissen nur sehr mittelbar zu tun hat, dafür aber das Spielen mit den Möglichkeiten voll ausnutzt. So sprechen Barry J. Babin, William R. Darden und Mitch Griffin (1994: 647) davon, daß „shopping with a goal can be distinguished from shopping as a goal“: Während „shopping with a goal“ das geplante Einkaufen bestimmter Sachoder Dienstleistungen bedeutet, vorrangig utilitaristischen Charakter hat und als „work“ bewertet wird, geht es beim „shopping as a goal“ um den Vorgang selbst, der deutlich hedonistische Züge trägt und als „fun“ erlebt wird. Pasi Falk und Colin Campbell (1997) unterscheiden analog zwischen „shopping for“ und „shopping around“: Ersteres verfolgt rein instrumentelle Absichten und deckt sich mit dem geplanten Einkauf bestimmter Sach- oder Dienstleistungen, während zweiteres einen autonomen Bereich des Erlebens und Handelns betrifft, der erst in Erscheinung tritt, wenn man nicht bloß geplante Einkäufe unternimmt, sondern geplant hat, eher planlos durch die Geschäfte zu schlendern (vgl. auch Keller 2005). Rachel Bowlby (2001: 8) unterscheidet wiederum zwischen „doing the shopping“ und „going shopping“. Dabei bezeichnet „doing the shopping“ eine Verpflichtung, die regelmäßig zu erledigen ist und die sich auf den Kauf einer mehr oder weniger festgelegten Anzahl von Artikeln bezieht. Demgegenüber bewegt sich „going shopping“ klar in Richtung Neigung; es stellt eine vage, ja extravagante Tätigkeit dar, die kein bestimmtes Ziel kennt und sich über eine längere Zeit erstrecken kann, ohne daß es am Ende zum Kauf eines bestimmten Gutes kommen muß. Turo-Kimmo Lethonen und Pasi Mäenpäa (1997: 143f.) trennen funktional äquivalent zwischen „necessity shopping” und „pleasurable shopping“. Shopping von der ersten Art betrifft demnach das „buying-myself-this-and-that-and-now“, während Shopping von der zweiten Art eine „pleasurable social activity in itself“ ist, die 34
Vgl. Steinecke (2000: 89), der zwar nicht von Kontingenzkultur spricht, aber das gleiche Phänomen beschreibt: „Ein zentraler Bestandteil der ‚Mehr-Kultur’ ist der Wunsch, an einem Ort aus zahlreichen Optionen nach eigenem Geschmack auswählen zu können und sich seine individuelle Mischung selbst zusammenzustellen (Multioptionalität).“
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ihrer selbst wegen ausgeführt wird und damit eine intrinsische Motivation aufweist. Und schließlich kann man mit Paco Underhill (1999: 161ff.) zwischen „buying“ und „shopping“ unterscheiden. „Buying“ beschränkt sich auf den Kauf konkreter Güter und bezeichnet gleichsam einen technischen Vorgang, eine Routine, die fast automatisch ausgeführt wird, ohne nennenswerte innere Anteilnahme. Beim „shopping“ steht hingegen das Erleben und Erfahren des möglichen Erwerbs beliebiger Sach- und Dienstleistungen im Vordergrund, weitgehend unabhängig davon, ob tatsächlich eine erworben wird oder nicht: „At the exalted level, shopping is a transforming experience, a method of becoming a newer, perhaps even slightly improved person. The products you buy turn you into that other, idealized version of yourself: That dress makes you beautiful, this lipstick makes you kissable, that lamp turns your house into an elegant showplace.” (Underhill 1999: 116f.)
Würde man darüber hinaus eine Typologie der Tagträume, die beim Shopping auftreten können, erarbeiten wollen, wäre zunächst das ungeheure Ausmaß an Kontingenz zu vergegenwärtigen, welches die „cathedrals of consumption“35 bereithalten, sei es draußen beim „window shopping“36 oder drinnen beim An- und Ausprobieren unterschiedlichster Accessoires, bei der spielerischen Dekoration und Umgestaltung der eigenen Wohnung, bei der Imagination möglicher Urlaubsziele oder der Vorbereitung eines festlichen Mahls (vgl. Lehnert 2002). In jedem einzelnen Fall inszeniert man sich vor dem inneren Auge in einem jeweils anderen Stück, in ständig wechselnden Kostümen und auf den unterschiedlichsten Bühnen angesiedelt, ohne je in die Verlegenheit zu kommen, sich damit gegenüber der sozialen Wirklichkeit wirklich behaupten zu müssen: „Wer erst einmal darauf achtet, wird bemerken, wie häufig Menschen in Warenhäusern oder Geschäften etwas in die Hand nehmen, es vor sich halten und versonnen darauf blicken: Sie träumen gerade, in Empathie verfallen wie Leser eines Romans. Erst recht werden vor den Spiegeln von Umkleidekabinen alternative Lebensläufe skizziert.“ (Ullrich 2006: 48)
3.3 Topographie des Shopping Wendet man sich von der sicht- wie unsichtbaren „Performance“37 beim Shopping dem Interieur und Ambiente, also der materiellen Kultur des Shopping zu, speziell den Räumen, in denen das Shopping stattfindet, erschließt sich eine 35
Vgl. Crossick/Jaumain 1999. Vgl. Friedberg 1993; Marshall 2006. 37 Vgl. Deighton 1992. Alternativ könnte man auch von „retail theater“ sprechen, wie es die USamerikanische „Retail“-Forschung tut, vgl. Hellmann 2007b. 36
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bemerkenswerte Vielfalt an Optionen38 − angefangen bei den archaischen Märkten unter freiem Himmel, die oftmals als Mikrokosmos jener Gesellschaften gesehen werden können, in die sie eingebettet sind, und deren Relikte heutzutage wieder große Nachfrage erfahren − man denke nur an die Wochen- und Flohmärkte −, über die ersten Kolonialwarenhändler, Warenhäuser und Selbstbedienungsläden bis zu den großen Shopping Malls, die in ihrer hypertrophen Präsentation unterschiedlichster Warenangebote selbst zur eigentlichen Attraktion geworden sind.39 Dabei ist allen diesen Räumen des Shopping gemeinsam, daß sie gleichermaßen als Mittel wie Selbstzweck fungieren: als Mittel, sofern es um die Bereitstellung des jeweiligen Warenangebots geht, die klassische Distributionsfunktion, und als Selbstzweck, sofern es um die Bereitstellung einer ganz eigenständigen Erlebnismöglichkeit geht, wie sie auch im Internet vorkommt und dort als „Surfen“ oder „Browsen“ bezeichnet wird − denn in diesem Punkt gibt es keinerlei Unterschied zwischen „real shopping“ und „eshopping“.40 So ermöglichen gerade die aufwendig gestalteten Einkaufszentren das rein imaginative, unbegrenzte Ausprobieren einer Vielzahl von Möglichkeiten des Konsums, weil sie selbst, wie George Ritzer (et al. 2005: 305) sagt, „nonplaces“, d.h. Orte sind, die keinerlei intrinsische, historische oder gar autochtone Signifikanz aufweisen, „they are empty and readily filled with diverse fantasies and meanings.“ Derartige, beliebig austauschbare Nicht-Orte sind ideale Möglichkeitsräume, weil ihre Wirklichkeit ausschließlich in der Stimulation der Simulation von Optionen besteht. „Cathedrals of consumption are successful because they provide an escape from everyday reality by offering the opportunity to imagine worlds and participate in fantasies that cannot be had outside of these spectacular settings.” (Ritzer et al. 2005: 305) Aber auch die Überbleibsel vormoderner Tauschverhältnisse, die traditionellen Wochen- und Flohmärkte, warten mit einem vergleichbaren Erlebnisversprechen auf, so John F. Sherry (1990: 20): „A flea market is a place that actively engages the consumer’s imagination and fosters holistic perception“ − denn wie beim Shopping in den großen Warenhäusern und Mega Malls ist es weniger das Zweck- als vielmehr das Erlebniskaufen, welches den eigentlichen Reiz beim Flohmarkt-Shopping ausmacht: „The seeking of such experience is often far more significant than the mere acquisition of products. … consumers seek pleasure from the self-illusory experiences constructed from meanings associated with products: this imaginative pleasure-seeking is the essential activity of consumption.” (Sherry 1990: 26)
38 39 40
Vgl. exemplarisch das entsprechende Tableau bei Sherry 1990: 16. Vgl. Bloch et al. 1994; Wakefield/Baker 1998; Haytko/Baker 2004; Underhill 2004. Vgl. Williams 1982; Currah 2003; Brown et al. 2003.
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Inzwischen ist die Entwicklung schon soweit gekommen, daß derartige Räume, in denen es ums Shopping geht, selbst zum Gegenstand des Konsums werden, wie Sherry et al. (2001) an der „ESPN Zone“ in Chicago aufzeigen. Hierbei handelt es sich um ein riesiges Unterhaltungs- und Spielezentrum, in dem es vorrangig um die Vermittlung von Sportsendungen und Vergnügungsspiele aller Art geht und dessen Attraktivität nicht zuletzt in der räumlichen Gestaltung des Unterhaltungs- und Spieleangebots zu sehen ist. Der Mittelcharakter der ESPN Zone ist dabei unbestreitbar. Viel stärker fällt jedoch ins Gewicht, daß die Besucher ihre Faszination, die von der ESPN Zone auf sie ausstrahlt, auf die Architektur, das Innenleben und die dadurch angeregten Erlebnismöglichkeiten, mithin den Zweckcharakter der ESPN Zone zurückführen. „The site encourages variety seeking, offering different experiences for different consumer segments as well as different experiences for individual consumers. The built environment of the site is the stage in which the consumer enacts fantasies and dreams − with enough verisimilitude and reduced risk − that real life often does not permit. Such an NMC [new means of consumption] affords the consumer a host of roles from which to choose, providing both a sense of agency and one of mastery as the fantasies are consumed.” (Sherry et al. 2001: 504)
Gerade solche Räume fürs Shopping bergen somit nicht nur Erlebnismöglichkeiten vielfältigster Art, sondern bieten sich auch selbst als Projektions- und Animationsflächen immer häufiger dafür an. Insofern geht es beim Shopping nicht nur um Räume des Konsums, sondern immer auch um den Konsum von Räumen.
3.4 Konsumismus als Ideologie Folgt man dieser Analyse der Interdependenz von Markt, Geld und Konsum, die im Spielen mit den Möglichkeiten liegt, welches Markt, Geld und Konsum wechselseitig ermöglichen, soweit, dürfte klarer werden, was Bauman im Sinn hat, wenn er einen Zusammenhang zwischen Identitätsoptionen, Konsumgütern und Marktbesuchen, sprich Shopping, herstellt: Wird heutzutage nach der zeitgemäßen Identitätsform gefragt, dann orientiert sich diese vorrangig an jenem Möglichkeitsraum, der durch die Marktwirtschaft als Kontingenzkultur, d.h. als die Einheit des immer auch anders Möglichen, konstituiert wird – nicht zuletzt deshalb, weil sich darin auch die gegenwärtige Gesellschaftsform selbst niederschlägt. Denn die moderne Gesellschaft kann insgesamt als Kontingenzkultur beschrieben werden (vgl. Luhmann 1992; Makropoulos 2001). Hierbei kommt dem Konsum – als Epiphanie des Geldes in anderer Gestalt – für die Identitätsform eine besondere Bedeutung zu, weil das Ausmaß an Kontinuität beim Kon-
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sum im Vergleich mit Familie, Schicht und Arbeit ungleich höher ist. Während sich die Familienverhältnisse, die Schichtzugehörigkeit und die Arbeitsbedingungen fortwährend ändern können und durch Diskontinuität gezeichnet sind, bleibt der Konsum davon völlig unberührt − zwar nicht in der Hinsicht, was man konkret konsumiert, sondern daß man ununterbrochen konsumiert. Und hiermit ist nicht bloß gemeint, man könne nicht nicht konsumieren, um die berühmte Formulierung Paul Watzlawicks leicht abzuwandeln, sondern daß der Möglichkeitssinn, der sich insbesondere mit dem modernen Konsum verbindet, durch keinerlei Veränderungen der sonstigen Lebensverhältnisse eingeschränkt oder gar aufgehoben wird.41 Es ist jene Existenz- und Erlebnisform, die alles überdauert, gleichsam der Fels in der Brandung, weil der durch das Zusammenspiel von Markt, Geld und Konsum entstandene Möglichkeitsraum vollständig verfügbar bleibt, auch wenn er praktisch, aufgrund welcher Umstände auch immer, niemals und von niemandem ganz ausgeschöpft werden kann. Von daher könnte vermutet werden, wie Bauman dies getan hat, daß nicht länger Arbeit, sondern Konsum nunmehr zentrale Sozialisationsinstanz und dominantes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung geworden ist. Aber ist dies auch empirisch der Fall? Eine einfache Beantwortung dieser Frage ist sicher abwegig. Auf der einen Seite gibt es eine Fülle von Publikationen und Positionen, die genau diese Auffassung vertreten.42 Auf der anderen Seite ist es mehr als fragwürdig, eine derart strukturierte Identitätsform als Nonplusultra für alle Individuen der gegenwärtigen Gesellschaft zu behaupten. Einen Mittelweg weist Steven Miles (1998: 152), wenn er schreibt: „However, consumerism is an ideological beast.“ Miles stellt nämlich fest, daß der Konsum seit einigen Jahrzehnten eine gesellschaftsweite, allgegenwärtige Bedeutung gewonnen hat, die es empfehlenswert erscheinen läßt, zwischen Konsum („consumption“) und Konsumismus („consumerism“) zu unterscheiden: „In effect, while consumption is an act, consumerism is a way of life.“43 Gemeint ist damit − wie bei Bauman − eine Art Weltanschauung, mehr noch ein Weltverhältnis umfassender Art, das ständig im Wandel begriffen ist: „Consumerism is ubiquitous and ephemeral. It is arguably the religion of the late twentieth century. 41 Und natürlich gibt es noch weitere, geradezu klassische „Bollwerke“, die einer allzeit bereiten Wandelbarkeit widerstehen, wie die Geschlechtskategorie, die ethnische Kategorie und andere Formen sozialer Ungleichheit, die in den Bereich askriptiver Merkmale fallen. 42 Vgl. Hunziker 1972; Belk 1985; Campbell 1987; Haudenschild 1989; Featherstone 1991; Neckel 1996; Mackay 1997; Baudrillard 1998; Friese 1998; Schor 1998, 2004; Murphy 2000; Lüdtke 2000; Quart 2003. 43 Miles 1998: 4; diese Formulierung findet sich übrigens schon bei Ewen/Ewen 1992: 24. Im Unterschied zum Original wird hier nicht von „Konsumerismus“, sondern von „Konsumismus“ gesprochen, weil der Begriff „Konsumerismus“ oftmals dann Verwendung findet, wenn es um Vorgänge des Verbraucherschutzes, der Verbraucherbildung oder -bewegung geht. Diese Eingrenzung des Bedeutungsraums des Konsumphänomens auf das Politische wird hier nicht verfolgt.
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It apparently pervades our everyday lives and structures our everyday experiences and yet it is perpetually altering its form and reasserting its influence in new guises.”44 Darüber hinaus könne Konsumismus definiert werden „as a psychosocial expression of the intersection between the structural and the individual within the realm of consumption. The consuming experience is psycho-social in the sense that it represents a bridge that links the individual and society.” (Miles 1998: 5) Und hiermit wiederum ist nichts anders als jenes Entsprechungsverhältnis zwischen Gesellschafts- und Identitätsform angesprochen, um das es in diesem Beitrag im Wesentlichen geht. „It is in this sense that consumption came to play a fundamentally formative social role in modern societies, and that we can begin to talk about consumerism as a way of life.” (Miles 1998: 10) Doch genau genommen versteht Miles Konsumismus als Ideologie, als eine spezifische Form der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, wie im Falle des Kapitalismus (vgl. auch Hirschman 1988). Man könnte auch sagen, Konsumismus stelle ein Programm zur Konstruktion (post)moderner Identitäten dar, das es ebenso gibt wie viele andere Programme dieser Art – mit dem kleinen Unterschied, daß dieses Programm von zunehmend mehr Personen genutzt zu werden scheint. „Consumption is ideologically powerful because, despite being at least partially aware of its influence and power, consumers are prepared at least to explore the extent to which they can use consumerism as a framework for the construction of their identities. A person might not construct an identity directly through what he or she consumes, but they may well construct who they are as a result of why they consume that particular item.” (Miles 1998: 153)
Bemerkenswert ist an dieser Bestimmung des Konsumismus als Ideologie, daß damit keinerlei Monopolanspruch in dem Sinne erhoben wird, es könne jeweils nur eine zeitgemäße Identitätsform geben – zumindest nicht heutzutage, für alle Individuen, überall und jederzeit. Vielmehr ist hervorzuheben, daß die Annahme eines solchen Entsprechungsverhältnisses von Gesellschafts- und Identitätsform keineswegs ausschließt, daß es mehrere Gesellschaftsformen und somit auch mehrere Identitätsformen zugleich gibt, sozusagen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen − nur vielleicht nicht alle mit der gleichen Verbreitung und Durchsetzungsfähigkeit. Dies setzt die ursprüngliche Intention Schimanks zwar außer Kraft, dürfte sich dafür aber ein Stück weit realitätsnäher erweisen.
44 Miles 1998: 1; vgl. hierzu auch Firat/Dholakia (1998: 137): „While itself undergoing transformation, consumption is increasingly taking center stage in society and the economy.“
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3.5 Resümee Als Resümee ist festzuhalten: Das Phänomen, welches Zygmunt Bauman als „consumerist syndrome“ bezeichnet hat, erweist sich als äußerst vielschichtig. Es umfaßt Gesellschaft wie Individuum gleichermaßen. Auf der Makroebene geht es um eine Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft, in der nicht mehr nur Arbeit als zentrale Sozialisationsinstanz und dominantes Organisationsprinzip für sämtliche Fragen der eigenen Lebensführung und Selbstbestimmung angesehen wird, sondern auch Konsum. Beschrieb sich die Arbeitsgesellschaft selbst als „Kapitalismus“, bietet sich für die Konsumgesellschaft funktional äquivalent die Bezeichnung „Konsumismus“ an. Dabei ist „Konsumismus“ wie „Kapitalismus“ eine Ideologie, ein System von Ideen, Werten, Ansichten, Überzeugungen, Verhaltensvorschriften, Gefühlslagen, wie Bauman es beschrieben hat (vgl. Rojek 2004: 293). Man könnte hier auch, um sich einer speziellen Terminologie von Michel Foucault (1983: 35) zu bedienen, von einem „Dispositiv“ sprechen, das auf der Makroebene angesiedelt ist und sich bis auf die Mikroebene auswirkt. Das Dispositiv „Konsumismus“ wäre demnach eine Technologie, ein Apparat zur Produktion von Konsumdiskursen, Konsumpraktiken und sogar Konsumsubjekten. Denn auf der Mikroebene entspricht diesem Dispositiv eine bestimmte Disposition, mit Foucault würde man von „Subjektivierung“ sprechen, die als „Möglichkeitssinn“ erkennbar wird und ihren Ausdruck u.a. in „Tagträumen“, im Spielen mit den Möglichkeiten der Konsumgesellschaft findet.45 Und hierbei kommt gerade den Räumen des Konsums eine immer größere Bedeutung zu, weil sie selbst als materialisierte Möglichkeitsräume gestaltet und strategisch dargeboten werden (vgl. Pine/Gilmore 2000; Hellmann 2006, 2008). Im Unterschied zum produktivistischen Syndrom, wie es die Arbeitsgesellschaft gekennzeichnet hat, beansprucht das konsumistische Syndrom aber keinerlei Alleinstellung, es erhebt keinen Monopolanspruch, weil die gegenwärtige Gesellschaft hierfür keinerlei Grundlage mehr bietet. Vielmehr ist von einer Pluralität derartiger Ideologien auszugehen, man hat es gleichsam mit einem Markt der Sinnvermittlung zu tun, auf dem sich Angebot und Nachfrage je nach Interessenlage und Befindlichkeit aufeinander einstellen. Insofern kann gesagt werden: Es gibt das konsumistische Syndrom – aber nur als eine Ideologie neben vielen anderen.
45 Eine treffende Bezeichnung für diesen Typus − so wie „Otto Normalverbraucher“ − findet sich in der Autobiographie von Ray Kroc, dem Gründer des McDonald’s Konzerns, zurückgehend auf einen Dialog mit seiner Mutter: „I was never much of a reader when I was a boy. Books bored me. I liked action. But I spend a lot of time thinking about things. I’d imagne all kinds of situations and how I would handle them. ‘What are you doing Raymond?’ my mother would ask. ‘Nothing. Just thinking.’ ‘Daydreaming you mean’, she’d say. ‘Danny Dreamer is at it again.” (Kroc 1987: 15)
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Architektur und Konsum als Medien objektvermittelter Vergesellschaftung Michael Makropoulos
Die urbanistische Doktrin einer „funktionellen Stadt“, die bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts fast alle Rationalität auf ihrer Seite hatte, war die materielle Realität einer Gesellschaft, für die die organisierte individuelle und kollektive Selbstentfaltung bestimmend sein sollte. Diese Realität korrespondierte nicht nur historisch, sondern auch systematisch mit der Etablierung und universellen Verbreitung des Massenkonsums. Denn die warenförmigen Objekte waren gewissermaßen die prinzipiell unendliche Verlängerung und Spiegelung dieser Realität organisierter Selbstentfaltung in den verfügbaren Realien. – Meine These ist, daß funktionalistische Architektur und Massenkonsum für die Herausbildung moderner Gesellschaft insofern konstitutiv sind, als sie das individuelle und kollektive Verhältnis zur materiellen – sowohl objektiven als auch objekthaften – Wirklichkeit auf eine spezifische Weise organisieren, die mindestens zwei Besonderheiten gegenüber traditionellen Formen der Vergesellschaftung aufweist. Sie ist erstens anonym: Vergesellschaftung durch Architektur und Konsum ist buchstäblich die Versachlichung von Vergesellschaftungsprozessen, die deshalb auch nicht mehr in Sozialisationsprozessen aufgehen, sofern man unter „Sozialisation“ autoritäts- oder wertbezogene moralische Prozesse der Vergesellschaftung versteht. Und sie ist zweitens konstruktivistisch: Vergesellschaftung durch Architektur und Konsum rekurriert prinzipiell nicht auf eine determinierende oder zumindest beschränkende Natur, sondern ist die soziale Realisierung eines technischen und in diesem Sinne auf optimierungslogische Naturbeherrschung angelegten Weltverhältnisses. Ich will diese These mit einigen historisch-systematischen Überlegungen zur Technisierung, zur funktionalistischen Architektur und zum Massenkonsum erläutern. Ich will dabei aber nicht allen Aspekten der Sache nachgehen, sondern nur eine einzelne Argumentationslinie herausgreifen. Als konzeptuellen Startpunkt wähle ich ein analytisches Koordinatensystem, in dem alle drei Phänomene, also Technisierung, Architektur und Konsum, in ein explikatives Verhältnis gebracht werden können. Dieses Koordinatensystem ist das Konzept von Modernität als Kontingenzkultur.
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Michael Makropoulos Modernität als Kontingenzkultur
Der Begriff der „Kontingenz“ bezeichnet jene zweiseitige Unbestimmtheit, in der die Bestände der Wirklichkeit weder notwendig noch unmöglich, sondern auch anders möglich sind – und zwar nicht nur in dem Sinne, daß sie veränderlich und also zufällig, sondern auch in dem Sinne, daß sie veränderbar und folglich manipulierbar sind. Kontingenz bildet damit die allgemeine Voraussetzung für die soziale Realisierung artifiziell-konstruktivistischer Selbst- und Weltverhältnisse. Entscheidend für das moderne Kontingenzbewußtsein ist dabei allerdings, daß Kontingenz in der Neuzeit und vollends in der Moderne – anders als in der Antike und noch im Mittelalter – nicht nur das menschliche Handeln charakterisiert, sondern gleichsam auch die Wirklichkeit erfaßt, in der sich dieses Handeln realisiert (vgl. Makropoulos 1997, 1998). Kontingenz ist in der Neuzeit tatsächlich anders dimensioniert; und sie generiert ein Möglichkeitsbewußtsein, das nicht nur graduell, sondern prinzipiell über die traditionellen ontologischen und sozialen Beschränkungen hinausweist. Das hat einerseits fundamentale Unsicherheits- und Desorientierungserfahrungen provoziert – und wenn der Begriff der Kontingenz noch heute vor allem ein Problembegriff ist und etwas bezeichnet, was allererst bewältigt werden muß, dann zeigt dies, wie sehr wir noch im Auslaufhorizont eines Weltbildes stehen, das von der kosmologischen oder theologischen Idee einer stabilen Ordnung der Wirklichkeit bestimmt ist. Aber der Kontingenzbegriff ist eben nicht nur ein Problembegriff, und die Wirklichkeitsauffassung, die er grundiert, ist nicht nur die des Verfalls, des Ordnungsschwunds und der Unsicherheit. Kontingenz, hat Hans Blumenberg (1981a: 47, 1987: 57) erklärt, „bedeutet die Beurteilung der Wirklichkeit vom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeit her“, und die Neuzeit – genauer: „die nachchristliche Ära“ – hat eine „Kontingenzkultur“, weil sie „von dem Grundgedanken“ geprägt ist, „daß nicht sein muß, was ist“. Entscheidend ist nun, daß dieser Weltbezug „einen neuen Begriff der menschlichen Freiheit“ ermöglicht, indem er jene „generelle Konzeption des menschlichen Handelns“ hervorbringt, die „in den Gegebenheiten nichts mehr von der Verbindlichkeit des antiken und mittelalterlichen Kosmos wahrnimmt und sie deshalb prinzipiell für verfügbar hält“ (Blumenbrg 1974: 158). Das „Bewußtsein von der Kontingenz der Wirklichkeit“, so Blumenberg, fundiert und legitimiert damit eine „technische Einstellung gegenüber dem Vorgegebenen“, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der fortschreitenden Etablierung artifizieller Wirklichkeiten realisiert. Diese technische Einstellung findet schließlich im 20. Jahrhundert nach dem Ende der bürgerlichen Welt und mit dem technologischen Innovationsschub seit der Jahrhundertwende bis dahin ungekannte historische und soziale Entfaltungsmöglichkeiten.
Architektur und Konsum als Medien objektvermittelter Vergesellschaftung 2
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Die Besonderheit neuzeitlicher Technisierung
Blumenbergs Konzept der „Kontingenzkultur“ ist nicht nur eine Genealogie des konstruktivistischen Weltverhältnisses, sondern auch eine Explikation der transzendentalen Voraussetzung neuzeitlicher Technisierung. Das heißt auch: Es ist eine pointierte Bestimmung der Besonderheit neuzeitlicher Technisierung. Als wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung ist diese nämlich mehr und anderes als die bloße Nutzung und Steigerung natürlicher Potenzen. Naturbeherrschung in diesem Sinne war schließlich schon die antike techné, die entweder vollendet, was die Natur aus sich heraus nicht zu Ende bringt, oder aber schlicht das Naturgegebene nachahmt. Technik in diesem antiken und noch bis an die Schwelle zur Neuzeit reichenden Verständnisses, so Blumenberg, ergänzt die Natur und „springt für die Natur nur ein“, wo diese in der Perspektive menschlicher Erfordernisse unvollständig geblieben ist, weil sie ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft hat. Technisches Handeln im Sinne dieses vorneuzeitlichen Technikbegriffs bleibt als „Vollendung des Unvollendeten durch die menschliche Kunstfertigkeit“ selbst dann im Horizont eines nachahmenden Verhältnisses zur kosmologisch determinierten Natur, wenn es seinen Zweck, wie etwa beim Heben von Lasten, mit naturwidrigen Bewegungen erreicht und die Natur damit gleichsam überlistet.1 Technisierung im neuzeitlichen und vollends dann im modernen Sinne impliziert dagegen etwas sehr anderes, nämlich die prinzipielle Umstellung des technischen Handelns von Nachahmung auf Konstruktion im strikten Sinne von poiesis, also der generierenden und nicht bloß komplettierenden Herstellung eigenqualitativer Wirklichkeiten. Das ist historisch von enormer Tragweite. Wenn nämlich der technische Möglichkeitshorizont sozusagen aus den Wirklichkeitsgrenzen freigesetzt wird, wenn der technische Möglichkeitshorizont die sogenannten natürlichen Begrenzungen menschlichen Handelns bewußt überschreitet, geht es konsequenterweise nicht um nachahmende Vollendung der Natur, sondern um ihre konstruktivistische Überbietung in artifiziellen Wirklichkeiten. Diese artifiziellen Wirklichkeiten sind Wirklichkeiten sui generis, für die die Natur zwar das Material, nicht aber das Vorbild ist. Natur wird vielmehr zum puren Stoff, zur bloßen Ressource eines technischen Handelns, dessen Orientierung die Überbietung der Wirklichkeit und dessen Impuls das Bessermachen, also der Fortschritt ist. Ich möchte einen Moment auf diese Orientierung des technischen Handelns verwenden. Der Begriff des Fortschritts entsteht nach dem Ende christlicheschatologischer Zukunftsvorstellungen als vollständig immanente Zielbestim1
Vgl. Blumenberg 1998: 81f., 1981b: 55f.; siehe in diesem Sinne auch Mittelstraß 1982: 46f.
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Michael Makropoulos
mung geschichtlicher Entwicklung. Diese Zielbestimmung wird zwar geschichtsphilosophisch in definitiven Zukunftsmodellen utopischen Typs erschlossen; aber ihre funktionelle Logik ist nicht eine geschlossene Logik der Utopie, sondern eine offene Logik der Optimierung. Diese Differenz ist entscheidend. Der Begriff der „Utopie“ bezeichnet strenggenommen die zukünftige Aufhebung aller Kontingenz in einem idealen und daher unüberbietbaren Zustand – die vollendete Utopie wäre gewissermaßen die einmalige und definitive Nutzung von Kontingenz zum Zwecke ihrer finalen Aufhebung. Der Begriff der „Optimierung“ dagegen verweist auf die stets situativ extrapolierte und deshalb prinzipiell unaufhörliche Überbietung jedes erreichten Zustandes. Er bezeichnet also ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das Kontingenz gerade nicht in einem Definitiven, weil idealen Zustand aufheben, reduzieren oder zumindest suspendieren will, sondern ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das Kontingenz um der permanenten Verbesserung willen erhält, steigert und diese Steigerung strukturell auf Dauer stellt. Als grundlegende Modalstruktur einer Kontingenzkultur etabliert Technisierung im neuzeitlichen und vollends im modernen, industriell organisierten Sinne damit einen prinzipiellen Produktivismus und generiert ein allgemeines Dispositiv der Optimierung, weil jede Konstruktion prinzipiell verändert, verbessert und überboten werden kann – und weil jede Konstruktion im Gefolge des Fortschrittsgedankens auch überboten oder zumindest der permanenten Überprüfung unterworfen werden soll. Technisierung ist deshalb selbst dort, wo sie im Instrumentellen verbleibt, nicht nur die organisierte Erweiterung der konstruktiven Möglichkeiten menschlichen Handelns, sondern auch die gesellschaftliche Institutionalisierung einer allgemeinen modallogischen Disposition, deren kultureller Effekt die permanente „Kontingenzerhöhung“ ist, wie Wolfgang van den Daele erklärt hat. „Kontingenzerhöhung“ bedeutet „einen Wechsel der Betrachtungsweise von Wirklichkeit zu Möglichkeit, von Substanz zu Funktion und Beziehung, von Grenzen des Handelns zu Optionen des Handelns, von absoluten Werten zu relativen Präferenzen“. Und sie „dominiert die kulturelle Entwicklung in modernen Gesellschaften“, weil die allgemeine Disposition wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung und das mit ihr gegebene kritische Weltverhältnis „mit dem strukturellen Wandel“ des „Übergangs von segmentärer zu funktionaler Differenzierung“ „verknüpft“ sei und durch keine „Fundamentalisierung“ suspendiert werden kann – nicht durch „Ethisierung der Natur als Korrektur des Konzepts von Natur als bloßer Ressource“, nicht durch „substantielle moralische Ansprüche“, also restriktive Werte oder sogar Tabus „als Gegengewicht zur Moral der Freiheit“ und auch nicht durch „’alternative’ Wissenschaft als Rückgriff auf kognitive Weltzugänge, die nicht positive, objektive Naturerkenntnis sind“, die die Natur zum Objekt menschlichen Handelns macht.
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Bemerkenswert ist hier das Argument. Es geht nicht um die Wünschbarkeit des Fortschritts und seine moralische Bewertung. Das Argument lautet vielmehr: Unter der Voraussetzung der allgemeinen Disposition konstruktivistischer Optimierung, die für die neuzeitliche Technisierung konstitutiv ist, kann es nicht darum gehen, die strukturelle Kontingenzerhöhung normativ zu begrenzen, weil diese Disposition der Optimierung, die jeder Konstruktion eingeschrieben ist, jede normative Kontingenzbegrenzung übersteigt. Deshalb kann es auch nicht darum gehen, Kontingenzerhöhung utopisch zu finalisieren – was im 20. Jahrhundert die verschiedenen Tendenzen totalitärer Modernisierungen kennzeichnet –, sondern allenfalls darum, sie irgendwie gesellschaftlich zu integrieren. Welche allgemeine Form diese gesellschaftliche Integration der Kontingenzerhöhung haben könnte, ist deshalb im Kern die Frage, die sich zumal den modernistischen Strömungen in der Klassischen Moderne, also in den 20er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vehement als Frage nach der adäquaten politischen, sozialen und nicht zuletzt auch der ästhetischen Form der Moderne gestellt hat (vgl. Makropoulos 2005: 59ff.).
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Das Problem der strukturellen Kontingenzerhöhung
Das Problem der strukturellen Kontingenzerhöhung, das die neuzeitliche Technisierung aufwirft, hat Helmuth Plessner 1932 prägnant exponiert. „Das Eigentümliche aller technischen Produktion wie aller technischen Produkte“, erklärte Plessner (2001: 77), besteht „in der beliebigen Erweiterungsfähigkeit und Umbildungsfähigkeit“. Denn „die technische Welt“ unterscheide sich gerade „dadurch von all den Welten, welche der Mensch in seiner Geschichte bisher durchmessen hat“, daß er in ihr einen „wesenhaft unabgeschlossenen und offenen Charakter gegenüber den Produkten“ realisiert, „mit denen er sich umgibt und gegenüber dem Raum, in die er die Produkte einfügt und gegenüber der Zeit, in denen die Produkte wirksam werden sollen. Der Einbruch dieses ganz neuen Bewußtseins charakterisiert die Technik, der Einbruch eines Geöffnetseins gegenüber dieser Endlosigkeit des Raumes und der Zeit.“ Technik sei sowohl eine „werkzeugrevolutionierende Kraft“ wie eine „sozial revolutionierende Kraft“, die „die überkommende Welt frühbürgerlicher traditionaler Gesittung und Formung und Organisation“ angreift. Und zwar durch ihre „anarchische und unübersehbar chaotisch auflösende Wirkung“, die „letzten Endes die Entwurzelung der ganzen alten traditionellen Formenwelt“ herbeiführe – also nicht nur der Formenwelt des 19. Jahrhunderts, die als „bewußte Bindung an einen eigenen Stil“ am „Ideal aller vorindustriellen Epochen, nämlich dem Ideal der ‚geschlossenen Form’“, orientiert blieb, sondern „die Entwurzelung aller früheren Formen“ (Plessner 2001: 71ff.). Allerdings sah Plessner in dieser technisch generierten
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Michael Makropoulos
„Entwurzelung aller früheren Formen“ und ihres Prinzips der „geschlossenen Form“ nicht ein Problem, sondern die historische Chance, ein neues Formprinzip zu etablieren, das der Technisierung angemessen wäre. „Die Technik und die neuen technischen Möglichkeiten sind ihrem eigentlichen Sinn und Geist nach nicht darauf eingestellt, geschlossene Produkte zu liefern, sondern sie sind ihrem ganzen Sinn und Geist nach darauf abgestellt, etwas Offenes, neue Möglichkeiten, die überbietbar sind, zu schaffen.“ Eine „’neue Form’ aus dem Geiste der Technik in Einklang mit ihr“ werde deshalb nicht in „romantischer Opposition, ästhetischer Opposition oder Resignation gegen sie, sondern im Einklang mit ihren positiven Möglichkeiten niemals orientiert sein an einem Ideal der geschlossenen Form, sondern immer nur orientiert sein an einem neuen Ideal“, nämlich „an dem Ideal einer offenen Form“, einer „neuen Form“, die nicht nur „eine Form der unendlichen Möglichkeiten“ sei, sondern eine Form der „unerhört neuen Möglichkeiten“ (Plessner 2001: 84f.).
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Plessners Konzept der offenen Form
Was auch immer Plessners Konzept der „offenen Form“ hier genau bedeuten mag, sein emphatisches Plädoyer für die „offene Form“ meinte in diesem Kontext ausdrücklich die Gestaltungsprinzipien des Neuen Bauens und war eine entschiedene sozialphilosophische Rechtfertigung der modernen Architektur im Sinne des Internationalen Stils der Klassischen Moderne. Tatsächlich gehört die materielle Gestaltung sozialer Wirklichkeiten durch die moderne Architektur zu den folgenreichsten Versuchen, unter der Voraussetzung technisch generierter Kontingenzerhöhung eine konsistente Einheit der Wirklichkeit herzustellen und die optimierungslogische Kontingenzerhöhung in eine gesellschaftlich operationalisierbare Form zu bringen. Schließlich war das architektonische Projekt der Moderne nicht nur eine großangelegte Antwort auf die Krise der traditionellen Stadt nach den Industrialisierungs- und Migrationsschüben des 19. Jahrhunderts – also eine Antwort auf die heillose Überbevölkerung der traditionellen städtischen Quartiere und die katastrophalen Wohnverhältnisse für große Bevölkerungsgruppen. Mindestens so sehr war dieses Projekt eine großangelegte Antwort auf die Destrukturierung traditionaler Vergesellschaftung mit ihren akuten sozialen Integrationsproblemen in den Metropolen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Aber am Ende ging es in der modernen Architektur doch vor allem um die adäquate Form einer durchgreifend technisierten und strukturell dynamisierten Optimierungskultur, deren paradigmatisches pars pro toto tatsächlich eine „funktionelle Stadt“ sein sollte (vgl. Hilpert 1978: 116ff.).
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Die funktionell durchgestaltete Metropole, die in den 1920er Jahren mit dem radikalen Pathos des totalen Neuanfangs propagiert und projektiert wurde, sollte zum Inbegriff einer artifiziellen Objektivität werden, die mit den technokratischen Modernisierungserwartungen korrespondierte, die im Zuge des tayloristischen und fordistischen „Amerikanismus“ und der Neuen Sachlichkeit gehegt wurden.2 Im Prinzip ging es um die Ausweitung rationalisierter Methoden der individuellen Anpassung an die Erfordernisse maschineller Produktion und die Übertragung rationalisierter Methoden der Organisation betrieblicher Produktionsabläufe auf die gesamte Gesellschaft. Über die Industrieproduktion hinaus zielte das Dispositiv der Rationalisierung damit auf die Regulierung der alltäglichen Lebensführung und auf deren materielle wie immaterielle Gestaltung durch Architektur und Massenkultur im engeren, „kulturindustriellen“ Sinne des Begriffs (vgl. Peukert 1989: 73ff.). Rationalisierung betraf also nicht nur das Methodenreservoir einer wissenschaftlichen Produktionsoptimierung; als Disposition planerisch-kalkulatorischer Lebensführung umfaßte sie tendenziell vielmehr das gesamte Selbst- und Weltverhältnis. Indem sie auf diese Weise sozusagen eine rationalisierte Individualität projektierte, zielte sie tatsächlich auf eine Kultur der Optimierung – sofern der Begriff der Kultur ein spezifisches Weltverhältnis bezeichnet. Der Architekturfunktionalismus stand damit auch für die verschiedenen Versuche einer materiellen, nämlich objektvermittelten Rationalisierung des Alltagslebens, die im Kontext sozialreformerischer Strategien standen und die erklärtermaßen in emanzipatorischer Absicht unternommen wurden – Emanzipation aus überkommenen sozialen, Emanzipation aber auch aus überkommenen ontologischen Bindungen, also tatsächlich der Versuch einer technisierten Befreiung des Menschen aus den Beschränkungen der Natur. Die „funktionelle Stadt“ war der Versuch, den Menschen durch die materielle Konstitution des sozialen Raumes vollends von seinen Naturbedingungen unabhängig zu machen. Sie zielte darauf, der Planlosigkeit, wenn nicht Irrationalität allen bisherigen Städtebaus ein definitives Ende zu bereiten und die Stadt endlich zu dem zu machen, was sie sein sollte, nämlich ein möglichst effizientes „Arbeitswerkzeug“, wie Le Corbusier (1987: 84f.) erklärte, das nicht nur die „Unordnung“ beseitigt, sondern die „Beschlagnahme der Natur durch den Menschen“ als „Tat des Menschen wider die Natur“ vollendet. Die funktionalistische Architektur ist nicht zuletzt im weiteren Horizont „postmoderner“ Distanzierungen von der Klassischen Moderne samt ihrer modernistischen Finalisierungen des Fortschritts als Instrument einer disziplinierenden Modernisierung kritisiert worden.3 Vielleicht hängt „die Wichtigkeit der 2
Vgl. Zukunft aus Amerika. Fordismus in der Zwischenkriegszeit. Hg. v. d. Stiftung Bauhaus Dessau und dem Lehrstuhl Planungstheorie der RWTH Aachen. Dessau 1995. Vgl. Peukert 1987a; Stöbe 1999; Hofmann 2000.
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Architekturen“ in den modernen Gesellschaften wirklich daran, „daß sie nach und nach den Platz des Königs einnehmen“, weil sich die Macht in ihnen von einer personalen zu einer anonymen Instanz transformiert und Autorität dadurch sozusagen eine strukturelle Objektivität gewinnt – was die Idee des Widerstands im übrigen vor nicht geringe Probleme stellt.4 Schließlich erklärte Le Corbusier (1982: 182) auch, „eine serienmäßig hergestellte Siedlung von guter Anordnung würde einen Eindruck von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit auslösen und ihren Bewohnern unweigerlich Disziplin beibringen“. Deutlicher noch der „Urvater“ der funktionalistischen Architektur, Claude-Nicolas Ledoux: „L’architecture, par ses attractions est la souveraine du monde.“ (Ledoux 1989: 122) Tatsächlich korrespondiert mit dieser Anonymisierung und gleichzeitigen Materialisierung der Macht, also der vergesellschaftungswirksamen Dispositive, die Technisierung der politisch-sozialen Wirklichkeit, die seit der frühen Neuzeit eine sozialtechnische Tendenz generiert, die für spezifisch moderne Vergesellschaftungsprozesse konstitutiv werden sollte und die als Disziplinierung vielfach beschrieben worden ist. Was in der sozialtheoretischen Engführung von Architekturfunktionalismus und Disziplinierungsmoderne, die nicht zufällig mit der „postmodernen“ Abkehr der Architektur vom „doktrinären Funktionalismus“ des Internationalen Stils seit den 1970er Jahren einhergeht, freilich völlig unterbelichtet bleibt, ist die zunehmende Überlagerung und Ersetzung der heteronom-präskriptiven Vergesellschaftung, die noch als anonyme Disziplinarmacht im Horizont der Autorität steht, durch eine autonom-performative Vergesellschaftung. Diese performative Vergesellschaftung, so meine Vermutung, rekurriert − pointiert gesagt – nicht auf moralische Instanzen oder Werte, sondern auf infrastrukturelle Möglichkeiten.
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Architektur als Standardisierung
Allgemeines Prinzip des funktonalistischen Urbanismus war die Neustrukturierung der städtischen Funktionen nach Maßgabe verkehrstechnischer, produktionstechnischer und ökonomischer Effizienz, wobei das grundlegende Prinzip der weitgehenden Funktionstrennung, die sich in der räumlichen Struktur objektiviert, zwei verschiedene, aber komplementäre Aspekte hatte. Einerseits war die Funktionstrennung gleichsam die strukturelle Garantie für die dauerhafte Differenzierung und die autonome, eigenlogische Entfaltung einzelner Funktionen; andererseits war die Funktionstrennung aber zugleich die Bedingung für die Kombination, Konstellation und Verschränkung dieser Funktionen zum komple4
So im Nachgang zu Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft Ewald 1991: 166.
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xen interdependenten Ganzen einer artifiziellen Realität, die mehr war als die Summe ihrer konkreten Realien, die aber dieses „Mehr“, eben das abstrakte Organisationsprinzip der einzelnen Elemente, materiell objektivierte. Entscheidend für diese artifizielle Realität war deshalb das Prinzip der Standardisierung ihrer Elemente als Bedingung für die Möglichkeit ihrer Neuorganisation nach Kriterien der Funktionalität. Standardisierung war deshalb alles andere als ein nivellierendes oder homogenisierendes Verfahren; Standardisierung war vielmehr der Versuch, die produktivistische Optimierung auf ein durchgehend höchstmögliches Formniveau zu heben, indem der Konstruktion materieller Wirklichkeit eine elaborierte und weitestgehend freie Kombinatorik normierter Elemente zugrundegelegt wurde. Standardisierung bedeutete gerade nicht Vereinheitlichung, sondern maximale Vielfalt der Kombinationen bei gleichzeitiger maximaler Anschlußfähigkeit der Elemente (vgl. Gropius 1965: 12). Architektur wurde damit programmatisch zum Medium, also zur konstituierenden Modalstruktur spezifisch moderner Wirklichkeiten, in deren Zentrum die funktionale Anschlußfähigkeit standardisierter Elemente als Bauprinzip der materiellen Wirklichkeit, als gesellschaftliches Organisationsprinzip und nicht zuletzt als Individualitätsdisposition stand.5 Mit diesem kombinatorisch-kommunikativen Selbst- und Weltverhältnis, das eben weitgehende Standardisierungsprozesse impliziert, korrespondierte die Mobilisierung, Dynamisierung und Flexibilisierung aller Abläufe und Verhaltensweisen. Sie wurde von der funktionalen Differenzierung schlechterdings strukturell erzwungen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, daß funktionale Differenzierung nicht nur so etwas wie strukturell garantierte Freiheit in einer Gesellschaft etabliert, sondern auch einen strukturellen Zwang zur Kommunikation. Das jedenfalls legt der Primat des Verkehrs, genauer: des technisch und infrastrukturell beschleunigten Verkehrs und die Verkoppelung von „Geschwindigkeit“ und „Erfolg“ in der „funktionellen Stadt“ nahe, die Le Corbusier hergestellt hatte. „Die Stadt der Geschwindigkeit“, erklärt er 1925 in einer programmatischen Sentenz, „ist die Stadt des Erfolges“ (Le Corbusier 1987: 89). Damit hing auch die zunächst nur erträumte, dann vehement betriebene und in den 1960er Jahren schrankenlos realisierte Massenmotorisierung samt ihrer verschiedenen Infrastrukturen zusammen, die als zentraler Bestandteil der „industriellen Massenkultur“ der Moderne zu einem Schlüsselmedium der Technisierung des Alltags im 20. Jahrhundert werden sollte. Die Massenmotorisierung bedeutete nicht nur die gesellschaftliche Etablierung eines besonderen Konsumguts, das Medium und Form zugleich war, sie bedeutete auch die organisierte Herstellung einer gesellschaftlichen Infrastruktur der Entgrenzung individueller und kollekti5
Zur dieser Bestimmung eines Mediums im Unterschied zur Form vgl. Luhmann 1995: 165ff.
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ver Erfahrung. Das korrespondiert zunächst mit der Entwicklung des Massentourismus seit den 1920er Jahren und seiner Forcierung seit den 1950er Jahren.
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Die Vergesellschaftung der individuellen Mobilität
Der moderne Tourismus entstand zwar im Rahmen staatlicher Freizeitpolitiken der Zwischenkriegszeit, war zunächst in erster Linie ein neues Instrument für die grundlegende Modernisierung des Sozialen und stand damit im strategischen Horizont disziplinärer Vergesellschaftung.6 Aber als massenkulturelle Transformation des bürgerlichen Reisens hatte er im längerfristigen historischen Effekt vor allem die Vergesellschaftung der individuellen Mobilität und mit ihr eine klassen- und schichtenübergreifende materiell-sinnliche Erweiterung der individuellen Weltkenntnis zur Folge. Diese Entgrenzung der individuellen Weltkenntnis läßt sich einerseits als zumindest vorübergehende Befreiung aus tradierten Gemeinschaften und andererseits als positive Einübung in die Erfahrung mit dem Fremden verstehen.7 „Worum es im Tourismus als Massenphänomen geht“, ist eben „eine Kultur des konkret Anders-Möglichen“, der konkreten Kontingenz (vgl. Badura 2006). Daß diese räumliche Erweiterung der individuellen Weltkenntnis am Ende vielleicht zur sozialpsychologischen Voraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz des Multikulturalismus als politischer Option wurde, wäre im übrigen nicht der geringste Effekt des touristischen Weltverhältnisses. Aber die Entgrenzung der Erfahrung und die Öffnung des gesellschaftlichen Erwartungshorizonts – wie man mit Reinhart Koselleck (1979) sagen kann – ist nicht das einzige Element dieser Vergesellschaftung in der permanenten Kontingenzerhöhung. Die „industrielle Massenkultur“, deren zentrales Element, nämlich die Massenmobilität, die seit den 1920er Jahren propagiert und in der Folge mit Nachdruck und quer durch die verschiedenen politischen Regime hindurch realisiert wurde, erforderte auch die individuelle Einübung in die Beherrschung vergleichsweise komplexer Technik und damit verbunden die Einübung in die infrastrukturellen Erfordernisse ihrer massenweisen alltäglichen Nutzung (vgl. Kühne 1996: 196; Radkau 1989: 299ff.). Dazu gehörte zunächst die Konditionierung der menschlichen Wahrnehmung auf abstrakte Zeichen, die gewissermaßen die frühe alltägliche Diffusion der abstrakten Malerei der Klassischen Moderne in die „visuelle Kultur“ der infrastrukturellen Zeichenwelten und ihre abstraktionsgestützten Piktogramme bedeutet. Dazu gehört aber auch die Konditionierung des menschlichen Verhaltens auf arbiträre, den Prinzipien technisierter und be6
Vgl. Maase 1997: 179-225; Keitz 1997: 33ff., 209ff.; Enzensberger 1962; Kühne 1996: 209f. Unter dem Aspekt der „extensivierenden Fremdraumnutzung“, die den „individuellen Möglichkeitsraum“ (sic!) „fundamental erweiterte“ vgl. entsprechend Wöhler 2002: 270; Maase 1997: 252ff.
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schleunigter Mobilität entsprechende Regeln im Straßenverkehr. In diesem Sinne war insbesondere die Massenmotorisierung mit ihren verschiedenen Nebeneffekten tatsächlich „ein Disziplinierungsprozeß“, in dem eine neue Technik nach und nach zur alltäglichen Selbstverständlichkeit werden sollte und in dem gleichzeitig „jahrhundertelang antrainierte Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen“ abgelegt und neue trainiert werden sollten.8 Aber gerade dort, wo die Massenmotorisierung nicht nur ein technikgeschichtliches, sondern auch ein konsumgeschichtliches Phänomen bildet, verwies sie doch auf mehr und anderes, nämlich auf Mobilität in einem erweiterten und spezifisch soziologischen Sinne. Die „funktionelle Stadt“ sollte bis in die späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die hegemoniale urbanistische Doktrin bleiben. Der Funktionalismus als architektonisches Gestaltungsprinzip war damit nicht nur ein essentieller Bestandteil der technokratischen Versuche einer „sozialen Optimierung von oben“ im Horizont umfassender Rationalisierungstendenzen der Zwischenkriegszeit samt ihrer totalitären Ausprägungen.9 Der Architekturfunktionalismus wurde vielmehr in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg und im Verbund mit seinen infrastrukturellen Ergänzungen weithin zur materiellen Form einer gesellschaftlichen Modernisierung, die zumal in Westdeutschland im politischen Horizont des Liberalismus und der sozialstaatlichen Demokratisierung stattfand.10 Die funktionalistische Architektur war damit nicht nur zum Sinnbild, sondern zum Medium der materiellen Form einer Gesellschaft geworden, die im doppelten Sinne auf Mobilität gegründet war, indem sie die Entgrenzung der gesellschaftlichen Erfahrung durch massenhafte räumliche Mobilität optimierungslogisch mit der verallgemeinerten Statuskontingenz einer Mittelstandsgesellschaft verschränkte, die soziale Mobilität strukturell auf die Identifikation von Erfolg mit sozialem Aufstieg ausrichtete. Man mag in der unabweisbaren Prekarität errungener gesellschaftlicher Positionen, die als errungene stets kontingent bleiben, die genuin soziale Form einer problematischen Kontingenzerhöhung sehen. Jedenfalls wurden die Infrastrukturen der Massenmobilität, zu denen eben auch die funktionalistische Architektur gehörte, zu einem konstitutiven materiellen Element der sozialen Selbstontologisierung der Moderne. Es war eine Selbstontologisierung im Konstruktivismus und damit in der Verfügbarkeit und in der dauerhaften Überbietbarkeit. 8
Vgl. Kühne 1996: 209. Zu den Problemen der Konditionierung von Wahrnehmung und Verhalten am Beispiel der Verkehrsampeln vgl. McShane 1999. 9 So Maier 1980: 193; vgl. entsprechend Peukert 1987b: 87-190. Zur Kontinuität des Architekturfunktionalismus im sogenannten Dritten Reich vgl. Nerdinger 1993. Zum Architekturfunktionalismus in der Sowjetunion vgl. Schädlich/Schmidt 1993. Und zur Entwicklung der „sozialistischen Stadt“ im Zuge der vollständigen produktionsökonomischen Industrialisierung des Bauens insbesondere seit 1960 vgl. Barth 1998. 10 Zum Städtebau nach 1945 in Deutschland vgl. Beyme 1992.
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Michael Makropoulos Konsumismus als Weltverhältnis
Genau hier – so scheint mir – kommt nun der Konsum im engeren Sinne des Begriffs ins Spiel. Genauer: An dieser Stelle greift eine Besonderheit des Massenkonsums, nämlich das besondere Objektverhältnis, das den Massenkonsum zu einem Phänomen macht, das auf permanente Reproduktion gestellt ist. Natürlich geht es dabei in erster Linie um die massenhafte Aneignung von Gütern. Aber indem es sich bei diesen Gütern um technisch hergestellte und daher stets überbietbare handelt, geht es eben auch um die Einübung in den transitorischen Charakter von Objekten, die als technisch generierte stets überbietbar bleiben. Und vielleicht ist der gesellschaftstheoretisch entscheidende Aspekt des Konsums am Ende tatsächlich nicht die ökonomische Warenförmigkeit der Objekte, sondern ihre ontologische Kontingenzförmigkeit, also die Tatsache, daß ihnen nichts Definitives eignet, daß sie stets durch andere, vielleicht bessere, aber auf jeden Fall optimalere ersetzbar sind und ersetzbar sein sollen, damit sie überboten werden können. Was man „Konsumismus als Weltverhältnis“ nennen könnte, wäre damit die Bezeichnung für eine neue gesellschaftliche Erfahrung, für die die alltägliche Überbietung zur lebensweltlichen Selbstverständlichkeit geworden ist. Es ist eine gesellschaftliche Erfahrung, die eine Individualität generiert, für die Kontingenz als funktionelle Struktur ihres Selbst- und Weltverhältnisses konstitutiv ist. Man könnte hier vielleicht von der sozialen Positivität technisierter Deregulierung des Verhältnisses zur Objektwelt sprechen. Sie manifestiert sich nicht zuletzt in jener Fiktionalisierung des Begehrens, die insbesondere die individuelle Selbstentfaltung aus tradierten Bindungen freisetzt – aus tradierten sozialen Bindungen, vor allem aber aus tradierten materiellen Bindungen, indem sie diese Selbstentfaltung konsumistisch codiert. Indem es gerade nicht „natürliche“ und in ihrer „Natürlichkeit“ begrenzte oder wenigstens doch begrenzbare Bedürfnisse, sondern ein kontingenzförmig generiertes und damit prinzipiell grenzenloses Begehren zum Kriterium macht, ist dieses Weltverhältnis nämlich unweigerlich auf Steigerung ausgerichtet. Gleichzeitig ist diese Steigerung, zumal als Glückserwartung, nicht so sehr auf die konkreten Objekte selbst gerichtet, die angeeignet werden können, sondern eher auf den Modus des unaufhörlichen Aneignens, dessen Medium konstitutiv überbietbare Objekte sind. Es ist ein Weltverhältnis, das an der positiven emotionalen Besetzung der prinzipiellen Unabschließbarkeit orientiert ist.11 Und es ist ein Weltverhältnis, das den Konsum zu einem Modus einer Vergesellschaftung werden läßt, deren Konstitution
11 Vgl. Campbell (1987: 69), der zu zeigen versucht, daß „the key to the development of modern hedonism lies in the shift of primary concern from sensations to emotions“. Siehe mit Bezug auf Campbell auch Schrage 2003: 73f.
Architektur und Konsum als Medien objektvermittelter Vergesellschaftung
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auf die Positivierung der Kontingenz und die Organisierung der Kontingenzerhöhung gegründet ist. Zwei Momente sind es also, die Architektur und Konsum zu Medien einer spezifisch objektvermittelten Vergesellschaftung machen – also einer Vergesellschaftung, die wesentlich über Objekte vermittelt ist, einer Vergesellschaftung, für die materielle Objekte also nicht akzidentiell, sondern substantiell sind: Anonymisierung der Vergesellschaftung durch Architektur und Einübung in die Struktur permanenter Kontingenzerhöhung – das sind zwei wesentliche Elemente der gesellschaftlichen Etablierung einer industriellen Massenkultur im präelektronischen Stadium, also im Stadium vor den Tendenzen tele-technischer Ent-Materialisierung des individuellen und kollektiven Weltverhältnisses. Anders gesagt: Funktionalistische Architektur und – materieller – Massenkonsum sind Elemente einer Infrastruktur für etwas, das sich ganz und gar nicht von selbst versteht. Funktionalistische Architektur und Massenkonsum sind nämlich Elemente einer materiellen Infrastruktur, die den artifiziellen Wirklichkeiten der Moderne und ihrer konstitutiven Struktur der Kontingenzerhöhung lebensweltliche Selbstverständlichkeit verleiht.
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Zur Produktion von Raum für den Konsum
Der Begriff des Marktes besitzt hohe Anschaulichkeit. Wochenmärkte, Supermärkte, Arbeitsmärkte, Finanzmärkte, Nachrichtenmärkte: Welcher Markt auch immer in Rede steht, zumeist tritt mit der Nennung dieses Begriffes ein bestimmtes Ensemble von Architekturen und Akteuren vors innere Auge, von Angebot und Nachfrage, von Transaktionen irgendwelcher Sach- oder Dienstleistungen, die auf der Basis einer Austauschbeziehung abgewickelt werden. Der Begriff des Marktes konfrontiert sozusagen intuitiv mit mannigfaltiger Materialität in Raum und Zeit. Jeder macht damit Erfahrungen, mehrmals täglich sogar, in den verschiedensten Situationen. Ob offline oder online: Räumlichkeit und Räume, Spaces und Scapes erweisen sich als Konstituentien jeder Art von Transaktion und mehr noch als Ausgangspunkt, Mittel und Zweck des Konsumierens. Insofern erscheint die Relevanz von Räumen gerade auch für den Konsum als unbestreitbar, selbst wenn wir heuzutage dazu neigen mögen, angesichts massenhafter Medialisierung, Mobilisierung und Globalisierung der modernen Gesellschaft eine Art Raumvergessenheit zu betreiben. Karlheinz Wöhler macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, in welchem Maße Raum zu etwas geworden ist, das nicht mehr einfach da ist, sondern für bestimmte Zwecke erst hergestellt und inszeniert wird. Es geht ihm gewissermaßen um eine konstruktivistische Perspektive des Räumlichen, um die Bedingungen der Möglichkeit von Räumlichkeit in der heutigen Zeit. Hierzu greift er auf eine Reihe grundlegender Theoriepositionen zurück, wie Henri Lefèbvre und Arjun Appadurai, die sich für eine Sozialtheorie des Raums unter konsumsoziologischen Vorzeichen eignen. Besondere Beachtung finden dabei Freizeiträume, auch solche, die für den Tourismus von Belang sind, die allesamt in die Klasse der Dritten Orte fallen, wie Ray Oldenburg sie konzipiert hat. Der Beitrag von Robert V. Kozinets, John F. Sherry, Benet DeBerrySpence, Adam Duhachek, Krittinee Nuttavuthisit und Diana Storm, erstmals 2002 im Journal of Retailing veröffentlicht, beschäftigt sich mit einer ganz besonderen Form kommerzieller Lokalität, die sie „Themed Flagship Brand Sto-
68 res“ genannt haben und womit sie Geschäftsadressen zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen, die von bekannten Modelabels und Markenherstellern wie „Banana Republic“, „Body Shop“, „Tommy Hilfiger“, „Ralph Lauren“ oder „Old Nacy“ gebaut und in Kette betrieben werden. Im Einzelfall handelt es sich sogar um einzelne Läden, wie im Falle von „Nike Town“ in New York oder Berlin; weitere typische Adressen wären die „Everything Coca Cola Stores“ in Atlanta und Las Vegas, das „Lego Imagination Center“ in „Downton Disney“, Anaheim (CA) und die „Sony Gallery of Consumer Electronics“ in Chicago. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung steht die „ESPN Zone“, ebenfalls Chicago.
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Raumkonsum als Produktion von Orten Karlheinz Wöhler
Welches Signum man der Gegenwartsgesellschaft aufdrücken oder welche Position man in der Paradigmendebatte auch beziehen mag, so steht doch fest, daß sich die Gesellschaft unabhängig von jeder Betrachtungsweise geändert hat. In dieser ebenso eindeutigen wie uneindeutigen Situation sind dauerhafte und erkenntnisleitende Strukturprinzipien gefragt. Der Nexus von Ort und Ereignis, von Geographie und Geschichte, stellt zumindest eine vielversprechende Perspektive dar, die Situierung und Eingebundenheit des Menschen in Zeit und Raum analytisch zu fassen und von da aus zu untersuchen, welche Veränderungen sich ergeben haben. Da sich der Mensch und damit die Gesellschaft in Räume einschreiben, hat jedes geschichtliche Ereignis – Zeit wird durch Ereignisse erlebt – einen Ort, sind Orte, in denen Räume erlebt werden, Veränderungen unterworfen, oder umgekehrt lassen sich Veränderungen der Gesellschaft territorial fassen.1 In der Konsequenz läuft diese Verwobenheit von Raum und Zeit darauf hinaus, daß unser Sein am Ort sein bedeutet (vgl. Bollnow 2000). In dieser Hinsicht sind zirkulierende Leitformeln wissenschaftlicher und auch öffentlicher Diskussionen wie Individualisierung, Beschleunigung, Flexibilisierung, Entgrenzung, Globalisierung, Virtualisierung und nach wie vor Rationalisierung auf Räume bzw. Orte zu beziehen. Dies geschieht dadurch, daß die damit angezeigten strukturbildenden Prozesse und deren Folgen in Institutionen verortet werden. Diese institutionelle Verortung definiert und determiniert die gesellschaftliche Gebundenheit der handelnden Menschen. So kann am Beispiel von Unternehmen als einer institutionalisierten Form der Arbeit gezeigt werden, wie sich Individualisierung, Flexibilisierung und Entgrenzung strukturell verfestigen und das Handeln über solche „Weltbilder“ semantisch und moralisch lenkt sowie die Unternehmensführung mit Herrschaftsressourcen versorgt bzw. sie legitimiert.2 Diese Strukturierung läßt sich auch raumsoziologisch fassen: Menschen, Dinge, Güter und Ideen werden platziert (angeordnet; „spacing“) und durch Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse zusammengefaßt („Synthetisierung“), so daß sich ein sozialer, relationaler Raum konstituiert (vgl. Löw 2001: 224ff.). Welche Räume bzw. Orte wir auch sehen, sie besitzen keine 1 2
Vgl. Sauer 2005; ferner die Monumentalstudie von Braudel 1998. Vgl. Meschnig (2003) sowie allgemein zur „Strukturation“ Giddens (1988).
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Karlheinz Wöhler
Selbstevidenz. Daß lediglich im Unternehmen gearbeitet, im Shopping-Center eingekauft oder in der Küche gekocht wird, läßt sich aufgrund des Spacings und der Synthetisierung nicht mehr schlußfolgern. Das „räumelnde“ und synthetisierende Handeln „macht Geographie“. Deshalb kann beispielsweise das ShoppingCenter auch ein Zuhause, gar eine Heimat sein, genauer: dazu gemacht werden. Da sich in Institutionen jeweils spezifische Ideen verfestigen bzw. standardisieren3 – der Ort der Demokratie ist das Parlament, der Ort der Arbeit ist der Betrieb/das Unternehmen etc. –, besitzt die Verräumlichung von Vorstellungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen von Dingen, Menschen und Ideen einen frappanten Vorteil: Gleich ob in der Politik, Produktion oder Mobilität, in den Lebensformen, Lebenswelten oder schließlich in der Konsumtion: Immer geht es um „Geographiemachen“, d.h. um die Konstitution und Reproduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit durch Räume. Räume sind demzufolge nicht wegen ihrer Materialität umkämpft. Räume produzieren und reproduzieren vielmehr soziales Leben, das unweigerlich individuelle und alltägliche Erfahrungen umfaßt. Räume sind nicht passives Resultat menschlichen Handelns, sondern nehmen auf soziale, politische, ökonomische und kulturelle Prozesse Einfluß, und dies bedeutet, daß Räume das Denken und Handeln der Menschen prägen und daher umkämpft sind (vgl. Denzer 2004). Die gesellschaftliche Dynamik kann infolge dieser Dialektik von Raumbildung und Raumabhängigkeit des sozialen Lebens als in Räumen inkorporiert gesehen werden (vgl. Soja 1999: 127ff.). Was immer die gesellschaftliche Entwicklung strukturiert und strukturieren soll, oder was handelnde Subjekte intendieren mögen: Es bedarf einer räumlichen Lösung. Globalität, Lokalität und Glokalität stellen räumliche Lösungen des Sozialen, Politischen, Ökonomischen und Kulturellen dar. Gleich wie man Konsum konnotieren mag, benötigt auch er Räume und Orte. Durch die Einlagerung des Sozialen, Politischen, Ökonomischen und Kulturellen in Räumen einerseits und des Raumes als Handlungsmöglichkeit andererseits kann jedoch von keinem einseitigen Raumkonsum ausgegangen, insbesondere kann er nicht allein auf politisch-ökonomisches Handeln reduziert werden.
1
Ortlose Konstitution der modernen Gesellschaft
In theoretischen Ansätzen zur Analyse der modernen Gesellschaft verschwinden Orte, zumindest werden Räume gegenüber Orten privilegiert. Zugang und Zugriff auf die soziale Realität erfolgen auf der Basis von in separierten Berei3
Vgl. Lepsius 1990.
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chen inkorporierten universellen Ideen oder Medien, die in ihrer Gesamtheit eine sinnumfassende Einheit der Gesellschaft darstellen, den sozialen Beziehungen jedoch eine je spezifische Handlungslogik auferlegen. An die Stelle traditionaler, unverrückbarer und an Orte gebundener Gemeinschaften wie Mehrgenerationenfamilien/Familienhaushalte, Nachbarschaften, Gemeinden rücken funktional differenzierte Bereiche, die sachlich-unpersönlich vormalige Aufgaben für den (Fort-)Bestand der Gesellschaft übernehmen. Parallel dazu verschwinden nach und nach räumliche bzw. regionale Differenzen. Sie lösen sich im Anschluß an das revolutionäre 18. Jahrhundert auf, indem sich über jegliche geographische Grenzen hinweg Wirtschaft, Politik, Erziehung/Bildung und Religion von traditional geprägten Gemeinschaften abspalteten und sich auf Eigenrationalitäten festlegten (vgl. Parsons 1972: 93ff.). Die industrielle, demokratische und Bildungsrevolution als Treiber der funktionalen Differenzierung weisen darauf hin, daß diese Gestaltung moderner Gesellschaften von Menschen gemacht ist und nicht einem objektiven allmächtigen Zeitgeist folgt. Damit die sozialen Interaktionen in den Bereichen der Gesellschaft und zwischen diesen deren jeweilige Eigenrationalität nicht gefährden, werden Systeme im Binnenbereich so organisiert, daß Funktionsfremdes nicht zugelassen wird. Um eine Einheit in der Vielfalt der voneinander getrennten Bereiche herzustellen und die Legitimation der systemischen Handlungsmuster (Geld, Macht, Wissen, Wertverallgemeinerung) sicherzustellen, bedarf es nach Parsons (1972: 42) der „Verankerung in einem Handlungssubsystem höherer Ordnung“. Dies leisten universelle Normen des Rechtssystems, die sich auf jedes soziale System anwenden lassen und dadurch sicherstellen, daß sich nicht nur eine „gesellschaftliche Gemeinschaft“ aufrecht erhält, sondern darüber hinaus Wandlungsprozesse möglich bleiben.4 Modernisierung liest sich nach Parsons – ebenso nach Weber (1964) – als eine Befreiung von ursprünglich religiösen, politischen, sozialen, ethnischen und territorialen Grundlagen. Durch die funktionale Differenzierung exterritorialisieren sich traditionale Gesellschaften. Moderne Gesellschaften re-territorialisierten sich jedoch wieder, indem sich in Territorien entgrenzte politisch-ökonomische Einheiten und Rechtssysteme zu demokratischen Nationen etablierten. Nationen stecken den Raum ab, innerhalb dessen generalisierte Medien und Regeln gelten und Ansprüche definieren. Wenngleich zugestanden wird, daß „der Organismus ... durch die Wichtigkeit des physischen Handlungsortes in direkter Verbindung mit dem territorialen Komplex (steht)“, ist eine moderne, selbstgenügsame (Nation-)Gesellschaft auf die Persönlichkeit als Hauptbindeglied mit der Gesellschaft aus: Durch den Status der Mitgliedschaft kann auf einen „angemessenen ‚Beitrag’ ihrer Mitglieder 4
Vgl. Parsons 1972: 29ff.; Parsons kann daher nicht vorgehalten werden, er sei „strukturkonservativ“.
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Karlheinz Wöhler
zum Funktionieren der Gesellschaft“ (Parsons 1972: 17) gezählt werden. Kraft dieser Mitgliedschaft wird das Subjekt zum Staatsbürger, zum Rechtssubjekt – zum Wähler, Amtsinhaber, Einwohner und zum marktlichen Kontraktpartner. Daß der Einzelne die damit verknüpften Rechte und seine Bedeutung als Wähler, Konsument etc. reklamieren kann, setzt eine Verbindung der örtlichen Strukturen der Gesellschaft mit den ausdifferenzierten Bereichen voraus. Nur diese Verbindungen stellen das Funktionieren der Gesellschaft sicher – das Funktionieren der territorialen Wirtschaft, Politik und Justiz. Technologie, Wissensvermittlung und die organisierte Anwendung von militärischer und polizeilicher Gewalt sowie von Rechtsnormen gewährleisten dies. Angesichts dieser prominenten Argumentationskette und -figuren mutet es befremdlich an, die Moderne, wenn nicht als Produzentin, so doch zumindest als Geburtshelferin des Individualismus auszuloben. Wenn nicht das Individuum „an sich“ im Zuge der Modernisierung verschwindet, so löst sich jedenfalls der Ort als Ressource individuellen Handelns und Vergewisserns auf. Zudem verliert die regionale Differenzierung von Gesellschaft und Kultur ihre politisch-normative Bedeutung. Eines ist indes gewiß: Mit der Moderne kann sich der Einzelne u.a. nur noch als Käufer, Marktteilnehmer definieren; die Moderne schafft den Konsumenten (vgl. North 2003; Prinz 2003). Kraft dieser Rolle bzw. Mitgliedschaft zum Wirtschaftssystem ist der Einzelne in der Gesellschaft und kann sich sozial verorten, ohne allerdings an einem distinktiven Ort zu sein – das „System“ ist lediglich eine Metapher für einen „Ort“. Weber (1964: 29f.) nennt zwei Sphären, in denen Menschen außerhalb des modernen, rationalisierten (Gesellschafts)„Gehäuses“ ein Eigenwert zukommt. Neben der Kunst besitzt er mit der Familie einen Ort, in dem die sozialen Beziehungen affektuell und emotional grundiert sind. Parsons gesteht der Familie zwar auch die Funktion der emotionalen „Spannungsbewältigung“ zu, stellt ihr aber das Erziehungs- oder Bildungssystem zur Seite, das den Menschen in ein generalisiertes Wertesystem einführt und in der Konsequenz der Wirtschaft Konsumenten und der Politik Wähler zuführt (systemische Integration). Insofern produziert die Moderne nicht nur ortlose, sondern auch „subjektlose Individuen“, die sich lediglich im Kontext von Systemmitgliedschaften vergewissern können. Es ist nur ein kleiner Schritt, wenn Habermas (1981: 477, 522) in der Zufuhr der Individuen aus der familiären Lebenswelt in die Systeme eine „Kolonialisierung der Lebenswelt“ sieht. Die Modernisierung finalisiert sich in der lebensweltlichen Rationalisierung: Ökonomie, Politik und Recht(-sansprüche) entzaubern die vermeintlich letzte Bastion traditionaler Lebensformen. Für Simmel (1996), der bereits 1911 solche „Vereinseitigungen“ des modernen Menschen diagnostizierte, blieb nur ein Lösungsvorschlag, um die „Gespanntheit des Lebensgefühls“ zu erfahren: das Abenteuer als
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Ausbruch aus dem „besetzten“ Alltagsraum und als Hoffnung auf einen Ort anderswo, der ein „wirkliches“ Selbst ermöglicht. Unter dem Strich führt die Modernisierung unbestritten zur Freisetzung des Individuums aus Ortsbindungen. Was die Welt ausmacht, welche verläßliche Position man in ihr hat, woraus man Sinn gewinnt, wo man hingehört, wem man zugehört, wo man sich selbstvergewissern kann und wer man selbst ist, kurzum das Welt- und Selbstverständnis ist nicht länger an den Stand-Ort gebunden bzw. läßt sich nicht mehr örtlich generieren (vgl. Wöhler 2002: 151ff.). Wenn der Ort nicht mehr die Welt und das Selbst repräsentiert, sondern eine Pluralität von systemischen Beobachtungs- und Teilnahmeverhältnissen diese Funktionen übernimmt, dann wird Örtlichkeit tatsächlich bagatellisiert und angestammte Räume erweisen sich in der Erschließung der Welt und des Selbst als begrenzt (vgl. Luhmann 1997: 152ff.). Das Primat der funktionalen Differenzierung in modernen Gesellschaften widerspricht einer räumlichen bzw. regionalen Differenzierung – auch im Rahmen einer Weltgesellschaft –, operieren die Funktionssysteme doch raumunabhängig: Geld, Wahrheit, Macht und selbst Liebe respektieren keine Grenzen (vgl. Luhmann 1997: 160ff.). Infolgedessen muß sich der Einzelne, wenn er sich in der Welt zurechtfinden und sich dabei selbst finden bzw. begründen will, als Beobachter in Systemen lokalisieren und so Welt- und Selbstbilder „entwerfen“. Individualität ist daher nur als Inklusionsindividualität möglich; ein Rückzug aus den Systemen in Form einer Exklusionsindividualität im Sinne eines privaten Ortes ist ausgeschlossen, konfiguriert doch das Außen „kein topographisches Außen ..., sondern ein operatives Außen“ (Nassehi 2003: 107). Sich selbst in der Welt zurechtzufinden, bedeutet demnach, stets systemisch anschlußfähig und letztlich mobil zu sein, d.h., in der Moderne wird Raumerleben nicht als Platzbezug, sondern als Bewegungsbezug erfahren, als ein mehr oder weniger selbstkoordiniertes und fortwährendes Aufsuchen von und Integrieren in Systeme/n (vgl. Rosa 2005). Ist das Muster der funktionalen Differenzierung atopisch, macht also Modernisierung Orte irrelevant und hält sie das Individuum permanent in Bewegung und verlangt von ihm Flexibilität, dann kann man die Situation des individualisierten Menschen, von der aus er die Welt und sich selbst erfährt, als entbettet charakterisieren.5 Losgelöst von festen Zusammenhängen läßt sich die Wirklichkeit zwar als Gestaltungshorizont begreifen, doch wie Castells (2002: 466ff.) aufzeigt, entfaltet sich ein Möglichkeitsraum innerhalb der Logik globaler Ströme („flows“) , die zwischen physisch unverbundenen Positionen neue Formen der Interaktionen, Kontrolle und Organisationen konstituieren, so daß der „Raum der Orte“ zu einem „Raum der Ströme“ mutiert: Ströme des Kapitals, der Informationen, Macht, Technologie, Bilder, Töne und Symbole schreiben sich in 5
Vgl. Willke 2001; Bauman 1997; Sennett 2000; Giddens 1990: 33ff.
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Karlheinz Wöhler
Räume ein und determinieren die sozialen und kulturellen Praktiken. Dabei verdichten sich Raum und Zeit, und Orte integrieren sich in den globalisierten Raum (vgl. Harvey 1990). Der Raum der Ströme ist nicht ortlos – Ströme laufen vernetzend in Zentren zusammen (Ikonen sind die Global Cities) und inkorporieren sich allerorts im wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Leben –, doch ihre Strukturen und institutionellen Arrangements samt die daraus erwachsenden Verhaltensstile sind derart homogenisiert, daß die Orte im Raum der Ströme nicht unterscheidbar sind. Sie sind „Non-Places“, ubiquitär und fluide, wenngleich sie die distinktive Substanz der Ströme in sich tragen und so in ihrer Materialität die Ströme repräsentieren.6 Während Castells den global agierenden Wirtschaftsakteuren die formierende Kraft über die globale Penetration der Ströme zuschreibt, stellt Appadurai (1996: 27ff.) bei seiner Identifizierung von globalen Strömen Überlagerungen und Disjunktionen fest. Ethnoscape, Mediascape, Technoscape, Financescape und Ideoscape konstituieren durch Strukturen, Prozesse und Interaktionen Räume. Diese Scapes generieren mitunter sich ausschließende Prozesse. So laufen Kapitalinteressen (Financescape) dem ökologischen Ideoscape entgegen, und es kommt zu einer globalen Mobilisierung im Technoscape und zur Solidarisierung mit Ethnien (vgl. Dörrenbächer 1998). Sich überlappende und/oder disjunktive Ströme bzw. Scapes lassen zwar neue Verortungen entstehen, doch die Orte z.B. im Raum Baie James (Kanada) begründen sich auf entbetteten, atopisch flottierenden Vorstellungen und Ideen – in diesem Fall der Nachhaltigkeit. Von sich aus besitzt kein Ort Selbstevidenz; Evidenz erlangt er erst durch eine SpaceDekontextualisierung, und dies bedeutet (paradoxerweise), daß er innerhalb dieser bzw. mit diesen Spaces einen Bedeutungszusammenhang gewinnt. Stehen die äußerst beweglichen Ströme und Scapes für eine Entgrenzung aller Territorien und Lebensräume7 und damit für unbegrenzte räumliche Zugriffsund Nutzungsmöglichkeiten, dann kann es nicht verwundern, daß sie die traditionelle Strukturdominanz des sozialen Gefüges erodieren. An die Stelle einer Vergemeinschaftung durch Klassen oder Schichten treten Lebensstile und/oder Milieus (vgl. Otte 2004: 57ff.). Gleich mit welchen Dimensionen sie empirisch ermittelt werden, bilden sie einen sozialen Raum, in dem der Eingang und die Wertschätzung sowie der „Geschmack“ an der Modernität eine zentrale Rolle spielt. Wenn Operationalisierungen bzw. Variablen wie Technik, Musik, Medien, Geldanlage, Einrichtungen, Bekleidung, aber auch Bildung u.a. den sozialen Raum nachweislich konstituieren, dann haben sich ortlose Gemeinschaften gebildet, die sich im Grunde im Fluß der Ströme oder in den Scapes bewegen. Da Ströme oder Scapes gleichermaßen atopisch und omnipräsent sind, ist es nur 6 7
Vgl. Ritzer 2004: 39ff.; McDonaldisierte Orte mögen hier als Metapher herhalten. Vgl. Beck/Lau 2004.
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folgerichtig, wenn territoriale Milieus und/oder Lebensstile ihre Entsprechungen in Eurostyles und globalen Lebensstilen finden (vgl. Richter 2005: 119ff.). Durch ihre Raumübergreifung haben sie ihren „Ort“ letztlich im Konsum, auf dessen Grundlage sich dann noch ortlose neue globale „Stämme“ ausbilden,8 man denke nur an MTV, Gucci, Prada, Nike, BMW, Benetton etc. Haben solche „Stämme“ einen identifikatorischen Fixpunkt in Waren und Ideen,9 so entstehen aus der Mobilisierung insbesondere von Ethnien (Migranten) und Touristen transnationale Räume (Ethnoscapes), die zwar im Zuhause bzw. Herkunftsort einen Bezugspunkt besitzen; doch in den transnationalen Räumen sind bzw. fühlen sich die Menschen in dem Sinne entbettet, daß sie sich dort nicht oder kaum integrieren können (vgl. Pries 2001).
2
Produktion von Räumen
Die obige Geschichte der Modernisierung umfaßt beileibe nicht alles. Wenn von entbetteten Funktionssystemen, Strömen und Scapes die Rede ist, dann verschwinden zwar Räume, doch tauchen im gleichen Maße neue Räume auf, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Orten enthalten. Kurzum: Weder ist die Welt de-territorialisiert noch sind Räume völlig entleert. Die modernen Strukturprinzipien stellen vielmehr räumliche Ordnungen dar, an denen sich die Menschen orientieren und aus denen sie handlungsleitende Bedeutungen erschließen. In nationalen Territorien und dann im globalen sowie virtuellen Raum entstehen auf der Grundlage dieser Strukturprinzipien Wirtschaftsräume, Rechtsräume, Währungs- und Finanzräume, Medienräume, Sicherheitsräume, Bildungs- und Wissensräume, Freizeiträume etc. Das Versprechen der Moderne besteht nun darin, daß der Mensch sein Dasein in diesen Räumen gestalten kann. Sie halten einen Horizont von Möglichkeiten offen und stellen in Aussicht, daß durch ihre Integration in das Handeln beispielsweise Arbeit/Einkommen, Qualifikationen, Altersvorsorge, Informationen und auch Erlebnisse zu erwarten sind.10 Um sich zu positionieren, ist Raumkonsum demnach unabdingbar. Diese modernen Räume stehen nicht nur im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionszusammenhang, sondern sie werden zugleich durch ihren Konsum rekonstituiert und bisweilen anders strukturiert. Folgt man den obigen Darlegungen zur ortlosen Konstitution der Moderne, dann schreiben sich die Funktionssysteme in Räume ein. Während Ströme die 8
Vgl. Maffesoli 1996: 96ff. Dabei konstituierten sich im Prozeß der Modernisierung immer schon globale „Stämme“ bezüglich des Wissens, der Waffentechnik, der Medien u.a., vgl. Osterhammel/Petersson 2003. 10 Vgl. in diesem Sinne zu Erwartungen Luhmann 1985: 362ff. 9
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globalen Äquivalente dieser erst territorial entstandenen Funktionssysteme darstellen,11 deuten die Scapes an, daß die funktionalen Raumeinschreibungen weder einseitig einem „objektiven Geist“ bzw. naturhaften Gesetz des Kapitalismus folgen noch konfliktlos und bar jeglicher sozialer Aktionen vonstatten gehen. Daß der Raum kein Objekt (ein Container) und nicht von den sozialen und kulturellen Praktiken zu differenzieren ist, dies will der Begriff „Scape“ ausdrücken: Landschaften beschreiben Räume, die von Menschen belebt, erlebt werden und dadurch Orte schaffen, indem sie Raum und Zeit nach ihren Bedürfnissen organisieren, d.h., sie schreiben sich körperlich in den Raum ein, wodurch der Ort seine eigene Geschichte erhält (vgl. Jackson 2005: 42ff.). Landschaft impliziert demnach, daß in ihr etwas aus der Sicht der Menschen geschaffen wird – an Orten, die damit die Evidenz der Geschichte behalten (vgl. Francois/Schulze 2003: 17f.). Insofern lassen sich in den Scapes die materiellen Präsenzen (z.B. Gebäude, Flora und Fauna, Menschen) in Bilder transformieren und gewinnen die Gestalt von imaginierten Welten (vgl. Appadurai 1996: 33). Aus all dem folgt, daß Raum eine Mehrdimensionalität aufweist, er sich also nicht objektiv (funktionalistisch) oder subjektiv (handlungsaneignend) fassen läßt. Die unhinterfragbaren funktionalistischen Produktionsweisen des Raumes sind demzufolge mit dem erlebten Raum zusammenzubringen. Oder anders gewendet: Die Sicht einer Distanz zwischen dem Alltagshandeln und den sich verselbständigenden Funktionssystemen ist revidierungsbedürftig. Lefèbvre hat bereits vor 33 Jahren eine derartige Revision vorgelegt, die die Produktion des Raumes dreidimensional faßt. Daß diese Konzeptionalisierung bis in unsere Tage vielfach rezipiert wird, spricht weniger für erlahmende Erkenntnisleistungen der Sozial- und Kulturwissenschaften als für seine Erklärungskraft. In diesem Kontext ist Lefèbvres Produktion des Raumes weiterführend, da sie kontradiktorische bzw. widerspenstige Raumaneignungen durch die Individuen aufzeigt und dabei den Orten eine zentrale Rolle zuweist. Nach Lefèbvre (2000: 42ff.) umfaßt die räumliche Praxis die alltägliche Wahrnehmung, Aneignung und Beherrschung des Raumes in seiner Materialität und seines Wandels. Die Anordnung von Produktion und Reproduktion, sozialen Beziehungen und Verhältnissen lagern sich in Alltagsroutinen ab. Diese Ablagerung verleiht der Raumrealität Dauerhaftigkeit und Kohäsion. Zugleich gewährt die räumliche Praxis die Lesbarkeit und damit Differenzierung des Raumes, also z.B. hinsichtlich des Konsums, der Arbeit, Bildung, Freizeit etc. Die räumliche Praxis ist Teil einer naturgegebenen Welt. Daß diese räumliche Praxis auf den inkorporierten Funktionssystemen basiert, die den Zugang und die Nutzung sowie die Kontrolle über den Raum12 definieren, versteht sich ebenso wie eine atopische Übertragung 11 12
Vgl. Parsons 1972: 68ff. Hinsichtlich des „Platzierens“ vgl. Löw 2001: 158ff.
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der räumlichen Praxis: Wenn sich die Realitäten des Raumes überall angleichen, dann besitzen die Menschen die Fähigkeit, sich überall räumlich zu produzieren und zurechtzufinden. Dies ist insbesondere durch den Raum der Zeichen und der Codes, den Repräsentationen des Raumes, garantiert. Was ein Raum darstellt, läßt sich auf Entwürfe, Vorstellungen und Wissensbestände der „Raumspezialisten“ – von den Wissenschaftlern über die Ingenieure bis hin zu den Polit-Administratoren – zurückführen. Diese Repräsentationen des Raumes verknüpfen die herrschenden Ordnungsvorstellungen darüber, was etwa eine Nation, Stadtkultur, „Konsumlandschaft“, Zentrum/Peripherie und ein Umland ist. Dieser konzeptionierte Raum ist an sich abstrakt, im Moment des Entwerfens leer, ein anderer, heterotoper Raum als der je vorgefundene, der dann mit einem Plan, mit Bildern und Signifikaten gefüllt bzw. strukturiert wird (vgl. Lefèbvre 2000: 304ff.). Die Institutionalisierung von Scapes ist nur durch eine solche abstrakte Reduktion des Raumes möglich, der dann durch seine signifikatorische Aufladung eine je spezifische soziale Praxis des Raumes festlegt. Durch diese Festlegung kann der Raum als Produkt konsumiert werden (etwa als Freizeit- oder Wohnraum und in der Ferne als Reiseraum), wodurch dann der Konsum die Gestalt eines Instrumentes der Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen über Freizeit, Wohnen, Mobilität etc. annimmt. Durch die Repräsentationen des Raumes erscheint der Raum logisch geordnet, alles hat seine materiell rückführbare Entsprechung – hier die Einkaufsstätten mit ihren Verkehrsanbindungen, dort die Freizeitstätten und Wohnareale mit ihren Grünzonen –, doch wie Lefèbvre (2000: 407ff.) darlegt, können diese Ordnungen als inkonsistent wahrgenommen werden und Räume demzufolge umkämpft sein. Damit ist ein Hinweis gegeben, daß Räume erlebt und durch Bilder imaginiert werden, so daß sich Räume der Repräsentation herauskristallisieren. Diese Räume überlagern den materiellen Raum und machen einen symbolischen Gebrauch von seinen Dingen, Menschen und Verhältnissen. Es ist der Raum, der bezeichnet und benennt, indem beispielsweise durch „Storytelling“ Gebäuden und Regionen Bedeutung zugeschrieben oder Menschen in einem Stadtviertel mit bestimmten Eigenschaften belegt werden. Über Imaginationen oder Texturen werden demnach Räume angeeignet. Da räumliche Texturen und Lesarten von Räumen im Zuge der alltäglichen Aneignung geändert werden können – keine passive, sondern eine körperlich affektuelle und dadurch Authentizität stiftende Aneignung (vgl. Lefèbvre 2000: 412ff.) –, erhält der Raum der Repräsentationen als gelebter Raum eine praktische Bedeutung. Ausdrücklich bezeichnet Lefèbvre (2000: 433ff.) die Aneignungsweisen des Raumes als Konsum, genauer den Raum als Objekt des Konsums und diesen als einen Ort, wo sich etwas ereignet. Aneignung wird als Mimesis verstanden, als ein
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Prozeß, in dem Repräsentationen des Raumes bestätigt, aber auch umgedeutet und so die dem Raum zu- und materiell eingeschriebenen Funktionen unterlaufen werden können. Ob Umdeutungen und Richtungsänderungen von Raumstrategien angesichts der mächtigen und zumal globalen Ströme wahrscheinlich sind, ob also Subjekte ein transformatives Potenzial besitzen, ist als niedrig anzusetzen, wenn man etwa mit Harvey (1990) oder Soja (1999) davon ausgeht, daß die Strukturierung und Restrukturierung räumlicher Konfigurationen Ausdruck der kapitalistischen Entwicklung ist, die sich im Informationszeitalter mit neuen Organisationen und Technologien wirkungskräftig verbunden hat (vgl. Castells 2001). Und versteht man mit Bourdieu (1991) den Raum als ein Feld, das sich durch ungleiche, klassenbedingte Verfügungsmöglichkeiten über die verschiedenen Kapitalsorten konstituiert, dann perpetuieren sich im physischen Raum gesellschaftliche Gegensätze, die letztlich auf Auseinandersetzungen um Raumprofite zurückzuführen sind. Wie sich das Individuum räumlich entäußert, wo es wohnt, welche Einkaufsstätten und Restaurants es aufsucht, resultiert letztlich aus der Inkorporation dieser Kapitalsorten. Auf der symbolischen Ebene funktioniert der Raum daher als Raum der Lebensstile (vgl. Bourdieu 1991: 21ff.). Wer nach diesem Verständnis transformatives Potential besitzt, muß als rhetorische Frage abgetan werden. Geht man gar davon aus, daß die globalen Ströme in einer Ökonomie der Zeichen aufgehen und eine Krise der Repräsentationen des Raumes hervorrufen13 und leitet man daraus eine Krise der Lesbarkeit des Raumes ab,14 dann erübrigt sich diese Frage gänzlich, überbeansprucht doch der „information overload“ das Individuum so sehr, daß es entscheidungs- und handlungsunfähig wird und in der Folge in Angestammtheiten verharrt. Wenngleich Lefèbvre vom Ansatz her eine polit-ökonomische Durchrationalisierung der Raumproduktion unterstellt, geht er keinesfalls so weit, sie darauf zu reduzieren. Bei allen Zugeständnissen an einen kapitalistisch geprägten räumlichen Handlungskontext insistiert er vor dem Hintergrund des wahrgenommenen, vorgestellten und erlebten Raumes darauf, daß Räume in Alltagspraktiken eingebettet sind. Das Alltagsleben folgt weder vorgefertigten Kategorien noch wird es von einem einseitigen („beschädigten“) Individuum geformt. Zwar ist der Raum bereits vor seinem Sein da. Doch weil das existierende Raumprodukt vor dem Dasein das Ergebnis vorgängiger räumlicher Vergegenständlichungen und Veräußerungen von körperlichen Erfahrungen im Umgang mit Räumen, menschlicher Kreativität und Bedeutungszuweisungen ist, reklamiert das Subjekt auf gleiche Gestaltungsrechte und distanziert sich vom Vorgängigen und Anderen. Das Alltägliche fungiert so als Vermittlungsinstanz für den Raum – es kennzeichnet einen Ort des Möglichen im Raum. In den alltäglichen Praktiken der Raumaneignung bzw. des Raumkonsums 13 14
Vgl. Lash/Urry 1994. Vgl. Jameson 1991: 410ff.
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werden demzufolge Körperlichkeit, Kreativität und Spontaneität sichtbar (vgl. Lefèbvre 1977: 70ff.). Mit dem In-der-Welt-Sein wird dem Raum folglich die Qualität des Machbaren verliehen; Menschen können sich in ihm lokalisieren (vgl. Lefèbvre 2000: 409ff.; Appadurai 1996: 179ff.).
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Ort als Möglichkeit des Raumes
Trotz des a-historischen Raumes der Ströme und Funktionssysteme haben Orte ihre Bedeutung nicht verloren (vgl. Castells 2002: 479ff.). Die Logik des Ortes und die Logik des Raumes stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis. Der Raum mit seinen Ordnungsschemata ist gegenüber den alltäglichen Raumaneignungen (Lokalisierungen) indifferent. Verlautbarungen über Bildungsabschlüsse, Beschäftigung/Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Ausgaben für Freizeit, Kosten von Unwettern etc. sind systemisch-territorial und sparen die damit verbundenen persönlichen Erfahrungen und kollektiven Erinnerungen, die Menschen mit den damit verbundenen Ereignissen aus. Daß Medien über diese Erfahrungen und Erinnerungen berichten, mag als ein Indiz dafür gelten, daß immer noch Orte den nachvollzieh- und empfindbaren Kontext bilden, an denen Menschen Erfahrungen mit den systemisch erfaßten und bemessenen Ereignissen machen, wie sie sie bewältigen und welche Bedeutungen sie ihnen zuschreiben. Daß dabei das Erlebte in einen territorialen und globalen Zusammenhang gestellt und gedeutet wird, zeigt, daß Orte einerseits das „Besondere“ für den Menschen sind und sie andererseits eingeraumt bzw. eingebettet sind in „objektive“ Strukturen der Welt. Daraus ist jedoch kein Dualismus zwischen Raum und Ort abzuleiten. Obgleich sich Orte durch ihre Bindung an Funktionssysteme und deren Institutionen (systemisch) stabilisieren – medial sind sie dann Beispiele für das Allgemeine –, bilden sie im Raum den Bezugsrahmen für Interaktionen und Erlebnisse (körperliche und kognitive Wahrnehmung von Ereignissen/Zeit), in deren Verlauf der Raum symbolisch markiert, angeordnet und angeeignet wird. Diese sozialen Praktiken des Raumkonsums sind nach Giddens (1992: 169ff.) offen für eine reflexive Gestaltung, Aushandlung und Ausbildung „anderer Orte“. Es ist naheliegend, daß Raumstrategien nicht auf die Aufteilung des Raumes abzielen, sondern auf die Lösung eines Problems wie beispielsweise Arbeitslosigkeit, um damit „vor Ort“ Handeln zu regulieren bzw. normativ-politisch zu „regionalisieren“ (vgl. Werlen 1997: 273ff.). In diesem Sinne haben Räume keine Orte; der Raumkonsum konstituiert erst Orte, in dem alltägliche soziale Interaktionen und Interpretationen einen gemeinschafts- und identitätsstiftenden Kontext herstellen. Dabei können Ortskonzepte ausgehandelt werden. Würde man davon ausgehen, daß Räume
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und Orte an sich schon Weltdeutungen, Gemeinschaften oder Kulturen in sich tragen, dann verfiele man auf die überholte Vorstellung, wonach kulturelle Identitäten auf eindeutig abgrenzbare Territorien festgelegt sind. Nicht nur Lefèbvres Produktion des Raumes, auch die Evolution der Funktionssysteme, die Ströme und das Aufkommen der Lebensstile stellen diese unterstellte Wirkkraft des Raumes ad absurdum. Die räumliche Situiertheit ist allerdings die Voraussetzung und das Mittel menschlicher Erfahrung. Raum ist demzufolge nicht subjekt- und handlungsunabhängig. Er konkretisiert sich im Ort, in alltäglichen Praxen der „Regionalisierungen“ (Werlen 1997). Dabei wird die materielle Aneignung des Raumes von Symbolisierungen begleitet. Ein alltägliches „Ortmachen“ bei der produktiv-konsumtiven Raumaneigung changiert zwischen einer Interpretation des Handelns „im Horizont des Wirtschaftens“ und dem „Ausdruck subjektiv definierter Lebensstile“ (Werlen 1997: 271ff.). Insofern werden nicht nur Symbole, sondern auch Erzählungen, soziale Imaginierungen, ästhetische Vorstellungen und kollektive Mythen bei der Aneignung des Raumes und der Konstitution von Ort herangezogen. Raum wird so zu einer Vielfalt möglicher Orte, lassen sich doch Imaginationen, Erzählungen, Mythen jederzeit mobilisieren und als strategische Therapie gegen die Globalisierung, d.h. zur Schaffung von Lokalität heranziehen (vgl. Ong 2005: 221ff.). Daraus läßt sich schlußfolgern, daß Orte im Raum erfunden und gefunden werden. Das Fiktionale findet Eingang in den alltäglichen Raumkonsum. Der Raum als das potentiell Mögliche läßt eine imaginativ angeleitete soziale Praxis entstehen. Orte konstituieren sich durch heterogene Wirklichkeitskonstruktionen der in Räumen befindlichen Individuen. Orte sind eher als „Soziosphären“ , als Bedeutungsfelder zu verstehen, die sich beim Raumkonsum ausbilden (vgl. Albrow 1997: 303ff.). Aufgrund dieser Konstitution erzeugen Soziosphären nicht nur (temporäre) Gemeinschaften und kollektives Handeln, sondern vermitteln Empfindungen, stellen Verbindungen im Raum und zu anderen Räumen her und enthalten den Keim des Neuen und Veränderungen im materiellen und vorgestellten Raum. Eine Räumlichkeit, die aus der Qualität eines solchen soziosphärischen Zusammenfindens entsteht, kann als „Thirdspace“ bezeichnet werden (vgl. Soja 1996, 1999: 267ff.). Er führt die beiden ersten Raumkonzepte Lefèbvres zusammen und eröffnet die Möglichkeit, die Ordnung der Räume wahrzunehmen, zu reflektieren und Rückschlüsse für Veränderungen im wahrgenommenen und vorgestellten Raum zu ziehen. Diese „Thirding-Prozesse“ bilden Orte aus. Eine derartige Raumaneignung (Raumkonsum) erinnert an Lefèbvres eigensinnige, kontradiktorische Raumaneignung sowie an Foucaults „Heterotopie“. Diese „anderen“ Orte sind Orte außerhalb der Orte in den Räumen: Sie lassen sich zwar territorial und sozial ausmachen, da sie an Prekäres der Gesellschaft ge-
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knüpft sind; gleichwohl sind sie örtlich ausgelagert, in den Raum gesetzt (Friedhöfe, Kliniken, Bordelle, Hotels etc. und auch Ferienanlagen). So wie die Heterotopien aus sich selbst heraus leben, besitzt auch der Thirdspace eine offene Struktur; er ist Experimentierfeld für neue soziale Formen und nimmt seinen Ausgang von gegebenen, materiell und symbolisch verfaßten Räumlichkeiten, deren Grenzen er auflöst. Er ist daher eine Variante von liminalen Räumen. Durch eine soziosphärische Konkretisierung bzw. Konversion in Orten kann er einer transformativen Nutzung zugeführt werden und nicht zuletzt NichtRepräsentiertes zum Ausdruck bringen. Diese Orte stellen insofern Drittorte dar, als aus der gegenseitigen Kontaminierung durch das „Äußere“, Gegebene, die Raumverfaßtheiten und die Vorstellungen der Individuen ein Impuls für Hybridisierung, ein dritter Ort, herbeigeführt wird.15 Die Lokalität der Drittorte ist das Dazwischen, in dem sich auch Oldenburgs Dritte Orte befinden – zwischen Arbeitsplatz und Zuhause (vgl. Oldenburg 1999, 2001).
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Konsum von Freizeiträumen
Es kommt nicht von ungefähr, daß Lefèbvre (2000) immer wieder den Raumkonsum mit der Freizeit exemplifiziert. Die Freizeit durchdringt rhizomatisch nicht nur westliche Gesellschaften, sondern auch den Globus, ja das Weltall mit sogenanntem Weltraumtourismus. Schon wird Freizeit als ein postkolonialer Strom ausgemacht, der die Lebenswelten der Dritten Welt okkupiert, d.h. als ein mächtiges Ordnungsmuster, das sich in dortige Räume einschreibt und Lebensformen sowie Naturlandschaften als „Freizeitlandschaften“ konnotiert (vgl. Iwasaki et al. 2007). Schon längst hat die Freizeit totalitäre Züge angenommen. Was eindeutig der Arbeit, den Obligationen und der Freizeit zugeordnet wird, verschwimmt zugunsten der Freizeit und findet in der Entgrenzung der Lebenswelt eine passende Begrifflichkeit (vgl. Beck/Lau 2004; Wöhler 2006a). Was auch aufge- und besucht oder in Anspruch genommen wird: Es wird, wenn nicht der Freizeit zugeordnet, so doch als während der „eigentlichen“ Freizeit Getätigtes wahrgenommen, so daß Freizeit zum Referenzpunkt allen Handelns mutiert. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn Freizeitaktivitäten zum signifikanten Prädiktor für Lebensstile avancieren und in der Gestalt von Erlebnissen die Basis von Milieus bilden (vgl. Wahl 2003; Schulze 1992). Wenn beispielsweise vom Einkaufen, Treffen mit Freunden/Verwandten, Heiraten sowie der „Eheanbahnung“, Gastronomie- und Bordellbesuchen, Kirchenbesuchen, Lesen, Veranstaltungsbesuchen, Arztbesuchen, Teilnahme an Öf15 In Analogie zu Bhabha 1990; Drittorte – „third spaces“ – bestimmen den postkolonialen Diskurs, vgl. Castro Varela/Dhawan 2005.
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fentlichkeiten, Basteln und Kochen über Weiterbildung, Hausaufgaben, aktiven und passiven sportiven Tätigkeiten bis hin zum Verreisen alles Freizeit ist und überdies Arbeits- und Obligationszeiten von Freizeiten durchsetzt sind bzw. neben den Pausen wird z.B. am Laptop während der Freizeit Berufliches erledigt oder auf dem Heimweg von der Arbeit wird eingekauft oder ein Coffee Shop besucht, dann besteht unser Alltag aus einem chronifizierten Dazwischen: So werden zwischen dem Zuhause und der Arbeit „Oldenburgsche“ Dritträume aufgesucht, man besucht einen Vortrag oder eine Freundin, zwischen Abendessen und Schlafengehen wird die Zeitung gelesen, in der Zwischenzeit von Arbeit und Feierabend wird gejoggt (wodurch das Arbeitszeitkonto belastet wird), zwischen dem Zuhausesein und der Arbeit wird verreist, und selbst während der Urlaubszeit werden diese alltäglichen Dazwischen gesetzt. In den Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch in der Praxis wird ihr eine Kompensationsfunktion zugewiesen. Via Freizeit werden neue Märkte erschlossen, penetrieren die Teilsysteme Sport und Medien, erreicht das Kunstsystem ein Massenpublikum etc. Nach wie vor wird man beispielsweise in der Kulturfreizeit (z.B. Theater-, Popkonzert- und Musicalbesuche, Literaturlesungen) oder bei der Einkaufsfreizeit als Nachfrager von diesbezüglichen Waren und Dienstleistungen gesehen, so daß Freizeit als Teil dieser Systeme, wenn nicht gar gänzlich als verlängerter Arm und damit als Fortsetzung des kapitalistischen Systems erscheint (vgl. Steinert 2002). Da für Freizeitgüter, genauer: für die Nutzung der Freizeiträume, Entgelte entrichtet werden müssen und zudem die materielle und immaterielle freizeitliche Inwertsetzung dieser Räume samt ihrer Nutzer Kosten verursachen (von der Wohnungseinrichtung über die „Freizeitausrüstung“ bis hin zu den Löhnen der Dienstleister), liegt der Schluß nahe, daß beim Freizeitkonsum atmosphärisch attraktive und emotional anregende ökonomische Käufer-Verkäufer-Beziehungen vorliegen. Diese Beziehungen setzen eine physische Ko-Präsenz voraus, und dies bedeutet, daß Freizeitkonsum einen Ort im Raum hat.16 Im Zuge der postmodernen Dezentrierung der Gesellschaft haben sich mit ihr auch Räume und – wie mit dem „Dazwischen“ angedeutet – die Freizeit dezentriert (vgl. Rojek 1995). Demzufolge stellen Städte, Naturräume, Wirtschaftsregionen und sogar Betriebsstätten, Schulareale und Wohnsiedlungen auch Freizeiträume dar. Oder anders und beispielhaft ausgedrückt: Das Ruhrgebiet ist ebenso wie der Hamburger Hafen und das Hackesche Viertel der Möglichkeit nach eine Freizeitlandschaft. Als solche werden diese Räume auch ausgelobt. Die Realität von Städten, Quartieren, Naturräumen, Schularealen etc. erschließt sich also nicht nur aus ihren territorialen Bezügen und materiellen Einschreibungen, sondern auch aus ihren (zusätzlichen, hier) freizeitlichen Raumbildern. Der „freizeitliche Blick“ 16
Zur Sozialgeschichte der Freizeit und ihrer Orte in Räumen vgl. Reinhard 2004: 469ff.
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der Menschen – in Anlehnung an den „touristischen Blick“ (Urry 2002) – richtet sich auf freizeitliche Raumbilder, findet dabei materielle Entsprechungen und verifiziert so eine rationale Logik. Der Raum, obwohl sozial produziert, wird durch den verifizierenden visuellen Konsum naturalisiert. Der visuelle Konsum ist die eine Seite. Die andere Seite ist die, wie Menschen ihre räumliche Umwelt wahrnehmen und wie sie sich in ihren Alltagspraxen – genauer: in ihren Handlungssequenzen – räumlich orientieren. Konsumieren sie einen Raum freizeitlich, hat sich die Spannung des dezentralen postmodernen Raumes zwischen den materiellen und symbolischen Vielfältigkeiten temporär an einem Ort aufgelöst bzw. synthetisiert (vgl. Löw 2001: 158ff.). Die auf Räume projizierte Freizeitmetapher wird durch eine Verräumlichung konsumiert, wobei mögliche Raumbezüge begrenzt bzw. (temporär) exkludiert werden (vgl. Shields 1991: 256). Gleichwohl sind Freizeiträume Thirdspaces, also Orte des Dazwischen, die verschiedene Aneignungen und Bedeutungszuschreibungen zulassen. Bars, Coffee Shops oder Frisörsalons, schon längst ketten-filialisiert und in Finanzströme integriert, kehren gewissermaßen zum Ausgangspunkt ihrer Besucher zurück und mutieren zu vertrauten Gemeinschaften, so daß man sich dort zu Hause glaubt (vgl. Oldenburg 2001). Die Restaurants in Kaufhäusern werden für Witwen zur Heimat, und selbst die Trabrennbahn ist ein Ort der Vergemeinschaftung (vgl. Dietzsch 2005). In Orten der kulturellen Freizeitunterhaltung (Literatur, Musik und Kunst) verfestigen sich nicht nur Lebensstile, sondern lassen auch neue Sichtweisen, Lebensformen, Techniken und Sensibilisierungen aufkommen (vgl. Wöhler 2006b). Es bestätigt sich immer wieder, daß sich Orte des popularen Freizeitkonsums kreativ und widerständig in gemeinschaftsstiftende Inszenierungsstätten transformieren (vgl. Warneken 2006). Und nicht zuletzt bilden Freizeittouristen untereinander und/oder mit Einwohnern zusammen Gemeinschaften, die bisweilen noch nach der Abreise Bestand haben (vgl. Franklin 2003: 48ff.). Die Rückkehr der Gemeinschaft in Freizeitorten scheint eine weitreichende Antwort auf die „Krise der Postmoderne“ zu sein. Das individualisierte Subjekt bindet sich nicht mehr über traditionale Gemeinschaften (Familie, Arbeit und andere traditionelle Zugehörigkeiten wie Schichten, Klassen und Nachbarschaften) in die Gesellschaft ein. Und eine soziale Integration erfolgt auch nicht via Mitgliedschaften in separierenden Funktionssystemen, sondern es ist der Freizeitkonsum, der Menschen zusammenbringt, nicht per Zwang oder einem „funktionalistischen Muß“, sondern aufgrund der Wahrnehmung und Imagination eines „anderen“ Ortes in fragmentierten Räumen. Die diagnostizierte Krise der postmodernen Identität löst sich demnach nicht durch kollektive, ortlose Mobilmachungen, die dem freigesetzten Individuum nota bene zustehen und offen bleiben (vgl. Schimank 2002: 383ff.). Es sind vielmehr außer-ordentliche, mithin inszenierte, als nicht-identitätsstiftende sowie endzeitlich gebrandmarkte Nicht-
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Orte des Freizeitkonsums, die dem Individuum eine soziale Verortung in Aussicht stellen, d.h., sie inkorporieren es nicht zum Zwecke der Steuerung und Anpassung, sondern – diese Reifikation einmal unterstellt – zur Identitätsbildung und Sozialität. Dies ist und bleibt die (anthropologische) Qualität eines wie auch immer bezeichneten Ortes (vgl. Wöhler 2007).
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„Themed Flagship Brand Stores in the New Millennium“ Theorie, Praxis, Ausblicke1 Robert V. Kozinets/John F. Sherry, Jr. Benet DeBerry-Spence/Adam Duhachek Krittinee Nuttavuthisit/Diana Storm
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Einleitung
Einzelhandelsmärkte sind diversifizierter und fragmentierter denn je; sie konfrontieren die Konsumenten mit einem Übermaß an Informationen und Alternativen. Um die Konsumenten anzuziehen, haben die Handelskonzerne begonnen, ihre Häuser und Einkaufstätten atmosphärisch aufzuladen, um den Konsumenten dadurch ein deutlich einprägsameres und attraktiveres Einkaufserlebnis bieten zu können.2 Entertainment-Berater Michael J. Wolf (1999) meint hierzu, daß Shopping aufgrund der Tatsache, daß das Entertainmentmotiv bis in die letzten Nischen der Wirtschaft vorgedrungen sei, inzwischen zu etwas geworden ist, was er „Shoppertainment“ nennt. Dieser offensichtlich futuristische Trend ist tatsächlich die Wiederkehr eines althergebrachten Imperativs. So erzählen uns Anthropologen, daß die Ursprünge des kommerziellen Marktplatzes bei den festlich arrangierten Marktplätzen früherer Zeiten liegen, bei Plätzen, die sich traditionellerweise an den Rändern der Städte befanden, wo Vorführungen, exotische Personen, Mysterien und Gaukler zugegen waren (vgl. Lears 1994; Sherry 1995). Um die Aktualisierung dieser Tradition zu verstehen, bei der die Geschäfte Geschichten erzählen, mußten die Einzelhandelsmanager der ästhetischen Seite ihrer Verkaufsläden sowie den Verkaufsprozessen besondere Aufmerksamkeit schenken, mittels derer es den Konsumenten gelingt, die physische Erfahrung solcher Plätze mit Bedeutung aufzuladen. Das Phänomen thematisch sehr aufwendig gestalteter Markengeschäfte („themed flagship brand stores“) könnte auf diesem Gebiet ein führender Trend 1
Dies ist die Übersetzung eines Artikels aus dem Jahre 2002, erschienen im Journal of Retailing, mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Journal-Herausgeber. Vgl. Gottdiener 1997; Kotler 1974; Martineau 1958; Pine/Gilmore 1999; Wolf 1999.
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werden. Die zentrale Absicht der meisten Designer von Markenläden ist es, das Konzept „Marke“ bis zum Äußersten zu treiben. Wir können hierbei verschiedene Geschäftstypen unterscheiden. So sind Flaggschiffmarkengeschäfte durch drei Besonderheiten ausgezeichnet. Erstens führen sie nur eine bestimmte Sorte (gewöhnlich etablierter) Markenprodukte im Sortiment. Zweitens gehören sie den Markenherstellern. Drittens werden sie – zumindest teilweise – mit der Absicht geführt, das Image einer Marke auszubauen oder zu verbessern, während Produktverkauf und Gewinnerzielung demgegenüber zweitrangig sind. Solche exponierten Markengeschäfte können exklusive Verkaufsstätten von Markenherstellern sein wie Old Navy, Banana Republic, Body Shop oder nicht-exklusive wie im Falle von Tommy Hilfinger und Ralph Lauren. Zusätzlich gibt es noch Markengeschäfte, die nicht-exklusiv sind und dem Aufbau einer bestimmten Marke dienen sollen, wie bei Nike Town, dem Everything Coca Cola Store, dem Lego Imagination Center und der Sony Gallery of Consumer Electronics. Ein ähnlicher Ladentyp sind thematisch gestaltete Unterhaltungsmarkengeschäfte. Solche kommerziellen Orte, die eine bestimmte Form der Unterhaltung offerieren, zielen hauptsächlich auf den Verkauf von Marken-Dienstleistungen und weniger auf den Verkauf von Markenprodukten. Sie besitzen zumeist keine eigene Markengeschichte außerhalb der jeweils thematisch gestalteten Verkaufsräume. Allerdings bemühen sich diese Unterhaltungsmarkenläden, genau wie die reinen Markenläden, um die Vermarktung ihrer Produkte und um verkaufsfördernde Maßnahmen. Beispiele für solche thematisch gestalteten Unterhaltungsmarkenläden sind Planet Hollywood, das Hard Rock Café, das Rainforest Café, Steven Spielberg’s Dive!-Restaurants und das Fashion Café. Schließend identifizieren und konzentrieren wir uns auf einen interessanten Hybriden: thematisch gestaltete Flaggschiffmarkenläden. In solchen Läden wird eine etablierte Marke zur einzigen Grundlage für den Verkaufsansatz, der zugleich neue, unterhaltungsbezogene Dienstleistungen anbietet. Diese Läden verbinden Elemente reiner Markengeschäfte mit thematischen Unterhaltungsmarkenläden, weil eine bestehende Marke beworben wird, die an einer Vielzahl anderer Orte gekauft werden kann und darüber hinaus versucht, zentraler Anlaufpunkt für Unterhaltung zu werden, um direkte Einnahmen aus dem Verkauf der Unterhaltungsdienstleistung zu erzielen. So verlangen bestimmte Erlebniswelten oder Anziehungspunkte wie das World of Coca Cola Museum in Las Vegas oder Atlanta eine Eintrittsgebühr für ihr themenparkartiges und interaktives Museum, das Coca Cola zelebriert. Diese Feierlichkeiten gehören zu einem durchdachten Markenaufbau, welcher Nostalgiethemen, amerikanische Geschichte, den Weihnachtsmann und die Globalisierung entsprechend der Markengeschichte integriert. Die ESPN Zone, ein gigantisches Unterhaltungszentrum, das zentral auf Medienund Sportmarken setzt, stellt ein weiteres Beispiel dar.
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Thematisch gestaltete Flaggschiffmarkenläden statten die Marken mit Lebendigkeit und Erfahrbarkeit aus. Sie nutzen die gleiche Dynamik von Synergieeffekten, wie sie längst bei Medien- und Unternehmenszusammenschlüssen angestrebt wird. Sie stellen den Einzelhändlern einen Ort zur Verfügung, der ihren Marken die Möglichkeit verschafft, vom Einfluß anderer medienbezogener Ereignisse zu profitieren, sei es durch Werbung, Sponsorschaft, Marketing oder Publicität (vgl. Aaker/Joachimsthaler 2000). Konsumenten gehen in solche Markenläden nicht nur, um Produkte zu kaufen, sondern um die Marke, das Unternehmen und die Produkte in einer Umgebung zu erleben, die sich weitgehend unter der Kontrolle der Hersteller befindet. Wie Gottdiener (1997), Wolf (1999) und Schmitt (1999) festgestellt haben, gewinnt der erlebnisorientierte, außergewöhnliche, spektakuläre und unterhaltsame Aspekt des Einzelhandels zunehmend an Bedeutung für die Einzelhandelsläden.3 Während die Waren verstärkt mit einem durch Werbung vermittelten phantasieorientierten Lebensstil in Verbindung gebracht werden, verwandeln sich ihre dazugehörigen Marken in massenkulturelle Images und Ikonen. Dadurch ändert sich auch die praktische Funktionalität der Marktplätze in Richtung einer eskapistischen Orientierung, die mit Serviceräumen („ServiceScapes“) in Zusammenhang gebracht werden (vgl. Sherry 1998a). ServiceScapes sind als konstruierte materielle Umgebungen definiert worden, mit dem Zweck der Ermöglichung von Tauschgeschäften (vgl. Bitner 1991). In einer sozialen Umgebung, die mit Unterhaltung und Phantasie aufgeladen ist, verwundert es kaum, daß manche Hersteller sich den thematisch gestalteten Flaggschiffläden als einer verkörperten Form der Einzelhandelswerbung zuwenden. Sie folgen damit einer Spur, wie sie von wegbereitenden „Imaginationstechnikern“ wie Walt Disney gelegt wurde, der vor fast einem halben Jahrhundert erkannte, daß Unterhaltungsräume wie Freizeitparks dazu verwendet werden konnten, nicht nur Popcorn und Zuckerwatte zu verkaufen, sondern auch Spielzeuge, Sammlerstücke und Filme und – unserer Ansicht nach am wichtigsten – das Markenimage eines Unternehmens. Und je mehr Einzelhandel in Räumen stattfindet, die auf Amüsement bezogen sind, desto mehr gleicht unsere Konsumkultur „Hollywood Planet“ (Olson 1999) unter dem Einfluß einer „economy of icons“ (Sternberg 1999). Unter diesen Kultsymbolen besitzen Marken die größte Bedeutung. Die Wahrnehmung der Konsumenten von der sozialen „Wirklichkeit“ ist hochgradig durch die Marken beeinflußt, die sie in ihrer Umgebung vorfinden. Marken sind möglicherweise die vorrangigsten Symbole, die in unserer heutigen Konsumkutur verwendet werden, wie viele Konsumanthropologen seit Jahrzehnten behaup-
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Vgl. auch Agins/Ball 2001; Ginsburg/Morris 1999; Riewoldt 2000.
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tet haben.4 Marken sind ein bedeutender Teil des Vokabulars des Konsumentenverhaltens. Durch Werbung, Product Placement, Merchandising, kunstvoller Präsentation, Mundpropaganda und das Alltagsleben bekannt gemacht, sind Marken auf das Engste mit dem kulturellen Universum der Konsumenten verwoben. Zunehmend werden einzelne Marken in Umgebungen präsentiert, die extra für sie geschaffen werden. Sie haben die herkömmlichen Einzelhandelsgeschäfte verlassen, um in den Flaggschiffmarkengeschäften zu residieren. Die exklusive, ja hingebungsvolle Gestaltung bestimmter Räume für die Marken ist ein bemerkenswertes Phänomen im Einzelhandel geworden. Wir betonen nachdrücklich, daß dieser erfahrbare, räumliche Aspekt für den Einzelhandel weiterhin unglaublich bedeutend sein wird. Im Gegensatz zu vielen Propheten der New Economy, die materielle Vermögenswerte als „schwere Bürde“ (Gerbert et al. 1999) betrachten, sehen wir derartige Verkaufsräume, die auch übers Internet erreichbar sind, als das Einzelhandelsmodell der Zukunft an. Was BusinessWeek als „extreme retailing“ (Ginsburg/Morris 1999) bezeichnet hat, wird immer alltäglicher: Thematisch gestaltete Flaggschiffmarkengeschäfte – nicht dot.coms – werden sich als die erfolgreichsten Experimente herausstellen, um virtuelle und reale Welten miteinander zu verknüpfen. E-Commerce wird die ortsgebundene Anziehungskraft von Geschäften noch verstärken, die ihre Funktion und Wirkung durch eine Theatralisierung ihres Geschäftsbetriebs ohnehin schon zu verstärken suchen. Die Verschränkung von Phantasie und Realität wird immer weiter gehen, sobald Einzelhändler erkennen, daß Branding eine magische Angelegenheit ist, in der Tatsachen und Träume miteinander verschmelzen. Wegen der zentralen Rolle imaginativer Elemente bei der Herstellung von Einzelhandelsumgebungen verwenden und erweitern wir ein Rahmenmodell, das die kulturellen Assoziationen klassifiziert, ordnet und analysiert, die diesen Elementen zugrunde liegen. Dieses Rahmenmodell bezieht sich auf die vierdimensionale Typologie von ServiceScapes, wie Sherry (1998a: 337ff.) sie entworfen hat und die wiederum eine Erweiterung des Konzeptualisierungsvorschlags von Mary Jo Bitner (1991) darstellt. Vier Typen von Einzelhandelsoptionen sind durch die Klassifikation von Marktplätzen vorgegeben, welche wiederum durch zwei Parameter bestimmt werden. Wie in Abb. 1 zu sehen ist, bildet der erste Paramter entlang der Horizontalachse die offensichtliche Form- oder Gestaltbarkeit möglicher Einzelhandelsthemen ab und umfaßt die beiden Pole „natürlich“ (naturbedingt) und „kulturell“ (menschengemacht). Der zweite Parameter zeigt die fühlbare bzw. materielle Qualität von Einzelhandelsthemen, die entlang der Vertikalachse dargestellt wird und die sich von „dinglich“ (fühlbar) bis „entmaterialisiert“ (nicht-stofflich bzw. ideell) erstreckt. Der Schnittpunkt zwischen 4
Vgl. Appadurai 1990; Coombe 1997; Douglas/Isherwood 1979; McCracken 1997; Sahlins 1976; Sherry 1985, 1995.
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diesen beiden Achsen bringt vier Ausprägungen von Einzelhandelsthemen hervor, die in diesem Beitrag konzeptualisieren werden. Ferner werden wir einzelne Leitthemen oder -formate diskutieren, die für die Planung und Entwicklung thematisch gestalteter Flaggschiffmarkenläden verwendet werden können. Abbildung 1
Typologisierung von Servicethemen Ätherisch Mindscape
Cyberscape
Landscape
Marketscape
Natur
Kultur
Physisch Diese Themen sind einander ausschließende Kategorien, die sich auf Elemente beziehen, die innerhalb einer bestimmten thematisch gestalteten Verkaufsumgebung vorkommen können. In Wirklichkeit sind diese Verkaufsumgebungen äußerst komplex. So können sich diese vielfältigen Themenausprägungen realiter überschneiden und in derselben thematisch gestalteten Verkaufsumgebung auftreten. In unserer Untersuchung überschneiden sich alle Themen, die in dieser Typologie aufgeführt werden. Es folgen nun allgemeine Beschreibungen der abgebildeten vier Einzelhandelsthemen. Zunächst geht es um LandscapeThemen, die Assoziationen und Vorstellungswelten verwenden, die sich auf die Natur, die Erde, Tiere und den Körper beziehen. Hierfür wären die Bass ProGeschäfte ein erstes Beispiel, die eine simulierte Outdoor-Umgebung verwenden, welche sogar einen Fischteich enthält. Als nächstes lassen sich Marketscape-Themen anführen, die Assoziationen und Bilder von verschiedenen Kulturen, künstlichen Orten und Bauwerken einsetzen. Das venezianische Hotel „The Venetian“ in Las Vegas in Nevada wäre ein Beispiel hierfür. Danach folgen Cyberscape-Themen, die Assoziationen und Vorstellungsgehalte bezüglich Informations- und Kommunikationstechnologie hervorrufen, oftmals verbunden mit virtuellen Gemeinschaften. Ein geeignetes Beispiel wäre die Plattform eBay, die von einer Technologie Gebrauch macht, die den Nutzern das Gefühl vermittelt, Teil einer einzigartigen Gemeinschaft oder Einzelhandels- bzw. Verkaufskultur zu sein. Die letzte Ausprägung bezieht sich auf Mindscape-Themen, die mit abstrakten Ideen, Konzepten, Selbstbeobachtung und Phantasie verknüpft sind oft einen spirituellen oder ritualistischen Charakter aufweisen. Man denke hier etwa an das Kiva-Wellnesscenter im Stadtzentrum von Chicago, das gesundheitsförderliche Behandlungen anbietet, die auf den Heilzeremonien und
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religiösen Praktiken der Ureinwohner Amerikas basieren. Wir werden dieses Rahmenmodell von ServiceScapes im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch dazu einsetzen und erweitern, um einige Grundtypen thematisch gestalteter Flaggschiffmarkenläden zu kategorisieren. Damit können wir Vorhersagen treffen, in welchen Industriezweigen und Produktkategorien dieses Konzept erfolgreich eingesetzt werden könnte. Wir befassen uns zunächst mit einem auf Sport bezogenen Flaggschiffmarkenladen, weil dort alle vier der genannten Ausprägungen möglicher Einzelhandelsthemen zusammentreffen. Sport steht ursprünglich für ein natürliches, biologisch-basales Streben nach körperlicher Anstrengung und Wettbewerb. Doch in seiner heutigen Form ist Sport hochgradig durch Normen, Regeln und Werte strukturiert. Seine einflußreiche Bildschirmpräsenz ist nicht zu unterschätzen, wenn man bedenkt, daß Sport „the number one content on the internet and TV“ darstellt, mit 100 Millionen Fans, die im Begriff sind, angesichts der zunehmenden Konvergenz von Fernsehen und Web immer häufiger online zu gehen (vgl. Feather 1999: 153f.). Zwölf Millionen Konsumenten aus der ganzen Welt geben jedes Jahr beinahe 600 Millionen US-Dollar für Fantasy-Sportligaspiele aus (vgl. Feather 1999). Realistische Simulationen von Sportthemen beschleunigen zunehmend den Zusammenfluß von Landscape, Marketscape, Cyberscape und Mindscape. Die Untersuchung eines thematisch auf Sport bezogenen Flaggschiffmarkenladens könnte für unsere Konzeptualisierung der vielfachen Aspekte thematisch ausgerichteter Einzelhandelsumgebungen also sehr nützlich sein. Wie würde ein Einzelhändler versuchen, einen Flaggschiffmarkenladen um eine Marke herum aufzubauen, die eine äußerst ungreifbare, diffuse und wettbewerbsorientierte Qualität aufweist: die eines Kabelfernsehen-Netzwerks? Durch die Untersuchung der ESPN Zone in Chicago können wir wichtige Einblicke gewinnen, die sich auf andere thematisch gestaltete Flaggschiffmarkenläden aller Art übertragen lassen. Wir waren mit einer ethnographischen Langzeitfeldstudie dieses besonderen Standortes beschäftigt und sind gegenwärtig dabei, Vergleichsdaten von anderen thematisch gestalteten Einzelhandelsstätten zu sammeln. Der vorliegende Bericht bezieht sich auf das erste Jahr dieser weiterführenden Feldstudie in der ESPN Zone in Chicago, die Interviews mit Managern, Arbeitern, einigen Dutzend Kunden sowie Beobachtungen von und Teilnahme an Veranstaltungen der ESPN Zone einschließt. Die Interviews und Feldbeobachtungen wurden auf Band aufgenommen bzw. protokolliert und photographiert, um später dann transkribiert, kodiert und archiviert zu werden. Die Auswertung fand in Gruppentreffen statt, welche die Daten nach übergeordneten Themen untersuchten. Im nächsten Abschnitt stellen wir die ESPN Zone in Chicago als ein anschaulichendes Beispiel dar. Danach wenden wir uns wieder dem Rahmenmodell der Dienstleistungsumgebung zu, um die Zukunft von Flaggschiffmarkengeschäften in den beginnenden
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nächsten Jahren des 21. Jahrhunderts zu analysieren und zu umreißen. Der Schlußteil dieses Berichts stellt die Implikationen dieser Ergebnisse für die gegenwärtige Richtung des Einzelhandels dar.
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Retail Theater und Flagship Branding in heutigen Marktplätzen
Als Antwort auf die Forderung der Kunden nach immer mehr Unterhaltung und selbst ausgefeilten Einkaufserlebnissen versuchen die Hersteller und Einzelhändler, das „Kaufen von Erlebnissen“ (Pine/Gilmore 1999) zu erleichtern. Durch den Einsatz von üppigem und großzügigem Dekor, vollendetem Design und einer Liebe zum Detail werden die Konsumenten hinter der Ladenfront mit einer Art Bühne konfrontiert. Interaktive Auslagen, Warenpräsentationen und ähnliche Gestaltungskomponenten rufen Gefühle und andere Empfindungen hervor, welche ein einzigartiges und individuelles Erlebnis bewirken. Für den Einzelhändler beweist sich erfolgreiche Markenbildung in Gestalt verlockender, entzückender und verzaubernder Konsumentenerlebnisse. Die Pracht dieser thematisch gestalteten Umgebungen, außen wie innen, wie im Falle des Hard Rock Café oder Rainforest Café, zielen darauf ab, Konsumenten anzuziehen und zum längeren Verweilen zu bewegen. In der Marketing- und Distributionsliteratur wurde die Vorstellung von Einzelhandelserlebnissen als eine Art Theater bereits diskutiert.5 Dennoch gibt es noch genug Raum für weitere theoretische Entwicklungen. Es ist offenkundig, daß in der Welt des Einzelhandels die Erlebnisdimensionen des Verkaufstheaters sehr komplex und differenziert sind und einem stetigen Wandel unterliegen. Der Einzelhandel wird zunehmend zu einer Aufführung (durch die Verkäufer als Darsteller wie bei den Ed Debevic’s-Restaurants in Los Angeles und Chicago) und zur Bühne (wie beim Basketballplatz in Nike Town, der Konsumenten dazu einlädt, sich gegenseitig zu zeigen, was man kann). Diese wirkungsvollen Aufführungen gehen mit besonderen Erlebnissen einher, in denen die Konsumenten die Marken und Produkte in ihre Phantasievorstellungen mit einbeziehen. Indem man sich diese Verspieltheit in einer ganz neuen Art und Weise zunutze macht, erlaubt die Informationstechnologie einen Zutritt zum Phantasieleben der Konsumenten, was mit dem subtilen Gebrauch von sinnträchtigen Symbolen einhergeht. Im folgenden Abschnitt erforschen wir einige jener Symbole, die universale und lokale Bedeutungen kombinieren, sogenannte „mythotypes“ (Olson 1999), wie sie in der aufwendig gestalteten Markenumgebung der ESPN Zone angewandt werden.
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Vgl. Peǹaloza 1999; Pine/Gilmore 1999; Sherry 1998b; Solomon 1983; Wolf 1999.
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2.1 Illustrationen: Mythotypen in der ESPN Zone Von den Märkten der Vereinigten Staaten kennen wir die mythisch aufgeladenen Formate von Berühmtheiten und Marken (vgl. Levy 1999; Randazzo 1993). Nach der Theorie von Olson (1999) können wir diese Vermischung von Berühmtheit und Marke verstehen, wenn wir uns die narrative Rolle des „Mythotyps“ klar machen. Olson (1999: 91ff.) beschreibt einen Mythotyp als ein Symbol, das (1) für ein bestimmtes Publikum lokal bedeutsam ist und (2) einen universellen emotionalen Zustand oder eine Kombination solcher ausdrückt, wie zum Beispiel Ehrfurcht, Erstaunen, Entschlossenheit, Freude und Teilnahme. So weckt etwa Michael Jordan in Chicago sofort eine Reihe von Gefühlen wach, die mit Heldentum, hervorragender athletischer Leistung, einer Horatio AlgeresqueErfolgsgeschichte und dem Stolz auf die Heimatstadt zu tun hat. Im Rahmen des Einzelhandels dienen Mythotypen dazu, bestimmte Einzelhandelsstandorte symbolisch auzuladen. Nach Olson kann die narrative Struktur erfolgreicher Mythotypen durch eine Untersuchung der zehn Merkmale verstanden werden, die ihnen eigen sind, auch wenn sich die einzelne Gestalt eines Mythotyps zeitlich und räumlich verändern kann. Die zehn Merkmale erfolgreicher Mythotypen werden wie folgt aufgelistet und definiert: (1) Offenheit (eine Erzählung, die kein abgeschlossenes Ende aufweist und dadurch zur weiteren Entwicklung und Deutung der Konsumenten einlädt); (2) Wahrheitsgehalt (eine Erzählung, die etwas realistisch und unverfälscht erscheinen läßt); (3) Virtualität (eine Erzählung, die hoch entwickelte Technik und Potential für elektronische Vermittlung einschließt); (4) Negentropie (eine Erzählung, die das Bewußtsein ordnet und anleitet); (5) Zirkularität (eine Erzählung, die die Rückkehr zu einem Anfangspunkt ermöglicht); (6) Elliptizität (eine Erzählung, die einige Einzelheiten wegläßt und dadurch Geheimnisse kreiert); (7) archetypische Dramatis Personae (eine Erzählung, die Charaktere beinhaltet, die universelle Emotionen und Zustände ausdrücken); (8) Inklusion (eine Erzählung, die dem Konsumenten das Gefühl vermittelt, ihn und seine Wertvorstellungen einzuschließen); (9) Omnipräsenz (eine weit verbreitete Erzählung); und (10) Produktionswerte (eine Erzählung, die viel Glanz und Gloria, Bombast und Spektakel beinhaltet). Und sofern eine Erzählung, welche eine Marke umgibt, alle diese zehn Merkmale aufweist (wie im Idealfall einer Megamarke wie Disney und Nike), kann eine solche Erzählung sich transkultureller Anziehungskraft an verschiedenen Orten erfreuen (vgl. Olson 1999, S. 93ff.). Im nächsten Abschnitt überblicken und stellen wir zunächst die Absichten des Managements und die Wahrnehmung der Konsumenten von der ESPN Zone heraus. Anschließend fahren wir mit der Untersuchung der ESPN-Umgebung bezüglich dieser zehn Mythotypmerkmale fort.
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2.2 Einführung in die ESPN Zone von Chicago Die ESPN Zone in Chicago ist ein Flaggschiffmarkenladen für den ESPNSportsender, welcher zum Besitz des Disney Unternehmens gehört. Es handelt sich um einen gut 32.500 Quadratmeter großen Einzelhandelsstandort, der sich unweit des „Magnificent Mile“-Bezirks in der Chicagoer Innenstadt befindet. Die ESPN Zone beinhaltet ein Restaurant, ein Sportlokal und eine beeindruckende, auf dem neuesten Stand der Technik befindliche, dreidimensionale Videospielhalle für Sportspiele. Sie potenziert die Spitzentechnologie in einem außergewöhnlichen Maße und protzt mit seinen 165 Videomonitoren. Außerdem besitzt es 21 in Auftrag gegebene Kunstwerke, die das Thema „Sport und Chicago“ veranschaulichen. Der leitende Direktor der ESPN Zone beschreibt die Zone als „ein 3-D ESPN“, um zu verdeutlichen, daß dieser Einzelhandelsstandort dazu gedacht war, eine gegenständliche Manifestation des Fernsehsenders darzustellen. Er betont zudem die Rolle des „Disney Pixie Dust“,6 eine Anspielung auf die Zauberkünste von Tinkerbell,7 welche sehr erfolgreich mit den nicht erfüllbaren Wunschvorstellungen der Konsumenten spielt. Außerdem bringt er − dies machen seine Werbematerialien wie die Pressemappe sehr deutlich − zum Ausdruck, daß es darum geht, ein außergewöhnliches Erlebnis in dem „Sport-undGastronomie Entertainmentcenter“ zu schaffen. Schließlich ist das Ziel dieses ESPN-Konzepts, sich von den herkömmlichen Themenrestaurants und Sportlokalen abzuheben. Unsere Daten und Untersuchungen lassen erkennen, daß die Absicht der Disney Manager darin bestand, die ESPN Zone den Konsumenten als eine Art Einzelhandelsthemenpark darzubieten, in dem das Erlebnispotential dieses Fernsehkonzerns physisch repräsentiert und intensiviert wird. Als wir Kunden nach ihrer Meinung zur ESPN Zone befragten, entdeckten wir eine viel größere Vielfalt an Eindrücken. Die folgenden Zitate von unseren Kundeninterviews spiegeln diese Vielfalt ein wenig: Informant: „Ich schaue mir ständig ESPN an, ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich hierher komme. Denn es gibt die ganzen Aktivitäten und die Spiele. Es ist so wie ein Unterhaltungsding für Ältere. Ich glaube, daß ist auch der Grund, weshalb jeder wieder zurückkommt. Es ist so eine Art Chuck E. Cheese Laden, wissen Sie?“ (Mann, Anfang Dreißig, wiederkehrender Kunde) Interviewer: „Was haben Sie für einen Eindruck von diesem Ort?“ Informant: „Mit anderen Themenrestaurants verglichen, ist das hier ziemlich gut. Mit dem Hard Rock oder Planet Hollywood verglichen, ist das hier ziemlich gut. Ich find’s gut. Ich meine, dort ist jede Menge Zeug zum Angucken.“ Interviewer: „An was erinnern Sie sich?“ 6 7
Dies ist eine Referenz auf das Marketingkonzept von Disney (d.Ü.). „Tinkerbell“ ist die Fee aus „Peter Pan“, im Deutschen auch als „Glöckchen“ bekannt (d.Ü.).
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Robert V. Kozinets/John F. Sherry, Jr. Informant: „Ich weiß nicht. Eine Spielhalle? ... Im Grunde ist es einfach ein guter Ort zum Essen. Für Leute, die von außerhalb der Stadt sind.“ (Frau, Ende Zwanzig, das erste Mal in der ESPN Zone) Informant: „Es ist wie ein Kino, aber es geht um Sport. Es ist eigentlich, irgendwie, interessant. Es hat alle Deine Highlights. Es hat so ungefähr dreißig Fernseher in einem Raum. Und es ist erstaunlich. [Es ist wie] ein Kino. Oder wie dreißig Fernseher. Zwei Sachen. Weil’s eine große Leinwand hat und all die ganzen Bildschirme.“ Interviewer: „Und was gibt Ihnen das?“ Informant: „Es bringt mich irgendwie dazu, hier öfters herzukommen. Es macht Spaß, hier zu sein. Weil du Dir jeden einzelnen Sport ansehen kannst. Du kannst Dir einen Moment lang Tennis anschauen und im nächsten Moment kannst Du Dir ein Golfturnier oder Basketball oder irgend so was ansehen. Und die haben sogar so was wie Separees, wenn Du Deine Ruhe haben willst und wenn Du mit Deinen Freunden zusammen sein möchtest. Es fasziniert mich wirklich.“ Interviewer: „Was genau fasziniert Sie daran?“ Informant: „Die ganze Sache mit den Stühlen. Alles daran ist so neu und Hightech. Und es ist alles so viel besser, als man es bei sich zuhause kriegen könnte. Man kann so etwas Hochqualitatives nicht zuhause haben, außer vielleicht bei den Cokes. Ansonsten ist alles sehr hochwertig.“ (Mann, Teenager, das erste Mal in der ESPN Zone)
Im Gegensatz zu den Managern der ESPN Zone, die den Einzelhandelsraum in seiner Ganzheit als einen einzigartigen Anziehungspunkt vorgesehen hatten, ähnlich einem Themenpark, waren die Eindrücke der Konsumenten von den raumspezifischen Aspekten (wie dem Restaurant, der Videospielhalle und den Fernsehbildschirmen) mit anderen Umgebungen verbunden, denen sie in ihrem sonstigen Leben begegnet waren. In den oben genannten Zitaten stellt sich heraus, daß der Besuch der ESPN Zone nicht viel anders als andere Themenrestaurants erlebt wurde, etwa beim Kinderthemenrestaurant Chuck E. Cheese oder im Hard Rock Café und Planet Hollywood, oder auch von Video- und Flipperspielhallen, Kinos und anderen höherwertigen und hightechartigen Ausstattungen, die man zuhause zur Verfügung hat. Viele Befragte verglichen diesen Einzelhandelsraum auch mit einem Sportlokal oder einem Sportmuseum. Während manche der Eigenschaften eines Freizeitparkes auch Teil von Konzepten wie Chuck E. Cheese und Spielhalle waren, erwähnte keiner der Befragten eine direkte Verbindung zu Disney. So führte ein nicht aus den USA stammender Tourist mittleren Alters seinen Besuch der ESPN Zone darauf zurück, daß hier kein Eintrittsgeld verlangt werde, denn: „Ich bin zu Disney Quest gefahren [unweit entfernt von der ESPN Zone]. Aber dort kostet es 32 US Dollar, um hineinzukommen. Also bin ich stattdessen hierher gegangen.“ Gleichwohl beschreiben Konsumenten die ESPN Zone als eine befriedigende „Phantasiesteigerung“. Ein Konsument gab zum Beispiel an, daß dieser Ort nicht einfach nur ein Sportlokal sei, mit einem riesigen Bildschirm, sondern die idealisierte Version dessen, wie ein vollkommenes Fernseherlebnis sein könnte. Wenn die
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ESPN-Marke mit einem solch perfekten Fernseherlebnis assoziiert wird, könnte das die Anziehungskraft der Marke erhöhen. Außerdem äußern viele Konsumenten (besonders männliche), daß die ESPN Zone eine Erscheinungsform des Sportsenders darstelle, welche dessen Denkweise und Mentalität ausdrücke. Dieses Ergebnis läßt darauf schließen, daß es den Designern erfolgreich gelungen ist, diesen Ort mit der Marke zu verbinden. Die zahlreichen Vergleiche mit anderen Themenrestaurants wie Planet Hollywood suggerieren jedoch, daß es schwierig sein könnte, sich von den durch die Konsumenten vorherbestimmten Kategorien zu lösen. Die Interpretation unserer Forschungsarbeit bestätigt diese Ergebnisse, indem wir feststellten, wie die lockere, ursprünglich recht lokale und populistische Berichterstattung von ESPN durch die interaktiven und zahllosen Displays in der ESPN Zone realisiert wird (wie zum Beispiel die Möglichkeit, beim Essen in einer Art Sportberichterstattungsstudio zu sitzen, oder ein Bier zu trinken, während man sich eine Übertragung durch eine gläserne Radiozelle ansieht). Unsere Analysen gehen über die Wahrnehmungen der Konsumenten (und vielleicht der Produzenten) von den mythischen Eigenschaften des ESPN-Zonenraumes hinaus und tauchen in die spirituellen Grundlagen dieses Ortes in einer Art und Weise ein, welche die Konsumenten nicht erfassen können. Um ein genaueres Verständnis dieser mythischen Eigenschaften zu entwickeln, werden wir im Folgenden nun die Merkmale des Mythotyps nach Olson (1999) anwenden. Die Auffassungen der Konsumenten und unsere eigenen Deutungen der ESPN Zone in Chicago lassen wenig Zweifel darüber, daß in einem thematisch gestalteten Einzelhandelsladen wie diesem die Konsumenten ihre gegenständliche Umgebung nach der Erzählung, die sie ihnen mitteilt, „lesen“. Die Analyse der architektonischen Strukturen als eine Art narrativer Struktur besitzt eine lange Geschichte,8 und diese Studie ermöglicht uns ein Verständnis davon, wie die ESPN Zone in Chicago eine narrative Struktur erfolgreich präsentieren kann, welche lokale Bedeutung mit universeller Anziehungskraft in einer thematisch gestalteten Einzelhandelsumgebung zusammenführt. Die folgenden zehn Abschnitte klassifizieren und erklären die Merkmale der narrativen Struktur der ESPN Zone – dabei handelt es sich um eine Erzählung, die dieser Ort seinen Kunden vermittelt – und setzt sie in Beziehung zu den Merkmalen erfolgreicher Mythotypen.
2.2.1 Offenheit Offenheit ist eine narrative Struktur, die in der ESPN Zone in Chicago dadurch verwirklicht wird, daß die Konsumenten zu weiteren Entwicklungen und Interpretationen angeregt werden, um diese zu vervollständigen. Die ESPN Zone ist 8
Vgl. Crawford 1992; Fjellmann 1992; Sherry 1998b.
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um eine spielerische Idealvorstellung herum aufgebaut, die eine große Spannbreite von publikumswirksamen und teilnahmsvollen Aktivitäten fördert. Diese Offenheit wird durch Einzelhandelserlebnisse bestärkt, die einerseits erreichbar und andererseits hoch komplex sind und aus thematisch gestalteten Spielen, Bildmaterial, Technologie und Anzeigen bestehen. Während herkömmliche Flaggschiffgeschäfte auf Anzeigen, Verkaufsstrategien und eine große Produktauswahl fokussieren, besteht die ESPN Zone aus einem architektonisch eingearbeiteten Einzelhandelstheater, das vielfältige „Erlebnis-Zonen“ zur Verfügung stellt. Zum Beispiel enthält eine einzelne „Zone“, die wie eine Art Sportlokal gestaltet ist und der „Screening Room“9 genannt wird, ein Restaurant mit vielen kleinen Monitoren (ein Bereich, der zumeist von Familien genutzt wird), eine Bar (ein Bereich, der zumeist von Singles und Männergruppen nachgefragt wird), zwei separate „Skyboxen“ (VIP Bereiche, die durch Glaswände abgetrennt sind und oft an Korporationen vermietet werden, der Preis wird per Stunde berechnet) und eine „Thron-Zone“. Letztere enthält riesige, komfortable Lehnsessel aus Leder mit Fernbedienungsknöpfen, um den Ton der vierzehn vorn platzierten enorm großen Videomonitore individuell regeln zu können, und wird oft von Hardcore-Sportfans eingenommen. Aufgrund der scheinbar spontanen Beschaffenheit der Interaktion zwischen Konsument und Marke in diesen Zonen erscheinen Bedeutung und Erlebnis wahrscheinlich weniger gekünstelt, symbolischer und persönlich relevanter für die Konsumenten.
2.2.2 Wahrheitsgehalt Der Wahrheitsgehalt ist eine narrative Eigenschaft der ESPN Zone in Chicago, die sich in einer gegenständlichen Struktur zeigt, wenn diese dem Kunden ein Gefühl von Natürlichkeit und Wahrheit vermittelt. In der ESPN Zone bilden Hinweise auf die richtige Darstellung von und eine ausgeprägte Leidenschaft für Sportgeschichte den Großteil der „Wahrheit“, die sich in den ESPN-Zonen Memorabilien, Kunst und Sprache wiederfindet. Die Simulationen von realen Rundfunkszenerien stehen auch im Zusammenhang mit einer Rekonstruktion der Wahrheit. Das „Studio Grill“-Restaurant soll zum Beispiel der wirklichen Soundstage gleichen, die auch in echten ESPN-Sendungen, wie bei „Sport Desk“, verwendet wird. Das Sendestudio, das sich im Schauraum befindet, zeigt mitunter, was der General Manager „Talente“ oder berühmte Gäste nennt, und erweckt den Eindruck, als ob ein echtes Rundfunkgeschehen quasi „Live“ ablaufe. Schließlich verherrlicht die Symbolik von ESPN die „echten“, ursprünglichen 9
Soll einem Sendestudio ähneln (d.Ü.).
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und natürlichen Elemente im Sport und der Geselligkeit, indem sie aufregende Bilder und vielfältige Darstellungen von muskulösen menschlichen Körpern in einer nachgestellten tödlichen Kampfsituation zeigt.
2.2.3 Virtualität Erzählungen von Virtualität sind in der ESPN Zone in vielen Produktpräsentationen und elektronischen sowie computerisierten Dienstleistungen vorhanden. Die elektronische Vermittlung und der hohe technologische Entwicklungsstand sollen die Kunden beeindrucken und darüber hinaus einige ihrer technophilen Bedürfnisse erfüllen. Im Zeitalter des Internets vermischt das Einzelhandelstheater zunehmend Technologien mit Phantasien. In der ESPN Zone ist Technologie als Phantasieerfüller immer präsent, wie zum Beispiel die riesigen, qualitativ hochwertigen und stets präsenten Fernsehbildschirme, oder die hypermoderne Deluxe-Ausstattung der Lehnsessel mit integrierter Fernbedienung, oder die Satellitenschüsseln, welche sehr auffällig an der Außenseite des Gebäudes angebracht sind. In der groß angelegten Videospielhalle „Sport Arena“ nimmt die Virtualität ein bemerkenswertes Ausmaß an, ausgestattet mit virtuellen Spielen (wie Auto-, Boot- und Motorradrennspiele), die als Einzel- oder gemeinsame Wettkampfspiele gespielt werden können. Darüber hinaus gibt es real-virtuelle Hybriden, wie zum Beispiel Spiele, bei denen ein echter Fußball gegen einen virtuellen Torwart geschossen werden muß (begleitet von virtuellen Beifallsrufen der Zuschauermenge der Heimmannschaft), oder Fallschirmspringen, wo man eine virtuelle Schutzbrille trägt. Der Spieler erfährt Adrenalinstöße, indem er mit hoher Geschwindigkeit in ein anderes Auto rast, ein Pferd mit der Peitsche antreibt und durch den Schnee saust: Alle diese virtuellen Welten weisen deutliche Vorteile gegenüber ihren realen Entsprechungen auf. Diese grenzüberschreitenden Erlebnisse, welche von einer auf Technologie und Unterhaltung fokussierten Gesellschaft offeriert werden, versorgen den Konsumenten mit Neuheiten und Prestige.
2.2.4 Negentropie Negentropie meint die gefühlsmäßige Durchsetzungskraft einer narrativen Ordnung, die ein Gebäude wie die ESPN Zone strukturieren kann und somit auf das Bewußtsein derjenigen einwirkt, die sich darin befinden. Durch die Verwendung von allgemein bekannten kulturellen Kategorien (Themen wie Befreiung oder Nostalgie) kann der Weg der Konsumenten durch die symbolischen Räume gelenkt werden, genauso wie ein Intendant ein Publikum leitet. In der ESPN Zone
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wird das Bewußtsein durch eine Orchestrierung von vereinheitlichten Bildern gelenkt – Sehenswürdigkeiten, Geräusche, Bildschirme und Kunst –; sie unterstreichen die Zentralität und Bedeutung des Sports im kulturellen und individuellen Leben. Die Werte und Wertvorstellungen des Sports werden innerhalb der Zone ständig bekräftigt, und gleichzeitig gibt es verschiedene Möglichkeiten, die erweckten Begierden materiell zu erfüllen. So können sportbezogene Dienstleistungen in Anspruch genommen und Sportartikel gekauft werden.
2.2.5 Zirkularität Die architektonische Gestaltung der ESPN Zone versinnbildlicht geradezu das narrative Motto der Zirkularität, eine immerwährende Rückkehr zu einem Anfangspunkt, der wichtige mystische und natürliche Konnotationen besitzt. Das Gebäude ist kreisförmig konstruiert, so daß die sanft gebogenen Linien an der Außenfläche immer wieder zu ihrem Anfangspunkt zurückkommen. Im Zentrum des Kreises befindet sich die „production booth“,10 wo der Programmierer arbeitet, umgeben von Monitoren, und darüber entscheidet, welche Sportereignisse (und gelegentlich andere Programme wie Seifenopern) auf den Dutzenden von Bildschirmen gezeigt werden. Der Kreis findet sich überall in der ESPN Zone wieder, in seiner runden Kuppel, im Design eines Firmaments, seiner stratosphärischen Kathedralendecke, die wie ein natürliches und spirituelles Reich anmutet, seinem kreisförmigen Treppenhaus und der kreisförmigen Rotunde, in welche das Logo eingelassen ist. Es soll eine symbolische Bedeutung von Ewigkeit, Vollendung und Unendlichkeit vermitteln – ein ähnliches Streben liegt auch dem Sport und allen leistungsorientierten Zielsetzungen zu Grunde. Die Architektur ist von universellen Emotionen durchdrungen und intelligent mit Marketingstrategien verbunden, somit stellt die ESPN Zone ein typisches Beispiel für eine konstruierte Umgebung dar, welche das Konzept der Zirkularität benutzt, um ihre massenmediale Marke lebendig und greifbar zu machen.11
2.2.6 Elliptizität Während die Zirkularität dem Narrativ des Gebäudes ein allgemeines Orientierungsschema zur Verfügung stellt, läßt die Elliptizität einzelne Elemente aus. Sie
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Ein kleines Produktionsstudio, eine Produktionszelle (d.Ü.). Für weitere Beispiele, die sich mit dem Zusammenhang von Architektur und Marketing auseinandersetzen vgl. Baker et al. 1992; Brooks 2000; Holbrook 1980; Johnson 1987; Sherry 1998a, 1998b. 11
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verzichtet auf Details, um den Konsumenten ein Erlebnis von „Aporie“12 oder Lücken zu ermöglichen – der Konsument ist mit Bedeutungslücken konfrontiert, die einen gewissen Aufforderungscharakter zur Lückenschließung besitzen. Mahler (2000) prophezeit, daß die Konsumenten in nächster Zukunft vom Vergnügen der Möglichkeit überwältigt sein werden, Einkaufserlebnisse erlangen und diese gestalten zu können. Diese Gestaltungsfähigkeit verlangt von den Herstellern, daß sie ihre Produkte irgendwie unvollständig lassen. Zumal Forscher damit beginnen, die reziproke Struktur aller Bedeutungskreation zu erkennen. Produktiver Konsum bedeutet, daß Konsumenten Anteil am Aufbau eines Markenimages haben (dieser Vorgang ist vielleicht besser durch die Beschreibungen des Erweiterns, Anwendens oder Improvisierens veranschaulicht). In der ESPN Zone interviewten wir Kunden, die der Meinung waren, daß die Einzelhandelsumgebung Nostalgiegefühle in ihnen hervorrief. Sie fühlten sich in ihre Kindheit zurück versetzt und verglichen die ESPN Zone mit einem Chuck E. Cheese-Restaurant für Erwachsene. Andere Kunden assoziierten es mit einem Kino oder einer speziellen Ausstellung für lokale, durch den Sport inspirierte Kunst. Die Komplexität dieser konstruierten Umgebung befördert diese vielfältige Art und Weise der Verbundenheit und Interpretation.
2.2.7 Dramatis Personae Dramatis personae sind in den gegenständlichen Strukturen deutlich zu erkennen, da die Menschen die physische Umgebung mit ihrer überlebensgroßen, mythischen Präsenz beleben. Eine von diesen besitzt die Rolle der generalisierten Anderen, die durch das Publikum konstituiert wird. Der Konsum dieses Sporterlebnisses ist unvollständig, wenn kein Publikum vorhanden ist, das zuschaut, wenn man mit dem Fallschirm in die virtuelle Realität springt. Genauso wie man für ein Videorennspiel einen Anderen benötigt, um wetteifern zu können. Es bedarf einer Menge gleichgesinnter Fans, mit denen man auf der großen Leinwand zu einem Team zusammenwächst oder sich gegen ein anderes Team formiert. Dennoch stellt die Gemeinschaft der Sportkonsumenten nur einen Teil der Besetzung für die Aufführung in der ESPN Zone dar, denn die Schlüsselfiguren der Dramatis Personae sind die Archetypen des Sports. In der ESPN Zone von Chicago verherrlichen und erhöhen zahllose Anzeigen die Stars des Lokalsports. Es gibt riesige Anzeigen, die Michael Jordan und seiner Meisterschaft gewidmet sind. Skybox-Räume konzentrieren sich auf Bilder von Sammy Sosa und Ernie Banks, fast so als wären sie religiöse Andachtsorte. Das „Bristol 12
„Aporia“ könnte auch als Ratlosigkeit, Verlegenheit, Unmöglichkeit gedeutet werden (d.Ü.).
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Room“-Restaurant enthält ein großes Wandgemälde, das die Chicagoer Sportberühmtheiten chronologisch von der Jahrhundertwende bis zu den späten 1990er Jahren darstellt. Man könnte es auch als modernes Pantheon mit Freskomalereien beschreiben, mit seiner Elevation von Sportberühmtheiten, die historischen Stolz mit urbaner Bedeutsamkeit und Loyalität verbinden. Zudem sind in der ESPN Zone „Bühnendarsteller“ angestellt, deren Verhalten von Disney vorgeschrieben und ausgebildet wird. Diese Darsteller tragen eine Vielzahl verschiedenster Kostüme, von der weißen, recht formellen Arbeitskleidung des Restaurantpersonals bis zu den blauen Traineruniformen des Spielhallenpersonals. Jeder spielt eine andere Rolle und versucht, verschiedene Arten emotionaler Reaktionen hervorzurufen. In diesem Komplex veranschaulicht und verwirklicht jeder der Darsteller universelle emotionale Zustände, die in Verbindung mit Gemeinschaft, Service und Erfüllung stehen. Aus praktischen Gesichtspunkten erfordert jeder Einzelne sorgfältiges Training und Supervision.
2.2.8 Inklusion Darüber hinaus sollten sich die Kunden in die jeweils erzählte Geschichte eingebunden fühlen, so daß ihnen klar wird, daß es um eine thematisch gestaltete Umgebung geht. Dieses Gefühl der Inklusion und das damit einhergehende Einfühlungsvermögen der Konsumenten ist ausschlaggebend, um den Konsumenten Emotionen entlocken zu können. In einem gegenwärtigen Kontext bedeutet dies zumeist, legitimierende Verweise glaubhaft zu machen, welche die lokale Gemeinschaft oder breiter angelegte Fragestellungen zu Aspekten wie soziale Gerechtigkeit oder Gleichberechtigung unterstützen (vgl. Arnold et al. 2001). Inkludiertheit manifestiert sich in der ESPN Zone dadurch, daß man den Eindruck gewinnt, ein Teil dessen zu sein, was sich hinter dem Kulissenzauber des „TVland“ von ESPN abspielt. Wenn man bedenkt, daß Amerikaner fast 60 Prozent ihrer durchschnittlichen Wachzeit mit Massenmedien der einen oder anderen Sorte verbringen,13 erstaunt es nicht, daß viele amerikanische Konsumenten neugierig sind auf die Produktionsprozesse moderner Massenmedien. Diese Neugier mit einem Blick hinter die Kulissen zu befriedigen, ist eine Methode, die in Themenparks wie Disneyland perfektioniert wurde. Darüber hinaus zeigt sich Inkludiertheit darin, daß den Kunden in der ESPN Zone eine Bühne zur Verfügung gestellt wird, auf der sie auftreten können. So steht ein Kunde in der virtuellen Simulation eines Fallschirmsprungs auf einer erhöhten Bühne und trägt eine Brille, durch die er die simulierte virtuelle Welt dreidimensional erle13
Vgl. Wolf 1999.
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ben kann, während sich eine Zuschauermenge formiert und seine virtuellen Erlebnisse auf einem zentralen Projektionsbildschirm mitverfolgen kann. Inkludiertheit kann sich auch im egalitären Ethos äußern, den die ESPN-Zonenpolitik impliziert und der zu gemeinsamen Spielen zwischen „Besetzungsmitgliedern“ (Mitarbeitern) − so die Managersprache von Disney/ESPN − und „Gästen“ (Kunden) ermuntert. Dabei mag diese Form der Inkludiertheit auch ethnische Implikationen beinhalten, die auf mehr egalitäre Möglichkeiten hinweisen (ähnlich den ethnischen Gleichstellungswirkungen, die oft institutionalisierten Sportarten zugeschrieben werden), weil viele der Bediensteten im Bereich der „Sport Arena“ der Chicagoer ESPN Zone einen afro-amerikanischen Hintergrund haben.
2.2.9 Omnipräsenz Omnipräsenz kann in einer thematisch gestalteten Einzelhandelsumgebung durch Elemente hervorgerufen werden, die das Räumliche mit Bildern oder Ideen verbinden, die in einer bestimmten Zeit sozial allgegenwärtig sind. Sport, Berühmtheiten und Bildschirme sind im modernen Amerika allgegenwärtig und ebenso in der ESPN Zone. Diese andauernde Präsenz verwandelt die Konsumenten in Sportbegeisterte, indem fast jede Konsumhaltung, angefangen bei den passiven „couch potatos“ über solche, die mit Vergnügen simulierte Korbbälle werfen, bis hin zu schöngeistigen Auseinandersetzungen, mit Träumen vom Sportstarruhm versorgt wird. Die Verbindung mit einem omnipräsenten Phänomen scheint für den Erfolg eines thematisch gestalteten Flaggschiffmarkenladens entscheidend zu sein. Diese Verbindung mit etwas Allgegenwärtigem impliziert dabei immer auch eine zunehmende Abstraktion, wenngleich darüber die taktischen Aspekte des Kerngeschäfts nicht aus dem Blick geraten dürfen. In der ESPN Zone vermischen sich sehr allgemeine Vorstellungen von Ursprünglichkeit, Wettkampf, Fitness, Körperlichkeit und Erfolg mit einer Vielfalt von Geschäftspraktiken, wie dem Angebot hochpreisiger Videospiel-Dienste, Essen, Trinken und Sportandenken.
2.2.10 Produktionswerte Um die Ziele eines solch aufwendigen Spektakels erreichen zu können, ist es von grundlegender Bedeutung, entsprechende Gefühle bei den Konsumenten während ihrer Erlebnisse hervorzurufen. Wenn man weiß, daß ein Puppenschauspiel um so besser ist, je weniger man die Fäden sieht, an denen die Marionetten geführt werden, zwingt diese die Produzenten dazu, den Aufführungsaufwand möglichst reibungslos und im Verborgenen zu halten. Dasselbe gilt auch für die
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kundenbezogenen und erlebnisintensiven Flaggschiffmarkenläden. Dabei hat der Trend zu thematischer Gestaltung in einem größeren Umfang inzwischen viele Einzelhandelsunternehmungen durchdrungen und beeinflußt. Besonders in der ESPN Zone läßt sich erkennen, wie sorgfältig und präzise dieser Trend umgesetzt wird, und auch in Las Vegas ist dies offensichtlich, wo zahlreiche Spielkasinos fast ausschließlich auf dem Konzept thematisch gestalteter Einzelhandelsumgebungen aufgebaut wurden. Einige Experten vertreten die Ansicht, daß diese thematischen Gestaltungsbemühungen beträchtliche soziale Kosten verursachen. Gottdiener (1997) ist der Auffassung, daß das Massenmarketing bestimmter Phantasien, die in thematisch gestalteten Umgebungen eingesetzt werden, einen Typus von innerer Konformität erzeugt, weil die Bandbreite möglicher Phantasievorstellungen begrenzt werden. Andere vertreten die Meinung, daß thematisch gestaltete Geschäfte Teil einer Mediengesellschaft sind, welche die Grenze zwischen Phantasie und Realität fortwährend verwischt und dementsprechend schädliche Wirkungen zur Folge haben könnte, wie das Nachlassen unserer Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und vernünftige Entscheidungen zu treffen (vgl. Postman 1985). Einige sind in ihren theoretischen Überlegungen sogar so weit gegangen, daß thematisch gestaltete Umgebungen die Wirklichkeit allmählich mit einer marktförmigen, traumhaften, falschen Realität ersetzen, was durch den Begriff der „Hyperrealität“ (Baudrillard) zum Ausdruck gebracht wird. Wir geben zu, daß es derartige soziale Probleme bezüglich thematisch gestalteter Flaggschiffmarkenläden geben mag und die deshalb geprüft werden müssen. Es liegt jedoch im Ermessen der Konsumenten, inwieweit sie diese geschaffenen Phantasiewelten der Einzelhandelsrealitäten befürworten. Aufgrund der nachlassenden Erfolge groß angelegter Themenkonzepte wie Planet Hollywood und dem Rainforest Café werden Einzelhändler jedoch mit viel dringlicheren Überlegungen ökonomischer Natur konfrontiert als mit sozialen Bedenken. Thematisch gestaltete Einzelhandelsunternehmen, einschließlich thematisch gestalteter Flaggschiffmarkengeschäfte, sind im Aufbau gewöhnlich sehr kostspielig und schwierig zu unterhalten. So mußte Viacom, nach einem kurzen und sehr teuren Probelauf, seinen ersten und einzigen Flaggschiffmarkenladen, den „Viacom Entertainment Store“, Ende 1999 im Stadtteil „Magnificent Mile“ von Chicago (nahe ESPN Zone, Nike Town und Disney Flaggschiffladen) wieder schließen. Im Jahr 2000 mußten Coca Cola und Warner Brothers ihre Flaggschiffläden auf der Fifth Avenue in New York dicht machen. Und im gleichen Jahr schloß auch das The World of Coca Cola Museum in Las Vegas. Diese Ereignisse weisen darauf hin, daß thematisch gestaltete Flaggschiffmarkengeschäfte selbst für große Korporationen mit sehr starken Markenimages riskante Projekte sind. Dieser sich abzeichnende Wandel des thematisch gestalteten Einzel-
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handels wird im folgenden Abschnitt untersucht. Außerdem wird das Konzept der Dienstleistungsumgebungen im Einzelhandel erweitert, um die Zukunft von Flaggschiffmarkengeschäften zu erkunden.
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Illuminationen: Futuristische Themen
Hollywoods Mytho-Logik der Mythotypen, wie sie durch die ESPN Zone in Chicago veranschaulicht wird, scheint sich in allen Einzelhandelsumgebungen auszubreiten und dort den Zauber der Unterhaltung heraufzubeschwören. Wenn dem so ist: Welche Arten neuer magischer Verkaufsformen könnten wir für die Zukunft erwarten? Um die erforderliche theoretische Grundlage für eine ausgewogene Antwort auf diese Frage zu legen, kehren wir zum vierdimensionalen Klassifikationsmodell der „ServiceScapes“ von Sherry (1998a) zurück. Wir beginnen mit einem Modell von Flaggschiffmarkengeschäften, das die verschiedenen Typen thematisch gestalteter Markenläden darstellt, wie man sie momentan antreffen kann. Dieses Modell besteht aus drei Hauptdimensionen: erstens Einzelhandelsorientierung, zweitens kulturelle Orientierung und drittens Markenorientierung. Die Einzelhandelsorientierung spiegelt das Ausmaß wider, in dem die Umgebung eines Flaggschiffmarkenladens zwischen dem Pol „kurzfristiger Abverkauf“ (wie bei herkömmlichen Einzelhandelsgeschäften) und „längerfristiger Markenaufbau“ (wie es Nike Town oder das Coca Cola Museum gegenwärtig tun) fördert und bekräftigt. Die kulturelle Orientierung bezieht sich auf den Grad des prachtvollen Raffinements, mit dem das Flaggschiffmarkengeschäft ausgestattet ist, das von einem profanen bis zu einem Ehrfurcht gebietenden Niveau reichen kann. Und die Markenorientierung richtet sich auf die Multidimensionalität einer Markenpersönlichkeit und die mit einer Marke verbundenen Vorstellungsgehalte, die in dem Flaggschiffmarkenladen wiedergegeben werden. So stellen wir zum Beispiel fest, daß die Kenneth Cole-Flaggschiffmarkenläden eine ziemlich eindimensionale Verbindung zwischen „städtisch“, „ironisch“, „schick“ und „hip“ vorweisen, während die ältere Version von Nike Town eine hochkomplexe Verbindung zwischen der Marke Nike und „Spiel“, „Kunst“, „Spiritualität“, „Natur“ und „Technologie“ aufwies (vgl. Sherry 1998b). Abbildung 2 stellt eine Möglichkeit dar, die verschiedenen Dimensionen und Formen von Flaggschiffmarkenläden zu verstehen; zudem lassen sich daraus maßgebliche Hinweise über deren Entwicklung ableiten. Die pyramidenförmige Gestalt dieser Abbildung soll anzeigen, daß die außergewöhnliche kulturelle Orientierung, die Erlebniskauforientierung und die multidimensionale Markenorientierung an der Pyramidenspitze die eindeutig selteneren und schwieriger zu erreichenden Aspekte sind, die sich bei einem Flaggschiffmarkenladen erleben
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lassen. Ein landschaftlich gestalteter Flaggschiffmarkenladen würde beispielsweise eine sehr gewöhnliche oder profan-kulturelle Orientierung hinsichtlich seines Themas haben, die Geschäftsausrichtung würde hauptsächlich auf den Verkauf von Gütern und weniger auf den Verkauf von Erlebnissen abzielen, und es gäbe nur eine eindimensionale Darstellung von bzw. Orientierung auf seine Marken. In aufsteigender Reihenfolge besitzen Umgebungen von Flaggschiffmarkengeschäften, die in Richtung Marketscape, Cyberspace und schließlich Mindscape gestaltet sind, die außergewöhnlichsten, erlebnisreichsten und vieldimensionalsten Eigenschaften. Unsere ethnographischen Feldstudien unterstützen den Befund, daß diese Eigenschaften von zunehmender Bedeutung sind. Abbildung 2
Pyramidisierung themenspezifischer Flaggschifformen Multidimensional
Purchase of Experience Mindscapethemed Flagships
Cyperscapethemed Flagships
Marketscapethemed Flagships
Purchase of Goods
Landscapethemed Flagships
Retail Orientation
Unidimensional
Brand Orientation
Spektacular
Ordinary
Cultural Orientation
Der Bedarf für höhere Qualität, mehr Erlebnisreichtum, mehr Außergewöhnlichkeit, mehr Technologie, mehr emotionaler Beteiligung, facettenreicherer Darstellung von Markenimages und -persönlichkeit sowie komplexerer Einzelhandels-
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umgebungen sollten bedeutsame Auswirkungen auf den Einzelhandelsbetrieb und das Konsumentenverhalten haben. In diesem Abschnitt verwenden und erweitern wir Sherrys Typologie, um Voraussagen über die Zukunft von Flaggschiffmarkenläden treffen zu können. Insgesamt entwickeln wir praktische Richtlinien für bestimmte Arten thematisch gestalteter Flaggschiffmarkenläden, die höchstwahrscheinlich bestimmten Markentypen nützen werden.
3.1 Landscape-Flaggschiffläden Da die ursprüngliche Gegebenheit von Land, Bäumen und frischer Luft zunehmend ein „außergewöhnliches Erlebnis“ (Arnould/Price 1993) für die meisten amerikanischen Stadtbewohner ist, wird das Marketing von „natürlichen“ Erlebnissen für Einzelhändler bestimmter Produkt- und Markenarten weiterhin wichtig sein. Marken, die sich für ein naturbezogenes Thema zur Verfügung stellen, werden eine kulturelle Verbindung zur Natur aufweisen. Marken, die beispielsweise mit Outdoor-Sport, Gesundheit, Reisen, Schönheit, Essen, Medizin und fitnessbezogenen Produkten und Dienstleistungen verbunden sind, könnten von ihrer Naturbezogenheit, welche gewöhnlich in den Alltagserlebnissen vieler Konsumenten fehlt, profitieren. Daneben kann die Vorstellung landschaftlicher Gestaltung auch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. So könnten Flaggschiffmarkengeschäfte künstliche Ökosysteme bilden, die sozusagen (Einzelhandels-)Äquivalente zum Biosphärenexperiment II in Arizona darstellen. Dabei unterliegen Vorstellungen vom Körper, einer natürlichen Umgebung, dem Ursprünglichen und Biologischen innerhalb solcher Dienstleistungsumgebungen endlosen Betrachtungen und Veränderungen. Für viele Flaggschiffmarkengeschäfte werden sich Herausforderungen sowie Gelegenheiten bieten, wenn es um die Überbrückung der Kluft zwischen dem Kulturellen und dem Natürlichen geht. Die Verwendung eines natürlicheren Rahmens für den Markenaufbau kann diese Lücke vielleicht durch die Integration von Markenvorstellungen in bestehende Konsumaktivitäten füllen, zum Beispiel durch Rallyes, Zusammenkünfte, Ferien und die von McAlexander/Schouten (1998) beschriebenen „brandfests“. Der Einsatz natürlicher Rahmen kann auch transparentere Herstellungsprozesse zur Folge haben. Die immer deutlicher werdende Anziehungskraft von Werk- bzw. Fabrikbesichtigungstouren wird in Zukunft noch populärer werden, wie der wachsende Erfolg der Crayola-Fabrik, Hershey’s Schokoladenwelt und Kellogg’s Cereal City in den USA zeigen. Selbst Zahnpastafabriken (z.B. Tom’s aus Maine) und Müllhalden (z.B. Fresh Kills Müllabladeplatz in New York) verwandeln sich in thematisch gestaltete Flaggschiffe. Dies eröffnet vielfältige Möglichkeiten für Hersteller, die oft nur minima-
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le Investitionen machen müssen, um Fabriken als Konsumthemenparks und museumsartige Schaukästen auszubauen. Wie thematisch gestaltete Flaggschiffläden im Allgemeinen stellen Hersteller, die direkt an Konsumenten verkaufen, eine Bedrohung für Einzelhändler dar, die sich weiter unten in der Versorgungskette befinden. Diese Geschäfte müßten beispielsweise Nike Town nachahmen, das eine umfassende Listenpreispolitik erlassen hat, um den Verlust von anderen Einzelhändlern zu vermeiden, die Nike-Schuhe in weniger außergewöhnlichen und weniger verkehrsreichen Umgebungen verkaufen. Auch wenn vielen Herstellern die thematische Gestaltung von Einzelhandelsläden als verlockende Strategie erscheint, ist der Erfolg damit oft nur schwer zu erreichen. Je außergewöhnlicher die Art des Flaggschiffmarkenladens ist, desto preisintensiver kann sich seine Unterhaltung gestalten, weil es dafür ausgebildeter Arbeitskräfte, Technologie und einer profilierten sowie großräumigen Immobilie bedarf, zudem muß der Laden ständig auf den neuesten Stand gebracht werden. Die Firmen, die in dieser Umgestaltung erfolgreich sein wollen, sind jene, die ein bedeutungsvolles Produkt bzw. das Interesse an einer Marke in ein anpassungsfähiges und unterhaltsames Konsumerlebnis einfügen können, für das Konsumenten bereit sind, dort wiederholt einkaufen zu gehen (vgl. Pine/Gilmore 1999).
3.2 Marketscape-Flaggschiffläden Seit der Entwicklung eines neuen globalen Kultursystems ist es offensichtlich geworden, daß Einzelhandelsstandorte eine wichtige Rolle bei der Förderung von „structures of common difference“ spielen, die lokale Kulturen miteinander verbinden und diese gegenüber Einheimischen wie Touristen gleichermaßen vorstellen (vgl. Thompson/Tambyah 1999; Wilk 1995). Die Offenheit, die für den individuellen Ausdruck sehr bedeutsam ist, ist allerdings noch wichtiger, wenn es um den Ausdruck ethnischer, nationalistischer, städtischer, religiöser, politischer, ethnischer und anderer ausschlaggebender Unterschiede zwischen Menschen geht, die sich als Unterschiede zwangsläufig auf der Einzelhandelsebene widerspiegeln. So wie transkulturelle ökonomische Kräfte Kulturen homogenisieren können, sind auch starke kulturelle Kräfte dazu imstande, sie zu zersplittern und zu differenzieren. Das Ergebnis ist eine kaleidoskopartige Konsumwelt. Die ESPN Zone in Chicago verwendet zum Beispiel die gleiche ESPNZonenarchitektur wie an den Standorten Baltimore, Washington und New York − mit dem kleinen Unterschied, daß es seinen Sporte-Inhalt mit „Chicago-ness“ anreichert: Bulls, Bears, Blackhawks, Cubs, White Sox und andere heimische Ikonen. Disney hat aus seinem japanischen Erfolg und seiner Euro-Kehrtwende gelernt und beherrscht nun das Gleichgewicht zwischen global und lokal. Zudem
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gibt es Anhaltspunkte für andere aufstrebende Einzelhändler, die den gleichen Weg gehen wollen. Die ESPN-Strategie legt nahe, daß die Organisatoren von Flaggschiffmarkengeschäften, welche die Identität ihrer Marke angesichts mehrerer Teilnehmer erhalten möchten, einen Weg finden müssen, Konstruktionsschablonen zu entwicken, die an lokale Vorlieben angepaßt werden können. Während die physische Struktur (das Gebäude und seine Zonengestaltung) fast gleich bleibt, kann der Inhalt (das Bildmaterial, die Anzeigen) angepaßt werden. Der Inhalt wird sich nicht nur durch die Stadt und sogar die Gegend verändern, sondern sollte auch mit der Zeit gehen, um Anschluß zu halten an die sich schnell wandelnden kulturellen Vorlieben. Ständige Marktforschung und beträchtliches kulturelles Wissen werden in einem thematisch gestalteten Flaggschiffmarkenladen benötigt, um die Eigenschaften identifizieren und prüfen zu können, die als bedeutungsvolle Mythotypen Erfolg haben werden. Während ESPN, um mit den Spannungsbögen fest/flüssig und global/lokal klar zu kommen, lokale Talente nutzt und sportbegeisterte junge Menschen einstellt, ist die Ausbildung des Dienstleistungspersonals über seine verschiedenen Standorte hinaus gleichwohl homogen zu halten. Ähnliche Methoden wurden vom WalMart-Konzern entwickelt, der den lokalen Managern einen größeren Handlungsund Entscheidungsspielraum erlaubt, um einerseits Produkte zu führen, die den lokalen Vorlieben angepaßt sind, und andererseits ortsansässige Menschen in standardisierten Verfahren ausbildet. Marken, die von einer marktbezogenen Themengestaltung am meisten profitieren werden, werden eine kulturelle Verbindung mit Ideen von Gemeinschaft aufweisen, etwa mit Immobilien, Tanz, Musik, Büchern und Kaffee. Die symbolische Bedeutungsvielfalt wird den Erfolg vieler anderer Arten thematisch gestalteter Flaggschiffmarkenläden bestimmen, wenn es diesen gelingt, den ortsüblichen Lebenshaltungen Ausdruck zu verleihen und mit den lokalen Gemeinschaften Kontakt zu halten. Dabei wird ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg die Auswahl des Produkts und die Gestaltung des Flaggschiffladens als eines gemeinschaftlichen Treffpunktes sein. Das kann online geschehen, in virtuellen Gemeinschaften,14 oder auch über reale Standorte, die für den Konsum Werbung machen, ganz gleich welches vereinheitlichende Produkt, welcher Service oder welche Idee dabei auch konsumiert werden,15 sei es Sport, Engagement für die Umwelt, Bisexualität, Mode oder Schokolade. Die mächtigsten Flaggschiffe werden persönliche Begegnungen mit Online-Begegnungen verbinden, so daß sie einer Gruppe von interessierten Konsumenten die Möglichkeit bieten können, eine bedeutsame Gemeinschaft zu finden, in einer Umgebung, die größtenteils durch die Einzelhändler kontrolliert wird. Während sich die Ideale marktbezoge14 15
Vgl. Kozinets 1999. Vgl. McAlexander/Schouten 1998.
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ner Flaggschiffe in der Welt des Einzelhandels ausbreiten, kommen die Hersteller allmählich zu der Ansicht, daß die gesamte Verpackung eines Produkts für sich genommen nicht mit seiner Herstellung endet, sondern auch die Positionierung im Geschäft, die gesamte Geschäftsumgebung, die Einkaufsstraße, die Gegend, die Stadt, die Nation und den raumlosen Raum des Cyberspaces mit einschließt. Erfolgreiche Einzelhändler, die mit der thematischen Gestaltung arbeiten, werden ihren „Standort, Standort, Standort“ sorgfältig „lokalisieren, lokalisieren, lokalisieren“.16
3.3 Cyberscape-Flaggschiffläden Cyberscape-Flaggschiffläden werden in der nächsten Dekade zu den bedeutendsten Arenen in der Einzelhandelsentwicklung gehören. Die beiden Territorien von Offline- und Online-Commerce zusammenzubringen, wird die entscheidende Herausforderung der Einzelhändler sein, um die Mysterien der Markenbildung im E-Commerce zu verstehen, bevor sie vom Wettbewerb überflügelt werden (vgl. Ginsburg/Morris 1999; Riewoldt 2000). Die Belohnungen für die Gewinner (und selbst für die angenommenen Gewinner) werden in diesem neuen Spiel des „etailing“ beträchtlich und die Vorteile gewaltig sein (vgl. Gerbert et al. 1999). Eine grenzenüberschreitende Frage, die beantwortet werden muß, lautet: „Können Konsumenten an zwei Plätzen zugleich sein?“ Werden Konsumenten in der virtuellen Realität googlen wollen, während sie gleichzeitig von aufsehenerregenden Einzelhandelsumgebungen umgeben sind? (Hinweis: Sie praktizieren es in Disneyland.) Was kann getan werden, um eine E-CommerceExkursion von Zuhause realistischer zu gestalten? Können „reale“ Gerüche, Berührungen, Bewegungen und Community so simuliert werden, daß es beinahe perfekt wirkt? Können die Geheimnisse dieser Dienstleistung gelüftet werden? Es scheint so, daß selbst mit der laufenden Verschmelzung von Online- und Offline-Commerce der Wettbewerb zwischen dem elektronischen und dem physischen Handelsbereich nicht mehr viel Zeit läßt. Indem sie ein spektakuläres „Extrem“ anbieten, betonen die physischen Einzelhändler, daß sie etwas bieten können, was das Internet nicht kann: überwältigende Sounds, Ansichten, Gerüche und Plätze für unmittelbare menschliche Begegnungen (vgl. Ginsburg/Morris 1999). Physische Einzelhändler werden ihre Umgebungen redefinieren und besonders ausloben, während ihre Werbung E-Commerce-Käufer mit der Aufforderung „Komm aus dem Haus“ und „Lebe ein wirkliches Leben“ locken werden. Flaggschiffmarkengeschäfte im Cyberspace werden die Vorteile betonen, die nur sie 16
So lauten die drei wichtigsten Kriterien im Immobilienhandel: „Standort, Standort, Standort“ (d.Ü).
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bereit halten − das Überbrücken globaler und lokaler Geschmäcker, das Vorhalten vieler Wahlmöglichkeiten, das Anbieten von gut ausgebildetem Personal und bester Kundenbetreuung und − auf einer übersinnlichen Ebene − das Steigern der Empfänglichkeit der Menschen für Raum, Zeit und Möglichkeiten. Marken, die von einem technologischen Thema am meisten profitieren, werden eine kulturelle Verbindung zu Ideen aus den Bereichen der Elektronik und Innovationen wie neueste Computer-Hardware und Software, Telekommunikation, medizinische und Gesundheitsprodukte, Autos und Reisedienste eingehen können. Ein weiteres Gebiet mit einer sehr naheliegenden Entsprechung ist das der Phantasie und Unterhaltung, wo das Unmögliche durch Technologie zur Wirklichkeit werden kann. Kinderspielzeug für alle Altersgruppen wie Videospiele gehören zu diesem Cyberscape-Thema. Das Zusammenführen von Cyberscape und Mindscape wird die Konsumenten mit ganz neuen, die Phantasie beflügelnden Erlebnissen versorgen. Wenn man den Konsumenten als ein gottgleiches Wesen begreift, werden Flaggschiffmarkengeschäfte es den Konsumenten erlauben, in vergleichbaren Geschäften rund um die Welt Erlebnisse zu haben und überall einkaufen zu können, grenzüberschreitend und sich auf der Zeitachse gleichermaßen nach vorne wie nach hinten bewegen könnend. Die mediale Ausstattung solcher thematisch gestalteter Umgebungen wird das bisherige Konzept einer singulären „Wirklichkeit“ offline wie online überwuchern, fortentwickeln und schießlich in den Mülleimer antiquierten Denkens versenken.
3.4 Mindscape-Flaggschiffläden Die Idee des Mindscape, welche die virtuelle Realität und durch Medien angeregte Phantasien gleichermaßen umfaßt, stellt einen metaphysischen Innenraum dar, der den Einzelhändlern zugänglich ist. Die Vorstellung, daß Einzelhändler mit genügend Anstrengungen in diesen Innenraum eindringen können, ist nicht abwegig, wenn man bedenkt, welchen bedeutenden Einfluß der Raum auf die Strukturierung des Bewußtseins hat. Solche Flaggschiffe wie die ESPN Zone und Nike Town werden von Ritzer (1999) als „new means of consumption“ (NMC) bezeichnet, und er meint, daß sie als „cathedrals of consumption“ gesehen werden können, weil sie für viele Menschen verzaubernde, manchmal sogar heilige und religiöse Merkmale besitzen. Ob man deren Eigenschaften tatsächlich als religiös verstehen kann, sei zunächst dahingestellt; wir gehen vielmehr davon aus, daß solche NMC-Flaggschiffe den Konsumenten neue Möglichkeiten bereitstellen, um Bedeutungen zu konstruieren, die einen präzisen Bezugsrahmen aufweisen und dadurch von persönlicher Relevanz sind, ebenso wie die Populärkultur für ihre Fans äußerst bedeutsam ist (vgl. Kozinets 2001). Wenn man den
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Unterschied zwischen unserer Interpretation der ESPN Zone als Forscher und den Wahrnehmungen der Konsumenten von der ESPN Zone aufzeigen will, ist festzustellen, daß NMC-Flaggschiffe für uns nicht in dem Sinne metaphysisch sind, wie sie notwendigerweise von den Konsumenten als religiös oder spirituell erlebt werden, sondern weil sie ihnen die Möglichkeit geben, ein Gefühl für das Außergewöhnliche zu haben und ihr Empfinden für Zeit und Ort zu verlieren, was Csikszentmihalyi (1990) als „flow“ im Sinne eines alles-einschließenden Zustandes bezeichnet und beschrieben hat. Marken, die am meisten von einem solchen Mindscape-bezogenen Themenrahmen profitieren werden, weisen eine kulturelle Verbindung mit Vorstellungen von Wachstum und Entwicklung auf, wie jene, die mit Reisen, Bildung, selbstständiger Weiterbildung, Training, Entwicklung und Spiritualität zu tun haben. Eine Bewußtwerdung über den Zusammenhang zwischen der Marke mit Geist und Spiritualität ist möglich, aber nicht notwendig. Der bedeutendste Einzelhändler in Tokio, Seibu, stellt ein Beispiel dafür dar (vgl. Creighton 1998). Die Käufer betreten das Kaufhaus auf der ersten Etage als Neophyten. Während sie sich durch die verschiedenen Etagen des Kaufhauses bewegen, nimmt mit der Anzahl der Etagen des Kaufhauses auch die Ebenenvielfalt des Bewußtseins zu. Jede einzelne Etage ist thematisch so gestaltet, daß sie die zunehmenden Bewußtseinsebenen konnotiert. Zum Schluß tauchen die Käufer auf dem Höhepunkt ihrer Reise als vollständige Käufer auf und, so wird es symbolisch angedeutet, als vollkommene Menschen (vgl. Creighton 1998). Seibus NMCMindcape bietet Konsumenten in spielerischer Art und Weise den oberflächlichen Anschein einer spirituellen Tradition, verbunden mit philosophischer Bedeutung und persönlicher Entwicklung. Seibu ist ein faszinierendes Beispiel, weil es zeigt, wie dreist Einzelhändler jenen Raum kolonisieren, welcher zuvor der Religion, spirituellen Bewegungen und Kulten vorbehalten war. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte war die kunstvollste und kostspieligste Architektur den Kirchen und anderen Andachtsorten vorbehalten. Heutzutage sind viele unserer kostbarsten und kunstvollsten Räume Verkaufserlebnissen gewidmet. Dieser Trend zeigt nicht nur einen beachtlichen Wandel im Immobilien- oder Einzelhandel an, sondern besitzt auch eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung. Nachdem wir die enorme Relevanz von Mindcapes, Cyberscapes, Marketscapes und Landcapes abgebildet haben, wenden wir uns nun weiteren praktischen Implikationen thematisch gestalteter Flaggschiffmarkenläden im abschließenden Abschnitt zu.
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Schlußbetrachtung
Für heutige Unternehmer und Händler mag die Bewegung zu einer weitergehenden, thematisch gestalteten Einzelhandelsumgebung ein Signal für ein neues Denken sein. Unternehmer mit starken Konsummarken müssen verstärkt danach fragen, in welchem Ausmaß sie sich in einem Geschäftsfeld befinden oder befinden sollten, das auf die Produktion von Unterhaltung und besondere Formen von Erlebnissen spezialisiert ist (vgl. Pine/Gilmore 1999; Wolf 1999). Für Unternehmer erweist sich die Möglichkeit, ein thematisch gestaltetes Flaggschiffmarkengeschäft zu eröffnen, als komplex und herausfordernd. Die bekannten Flaggschiffmarkengeschäfte sind teuer bei der Entwicklung und Erhaltung und kompliziert hinsichtlich des tagtäglichen Managements. Sie benötigen Unternehmer, die nicht nur in das Einzelhandelsgeschäft einsteigen, sondern auch in das Unterhaltungsgeschäft. Sie brauchen neue Fähigkeiten im Verkauf und im Technologischen. Sie brauchen auch beträchtliche Kompetenzen bei der Personalauswahl und -schulung. Man bedenke, daß die ESPN Zone in Chicago 23 Manager und mehr als 300 Mitarbeiter beschäftigt. Thematisch gestaltete Geschäftsräume sind oftmals auf Allianzen mit Unterhaltungsunternehmen angewiesen, wie bei der Allianz zwischen McDonald’s und Disney, und sie müssen sich um den Aufbau neuer Kompetenzen und Nischenangebote im Unterhaltungsbusiness kümmern. Außerdem ist klar, daß solche besonderen Markengeschäfte nicht um jeden Preis gebraucht werden. Um Freud zu paraphrasieren, könnte man sagen: Eine Cola ist manchmal auch nur eine Cola. Wenn Preis, Convenience, Markenwahl und Geschwindigkeit die entscheidenden Aspekte sind, dann mögen solche aufwendig gestalteten Markengeschäfte bloße Verschwendung von Zeit und Geld der Konsumenten und Händler sein. Ein großer, Multimillionen Dollar schwerer Flaggschiffmarkenladen ist wahrscheinlich nur dann effektiv, wenn es um Marken mit einem sehr breit angelegten Appeal wie Coca Cola, einen besonders starken Appeal wie bei Disney oder einen dezidiert lokalen Appeal wie bei Ghirardelli Schokolade in San Francisco geht. Diese Marken müßten bereits ein erhebliches Erlebnis vermittelndes Potential aufweisen, oder es müßte nachträglich ein solches geschaffen werden, das die Konsumenten aufregend und anziehend finden (welches auch helfen würde zu erklären, weshalb die Unterhaltungsindustrie momentan führend ist). Eine andere Bedingung, die solchen Markengeschäften dabei hilft, erfolgreiche Marken aufzubauen, ist ein Marken-Empire, das in heutigen Massenmärkten so verbreitet, ausgedehnt, erkennbar und einflußreich ist (wie bei Nike, Coca Cola, Disney, Microsoft, Kellogg, Hershey), daß es erstens ein eigenes Publikum heranzieht, das bereit ist, an diesen Unterhaltungsdiensten teilzuhaben, zu bleiben und dafür zu bezahlen, und daß sich dadurch − zweitens − die Aufwendungen für einen solchen Markenladen langfristig rechnen.
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Wir behaupten, daß die thematisch spezifische Gestaltung von Einzelhandelsgeschäften eine große Bedeutung hat, wenn man bedenkt, daß die Kunden darauf aus sind, sich gehen zu lassen, zu spielen, Gemeinschaft zu suchen, zu lernen oder zu wachsen (ideal für eine Vielzahl wünschenswerter Kundengruppen wie Touristen, gestrandete Reisende, Studenten, Familien mit Kindern, Singles oder ältere Personen). Wenn Landschaften Themenparks werden können, gibt es nur wenige intrinsische Begrenzungen angesichts der menschlichen Vorstellungskraft. Wir stellen uns zahlreiche Gelegenheiten für kleinere Unternehmen und Einzelhändler vor, die in solchen Dingen engagiert sind. Kostüme, Malerarbeiten, einige Zeichen und eine Menge Enthusiasmus mögen für ein kleines Einzelhandelstheater ausreichen. Für weitere Unternehmungen, der ESPN Zone und World of Coca Cola vergleichbar, können die ausreichende finanzielle Ausstattung und die Selbstverpflichtung motivierter Mitarbeiter als wichtige Erfolgsbedingungen genannt werden. Dabei sollte diese Art von Selbstverpflichtung schon von der Geschäftsführung her vorgelebt werden. Die Etats der Flaggschiffmarkengeschäfte sollten im Rahmen einer auf Langfristigkeit angelegten Markenstrategie betrachtet werden und als Einstieg in verschiedene Geschäftsformen (z.B. QuasiUnterhaltung). Ein gewisses Kontingent des Werbeetats könnte dafür angezapft werden, und jede Form von „sunk costs“ sollten als ein langfristiges Investment in Markenaufbau und Markenführung umgedeutet werden (wobei auch diese Erfolgsgeschichte genaustens festgehalten und gemessen werden muß, wie bei jeder anderen Form von Werbung auch). Die Entwicklung eines erfolgreichen größeren Flaggschiffmarkengeschäftes kostet Millionen von Dollars, um damit richtig Geld zu verdienen, und viele Millionen mehr, um dies auch architektonisch gut umzusetzen. Um eine spektakuläre Erscheinung zu sein, müssen die Läden groß sein. Um effektiv zu funktionieren, müssen die Manager die Geschäftsmodelle exzellent beherrschen, die in diesen neuen Industrien (Restaurants, Fitness Studios, Videospiel-Hallen etc.) üblich sind, sie müssen darauf achten, die Läden optimal zu kapitalisieren und das Personal ausreichend zu schulen. Um profitabel zu sein, muß es ihnen gelingen, eine große Zahl von Konsumenten in ihre Läden zu ziehen. Wie die erfolgreichen Flaggschiffmarkengeschäfte beweisen, ist der Einzelhandel für Touristen in einschlägigen Touristenstädten möglicherweise die aussichtsreichste Option. Geht man vom Erfolg „lokaler“ Marken aus, wie Nike Town und ESPN Zone, ist es wahrscheinlich so, daß die Vorteile solcher Läden mehr auf der Seite der Touristen als der der Einheimischen liegen. Wenn diese Bedingungen der Effektivität erfüllt sind, können Flaggschiffmarkengeschäfte als eine Form der Werbung, eine Quelle des Profits, als ein Springbrunnen für intelligentes Marketing und als ein Forum fürs Ex-
„Themed Flagship Brand Stores in the New Millennium“
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perimentieren mit lokalen Belangen, Unterhaltungsangeboten, mit Technologie und neuen Formen der Kombination von Online- und Offline-Handel dienen. Ist eine Marke erst einmal in die Umgebung eines Flaggschiffladens verbracht worden, zieht sie aus dessen Architektur Bedeutung. Dabei muß gesehen werden: Die Form ist „its own visceral, physical inherent meaning“, deren Nuancen man mit Worten möglicherweise nicht angemessen wird erfassen können; ein Flaggschiffmarkengeschäft besitzt eine „autonomous presence“ (Habraken 1998: 233), die zur Essenz einer Marke ebenso beiträgt wie ihr expliziter Bedeutungsraum. Die Architektur des Einzelhandelstheaters im 21. Jahrhundert wird die verborgenen Bedeutungen einer solchen Form zunehmend mit einschließen, um mit den Konsumenten in Interaktion treten zu können, während diese die Essenz einer Marke mit erschaffen. Wenn das Ordinäre mit dem Mythischen, das Profane mit dem Sakralen und das Innovative mit dem Vertrauten verbunden werden, werden die Produzenten Umgebungen bauen, die ebenso Freude vermitteln wie Sicherheit geben. Das Erlebnisse ermöglichende und hervorrufende Design wird zur führenden Philosophie des Verkaufens werden. Spricht man ebenso von Seiten der Theorie wie der Praxis her, können wir den therapeutischen Drang in Richtung auf Selbstverwirklichung, Selbstverwandlung und Selbstverbesserung in den Blick nehmen. Dieser Drang ist eine mächtige kulturelle Erscheinung, die von einer Reihe von Experten ausführlich dokumentiert wurde.17 Wir glauben, daß auf der Grundlage unserer Überlegungen zur Ideenwelt des Handels diese beiden Optionen − Unterhaltung und Therapie − in Zukunft noch häufiger und mit noch größerem Erfolg kombiniert werden. Wir vermuten, daß ein Rezept für den Markenerfolg im neuen Jahrtausend in der Verkopplung des Marktplatz- und Handelstheaters mit dem US-amerikanischen Therapieansatz im Rahmen von Einzelhandelsumgebungen liegen dürfte. Wie wir beschrieben haben, besteht die „Killerapplikation“ des Einzelhandelstheaters in seiner ultimativen Spiritualität − das heißt: Sie ist metaphysisch abgestimmt auf die Nuancen der Lebensführung von Konsumenten in einer materiellen Welt. Diese Spiritualität ist populistisch, informal, nicht festgeschrieben, inklusiv, zeitlos, bedeutsam, transzendental, holistisch und auf ein Zentrum ausgerichtet (vgl. Mitroff/Deton 1999: 23ff.). Sie bewirkt die Gefühle eines seelenerfüllten Materialismus und eines „Zen“ der Waren, welche Konsumentenforscher seit über einem Jahrzehnt untersuchen.18 Während wir diese spiritualistische Verkäuferhaltung mit der Mindscape-Kategorie in Verbindung gebracht haben, haben wir ebenso versucht, auf die Verbindung zwischen Erlebnis und Körper hinzuweisen (vgl. Lakoff/Johnson 1999). So wie die Sozialwissenschaftler eine Integration der Erklärungsmodelle des menschlichen Erlebens vorhersa17 18
Vgl. Crawford 1992; Cushman 1995; Fox/Lears 1983; ears 1994. Vgl. McNiff 1995; Fjellman 1992; Belk et al. 1989.
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gen,19 und so wie die Marketingleute gelernt haben, die alltäglichen Erlebnisse der Konsumenten zu verstehen, werden die Einzelhandelsumgebungen immer zentralere und zufriedenstellendere Formen entwickeln und ihre zeremoniellen und dramatischen Seiten immer weiter verbessern. Der Marktplatz wird dereinst wieder zu einem Festival werden, einer Grenzregion voller Geheimnisse, kulturellen Austausches, der Gemeinschaft und des Vergnügens. Trotz aller sozialen und ökonomischen Fallgruben können thematisch gestaltete Flaggschiffmarkengeschäfte dabei helfen, den zukünftigen Weg auszuleuchten. Die Übersetzung besorgten Ulrike Handschug und Kai-Uwe Hellmann.
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Zum Konzept des Konsums Dritter Orte
Der Buchdruck mit beweglichen Lettern, so schwärmte bereits Victor Hugo zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ermögliche es den Gedanken, ihr Gewand abzulegen und wie eine Vogelschar in alle vier Himmelsrichtungen aufzubrechen, um überall und jederzeit in unveränderter Weise zu existieren. Bis heute lautet eines der am stärksten vorgebrachten Argumente in der medientheoretischen Diskussion, daß Medien die Überwindung raum-zeitlicher Restriktionen ermöglichen und dadurch allen mehr Zugang zu Wissen, Kultur und Unterhaltung eröffnen sowie eine bessere Kontrolle der Macht erlauben. Zwar entsteht eine bürgerliche Öffentlichkeit gewissermaßen an „Ort und Stelle“, nämlich in den Kaffeehäusern und Salons, den Lese- und Tischgesellschaften des 18. Jahrhunderts. Sie wächst jedoch rasch über ihre örtlichen Institutionen hinaus und wird spätestens seit dem 19. Jahrhundert durch die Medien, zunächst die Presse, zusammengehalten. Die hinlänglich beschriebenen Folgen dieses Strukturwandels sind bekanntlich nicht durchweg so euphorisch beurteilt worden wie jene Folgen des Buchdrucks, von denen Victor Hugo schwärmte. Dennoch gerät hier wie dort der Raum ins Hintertreffen, indem er „überwunden“ wird. Medien befreien ihre Nutzer von jenen Restriktionen, die uns Raum und Zeit auferlegt haben – so lautet das medientheoretische Argument in seiner Kurzfassung. Im Prozeß der Herstellung von Öffentlichkeit tritt die „ortlose“ medienvermittelte Kommunikation an die Stelle der ortsgebundenen, unvermittelten Kommunikation – so lautet das öffentlichkeitstheoretische Argument in seiner Kurzfassung. Beide Argumente, dies zeigen die folgenden zwei Beiträge, sind zutreffend und unvollständig zugleich. Nach der medientheoretisch prophezeiten und medientechnologisch vermeintlich induzierten Verabschiedung vom Ort der Handlung, so Guido Zurstiege, geraten sogenannte „Dritte Orte“, Orte also, die nicht das Zuhause und auch nicht der Arbeitsplatz sind, selbst zu medialen Projektionsflächen. Nach dem „No Sense of Place“ (J. Meyrowitz) finden wir uns wieder an wohldefinierten Orten der Handlung, Orte, die man einzig aufsucht, um sie wieder zu verlassen (Flughäfen, Parkplätze, Autobahnen), mobile Orte, die uns begleiten (Flugzeuge,
120 Automobile, Züge), Orte der zielgerichteten Zerstreuung (Shopping-Malls, Restaurants, Kaufhäuser, Einkaufsstraßen), Orte des normierten Entertainments (Multiplex-Kinos, Vergnügungsparks, Großveranstaltungen) etc. Allen diesen Orten ist die zeitliche, sachliche und soziale Standardisierung der Inszenierung sowie die enge Kopplung an eine global operierende Medienindustrie gemeinsam. Medien, so läßt sich am Beispiel des Wandels Dritter Orte zeigen, helfen uns nicht nur, den Raum zu überwinden, sondern erweisen sich darüber hinaus als Schlüsseltechnologien zur sozialen Konstruktion von Räumlichkeit. Wie bereits im Wortstamm des Raumbegriffs zum Ausdruck kommt, ist Raum eine durch und durch soziale Kategorie, entsteht Raum doch erst, wie Christian Schwarzenegger deutlich macht, durch das Verräumen, das Ausräumen, das Aufräumen, das Einräumen. Dies gilt auch für Konsumräume. Dabei ist eine der wichtigsten „Erzählsprachen“, mit deren Hilfe Räume dergestalt eingerichtet werden, die „Erzählsprache der Biographien“. Aus der Perspektive, die Schwarzenegger einnimmt, bemißt sich die Qualität von Konsumräumen an den Geschichten, die diese zu erzählen ermöglichen, und eben dies wertet jene Orte auf, an denen sich unterschiedliche Narrationen überlagern, jene Orte, für die Schwarzenegger im Anschluß an Foucault den Begriff der Heterotopie fruchtbar macht, jene Orte, an denen das „Zapping“ zwischen den zahllosen im Angebot befindlichen Geschichten zur Strategie der Welterfahrung wird.
Der Konsum Dritter Orte Guido Zurstiege
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Die Ringstraße
Die Ringstraße rund um die Innere Stadt, den vornehmen ersten Bezirk, ist eine der Hauptsehenswürdigkeiten Wiens – dies vor allem wohl auch deswegen, weil der so gerahmte erste Bezirk wie ein „wunderschöner ‚barocker’ Themenpark“ wirkt (vgl. Zinganel 2001). In der Inneren Stadt liegen nicht nur die meisten touristischen Attraktionen und die wichtigsten Verwaltungsgebäude, „der Erste“ ist darüber hinaus auch die nobelste Shoppingadresse Wiens: Louis Vuitton, Hermes, Akris, Boss, Chanel, Escada, Diesel oder Swarovski, auf der Kärtnerstraße, dem Graben und dem Kohlmarkt reihen sich internationale Luxusboutiquen aneinander, hier tummeln sich Wiener Traditionsgeschäfte und Genußtempel, trendige Modekaufhäuser und vornehme Herrenausstatter. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die alten Befestigungs- und Verteidigungsanlagen Wiens durch die Eingemeindung ehemaliger Vorstädte (die heutigen Bezirke II bis IX) ihre ursprüngliche Funktion verloren, und an ihre Stelle sollte per kaiserlicher Verfügung ein Boulevard treten, eine Repräsentationsmeile ganz nach französischem Vorbild, die heutige Wiener Ringstraße. Die zwischen 1869 und 1888 fertig gestellten öffentlichen Prachtbauten, welche die Ringstraße säumen, greifen unterschiedliche Stilformen vergangener Epochen auf – klassische Antike, Kathedral- und Bürgergotik, Renaissance und Barock finden sich hier nebeneinander vereint. Vor dem Hintergrund dieser wahrlich beeindruckenden Kulisse erblickte im Jahr 1903 im ersten Wiener Bezirk Viktor Gruen1 das Licht des Tages. Nur wenige Jahre später, im Sommer 1907, kam Ernst Dichter ebenfalls in Wien zur Welt. Gruen, der Erfinder der Shopping Mall, Dichter, der Motivforscher, zwei Juden in Wien, der eine Architekt, der andere Verkäufer, Schaufensterdekorateur und Tiefenpsychologe, zwei Emigranten, zwei, die im selben Jahr 1938 ihre Heimat verlassen müssen und in Amerika Karriere machen, der eine befaßt sich mit verlorenen Orten, der andere mit verborgenen Wünschen, und beide revolutionieren sie den Konsum der Gesellschaft.
1
Geboren als Viktor Grünbaum, vgl. detailliert Wall 2005.
122 2
Guido Zurstiege Southdale
Viktor Gruens wohl bekanntestes Bauprojekt, Southdale Center, die erste vollklimatisierte Shopping Mall der Welt, öffnete 1956 unweit der amerikanischen Millionenstadt Minneapolis ihre Pforten und ist noch heute, fünfzig Jahre später, in Betrieb. Ziel des ehrgeizigen, in seiner Zeit nicht nur vielbeachteten, sondern auch hochgelobten Projekts war es, dem trostlosen Leben in den anonymen und zersiedelten Vororten amerikanischer Großstädte etwas entgegenzusetzen, eine Utopie, die sich an den gewachsenen Strukturen Europas orientierte. „Gassen und Straßen, Höfe und Plätze unterschiedlichsten Charakters sollten ein räumliches Kontinuum intimer und öffentlicher Räume generieren. Diese verdichteten Erlebnisräume sollten neben dem kommerziellen Angebot auch kulturelle und gesellschaftliche Aufgaben erfüllen und neben Geschäften daher auch regelmäßige kulturelle Veranstaltungen beherbergen. Gruen wollte dem in seinen Vorstädten isolierten Mittelstand eine Idee des urbanen europäischen Gemeinwesens vermitteln.“ (Zinganel 2001)
Es ist kein Zufall, daß der Entwurf einen ringförmigen, geschlossenen Gebäudekomplex vorsah, der nach dem Vorbild Gruens Heimatstadt Wien Flanieren, Konsum und Gemeinschaftserlebnisse miteinander verband. „Southdale center. Where it all comes together” (www.southdale.com). Gruen, der überzeugte Sozialdemokrat, glaubte an die Kraft des freien amerikanischen Marktes und zugleich an die Kraft der Planung: „’Malls teach us ... that it’s the merchants who will save our urban civilization. ‘Planning’ isn’t a dirty word to them; good planning means good business. ... Sometimes self-interest has remarkable spiritual consequences.” (Gruen, zit. n. Gladwell 2004) Es ging ihm um nicht weniger als um die Rettung des urbanen Lebens in Amerika. Southdale center, so Gruen, war keine Alternative zur Innenstadt von Minneapolis, Southdale center war die Innenstadt von Minneapolis, hätte man sie noch einmal gebaut und dabei alle zuvor gemachten Fehler vermieden. Die Kraft des Plans, die Beseitigung historischer Fehler – nichts liegt näher, als Gruen einen typisch modernen Architekten und Stadtplaner zu nennen. Indessen distanzierte sich Gruen selbst in drastischen Worten vom Mainstream der modernen Architektur im Geiste Corbusiers und der Charta von Athen, der die Großseparierung urbaner Funktionen verlangte (vgl. Hilpert 1984). Durch diese Form der Planung, so Gruen in einem Interview mit Bernd Lötsch am 22. April 1978 in Wien, ergaben sich „riesen Ghettos ausschließlich für Arbeiten oder für Wohnen oder für kulturelle Zwecke ... und eben eine ungeheure Bewegung zwischen diesen verschiedenen Konzentrationslagern.“ Southdale sollte alles leisten, sollte weit mehr sein, als nur ein Shopping Center, Southdale sollte eine Mall im ursprünglichen Wortsinn, eine Promenade,
Der Konsum Dritter Orte
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eine Allee, ein Spazierweg nach europäischem Vorbild sein. Und an Vorbildern hat es freilich nicht gemangelt: die Wiener Ringstraße, die Londoner Pall Mall, die Palmaille in Hamburg-Altona, und allem voran jene von Walter Benjamin so eindringlich beschriebenen Passagen und Durchgänge des 19. Jahrhunderts. Die Welt zu Fuß begehen, Städte und Siedlungen dem Menschen wiedergeben, eine kleinteilig gegliederte, sowohl funktionell als auch soziologisch integrierte, vom „Terror der Automobile“ befreite, lebenswerte und daher liebenswerte Stadt, das war die Vision Viktor Gruens. Einen tiefen emotionalen Schock habe er, Gruen, erlebt, als ihm erstmals gewahr wurde, was aus seinen Malls geworden sei. Zu „Einkaufsghettos“ und „gigantischen Einkaufsmaschinen” seien sie pervertiert. Trotz, nein, gerade durch den weltweiten Erfolg der Shopping Mall als Wirtschaftsprinzip, so scheint es, ist die soziale Utopie Gruens dem ökonomischen Kalkül zum Opfer gefallen: der Idealist Viktor Gruen und dessen Mall sind Ikonen des Kapitalismus wider Willen. „Victor Gruen invented the shopping mall in order to make America more like Vienna. He ended up making Vienna more like America.“ (Gladwell 2004)
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Dritte Orte
Viktor Gruens eingestandene Niederlage ist Ray Oldenburgs in vielen Fällen bereits Realität gewordene, aber immer noch abwendbare Schreckensvision. Was Gruen schaffen wollte, heißt das, läßt sich in aller Deutlichkeit an dem ablesen, was Ray Oldenburg (1999: xvii) bewahren will: „Third places“, Dritte Orte, das sind informelle, leicht zu erreichende, sozial integrierte und integrierende Orte. Diese Orte lassen sich weder der Familie noch der Arbeit, weder dem Staat noch der Ökonomie, weder dem Privaten noch dem Öffentlichen zuordnen. Dritte Orte, so Oldenburg, sind soziale Mixer und Separatoren, Bühnen, politische Foren, Büros und vieles mehr – und eines sind sie in aller Regel eben immer auch: Orte des Konsums, obwohl Oldenburg diesem Umstand nur wenig Beachtung schenken möchte. Oldenburg manövriert auf der Grundlage einer normativen Kategorie durch die Geschichte öffentlicher Versammlungsorte, und er tut dies in der Überzeugung, ja, aus der Überzeugung heraus, dritte Orte seien in ihrer Existenz gefährdet. Wie Gruen ist also auch Oldenburg (1999: X) auf einer Mission: „to promote the Great Good Places of society as much as analyze them”, darum geht es ihm. Denn Amerika hat ein Problem, und Europa hat mit seinen Kaffeehäusern, Bistros, Piazzas und Biergärten eine lange tradierte Lösung. Eben deswegen seien sich allen voran „[t]ransplanted Europeans“ dieses Problems durch und durch bewußt (vgl. Oldenburg 1999: 4). Es ist sicherlich kein Zufall, daß Oldenburg hier nun zunächst einmal Viktor Gruen in den Zeugenstand ruft:
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Guido Zurstiege „Victor Gruen and his wife have a large place in Los Angeles and a small one in Vienna. He finds that: ’In Los Angeles we are hesitant to leave our sheltered home in order to visit friends or to participate in cultural or entertainment events because every such outing involves a major investment of time and nervous strain in driving long distances. ... In Vienna, we are persuaded to go out often because we are within easy walking distance of two concert halls, the opera, a number of theatres, and a variety of restaurants, cafés, and shops.’“ (Gruen 1973, zit. n. Oldenburg 1999: 5)
Behaglichkeit, nicht Schnelligkeit, Unterhaltung, nicht Entertainment, Nähe, nicht Größe zeichnen Dritte Orte aus; authentisch sind sie, nicht geplant; persönlich, nicht anonym; keine formellen, sondern spontane Interaktionen und Begegnungen finden hier statt. Hier wird gemeinsam gelacht und gestritten, manchmal geht es auch rauh zur Sache. Dennoch herrscht an dritten Orten stets eine Atmosphäre der Brüderlichkeit: „Third places ... serve to level their guests to a condition of social equality.“ (Oldenburg 1999: 42) Wer in dieses nicht eben wenig sentimentale Panorama Oldenburgs eintaucht, wer dessen Beschreibungen deutscher Biergärten, englischer Pubs, französischer Bistros, Wiener Kaffeehäuser, italienischer Tavernen und dergleichen mehr liest, der hat rasch den Eindruck, einen jener nostalgischen Reiseführer in den Händen zu halten, verklärt, ein wenig naiv, eine Ode an den Kitsch vergangener Tage, Europa in den Augen Amerikas, gemütlich, zünftig, zum Wohle, salute. Mit dem Hinweis konfrontiert, daß nicht gerade alle Bierstüberl, Beisel und Cafés unserer und vergangener Tage derartige Great Good Places seien, kontert Oldenburg (1999: 84) unumwunden: „I would insist that any third place is pretty much as I’ve described it, or it is not a third place.“ Und spätestens hier offenbart sich nun das ganze Problem, gerät Oldenburgs Analyse die eigene Mission brachial in die Quere – third places, lassen sich mit einer solchen Kategorie überhaupt sinnvolle Beobachtungen anstellen? Ja, aber erst dann, wenn man Oldenburgs missionarischen Eifer begreift und kritisch hinterfragt. „Before industrialization, the first and second places were one. Industrialization separated the place of residence, removing productive work from the home and making it remote in distance, morality, and spirit from family life. What we now call the third place existed long before this separation, and so our term is a concession to the sweeping effects of the Industrial Revolution and its division of life into private and public spheres“.
So beschreibt Oldenburg (1999: 16) die Phylogenese dritter Orte. Dritte Orte sind keine Erfindung unserer Zeit, sie hat es immer schon gegeben. Wer mag, richte seinen Blick auf die athenische agora, den mittelalterlichen Markt oder die Salons und Caféhäuser des 18. Jahrhunderts. Oldenburg entscheidet sich indessen für einen historischen Kaiserschnitt und läßt die Phylogenese dritter Orte im
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19. Jahrhundert mit der einsetzenden Trennung zwischen dem Ort der Erwerbsarbeit und dem Ort des Familienlebens beginnen. Dritte Orte schieben sich zwischen diese beiden Sphären und nehmen in beide Richtungen als „neutral ground“ (Oldenburg 1999: 22f.) eine vermittelnde Position ein. Damit ist für Oldenburg nicht nur die Raumverteilung, sondern auch der Stellenwert erster, zweiter und dritter Orte im Gefüge seiner Geographie der Beziehungen definiert: „The Ranking of the three places corresponds with individual dependence upon them. We need a home even though we may not work, and most of us need to work more than we need to gather with our friends and neighbors.” Dritte Orte, so läßt sich Oldenburg verstehen, waren schon immer Orte der Vergesellschaftung; zwar haben sie in dieser Hinsicht nie ein Monopol besessen; dies nun aber freilich ebenso wenig wie die Familie oder die Arbeit. Dritte Orte fungieren als „neutral ground“, als soziale Schutzräume, als Sicherheitszonen, und eben dies macht sie zu so wichtigen Vergesellschaftungsinstanzen.
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Erzählmaschinen
Es läßt sich wohl ohne größere Übertreibung feststellen, daß Gruen gemessen an den eigenen Zielvorgaben, gemessen auch an Oldenburgs nostalgischem Panorama historisch „gewachsener“ Dritter Orte (zumindest in finanzieller Hinsicht erfolgreich) gescheitert ist. Gruen ging es, wie gesagt, um nicht weniger als um die Rettung des urbanen Lebens in Amerika. Southdale Center war die Innenstadt von Minneapolis. Bei genauerem Hinsehen verhält es sich freilich ein wenig anders. Denn Gruens Shopping Malls stellen das Verhältnis zwischen Geographie und Handlung gewissermaßen auf den Kopf; sie sind Heterotopien im Sinne Foucaults, Vorstellungen von einem Raum, die sich an einem nicht vorgesehenen Ort manifestieren.2 Der Handel spielt sich im Falle der Shopping Mall nicht in der Stadt ab, vielmehr spielt sich die Stadt als Inszenierung innerhalb der Mall ab. Und genau aus diesem Grund kann man sich an diesen Orten ja auch durch unmögliche Geographien bewegen. Aldo Legnaro und Almut Birenheide (2005: 38) haben in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Stätten der späten Moderne“ die so entstehenden Geographien ebenso zutreffend wie prägnant als „Wirklichkeits-Landschaften“ bezeichnet. Eigentümlicherweise war ja schon Gruens Vorbild, die Wiener Ringstraße, eine solche Wirklichkeits-Landschaft. Und ebenso wird in Gruens Einkaufszentren mit vorgefertigten Elementen aus dem Bereich dessen, was wir als alltägliche, als wirkliche Wirklichkeit begreifen, ein Spiel getrieben, wird all dies neu montiert und arrangiert. So lädt etwa 2
Vgl. Foucault (1990: 38) sowie Schwarzenegger in diesem Band.
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Guido Zurstiege
die größte Shopping Mall der Welt, die West Edmonton Mall in Kanada, ihre Gäste zu einer abenteuerlichen Reise auf den „Europa Boulevard“ ein: „Imagine yourself on a European adventure as you take in the sites along the unique and beautiful street, fashioned after those found in various European cities.“3 Die entscheidende Passage lautet, daß hier die Sehenswürdigkeiten aus verschiedenen europäischen Städten auf nur einem Boulevard zu bestaunen sind. Der Referenz-Modus, auf dessen Grundlage hier Geographie verfügbar gemacht wird, ist wichtig, weil er nicht nur die Geographie in Beschlag nimmt, sondern auch jene sozialen Beziehungen, um deren Gestaltung es Gruen ganz wesentlich ging. Eine der wichtigsten Beziehungs-Ebenen ist hier das Verhältnis zwischen der anonymen Industrie auf der einen Seite und den Konsumenten auf der anderen Seite. In diesem Beziehungsverhältnis, so lautete Gruens Annahme, übernimmt der Kaufmann seit jeher die Funktion einer vermittelnden Instanz. Vermittlung heißt: Der Kaufmann hilft dem Kunden, sich im Angebot zu orientieren, und er tut dies durch Beratung und auf der Grundlage des Vertrauens, das wir bereit sind, ihm zu gewähren, nicht zuletzt weil wir ihn kennen – Kundschaft kommt von Bekanntschaft. In welcher Gestalt begegnet uns der Kaufmann nun in Gruens Mall tatsächlich? Auntie Anne's Pretzels, Ben & Jerry's Ice Cream, Elizabeth Arden Red Door Salon, Gloria Jean's Gourmet Coffees – so und so ähnlich heißen Gruens „Kaufleute“ heute im Southdale Center, nur von Auntie Anne selbst, von Ben und Jerry, von Elizabeth und Gloria ist weit und breit keine Spur, denn sie begegnen uns nicht als leibhaftige, sondern lediglich als juristische Personen. Es ist auffällig, daß uns diese für Gruen so zentrale Beziehung zwischen Kaufmann und Konsument in der Mall genauso wie die Geographie nur mehr in Form von Verweisen begegnet. Es ist auffällig, daß fast alle der hier genannten Kaufleute ihre Mitarbeiter uniformieren. Paradoxer Weise ist es eben diese Uniformierung des einzelnen Mitarbeiters, durch die das Unternehmen, die Firma, der Kaufmann erst ein Gesicht bekommen. Es ist auffällig, daß überall hier geradezu notorisch der Mitarbeiter des Monats gewählt wird. Obwohl wir diesen Mitarbeiter in aller Regel nie zu Gesicht bekommen, ist es doch irgendwie beruhigend zu wissen, daß Ben und Jerry zumindest einen Mitarbeiter beschäftigen, der hier länger als einen Monat arbeitet. Es ist auffällig, daß uns an diesen Orten Medienangebote in Hülle und Fülle begegnen. Um hier einen weiteren ebenso passenden wie schönen Begriff von Legnaro/Birenheide zu nennen: Man kann sagen, daß Gruens Einkaufszentren wahre „Erzählmaschinen“ sind. Dabei lassen sich im wesentlichen drei Typen von Medienangeboten unterscheiden, die diese „Erzählmaschinen“ antreiben. Dies sind einmal jene Medienangebote, die von einer global operierenden Medi3
Quelle: http://www.westedmall.com.
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en-Industrie ohne Unterlaß miteinander verwoben werden und die Besucher in spektakuläre Wunscherfüllungs-, Verwandlungs- und Veränderungsgeschichten verstricken (vgl. Legnaro/Birenheide 2005: 41). Diese Medienangebote sollen die Besucher der Einkaufszentren in eine konsumfreudige Stimmung versetzen. Daneben besteht eine nicht eben unwesentliche Funktion dieser Medienangebote darin, von jenen wechselseitigen Kommunikationszumutungen zu entlasten, die typisch sind für öffentliche Orte, an denen sich Menschen begegnen, die sich nicht kennen: Was machen Menschen unterwegs, in Zügen, U-Bahnen, Flugzeugen oder Wartezimmern? Sie lesen Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher, sie hören Musik, schauen auf Monitore oder an die Decke. Und mit all dem bleibt ihnen erspart, wovon bereits Simmel (1992 [1908]) sprach: anonyme Intimität. Medienangebote begegnen uns an diesen Orten, wie gesagt, aber noch in einer weiteren Gestalt. Gruens Einkaufszentren wollen zwar durch ihr Angebot und ihre schiere Größe überwältigen – aber nicht verwirren. Und sie sind deswegen auf Medienangebote angewiesen, die uns diese Orte in Form von Vorschriften, Verboten oder Informationen darbieten und dadurch definieren. Die hohen Erwartungen, die Gruen an den Handel richtete, sind gleich zweimal an den Tatsachen gescheitert: Nicht nur hatte Gruen die Durchsetzungskraft seiner Investoren ebenso unterschätzt wie die Anziehungskraft des Handels, überdies hatte er verkannt, daß der Händler unter den Bedingungen konsequent durchrationalisierter Produktionsabläufe sein Gesicht grundlegend verändert hatte. Dies lag nicht zuletzt daran, daß längst bevor Gruen anfing, den Handel als Mittler zwischen der industriellen Massenproduktion auf der einen und dem Massenkonsum auf der anderen Seite wiederzubeleben, eine andere gesellschaftliche Institution ihre Leistungsfähigkeit in dieser Hinsicht bereits mehr als deutlich unter Beweis gestellt und dadurch Maßstäbe gesetzt hatte: die Werbung! Maßstäbe hatte sie gesetzt, indem sie sich von Anfang an, wie Siegfried J. Schmidt einmal zutreffend bemerkt hat, als ein Prototyp referentieller Indifferenz erwies. Maßstäbe hatte sie gesetzt, weil sie ab einem bestimmten Zeitpunkt anfing, ihren Betrachtern spezifische Beziehungsangebote zu unterbreiten. Maßstäbe hatte sie gesetzt, weil sie ihren Betrachtern von einem bestimmten Zeitpunkt an systematisch nahe legte, sich mit den „großen Fragen“ zu beschäftigen. Und damit sind genug Stichworte gefallen, um in die zweite Geschichte einzusteigen, in die Geschichte Ernst Dichters.
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The Hidden Persuader oder die Seele der Dinge
Ernst Dichter war wie Gruen kommerziell überaus erfolgreich, anders als dieser jedoch ohne Reue. Zwar finden sich in seinen Memoiren immer wieder Hinweise
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auf das angekratzte Selbstbewußtsein jenes rothaarigen Jungen aus Wien, der in ärmlichsten Verhältnissen groß wurde – nur, so recht glauben will man (ihm) nicht, daß daraus ein tiefsitzender Zweifel erwachsen wäre. Dichter, der Selbstdarsteller: Nicht Selbstkritik relativiert das Lebenswerk dieses Mannes am Ende, so wie bei Gruen, im Gegenteil, Kritik machte ihn groß. Gemeint ist allem voran die Kritik Vance Packards (1964 [1957]) an den Methoden der „Tiefenheinis“ im Allgemeinen und Ernst, Ernest, Dichters im Besonderen. „’It’s terrible what you’re doing ... how much does it cost?’“ (zit. nach Norris 1984: 34) – so faßt Dichter die vielen telefonischen Anfragen zusammen, die er im Anschluß an die Publikation von Packards „The Hidden Persuaders“ erhielt. „Thank you Mr. Packard.“ Packards angsterregende Kritik zeigte Dichters Zeitgenossen genau das, was sie schon immer befürchtet hatten, während sie Dichter genau die richtigen Argumente an die Hand gab, die er brauchte, um seinen Kunden das zu vermitteln, was sie schon immer gehofft hatten: Werbung wirkt! Auf Dichter trifft ohne Abstriche zu, was Lars Clausen einmal mit Blick auf das Verhältnis zwischen der Werbung und ihren Kunden festgestellt hat. „Die soziale Schwierigkeit des kontrollierenden Werbungtreibenden“, so Clausen (1970: 110f.), „besteht darin, daß er gerade jene Fachleute aus seinem direkten Herrschaftsbereich ausgegliedert hat, die sich seiner Kontrolle am ehesten entziehen können, weil sie die Fachleute der Selbstrechtfertigung sind“, und Dichter war ohne Zweifel ein Meister der Selbstrechtfertigung. Im Alter von 23 Jahren beginnt Dichter an der Universität Wien nach einer Ausbildung als Verkäufer und Schaufensterdekorateur zunächst ein literaturwissenschaftliches Studium. Bald studierte er jedoch bei Karl und Charlotte Bühler Psychologie und wurde Mitarbeiter der von Paul Lazarsfeld geleiteten „Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“. Kurz nach dem Ende seines Studiums eröffnet er eine eigene psychoanalytische Praxis, in der Berggasse, Nr. 20 – visà-vis Siegmund Freuds. Man könnte sagen: Während auf der einen Seite der Berggasse (in der Nr. 19) daran gearbeitet wurde, Wiederholungszwänge, Abwehrmechanismen und infantile Regression ins Bewußtsein zu holen und dadurch abzubauen, wurde auf der gegenüberliegenden Straßenseite (in der Nr. 20) bereits der Grundstein dafür gelegt, all dies ins Bewußtsein der Werbetreibenden zu holen, um es der breiten Masse der Konsumenten zu ermöglichen, Wiederholungszwänge, Abwehrmechanismen und infantile Regression im verklärten Konsum weiter zu sublimieren. Der amerikanische Werbehistoriker Roland Marchand (1986: 116) hat einmal mit Blick auf die Geschichte der amerikanischen Werbung festgestellt: „In serving the cause of modernity, American Advertising modernized its techniques. Ironically it did so by responding to some of the most archaic qualities of a seemingly unsophisticated, emotional, intimacy-hungry public.” Und Dichter
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war ohne Zweifel, wenn auch nicht der erste, einer der bekanntesten Protagonisten dieser Entwicklung. Dichter wurde in eine Zeit hineingeboren, in der die Werbung als Mittel der Marktbearbeitung kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hatte und daher in zunehmendem Maße wissenschaftliche Expertise gefragt war. Als die letzte Stufe eines durch und durch rationalisierten Produktionsprozesses mußte die Werbung wie jene kapitalintensive und daher risikoreiche Massenproduktion, die sie ermöglichte, zu einer kalkulierbaren Produktions-Technik werden. Dies ist nicht nur die Geburtsstunde der modernen Wirtschaftswerbung, sondern auch die Geburtsstunde der akademischen Werbeforschung, auf deren Grundlage sich allmählich ein professionelles Selbstbewußtsein der Werbe-Praxis ausbilden konnte. Freilich war Dichter nicht der erste, der hier wissenschaftliche Expertise nachweisen konnte. Schon im Jahr 1917 hatte Karl Bücher in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft einen wissenschaftlichen Aufsatz über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Reklame veröffentlicht, in dem er bereits vor den vielen „vermeintlichen“ Reklame-Experten jener Zeit warnte. Etliche Jahre zuvor hatte der Wiener Ökonom und Sozialpolitiker Viktor Mataja die erste wirtschaftswissenschaftliche Werbemonographie in deutscher Sprache publiziert, und wiederum einige Jahre zuvor hatte der amerikanische Psychologe Walter Dill Scott (1903) systematisch psychologische Theorien und Methoden auf werbepraktische Probleme angewandt. All diese frühen Beiträge spiegeln ein gestiegenes Interesse an der fachlichen Hebung der Reklame wider, die durch ähnlich lautende Forderungen nach einer sittlichen und ästhetischen Hebung begleitet wurden (vgl. bereits Mataja 1913). In jener Zeit warnten vor allem bürgerliche Initiativen zum Wohle des Denkmalschutzes und der Heimatpflege vor der zunehmenden Verunstaltung des Orts- und Landschaftsbildes durch übermäßige Plakatierung (vgl. Lindner 1913; Spiekermann 1995: 128). Immer deutlicher artikulierte und organisierte sich scharfe Kritik an der „Schilderpest“ und „Werbeflut“, an den zahllosen Plakatanschlägen, Hinweistafeln und Leuchtreklamen, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu den Insignien der modernen Großstadt zählen. Immer deutlicher werden aber auch gehobene Ansprüche an die Ästhetik und Professionalität der Werbung gestellt (vgl. bereits v. Oechelhaeufer 1914: 3). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts finden in den Kunstgewerbemuseen in Hamburg (1893), Berlin (1895) oder Düsseldorf (1897) die ersten PlakatAusstellungen statt, kurz nach der Jahrhundertwende werden in Berlin der Verein Berliner Reklamefachleute (1903, ab 1908: Verein Deutscher Reklamefachleute) sowie der Verein der Plakatfreunde (1905) gegründet. All dies sind Symptome einer veränderten Einstellung gegenüber der Werbung. Die Werbung jener Zeit, so werden diese Entwicklungen oft zusammenfassend kommentiert, wollte sich
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eben nicht mehr als marktschreierische Reklame verstanden wissen, sondern entwickelte zunehmend Selbstbewußtsein. Die fachliche, sittliche und ästhetische Hebung der Reklame: Dies alles war bereits seit geraumer Zeit in vollem Gange, als Ernst Dichter auf den Plan trat. Es läßt sich daher nur schwerlich behaupten, hierin hätte Dichters wichtigster Beitrag gelegen: in der Professionalisierung der Werbung und ihrer Forschung. Dies läßt sich um so weniger behaupten, als Dichter im strengen Sinn keinen wissenschaftlich fundierten Beitrag zu einer Werbeforschung in spe geleistet hat. Sowohl in methodischer als auch theoretischer Hinsicht lassen seine Beobachtungen vieles zu Wünschen übrig. Er selbst bezeichnete sich gerne als Kulturanthropologen, hatte indessen nur wenige der einschlägigen kulturanthropologischen Theorien seiner Zeit zitiert und, so muß man annehmen, rezipiert. Dichters Anspielungen auf Freud bleiben anekdotisch, seine Methoden unklar. Was also machte Dichter in seiner Zeit, was macht ihn in unserer Zeit zu einer so wichtigen Figur? In mancher Hinsicht ist hier der Vergleich mit einem Zeitgenossen Dichters hilfreich, dem enfant terrible der Medien- und Kommunikationsforschung: Marshall McLuhan, ein Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe, wie Dichter, der behauptete, kein einziger Gedanke Platons sei so bedeutend gewesen wie die einfache Tatsache, daß wir alle die gleiche Druckausgabe der Politeia lesen. Das hatte gesessen. McLuhan, der Provokateur und Medien-Star, der, so sagte er einmal von sich selbst in einem Brief an Walter J. Ong, möglichst laut, „with the maximum amount of noise“ (1987 [1946]: 187), nicht nur über die Medien reflektierte, sondern auch sich selbst in den Medien inszenierte, ein Medium-Theoretiker, der assoziative Textgebilde, Mosaike, Kompositionen, Essays, Collagen aus Slogans, Berichten und Zitaten verfaßte – McLuhan, ein Wissenschaftler? Sein „the medium is the message” präsentiert sich in der Hall of Fame der populären Kultur gleich neben Andy Warhol's Marilyn prints – und eben nur einen Schritt weiter begegnet uns so manches Ausstellungsstück Ernst Dichters, wenn auch das copyright inzwischen stark verblaßt ist. „Pack den Tiger in den Tank!“ Wie McLuhan war auch Dichter ein Star, wie dieser produzierte auch Dichter jede Menge Lärm – um nichts? Warum hatte der Ford-Edsel keinen Erfolg auf dem amerikanischen Markt? Dichter (1977: 197): „Die Mißachtung der sexuellen Symbolik beim Auto führte zu einem Fiasko von ½ Mrd. $.” Warum interessieren sich Männer und Kinder stärker für Frankfurter Würstchen als Frauen? Dichter (1977: 198): „Es geschieht nicht, wie Sie [Sie, lieber Leser und liebe Leserin; G.Z.] zunächst annehmen würden, aus sexuellen Gründen, sondern die Frauen fühlten sich schuldig. Schuldig, weil das Servieren von Würstchen von einer guten Hausfrau vielleicht mit Recht als Faulheit angesehen wurde.” Warum tragen Männer Bügelfalten in ihren Hosen? Dichter (1977: 200): „Der Mann bekommt in einer übertragenen Weise das Gefühl, sehr männliche Beine
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zu haben, oder wenn Sie meine Analysen schon besser verstehen, das Gefühl einer Erektion.” Was stellen wir mit solchen Beobachtungen an? Und noch einmal: Was macht Dichter zu einer so wichtigen Figur? Ganz sicher verbindet Dichter mit McLuhan neben vielem anderen auch dies: daß er es geschafft hat, eine grundsätzlich neue Perspektive, ein neues Thema, eine neue Frage einzuführen und, mehr noch, prominent zu machen. Konsumgüter, so Dichter, sind zentrale Artefakte unserer Kultur und tragen Bedeutungen. Neu und bahnbrechend ist diese Erkenntnis für sich freilich bereits in Dichters Zeit schon nicht mehr. Gegen Ende der dreißiger Jahre unterschied Wilhelm Vershofen zwischen dem stofflich-technischen und dem psychologischen Nutzen von Produkten – eine Unterscheidung, die ja bis heute eine gewisse, wenn auch nicht ganz unumstrittene Prominenz besitzt. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen (1997 [1899]) auf den Zusammenhang zwischen ostentativem Konsum (conspicuous consumption) und der Zurschaustellung von sozialem Status hingewiesen. Vom Fetischcharakter der Ware, von ihren metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken ist bekanntlich schon rund dreißig Jahre zuvor die Rede gewesen (vgl. Marx 1867) – daß uns die Waren, mit denen wir uns umgeben, etwas bedeuten, und welche Ursachen diese Bedeutungszuschreibungen haben, heißt das, darüber wurde bereits gegen Endes des 19. Jahrhunderts angeregt diskutiert. Dies wäre für sich in der Tat keine bahnbrechende Entdeckung Ernst Dichters – hätte er sich vordringlich mit diesen Fragen befaßt. Dichter hat die Einsicht prominent gemacht, daß uns scheinbar triviale Dinge wie Hosen mit Bügelfalten, Frankfurter Würstchen, Automobile sowie deren Treibstoffe, Seifen und vieles mehr viel mehr bedeuten als geahnt. Dadurch, und dies ist seine eigentliche Leistung, hat er den Grundstein für eine ganze Forschungs-Industrie gelegt, die sich ausschließlich mit der Frage befaßt, was uns diese scheinbar trivialen Dinge bedeuten. „Die Dinge haben eine Seele“, sagt Dichter (1964 [1961]: 89f.), und weiter: „Menschen auf der einen Seite und Waren, Güter und Gegenstände auf der anderen unterhalten eine dynamische Verbindung ständiger Wechselwirkungen.“ Seitdem spüren ganze Heerscharen von Markt- und Meinungsforschern eben diesen Prozessen der Bedeutungszuschreibung nach. Was bedeutet uns (Deutschen) das Auto? Was empfinden wir (Männer) beim Kauf eines Rasierers? Kompensieren Zigaretten eine mißglückte orale Phase? Macht Luxus schuldig? Ist Geiz geil? Sind Diamanten Liebe? Man muß nicht vorbehaltlos einverstanden sein mit den Antworten auf diese Fragen; in der Tat fällt es in nicht eben wenigen Fällen schwer, sehr schwer, den Tiefenanalysen der Konsumenten- und Warenpsychologie zu folgen. Dennoch liegt hier ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des modernen Konsums, dessen erster „Guru“ und „Hohepriester“ Ernst Dichter war (vgl. Gries 2005).
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Praxisorientierte Tiefenanalysen und populäre Dichter-Adaptionen, die, wie bereits angedeutet, inzwischen weitgehend ohne Verweis auf den wohl einflußreichsten Begründer der Motivforschung, Ernst Dichter, auskommen, begnügen sich in aller Regel mit mehr oder weniger spektakulären Innenansichten aus dem Leben der Konsumenten. Analysen dieser Art, damit hatte schon Dichter spekuliert, besitzen freilich einen gewissen Nachrichtenwert, jedoch verstellen sie den Blick auf einen wichtigen Zusammenhang. Wer Menschen nach ihren Konsumgewohnheiten befragt, wer, wie Dichter, dabei in die Tiefe geht, nach signifikanten Bedeutungszuweisungen fahndet, unterschwellige Beziehungsmuster oder libidinöse Zuschreibungen freizulegen versucht, wer Menschen bei der Suche nach Glück oder der Verarbeitung von Schuld beobachtet, der wird immer fündig. Menschen sind notorische Sinnstifter, und dieses überaus menschliche Talent macht bekanntlich vor nichts und niemandem halt. Indessen begnügen sich populäre Dichter-Adaptionen nur zu schnell mit dem spektakulären Befund, was uns die käuflichen Dinge des Lebens möglicherweise bedeuten. Wer bin ich? Wer will ich sein? Was ist Glück? Wer oder was macht mich glücklich? Was ist Liebe? Was kann ich tun? – die großen Fragen, Fragen, auf die es keine endgültigen Antworten gibt, und die genau deshalb immer wieder gestellt und vorläufig beantwortet werden können und müssen, Fragen, die sich auch im Konsum stellen, ja, das hat Dichter gezeigt. Aber ebenso wichtig wie dies ist aus Sicht des strategischen Interesses die Tatsache, daß sich uns im Konsum allem voran diese und nicht andere Fragen stellen. Autos bedeuten zunächst einmal eben so viel wie Hosen mit oder ohne Bügelfalten, eben so viel wie Wiener oder Frankfurter Würstchen, Sekt oder Selters – gar nichts. Sie werden zu Bedeutungsträgern erst durch Bedeutungszuschreibungen und können daher alles Mögliche bedeuten. Aus Sicht des strategischen Interesses üben indessen die großen Fragen eine solche Faszination aus, eben weil sie strukturell unbeantwortbar und unlösbar sind und weil sich etwaige Konsumversprechen durch die Kopplung an diese Fragen jedweder Verifikation entziehen: „Das Begehren des Menschen zielt immer auf etwas, das nicht benennbar ist. Und deshalb muß man kaufen und kaufen und kaufen.“ (Bolz 2002: 99) In der frühen werbepsychologischen Forschung ging es ganz wesentlich um Fragen der Aufmerksamkeit und der Erinnerung, es ging um die optimale Gestaltung von Werbemitteln und die Prognose von Wirkungschancen. Dichter ging es indessen um etwas anderes, um eine andere Werbepsychologie. Es ging ihm um die Gestaltung von Beziehungen. Nicht die Psychologie der Aufmerksamkeit oder der Erinnerung, nicht der experimentelle Test von Wirkungschancen interessierte Dichter, nicht alleine die Frage, was Menschen mit Waren, Gütern und Gegenständen anstellen, sondern, wie sie miteinander interagieren, darum ging es Dichter – und dies hat Dichter zugespitzt formuliert und dadurch prominent
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gemacht: Es ging ihm um den psychologischen Bedarf der Menschen auf der einen Seite und um die „Seele“ der Dinge auf der anderen. Es ist natürlich ein großer Zufall, daß sich ausgerechnet im Geburtsjahr Viktor Gruens, 1903, eine Art Seelenwanderung andeutet, und diese Seelenwanderung ist der springende Punkt, an dem sich die unterschiedlichen Strategien, mit denen Viktor Gruen und Ernst Dichter das gleiche Ziel zu erreichen versuchten, buchstäblich in die Quere kommen. Beiden ging es um die Frage, wie sich anonyme Industrie und Konsumenten vermitteln lassen. Dichter befaßt sich zu diesem Zweck mit dem psychologischen Bedarf der Menschen und mit der Seele der Dinge, Gruen setzte seine Hoffnungen auf den Händler als vermittelnde Instanz. Aber schon früh zeichnete sich ab, daß sich die Rolle des Händlers unter dem Einfluß der Werbung massiv verändern sollte – und an dieser Metamorphose ist Gruens Arbeit als sozialpolitisch ambitionierter Architekt gescheitert, während sie die Geschäftsgrundlage Dichters Motivforschung darstellte: 1903 weist der bereits erwähnte Walter Dill Scott (1903: 87) mit Blick auf die in seiner Zeit neuen Antwort-Kupons in gedruckten Werbe-Anzeigen darauf hin: „[T]he return coupon supplements or takes the place of a traveling salesman. It presents itself to the possible customer, and all he has to do is to fill out and return it, and the goods are forthcoming.“ Rund 60 Jahre später stellt Ernest Zahn (1961: 86) kurz und bündig fest: „In der organisierten Anwendung reklamepsychologischer Techniken liegt ganz wesentlich die Rationalisierung des Absatzwesens, was schließlich zu einer rapiden ‚Entpersonalisierung’ des Verkaufs führen wird.“ Diese Feststellung ist ohne Zweifel richtig, verdeckt aber die Tatsache, daß die Werbung nicht nur den Handel weiter entpersonalisierte, sondern darüber hinaus, und das ist das Erfolgsrezept der Werbung, Kompensation in Aussicht stellte. Mit der Erfindung der Marke gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschärft sich diese Entwicklung, gründete sich das Vertrauen der Konsumenten immer weniger auf die Kompetenz und die Erfahrung des Kaufmanns als vielmehr auf die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft von Markenbiografien, an deren Ausformulierung immer stärker die Werbung beteiligt war. Und genau dieses Projekt hat Dichter vorangetrieben. „Alle Gegenstände, die uns umgeben, haben ihre eigenen Seelen, haben menschliche Qualitäten, denn sie existieren ja nur in der menschlichen Welt. Es gibt keine Gegenstände, die der Mensch nicht erfühlt, sie sind nicht roh und gefühllos. In dem Augenblick, wo Möbel, Häuser, Autos, Fahrräder, Brot und andere Waren in unserem Leben auftauchen, werden sie uns verwandt, werden sie menschlich.“ (Dichter 1964 [1961]: 96)
Ob Dinge tatsächlich eine Seele haben oder nicht, ist dabei völlig irrelevant. Nicht auf die Ontologie dieser Zuschreibung, sondern auf ihre Funktionalität kommt es an. Und bereits ein flüchtiger Blick in die Regale der Shoppingzone zeigt, wie
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mächtig zumindest der Glaube an die Funktionalität von Anthropomorphismen ist: Frau Antje (Holländischer Käse); Klementine (Ariel); Dr. Best (Dr. Best); Claudia Bertani (Kirschen-Expertin) (Mon Chérie); Baron Rocher (Rocher); Peter von Frosta (Frosta); Herr (Günter) Kaiser (Hamburg-Mannheimer); Bruno (HB); Bibendum (Michelin); Mortimer (After Eight); Hubba und Bubba (Hubba-Bubba); Käpt’n Iglo (Iglo); Frau (Karin) Sommer (Jacobs); Maître Chocolatier (Lindt); Red, Green, Yellow (M&Ms); Ronald McDonald (McDonald’s); Meister Proper (Meister Proper); Angelo (Nescafé); Tilly (Palmolive); Lurchi (Salamander); Robert T. Online (Telekom); Weißer Riese (Weißer Riese). Kein Wunder, daß auch der gesamte Werbe- und Markendiskurs geradezu durchzogen ist von Anthropomorphismen, die freilich in aller Regel nicht hinterfragt werden. Wohin man schaut: Die Marke wird als „Wesen“ bezeichnet, sie hat ein „Leben“, ein „Schicksal“, eine „Identität“ und eine „Persönlichkeit“ – und genau dies ist die Voraussetzung dafür, daß Menschen und Waren, wie Dichter lautstark verkündete, miteinander interagieren können. Wie gesagt, nicht die Ontologie, sondern die Funktionalität dieser Zuschreibung ist hier ausschlaggebend – Dichter vermarktete freilich beides, die Ontologie und die Funktionalität: Darin besteht Dichters Beitrag, gezeigt zu haben, welche tiefgründigen Bedeutungszuweisungen unseren Konsumentscheidungen zu Grunde liegen (können) und daß sich diese Bedeutungszuschreibungen antizipieren, lancieren und instrumentalisieren lassen. Der Konsum und die Produktion nicht nur der Waren, sondern auch der Konsum und die Produktion der mit ihnen assoziierten Bedeutungen sind Elemente eines Wirkungszusammenhangs. Der „Charakterkern“ lukrativer Zielgruppen, ihr Bedarf, aber allem voran ihre Ängste und Sorgen, ihre Hoffnungen, Wünsche und Bedürfnisse, ihr „psychologischer Bedarf“ (Dichter) werden erforscht, um all dies in Gestalt massenhaft produzierter Produktpersönlichkeiten wieder auf den Markt zu werfen. Unter diesen Bedingungen gelingt der Konkurrenz auf dem freien Markt, wie Georg Simmel (1992: 328) bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts treffend beobachtet hat, „was sonst nur der Liebe gelingt: das Ausspähen der innersten Wünsche eines Andern, bevor sie ihm noch selbst bewußt geworden sind.“ Kein Wunder, daß Dichter, wie Gruen, mit nicht eben wenig pädagogischem Impetus auftrat. „Ich bin überzeugt“, so Dichter (1964 [1961]: 177f.), „daß die Methoden der Überredung, ja unser ganzes ‚Stellwerk’ menschlicher Wünsche sich nutzbringend anwenden lassen, um die Konflikte eines Tages annehmbar zu schlichten“; die Motivforschung, so Dichter, leiste einen Beitrag zur „Entfaltung und … Geburt des Menschen“. Die Geburt des Menschen: Damit hat Dichter der Motivforschung ebenso wie in der Folge der Werbung mit Blick auf die Menschwerdung des Konsumenten wohl zuviel zugemutet – mit Blick auf die Rolle der Motivforschung im Gefüge der industriellen Massenproduktion indessen hätte Dichter hier gar nicht
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so bescheiden sein müssen. Denn nicht nur einem, sondern gleich zwei Menschen hat Dichter buchstäblich zum Leben verholfen: dem mit den Mitteln der Motivforschung durchleuchteten Konsumenten sowie der mit den gleichen Mitteln durchleuchteten Produktpersönlichkeit.
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Apologeten des Dazwischen
Ernst Dichter und Viktor Gruen, beide auf einer Mission, der eine erfolgreich, der andere erfolgreich gescheitert. Beide, man könnte sagen, Apologeten des Dazwischen. Gruen entwirft seine Vision von einer besseren Stadt zwischen Amerika und Europa, eine Vision, die im Rückgriff auf städtebauliche Errungenschaften des 19. Jahrhunderts das Leben im 20. Jahrhundert lebenswerter machen sollte. Für ihn ist dabei der Einzelhandel prädestiniert, entscheidende Beiträge zur Gestaltung lebenswerter Städte zu leisten, weil er historisch stets eine Vermittlerrolle zwischen Mensch und Produkt eingenommen habe: „Der Laden“, so Gruen (1973: 29), „bietet Gelegenheit zur direkten Begegnung zwischen Massenproduktionsgesellschaft und Individuum. ... So repräsentiert der Kaufmann den Mittler zwischen der anonymen Industrie und individuellen Wünschen, Geschmacksrichtungen, ja sogar Stimmungen.“ Handel und Konsum sind der Kitt, der das Nebeneinander unterschiedlicher Funktionen an Ort und Stelle attraktiv macht und wirtschaftlich ermöglicht. Dichter, auch er in gewisser Weise ein Apologet des Dazwischen, freilich in einem anderen Sinn als Gruen. „Stellen wir die Motivforschung in unserem derzeitigen Wirtschaftssystem auf den richtigen Platz“, so Dichter (1964 [1961]: 279), „schlägt sie die Brücke zwischen Verbraucher und Hersteller.“ Die Ware und die mit ihr assoziierten Bedeutungen, der Waren- und Bedeutungskonsum sind äußerer Ausdruck eines tief verwurzelten inneren Begehrens und befinden sich dabei im Hoheitsbereich zweier Akteure, der Konsumenten auf der einen Seite und der Produzenten auf der anderen. Gruen und Dichter geht es um die Organisation von Beziehungen im/durch Konsum; Gruen organisierte kollektive Orte, Dichter ergründete und instrumentalisierte das individuelle Begehren ebenso wie die „Seele“ der Dinge. Gruen sah Anlaß genug, sich eingestehen zu müssen, Orte geschaffen zu haben, die zwar im Bereich des Konsums klar definierte Handlungsspielräume eröffneten, ökonomischen Imperativen folgend jedoch rasch zu gigantischen „Verkaufsmaschinen“ verkümmerten. Diese Orte entsprachen so gar nicht seiner Vision von einer lebenswerten (Einkaufs-)Stadt, sondern eher jenen Orten, über die Marc Augé (1994: 130f.) geurteilt hat, sie seien Nicht-Orte, das Gegenteil von Gruens Utopie, Orte, die keine organische Gemeinschaft zu beheimaten im Stande seien. Daran kranken Gruens Malls – so oder ähnlich lautet die Diagnose.
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Indem Dichter versprach, nicht nur tiefe Einblicke in die menschliche Seele, sondern ebenso tiefe Einblicke in die „Seele“ von Produktpersönlichkeiten zu liefern, legte er damit eben nicht nur eine vermeintlich raffinierte Beeinflussungsstrategie vor, sondern professionalisierte eine „Therapie-Form“, die jenen Mangel an traditionellen Beziehungen kompensierte, ohne den von Massenproduktion und Massenkonsum nicht die Rede sein könnte. Was wäre passiert, wären sich Gruen und Dichter begegnet? Vielleicht hätte Gruen nie begonnen, seine Malls zu planen, geschweige denn zu bauen. Vielleicht hätte aber auch Dichter Gruen geholfen, jenen emotionalen Schock besser zu verkraften, den er im Angesicht seiner Einkaufsmaschinen empfunden hatte. Jene Beziehung zwischen Händler und Kunde, die Gruen wiederbeleben wollte, waren ja schon angebahnt, längst bevor sich die Menschen in Gruens Malls begaben – und dies eben nicht zuletzt dank Dichter.
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Nicht-Orte
Wie Gruens Malls sind auch Oldenburgs Dritte Orte in aller Regel Konsum-Orte, und dennoch: Folgt man Oldenburg (1999: 11), dann scheint der Konsum hier ähnlich wie bei Gruen nur eine untergeordnete, eine den Hauptzweck allenfalls alimentierende Rolle zu spielen – und mehr noch: „the development of an informal public life depends upon people finding and enjoying one another outside the cash nexus.“ Dort also, wo Handel und Konsum Überhand nehmen, dort, wo die Ökonomie triumphiert, ist die Vision Gruens, sind die Dritten Orte Oldenburgs, ist mit all dem das Individuum am Ende: „Where once there were places, we now find nonplaces. In real places the human being is a person. He or she is an individual, unique and possessing a character. In nonplaces, individuality disappears. In nonplaces, character is irrelevant and one is only a customer or shopper, client or patient, a body to be seated, an address to be billed, a car to be parked. In nonplaces one cannot be an individual or become one, for one´s individuality is not only irrelevant, it also gets in the way. Toby’s Diner”, sagt Oldenburg, „was a place. The Wonder Whopper, which stands there now, is a nonplace.“ (Oldenburg 1999: 205)
Die Demarkationslinie zwischen Drittem Ort und Nicht-Ort, zwischen Toby´s Diner und Wonder Whopper, verläuft mitten durch die Registrierkasse hindurch, in der nicht nur die laufenden Einkünfte des Tages, sondern auch die planungsrelevanten Konsummuster der Kunden gesichert werden. Oldenburgs Dritten Orten und den so genannten Nicht-Orten ist gemeinsam, daß sie klar definierte Wahrnehmungs- und Handlungsspielräume eröffnen, an-
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ders als Oldenburgs Dritte Orte sind Nicht-Orte jedoch durch die zeitliche, sachliche und soziale Standardisierung der Inszenierung und die Anonymität sozialer Beziehungen gekennzeichnet sind. Die schlimmsten Befürchtungen Oldenburgs, die belastendste Selbstkritik Gruens: Im Wonder Whopper sind sie Realität geworden. Offensichtlich haben sich die Verhältnisse an Dritten Orten grundlegend verändert, seitdem die Produktion von Beziehungen in den Produktionszusammenhang integriert worden ist. „Erzähl-Maschinen“ produzieren von nun an spektakuläre „Wirklichkeits-Landschaften“, in denen sich Menschen begegnen, ohne persönliche Beziehungen miteinander einzugehen, geschweige denn zu pflegen. Und mehr noch: „Als Symptom der Globalisierung bestimmt das allmähliche Eindringen generalisierter Marktbeziehungen in den gesamten gesellschaftlichen Bereich den Raum ihrer Strukturen: Der Flughafen wird zur Mall, das Museum zum Shoppingcenter, während das Shoppingcenter zur Stadt oder zum Fragment einer Stadt mutiert.“ (Béret 2002: 78)
Der Nicht-Ort im Sinne Augés und Oldenburgs, die Globalisierung und Universalisierung der Marktbeziehungen im Sinne Bérets – haben sich damit auch jene von Oldenburg so eindringlich beschriebenen Funktionen Dritter Orte zwischen Familie und Arbeit, zwischen Staat und Ökonomie, zwischen Privatem und Öffentlichem erledigt, die diese Orte zu so wichtigen Orten der Vergesellschaftung machen? Das Gegenteil ist der Fall. Ob als historisch gewachsene oder als geplante Orte, ob als Orte der nachbarschaftlichen Zusammenkunft oder als Orte des normierten Entertainments: Dritte Orte bleiben nach wie vor Orte der Vergesellschaftung, wenn auch sich der Modus der Vergesellschaftung verändert. Dies, die Veränderung des Vergesellschaftungsmodus, beklagen Oldenburg und Gruen. Um uns dies zu verdeutlichen, werfen wir am Beispiel Michail Bachtins und seines Kronzeugen François Rabelais einen Blick auf einen jener frühen Vorläufer Dritter Orte, die Oldenburg zwar definitorisch ausklammern, damit aber nicht ausschließen möchte, einen Vorläufer, auf den sich auch Gruen immer wieder beruft: den mittelalterlichen Markt. Die fröhliche, nicht eben wenig derbe Marktplatzrede steht in vielerlei Hinsicht Pate für das, was Oldenburg (1999: 26) als eines der herausragendsten Merkmale Dritter Orte verstanden wissen möchte: „Neutral ground provides the place, and leveling sets the stage for the cardinal and sustaining activity of third places everywhere. That activity is conversation ... lively, scintillating, colorful, and engaging.“ Das Lachen, sagt Bachtin (2003 [1965]: 143), befreite die Menschen des Mittelalters von der äußeren und inneren Zensur, und gelacht wurde an Feiertagen, im Karneval – und auf dem Markt. All dies sind Inseln des Humors, Exklaven der geltenden Ordnung, erneuernd und schöpferisch. „Das Lachen“, so Bachtin,
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„konnte nie zum Werkzeug der Unterdrückung und Bewußtseinsmanipulation …, von offizieller Seite nie ganz vereinnahmt werden. Es blieb immer ein frei verfügbares Werkzeug in der Hand des Volkes.“ Freiheit von herrschenden Konventionen, das hieß Freiheit von den Konventionen der Herrschenden, Freiheit für Maßlosigkeit, maßloses Lob, maßlosen Tadel, der Markt, eine einzige „akustische Küche“ (Bachtin 2003: 225), in der alles mit allem wild durcheinander gemischt wurde – gemischt werden konnte. Warum? Und wie verhält sich das auf dem Marktplatz zubereitete „akustische Bankett“ (ebd.) zur geltenden Ordnung bei Tisch in der guten Stube? Wäre es möglich, daß man sich auf dem Markt aus der Welt der geltenden Ordnung ebenso heraus- wie in sie hineinlacht?4 Jeder Mainstream braucht Dissidenz, um Legitimation beanspruchen zu können – das zeigt Bachtin in aller Klarheit, und er zeigt damit auch, daß sich die geltende Norm gerade dort besonders deutlich beobachten läßt, wo sie temporär außer Kraft gesetzt ist. Einen ähnlichen Gedanken formulierte Jean Baudrillard gegen Ende der 1970er Jahre am Beispiel amerikanischer Vergnügungsparks: Simulakren, Kopien ohne Original. Die Realität, so Baudrillard (1978: 25), hat sich in ihr Gegenteil verwandelt, um als Prinzip zu überleben: „Disneyland existiert, um das ‚reale‘ Land, das ‚reale‘ Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren. Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken, alle[s] Übrige sei real.“ Im gleichen Jahr 1978 beschreibt der niederländische Architekt Rem Koolhaas (1978: 56) Coney Island, die VergnügungsInsel vor den Toren New Yorks, als „eine permanente Verschwörung gegen die Realitäten der Außenwelt“, geschaffen auf der Grundlage neuer Technologien des Phantastischen – und dennoch ein „Brutkasten für die aufkeimenden Themen Manhattans und seine noch in den Kinderschuhen steckende Mythologie. Die Strategien und Mechanismen, die später Manhattan formen sollen, werden im Laboratorium von Coney Island getestet, bevor sie dann auf die größere Insel überspringen.“ (Koolhaas 1978: 30)
Als Laboratorium, als Versuchsaufbau, als geschütztes Experimentierfeld, übernahm der Markt, übernehmen dritte Orte, übernehmen die Shoppingcenter, Konsum- und Entertainmentzonen unserer Tage, eine Vermittlerposition. Außen vor und mitten drin, frei für Experimente, surreal, von der Realität enthoben, aber nicht losgelöst, diese vielmehr im Traum, in der Fantasie, im Spiel, im Experiment reflektierend, herausfordernd, ausbauend. Und eben dies macht dritte Orte – welcher Entwicklungsstufe auch immer – für jede Gesellschaftsanalyse zu so 4
Wie Düllo in seinem Beitrag zu diesem Band zeigt, ist das karnevalistische Moment der Auszeit (sensu Bachtin) auch heute noch im modernen Konsum lebendig, was sich selbst, nein, gerade dort besonders deutlich beobachten läßt, wo der profane Konsum im Rahmen quasi-sakraler Rituale ostentativ negiert wird.
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ausgezeichneten Beobachtungsorten. Nun also noch einmal: Wie verändert sich an jenen „Stätten der späten Moderne“ (sensu Legnaro/Birenheide 2005), jenen Orten der zielgerichteten Zerstreuung der Modus der Vergesellschaftung? Jene Dritten Orte, für deren Erhalt und Kultivierung sich Oldenburg so kompromißlos einsetzt, werden durch ihre Gäste, zumeist Stamm-Kunden, in Beschlag genommen und definiert. Im Drug Store, im Kiosk oder im Spätverkauf, im Büdchen oder in der Kneipe, im Bistro, im Café oder im Beiserl um die Ecke kennt jeder jeden, und jeder kennt IHN und SIE, den sympathischen Besitzer, den formvollendeten Oberkellner, den lässigen Typen hinter der Theke, den rauhbeinigen Kerl an der Tür, die charmante, aber unnahbare Bedienung. Man sieht sich, man kennt sich, man grüßt sich – Oldenburg läßt keinen Zweifel daran, daß eben dies, die Bekanntschaft der Kundschaft, eine ganz wesentliche Voraussetzung für die Funktion ist, die Dritte Orte zwischen Familie und Arbeit, zwischen Staat und Ökonomie, zwischen Privatem und Öffentlichem erfüllen. Daß man sich bekannt ist, sorgt für soziale Kontrolle, daß es sich dabei um eine vergleichsweise lose, in jedem Fall nicht hierarchische Bekanntschaft handelt, eröffnet Freiheitsgrade. Vergesellschaftung, verstanden als die Anpassung an gesellschaftliche Normen einerseits sowie als Prozeß der Subjektivierung andererseits, fußt bei Oldenburg in diesem Sinn ganz wesentlich auf der losen Bekanntschaft aller Beteiligten. Jene Dritten Orte, deren Typus Viktor Gruen entgegen aller Absicht geschaffen hat, werden von Menschen und von Medienangeboten „bevölkert“ – von funktionalen Medienangeboten, die diese Orte darbieten und dadurch definieren, von narrativen Medienangeboten, die auf der Grundlage einer systematischen Erkundung und Re-Produktion des psychologischen Bedarfs lukrativer Zielgruppen verlockende Wunscherfüllungs-, Verwandlungsund Veränderungsgeschichten erzählen. Dritte Orte bleiben unter diesen Bedingungen Orte der Vergesellschaftung. Prozesse der gesellschaftlichen Normierung auf der einen Seite und der Subjektivierung auf der anderen werden an diesen Dritten Orten indessen anders akzentuiert. Dritte Orte lassen sich in den Worten Legnaro/Birenheides allem voran als „Individualisierungsmärkte“ charakterisieren. Auf der Subjektivierung, der hemmungslosen „Imagination des Selbst“ (Schweikart 1994: 192) liegt der Akzent. Und weil diese Imagination des Selbst ganz wesentlich auf der Grundlage generalisierter, medienvermittelter Beziehungs- und Identifikationsgebote erfolgt, kann man sagen, daß man sich in den Wirklichkeits-Landschaften neuer Dritter Orte in einer ähnlichen Situation befindet wie im Bauch des Kinos. „Der Käufer, der in den Shopping-Mall-Multiplexen unterschiedliche Identitäten anprobiert, tut dies in einem Raum, in dem die externe Wirklichkeit kurzfristig aufgehoben und an ihrer Statt ein kontrollierter, kommerzialisierter, unterhaltsamer Ersatz geboten wird.“ (Friedberg 2002: 64)
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Die ungehemmte Subjektivierung, die hemmungslose Imagination des Selbst, all dies erfolgt auch an neuen Dritten Orten nicht ohne Grenzen – jedoch nicht die Bekanntschaft mit anderen anwesenden Besuchern, sondern der Besucher selbst setzt sich diese Grenzen. Neue Dritte Orte, darauf haben Legnaro/Birenheide (2005: 26) hingewiesen, lassen sich in diesem Sinn als „Prototypen der Kontrollgesellschaft“ begreifen: „Die Kontrollgesellschaft findet statt vor dem Hintergrund schmiegsamer und flexibler Normensetzungen, die nur noch wenige bindende Regelungen für alle enthalten, und eben deswegen wird die Darstellung des Selbst zu einer produktiven Leistung der Einzelnen, die dabei auf kommodifizierte Angebote zur Selbst-Gestaltung zurückgreifen können. Es ist eine der wesentlichen gesellschaftlichen Funktionen der Nicht-Orte, diese Angebote bereitzustellen und die Mechanismen einer Selbstverwirklichung feilzubieten, die nicht zuletzt im Angebot von ‚Erlebnis’ kulminieren.“
Kontrolle heißt unter diesen Bedingungen Selbstkontrolle, die Verpflichtung, sich selbst zu finden und zu verwirklichen. Kommodifizierung heißt: Alles, was uns an diesen neuen Dritten Orten begegnet, ist für uns gemacht. Wer durch die Wirklichkeits-Landschaften von Shopping Malls, Multiplex-Kinos, Vergnügungsparks, Ketten-Restaurants, Kaufhäusern oder Einkaufsstraßen schlendert, kann sich sicher sein, daß sein Wünschen, sein psychologischer Bedarf (sensu Dichter) unter der Dauerbeobachtung einer Schar unermüdlicher Helfer steht, die hinter den Kulissen am Werk sind. Hier wie in der Werbung gilt: Was uns begegnet, ist für uns gemacht, nicht nur für uns, nicht immer für uns – aber es könnte sein, es sollte sein.
Literatur Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/M. Béret, Chantel (2002): Warenlager, Kathedrale oder Museum?, in: Max Hollein/Christoph Grunenberg (Hg.): Shopping: 100 Jahre Kunst und Konsum. Ostfildern-Ruit, S. 69-79. Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest. München. Dichter, Ernest (1964 [1961]): Strategie im Reich der Wünsche. München. Dichter, Ernest (1977): Motivforschung – mein Leben. Die Autobiographie eines kreativ Unzufriedenen. Frankfurt/M. Foucault, Michel (1990): Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, S. 34-46. Friedberg, Anne (2002): „... also bin ich“ – Der Käufer-Zuschauer und Transsubstantion durch Erwerb, in: Max Hollein/Christoph Grunenberg (Hg.): Shopping: 100 Jahre Kunst und Konsum. Ostfildern-Ruit, S. 62-67.
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Das „Verräumen“ der Orte Konsum Dritter Orte als Ikonophagie Christian Schwarzenegger „I’m all lost in the supermarket I can no longer shop happily I came in here for that special offer A guaranteed personality” (The Clash)
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Von Orten, Räumen und Anderem
„Ort“ und „Raum“ sind überaus gebräuchliche Begriffe mit einer weiten Palette von Einsatzmöglichkeiten. Sie sind von solch alltäglicher Verständlichkeit, daß gerade durch die Selbstverständlichkeit ihrer Verwendung die Sensibilität für Reichweite oder Grenze des Begriffs im Alltag außerhalb des Denknotwendigen zu liegen kommt. Im Folgenden soll daher auf der Grundlage einschlägiger Definitionen versucht werden, die Frage zu klären, wovon überhaupt die Rede ist, wenn von „Orten“ oder „Räumen“ gesprochen wird. Und erst recht gilt es zu fragen, was gemeint ist, wenn die Rede auf „dritte Orte“ kommt, insbesondere wenn diese Rede von Sozial- oder Kulturwissenschaftlern geführt wird. Der Ort ist, den Ausführungen Martina Löws (2001: 198) folgend, eine benennbare Stelle oder ein Platz, ein fest durch Koordinaten bestimmbarer Punkt, ein kleiner Ausschnitt der Erdoberfläche, eine geographische Markierung. Für Marc Augé (1995: 80) sind Orte durch das Zusammenwirken von Identität, Relationen und Geschichte, ihre historische Stabilisierung durch Erinnerung und Erinnerbarkeit gekennzeichnet. Ein Ort, so läßt sich damit sagen, ist eine Markierung, deren Identität – die den Ort zu besagtem Ort und zu keinem anderen macht – durch die Platzierung von bestimmten sozialen Gütern oder sozialen Handlungen in erinnerbarer Weise und in Relation zur Platzierung von anderen sozialen Gütern bzw. Handlungen gebildet wird. Raum, so stellt Augé in Anlehnung an Michel de Certeau fest, ergibt sich aus der Frequentierung der Orte. Raum ist, bereits im Wortstamm angelegt, immer sozial, wie Dieter Läpple (1991) in seinem für die Wiedererfassung und vor allem die gesellschaftliche Ausdeutung des Begriffes Raum maßgeblichen Essay herausgestrichen hat. Für die Durchsetzung dieser Sichtweise führt Läpple (1991: 201) Argumente aus der historischen Entwicklung menschlicher Denkweisen an, die entgegen dem bei uns lange Zeit vorherrschenden Bild von Raum als physikalische Naturgegebenheit zeigen, daß bei Naturvölkern Raumvorstellungen fast immer
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menschen- bzw. gruppenzentriert sind und einen „konkreten Bezug zu den Wechselbeziehungen der Menschen mit der sie umgebenden Natur“ aufweisen. Unter Verweis auf Otto Bollnows phänomenologische Studie „Mensch und Raum“ aus dem Jahr 1963 zeigt Läpple, daß sich in der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Wortes „Raum“ noch Wurzeln eines solchen mensch-bezogenen Verständnisses offenbaren. Im auch von Bollnow bemühten Grimmschen Wörterbuch findet sich unter dem Eintrag zum Verb „räumen“, daß dies „einen Raum [bedeutet], d.h. eine Lichtung im Walde schaffen, behufs Urbarmachung oder Ansiedlung“ (Grimmsches Wörterbuch, zit. n. Läpple 1991: 201). Raum muß also erst geschaffen werden, er ist nicht einfach vorhanden, er existiert nicht ohne den Vollzug menschlicher Handlungen. Raum meint keine natürliche Gegebenheit, sondern einen durch aktive Operationen geschaffenen Einschnitt. Raum ist damit, so zeigt dieses Beispiel, schon im etymologischen Wortstamm angelegt, immer sozial, immer das Ergebnis menschlicher Aktivität und ohne eigene Realität abseits dieses Handelns. Raum ist demnach nicht als gesellschaftliche oder naturräumliche Entität aufzufassen, erörtert Läpple (1991: 168), sondern als ein „analytisches Referenz- oder Ordnungsschema zur Beschreibung von Lageeigenschaften bzw. von Standorten der Beobachtungsgegenstände“. Ganz ähnlich ist für Funken/Löw (2005: 79) Raum „nicht mehr und nicht weniger als das vorläufige Resultat einer Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern. Durch die Platzierung an einem Ort in Relation zu sozialen Gütern (oder anderen Menschen) entsteht Raum“. Aus dieser Grundannahme einer nicht natürlichen, sondern gesellschaftlich generierten Beschaffenheit spricht Manfred Schmutzer (2003: 83) von Raum als „eine[r] Projektionsfläche, auf die die Charakteristika gesellschaftlicher Existenz geworfen und von dort quasi naturalisiert abgelesen werden“. Räume besitzen also keine Bedeutungen, weil Bedeutungsvolles erst durch gesellschaftliche Prozesse der Bedeutungszuschreibung entsteht, die kommunikativ ausgehandelt und erlernt werden müssen. Die materiell-räumliche Struktur des gesellschaftlichen Raumes hat demnach den Charakter „kristallisierter Geschichte“ (Halbwachs 1985: 128), in ihr drückt sich aus, was sich eingedrückt hat. Das „materielle Milieu“ fungiert als Speicher des „kollektiven Gedächtnisses“, gesellschaftliche Informationen und Verhältnisse finden räumlichen Ausdruck, kristallisieren sich zu einer verfestigten Form und werden so bewahrt.1 Die korrespondierende Information ist fortan, bei Kenntnis der entsprechenden gesellschaftlichen Sinngebungsmuster, als Merkmal des eingeräumten Raumprodukts mit erhöhter Wahrscheinlichkeit verstehbar. 1
Georg Simmel hat diesen Gedanken anhand des Beispiels von Grenzen formuliert, die er nicht als räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt, versteht.
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„Andere Räume“, so lautet die Überschrift, unter der sich sich Michel Foucault mit dem Thema „Raum“ befaßt hat. Der berühmt gewordene Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den Foucault 1967 vor einer Gruppe von Architekten des Cercle d’études architecturales gehalten hat und der seinerseits wiederum aus einem Mißverständnis resultierte, wie Roland Ritter und Bernd Knaller-Vlay (1998: 8) nachzeichnen. In seinem, ein Jahr zuvor erschienenen, Buch „Die Ordnung der Dinge“ hatte Foucault erstmalig den Begriff „Heterotopie“ verwendet, durch den er versuchte, die Grenzen des Denkbaren zu verdeutlichen, Bereiche zu benennen, die etwas „anderes“ sind, das wir in unseren gewohnten Formen nicht beschreiben können, da es eine Unterbrechung dieser Formen darstellt. Eine Gruppe von Architekten meinte in seinen Ausführungen – obwohl sie das Buch mit einem Radiovortrag, den Foucault zur „Utopie“ gehalten hatte, verwechselt bzw. vermengt hatte – die Konzeption einer neuen Stadtplanung zu entdecken, und die auf- wie angeregten Architekten luden ihn ein, besagten Vortrag zu halten – was er mit einigem Amüsement auch tat.2 In diesem eigentlich ganz anderen Text „Andere Räume“ behandelte Foucault auf der Folie des Raumes jenes „Problem, das fast alle seine Bücher bestimmt“,3 die Produktion von Diskursen und die sich daraus ergebende und darauf einwirkende Verteilung von Wissen und Machtverhältnissen, die sich auch räumlich ausdrücken und festmachen lassen. Foucault kann daher über Versuche, anhand seiner Ausführungen die Problematik des „Raumes“ umfassend zu behandeln und daraus gar eine Epistemologie für die Architektur abzuleiten,4 nicht besonders glücklich gewesen sein. Sein Interesse galt nicht dem „Raum an sich“ – und er sollte auch deshalb nur bedingt als „den“ Raum behandelnd gelesen werden –, sondern dem, was er als Utopie und Heterotopie bezeichnete, jenen Räumen, die „mit allen anderen Räumen in Beziehung stehen und dennoch allen andern Plazierungen (sic!) widersprechen.“ (Foucault 1990: 38) Foucault (1990: 34ff.) rekonstruierte aus der Geschichte, daß sich Raum dereinst im Mittelalter als „hierarchisiertes Ensemble von Orten“ präsentiert hatte, heilige Orte, wie profane, geschützte und offene, gekennzeichnet jeweils durch Qualitäten von Macht und Wissen, die an diesen Orten gespeichert waren. Diesen durch die Verortung von Qualitäten bestimmten Raum bezeichnete er als „Ortungsraum“. Die Starrheit dieses Ortungsraums, an dem alles seinen festen unbeweglichen Platz hat, erodiert ab dem 17. Jahrhundert und wird durch Lagerung, Platzierung und Nachbarschaftsbeziehungen ersetzt. Der Ortungsraum wird zum 2
Eine Telegrammkorrespondenz Foucaults offenbart die Belustigung, die er ob dieses Ansinnens empfunden hat. „Kannst du dich noch an das Telegramm erinnern, über das wir so herzlich gelacht haben und in dem ein Architekt eine neue Stadtplanungskonzeption zu erblicken glaubte?“ (ebd.) 3 Vgl. die entsprechende Äußerung Foucaults im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Foucault 1977. 4 Vgl. Ritter/Knaller-Vlay 1998: 8.
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„Ensemble von Relationen“, zum Raum, der sich durch die Form von Lagerungsbeziehungen darbietet (vgl. Foucault 1990: 38f.). Der Raum Foucaults ist keine „Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird“, keine Leere, in der man Dinge „einfach situieren“ kann, sondern ein „Gemengelage von Beziehungen“, in dem sich einzelne Platzierungen durch Beschreibung der sie kennzeichnenden Relationen benennen lassen. Es ist ein Raum, der mit „Qualitäten aufgeladen ist“. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Verkehrsplätzen“ wie Straßen und Zügen, „provisorischen Halteplätzen“ wie Cafés, Kinos und Stränden, und von „Ruheplätzen“ wie dem Haus, dem Zimmer oder dem Bett. Mit dem Begriff der Heterotopie ging es Foucault darum, spezielle Beziehungen und Gegenplatzierungen zu bezeichnen, in denen die „wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“ (Foucault 1990: 39). Das Wort Heterotopie, das sich aus dem griechischen heteros (ein anderer) und topos (Ort) zusammenfügt, entstammt eigentlich dem Begriffsrepertoire der Biologie bzw. Humanmedizin und umschreibt dort Phänomene, die an anderen Orten in Erscheinung treten als vorgesehen, wie der Humanbiologe Sigurd F. Lax (1998) in der Rezeptionsdiskussion der „Anderen Räume“ betont hat. Konkret beschreibt das Wort das Auftreten von Gewebe an einem Ort im Körper, an dem es nicht zu erwarten gewesen wäre. Dieses Gewebe ist gesund und auch nicht von einem höheren Krankheitsbefallsrisiko gekennzeichnet als sonstiges Gewebe, nur ist es Gewebe, das sich räumlich außerhalb des Erwartbaren befindet (vgl. Lax 1998: 114ff.). In der Verwendung Foucaults (1998: 39) bezeichnet das Wort „gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“, Orte, die „ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen“. Die Heterotopie ermöglicht es, daß unterschiedliche Räume an einem Ort entstehen; sie vermag, „an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Plazierungen (sic!) zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind“ (Foucault 1990: 42). Foucaults „machttheoretisches Auge“ (Löw 2001) blickt dabei auf die Frage nach dem Wer (mit welcher Macht, welchem Recht) Was (Dinge, Ereignisse) anordnet und Wie dadurch Räume materialisiert, verflüchtigt oder verändert werden und somit Gesellschaft strukturiert wird.
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Vom Konsum als Erzählsprache der Biographien
Nachdem der Raumbegriff reflektiert wurde, soll im Folgenden der zweite Zentralbegriff dieses Aufsatzes erörtert werden: der Konsumbegriff. Der Architekturtheoretiker Michael Zinganel (2003) hat in einer Publikation über das Zusammenwirken von Architektur, Stadt und Verbrechen an Marxens Ausführungen zur „Produktivkraft des Verbrechens“ erinnert. Demnach produziert der
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Verbrecher nicht nur das Verbrechen, sondern auch alle gegen das Verbrechen gerichteten Maßnahmen, Sicherheitsvorkehrungen und Sanktionierungsinstanzen – und abstrakter gedacht auch jegliche Berichterstattung, Empörung oder Bewunderung für die Tat. Dieses Muster auf den Begriff des Konsumenten umgebrochen bedeutet, daß der Konsument nicht nur den Konsum und den Akt des Konsumierens, sondern auch jegliche auf die Stillung des Konsums ausgerichtete – also jede entwickelnde und produzierende – Maßnahme hervorbringt. Zudem sind in diesem generellen Konsumverständnis auch die kommunikativen Einflußnahmen, die zur Anregung, Anfachung und Erhaltung des Konsums gesetzt werden, sowie die im Kontext dieses Textes wichtige Zurichtung von Schauplätzen, von Umgebungen und Umwelten des Konsums für den Konsum und zur Steigerung des Konsums als integrale Bestandteile von „Konsum“ zu fassen. Die Individualdimension von Konsum verwirklicht sich in der Akkumulation der einzelnen, individuell gesetzten Konsumakte, meint damit aber mehr als die Reduktion auf ein Tauschverhältnis von Geld gegen Ware oder Dienstleistung, sondern beschreibt eine sowohl für jeden einzelnen, in der Summe einzelner Konsumakte, als auch gesellschaftlich weitreichende Form der Welt- und Selbsterfahrung. Wolfgang Ullrich (2006) hat in seinem Buch „Haben wollen“ von einer „Zeitenwende der Dingkultur“ gesprochen. Nachdem der Gebrauchswert längst in den Hintergrund getreten ist, so Ullrich, würden durch den Konsum „Biographie-Requisiten“ erworben, um den je eigenen Lebensverlauf innerhalb spezifischer, erwünschter Parameter zu erzählen. Wobei die Sinngebungsmuster, die den einzelnen Requisiten ihre jeweilige verwertbare Bedeutung geben, wesentlich selbst wiederum zuvor (vielfach medial) konsumiert, also aufgenommen, eingezogen, verzehrt und verdaut worden sind. Mit Ullrich (2006: 48) gesprochen, erlebt der Umgang mit konsumierbaren Dingen eine „Kultur der Fiktionalisierung“, durch die in einem als lustvoll erlebbaren „Dialog mit sich selbst … eine angenehme Form, die eigene Individualität zu gestalten und über Schwächen und Ängste hinwegzufiktionalisieren“, dargeboten wird. Allein durch den Besitz bestimmter, mit erzählbaren Geschichten aufladbarer Accessoires wird so eine Annäherung an sonst unzugängliche Erfahrungen ermöglicht. Obwohl es sich in der emphatischen Verbindung zwischen Konsument und Konsumiertem vorderhand um einen individuellen Fiktionalisierungsakt handelt, basiert Konsum auf gesellschaftlichen Erzählmustern. Denn die, die generelle und die individuelle Dimension des Konsums verbindende, Konsumkultur trägt ein vermeintliches Demokratisierungsversprechen vor sich her, die einklagbare und daher begründete Annahme, daß vor der Kasse jeder gleich ist und daher der Zugang zu den fiktionalen Erzählangeboten der Produkte für jedermann unter den selben Bedingungen erfolgen kann. Konsum wird so zur Erzählsprache der Biographien.
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Markus Schroer (2006: 176) schreibt: „Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Räume helfen zu entscheiden, in welchen Situationen wir uns befinden. Sie strukturieren vor, in welche Situationen wir kommen können, welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich“. Es sind also, mit den Worten des Architekten und Architekturtheoretikers Wolfgang Meisenheimer (2006: 35), „Spuren der möglichen Ereignisse“ im Raum enthalten, im konstituierten Raum wohlgemerkt, der nicht mit den gebauten Dingen verwechselt werden darf. Freilich beeinflussen die so genannten „gebauten Dinge“ die Arrangements und die Platzierungen, bereiten vor, richten zu, richten ein, was an einem Ort mit hoher Wahrscheinlichkeit geschehen kann. Genau dies ist es, was von vielen Berufsgruppen wie Architekten, Raumgestaltern, Schaufensterdekorateuren, Gärtnern, Landschaftspflegern, Landwirten, Verkaufsassistenten und Künstlern fortlaufend auf vielfältigste Art und oft rein intuitiv gemacht wird, um Flughäfen, Bahnhöfe, Einkaufszentren, Vergnügungsparks, Marktstände, Kaffeehäuser, Friseursalons, Diskotheken, Hotels, Stadionanlagen, Konzerthallen, Restaurants, Museen, Bordelle als das zu inszenieren, was sie sein sollen, indem ihre erfahrbare „Wirklichkeit“ theaterhaft in Szene gesetzt wird und dadurch Atmosphären als die gemeinsame Wirklichkeit von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem erschaffen werden (vgl. Böhme 1995: 34). Der Begriff der Atmosphäre bildet als Kernbegriff der Darlegungen zu einer neuen Ästhetik, die Gernot Böhme erarbeitet hat, in dieser Doppelläufigkeit eine nahezu maßgeschneiderte Beschreibungsqualität für die erlebte Wahrnehmung von Raum, da sie als Gestaltungsmerkmal, aber auch als Bedingung des Erscheinens selbst weder dem Objekt anhaftend noch vom Subjekt frei ersonnen, sondern nur im Zusammenwirken der beiden vollends entfaltet werden kann. Die bewußte Einwirkung auf die Konstruktion von Atmosphären als strategische Abfolge von planerischen Handlungsschritten in der Gestaltung von gebauten Arrangements ist es, was mit dem Begriff „Verräumen“ im Titel dieses Textes beschrieben werden soll (vgl. Meisenheimer 2006: 56f.). Verräumen verdichtet dabei in seiner Bedeutung unterschiedliche Dimensionen dieser vorgenommenen Einwirkung und meint schlicht ver-ändern der Raumkonstituierungen am spezifischen Ort. Es bedeutet zugleich „zu Raum machen“, Inhalte und Botschaften durch Raum ver-deutlichen und ausdrücken, und bedeutet schließlich gut österreichisch auch ver-räumen im Sinne von wegräumen, verschwinden lassen, der atmosphärisch unspektakulären Eigentlichkeit5 einer archi5
Für Gedanken zur Enttäuschung durch die Erfahrung, daß die Überprüfung solcher Versprechungen von Rauminszenierungen die Vorgaben der Suggestion nicht erfüllen kann, vgl. Resch/Steinert 2004.
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tektonischen Einheit „hinter“ einer kommunikativ spektakularisierten Mise en scène der Wirklichkeit des besagten Raumgehalts. Das Verräumen kann, nach allem, was über die soziale Verfaßtheit des Raumbildungsprozesses und über Atmosphären gesagt wurde, keineswegs als determinierende Aufladung der „gebauten Dinge“ mit Eigenschaften, die ihnen danach selbst anhaften, begriffen werden. Es zielt allein darauf ab, Kommunikationsangebote so zu arrangieren, daß die zu bildenden Räume bevorzugt und in der intendierten Weise benutzt werden.
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Vom Bilderfressen als Verzehr und Aneignung von Bedeutung
Bordelle, Supermärkte, Shopping Malls, Bahnhöfe, Wellness-Oasen: Sie alle verfügen über ihre typischen Semantiken, die sie als das erkennen lassen, was sie sind und zu sein vorhaben; sie bedienen sich „spezieller Narrative“, wie es Legnaro/Birenheide (2005) nennen. So wie in der Identitätsforschung, zurückgehend auf den Heidelberger Theologen und Psychoanalytiker Dietrich Ritschel, „wir als die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen können“ (Reulecke 2003: VII), gesehen werden, so sind diese Orte die Geschichten, die wir uns (selbst) über sie erzählen können – und zwar anhand der Informationen, die sie über sich preisgeben. Was sind nun aber die Referenzen, auf die in der Gestaltung von Orten, in der Stimulation von bestimmten Raumkonstitutionsprozessen verwiesen wird? Der Architekt Justus Dahinden (2005: 69) spricht in seinem Werk „Mensch und Raum“ von „Empfindungsqualitäten, welche für den Nutzer eine Wertschöpfung generieren können“, und differenziert anhand architektonischer Gestaltungsmittel wie Formgebung, Lichteinsatz und Farbgestaltung zwischen zehn verschiedenen Ausprägungen und Wirkrichtungen des „Aufforderungscharakters“ von Räumen: Spannungs-, Entspannungs-, Imponier-, Gleichgültigkeits-, Einschüchterungs-, Animier-, Spiel-, Abschluß-, Entwicklungs- und schließlich Illusionsräume. Anhand bestimmter Gestaltungsmerkmale fordern diese Räume zu einem bestimmtem Nutzungsverhalten auf; sie rufen es wohlgemerkt nicht einfach ab, die Aufforderung ist nicht verbindlich. Abweichendes Handeln – man denke an das klassische „sich daneben Benehmen“ – kann jedoch sozial sanktioniert werden. Während Dahinden in der Zurichtung der Räume, um bestimmte Eindrücke auszudrücken, auf das Repertoire der architektonischen Gestaltung wie Farben und Materialien beschränkt bleibt, muß hier die Frage gestellt werden, inwieweit es nicht gerade neben dem klassischen „Ausdrucksarchiv der Architektur“ (Meisenheimer) auch und zunehmend vermehrt andere Quellen gibt, die Raumerzählungen anstoßen. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist hier etwa an
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das Archiv jener medial vermittelten Bilder zu denken, derer man sich im Verräumen bedienen kann, da diese Bilder bereits konsumiert und verdaut worden sind und somit weiter bequem verarbeitet werden können. Denn keine Geschichte erzählt sich leichter als eine, deren Protagonisten, Spannungskurven und Stilelemente dem Publikum bereits wohl vertraut sind, mit nichts läßt sich leichter Bedeutung vermitteln als mit etwas, das für den Nutzer bereits Bedeutung hat. Vor allem wird der Aufwand der Erzählung wesentlich reduziert, wenn auf bereits bekannte Erzählungen zurückgegriffen werden kann. Die Detailerzählung, mit sich selbst als Protagonisten und der Geschichte um sich herum, kann der Nutzer des Ortes so selbst übernehmen. Das ist es, was Ikonophagie bezeichnen soll.6 Wörtlich bedeutet es nichts anderes als Bilderfresserei, die Verbindung zur Anthropophagie ist gewollt. Denn so, wie die Anthropophagie, zu deutsch Menschenfresserei, als quasireligiöse Handlung eine Bemächtigungshandlung ist, Bemächtigung der Eigenschaften des Feindes oder der verblichenen Familienangehörigen und deren Stärke, so bemächtigt sich auch der gestaltete Ort der Eigenschaften des Bildes, das er frißt, verschluckt, verdaut und wiederum zum weiteren Konsum anbietet. Orte schlucken mediale Bilder und bemächtigen sich so ihrer Qualitäten. An die Bedeutung des medialen Bildes wird in der Bedeutung des Ortes erinnert. „Bilder sind schnelle Schüsse ins Gehirn“, lautet ein berühmtes Zitat des Werbeforschers Werner Kroeber-Riel. Orte, die Bild-Geschichten verdaut haben, sind lang andauernde Feuergefechte mit intensivem Schußwechsel. Denn auch hier gilt: Es ist nicht der Ort allein, der etwas macht, vielmehr schießt der Ort ins Gehirn, und die Nutzer schießen zurück. Es werden Erzählmuster angeboten, indem auf mediale Erzählungen verwiesen wird. Die Geschichten werden aber letztlich von den Nutzern für sich selbst erzählt, und die Geschichten, die sich durch die Nutzer des Ortes am Ort erzählen, lassen sich künftig wieder – über den Ort – erzählend weiterführen. Die Qualität spezifischer Orte bemißt sich nun daran, welchen kommunikativen Mehrwert sie im Vergleich zu anderen Orten ihren Benutzern in Aussicht stellen. Welche Geschichten lassen sich wo erzählen? Welche Geschichten lassen sich wo über mich erzählen, welche wo über die anderen, welche wo für die anderen, welche wo mit den anderen, welche wo für mich von den anderen usw.?
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Der Begriff orientiert sich an der Verwendung, die er durch den brasilianischen Medientheoretiker Norval Baitello Jr. erfahren hat, deckt sich aber nicht vollends damit.
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Christian Schwarzenegger Von Prostitution als Exempel und Prinzip
Das bereits erwähnte Bordell erscheint nahezu als archetypische Verdichtung zur Veranschaulichung des bis zu dieser Stelle Gesagten. Ein Gebäude, gestaltet anhand der und ausgelegt auf die Befriedigung eines Triebes, zumindest eines Bedürfnisses, wobei der „funktionale Charakter“ der Bedürfnisbefriedigung selbst durch die Art dieser Erfüllung übertroffen wird. Es ist nicht nur sexuelle Interaktion, die geboten wird. So wie ein Restaurant, das, soll es in der intendierten Weise funktionieren, mehr als nur gutes Essen bieten muß, ist auch das Bordell mehr als nur das Gebäude und auch mehr als eine Chiffre für sexuelle Bedürfnisbefriedigung. Es verspricht noch anderes, das nur beispielhaft genannt werden kann, ist das Besondere daran doch gerade, daß es nicht das eine Andere, sondern eine Vielzahl von individuellen Andersartigkeiten verspricht.7 Die geschlechtliche Transaktion erfolgt nicht im Nirgendwo, zwar ohne – andere als finanzielle – Beziehungen, aber nicht ohne Bezüge. Die Handlung wird „eventisiert“, in eine eigene narrative Form gebettet, der Besucher des Bordells ist nicht nur beischlafwillig, sondern er ist dies als unwiderstehlicher Playboy, als Sklave oder Herr, als Krösus, als Zampano, Unterworfener oder Unterwerfender, Eroberer oder Eroberter, Verführer oder Verführter, Schuljunge oder Lehrmeister usw. Das Bordell wird dem Kunden zur Kulisse der angestrebten Erzählung über sich selbst, zu deren Hauptdarsteller er sich machen kann, und die ihm gerade durch diese aufbereitete Bühne für eine Inszenierung seiner eigenen Sexualität noch anderes bietet als einzig einen geschlechtlichen Akt. Die Voraussetzung für die Teilhabe an der erotischen Ich-Erzählung ist allerdings die finanzielle Potenz: Wieder gilt im Bordell in besonderer Ausgeprägtheit, daß das Erlebnis an Geld gekoppelt wird. Ohne Bezahlung geschieht nichts,8 und mit steigender Bezahlung erhöhen sich auch die „Erzähloptionen“. 7
Freilich kann und soll in dieser beispielhaften Verdichtung nicht übersehen werden, daß das Bordell zugleich auch Anknüpfungspunkt für eine Vielzahl kritischer und problematischer. Diskurse sein kann. Es lassen sich anhand des Bordells auch von der intendierten Lesart abweichende, oppositionelle „Erzählungen“ über Ausbeutung, Frauenhandel, Zwangsprostitution, Kriminalität, organisiertes Verbrechen, Polizei(-skandale), Schlepperwesen und die komplexen Ausformungen politischer wie gesellschaftlicher Rahmenbedingungen dieser Mißstände entspinnen. Widerspruch ist dieses Abweichungspotential aber keiner, denn wie es für die Raumkonstitution selbst ausgeführt wurde, können Orte und die an ihnen entfaltbaren Räume auch im Widerstand und Widerspruch zu den Vorgaben und Intentionen der Gestalter erfolgen. Bedeutungen sind nicht verbindlich und können nicht verordnet werden. 8 Anzumerken ist an dieser Stelle ein spannender Hinweis von Wolfgang Ullrich, der bereits im Kokettieren mit dem Kauf, in der Selbstbetrachtung des Konsumenten im Umkleidekabinenspiegel, beim versonnenen Berühren des Produktes ein empathisches Abschweifen der Gedanken, das verträumte Entwerfen alternativer Lebensläufe ausmacht, vgl. Ullrich 2006: 48. So ist auch beim Bordell wohl bereits ohne Vollzug, en passant, durch das Kokettieren mit der Möglichkeit, ohne daß also etwas geschieht, „das Dritte“ in Ansätzen konsumierbar. Die Erzähloptionen freilich bleiben beschränkt.
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Bereits Walter Benjamin (1983: 637) hatte in seiner Auseinandersetzung mit der Konsumkultur innerhalb der Pariser Passagen auf die Analogie zwischen dem fiktional überhöhten Konsumverhalten, deren Charakter die Folgenlosigkeit ausmacht, und der Prostitution hingewiesen: „Die Liebe zur Prostituierten ist die Apotheose der Einfühlung in die Ware“. Der Ort „Bordell“ ist, in seiner Gestaltung zwischen Kitschkulissen aus rotem Plüsch, Bereichen voll simuliertem Luxus wie etwa Whirlpools, Fetischkammern voll bemerkenswert vielseitigem Utensil etc., für den Anstoß der unterschiedlichen Erzählungen aus- und eingerichtet. Für die direkte Funktion der Sexualdienstleistung ist der schmückende Schnickschnack nicht notwendig, für die Vermittlung des kommunikativen Mehrwerts – und damit für den Erfolg des Ortes – jedoch maßgeblich. Das Bordell als Ort der Prostitution, betrachtet als Archetyp für eine Prostitution der Orte – eine „Prostitution der Atmosphären“ (Meisenheimer 2006: 136).
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Vom Zapping als Strategie der Welterfahrung
Kostümierung, Schauspiel, Käuflichkeit. Es sei eine besondere Lust am Spiel mit kalkulierten Täuschungen, die sich in übersättigten Gesellschaften feststellen lasse, ein Spiel, in dem nichts komme, um zu bleiben, nichts erinnert werde als der Wechsel aggressiver Bilder, die als „Herausforderung für die Aufmerksamkeit“, als fast „alltägliche Situationen der Überredung“ konzipiert seien, so Meisenheimer (2006: 124ff). Die Überredung, sich dem Ort und seinen Konsumangeboten zuzuwenden, besteht darin, daß sich über den Ort und seine Möglichkeiten reden läßt. Die Aufmerksamkeit wird auf das, was sich als möglich erzählen läßt, gelenkt, weniger auf das, was tatsächlich aktuell beobachtbar wäre. Es ist ein Spiel mit anwesenden Abwesenheiten, das Orte zu ganz anderen macht. Als Ort kalkulierter Täuschung erzählt sich beispielsweise das in der Steiermark gelegene Schwesterlokal eines Wiener Gastronomietempels, das sich, eingebettet in das auf einer Alm gelegene, auf 1616 datierte Geburtshaus des Besitzers, durch und durch ländlich inszeniert und seinen Charakter als Restaurant gehobener Kategorie hinter der klassisch bäuerlichen Gastfreundschaft vergessen läßt. Brot und Speck zur Stärkung stehen schon unbestellt und im Preis inbegriffen für die Ankommenden bereit. Diese anfängliche Gratis-Offerte initiiert die Stimmung von uriger Gastlichkeit und Willkommensein, im „idealen Wirtshaus“, so die Selbstbeschreibung. „Griaß di“ ruft dem Gast ein Schriftzug am Gebäude schon von weitem entgegen. Das Personal trägt ausschließlich Trachtenkleidung, die Ursprünglichkeit des Ensembles reicht bis zum künstlich nachgebesserten Moosbewuchs an den hölzernen Außenwänden des Hauses. Suppe wird aus klassischen Milchkan-
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nen serviert, so als wäre darin nie etwas anders als Suppe serviert worden. Die Speisen auf der Karte sind modernisierte Variationen auf traditionell-rustikalem Fundament. „Die Weine stammen aus dem Felsenkeller, das Bier ist selbstgebraut und das frische Wasser stammt aus der Hausquelle, die am Himmelreich entspringt und an der Gurgel gefaßt wurde.“ Die Erzählung des Gebäudes als Landgasthaus wird jedoch durch einen entscheidenden Faktor durchbrochen und völlig verkehrt: Auf einer Wiese gegenüber dem Restaurant befindet sich der hauseigene Hubschrauberlandeplatz, auf dem während der Dauer einer normalen Mahlzeit mehrfach Helikopter landen, um Gäste zu bringen oder wieder abzuholen. Das so detailverliebt als ländlich erzählte Gebäude wird plötzlich etwas ganz anderes: Jetset, Reichtum, Wichtigkeit. Und wer eben noch ausgesprochen gutes Essen zu erfreulich moderaten Preisen genossen hat, landet plötzlich in einer anderen Erzählung. Der Hubschrauber erzählt, daß Menschen, die es sich leisten können, viel Geld aufwenden und verhältnismäßig große Distanzen überwinden, um hier zu sein. Einer der Hubschrauber, der zwischen Vorspeise und Hauptgang landet, trägt das Logo eines österreichischen Fernsehsenders. Also vielleicht auch noch Prominente? Kennt man die, die da aussteigen, die hinkommen, wo man selbst ist? Und selbst wenn man sie nicht kennt: Vielleicht sind es doch bedeutsame Leute? Zumindest aber, wenn schon nicht in diesem Hubschrauber, sitzt vielleicht im nächsten jemand, den man kennt, der bedeutsam is(s)t. Und kann man sich dann, dazugehörend, nicht mit Berechtigung ein bißchen selbst als einen der Wichtigen erzählen? Das Restaurant, das sich Namen und Personal mit der Wiener Nobeladresse teilt, teilt sich dadurch, unabhängig davon, wer schon da ist oder vielleicht noch ankommt, auch den Mythos. Das Ereignis wurde in den „Raum des Möglichen“ (Bourdieu) gestellt und ist damit für Gespräche bei Tisch, vor Ort, aber auch für Selbsterzählungen verwendbar. Orte eignen sich wie kaum eine andere denkbare Instanz, um Geschichten von Inklusion und Exklusion zu erzählen. In der „Türpolitik“ von In-Lokalen, Szene-Clubs, Society-Treffpunkten oder UndergroundEvents versteckt sich das Casting für die Schauspieler, die auf den jeweiligen Bühnen auftreten dürfen. Meisenheimer bezeichnet den Umstand der fortwährenden, quasi bildverdauenden Flüchtigkeit und den raschen Wechsel von gebauten Settings als ZappingLandschaften. Der Sinn der verräumten Szenerie liegt darin, „Inseln der Wunschvorstellungen der Betrachter“ zu erzeugen. Der Begriff Zapping scheint in Anlehnung an das Fernsehverhalten, bei dem die Nutzer auch gelernt haben, mit beiläufiger und nur kurz andauernder Involvierung Aktivierung zu erfahren und Information zu verarbeiten, überaus gut gewählt. Das Zappen zwischen sinnlichen Sensationen erscheint als erlerntes Modell der Weltorientierung. Faszinierenderweise bietet der Begriff Zapping hier die Gelegenheit, die Verschränkung von Raumar-
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rangements und medialen Bildern deutlich zu machen. Denn gerade, wenn von Inseln der Wunschvorstellungen der Betrachter gesprochen wird, stellt sich doch die Frage, woher diese Wunsch- und Idealvorstellungen ihre Baupläne beziehen. Woher kommen die Erwartungshaltungen daran, wie die Oase der perfekten Wellness-Entspannung auszusehen hat? Woher die Vorstellung, wie sich das perfekte Dinner im (Hotel-)Restaurant zu präsentieren (nicht wie es zu schmecken) hat? Woher kommen diese Vermutungen über und Annahmen von Idealität, die sich bedienen oder durch Abweichung auch überraschen lassen? In der Gestaltung der Orte werden Bilder gefressen und verdaut, um die Aufmerksamkeit herauszufordern und Kommunikationen in bestimmter Weise anzustoßen. Die Orte werden eingebildet, werden selbst als Bilder präsentiert und sind damit den Bildern, die die Nutzer der Orte in ihren Medienerfahrungen verschlingen, vergleichbar. Ort, Bild und Mensch sind durch das wechselseitige Verschlingen ineinander verschlungen. Medienerfahrung und Erfahrung vor Ort beeinflussen einander: In der Annäherung an „Wirklichkeit“ wird auf das Reservoir kultureller Deutungsmöglichkeiten zurückgegriffen. Die Bereiche sind unterscheidbar, aber nicht hermetisch getrennt. Mediale und persönliche Erfahrungen stehen in wechselseitiger Korrespondenz, und das Verstehen von „Raum“ als kulturelle Deutungsleistung kann weder auf das eine noch auf das andere verzichten.
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Zum Schluss
Der Ansatz, Raumkonsum als Ikonophagie zu denken, bringt Orte und Räume in das Innere von Diskursen hinein. Sie werden, als durch Diskurse gestaltet und Diskurse gestaltend gedacht, selbst zum Diskursgegenstand. Das wechselseitige Erkennen und Verdauen von medialen Bildbezügen, die Gestaltung, Wahrnehmung und Beurteilung von Orten und die an ihnen gebotene Kommunikationsmöglichkeiten machen Orte in gewisser Weise zu beobachtbaren Mittlern im Diskurs. Um sie herum entfaltet sich ein Geflecht von konsumierten, konsumierbaren, durch den Konsum angeregten und für den Konsum notwendigen Kommunikationsgehalten. Anknüpfend an und ausgehend von Orten werden neue Kommunikationsnotwendigkeiten entwickelt und strukturiert. Welche Geschichten erzählt werden, um die Orte zu erzählen, und wie Orte verwendet werden, um „Geschichten“ über die wahrgenommene Gesellschaft, aber auch über das Selbst zu erzählen, und wie all diese Geschichten miteinander und mit den medialen Geschichten verbunden sind, wird so in einen gesamtheitlichen Zusammenhang gebracht. Die Beobachtung von Räumen, von dem, was sie mit Bildern, mit Kommunikationsinhalten machen, und von dem, was die Kommunikation mit Räumen macht, welche Bilder durch Räume für die Kommunikation gezeichnet werden,
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eröffnet eine Reihe von neuen bzw. anderen Zusammenhängen, Blickwinkeln und Ausgangspunkten für theoretische Reflexion und empirische Forschung des Verhältnisses von Kommunikation, Konsum und Konstruktion von Individualwie Gruppenidentitäten. Orte und Räume sind mehr als nur die sozialen Bühnen, auf denen passende Biographie-Requisiten vorgeführt werden, sie sind in die Erzählungen fest integrierte lebendige Kulissen. Damit läßt sich unterstellen, daß in einer Auseinandersetzung mit den Fragen, was, zu welchem Zwecke, mit welchen Erwartungen, wodurch angefacht und wie anschlußfähig gehalten und weiterverwertet, konsumiert, gekauft, und angeeignet wird, auch der Frage nach dem Wo dieses Konsumierens, Aneignens und Kaufens neue Bedeutsamkeit zukommt. „Was ist, ist, was nicht ist, ist möglich“, heißt es in einem Lied der Einstürzenden Neubauten. Was ist, ist, was nicht ist, ist möglich – und Raum ist für die Wissenschaft auf vielfältige Weise Möglichkeit.
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Fußball, Clubs und Burning Men
Gemessen an der nostalgischen Bestandsaufnahme Ray Oldenburgs wirken „Neue Dritte Orte“ so, als ob sie von ihrer ursprünglichen Funktion entleert wären, bieten sie doch allem Anschein nach keinen Raum mehr für spontane Treffen, Begegnungen, Interaktionen. Dennoch funktionieren sie wie große „Erzählmaschinen“ (Legnaro/Birenheide): Sie eröffnen nicht nur Spielräume für, sondern verdanken ihre Existenz geradezu dem strategischen Einsatz von Kommunikation. Dritte Orte, so emphatisch wie Ray Oldenburg sie beschrieben hat, oder anthropologische Orte im Sinne Marc Augés besitzen eine Identität, sie besitzen Geschichte, die ihnen im Zuge ihrer voranschreitenden Kommerzialisierung gewissermaßen abhanden kommen muß, damit sie mit Geschichten angefüllt und dadurch als Geschäftsidee nach Belieben platziert werden können. Anhand zweier unterschiedlicher Fallbeispiele verdeutlicht Christoph Jacke in seinem Beitrag diese Mechanismen der Raumproduktion und des Raumkonsums. Der Musik-Club und das Fußball-Stadion, so zeigt Jacke, fungieren gleichermaßen als Schnittstellen zwischen Raumproduzenten und Raumkonsumenten. Mit dem Übergang vom intimen Keller-Club zur nüchtern kalkulierten Großraum-Disco auf der Wiese, vom Landesliga-Stadion zur WM-Arena ist kein Funktionsverlust Dritter Orte verbunden, sondern im Gegenteil: die Potenzierung dessen, was Dritte Orte immer schon waren. In der WM-Arena werden einmalige Ereignisse, Erlebnisse, Stimmungen für Kommunikation durch Kommunikation höchst zuverlässig in Serie produziert. Die Zuschauer im Stadion agieren hier ebensowenig als passive Konsumenten der Inszenierung wie die Gäste des Musik-Clubs, sondern tragen durch ihre Präsenz im Stadion oder Club zum Gelingen der Inszenierung bei. Thomas Düllo zeigt in seinem Beitrag wiederum, daß sich die Mechanismen der Raumproduktion und des Raumkonsums selbst dort beobachten lassen, wo der profane Konsum im Rahmen quasi-sakraler Rituale ostentativ ausgesetzt wird. Hier wird die „Auszeit“ vom Konsum gewissermaßen durch die rituelle „Rückkehr an die Wiege der Ökonomie“ gefüllt. Am Beispiel des alljährlich in
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7050_book.fm Page ii Wednesday, July 12, 2006 3:27 PM
Verortungen des Dazwischen Vergesellschaftung durch Kommunikation und Konsum an den popkulturellen Dritten Orten Musik-Club und Fußball-Stadion Christoph Jacke
In einem Email-Interview mit der Kuratorin Doris Rothauer anläßlich des KunstProjekts „Third Places” im Rahmen des steirischen herbst 2004 verdeutlicht der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg seine Kritik an Konsumwelten wie Disneyland oder den Shopping Malls: Diese haben keinen Wert für das Soziale der Gesellschaft, sondern dienen lediglich dem Konsum, ganz im Gegensatz etwa zum guten, alten Marktplatz. „Disneyworld and -land, and American shopping malls in addition, are designed to discourage interaction between customers. As the primary activity of third places is interaction, the contrast could hardly be more extreme. … Marketplaces have social as well as monetary value but shopping malls have no social value.” (Oldenburg/Rothauer 2004: 17)
Ähnlich hatte Oldenburg (1999) in seiner viel diskutierten Studie zu jenen Dritten Orten argumentiert, die über die vielen kleinen Episoden persönlicher Interaktionen zwischen den Gästen, die Gespräche, die Blickkontakte, die Stammtischparole, die gepflegte Konversation, also vermittelt über Kommunikationen aller Art vergesellschaften und somit eine soziale Aufgabe erfüllen. Dabei dachte Oldenburg an die kleinen Eck-Kneipen, das Kaffee-Haus im Viertel oder die alteingesessene Buchhandlung, an deren Sofa-Tisch man zum Feierabend oder am Samstag in den neuen Büchern liest und ganz nebenbei mit anderen Kunden und vor allem mit dem ortsbekannten Buchhändler ins Gespräch kommt – nicht nur über den neuen Roman von Umberto Eco. Nun muß man nicht Sozialromantiker wie Oldenburg oder Buchhändler-Sohn sein, um den Wandel solcher Dritten Orte beobachten und beschreiben zu können. Die von Oldenburg definierten Dritten Orte zwischen Familie und Arbeit und der Modus der Vergesellschaftung an ihnen haben sich im Laufe der Zeit verändert – dabei spielen die Arten der (medialisierten) Kommunikation eine große Rolle, weswegen es angebracht erscheint, sich als Kommunikations- und Medienkulturwissenschaftler mit diesen Orten auseinander zu setzen. Offensichtlich gibt es Veränderungen an den alten Dritten Orten zu beobachten wie
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Christoph Jacke
auch neue Dritte Orte, die sich im Zuge der Medienevolution entwickelt und bewährt haben und die dementsprechend immer stärker an Medienangebote gekoppelt sind.1 Nicht nur die von Oldenburg genannten Kaffee-Häuser, Pubs etc. sind Treffpunkte, um sich zu informieren und zu kommunizieren, sondern auch die kommerzialisierten, professionalisierten und institutionalisierten Dritten Orte wie die Shopping Malls oder Themenparks sind, wie Gernot Böhme (2001) gesagt hat, direkt spürbar, theatralisiert und inszeniert, ja, aber weit mehr als ein rein pragmatischer, sozial wertloser Warenumschlagsplatz.2 Oldenburg befaßte sich mit Lokalitäten, deren Mittelpunkt zunächst einmal nicht das klassische Shopping ist. Will man die Gedanken Oldenburgs in aktuellen Kontexten diskutieren und wo möglich fruchtbar machen, bietet sich ein gesellschaftlicher Bereich an, der gewissermaßen zwischen den alten und bei Oldenburg nostalgisch verklärten Dritten Orten (der Biergarten, der Pub, das Café) und jenen scharf verurteilten „Zentren des Kommerzes“ liegt: die Popkultur. Stark auf Konsum ausgerichtet, zunehmend kommerzialisiert und medialisiert, Kommunikation geradezu provozierend, der Kommunikation verpflichtet, also der Unterhaltung ebenso wie dem Entertainment, und im wahrsten Sinne des Wortes raumgreifend – all das ist Popkultur. Im Folgenden soll dieser Bereich zunächst etwas genauer als zu Grunde liegendes Untersuchungsfeld beschrieben werden, um dann exemplarisch an den popkulturellen Orten Musik-Club und Fußball-Stadion unterschiedliche Modi von Kommunikation, Medialisierung und Kommerzialisierung heraus zu arbeiten und den Strukturwandel Dritter Orte zu beschreiben. Abschließend werden die Überlegungen in einem Fazit zusammengefaßt.
1
Popkultur als Feld Dritter Orte
Unter Popkultur wird hier derjenige kommerzialisierte, gesellschaftliche Bereich verstanden, der Themen industriell produziert, massenmedial vermittelt und durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen – egal, welcher Schicht oder Klasse zugehörig – mit Vergnügen genutzt und (etwa in Form neuer selbst produzierter Medienangebote) weiterverarbeitet wird (vgl. Jacke 2004: 21). Die Akteure der Popkultur stehen unter ganz besonderem Innovations- und somit Zeitdruck. Das gilt sowohl auf der Produktions- und Distributions- als auch auf 1
Ich beschränke mich auf „spürbare“ Orte im Sinne Böhmes (2001: 53), also Orte, deren Atmosphären und Räumlichkeiten uns direkt erscheinen und die wir als Beobachter durch „affektive Betroffenheit“ erfahren können. Damit wird die aktuelle Diskussion um virtuelle Welten und Medienräume weitestgehend ausgeklammert, vgl. einführend zu Theorien sozialer und medialer Räume die Beiträge von Dünne/Günzel (2006) sowie Lindemann (2002). 2 Vgl. zur Inszenierung Dritter Orte Gau (2004) und den Beitrag von Schwarzenegger in diesem Band.
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der Rezeptions- und Weiterverarbeitungsebene des massenmedialen Kommunikationsprozesses. Handelnde der Popkultur zeigen sich besonders einfallsreich in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie – angetrieben vom Mainstream und der von ihm benötigten Dissidenz, also dem permanenten, prozessualen Gegenüber zwischen Innovation und Tradition. Sowohl die Kommodifizierung der Themen, Gegenstände und Akteure der Popkultur als auch die Strategien und Taktiken der alltäglichen Produktion und Rezeption von Kommunikationsangeboten machen die Popkultur für die heutigen Motiv-, Markt- und Werbeforscher so überaus reizvoll (vgl. de Certeau 1988). Popkultur dient – auch und insbesondere der Werbe- und Konsumindustrie – als Seismograph für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen (vgl. Jacke 2005, 2006). Das ständige Wechselspiel zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Kunst und Kommerz, die Vermengung dieser Ebenen, all dies ist typisch für die Popkultur und all dies formt und benötigt Orte, die teils Oldenburgs verklärten Dritten Orten gleichen, dann aber auch jenen Nicht-Orten, die der französische Ethnologe Marc Augé (1994) eindringlich beschrieben hat. Popkultur findet als „Wahlpflichtveranstaltung“ (Keller 2003: 116) statt, als durchaus ernsthaftes Spiel, folgenreiche Simulation oder zukunftsweisende Übung. Popkulturelle Orte eignen sich besonders gut zum Experimentieren, zum Ausprobieren von Konsum und Kommunikation – in Gesellschaft. Hier können Grenzen erprobt und versetzt werden: Dritte Orte „sind kommerzielle Einrichtungen, die Einkaufen, Gastronomie und Entertainment gezielt miteinander verbinden und die einstigen Grenzen zwischen Hoch-, Populär- und Konsumkultur verwischen.“ (Weh 2004: 31) Dementsprechend sieht die Kuratorin der bereits erwähnten Kunst-Aktion „Third Places“ diese Orte selbst als Metapher „für den Trend zur Event-Kultur auch im Kunstbereich [und] für das Zusammenwachsen von High und Low Culture, von Elitekunst und Alltagskultur.“ (Rothauer 2004: 9) Prozesse der Ab- und Ausgrenzung erfolgen hier wie überall durch Kommunikation – entgegen Oldenburgs Befürchtung. Popkultur, so wie sie hier verstanden wird, ist nur im Zusammenhang mit (Massen-)Medien zu denken und ist damit medienkulturell gerahmt (vgl. ausführlich Jacke 2004). Entgegen weit verbreiteter Vorbehalte gegenüber dieser Form von Kultur ist die massenmedial vermittelte Pop-Kultur nicht notwendigerweise mit der Passivität ihrer Konsumenten verbunden. Konsum und Rezeption können hier eben auch Produktion oder Re-Produktion sein. Und auch, wer sich allem Anschein nach einfach nur berieseln läßt, kann dies möglicherweise aktiv tun, also anschalten, um abzuschalten.3 3
Vgl. zum Delegieren von Genuß und Konsumtion und der damit einhergehenden Interpassivität zu einer anderen, kritischeren Sichtweise die Studie von R. Pfaller (2002). Im Anschluß daran hält Weh (2004: 32) fest: „Die paradoxe Logik besteht darin, daß es für den Einzelnen ökonomischer ist,
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Wenn der amerikanische Kulturwissenschaftler John Storey (2003a: 148) etwa von „[s]hopping as popular culture“ spricht, bedeutet dies, daß Shopping aktiv Spaß machen, sogar subversiv weiterverarbeitet, in jedem Fall aber gemeinsam betrieben und erlebt werden kann. Dann ändert sich zum einen der Modus der Vergesellschaftung in seiner Beurteilung von Indoktrination (Kauf oder stirb!) in Richtung sozial orientierter Selbstorganisation (Express yourself!). Zum anderen verschiebt sich der Modus des Konsums selbst: Es geht nicht nur darum, „to buy what is on sale but to consume the public space” (Storey 2003a: 150). Dieser Konsum popkultureller Orte bezieht sich sehr stark auf Kommunikation.4 Anlässe werden durchaus von Medien vorgegeben, die Konsumenten verarbeiten diese dann auf ganz unterschiedliche Weise und eben auch unterschiedlich produktiv.5 Nicht nur das, was konsumiert wird, sondern auch die Art und Weise, wie konsumiert wird, konstituiert hier Identitäten. „Consumption is a significant part of the circulation of shared and conflicting meanings we call culture. We communicate through what we consume. Consumption is perhaps the most visible way in which we stage and perform the drama of self-formation. In this sense, then, consumption is also a form of production.” (Storey 2003b: 78)
Storey muß nach den hiesigen Ausführungen ergänzt werden: We communicate through how we consume! Und dieser Modus von Konsum spielte schon immer eine wichtige Rolle für die Konstruktion von Identitäten – sowohl individuell als auch kollektiv – an Dritten Orten. Auch in der Eck-Kneipe oder Buchhandlung (sensu Oldenburg) geht es um den sozialisatorischen Abgleich von Individualität und Sozialität, von Privatheit und Öffentlichkeit, von Inklusion und Exklusion (entlang der Kategorien Alter, Geschlecht, Schicht, Gruppe etc.), kurzum: um die Konstruktion von Identität. „Der imaginative Hedonismus des urbanen Settings wird in seiner Theatralität zur eigenen Selbstinszenierung genutzt. … Die urbanen ‚Third Places’ dienen heute weniger als Ort der Kommunikation denn als Bühne zur Imagepflege.“ (Gau 2004: 26) Diese Selbstinszenierung erfolgt aber ebenso in der Buchhandlung wie im Fußball-Stadion über kommunikative Orientierung an anderen. Images können nur durch Kommunikation kreiert werden und werden nicht an oder von den Orten „verEmpfindungen an das Setting eines ‚Third Place’ weiter zu delegieren, als sich selbst emotionell zu engagieren.“ Es bleibt zu klären, wie aktiv oder passiv dieses Delegieren eingeschätzt werden kann. 4 Vgl. zum Konsum von Freizeiträumen und Orten des Dazwischen auch den Beitrag von Wöhler zu diesem Band. 5 Dieser Perspektivenwechsel von der Produktions- auf die Rezeptionsseite als Untersuchungsfeld der Konsum(enten)forschung wurde von Dichter u.a. eingeleitet, vgl. Cohen/Rutsky 2005; Cubitt 2005; Trentmann 2006. Selbst Standardwerke der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur sprechen mittlerweile von der zweiten Wirklichkeit des Konsumenten, vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 570ff.
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schluckt“, Imagekonstruktion und -pflege sind demnach höchst kommunikative Vorgänge, insbesondere auf den Übungsfeldern der Popkultur. Eine extrem produktive, popkulturelle Weiterverarbeitung der Kommunikationsangebote Dritter Orte findet bei den nicht-professionellen Experten der Imagepflege und sozialen Orientierung statt, den Fans, die Medienangebote rezipieren, konsumieren, nutzen und verändern. Jenkins (1992) hat etwa im Sinne de Certeaus (1988) in seiner ethnographischen Studie zehn kreative Arten der Weiterverarbeitung von Medienangeboten seitens verschiedener Fan-Gruppen gefunden: Rekontextualisierung, Zeitausdehnung, Charakter-Refokussierung, moralische Verdrehung, Genre-Wechsel, Crossover, Charakter-Verortung, Personalisierung, Emotionalisierung und Erotisierung. Freilich ist nicht gerade jeder Fan ein produktiver oder sogar subversiver Bricoleur, wie es vor allem viele der Fan-Studien der Cultural Studies vermuten lassen. So etwa gibt der Literaturwissenschaftler Dünne (2006: 300) in Bezug auf de Certeaus Ausführungen zu bedenken: „Allerdings läßt sich kritisch fragen, ob sich alltägliche Raumpraktiken einzig als Widerlager zu bestehenden Ordnungen auffassen lassen oder ob ihnen nicht zumindest auch eine konstitutive Funktion in Bezug auf räumliche Ordnung zukommt.“ Auch Storey (2003a) weist ausdrücklich darauf hin, daß nicht jeder Rezipient souverän weiterverarbeitend mit Medienangeboten umgeht. „Consumption, therefore, is always an encounter between the materiality of a cultural commodity and the cultural formation of a consumer, which takes place in a particular context. Whether the outcome is manipulation or resistance, or a complicated mixture of the two, is a question which cannot be answered in advance of the actual encounter.” (Storey 2003b: 112)
In der Person des Fans treffen also Produzent und Konsument zusammen.6 Fans sind gewissermaßen „Extremkonsumenten“, und genau dies macht sie (nicht nur) aus konsumsoziologischer Sicht so interessant. Zwei popkulturelle Dritte Orte, die bislang aus kommunikations- und medienkulturwissenschaftlicher Perspektive kaum beleuchtet worden sind, eignen sich besonders, um an ihnen die bisherigen Beobachtungen exemplarisch zu verdeutlichen: der Musik-Club und das Fußball-Stadion. Beide Orte fungieren gleichermaßen als Schnittstellen zwischen Händler und Kunde, zwischen Produzent und Konsument (exemplarisch als Fan), zwischen anonymer Industrie (Kontrolle, Öffentlichkeit) und individuellen Bedürfnissen (Imagination, Privatheit) und stellen somit für eine Analyse in Orientierung an Oldenburg und de Certeau
6
Vgl. zu Potenzialen der Kommunikations- und Medienverweigerung bzw. -guerilla aus medienkulturtheoretischer Perspektive zuletzt Liebl et al. (2005) sowie Kleiner (2005).
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ein relevantes Untersuchungsfeld dar.7 Gibt es Möglichkeiten der authentischen Interaktion nur im Keller-Club und nicht in der Großraum-Disco, nur im Landesliga-Stadion und nicht in der WM-Arena? Im Folgenden sollen diese Orte, ihre spezifischen Medienangebote und ihre Möglichkeiten von Kollektivität (Vergesellschaftung/Vergemeinschaftung/Kontrolle) und Individualität (Selbst-Imagination/Selbst-Kontrolle) genauer beobachtet werden.8
2
Der Musik-Club
Ein geradezu prototypischer popkultureller Ort des Dazwischen und der Vermittlung ist der Musik-Club. Dabei geht es hier im Allgemeinen um Clubs oder früher Diskotheken, zunächst einerlei, welcher Musik-Stil hier gespielt bzw. aufgelegt wird. Clubs bzw. auch das so genannte clubbing, im Deutschen wohl am ehesten mit dem etwas nüchternen Begriff des Ausgehens zu vergleichen, sind Orte und Handlungen zwischen diversen Polen: Zeitlich bewegt man sich in Clubs zwischen Tag und Nacht (und Tag), zwischen Arbeit und Schlaf; sachlich und räumlich zwischen Privatem und Öffentlichem und sozial zwischen Allein-Sein, Freundeskreis und intimer Anonymität (man kennt sich) sowie zwischen Bei-sich-Sein (nüchtern) und Aussich-Sein (ekstatisch): „This is resistance found through losing your self, paradoxically to find your self.” (Malbon 1998: 281) Wenn man so will, sind Clubs die institutionalisierten Orte des Vorübergehenden, die der britische Geograph und Werber Ben Malbon (1998, 1999) in seinen Studien zum clubbing auch als Kompensatoren für den Verlust von socialising an öffentlichen Plätzen oder deren Generierung zum Nicht-Ort (das Ende des Marktplatzes) nennt: „Public Spaces in the city often seem designed more for travelling through than for socialising within – more fleeting spaces than meeting places.“ (Malbon 1998: 267) Clubs hingegen halten diese Reisenden für ein paar Stunden fest, ohne ihre Besucher zu fixieren, wobei auch hier gilt, was Guido Zurstiege in seinem Beitrag zu diesem Band in Bezug auf Shopping Malls gezeigt hat: daß es eines großen personellen und medialen Aufwands bedarf, um die Illusion des atmosphärischen Club-Flows zu erzeugen.9 Die Clubs selbst sind
7
Vgl. zum Zusammenhang von Musik und Fußball als popkulturelle Bereiche auch Theweleit (2004) und Gebauer (2006). 8 Die Beobachtungen stützen sich dabei auf eigene Erfahrungen und Gespräche mit Promotern, Künstlern, Schiedsrichtern, Marketing-Angestellten, Fan-Beauftragten und Sponsoren in Seminaren zu Club- und Fußballkultur. Das bereits erwähnte Kunst-Projekt „Third Places“ setzte sich mit den sehr ähnlichen Phänomenen Videospiele, Musikvideos und Fußball-Stadien auseinander, vgl. einführend und theoretisierend dazu Rothauer 2004; Gau 2004; Weh 2004. 9 Inwiefern die Besucher von Clubs und Fußball-Stadien unentgeltlich an deren Atmosphären mitarbeiten und dies von Seiten der Produktion kalkuliert wird, wäre zu diskutieren. Vgl. zu diesen Über-
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ebenso vorübergehend, machen allerdings immer wieder Station, sie orientieren sich an Trends und wandern etwa in Berlin alle paar Monate von Location zu Location (z.B. das WMF), wie Schwanhäußer (2005) oder Stahl (2007) an den SzeneBewegungen und deren „Verräumungen“ (im Sinne von Schwarzeneggers Beitrag zu diesem Band) für Berlin dargestellt haben. Die dort gebildeten Communities treffen sich zwar nur temporär, aber in Serie.10 Einen entscheidenden Einfluß auf die Club-Atmosphäre als Grundlage verschiedener Arten von Konsum (von Genußmitteln, Medienangeboten, Sound, Kommunikation) hat die dort gespielte Musik, oder noch einmal in den Worten Malbons: „Yet in each case it is the ability of music (and sound more generally) to create an atmosphere (an emotionally charged space) which is of crucial importance, for it is largely this atmosphere that the clubbers consume.” (Malbon 1998: 271) Diese Musik, dieser Sound eines Clubs ist verantwortlich für die Rahmung des von Böhme erwähnten Atmosphärischen, ja, populäre Musik hat dadurch sogar öffentliche Räume strukturiert und markiert und ist so selbst erst alltäglich geworden.11 Zugleich ist die Musik in dreierlei Hinsicht auch das wichtigste Medienangebot des Clubs: 1. Erzählmaschinen und Provokation von Anschlußkommunikationen: Als ein unendliches Gewebe aus sich ständig erneuernden und wiederholenden Narrationen, an denen viele beteiligt sind,12 animieren die Sounds und ihre Geschichten zum Konsum auf der Tanzfläche, aber auch eventuell zum späteren, erneutem Konsum der Tracks oder Songs neben der Tanzfläche und zu Hause. Sie stellen die Grundlage dar, die in Themenparks oder Genußtempeln benötigt wird, um die Einkaufsmaschinen zu unverdächtigeren „Erzählmaschinen“ und deren Produktion von unverbindlichen Wirklichkeits-Landschaften zu machen (vgl. Legnaro/Birenheide 2005). 2. Kommunikationsentlastung: Als Entlastung von Kommunikationszumutungen ersparen mitreißende Sounds zudem manch verbohrte Konversation, entlasten also vom Small Talk mit Hilfe des Tanzes – Beweg Deinen Hintern! „Dancing might be seen as an embodied statement by the clubber that they will not be dragged down by the pressures of work, the speed and isolation of the city, the chilly interpersonal relations one finds in many of the city’s social places.” (Malbon 1998: 271)
legungen im Hinblick auf den Vergnügungspark Disneyland, einen weiteren durchkommerzialisierten Dritten Ort, vgl. Legnaro 2000. 10 Vgl. zu einem temporären und seriellen Szene-Ereignis die Ausführungen von Thomas Düllo zum Burning Man Festival in diesem Band. 11 Vgl. zu einem informativen Abriß der Entwicklung populärer Musik im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Urbanisierung und konkret zu Musik und Raum Wicke 2001: 22ff. 12 Vgl. Gebauer 2006.
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Soziale Orientierung: Schließlich dienen die Sounds als Komplexitätsreduzierer, indem sie einen oft klar definierten Vorschlag durch den nächtlichen MusikDschungel gestalten: „Hier wird eben Minimal Techno und nicht Heavy Metal gespielt.“ Hauptsächlich über den Konsum von Musik entstehen so in speziellen Clubs ganz eigene Gruppen von Besuchern, die die Situation zu einem kommunikativen Wechselspiel verschiedener Akteure machen: „The clubbers consume each other – the clubbing crowd contains both the producers and the consumers of the experience and the clubbers are consuming a crowd of which they are a part; the club space comes to resemble a scene ‘in which everyone is at once both actor and spectator’.” (Malbon 1998: 277) Neben dem zentralen Medienangebot, der Musik, gibt es in den unterschiedlichen Clubs weitere Medienangebote, deren Rolle für Anschlußkommunikationen wichtig ist: der Flyer mit der nächsten Party am selben Abend, die Programmhefte der anderen Clubs, die Plakate der coolsten Konzerte, die Visuals oder die flackernden Fernsehschirme mit Musik-Clips, Spielfilmen oder Ankündigungen der kommenden Veranstaltungen. In der Bereitstellung dieser Medienangebote läßt sich die von Kai-Uwe Hellmann (2004) im Zuge der Rollenausdifferenzierung erwähnte Entkopplung von Produktion und Konsumtion in der Unterscheidung Unternehmen/Haushalt auf den Kopf stellen: Im Club fallen Produzent und Konsument in einzelnen Personen völlig ineinander. Eben noch Konsument etwa eines Longdrinks, bin ich nun schon in der darauffolgenden Kommunikation Produzent in Form eines DJs, Tänzers oder Erzählers. Kurzum: Clubs erscheinen als geradezu exemplarische Knotenpunkte für das, was Hellmann (2004: 146) als Konsum zweiter Ordnung auf dem Markt der feinen Unterschiede bezeichnet: „Konsumkultur ist somit gekennzeichnet durch eine Vervielfältigung der Bedürfnisse und Wünsche, die sukzessive jede Erwartung an Beständigkeit und Begrenztheit untergräbt und das Moment der Phantasie und Stimulation immer stärker in den Vordergrund der Orientierung schiebt.“ (Hellmann 2004: 151)
Zu diskutieren wäre sehr wohl Hellmanns Vorschlag, nicht mehr von SubKulturen zu sprechen, sondern allgemein von Konsumkultur, da erstere keiner dominanten Kultur gegenüber stünden: „Was jedoch dagegen spricht, überhaupt von Subkulturen des Konsums zu sprechen, ist das Fehlen einer Dominanzkultur, ohne die es keine Subkulturen geben kann. Denn nahezu alle Formen des Konsums, die wir heutzutage antreffen, haben gemein, daß es sich um Konsum zweiter Ordnung handelt. Dies zeigt sich gerade bei HarleyDavidson-Fahrern, die durchweg vor Publikum agieren, Ingroup wie Outgroup. Insofern spiegeln alle (Sub-)Kulturen des Konsums zugleich auch dieses zentrale Merkmal der vorherrschenden Konsumkultur wider. Aus diesem Grund liegt es auf
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der Hand, lediglich von Konsumkulturen zu sprechen, ganz so wie man auch auf der Seite der Produktion von Unternehmenskulturen spricht.“ (Hellmann 2004: 153)
Mit Storey (2003a, 2003b), Schrage (2003) und Jacke (2004) etwa könnte diese Dominanz in Form der Massenmedien und Massenkultur „als kompensatorische Verhinderung einer möglichen Revolution, als kulturelle Entwurzelung oder als kulturelle Demokratisierung“ (Schrage 2003: 66) eingeführt werden, innerhalb derer dann eben doch wieder Umordnungen möglich sind. Und auch die RaumSoziologin Martina Löw (2001: 227) bescheinigt in ihrer wegweisenden Studie, daß das Schaffen eigener institutionalisierter (An)Ordnungen im Raum ein zur Dominanzkultur gegenläufiges und somit gegenkulturelles Geschehen sei. Gerade im Hinblick auf Musik-Clubs sind solche subkulturellen Verräumungen grundlegend, gerade diese arbeiten ständig an räumlichen, sozialen und kommunikativen Inklusionen und Exklusionen bestimmter Gruppen. Insbesondere in Clubs geht es im Hinblick auf Vergesellschaftung um Dabei-Sein (in the house!) oder Draußen-Sein (out of bounds!), diese Grenze wird durch Kleidung, Sounds, Drogen und nicht zuletzt den Türsteher vermittelt. Innerhalb dieser Konsumkulturen im Sinne Hellmanns sind sehr wohl subkulturelle als gegenkulturelle Gruppen zu erkennen, die sich voneinander oder auch vom jeweiligen Mainstream absetzen und im Zuge dieser Bewegung selbst verwirklichen. So ist zum Beispiel die einstige Berliner Demonstration Love Parade als wandelnder Club zwischenzeitlich zum kommerzialisierten Großereignis entdifferenziert worden (gemeinsam allein), auf das die Individualisierungsmärkte reagieren, aus welchem sich dann aber wieder mit der Fuck Parade bzw. Hate Parade eigene kleinere Gegenbewegungen mit stärkerem Gruppencharakter ausdifferenziert haben. Die spielerischen Gegnerschaften differenzieren sich lediglich immer weiter in Subs und Mains der Konsumkulturen aus.13 Für genau diese Veränderungen sind Clubs wesentliche Beobachtungsplattformen. Wie beständig z.B. ein Musik-Stil und damit zusammenhängend auch ein Club selbst sein können, liegt dabei im Management der sich latent verändernden Angebote seitens der Musikindustrie auf der einen und der genannten Bedürfnisse der Besucher auf der anderen Seite, kurzum der unterschiedlichen pop-gesellschaftlichen Trends.14 Die Konsumenten scheinen in Clubs besonders am Konsum des Konsums als Präsentationsplattform des Selbst und im Kollektiv orientiert:
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Vgl. ausführlich zum Gegen- im Dabeisein von Kultur und ihren Ebenen Jacke 2004. Selbst wenn die Individualisierung extrem wird und die „Pimp Generation sich selbst featuret wie die Hölle“, um ein Special-Thema der Zeitschrift De:Bug im November 2006 zu paraphrasieren, dann wird zwar auf Myspace sich selbst vermarktet, doch letztlich auf das Zusammenstellen eines Freundeskreises und gemeinsames Ausgehen und Erleben von Musik-Präsenz gehofft. 14
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Sieht man diese an de Certeau (1988) angelehnten Arten des alltäglichen (Konsum-)Handelns als mikropolitisch potentiell subversiv an, läßt sich die für die Cultural Studies nicht untypische Argumentation des Aufstands im Kleinen mit Ben Malbon nachvollziehen. Der Club scheint prädestiniert für solche Allianzen und Kämpfe, hier können Identitäten kollektiv orientiert und individuell konstruiert gleichzeitig aus- und immer wieder spielerisch anprobiert werden, hier beginnt alles beim Ich auf der Tanzfläche (vgl. Bonz 2006) – und dies über Malbons Argumentation hinaus nicht nur im Kleinen, also etwa dem Tanzen zu einem einzigen Song, sondern auch im ständigen Konstruieren der eigenen und auch der Gruppen-Identität.15 Musik-Clubs, so kann vorläufig und verallgemeinernd festgehalten werden, sind also Dritte Orte, an denen regelmäßig auf ganz unterschiedliche Art konsumiert und kommuniziert wird, wobei beide Handlungstypen durch Medienangebote rund um den Nukleus Musik motiviert werden. Dabei gibt es sowohl die Tendenz, Musik-Clubs zu serialisieren, also jeder Stadt oder jedem Landkreis seine Großraum-Disco zu bauen und somit vorhersehbar und verfügbar zu machen, als auch den gegenläufigen Trend, ganz individuelle, hoch spezialisierte Clubs für kurze Zeit und manchmal illegal zu eröffnen, bei denen Außenstehenden überhaupt nicht klar ist, was genau an diesen Orten geschieht. Die Klientel ist sicherlich unterschiedlich. Dennoch scheint − gerade im Gegensatz zum heimischen MusikKonsum im Wohnzimmer − an beiden Möglichkeiten eine hohe Ritualisierung und Präsenz von Körperlichkeit gegeben, die „Effekte einer Körper-Grammatikalisierung erzeugen (eine beschränkte Zahl von Regeln produziert eine Unendlichkeit von Formen, die alle gewisse Grundzüge teilen)“, wie es der Literaturwissenschaftler Hans U. Gumbrecht (1998: 202) für den Genuß von American Football im Stadion und im Fernsehen beobachtet hat. Gumbrechts Überlegungen lassen sich nämlich auf Musik-Clubs wie auf Fußball-Stadien übertragen,16 womit das zweite Beispiel für popkulturelle Dritte Orte angesprochen ist.
15 Daß es bei diesen ‚Kämpfen’ auch immer um Vereinnahmung von örtlichem und klanglichem Raum durchaus im politischen Sinne geht, zeigen Club-Veranstaltungen queerer Gruppen, vgl. die Beiträge in Haase et al. (2005) und generell zur Clubkultur auch die Beiträge in Redhead (1997) und im Kunstforum International Bd. 135: Cool Club Cultures. 16 Gumbrecht (1998: 207) diskutiert, ausgehend von Kunst und Literatur, die Dialektik zwischen ursprünglicher Provokation und kanonisierter Konvention beim Sport. Dieser Strang seiner Diskussion ist besonders vorherrschend in Diskursen über Popkultur, vgl. Jacke 2004.
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Das Fußball-Stadion
Ein ausführliches Zitat des österreichischen Kulturwissenschaftlers und Kunstsoziologen Roman Horak (2004: 56f.) in Anlehnung an Chas Critchers frühe sozialwissenschaftliche Studien zum Supporter (Fußballfan) der 1970er Jahre17 stellt die Verbindung zum Rituellen in Gumbrechts Argumentation und gleichzeitig zum Produktiven des Fans in Storeys und Malbons bereits genannten Überlegungen her: „Auf das Fußballspiel bezogen wäre nun der Angehörige der Anhänger (also der, der dem Verein ‚anhängt’) im klassischen Sinne, der mit seinem Verein in Sieg und Niederlage mitfühlt und mitleidet. Für ihn ist es nicht einfach gewohntes Ritual (das wohl auch), regelmäßig die Spiele ‚seines’ Vereins vor Ort (im Stadion) zu besuchen, es gehört auch zu seinen Pflichten. Andererseits sieht er die Spieler ‚seines’ Klubs auch verpflichtet, wenn schon nicht jedes Spiel zu gewinnen, aber wenigstens alles daran zu setzen, für den Erfolg der gemeinsamen Institution (der ‚Rapid’, zum Beispiel) den größtmöglichen Einsatz aufzubringen. Der Kunde kennt keinen eigentlichen Verein, dem er anzugehören meint, für ihn kann es um ein schönes Spiel, um etwas Action in der Fankurve oder – vielleicht – um die Stimmung im Fußballstadion gehen. Wird ihm das Gewünschte nicht geboten, wechselt er entweder den Verein, die Sportart oder sein Freizeitverhalten insgesamt. … Für den Konsumenten ist das Spektakel Fußball eines unter vielen, Enttäuschung, wie sie dem Kunden noch passieren kann, kennt er nicht, bestenfalls Unzufriedenheit mit dem angebotenen Produkt. Er wählt nach – möglichst – rationalen Kategorien aus.“
Die von Critcher einst getroffene und hier von Horak aufgegriffene Unterscheidung zwischen Anhänger, Kunde und Konsument kann auf aktuelle Beobachtungen in Fußball-Stadien etwa der deutschen Fußball-Bundesligen übertragen werden. Der Besucher-Typ des Anhängers, des klassischen „Kuttenträger-Fans“, wird zurückgedrängt von neuen Besucher-Typen, wie etwa Familien und Geschäftskunden, die den Marketingabteilungen der Clubs immer wichtiger werden.18 Der Umgang mit dem Fußballspiel insgesamt hat sich, wie etwa Horak (2004: 57) beschreibt, verändert. Fußball ist längst Bestandteil von Popkultur geworden,19 und insofern ist auch das Stadion ein Ort der Kommunikation, der Medienangebote und allgemein des Dazwischen. 17
Vgl. auf Deutsch Critcher 1976. Wobei mit Weh auch der Konsument nicht prototypisch als feste Größe existiert, sondern veränderbar erscheint: „Heute bezeichnet der so genannte Gruen-Transfer jenen Augenblick, in dem ein zielstrebiger Konsument, der eine bestimmte Ware sucht, zu einem spontanen Konsumenten wird. Es ist jene Transformation, die sich in einem plötzlichen Wechsel der Fortbewegungsart niederschlägt: Der zielgerichtete Gang macht einer mäandernden Bewegung Platz.“ (Weh 2004: 36) Gleiches gilt für Kunden, weniger für die klassischen Anhänger. 19 Vgl. etwa die Studien von Jacke/Keiner 2006, 2007. 18
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Wie im Club die Musik und der Sound, so bildet im Stadion das Spiel die Rahmung und zugleich den Mittelpunkt für das Atmosphärische: „Tatsächlich wirkt das Geschehen auf dem Rasen, auf den Tribünen und in den Medien vor dem Hintergrund unserer kulturellen und politischen Institutionen wie ein Fremdkörper. Es ist eine eigenartige Welt inmitten unseres Alltags“ (Gebauer 2006: 9). Auch hier also tauchen die Besucher in eine vollkommen andere Umgebung ein, in der sie vieles an- und ausprobieren können. Auch hier werden Identitäten geübt, wenn diese auch klarer als im Club festgelegt sind.20 Ansonsten schlüpft man in die Rolle des unbeliebten neutralen oder unentschiedenen Beobachters – Hauptsache, ein schönes Spiel! Zeitlich liegen die bekanntermaßen hauptsächlich am Samstagnachmittag stattfindenden Erstliga-Spiele zwischen Wochenendanfang bzw. Arbeitsende am Freitag und Familientag am Sonntag. Sachlich und räumlich sind Fußballstadien das Dazwischen von Wohnzimmer, Kneipe und Sportplatz. Und sozial fungieren sie als eine Institution zwischen Spielern/Vereinen und Fans/Zuschauern sowie zwischen Familie, Freundeskreis, Fans und Feindeskreis: Was? Du bist Bayern-Fan? Horak (2004: 61ff.) spricht von drei verschiedenen Spielen, die beim Anblick eines Fußball-Spiels ablaufen: das eigentliche Spiel, das Spiel auf der Tribüne und das Fernseh-Spiel. Die Interaktion zwischen diesen drei Ebenen sorgt für die Bildung von temporären „Communities“ und für das Gefühl der aktiven Mitgestaltung auf seiten der Anhänger, Kunden und Konsumenten: „Hier [beim Besuch eines Fußballspiels im Stadion, C.J.] passieren zwischen gemeinsamer Freude oder Empörung, geteiltem Leid, ja geteilter Verzweiflung und Hoffnung, auf der einen, und ironischer Distanzierung und Selbstdistanzierung auf der anderen Seite, kleine private Öffentlichkeiten, die sich aus zwei Quellen speisen: nämlich aus der Gewißheit ihrer zeitlichen Begrenzung – ein Spiel dauert nicht viel länger als 90 Minuten – und aus der geteilten Hoffnung gemeinsam das Spiel auf dem grünen Rasen mit gestalten zu können.“ (Horak 2004: 60f.)
Im Fußball-Stadion zeigen sich die neuen Trends unter den Fans; auch dieser Ort ist sowohl Spiegel als auch Trendsetter größerer gesellschaftlicher Entwicklungen zwischen Subversion und Kommerzialisierung. Das gute alte Stadion ist voller Geschichten, die in der kommerzialisierten Variante des Stadions erst noch erfunden, zumindest aber wieder-gefunden werden müssen:21 „Das Geschäftsmäßige organisiert den Rahmen, in dem sich die privaten Emotionen entfalten können. Fußball ist heute eine Geschäftswelt, in deren Innerem die 20
Vgl. zu österreichischen Stadien und Fußball-Fans die Studien von Horak 1997, 2002, 2004. Vgl. Gau (2004) zur Überschreibung eines Raumes mit einer Geschichte am Beispiel des neu gestalteten Londoner Times Square. 21
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Gefühle brodeln.“ (Gebauer 2006: 133) Diese Gefühle sowie die dazugehörigen Artikulationshandlungen werden zunehmend von Medienangeboten stimuliert. Das Hauptaugenmerk im Fußball-Stadion mag noch immer auf dem Ball und den Spielern ruhen. Es finden sich jedoch insbesondere in den neuen Arenen neben, vor und nach dem eigentlichen Spiel immer mehr Medienangebote, die bei genauerem Hinsehen wiederum die drei im Falle der Musik-Clubs bereits genannten Funktionen erfüllen: 1. Erzählmaschinen und Provokation von Anschlußkommunikationen: Von der Clubzeitschrift bis zum Fanartikel, vom Trikot bis zur Großbildleinwand/Anzeigentafel werden Geschichten erzählt und wiederholt, etwa über die Tradition eines Vereins (Borussia Mönchengladbach) oder über die Stars (Michael Ballack zu Chelsea?). Neben dem damit verbundenen Aufbau eines Images sollen diese Erzählungen aber auch zum weiteren Kauf von Eintrittskarten, Fanartikeln und letztlich auch den Produkten oder Diensten der Sponsoren motivieren. 2. Kommunikationsentlastung: Gleichzeitig entlasten vor allem die primär an einen Verein und seine Spieler gekoppelten Medienangebote vor Kommunikationszumutungen; man ist sich eben einig, und das muß nicht großartig verhandelt werden – selbst wenn man sich einig ist, daß man sich uneinig ist. Nebenbei entlastet der Besuch eines Fußballspiels im Stadion auch zu einem gewissen Maß von gesellschaftlichen Etiketten – hier kann ich mal die Sau rauslassen! 3. Soziale Orientierung: Und schließlich wird auch im Fußballstadion Komplexität durch das Spiel und die darum rankenden Medienangebote stark reduziert und Kommunikation ritualisiert, es gibt bekanntlich die eigene und die fremde Mannschaft und das schon erwähnte, weniger vergnügliche Neutral-Sein. Vor diesem Hintergrund findet auch hier Konsum und damit zusammenhängend Vergesellschaftung auf unterschiedlichen Ebenen der Konsumkulturen statt. „Selbst wenn die Fußballgemeinschaft ein Zerrspiegel ist, zeigt dieser doch die Umrisse von sozialen Gebilden, die andere Erfahrungen von Selbst und Gemeinschaft als im gewöhnlichen Leben entstehen lassen.“ (Gebauer 2006: 63) Fußball, heißt das, ist Popkultur. Anders als befürchtet, verschwindet das Individuum weder in der Allianz Arena noch bei der Love Parade. Den Zuschauern, den Kunden und Konsumenten und erst recht den Fans geht es um das Artikulieren und weniger um das Verschwinden des Ichs. Diese Artikulation des Individuums erfolgt im Stadion wie im Club stets in der Gruppe und genau deswegen sozial kontrolliert. Aus diesem Grund ereignet sich jeder (auch jeder noch so riskante) Versuch, eine neue Rolle auszuprobieren, jedes impulsive Ausleben unterdrückter Emotionen in einem si-
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cheren Rahmen. Auch dies ist allen Unkenrufen zum Trotz im Zuge der voranschreitenden Kommerzialisierung des Fußballsports eben nicht verloren gegangen. Im Stadion selbst gibt es verschiedene Möglichkeiten von gleichzeitiger individueller Verwirklichung und sozialer Vergemeinschaftung (vgl. Legnaro/Birenheide 2005). Neben den althergebrachten Einteilungen in Fußballer und Zuschauer, gewissermaßen in die Akteure auf der Bühne und die Rezipienten im Publikum sowie in das bekannte Wir und die Anderen, also in die verschiedenen Anhänger- und Fan-Gruppen (nicht umsonst sprach man hier früher auch von FanGemeinden), gibt es zusätzlich Ausdifferenzierungen innerhalb dieser und quer zu diesen Gruppen. Was sich noch vor zwanzig Jahren in Bundesligastadien innerhalb einzelner Fan-Gruppen distinktiv bereits durch den Steh- oder Sitzplatz, durch die Dauer- oder Einzelkarte oder durch den Block zeigte, ist mittlerweile noch viel stärker durch die verschiedenen Bereiche in den neuen Arenen gekennzeichnet. Zwischen normalem Sitzplatz und V.I.P.-Lounge-Area mit kulinarischer Vollversorgung bestehen mehr als feine Unterschiede, die von Critcher und Horak erwähnten Kunden und Konsumenten scheinen andere Gebiete innerhalb des Stadions zur Verfügung gestellt zu bekommen als die Fans. Das Stadionpublikum verschmilzt daher heute nur selten zur Gemeinde wie im Fall der Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land – Danke Deutschland! Ferner bietet das Stadion als Dritter Ort zunehmend Raum für ganz verschiedene Anlässe von Kommunikation. Die Arena gehört nicht mehr, wie Gebauer (2006) es in seiner „Poetik des Fußballs“ erstaunlich nostalgisierend beschreibt, den Fans. Diese äußern über Fan-Beauftragte, Blogs und andere Aktionen sogar ihren Protest gegen eine Enteignung „ihres“ Fußballs durch die Kommerzialisierung seitens der Vereinsführung, Sponsoren und des Stadien-Managements.22 Nicht nur ein Eintrittskarten-Mangel während der besagten WM hat das viel erwähnte Public Viewing zu einer neuen Form von Kollektivität der draußen gebliebenen Fußball-Freunde und -Fans werden lassen (vgl. Rötzer 2006): „Sport und Medien sind … auf spezielle Weise verknüpft, indem sie technische Mittel der Massenverbreitung verlangen oder generieren, die soziale Kommunikation zunehmend verdichten; das galt für frühe Druckerzeugnisse und die Photographie, dann in besonderem Maße für Film, Radio, Fernsehen und neuerdings das Internet.“ (Leggewie 2006: 114f.)
22 Mit der Verschiebung vom Kutten- zum Edel-Fan ergibt sich für den Fußball eine bemerkenswerte Beobachtung, die Storey (2003b) zuvor für den Bereich der Opergemacht hat: Ehemals populärkulturelle Ereignisse werden zunehmend von finanziell betuchteren Bevölkerungsschichten vereinnahmt, auf diese ausgerichtet (oder umgekehrt) und somit im Laufe der Zeit zu so genannten hochkulturellen Ereignissen elitisiert und kanonisiert. Wird also etwa das Fußball-Stadion die Opernhalle von morgen sein?
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Bei diesen Medienangeboten geht es längst nicht mehr nur um den Fußball selbst – Stadien sind überdimensionale Erzählmaschinen (vgl. Legnaro/Birenheide 2005): „[E]in neues Stadion als eine gigantische Unterhaltungsmaschine für die ganze Familie, möglichst das ganze Wochenende lang. Fußball ist nach diesem Konzept nur noch der Anlaß für ein multimediales Freizeitvergnügen – für Unterhaltungsangebote, Verkauf von Fanartikeln, für Werbung, Erlebnisshopping. In einer Architektur, die voll auf Emotionen setzt, herrscht das Ideal der Shopping Mall, für die man viele Zuschauer mit viel Geld und viel Begeisterung braucht.“ (Gebauer 2006: 131)
In ihren Inszenierungen werden Stadien, Vereine und natürlich die Spieler – mittlerweile sogar die Schiedsrichter sowie die Zuschauer – zum Teil der Inszenierung und letztlich zur Marke: Die Roten Teufel vom Betzenberg. Mit Passivität auf Seiten der Zuschauer hat dies auch nichts zu tun: „Aus dem Fußball und der Popkultur beziehen Jugendliche Erlebnisse von freiwillig übernommenen Verpflichtungen, auch wenn diese auf ihre Umgebung noch so oberflächlich und lächerlich wirken.“ (Gebauer 2006: 111) In der Berücksichtigung dieser Verpflichtungen entstehen aus vielen individuellen Ichs über kognitive, kommunikative und ganz wichtig affektive Aushandlungen reale, aber eben auch imaginäre Gemeinschaften. Diese Zusammenschlüsse geschehen vor Ort und live dabei. Sie können sich ebenso nicht vor Ort und „live per Fernsehbild dabei“, also beim Public Viewing, im heimischen Wohnzimmer oder auch durch das Erzählen vergangener Spiele vollziehen. Auch Fußballstadien, so läßt sich festhalten, sind Dritte Orte, an denen heute anders als früher konsumiert und kommuniziert wird. Und auch Fußballstadien generieren einmalige Ereignisse in Serie. Ferner stellen insbesondere die neuen, großen Arenen Orte des organisatorischen Spagats aus Originalität und Serialität dar. Vieles erscheint auch hier hoch professionell organisiert, klar erwartbar und ritualisiert, und dennoch ist jedes Spiel ein neues und vollkommen unvorhersehbar. Mit dem nächsten Gegner kann die Überraschung in das Geplante eintreten, sowie mit dem nächsten DJ die Nacht im Musik-Club gänzlich anders werden kann als die letzte.
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Fazit
Unbestritten dürfte bei den beiden hier diskutierten Beispielen der Clubs und Stadien der Vergesellschaftungscharakter für Individuen qua Kommunikation und Konsum sein. Kommunikation, Konsum und Vergesellschaftung verändern sich an diesen Orten in genau dem Maße, in dem sich auch diese Orte selbst im Zuge ihrer voranschreitenden Kommerzialisierung verändern. Dieser „Struktur-
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wandel Dritter Orte“ führt jedoch nicht automatisch zu einem umfassenden Funktionsverlust oder gar zum Verschwinden dieser Orte, so wie dies Oldenburg prophezeit. Die vorangehenden Darstellungen sollten deutlich gemacht haben, was Oldenburgs Dritten Orten und den so genannten Nicht-Orten gemeinsam ist: daß hier wie dort Wahrnehmungs- und Handlungsspielräume angeboten und begrenzt werden, allerdings im Falle der Nicht-Orte klar (zeitlich, sachlich und sozial) standardisiert und anonymisiert. Sind also die Musik-Clubs und Stadien von heute gewissermaßen die medienkulturpessimistische Kehrseite der Medaille, denen weniger standardisiertere, intimere Orte mit „besseren“ Vergesellschaftungsmöglichkeiten vorausgingen? Nein, so lautet die vorläufige Antwort: Sowohl Standardisierung als auch Medialisierung zerstören diese Orte nicht. Und auch die sie besuchenden Individuen und Gruppen sind nicht grundsätzlich als fröhliche, aber unreflektierte Konsumenten im Sinne der fröhlichen Wirtschaft Stuhrs (2003) zu verstehen. Medien revolutionieren Dritte Orte – sie schaffen sie aber ebenso wenig ab wie der viel gescholtene Kommerz, sondern machen sie „nur“ zu mehr von dem, was sie immer schon waren: Orte des Vergnügens, der Kommunikation, des Konsums und der Vergesellschaftung.
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Temporary Community & Temporary Place Burning Man und der inszenierte Anti-Konsum Thomas Düllo Space is the Place (Sun Ra 1972) Tribal Gathering (The Byrds 1968)
Tribal Gathering – dieses Festivalisierungskonzept der späten 1960er Jahre erfüllt sich Jahrzehnte später im jährlichen Ritual in der Wüste Nevadas, genauer in der Black Rock Desert, 190 Kilometer nördlich von Reno, und läßt die Welt erstaunen, wie den literarischen Reisereporter Geoff Dyer (2004: 269): „Was würde man auf einer Luftbildaufnahme von der Black-Rock-Wüste sehen? Einundfünfzig Wochen im Jahr – gar nichts. Das Einzige, was sich ändert, ist das Wetter, ansonsten tut sich hier nichts, was sich nicht schon seit zig Millionen Jahren tut – eine Aussage, wie sie falscher nicht sein könnte. Eine Woche im Jahr würde das Bild eine Stadt zeigen, die sich, was den strahlenden Glanz ihrer Lichter angeht, sogar mit Las Vegas messen kann. Eine Woche im Jahr ist diese Stadt der sichtbarste Ort auf dem Planeten, so fantastisch wie eine von Calvinos unsichtbaren Städten. Und dann ist sie wieder fort. Überall nur noch die endlose Weite der Wüste. Es bleibt keine Spur von ihr – nur in den Herzen und Köpfen ihrer Bewohner, die rund um den Globus verstreut sind.“
Das Ereignis, das seit Jahren und mit zunehmender Breite einen Aufmerksamkeitssog sondergleichen auslöst, wo es doch nur temporär und vor allem geheimnisvoll bleiben will, kompiliert in fast idealtypischer Weise zeitgenössische Inszenierungs-, Raumformierungs- und „Community“-Versprechen mit transformativen und emanzipatorisch-antikonsumistischen Intentionen – als sei es dafür eigens geklont worden. Doch der Faszinationszug, den das Burning Man-Festival jährlich hinter sich her zieht, beruht gerade auf dem Gegenteil: Es ist gerade nicht fiktionales Ereignis, das einer filmischen oder literarischen Science Fiction-Phantasy oder einem Marken-Gadget entsprungen ist. Vielmehr lebt es von der Realität und Nicht-Fiktivität seiner jährlichen Surrealität und Virtualität. Deshalb erregt es gleichermaßen die Aufmerksamkeit seriöser Reisereporter (wie Geoff Dyer) wie das Interesse der über jeden Verdacht an esoterischer oder kommerzieller Ausrichtung erhabenen Zeitschrift Lettre sowie der ethnographisch ausgerichteten Marktforschungsabteilung der Kellogg School of Mana-
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gement der Northwestern University von Evanston, Illinois.1 Was passiert da? In der semi-literarischen Schilderung durch Carl von Siemens (2006) in Lettre International wird der Ursprungsmythos von Burning Man beschworen: „In einer der unwirtlichsten Gegenden Amerikas verbrennen die Einwohner von Black Rock City jedes Jahr eine turmhohe Puppe aus Holz. Viele von ihnen sind kostümiert, andere nackt. Im heißen Atem der Flammen kommt es zu Gelöbnissen, Tränen, spontanen Kopulationen. Doch nicht nur das macht die Ereignisse um den Burning Man so bemerkenswert. Black Rock City ist eine temporäre Stadt in der Wüste, die allein zu Ehren der Puppe entsteht und nach ihrer Verbrennung verschwindet wie eine Fata Morgana. … Die Stadt wurde in San Francisco erdacht. Sie ist keine 20 Jahre alt. An ihrem Anfang steht eine Legende. Die Legende will, daß eine Frau ihren Freund für einen anderen Mann verließ. Der verlassene Liebhaber trug den Namen Larry Harvey. Zur Sommersonnenwende zimmerte er aus Holz ein zweieinhalb Meter hohes Ebenbild seines Rivalen. In der Nacht zog er mit seinen Freunden zum Baker Beach, um den Popanz zu verbrennen. … Dem Jargon seines progressiven Milieus entsprechend, bezeichnete er die Aktion als einen radikalen Akt der Selbstdarstellung. Es sind keine Verbindungen zu Voodoo bekannt. Es ist nicht klar, warum er ein Bildnis des Mannes verbrannte und nicht ein Bildnis der Frau. … In den folgenden Jahren wird das Ereignis am selben Tag wiederholt. 1990 ist die Menge bereits in Stimmung, bevor die Holzpuppe überhaupt aufgebaut worden ist. … Die Lösung liegt darin, ersinnen Larry Harvey und seine Freunde im Restaurant, sich mal so richtig dreckig zu machen. Um das zu erreichen, ist eine Strandparty nicht mehr genug. An ihre Stelle tritt eine Gemeinschaft, in der Menschen nicht mehr Konsumenten, sondern Beteiligte sind. Nichts darf gekauft, nichts verkauft werden. Die Mitglieder in dieser Gemeinschaft müssen folgerichtig Selbstversorger sein. Transaktionen sind dennoch erwünscht, da sie die Isolation des Menschen durchbrechen. Da Handel verboten ist, finden sie in der Form von Tausch und des Gebens von Geschenken statt. Dabei werden nicht nur Gegenstände verschenkt, sondern auch Erfahrungen. Kunst ist das beste Mittel, diese Erfahrung zu gestalten. In der Wahl dieser Mittel besteht absolute Freiheit. Als einzige Bedingung gilt, daß man den Schmutz am Ende auch wieder mit nach Hause nimmt. Es sollen keine Spuren verbleiben.“
Noch in dieser distanzierten Darstellung wird die Tradition kenntlich, der sich die mittlerweile auf fast 30.000 Teilnehmer angewachsene Schar des jährlich stattfindenden Burning Man-Festivals verschrieben hat. Sie ist vorformuliert im Stammbuch performativer Subkultur – von den Aktionen der Dadaisten über die der Situationisten in der Gefolgschaft Guy Debords bis zu den HappeningEvents sowohl der 1950er (Beatniks) wie der späten 1960er Jahre (Hippies), auf die Herbert Marcuse so stark gesetzt hatte, als auch von den „Community“Bildungen so unterschiedlicher Gefolgschaften wie denjenigen der Deadheads 1
Vgl. Kozinets 2002; Dyer 2004; von Siemens 2006. Überdies verbreitet sich im Internet eine breite Fanschar mit unterschiedlichsten Kommentaren und Erfahrungsberichten, vgl. stellvertretend Prüfer 2006.
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(die Anhänger der Gruppe Grateful Dead) bis zu den Technoiden. Das Hauptmerkmal dieser temporären „Community“ ist die Verbindung von Individualismus und Gemeinsinn, ein situativ zelebriertes Oxymoron: „self-expressive partizipation“ (Kozinets 2002: 20) – realisierbar nicht nur durch seine zeitliche Limitierung (ein Ritual für eine Woche), sondern auch durch die Formierungsvorgaben eines bestimmten, ungewöhnlichen Ortes (als temporäre Wüstenstadt, die keine Spuren hinterläßt). Der individualisierte Gemeinsinn, der sich beim Burning Man-Akt artikuliert, läßt sich in drei Leitkomplexe unterscheiden, die kaleidoskopartig sich immer wieder neu mischen und sichtbar werden: (1) in den Komplex der Selbst-Expression; (2) den Komplex der „Community“-Bildung und (3) den Komplex der Inszenierungsform des Karnevalesken. Der ethnographische Marktforscher Kozinets hat die Nebenmotive und ihre – auch theoretischen – Implikationen nuanciert herausgearbeitet. Ich stütze mich auf seine Beobachtungen und Analysen, setze im Folgenden aber den Akzent auf ein weiteres, etwas verstecktes Merkmal der Strategien der Burning Man-Teilnehmer, das man mit Helmut Plessners Sozialphilosophie als das Rollenmodell der Maske im öffentlichen Raum, mithin als das Strategie-Moment der Indirektheit und Mittelbarkeit bei der „Community“-Bildung bezeichnen kann (vgl. Plessner 2001). Inszenierungsmittel dieser Indirektheit und Mittelbarkeit ist das Karnevaleske im Bachtinschen Sinn. Davon aber später. Die temporäre Black Rock City ist ein Dritter Ort, der erst durch seine ritualisierte Inszenierung und durch ein bestimmtes Identitätsangebot zum Raum wird (vgl. Löw 2001: 224). Diese real-virtuelle Stadt nimmt aufgrund ihres temporären und situativen Charakters auf besondere Weise den Status eines halböffentlichen Ortes ein. Sie ist ein Nicht-Ort, im posttraditionellen Sinn, aber anders als Marc Augés Flughäfen oder Metrostationen oder die neuen Museen; sie ist eine Stätte der späten Moderne, aber ganz anders als Bahnhöfe, Shopping Malls, Themenparks oder Disneyland.2 Sie ist so etwas wie Siewerts’ Zwischenstadt, aber doch anders als die sprawling cities wie das Ruhrgebiet oder Los Angeles (vgl. Siewerts 2001). Der Burning Man-Ort ist kein Wahrzeichen innerhalb einer Stadt oder ein dritter Raum, wie ihn die Hybriditätstheorien von Homi Bhabha oder Stuart Hall im Kontext des postkolonialen Diskurses und der Multikulturalismus-Debatte beobachten und konstruieren.3 Sondern er ist vor allem dritter Raum, der fast ausschließlich durch eine performative „Community“-Bildung gekennzeichnet ist. Seine Vergesellschaftung heißt zwar Anti-Konsum, doch meint dies im Grunde vor allem: eine andere – antipassive, antiabstrakte – Form 2
Vgl. Augé 1988, 1994; Legnaro/Birenheide 2005. Vgl. Bhabha 1997: 123ff.; Hall 1994: 210f., 2004: 207ff.; Chambers 1997: 198. Die Dinge ins rechte Licht rückend, vgl. zur Ambivalenz des Hybriditätskonzepts und der Vorstellung vom dritten Raum der Migrationsgenerationen Terkessides 2006.
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des Konsums als Vergesellschaftungspraxis. Ohne diese beiden Elemente, performative Vergemeinschaftung und performativer Anti-Konsum, würde Black Rock City gar nicht existieren. Diesen Formen der – anderen – Konsumtion als Vergesellschaftungspraxis wollen wir nachspüren. Sicherlich sind diese Formen exzentrisch und theatralisch, das macht sie ungewöhnlich, aber gerade in ihrer Zuspitzung werden sie kategorial beschreibbar und exemplarisch. Die Lesart für diese kulturelle Praxis, die wir für die „Community“-Bildung und die andere Art des Konsums anbieten, operiert vor allem kulturwissenschaftlich. Das heißt: Sie fragt nach den Semantiken und nach dem Orientierungsprogramm, die dieser kulturellen Praxis unterlegt sind. Sie fragt nach dem Transformationsversprechen, nach den Codierungen und Kontexten dieses Versprechens, nach den exund impliziten Gegenmodellen, auf die die Logik dieser Praxis antwortet oder auf die sie referiert. Damit geht es um Formen der Artikulation, auf die die Cultural Studies zu recht stets insistieren, aber auch um die topografische Markierung, die die Burning Man-Aktivisten raumstrategisch vollziehen.4 Das Werkzeug der vorgeschlagenen Lesart entnimmt sie vor allem der Werkzeugkiste der Performativitätsanalyse und der Serien- und Massentheorie. Die vorgeschlagene Leseoption besitzt drei Prämissen. Erstens unterstellt sie – wie in neueren Konsumtionstheorien und seit langem in den Cultural Studies geläufig – einen aktiven, verarbeitenden und (mit-)gestaltenden Nutzer, Kunden, Rezipienten. Und genau diese Haltung ist das Ziel aller Artikulation beim Burning Man-Event. Zweitens operiere ich mit der Prämisse, daß Konsum, auch der Anti-Konsum in Black Rock City, eine elementare und zunehmende Form der Vergesellschaftung, der Beziehungsaktivität und der Bedeutungsgenerierung und -kommunikation darstellt.5 Diese Einschätzung von Konsum impliziert nicht nur eine vergesellschaftende Funktion, sondern ebenso jüngere Einsichten der Ding- und Objektforschung, die vom Umgang mit Alltags- und Gebrauchsgegenständen über eine Neueinschätzung des Fetischbegriffs und der Fetischisierung bis zu den soziotechnischen Austauschprozessen und Crossoverreferenzen zwischen Mensch und Dingwelt innerhalb der jüngsten Theorien zur material culture reichen.6
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Eine vergleichbare topografische Lesart (pop-)kultureller Praktiken hat bekanntlich John Fiske (1989) mit seinem Beitrag Reading the Beach vorexerziert. 5 Die Gewährspositionen für diese Beobachtung und Theorie der Konsumtion finden sich unter anderem bei Hellmann (2003, 2004), Gries (2003), Karmasin (2004), Düllo/Liebl (2005) und Ullrich (2006). 6 In dieser Linie stehen die Überlegungen zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge bei Ruppert (1993) und Sabean (1993), aber schon Baudrillards frühe Schrift Das System der Dinge (1968/1991); vgl. ferner zu einem neuen Verständnis des Fetischismus Latours Wissenschaftsforschung aus dem Jahre 2000 und ihm folgend Böhme (2005: bes. 72ff.) mit Blick auf die Herausforderung einer neuen Erforschung der material culture. Es ist hier nicht der Platz, diese wichtigen Impulse weiter zu verfolgen.
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Was fällt unter der genannten Perspektive nun ins Auge? Zunächst die selbstexpressiven Züge der Teilnehmer. Sie haben deutlich performativen Charakter und sprechen – beim ersten Eindruck – die Sprache des Unmittelbaren und Plötzlichen: Die Teilnehmer grüßen sich alle mit einem „Hi“ und „Hallo“, als wären sie einander nicht fremd. Unmittelbarer Einsatz von Stegreifaufführungen, Gesängen, Gitarrenspiel und Tanz vermitteln den Eindruck des Spontanen. Spontaneität und Temporarität minimieren die identifikatorische „Power“ von Festival und Teilnehmer nicht, sondern intensivieren sie vielmehr. Daß die individuelle Selbstexpression sich dann im kollektiven Akt der Purifikation und Ekstase beim finalen Verbrennen des Burning Man entlädt, entspricht ganz dem Richtungscharakter der Massenformierung, wie sie in Klaus Theweleits Massentheorie formuliert wird. Der Typus von Masse, von dem hier die Rede ist, hat die Eigenschaft der genußvoll erfahrenen Dichte. Überdies besitzt das Ereignis den Charakter einer situativen Als-obGleichheit. Damit sind bei diesem Massentypus drei der vier Haupteigenschaften der Masse prägend, die Theweleit (1996: 169) bei Canetti rekapituliert: 1. Die Masse will immer wachsen; 2. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit; 3. Die Masse liebt Dichte; 4. Die Masse braucht eine Richtung. Die Formation der Burning Man-Aktivisten zu einem Kollektivkörper verschaltet sich mit dem Medium Burning Man, und die finale Richtung der kollektiven Verbrennung läuft darauf hinaus, daß der ganz Kollektivkörper die ganze Nacht hindurch einen Umzug bildet, gruppenweise Stationen machend um einzelne, spontane Feuer, Ad-hoc-Parties und Ad-hoc-Performances. Und Richtung heißt am Ende Auflösung und Auslöschung. Nicht nur wird das Medium, die Figur des Burning Man, verbrannt, sondern die Teilnehmer verbrennen auch Geschichten und Ängste, aufgeschrieben auf Zetteln oder ihre eigens zu diesem Zweck verfertigten Kostüme. Aber auch die Künstler entzünden ihre während des Events entstandenen Kunstwerke. Statt Dauer geht es um Gesten der Verabschiedung und des Loslassens, wie sie in symbolischen Verabschiedungsritualen sowohl aus archaischen Gesellschaften als auch karnevalistischen Traditionen bekannt sind. Der Dritte Ort, den die Burning Man-Wüstenstadt verkörpert, ist massentheoretisch auch deshalb ein gerichteter Massenort, weil die Richtung auf das Finale hin konsequent zur Selbstaufhebung des Ortes und seiner „Community“ führt. Dies ist der eine massentheoretische Aspekt, der andere ist gekennzeichnet durch den Wiederholungs- und Seriencharakter des Burning Man-Events. Nicht nur, daß die Teilnehmer im nächsten Jahr möglicherweise wiederkommen, dokumentiert den seriellen Charakter des Festivals. Vielmehr bestätigt sich insgesamt Theweleits Beobachtung, daß Massenphänomene sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in Serienphänomene verändert haben:
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„Man kann Marshall McLuhans Satz, jedes neue technische Medium ist eine Erweiterung des menschlichen Körpers, von hier aus vielleicht umkehren: menschliche Körper sind, in ihrer seriellen Existenzform, Anhängsel und Erweiterungen technischer Medien. Und: die serielle Existenzform nimmt zu gegenüber der des Menschen als Massenteil.“ (Theweleit 1996: 191f.)
Unter Serie und Serialität sind sich wiederholende und untereinander variierende Formen der (oft ritualisierten) Bündelung von Gleichartigem zu verstehen, deren begriffliche und konnotative Herkunft natürlich von den automatisierten, in der Erscheinung stereotypen Produkten industrieller Fertigung herrühren − von der Tomatensuppendose über das Automobil bis zur Fernsehserie. Die Serienphänomene und seriellen Existenzformen reichen dabei von Andy Warhols berühmter Campbell’s Dose über Barbie Puppen und Markenjeans bis zum All American Boy and Girl oder zu den TV-Serien á la Six Feet Under oder den Gilmore Girls, ja sogar und hartnäckig bis zum Phänomen der Serienmörders. Aber auch so unterschiedliche Phänomene wie die Pilgerfahrten nach dem Tod von Lady Di an der Diana Lane, die Love Parade oder die aufgeregten und polarisierten Debattierungsgruppen bezüglich der Neuen Rechtschreibung sind Beispiele von Serienbewegungen unter einem Serienzeichen. Was geschieht nun bei der Transformation individualisierter Menschen in Kollektivkörper des Seriellen? Worin besteht die Attraktivität beim freiwilligen Anschluß an ein Serienphänomen? Zunächst befriedigt der Anschluß an etwas Serielles den Bedarf nach Nicht-Subjektivität, nach nur wenig nuancierter Gleichheit, nach einem Körper wie dem der Anderen − wie beim Besitz eines Produktes einer großen Marke oder eines Kleidungsstücks, das alle Anderen in der favorisierten Peergroup tragen, oder beim Mitsingen einer TopTen-Platte oder beim ritualisierten Zuschauen einer diskursiv am nächsten Tag verhandelten TV-Serie. Seit den späten 1950er Jahren ist dies die Ursozialisation amerikanischer Teenager, seit langem eine globale Sozialisationsform, die längst nicht mehr nach der Adoleszenzphase beendet ist, sondern – verschoben und neu montiert – auf Dauer gestellt wird. In diesem Gleichheitsbedürfnis nur einen Verblendungszusammenhang und das ideologische Werk einer amerikanisierten Kulturindustrie zu sehen, heißt, den Ernst und den Verheißungscharakter dieses Sozialisationsprogramms zu verkennen und die Tatsache einer kulturellen und ästhetischen Praktik zu ignorieren. So zählt Theweleit (1996: 208f.) – im Idiom seiner Theoriewerkstattsprache – ganz plausibel auf: „Die Cola Dosen, die die Schul-Teens in ihren Zimmern als ‚die Kunst’ auf den Regalen versammeln, beziehen ihre Attraktion, ihren Reiz, ihre Schönheit in der Tat aus der Tatsache, daß es sie nicht nur einmal gibt, sondern milliardenhaft. Dies Dosen-Outfit, dieser Cola-Song, voll gelungen, sie werden jeden Tag besser, mit jeder Dose besser, die irgendwo auf den fünf Kontinenten die Abfüllstation verläßt. …
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Thomas Düllo Die Campbell’s Dose: eins der ersten Markenzeichen, ‚brand’, das eine nationale Ausbreitung erreicht, thus keeping the country together. ‚Serie’ in Amerika identitätsstiftend. Sie stiftet allerdings kein Subjekt, bloß einen amerikanischen Körper. … Die USA sind gemacht aus einer Sternserie ... aus 50 Sternen und 500 Marken ... Auflage unendlich ... amerikanische Identitätsversicherungen ... Brandzeichen im amerikanischen Fleisch. Warhols Dosen brennen dies Brandzeichen fest zu einem Bild (oder Serienzeichen). Die Dose selbst ist Industrieblech mit gekochtem KuhInhalt, plus Markendesign. Von diesem (altamerikanisch) geht der Schritt zu Materie und Farbe, zu Druck und Zeichen, zum modernen, artistischen ‚zweidimensionalen’ Körper; eine Körperrevolution. Der Körper des Seriellen ist kein gefüllter, er ist flach, er ist schön, er ist leer.“
Gegenüber zahllosen Interpretationsansätzen7 über Kollektivkörper, die sich beispielsweise Tanzperformances, die auch das Publikum transformieren, widmen, gilt die von Theweleit beobachtete Existenzform des Seriellen für das Normalsubjekt. Allerdings in der Weise, daß das Serielle das Normalsubjekt von der Orientierung an Grandiosität entlastet: „Das auf Seifenschachteln gezogene, das verhüllte Selbst entkommt der als nicht erkannten Schwere des Normal-Subjekts, dieses Wesens, das stöhnt und zusammenbricht unter der psychischen Belastung seiner persönlichen Geschichte(n); entkommt der Schwere durch kühles medial werden, sei es durch genaue Aufzeichnung besonders des offenbar Belanglosen, sei es durch Selbstauslöschung der eigenen ‚individuellen’ Schöpferkraft (‚ich erfindet nichts ...ich nimmt nur auf ...ich ist nur A+B’) ...ein Körper plus ein anderer Körper (plus n), oder ein Körper plus ein Gerät = eine Schaltung (plus eine Kette weiterer Schaltungen).“ (Theweleit 1996: 209)
Diese Verschaltung „plus n“ und „plus Kette“ bestimmt auch die Motivation der Burning Man-Festivalisten und verrät – zumindest serientheoretisch – die Nähe dieses Anti-Konsums zum Seriencharakter von Marken und seriell erzeugter Massenkunst und Massenware, auch wenn die Eventteilnehmer gerade durch einen gegenteiligen Impuls motiviert sind. Das Gegenmodell – industrielle Massenware und serielle Massenkunst – wird zugleich negiert und erfüllt. Doch die Herkunft aus den ästhetischen Avantgarde-Bewegungen der Nachkriegszeit bringt Serienkunst und die anti-konsumistischen Serienteilnehmer vom Burning Man-Festival zusammen, denn „Das Gleiche ist nie gleich“ (Heinrich 2001: 10). Das gilt für Kaufentscheidungen, Markenwechsel, Zuschauer- und Besucherbewegungen und auch für Freundschafts- und sogar Liebesformationen. Das gilt aber auch für die performative und kostümierende Konkurrenz unter den Festival-Teilnehmern. Diese Differenz im Gleichen markiert auch den Wettbewerbs7
Vgl. Sasse/Wenner 2002.
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charakter der Serie: „Daß die Serienformationen nicht ein Körper werden wollen, wie die Masse, schließt ein, daß die Einzelnen untereinander sich offenkundig und ausgestellt in einer Art Konkurrenz befinden: = wer verkörpert die Serie (das Gleiche) am besten!?“ (Theweleit 1996: 237) Freilich heißt dies im Fall von Burning Man: Man applaudiert der Konkurrenz, der Wettbewerb – zumindest berichten das die Teilnehmer so – ist frei von Gesten und Artikulationen, die die anderen Konkurrenten „dissen“, mithin diskriminieren könnten. Seriell ist auch, wie sich alle Teilnehmer ausnahmslos bei aller Individualität als Serienteilnehmer empfinden – als Partizipierende der „richtigen“ Serien mit dem Serienzeichen „Burning Man“ und mit temporärem Anti-Konsum. Und das heißt: Aktivität statt Passivität, heißt mitmachen, sich spontan und semi-künstlerisch entäußern, heißt auch schenken und tauschen. Deshalb gibt es auch die „falsche Serie“, von der sich die Akteure abheben: „the entranced televison couch potato“ (Kozinets 2002: 25), der extensive, unemanzipierte Markenkonsument und alle nichtaktiven Zuschauer. Folglich heißt es proklamatorisch auf den Tickets: „You voluntarily assume the risk of serious injury or death by attending this event. You must bring enough food, water, shelter and first aid to survive one week in a harsh desert enviroment. Commercial vending, firearms, fireworks, rockets and all other explosives prohibited. ... This is no consumer event. Leave nothing behind when you leave the site. Participants only. No spectators.“8
Teilhabe am Burning Man-Erlebnis meint deshalb zunächst die Selbstverpflichtung zur „self-transformation“ (Kozinets 2002: 26) durch den performativen Akt der Überschreitung der Liminalität (vgl. Fischer-Lichte 2004: 305ff.). Dies wäre innerhalb der Erlebnisrationalitätskategorien von Schulze (1992) ein innenorientierter Akt – so wie er für die Szenen und Erlebnismilieus der 1980er typisch gewesen ist. Das Bemerkenswerte am Burning Man-Festival ist nun aber der kollektive Versuch einer zwar temporären, in ihrem symbolischen Gestus jedoch das Ereignis überdauernden „Community“-Bildung – und dies ist innerhalb des Erklärungssystems von Schulze dann eine außenorientierte Intention, auch und gerade, wenn man ihre Zeitstruktur berücksichtigt. Denn Ritualisierung und Temporarität der Festivalperformances, aber auch symbolisches, also nicht nur selbstbezügliches Agieren sind – nach Schulze (1994: 85ff.) – außenorientiertes, weil auf den Faktor „Zeit“ gerichtetes Handeln. Der „Community“-Gedanke des „civic engagements“ (Kozinets 2002: 21) und seine partizipative Realisierung speisen sich nun – und das ist der zweite Leitkomplex vom Burning Man-Event – vor allem aus fünf Komponenten, die auch in 8
Allerdings ist der einmalige Beitrag von 110 US-Dollar für das Ticket zu entrichten zur Deckung der hohen Verwaltungsgebühren an die lokalen Behörden.
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der Burning Man-Organisation 2000 artikuliert werden. Kozinets (2002: 24) summiert diese fünf Gemeinschaftskomponenten wie folgt: “The first sign of a community is mutual of each member’s unique abilities versus tendency of ‚commerce and the public sector [to] define us on the basis of deficiency and need’ (Burning Man Organisation 2000). The second sign is cooperative, collective effort, as opposed to being ‘made passive’ when consuming a service or being part of a mass market that consumes or views ‘in complete isolation from one another’ (Burning Man Organisation 2000). Lack of persuasion and overt exploitation is the third sign, in which transactions take place without money, advertising, or hype. Local myths or the use of stories as opposed to the use of formal business reports is the fourth sign. The fifth sign is a spirit of celebration in which, because of its intensely social character, ‘the line between work and play is blurred’ (Burning Man Organsiation 2000).”
Offensichtlich gibt sich dieser symbolische Anti-Konsum die Form des Culture Jamming9 und des Spielerischen unter Rückgriff auf Sozialformen archaischer Gemeinschaften: Man trifft auf Formen des Potlatch, also eine Geschenk- und Tauschsozialform, die auf Reziprozität beruht. Folglich gewinnen innerhalb dieser re-archaisierenden Gemeinschaftsstrategien „raw materials for gifts“ (Kozinets 2002: 29) ebenso an Bedeutung wie Formen mündlicher Kommunikation als Tauschmittel. Damit inszeniert das Festival die Suggestion eines Authentizitätsversprechens unter den Bedingungen ubiquitärer Nicht-Authentizität (vgl. Lethen 1996). Raue Materialien und das Potlatch eines oralen Austauschs von Geschichten, Episoden und Witzen als Zahlungsmittel erinnern an die Unmittelbarkeit und persönliche Verbürgung der Zahlungsmittel. So „bezahlt“ man etwa einen Drink an der Bar mit einer Geschichte oder einem Witz. Der Barkeeper „verkauft“ keine Drinks, sondern lädt die Gäste ein. Egal, was sie geben oder erzählen – nichts gilt als lächerlich, gering oder unpassend. Dieses Ritual mag dem Außenstehenden naiv oder spleenig vorkommen. Und doch erinnert diese Geste authentischen Gebens und Nehmens an ganz elementare Entwicklungslinien der Ökonomie, nämlich an den Zusammenhang von Zählen und Erzählen. In Vilém Flussers spekulativer und phänomenologischer Medientheorie wird dieser Zusammenhang rekonstruiert als Abstraktionsentwicklung von der Höhlenmalerei über das Zählen der Kaufleute und das Aufkommen der Schrift bis zu den Oberflächen der digitalen Medien. Flussers Kurzgeschichte der Kulturentwicklung ist im Kern eine Handlungstheoriegeschichte und hört sich so an:
9
Vgl. Lasn (2005), der unter Jamming eine Taktik des Blockierens und Störens von kultureller Kommunikation versteht.
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„Man kann die Kulturgeschichte auch verkürzt erzählen. Zuerst hat der Mensch in der ihn angehenden Welt gehandelt, dann hat er geschaut, um zu handeln, dann hat er gefingert und hingehört, um zu sehen und dann handeln zu können, und gegenwärtig tastet er ab, um überhaupt etwas befingern und hören zu können, um es nachher vielleicht anschauen und behandeln zu können.“ (Flusser 1993: 19)
In dieser Kurzgeschichte kommen die Kaufleute in dem Moment ins Spiel, wo die Nähe der Handlungsweisen von „erzählen“ und „zählen“ noch spürbar ist, bis sich schließlich für die Ökonomie die Abstraktionsleistung des Zählens bewährt. Der Anti-Konsum des Burning Man-Events, der die Authentizität des Geschichtenerzählens als Tausch- und Zahlungsverkehrsmittel reaktiviert, ist insofern kein Anti-Konsum, sondern eine Rückkehr an die Wiege der Ökonomie und der Versuch einer Anti-Abstraktion. Das wird deutlich, wenn man die analoge Stelle aus Flussers Buch „Lob der Oberfläche – das Abstraktionsspiel“ von 1993 mit Blick auf die kulturellen Praktiken beim Burning Man-Projekt liest: „Was geschehen ist, geschah im Grunde aus der für Kaufleute entstandenen Notwendigkeit zu zählen; Lieferscheine und Rechnungen herzustellen; Lagerlisten und Schiffsladungen aufzustellen. Es ist aber unbequem, Sachen in Sachverhalten zu zählen. Weit bequemer ist es, sie in Reihen zu ordnen. Also riß man die Sachen aus der Fläche heraus und reihte sie zu Linien auf, um sie addieren zu können. Die Sachen werden zu kleinen Steinchen (calculi), sie werden kalkulierbar. Die Sachverhalte werden zählbar – und daher auch erzählbar. Sie wurden ‚Geschichten’. Die Kaufleute von Ugarit verwandelten, um zählen zu können, die bedeutungsvollen Sachverhalte von Lascaux [erste Höhlenmalerei, T.D.] in kalkulierbare Geschichten. Nicht mehr ‚geheimnisvolle Stiere’, sondern ‚sechs Rinder’. Die Fläche wurde aus der Welt abstrahiert, und die Szene verwandelte sich in einen linearen Vorgang.“ (Flusser 1993: 14)
Einmal mehr wird in solchen ritualisierten, nicht abstrahierenden, sondern konkret handelnden Praktiken deutlich, daß das verbindende Element der „Community“Bildung darin besteht, ein Zeichen zu setzen gegen anonymen und passiven Konsum, gegen die „couch potatos“ und gegen „cocooning“. In der Logik dieser Distinktion liegt dann auch die Abgrenzung von anderen Großevents wie Disneyland oder Retro-Woodstock-Veranstaltungen seit den 1990er Jahren.10 Darüber hinaus berührt sich die Tauschform des Erzählens in Black Rock City mit der Renaissance des „Storytelling“ im Feld der gegenwärtigen Ökonomie, sei es in der Marktforschung, sei es bei der Vermittlung von Business Models. Interessant nun ist der gemeinsame Nenner der Inszenierungsformen, die sowohl die Selbst-Expression als auch die Gemeinschaftsbildung performativ herstel10 Zur Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und zum Archaischen als Formen medialer Aufmerksamkeitssteuerung vgl. Andree 2005: 335ff, 423ff, 486ff.
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len und sichern sollen. Dieser dritte Leitkomplex ist die Karnevalisierung des Burning Man-Ereignisses, also die Revitalisierung von subversiven Formen der Volkskultur, die Bachtin (1995) vor allem anhand des Werks von Rabelais in der Renaissancekultur entdeckt hat. Damit sind Formen der Transformation gemeint, die den individuellen Teilnehmer, seine Körperhandlungen, die „Community“ und den temporären Raum gleichermaßen betreffen. Das Karnevaleske hat zum einen deutlich künstlerische Züge aus der Tradition der performativen Kunst, bei dem alle Akteure Agierende sind und alles Bühne ist, aber unter Einhaltung freiwillig akzeptierter Regeln. Die Verwandlungen und Kostümierungen leben von spielerischen Formen archaischer Identifikationen und Expressionen, bei denen der Burning Man, der am Ende verbrannt wird, wie ein Totemtier die Gemeinschaft bindet und egalisiert (vgl. Gehlen 1979). Zum anderen sind die karnevalesken und magischen Transformationen dieses Kollektivkörpers „imaginäre Statussprünge“, wie sie Geertz (1991: 245f.) beim balinesischen Hahnenkampf beobachtet hat − freilich Statusspiele mit inversiver Intention. Denn gerade der Statusgedanke soll ja situativ und temporär in Form der Geschenkpraktiken und primitiver Tausch-Ökonomie nur spielerischen Charakter haben und letztlich nivelliert werden. Im Selbstverständnis der Teilnehmer und Organisatoren gelingt diese Transformation des Selbst, der „Hyper-Community“ (Kozinets 2002: 35) und des Raums vor allem durch die Herstellung und Wahrung zweier Artikulationsmodi: der Authentizität und der Unmittelbarkeit. Deshalb werden die „outsiders … judged as inauthentic“ (25), deshalb der Einsatz von Nacktheit, primitiver Ökonomie, mündlicher Geschichten, rauen Materials, elementaren Feuers, urlandschaftlicher Wüste, Mystik oder Animismus. Nur soll man diesem Selbstverständnis der Akteure folgen? Verrät der Einsatz des Karnevalesken nicht genau das Gegenteil von „authenticity“ und „immediacy“? Gelingen die Transformationen und temporären Identitätserlebnisse nicht vielmehr über Umwege, über Nicht-Unmittelbarkeit, über Maskierungen, Kostümierungen und zwischenzeitliche Rollenübernahmen? Schon der Ort selbst, die Wüste, die das Burning Man-Ereignis zum Stadtraum von Black Rock City für eine Woche werden läßt, ist in dieser Transformation kein unmittelbarer, sondern ein mittelbarer Raum. Die nicht-alltäglichen Körperinszenierungen und -kostümierungen und die HyperPerformativität der permanenten Schwellenüberschreitung dieses Events und seiner „Community“ sind Mittel einer Als-ob-Authentizität und Authentizität zweiter Ordnung, die nicht verleugnet, daß auch sie Produkt einer Inszenierung ist (vgl. Düllo 2000: 271f.). Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann agieren die Burning Man-Teilnehmer – entgegen eigener Formulierungen, aber mit performativer Kompetenz – auf einem Terrain der Gemeinschaftsbildung, die sich mit Simmels und mehr noch mit Plessners sozialphilosophischen Überlegungen zwischen 1900 und 1930 als Formen der Nicht-Unmittelbarkeit und der maskierenden Verstellung kennzeichnen lassen. Gerichtet waren diese Gemeinschaftstheorien einerseits gegen
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den Terror der Intimität, begründet aber auch durch die Zumutungen großstädtischer Reiz- und Wahrnehmungsüberflutung (vgl. Simmel 1957). Die zu ihrer Zeit, aber auch im heutigen sozialpsychologischen Mainstream eher unübliche und unpopuläre Theorie einer Absehung vom Selbst durch Maskerade, „Blasiertheit“ oder Indifferenz als Bedingung einer Anerkennung des Anderen und damit einer demokratischen Gemeinschaft (vgl. Plessner 2002) – diese Praktiken der „Community“Bildung durch Inauthentizität und Indirektheit lassen sich dem Kulturtext vom Burning Man-Ereignis durchaus ablesen. Freilich haben sich die Bilder und Rollen von Simmel oder Plessner bis zur Burning Man-Idee verschoben, die als Räume und Maskenträger dieses zivilgesellschaftlichen Experiments fungieren können. Wo Simmel und Plessner den Raum der Großstadt vor Augen hatten, ist es hier eine Wüstenstadt. Wo Simmel und Plessner den Flaneur, aber auch noch die Wiederkunft des honnête homme, des citoyen und die Sachlichkeit der kalten persona11 anvisierten, da sind es in Black Rock City wärmende Coolness-Vertreter, freilich auch sie in Rollenmasken, die wie eine Enzyklopädie subkultureller Artikulationsauftritte daher kommen: „There are all sorts here, a living breathing encyclopedia of subcultures; desert survivalists, urban primitives, artists, rocketeers, hippies, Deadheads, queers, pyromaniacs, cybernauts, musicians, ranters, eco-freaks, acidheads, breedders, punks, gun lovers, dancers, S/M and bondage enthusiasts, nudists, refugees from the men’s movement, anarchists, ravers, transgender types, and New Age spiritualists.“ (Wray 1995)
Man darf ergänzen: Auch europäische Normalisten (sensu Link 1999) und Romantiker (sensu Illouz 2003) flankieren diesen Reigen subkultureller Expressivität. Zum Aspekt des Rituellen gehören noch zwei weitere Momente: Feuer und Feueropfer. Der teilnehmende Beobachter Geoff Dyer (2004: 278) schildert dies als intensiv erlebte Raum-Zeit-Erfahrung: „Black Rock City hat immer die Form eines riesigen Hufeisens, auf einem topographischen Zifferblatt von zwei bis zehn Uhr, mit dem Burning Man in der Mitte, um den sich die Zeiger bewegen – wenn es solche geben würde. Wenn das Räumliche wie hier durch das Zeitliche definiert ist, weiß man immer, wo man gerade ist. Eine Lampenallee erstreckt sich vom Central Camp (sechs Uhr) bis zum Mann über die Playa. Bei Tag erinnert die Allee gelöschter Lampen einerseits an die Via Sacra des Forums in Rom und andererseits an eine Archäologie der Zukunft: die Blaupause einer kaum erblickten Kultur. Am Abend werden sie kurz vor dem Dunkelwerden von einer kleinen Prozession feierlich angezündet. Normalerweise gipfelt das Burning Man Festival in der Nacht der Verbrennung in einem unbändigen Gefühlsüberschwang, aber mit dem
11
Vgl. Lethen 1994: 75ff.
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Thomas Düllo zeremoniellen Entzünden der Lampen wird eine andere Art von Flamme geehrt: das stetige, nie verlöschende Feuer der Zivilisation.“
Am Ende dann werden Feuer und Feueropfer erfahren als modern-archaische Epiphanie. Dabei tritt nun der re-mythisierende Aspekt deutlich hervor, und zwar in seiner sowohl promethäischen als auch fortunatischen Gestalt, wie sie jüngst Sloterdijks anthropologisch grundierte Seinsphilosophie im Kontext einer breit angelegten Raum- und Formationstheorie wieder ins Gedächtnis gerufen hat.12 Im Angesicht des Purgatoriums gerät Dyers Bericht zur enthusiastischen Hymne, ohne aber eine Demutsgeste am Ende zu vergessen, die er beim Burning Man beobachtet haben will: „Denn eigentlich wurde alles von den Flammen verschlungen, und überall waren nackte Leute, die um die Flammen herumliefen, und alles wurde von allem verschlungen, sogar die Wüste von dem sich über uns wölbenden, alles verschlingenden Firmament. Es war wie das Ende der Welt, nur mit dem Unterschied, daß es wie der Anfang der Welt war. … Und nun war ich hier und starrte in die Glutreste, wo der Mann gestanden hatte. Es war ein Höhepunkt in meinem Leben, gleichzeitig aber ein irgendwie vertrauter Moment: einer dieser Augenblicke, die das ganze Leben lohnend erscheinen lassen, weil es zu diesem Augenblick geführt hat. ... Kurz bevor der Mann von den Flammen endgültig verschlungen wurde, knickte sein Knie ein. Er kippte nach vorn, und einen Augenblick sah es so aus, als wollte er aus dem Feuer steigen, das ihn definierte und verzehrte.“ (Dyer 2004: 280f.)
Mißt man dem Burning Man-Festival und seinen kulturellen Praktiken eines individualisierten, temporären Gemeinsinns damit nicht zu große Bedeutung zu? Wohl kaum. Hier artikulieren sich signifikante, ja durchaus repräsentative Bedürfnisformationen, allerdings expliziter und darum auch lesbarer als auf anderen Entwicklungsterrains. Sie stellen in ihrer Haltung und in ihren Praktiken aber beileibe kein Unikat dar. Sowohl die Form der „Community“-Bildung, die über Praktiken der Indirektheit und Maskierung erzielt werden, als auch die parades-
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Siehe auch die Bedeutung des Feuers als „verbündete Fortuna“, wie Sloterdijk (2004) sie beschreibt, als Termotop innerhalb von neun „anthropogenen Inseln“, versehen mit der Rolle eines Verwöhnungsraumverstärkers: „Die älteste Form einer solchen verbündeten Fortuna ist das Herdfeuer, an dem die Frauen walten und die Priester hantieren. Zweifaches Personal, doppeltes Glücksversprechen. Das Feuer ist ein Hausgott mit weitreichenden Verbindungen und eine Haus-Seele von sinnlicher Präsenz. ... Hier taucht die Denkfigur ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ erstmals auf. Im alteuropäischen Kontext ist Prometheus der Titan mit dem Helfer-Syndrom, der exemplarische Sponsor und Menschenfreund.“ (Sloterdijk 2004: 399f.) Die „letzte Verdichtung“ des Opferfeuers sieht Sloterdijk „in der Figur des Verzichtenden, des samnyasin, der nicht mehr an äußeren Feuern opfert, sondern seine ganze Existenz in einem mentalen Feuer verbrennt, der Flamme des Veda.“ Sloterdijk hebt des weiteren „die egalitäre Versammlung ums Feuer“ hervor, dem auch das Burning Man-Ritual zugrunde liegt.
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senten13 Verbindungen von Ich-Bezogenheit und egalitärem Anspruch finden sich – durchaus mit großer Zahl, also massenhaft – in anderen „Community“Bildungen. Beispielsweise bei den sog. digital natives, den „Eingeborenen des Internets“ (Hamann 2006), zu denen ja auch ein Großteil der Teilnehmer am Burning Man-Event gehört, und zwar professionell agierend im Raum San Francisco. Die Eingeborenen des Internets sind als Mitproduzierende das „Gegenteil des bloßen Zuschauers“, und so sie „politisch interessiert sind, stellen sie das Gegenteil des trägen Untertanen dar“ und vertreten egalitäre Prinzipien.14 Aufgrund dieser Relevanz und Signifikanz kommt dann auch der Marktforscher Kozinets zu einem abschließenden, fast schon Plessnerschen Urteil über Burning Man, das viel soziologischer und ethnografischer anmutet, als es Klischees der Konsumentenforschung vermuten lassen. Nicht die irrationalen und romantisierenden Strategien der Teilnehmer und Organisatoren nimmt er ins kritische Visier, sondern die Signifikanz ihrer bedeutenden Praxis: Die Konsumtions- und Gemeinschaftshaltungen und -praktiken der Burning Man-Akteure sollten „be conceptualized as a corrective, or at least ameliorative, response to two efforts of market logics, namely, its tendency to weaken social ties and to reduce or homogenize self-expression. … The conceptualisation of hypercommunity draws us to question and examine the possibilities for the caring and sharing communal ideal within market-oriented communities. … Burning Man is not about major social change, but minor changes in identity, taking place collectively and simultaneously. It is not a grand utopia, but a more personally enriching youtopia – a good place for me to be myself, and you to be yourself, together.” (Kozinets 2002: 34f.)
Was sich in der Wüste um den Burning Man herum formiert, ist eine diffuse und nur temporäre Bedürfnisgruppe. Daß sich nun die Markt- und Bedürfnisforscher nicht nur der Northwestern University von Evanston auf den Weg machen, um einer neuen Konsumentenformation mit ethnographischem Rüstzeug auf die Spur zu kommen, belegt zunächst zweierlei. Zum einen gibt es den verzweifelten Versuch von Verbraucherethnographie und Trend- und Entwicklungsforschung, die sich vom massenhaften Verhalten rund um das Burning Man-Event unmittelbare Einsichten in die gegenwärtige Konsumtionsmentalität versprechen. Zum anderen wirft der Ausflug der Chicagoer Marktforscher in die Wüste Nevadas noch einmal und grundsätzlich die Frage nach der Marktkategorie „Zielgruppe“ auf.15 13
Mit „paradessent“ bezeichnet Shaker (2002) in seinem Trendforschungsroman Savage Girl/Der letzte Schrei die Verbindung aus Paradoxie und Essenz, also die Essenz des Paradoxen. 14 Andere Berührungen gibt es besonders mit Shakers Savage Girl (der Aspekt primitiver Ökonomie, das paradessente Bedürfnis nach Archaik und moderner Authentizität), mit den magischen und performativen Wüstenhappenings, die Don Delillo in Underworld schildert, aber auch hinsichtlich der Eventphilosophie und -strategie mit dem Cirque de Soleil. 15 Vgl. dazu näher Fiske 1999; Düllo et al. 2005; Jäckel 2004: 264ff.
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Mag man im Dritten Ort des Burning Man-Festivals und in seiner performativen und vergesellschaftlichenden Idee von (Anti-)Konsum am Ende die Wiedererweckung eines alten Hippie-Produkts sehen, so bedeutet dies keinen Widerspruch zu seinem Innovationspotential und zu einem ausgefuchsten und erfolgreichen Geschäftsmodell. Wie man am Konzept und Erfolg von Cirque du Soleil ablesen kann, ist auch dies ein verkapptes Hippie-Projekt von unverhohlenen Betreiber-Hippies (vgl. Kim/Mauborgne 2005: 3f.). Und man darf in den Burning Man-Aktivisten durchaus reflektierte und kompetente „Konsumbürger“ im Sinne Wolfgang Ullrichs (2006) sehen, und zwar nicht, weil sie wie alle „Konsumrebellen“ (Heath/Potter 2005) nur einem „Mythos der Gegenkultur“ aufsitzen und „Rebellion als Distinktionsgewinn“ praktizieren, sondern weil sie andere, aber im Entwicklungstrend befindliche performative Formen der Konsumtion durchbuchstabieren und erproben und damit einen Dritten Ort schaffen.
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Nachwort
Über den Funktionswandel von Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus Guido Zurstiege
Die Autoren dieses Sammelbandes haben aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln Phänomene beschrieben, die helfen, jene Prozesse zu verstehen, die ehrgeizig unter der Überschrift „Funktionswandel der Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus“ anvisiert worden sind. Daß Räumlichkeit in einem umgangssprachlichen Sinn konsumiert werden kann, dürfte selbst den vehementesten Verfechtern des authentischen (Ray Oldenburg), des geschichtsgetränkten, anthropologischen Ortes (Marc Augé) bewußt sein. Man schlendert durch die Straßen einer schönen alten Stadt wie Wien – und konsumiert: etwa die beeindruckende Architektur der Hofburg oder das bunte Treiben im Museumsquartier vis-à-vis. Man nimmt Platz in einem Café, fühlt sich gut aufgehoben – und konsumiert wiederum: die Atmosphäre und vielleicht auch ein Stück Torte. Egal was wir tun, immer besetzen und benutzen wir dabei einen Ort im Raum, den wir dadurch in gewisser Hinsicht „konsumieren“. Dort, wo hingegen nicht nur „in gewisser Hinsicht“, sondern im engeren Sinn von Konsum die Rede ist, etwa in Differenz zum Verbrauch, dort gilt als minimales Abgrenzungskriterium die vorangegangene zielgerichtete Produktion dessen, was in Folge konsumiert wird. Regenwasser wird verbraucht, auch dann, wenn es im Sommer eine willkommene Abkühlung spendet. Mineralwasser aus der Flasche wird demgegenüber konsumiert, auch dann, wenn man es aus Versehen verschüttet. Sollte Raum in diesem Sinn konsumiert werden können, dann müßten wir also zuvor in der Lage sein, ihn auch zu produzieren. Dies aber widerspräche jener ebenso scharfen wie zutreffenden Beobachtung Georg Simmels (1992: 690), daß die Vorstellung, jeder Raum sei einzigartig und nicht in der Mehrzahl zu denken, eine der wichtigsten „Grundqualitäten der Raumform“ darstellt. Wenn wir alles, was wir tun, an einem Ort im Raum tun, wenn ferner in einem Raum kein Platz für einen zweiten ist, dann können wir konsequenterweise Raum weder vernichten noch produzieren – und damit im engeren Sinn eben auch nicht konsumieren. Und dennoch lautete unsere These, daß dem Raum im Zeitalter des Konsumismus das gleiche widerfahren ist wie zuvor dem Geld: die Metamorphose vom
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bloßen Medium zum „Objekt der Begierde“, von der Voraussetzung (auch) des Konsums zu dessen Gegenstand. Einen ersten Hinweis darauf, welche Voraussetzungen gemacht werden, wenn von dieser Metamorphose die Rede ist, hat Makropoulos in seinem Beitrag zu diesem Sammelband mit Blick auf den engen Konnex zwischen Architektur und Konsum als die „technische Ausweitung des Möglichkeitshorizonts“ bezeichnet. Was dies mit Bezug auf den Konsum von Raum heißt, kann man sich am Beispiel des Hochhauses verdeutlichen. Das moderne Hochhaus ist eine kühne Erfindung, weil die möglichen Folgen des Turmbaus hinlänglich bekannt sind und es deshalb einigen Mutes bedarf, um neuerlich an den Wolken zu kratzen. Das Hochhaus steht also in gewisser Hinsicht auch auf diesem Fundament: der Überzeugung, daß die Überlieferung das eine, die Ingenieurskunst hingegen das andere ist. Es ist bislang kaum angemessen gewürdigt worden, daß die meisten Hochhäuser in aller Regel einen Namen besitzen: Ob Sears Tower oder Burj Dubai, ob Empire State Building oder Rockefeller Center, ob Commerzbank-Tower oder Messeturm – all diese Hochhäuser sind uns ein Begriff. Und genau damit wird bei näherem Hinsehen eine Form der geographischen Bezeichnung revitalisiert, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eigentlich der geordneten Hausnummerierung gewichen ist. Anders als das nummerierte Haus, auch darauf hat bereits Simmel (1992: 711) hingewiesen, vermittelt das durch einen Eigennamen benannte Haus seinen Bewohnern ebenso wie seinen Gästen „eine höhere Art von Einzigartigkeit“. Das sind in einer Gesellschaft, die (nicht nur) ihre Adressen auf der Grundlage egalisierender Normierungsvorschriften verwaltet, immerhin ein Luxus und natürlich ein wertvolles Aufmerksamkeitskapital. Allerdings verursacht diese gesteigerte Form „räumlicher Individualität“ Kosten, denn das namentlich bezeichnete Haus ist nicht ohne Weiteres zu lokalisieren. Das Hochhaus kann sich seinen individuellen Namen nur deshalb leisten, weil es den Mangel an objektiver Lokalisierbarkeit dadurch kompensiert, daß es sich gut sichtbar in die Höhe schraubt und buchstäblich „Raum greift“. Der imposante Commerzbank-Tower in Frankfurt ist also von vielen Punkten der Stadt aus zu sehen, weswegen man seine Adresse getrost vergessen kann. Was sich am Beispiel des Hochhauses bereits andeutungsweise erkennen läßt, spitzt sich an den Stätten der späten Moderne (Legnaro/Birenheide), an den Orten des normierten Konsums und Entertainments weiter zu. Der Skyscraper setzt sich über den Raum hinweg, indem er seine Funktion in ihn hinein multipliziert. In jeder der 53 Etagen des Commerzbank-Towers, heißt das, überall hier wird gewirtschaftet. Georg Simmel sah diese Art der räumlichen Bezugnahme in Reinform durch den Staat realisiert, der in einem definierten Staatsgebiet eben überall ist. Demgegenüber steht eine zweite scheinbar bescheidenere Form der räumlichen Bezugnahme, deren Reinform Simmel durch die Kirche verkörpert
Über den Funktionswandel von Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus 199 sah. Bescheidener ist diese Form der räumlichen Bezugnahme, weil die Kirche „ihrem inneren Sinne nach keine Beziehung zum Raume“ (Simmel 1992: 693) aufweist, also überräumlich ist. Nur scheinbar bescheidener ist diese Form der räumlichen Bezugnahme, weil die Kirche eben aufgrund der Emanzipation vom Raum eine so mächtige, weil gleichmäßige Beziehung zu allen Punkten des Raumes aufbauen kann. Nur scheinbar bescheidener ist diese Form der räumlichen Bezugnahme deswegen, weil noch der Staat sich logisch dem Primat des Territoriums unterzuordnen hat, während die Kirche ihrem Anspruch nach alle räumlichen Grenzen sprengt. Räumlichkeit im Zeitalter des Konsumismus erschließt sich nun im Spannungsfeld dieser Koordinaten: Lokalisierbarkeit vs. Individualität, Ubiquität vs. Begrenzung, Überlieferung vs. Neubeginn. Die Shoppingcenter, MultiplexKinos, Clubs und Stadien, Vergnügungsparks, Ketten-Restaurants und FlagshipStores, kurz: die Konsum- und Entertainmentzonen unserer Tage sind überräumliche grenzensprengende Phänomene. Sie sind lokalisierbar, nicht weil sie sich physisch in die Höhe schraubten, nicht Fahrstuhl und Rolltreppe sind die Schlüsseltechnologien dieser Orte, sondern Kommunikation. „Geographiemachen“, so kann man im Anschluß an Wöhlers Beitrag sagen, die Ausweitung des Möglichkeitshorizonts, die Produktion des Raums zum Zwecke seines Konsums erfolgt im Falle der Konsum- und Entertainmentzonen unserer Tage mit Hilfe von Technologien der Symbolmanipulation. Um als Geschäftsidee wiederholbare und stetig zuwachsende Erfolge zu garantieren, dürfen die neuen Dritten Orte keine Orte mit Geschichte sein, keine anthropologischen Orte im Sinne Augés, sie dürfen keine überlieferte Geschichte besitzen, sondern müssen Geschichte schreiben und sind daher ohne den massiven Einsatz von Kommunikation überhaupt nicht funktionstüchtig. Weil sie notwendigerweise geschichtslos sind, muß ihnen Geschichte nun freilich eingeschrieben werden, zuallererst in Form von Gebrauchsanweisungen („Rauchen verboten“, „An der Linie warten“, „Exit“…). Und weiter: Ohne eingeschriebene Wunscherfüllungs-, Verwandlungs- und Veränderungsgeschichten könnten diese Orte ihren Besuchern nicht das Gefühl vermitteln, ihre Individualität, ihr Dasein ließe sich hier an Ort und Stelle gestalten. Ohne den massiven Einsatz von Kommunikation ließe sich schließlich nicht jenes hohe Maß an Redundanz erzeugen, daß den McDonald’s in London mit dem in Paris und Rotenburg an der Wümme zum Verwechseln gleich macht. Dies ist die conditio sine qua non des Raumkonsums im Zeitalter des Konsumismus: nicht wie noch im Falle des Hochhauses die Einmaligkeit an einem Ort, sondern die Verwechselbarkeit an unterschiedlichen Orten. Konsumräume, so hat Christian Schwarzenegger anhand Foucaults Begriff der Heterotopie deutlich gemacht, setzen sich auf diese Weise über das Territorium hinweg, sie „stül-
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pen“ sich über das, was sie vorfinden. Die Heterotopie ist das geographische Pendant zu jenem karnevalistischen Moment der Auszeit, das, wie Thomas Düllo gezeigt hat, auch heute noch im modernen Konsum lebendig ist, was sich selbst, nein, gerade dort besonders deutlich beobachten läßt, wo der profane Konsum im Rahmen quasi-sakraler Rituale ostentativ negiert wird.
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Autorenangaben
Benet DeBerry-Spence, Dr., Assistant Professor für Managerial Studies am College of Business Administration der University of Illinois at Chicago. Forschungsschwerpunkte: transkulturelle Konsum- und Verbraucherforschung und speziell Kulturforschung in Ghana. Ausgewählte Publikationen: Transcultural Consumption and Meaning Transfer: African Clothing in the United States. Evanston 2003; Ludic Agency and Retail Spectacle, in: Journal of Consumer Research 31, 2004, S. 658-672 (zus. m. Robert V. Kozinets, John F. Sherry, Jr., Diana Storm, Adam Duhachek und Krittinee Nuttavuthisit); Gendered Behavior in a Male Preserve: Role Playing at ESPN Zone Chicago, in: Journal of Consumer Psychology 14, 2004, S. 151-158 (zus. m. John F. Sherry, Jr., Robert V. Kozinets, Adam Duhachek, Krittinee Nuttavuthisit und Diana Storm). Thomas Düllo, Dr., wissenschaftlicher Assistent an der Universität Magdeburg und Lehrender im Studiengang „Cultural Engineering“. Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaft, Hochschuldidaktik, Praxiszugänge, Popular Culture, Qualitative Markt- und Motivforschung. Ausgewählte Publikationen: Einführung in die Kulturwissenschaft. Münster 1998 (hg. zus. m. Jutta Greis, Christian Berthold und Peter Wiechens); Kursbuch Kulturwissenschaft. Münster 2000 (hg. zus. m. Arno Meteling und Andre Suhr); Cultural Hacking. Kunst des strategischen Handelns. Wien/New York 2005 (hg. zus. m. Franz Liebl). Adam Duhachek, Dr., Assistent Professor für Marketing an der University of Indiana. Forschungsschwerpunkte: Untersuchung der Gefühle von Konsumenten und jener Prozesse, die den Konsumenten dabei helfen, mit diesen Gefühlen umzugehen. Ausgewählte Publikationen: The Influence of Goal-Directed and Experiential Activities on Online Flow Experiences, in: Journal of Consumer Psychology 13, 2003, S. 3-16 (zus. m. Tom Novak und Donna Hoffman); A Multidimensional Hierarchical Model of Coping: Examining Cognitive and Emotional Antecedents and Consequences, in: Journal of Consumer Research 32, 2005, S. 41-54; Consumer Personality and Coping: Testing Rival Theories of Process, in: Journal of Consumer Psychology 15, 2005, S. 52-64 (zus. m. Dawn Iacobucci).
202 Kai-Uwe Hellmann, Dr., Privatdozent am Institut für Soziologie der TU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftssoziologie, Gesellschaftstheorie. 2002 Gründung der AG Konsumsoziologie (zus. m. PD Dr. Dominik Schrage). Ausgewählte Publikationen: Soziologie der Marke. Frankfurt/M. 2003; Der Konsum der Werbung. Zur Produktion und Rezeption von Sinn in der kommerziellen Kultur. Wiesbaden 2004 (hg. zus. m. Dominik Schrage): Das Management der Kunden. Studien zur Soziologie des Shopping. Wiesbaden 2005 (hg. zus. m. Dominik Schrage). Christoph Jacke, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator „Kultur, Kommunikation und Management“ Universität Münster, Lehraufträge an den Universitäten Wien, Paderborn, Bremen, Berlin und der Hochschule für Musik Köln, Forschungsschwerpunkte: Medienkultur- und Kommunikationstheorie, Cultural Studies, Popkulturindustrie, Medienkritik. Ausgewählte Publikationen: Medien(sub)kultur. Geschichten − Diskurse − Entwürfe. Bielefeld 2004; Kulturschutt. Über das Recycling Von Theorien und Kulturen. Bielefeld 2006 (hg. zus. m. Eva Kimminich und Siegfried J. Schmidt); Populäre Kultur und soziales Gedächtnis. Theoretische und exemplarische Überlegungen zur dauervergesslichen Erinnerungsmaschine Pop. Siegener Periodicum für Internationale Empirische Literaturwissenschaft (SPIEL). Frankfurt/M. u.a. 2007 (hg. zus. m. Martin Zierold). Robert V. Kozinets, Dr., Associate Professor of Marketing an der Schulich School of Business, York University. Anthropologe und Ethnograph. Forschungsschwerpunkte: Ethnographische Studien zu Star Trek-, Star Wars-, XFiles Fans, Sport- und Autoanhängern, Online- wie Offline-Communities. Ausgewählte Publikationen: Sacred Iconography in Secular Space: Altars, Alters and Alterity at the Burning Man Project, in: Cele Otnes/Tina Lowry (Hg.): Contemporary Consumption Rituals: A Research Anthology. Mahwah 2004, S. 291-311 (zus. m. John F. Sherry, Jr.); Agents in Paradise: Experiential Co-Creation through Emplacement, Ritualization, and Community, in: Antonella Carù/Bernard Cova (Hg.): Consuming Experiences. London/New York 2007, S. 17-33 (zus. m. John F. Sherry, Jr., und Stefania Borghini); Brands in Space: New Thinking about Experiential Retail, in: Tina Lowrey (Hg.): Brick & Mortar Shopping in the 21st Century. Mahwah 2007 (i.E.). Michael Makropoulos, Dr., Privatdozent für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der kulturellen und sozialen Moderne. Ausgewählte Publikationen: Ein Mythos massenkultureller Urbanität. Der Potsdamer Platz aus der Perspektive von Diskursanalyse und Semiologie, in: Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz.
Autorenangaben
203
Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München 2004, S. 159-187; Kontingenz. Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne, in: Archives Européennes de Sociologie 45, 2004, S. 369-399; Modernität und Massenkultur, in: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt/M. 2007, S. 219-250. Krittinee Nuttavuthisit, Dr., Assistant Professor of Marketing am Sasin Graduate Institute of Business Administration der Chulalongkorn University (Bangkok). Forschungsschwerpunkte: Konsumentenästhetik, Handelsatmosphären, Nationbranding, Konsumentenwohlbefinden. Ausgewählte Publikationen: Ludic Agency and Retail Spectacle, in: Journal of Consumer Research 31, 2004, S. 658-672 (zus. m. Robert V. Kozinets, John F. Sherry, Jr., Diana Storm, Adam Duhachek und Benet DeBerry-Spence); Gendered Behavior in a Male Preserve: Role Playing at ESPN Zone Chicago, in: Journal of Consumer Psychology 14, 2004, S. 151-158 (zus. m. John F. Sherry, Jr., Robert V. Kozinets, Adam Duhachek, Benet DeBerrySpence und Diana Storm); Branding Thailand: Correcting the Negative Image of Sex Tourism, in: Place Branding and Public Diplomacy 3, 2007, S. 21-30. Diana Storm, Dr., Dozentin an der Copenhagen Business School im Department of Marketing der University Kopenhagen. Forschungsschwerpunkte: Online Shopping Consumer Experiences. Ausgewählte Publikationen: Being in the Zone: Ludic Agency and Retail Spectacle, in: Journal of Consumer Research 31, 2004, S. 658-672 (zus. m. John F. Sherry, Jr., Robert V. Kozinets, Benét Deberry-Spence, Adam Duhachek und Krittinee Nuttavuthisit); Gendered Behavior in a Male Preserve: Role Playing at ESPN Zone Chicago, in: Journal of Consumer Psychology 30, 2004, S. 465-510 (zus. m. John F. Sherry, Jr., Robert V. Kozinets, Benét Deberry-Spence, Adam Duhachek und Krittinee Nuttavuthisit). Schwarzenegger, Christian, Mag. Phil, Mitglied im Wiener Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung. Seit 2003 Mitherausgeber und ständiger Beiträger der Fachzeitschrift „medien & zeit – Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart“. Derzeit Doktorand und Lehrbeauftragter am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. John F. Sherry, Jr., Dr., Herrick Professor und Department Chair am Mendoza College of Business, Department of Marketing, University of Notre Dame. Forschungsschwerpunkte: die Beziehung zwischen Ästhetik und der Entstehung eines Raumsinns. Ausgewählte Publikationen: Servicescapes: The Concept of Place in Contemporary Markets, Chicago 1998 (Hg.); Time, Space, and the Market: Retroscapes Rising. New York 2003 (hg. zus. m. Stephen Brown); Con-
204 sumer Culture Theory. Vol. 11 of Research in Consumer Behavior. Oxford 2007 (hg. zus. m. Russell Belk). Karlheinz Wöhler, Dr., Professor für empirische und angewandte Tourismuswissenschaft an der Fakultät für Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Touristifizierung von Räumen, Entgrenzung von Freizeit, Tourismusmarketing. Ausgewählte Publikationen: Topographie des Erlebens. Zur Verortung touristischer Erlebniswelten, in: ders. (Hg.): Erlebniswelten. Münster 2005, S. 17-28; Entfernung, Entfernen, Verorten, in: Hasso Spode/Ingrid Ziehe (Hg.): Gebuchte Gefühle. München/Wien 2005, S. 121-134; Beziehungen zu Orten und Nicht-Orten, in: Werner Faulstich (Hg.): Beziehungskulturen. München 2007. Guido Zurstiege, Dr., Kommunikationswissenschaftler, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Medienund Werbeforschung. Ausgewählte Publikationen: Zwischen Kritik und Faszination. Was wir beobachten, wenn wir die Werbung beobachten, wie sie die Gesellschaft beobachtet. Köln 2005; Lehrbuch Werbung. Konstanz 2007; Medienund Kommunikationswissenschaft. Ein Fach im Wandel. Reinbek bei Hamburg 2007 (hg. zus. m. Siegfried J. Schmidt).