M'Raven
Dämonennächte Version: v1.0
Aus den Augenwinkeln nahm Nick Raymond die Frau wahr, die an der Straßenecke stan...
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M'Raven
Dämonennächte Version: v1.0
Aus den Augenwinkeln nahm Nick Raymond die Frau wahr, die an der Straßenecke stand und ihn ungeniert musterte. Als ob sie auf ihn warten würde. Auf ihn und keinen anderen. Nick vergaß, dass er eigentlich Zigaretten holen wollte. Sie war der Fleisch gewordene Traum seiner schlaflosen Nächte und hormongesteuerten Fantasien. Schlank, schwarzhaarig, glutäugig, langbeinig, mit einer Fi gur, die mit jeder Faser ›Sex‹ buchstabierte. Er musste sie haben! Sofort!
Nick stolperte auf sie zu und griff nach ihr. Sie presste sich lächelnd an ihn und raunte ihm ins Ohr: »Nicht hier auf der Straße. Gehen wir doch zu dir.« Er brauchte keine weitere Aufforderung. Er packte ihre Hand und zerrte sie mit sich. Zum Glück war seine Wohnung nicht weit. Ein gewisser Teil von ihm drohte nämlich jeden Augenblick, seine Hose zu sprengen. Flüchtig kam ihm in den Sinn, dass er sich wie ein brünftiger Hirsch aufführte und nicht mehr wie ein Mensch. Doch das war im Moment vollkommen bedeutungslos. Er wollte nur noch diese Frau besitzen. Und sie wollte es offensichtlich auch. Kaum hatte Nick die Wohnungstür hinter sich geschlossen, kamen sie auch schon zur Sa che. Sie riss ihm die Kleider vom Leib und fiel mit wildem Verlangen über ihn her. Nick fühlte sich im siebten Himmel. Er hatte noch nie so tollen Sex gehabt, so herrliche Ekstasen erlebt, eine solche Intensität. Und es hörte nicht auf … Es hörte nicht auf! Nick begriff schlagartig, dass hier etwas nicht stimmte. Die Frau saugte ihn regelrecht aus, sog nicht nur seinen Samen, sondern auch die Lebensenergie aus seinem Körper. Sein Herz begann zu rasen, die Muskeln gehorchten nicht mehr. Er fühlte sich so schwach wie nie zuvor und wollte schreien, brachte aber nur ein Wimmern zustande. Er versuchte die Frau weg zustoßen, aber seine Kraft reichte nicht aus. Kurz bevor ihm die Sinne schwanden, ließ sie endlich von ihm ab. Nicks verschwommene Wahrnehmung spielte ihm Streiche. Auf einmal war die Frau nicht mehr schwarzhaarig und begehrenswert, sondern rotblond und grünäugig. Und sie war nicht verlockender als jede andere Durchschnittsfrau auch. Sie starrte ihn mit einem Ausdruck maßlosen Entsetzens an, raffte ihre Kleidung zusammen und floh aus seiner Wohnung.
Nick versuchte sich aufzurichten, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Als sein Blick auf seine Hände fiel, setzte das Herz vor Schreck für eine Sekunde aus. Die Hände waren schrumpelig und verrunzelt wie die eines alten Mannes. Dabei war er gerade erst zweiundzwanzig geworden …
* Kara MacLeod rannte die nächtliche Straße entlang, so schnell sie konnte. Sie wunderte sich über die Geschwindigkeit, die sie dabei an den Tag legte. Nie zuvor war sie so schnell gelaufen. Aber das war un wichtig. In ihr tobten Gefühle, wie sie widersprüchlicher nicht sein konnten. Sie fühlte sich kraftvoll, energiegeladen, überlegen und wunder voll. Gleichzeitig empfand sie ein tiefes Entsetzung und Ekel vor sich selbst, vor dem Monster, das aus ihr geworden war. Noch vor vier Wochen war sie ein ganz normaler Mensch ge wesen, eine 28-jährige Ethnologin, die im National Museum of Anti ques in Edinburgh arbeitete und deren größtes Problem die vor ein paar Monaten erfolgte Trennung von ihrem Freund war. Dann waren die Träume und Visionen gekommen. Unglaublich erotische Träume hatten sich mit Albträumen abgewechselt, in denen sie sich entweder als Mittelpunkt einer Art schwarzen Messe gesehen hatte oder von fanatischen Mönchen mit dem Tod bedroht wurde. Vor zwei Wochen waren ihre Träume grausame Realität geworden und hatten Karas Leben von Grund auf verändert. Sie hatte erfah ren, dass sie ein Adoptivkind war. Ihre leibliche Mutter hatte sie weggegeben, um sie vor den Gefahren zu schützen, die ihre Familie bedrohten. Ihre wirklichen Verwandten hatte sie nun nach acht
undzwanzig Jahren gefunden. Eigentlich ein Grund zur Freude, wäre da nicht dieser kleine Schönheitsfehler gewesen. Ihre Familie bestand aus Dämonen. In kubi und Sukkubi, um genau zu sein, Dämonen, die sich von der se xuellen Energie ernährten, die sie mit ihren Opfern erzeugten. Nach dem Karas Dämonenblut überraschend erwacht war, hatte ihre Fa milie das Erbe, das in ihr schlummerte, mittels eines Rituals voll ständig befreit. Aus dem Menschen Kara MacLeod war die Halbdämonin Rhu’Ca rana geworden, ein voll entwickelter Sukkubus mit einem kaum stillbaren Hunger nach Sexualenergie. Eine Energie, die sie nun ebenso nötig zum Leben brauchte wie normale Nahrung. Und die Bruderschaft des Reinen Lichts, ein fanatischer Mönchs orden, der es auf alle Dämonen im Allgemeinen und auf die Mitglie der ihrer Familie im Besonderen abgesehen hatte, wollte sie unter allen Umständen tot sehen. Sie hatte es dem Zufall und ihrem Bru der zu verdanken, dass sie bereits drei Mordanschläge überlebt hatte. »Carana!« Jemand umfing sie von hinten und hielt sie fest. Kara stieß ihn instinktiv mit aller Kraft zurück. Der Mann flog einige Meter weit durch die Luft, ehe er auf den Boden prallte. Sie erstarrte vor Schreck. Diese übermenschliche Kraft, über die sie plötzlich verfügte, war mehr als nur unheimlich. »Wow!«, sagte ihr Zwillingsbruder Kyle – oder Rhu’Caelu, wie sein Dämonenname lautete – und rappelte sich grinsend und offen bar unverletzt wieder auf. »Ich sehe, die Fütterung war erfolgreich. Wie fühlst du dich?« Kara schüttelte den Kopf. »Furchtbar!«, gestand sie. »Und irgend wie …« Erneutes Kopfschütteln. »Voll gefressen bis zum Platzen«, half Kyle ihr. Sie nickte unglücklich.
»Das ist am Anfang ganz normal«, beruhigte er sie und legte liebe voll den Arm um sie. »Das gibt sich. Du hattest schließlich eine Menge nachzuholen. In ein paar Wochen wirst du dich nicht mehr überfressen und in der Lage sein, es nur noch zu genießen. Und ich versichere dir, das ist wundervoll.« Die Familie hatte Kyle zu ihrem ›Trainer im Außendienst‹ ernannt. Das war nur logisch. Als ihr Zwilling hatte er die stärkste emotiona le Bindung zu ihr. Sie beide fühlten sich, als hätten sie einander schon immer gekannt und nicht erst seit zwei Wochen. Trotzdem fühlte sich Kara auch von ihm oft genug abgestoßen. Kyle war mit seiner dämonischen Hälfte aufgewachsen, akzep tierte sie als etwas Natürliches und lebte sie ungeniert aus. Das hieß konkret, dass er als Callboy arbeitete und das auch noch großartig fand. Kara hatte nicht das mindeste Verständnis dafür. Ebenso wenig begriff sie, wie sich ihre Mutter – ein ganz normaler Mensch – in ihren dämonischen Vater verlieben und ihn sogar hatte heiraten können. Tränen rannen ihr über die Wange. »Ich habe diesen Mann fast umgebracht!«, schluchzte sie. »Er ist plötzlich gealtert! Innerhalb von Sekunden war er ein alter Mann! Vielleicht ist er sogar schon tot!« Sie trommelte mit den Fäusten gegen Kyles Brust. »Wie viele Männer werde ich töten, bis ich diesen … Instinkt beherrsche?« Ihre Verzweiflung schnitt Kyle ins Herz. Er drückte sie an sich. »Es tut mir so Leid, Carana. Es gibt leider keinen anderen Weg, diesen Reflex in den Griff zu bekommen als durch Übung.« »Warum kann ich nicht mit einem Inkubus üben?« »Das funktioniert nicht. Da Inkubi unbegrenzte Energie zur Verfü gung haben, können wir mit ihnen niemals den Punkt erreichen, an dem wir bei einem Menschen aufhören müssen.« »Warum ernähren wir uns dann nicht nur von anderen unserer Art, Kyle? Denen können wir doch offensichtlich nichts anhaben.« Er legte den Arm um sie und führte sie zu seinem geparkten
Wagen. »Stimmt. Aber Sexdämonen gehen untereinander nur sehr selten solche Partnerschaften ein. Es ist natürlich nicht verboten und manchmal findet sich auch ein Paar. Aber das kommt kaum noch vor. Es gibt nicht mehr viele von uns. Seit die sexuelle Revolution fast weltweit stattgefunden hat und Sex nicht mehr überwiegende auf die Ehe begrenzt ist – sondern offen, überall, zu allen Zeiten und in allen Varianten ausgelebt wird –, brauchen uns die Menschen kaum noch.« »Heißt das, die anderen sind – ausgestorben?« Kyle nickte. »Kann man so sagen. Viele von ihnen sahen einfach keine Notwendigkeit mehr, sich fortzupflanzen. Weißt du, unsere Art wurde ursprünglich erschaffen, um dem Herrn der Unterwelt zu dienen.« »Dem Teufel?« Kyle nickte. »Wenn er auch nicht so ist, wie die Christenpriester den Menschen vorgaukeln. Einen Teil der Sexualenergie, die unsere Vorfahren aufnahmen, haben sie für ihn in Reservoirs gesammelt. So etwas Ähnliches wie Batterien, aus denen er sich bediente, wenn er zusätzliche Energie benötigte. Und damit wir möglichst viel sammeln, hat er diesen unstillbaren Hunger nach Sex in uns ge weckt. Später dienten die Inkubi und Sukkubi auch anderen Herren. Einige davon sammelten Seelen statt Energie. Daher stammt der Mythos, dass, wer mit einem Inkubus oder Sukkubus schläft, seine Seele an den Teufel verliert.« »Ist das heute noch so?«, fragte Kara unbehaglich. »Nein. Obwohl es vielleicht den einen oder anderen von uns gibt, der immer noch Seelen sammelt. Da aber nur noch relativ wenige von uns übrig sind, bleiben uns nur die Menschen als Energieliefe ranten. Es sei denn, wir wollen verhungern.« »Aber es ist falsch!«, protestierte sie so laut sie es wagte, ohne die friedlich in ihren Häusern schlafenden Menschen zu wecken. »Wir nehmen ihnen etwas weg! Einen Teil ihres Lebens! Wir sind wie …
Vampire!« Kyle nickte bedächtig. Sie hatten seinen Wagen erreicht. Er öffnete Kara die Tür wie ein Kavalier. »In gewisser Weise ja«, antwortete er, nachdem er ebenfalls einge stiegen war. »Aber im Gegensatz zu Vampiren geben wir den Men schen etwas zurück: Freude, Entspannung, Ekstase und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Manche von ihnen zehren davon für den Rest ihres Lebens. Ich sehe darin nichts Verwerfliches.« »Aber ich will es nicht«, flüsterte Kara verzweifelt. Kyle blickte sie mitfühlend an. »Du kannst es nicht ändern, Cara na. Genauso gut könntest du sagen, du willst kein Mensch mehr sein. Das wäre auch unmöglich. Das ist deine Natur. Du kannst dich ihr nicht widersetzten. Akzeptiere das.« Sie senkte den Kopf. Kyle meinte es gut mit ihr. Er war ihr Bruder und er liebte sie. Trotzdem verkörperte er alles, was sie moralisch immer abgelehnt hatte. »Wenn ich diesen Mann umgebracht habe …«, murmelte sie mehr zu sich selbst. »Ich weiß nicht, ob ich damit leben könnte.« Einem anderen Teil von ihr, der ihr bisher verborgen geblieben war, schien das vollkommen gleichgültig zu sein. Dieser Teil schwelgte immer noch in der Energie, die sie dem Mann entzogen hatte und genoss die Kraft, die sie dadurch erlangt hatte, in vollen Zügen. Und er wollte mehr. Viel mehr! Sie hasste diesen Teil. »Wenn es dich beruhigt, gehen wir zurück und sehen nach, was wir für ihn tun können«, bot Kyle ihr an. »Bitte ja!«, stieß sie hervor, obwohl sie gleichzeitig Angst davor hatte. Falls der Mann wirklich tot war … Zu ihrer großen Erleichterung erwies sich ihre Angst als unbe gründet. Als sie zu dem Haus kamen, in dem der Mann – ihr Opfer! – wohnte, wurde er gerade auf einer Bahre in einen Krankenwagen
getragen. Er war also noch am Leben. Uralt, aber am Leben. »Siehst du«, beruhigte Kyle sie. »Du hast ihn nicht getötet.« Kara sah ihren Bruder vorwurfsvoll an. »Noch nicht«, korrigierte sie. »Du hast ihn gesehen. Wie lange, glaubst du, lebt er noch? Eine Woche? Einen Monat, ehe er an der Altersschwäche stirbt, die ich verursacht habe?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann so nicht leben, Kyle. Ich will so nicht leben.« Ihr Bruder blickte sie nachdenklich an. »Kennst du die Geschichte vom Skorpion und der Schildkröte?«, fragte er sie. »Ich glaube je denfalls, es war eine Schildkröte. Eines Tages traf sie am Ufer eines Flusses einen Skorpion, der sie bat, sie auf ihrem Rücken über den Fluss zu tragen. Sie lehnte ab, weil sie befürchtete, dass der Skorpion sie auf der Überfahrt hinterrücks mit seinem Giftstachel stechen würde. Der Skorpion antwortete, das sei unlogisch, denn wenn er das täte, würden sie beide sterben, da er nicht schwimmen konnte. Das überzeugte die Schildkröte. Sie nahm ihn auf ihren Rücken und schwamm auf den Fluss hinaus. Als sie in der Mitte waren, stach der Skorpion sie doch. Bevor beide starben, fragte die Schildkröte, warum er das getan hätte. Darauf antwortete der Skorpion: ›Weil es meine Natur ist.‹« »Aber ich bin kein von Instinkten getriebenes Tier!« »Nein, Carana, du bist eine Halbdämonin mit den Bedürfnissen und Instinkten einer solchen«, erklärte ihr Bruder. »Und dagegen kommst du nicht an, wie sehr du dir das auch wünschst. Aber sei unbesorgt. Du wirst bald die Balance gefunden haben. Dann ist alles halb so schlimm.« »Das hilft aber nicht diesem Mann. Können wir nichts für ihn tun, Kyle? Bitte!« Er zögerte. »Wären deine Kräfte schon voll ausgereift und unter Kontrolle, könntest du ihm den zu viel entzogenen Teil seiner Lebenskraft wieder zurückgeben. Aber dazu bist du noch nicht in der Lage.«
Kara blickte ihn eindringlich an. »Aber … du kannst das?« »Nun … ja.« Sie packte ihren Bruder an den Schultern. »Dann kannst du ihm die Energie zurückgeben, nicht wahr?« Kyle wollte verneinen, doch er wusste, dass er seine Zwillings schwester nicht belügen konnte, ohne dass sie es sofort merkte. Er nickte unbehaglich. »Ja, schon. Aber …« »Wir werden jetzt ins Krankenhaus fahren und genau das tun!«, entschied sie. »Damit bringen wir uns unnötig in Gefahr, Carana.« Kara verstärkte den Druck auf seine Schultern. »Hör zu, Kyle. Ich will und werde nicht als Mörderin herumlaufen! Wenn du mir jetzt nicht hilfst, dann, das schwöre ich dir, werde ich meinem Leben ein Ende setzen.« Er spürte deutlich, dass es ihr in ihrer Verzweiflung damit voll kommen Ernst war. »Auf keinen Fall! Wir brauchen dich doch!« Kara kniff die Augen zusammen. »Ach ja? Und wozu? Noch vor zwei Wochen wusstet ihr nicht einmal, dass es mich überhaupt gibt.« Er schloss sie in die Arme. »Aber wir wissen es jetzt. Und ich habe schon mein ganzes Leben gespürt, dass irgendwo in der Welt noch ein Teil von mir existiert. Dich wieder zu verlieren, wäre mehr, als wir ertragen könnten. In jedem Fall sehr viel mehr, als ich ertragen könnte.« Kara wusste, dass er die Wahrheit sagte. Doch sie wusste auch, dass er ihr etwas verschwieg. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen. »Dann lass uns gehen und mein … Verbrechen wieder rückgängig machen.« »Nicht Verbrechen«, korrigierte er sanft. »Unfall.« Er schüttelte den Kopf. »Vater wird toben, wenn er das erfährt.« »Lass ihn toben«, knurrte Kara. »Ihr habt alle ganz genau gewusst,
dass es passieren würde und habt mich trotzdem ins offene Messer rennen lassen. Ihr habt billigend in Kauf genommen, dass ich zur Mörderin werde. Habt ihr überhaupt keine Moral?« »Oh doch, die haben wir. Aber sie ist ein bisschen anders als die der Menschen.« Sie folgten dem Krankenwagen ins Krankenhaus. »Du bleibst im Wagen, während ich das erledige«, befahl Kyle. »Aber ich sollte dabei sein und die Technik lernen, damit ich …« »Nein!«, unterbrach er sie entschieden. »So wie der Mann aussah, hat er dich mit Sicherheit am Schluss in deiner wahren Gestalt gese hen. Er würde dich wieder erkennen. Mich dagegen kennt er nicht.« »Wie sollte er mich denn erkennen?« Kyle deutete auf die Überdachung des Eingangs zum Kranken haus, durch den der Mann eingeliefert worden war. »Siehst du? Sie haben Überwachungskameras. Und falls sie die auch in den Kran kenzimmern haben, wird die Angelegenheit verdammt schwierig. Wir können mit unserer Magie zwar die Augen der Menschen täuschen, jedoch nicht ihre Kameras und Fotoapparate. Volldä monen wie Vater und Tante Cayuba können auch das. Aber wir nicht. – Warte hier auf mich. Das wird eine Weile dauern.« Es dauerte sogar ein paar Stunden, bis Kyle zurückkehrte. »Erledigt«, erklärte er zufrieden und erleichtert. »Ich musste warten, bis er allein in einem Zimmer war. Dann habe ich mich in einem Arztkittel aus der Wäschekammer rein geschlichen und ihm so viel Energie zurückgegeben, wie ich entbehren konnte. Er ist wieder okay. – Und jetzt lass uns nach Hause fahren.« Er machte einen ziemlich erschöpften Eindruck. Kara legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich werde fahren«, ent schied sie, beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke, Kyle!«
* Jarod Kane las aufmerksam die vier Akten durch, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen und betrachtete nachdenklich die Fotos von vier Männern, die alle einer seltsamen Wandlung zum Opfer gefallen waren. Die jeweils von ihnen zuerst gemachten Fotos zeig ten uralte Greise, verschrumpelt wie Äpfel vom letzten Jahr. Dabei waren sie laut ihren Ausweispapieren alle jung, zwischen 22 und 34. Man hätte sie für schwere Fälle von Progerie halten können. Aber diese Krankheit der vorzeitigen rapiden Vergreisung trat nicht über Nacht auf, wie es bei diesen Männern geschehen war. Das war die erste Ungereimtheit. Da die Ärzte keinen Rat wussten, gab es eigentlich keine Hoffnung für die Befallenen. Daraus folgte die zweite Ungereimtheit; alle vier Männer hatten nur wenige Stunden später ihre ursprüngliche Jugend auf geheimnisvolle Weise vollständig zurückerlangt. Nun, fast vollständig. Den ersten Fall, ein gewisser Nick Raymond, hatte die Krankheit, oder was immer es war, komplett weißhaarig zurückgelassen. Der Zweite hatte ein paar dicke graue Strähnen im Haar behalten. Beim Dritten waren es ein paar vereinzelte graue Haare und beim Vierten nur ergraute Schlä fen. Unterschiedlich war auch der anfängliche Grad der plötzlichen Alterung. Ähnelte die Konstitution des ersten Mannes der eines Hundertjährigen, war der zweite bei seiner Einlieferung ins Kran kenhaus nur noch etwa achtzig. Ebenso der dritte Mann. Der vierte war gerade mal dreißig Jahre auf ein Alter von ungefähr sechzig ge altert. Die Ärzte standen vor einem Rätsel … Vollkommen ungewöhnlich war auch die Story, die jeder von ih nen als Grund für seine plötzliche Alterung nannte. Sie alle hatten eine unbekannte Frau getroffen, die jeder von ihnen als den Inbe griff seiner sexuellen Fantasien schilderte. Die Beschreibungen reich
ten von ›heißester Feger auf zwei Beinen‹ über ›Traumfrau‹ und ›wandelnde Sexbombe‹ bis ›Superweib‹. Alle hatten bei ihrem bloßen Anblick den schier unwiderstehlichen Drang verspürt, mit ihr auf der Stelle Sex zu haben. Und sie schien sich die Männer auch zu eben diesem Zweck ausgesucht zu haben. Dabei, so erklärten alle übereinstimmend, hatten sie irgendwann das Gefühl gehabt, dass sie regelrecht ausgesaugt wurden. Und als die Frau von ihnen abließ, waren sie um Jahrzehnte gealtert. Natür lich taten die Ärzte das als Halluzinationen ab. Nicht so Jarod Kane. Er war der Leiter einer erst wenige Wochen alten Sonderabteilung von Scottland Yard. Diese beschäftigte sich mit Fällen, die ins okkulte Milieu führten – von Tierquälereien und Drogenmissbrauch im Rahmen schwarzer Messen über die Zer schlagung von Satanskulten bis hin zur Aufklärung von Ritual morden. Da in den letzten Jahren solche Fälle beständig zugenommen hatten, hielt man die Gründung einer Spezialeinheit für angebracht. Und die konnte sich dann gleich noch mit allen anderen Fällen beschäftigen, die irgendwie seltsam zu sein schienen. Da Kanes Vorgesetzten sein Faible für alte Kulte und Geheimge sellschaften bekannt war, hatten sie ihn sogar zur Ausbildung zum FBI in Quantico geschickt. Mit dem Ergebnis, dass man seine Abtei lung – die offiziell ›Department of Occult Crimes‹ hieß – in Anlehnung an die Mysteryserie ›Akte X‹ nur noch ›Department X‹ und ihn selbst ›Mulder‹ Kane nannte. Jarod protestierte nicht dagegen. Niemand ahnte, dass er sich nicht nur beruflich sondern auch hob bymäßig mit dem Thema beschäftigte. Im Gegensatz zu seinen Kollegen wusste er um die sehr reale Existenz okkulter Kräfte und mystischer Geschöpfe wie Dämonen, Werwölfe oder Vampire. Jarod Kane war der bislang letzte Spross einer Familie von Jägern des Bösen. Und er besaß wie alle seine Vorfahren die unschätzbare
Fähigkeit, echte magische Aktivitäten in einem Umkreis von etwa drei Kilometern wahrnehmen und lokalisieren zu können. Außerdem war er in der Lage, hinter die menschliche Maskerade der Dämonen zu blicken. Daher war für ihn sofort klar, dass diese vier Fälle plötzlicher Alte rung und wundersamer Heilung keine medizinische Ursache hatten. Ein Detail in den Aussagen der Männer bestätigte seinen Verdacht. Alle vier beschrieben die unwiderstehliche Frau, mit denen sie sich vergnügt hatten, vollkommen unterschiedlich. Einer hatte sie als heißblütige Latina wahrgenommen, einer als zierliche Asiatin, die beiden anderen als kühle Blondine. Aber jedes Mal war sie bis ins kleinste Detail die perfekte Verkörperung der idealen Sexpartnerin für den jeweiligen Mann gewesen. Drei von ihnen schworen, dass sie sich nach dem Akt in eine re lativ unscheinbare Rothaarige verwandelt hatte. Lediglich beim letz ten Fall, der nur um etwa dreißig Jahre gealtert war, hatte sie auch hinterher noch dieselbe Gestalt gehabt. Mochten die Ärzte dass als Hirngespinste abtun. Für Kane klang das verdächtig nach dem Werk eines Sukkubus, eines weiblichen Buhlteufels, wie man sie im Mittelalter genannt hatte. Dieser Sukku bus allerdings schien ein Gewissen zu haben. Offenbar war sie be müht, den Schaden, den sie angerichtet hatte, wieder rückgängig zu machen. Dass sie überhaupt Schaden angerichtet hatte, deutete dar auf hin, dass sie noch jung war und ihre Kräfte noch nicht be herrschte. Kane erinnerte sich an Kara MacLeod, eine rothaarige Ethnologin, die im Museum seines Onkels arbeitete. Er hatte sie nur einmal kurz, vor etwa fünf Wochen, bei seinem Onkel getroffen und eine dämonische Aura an ihr wahrgenommen. Als er daraufhin ihren Geist sondierte, hatte er nur Verwirrung, Unsicherheit und Angst entdeckt. Er war beinahe versucht zu glauben, dass ihn seine Wahrnehmung
getrogen hatte. Aber er hatte sich noch nie girrt. Und etwas anderes bestätigte seinen Verdacht ebenfalls. Er war Zeuge gewesen, wie ein Mönch sie zu töten versucht hatte, wobei er sie ›Ausgeburt der Höl le‹ nannte. Möglicherweise hatte sie etwas mit diesen Progerie-Fäl len zu tun. Er beschloss, ein paar intensive Nachforschungen über Kara MacLeod und diesen Mönch anzustellen …
* Kara hatte geglaubt, ihr Hochschulstudium sei hart gewesen, was das Lernpensum betraf. Jetzt musste sie feststellen, dass das Training, das ihre Familie sie durchlaufen ließ, um einiges härter und erheblich anstrengender war. Was nicht nur daran lag, dass sie in jeder freien Minute irgendwas üben musste. Ihre Verwandlung hatte ihr nicht nur einen Hunger nach sexueller Energie beschert, sondern auch magische Kräfte, von deren Existenz sie nie etwas geahnt hatte. Und die musste sie genauso unter Kon trolle bringen wie ihren Hunger. Wie ihr Vater Rhu’Calibor – Caleb MacLeod für die Menschen – ihr erklärt und demonstriert hatte, waren Inkubi und Sukkubi Meis ter der Illusionen. Sie konnten für die Augen des jeweiligen Betrach ters jede beliebige Gestalt annehmen und sich auf diese Weise sogar unsichtbar machen. Zusätzlich zu der unmenschlichen Körperkraft, über die sie alle verfügten, besaßen sie eine wirksame Abwehrstrategie, die sie einen ›Levin-Pfeil‹ nannten. Ein mit reiner Geisteskraft erzeugter pfeilartiger Energieblitz, der je nach Intensität ein Opfer betäubte, tötete oder zu Asche zerpulverte. Eine ebenso gefährliche Waffe war der ›Psi-Pfeil‹, der dieselbe Wirkung auf das Gehirn hatte. Sie konnten einen magischen Schutzschild um sich herum errich
ten, der nicht nur magische Angriffe abwehrte, sondern auch physische. Wenn man die Technik richtig beherrschte, konnte der Schild sogar Pistolenkugeln abwehren. Darüber hinaus gab es noch die ganzen ›kleinen, unbedeutenden‹ magischen Fähigkeiten, mit denen man Krankheiten heilen oder verursachen oder das Wetter manipulieren konnte; neben dem ganzen Handwerkszeug, das zum Hellsehen gehörte. Und Kara musste alles lernen. Außerdem legte die Familie großen Wert darauf, dass sie in waffenloser Selbstverteidigung geschult wurde. Diesen Part übernahm zu ihrer Überraschung ihre jüngere Halbschwester Kassandra – mit dämonischem Namen Rhu’Cassilya. Sie war in Karas Augen die Unmoralischste von allen. Erst drei undzwanzig, arbeitete sie schon seit über fünf Jahren als Callgirl. Kara hatte bei ihr, im Gegensatz zu den anderen Familienmitglie dern, nicht den kleinsten Hauch eines Gewissens oder irgendeiner nennenswerte Moral entdecken können. Für Kassie waren Men schen nichts anderes als Schafe, deren einziger Daseinszweck es war, sie und ihr Bankkonto zu füttern. Dagegen waren ihr Vater Cal und ihre Tante Kay – Rhu’Cayuba – fast erfrischend alltäglich. Cal arbeitete als Fremdenführer, was ihm mehr als genug Gelegenheit bescherte, sich seine Opfer zu suchen. Kay betrieb ein gut gehendes Tätowierstudio, in dem etliche Männer sie ›in Naturalien‹ bezahlten, wie sie es lachend nannte. Nach außen hin war ihre menschliche Existenz vollkommen normal. »Das ist das Geheimnis, weshalb unsere Art Jahrhunderte uner kannt unter den Menschen leben konnte«, betonte Cal, als Kara ihn fragte, wozu Dämonen bei all ihren Kräften ein normales Leben brauchten. »Wir fallen nicht auf. Und wenn das doch einmal vor kommt und ein gewisses Maß überschreitet, ist es Zeit umzuziehen. So wie damals, als deine Mutter ermordet wurde. Cayuba und ich lebten seinerzeit noch in Lochinver. Danach hielten wir es für ange bracht, erst einmal zu verschwinden. Wir waren ein paar Jahre in Cornwall, ehe wir uns dann hier in Inverness niederließen.«
»Und … meine Mutter war wirklich mit dir verheiratet?« »Ja. Ist das für dich so schwer zu glauben?« »Allerdings«, bestätigte Kara. »Ich konnte bisher nicht feststellen, dass ihr – nichts für ungut, Vater – irgendwelche Gefühle habt. Außer Egoismus. Dass meine Mutter verrückt nach dir war und das für Liebe hielt, kann ich schon verstehen. Schließlich heißt es in den Legenden, wer einmal Sex mit einem Inkubus oder Sukkubus hatte, kann niemals mehr Erfüllung mit einem Menschen finden. Aber du? Wieso hast du sie geheiratet?« Cal schmunzelte, nicht im Mindesten beleidigt über ihre Wort wahl. »Du hast vollkommen Recht. Aber es gibt Ausnahmen. Eine solche Ausnahme passierte mir, als ich deiner Mutter begegnet bin. Da entwickelte ich plötzlich menschliche Gefühle.« Er blickte seine Tochter liebevoll an. »Glaub mir, Kind, ich habe deine Mutter über alles geliebt. Kein Mensch hätte sie inniger lieben können. Ich würde mein Leben geben, wenn ich sie dafür dem Tod entreißen könnte. Und – ich liebe meine Kinder, Carana. Ich hoffe, das fühlst du.« Er ergriff ihre Hand. »Es macht mich sehr glücklich, dich gefunden zu haben.« Sie blickte ihn nachdenklich an. Sie wollte ihm gern glauben, aber sie spürte etwas, das nicht ganz zu seinen Worten passte. »Wenn meine Mutter zwei Monate nach meiner Geburt gestorben ist«, überlegte Kara laut, »wer ist dann Kassies Mutter? Warst du mit ihr auch verheiratet?« »Nein. Cassilya war nicht geplant. Im Gegensatz zu dir und Caelu. Ihre Mutter war eine Hexe. Sie hat während unserer Vereinigung einen Zauber benutzt, um schwanger zu werden.« »Und wieso lebt Kassie jetzt bei dir und nicht bei ihrer Mutter?« »Daran trägt die Bruderschaft des Reinen Lichts Schuld«, sagte Cal. »Cassilyas Dämonenblut war vom Tag ihrer Geburt an voll entwickelt. Der Seher der Bruderschaft hat sie aufgespürt. Ihre Mut ter starb bei dem Versuch, das Kind zu beschützen. Ich kam zu spät,
um sie zu retten, aber gerade noch rechtzeitig, um Cassilya aus ih ren Fängen zu reißen. Seitdem lebt sie bei uns.« »Warum hasst die Bruderschaft uns so sehr? Was haben wir Ihnen getan?« Calibor lächelte. »Du hast uns gesagt. Du beginnst dich langsam als eine von uns zu fühlen.« Kara schüttelte den Kopf. Doch er hatte natürlich Recht. Sie ge wöhnte sich tatsächlich an die veränderten Umstände und die Tatsa che, dass diese dämonische Familie ihre Blutsverwandten waren. Egal wie sehr sie sich dagegen wehrte. »Die Bruderschaft ist eine Horde von Fanatikern. Sie wollen alles vernichten, was sie als ›Perversion von Gottes Werk‹ betrachten. Dazu gehören in ihren Augen Dämonen und andere Nachtge schöpfe. Im Mittelalter haben sie sogar jede Eule getötet, die sie fangen konnten, weil sie glaubten, es wären Hexen und Dämonen in Vogelgestalt. Bisher konnte nicht einmal der Papst sie von ihrem Kreuzzug gegen reale und eingebildete Teufel abbringen.« Er blickte sie eindringlich an. »Und deshalb, Carana, ist es so un geheuer wichtig, dass du deine Kräfte schnell in den Griff bekom mst und sie anwenden kannst, um dich zu schützen. Es tut mir Leid, dass das alles so schwer für dich ist.« Sie erwiderte seinen Händedruck. »Schon gut, Vater. Schließlich … war es Mutters Entscheidung, mich nicht bei dir aufwachsen zu lassen. Ich werde schon irgendwie klar kommen.« Er lächelte und ließ sie mit ihren immer noch verwirrten Ge danken und Gefühlen allein. Kara hatte versucht, sich an all den Werten von Gut und Böse, mit denen sie aufgewachsen war, festzu halten. Aber der dämonische Teil in ihr ließ das immer weniger zu. Seit sie mit Kyle nachts durch die Gegend zog, um ihren Hunger zu stillen, entdeckte sie Seiten an sich, von deren Existenz sie nie etwas geahnt hatte – und die ihr nicht besonders gefielen. Inzwischen akzeptierte sie es, mit fremden Männern ins Bett zu
gehen. Dabei hatte sie gerade das immer strikt abgelehnt und war eine glühende Verfechterin von Monogamie und Treue gewesen. Nun war alles anders. Auf der anderen Seite hatte ihr Vater, obwohl er ein Inkubus war, ihre Mutter geliebt und geheiratet. Vielleicht konnte sie das eines Tages auch schaffen. Jetzt stand erst mal die nächste Trainingsstunde mit Kassie an. Kara verließ das Zimmer, um zum Trainingsraum im Keller zu ge hen. Sie hörte Stimmen im Wohnzimmer und schnappte ihren Namen auf. Neugierig blieb sie stehen. »Wie lange glaubst du, wird es noch dauern, bis wir Carana ein weihen können?«, hörte sie ihre Tante Kay fragen. »Keine Ahnung«, antwortete ihr Vater. »Sie bewegt sich immer noch auf dem schmalen Grat, von dem sie jederzeit in den Wahnsinn abstürzten kann.« »Es war unverantwortlich von Mirjana, sie von uns zu trennen, egal was ihre Motive dafür waren.« »Hör auf, meine Frau zu kritisieren, Cayuba!«, forderte ihr Vater seine Halbschwester kalt auf. »Nun gut. Aber du siehst doch, was das für Folgen hat. In ge wisser Weise ist Carana schlimmer als Camiyu. Der akzeptiert wenigstens, was er ist, auch wenn er sich für den falschen Weg ent schieden hat.« »Das kann man nicht vergleichen. Carana hat noch viel zu lernen, ehe sie bereit ist, das Geheimnis zu erfahren. Außerdem können wir ohnehin nichts unternehmen, ehe wir nicht die übrigen vier Teile haben. Was theoretisch noch weitere Jahrhunderte dauern kann. Es besteht also keine Notwendigkeit, sie jetzt schon damit zu belasten.« Damit schien die Unterhaltung der beiden beendet zu sein. Kara schlich sich am Wohnzimmer vorbei in den Keller, wo Kassie schon auf sie wartete. »Du kommst spät«, hielt sie ihr vor.
»Ich hatte noch ein Gespräch mit Cal. – Kassie, wer ist Camiyu?« Ihre jüngere Schwester starrte sie überrascht an. »Woher kennst du diesen Namen?« »Tante Kay hat ihn erwähnt.« »Das glaube ich nicht!«, zweifelte Kassie. »Sie erwähnt ihn nie.« »Wieso? Wer ist er denn?« Kassie zuckte mit den Schultern. »Ihr Sohn. Unser Cousin. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Er hat sich irgendwann aus dem Staub gemacht. Keine Ahnung wohin. Weder Tante Cayuba noch Vater verlieren viele Worte über ihn. Was hat sie denn über ihn gesagt?« »Eigentlich nichts. Sie meinte nur, ich sei in gewisser Weise schlimmer als er. Sie bezog das wohl darauf, dass ich Schwierigkei ten habe, meine … dämonische Natur zu akzeptieren.« Zu ihrer Überraschung strich Kassie ihr tröstend über die Wange. »Mach dir nichts draus, Carana. Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Wir alle werden dir helfen, so gut wir können. Du wirst es schon schaffen. – Aber jetzt lass uns mit dem Training beginnen.« Kara verspürte fast so etwas wie Zuneigung zu ihrer Halb schwester, die ihr zum ersten Mal nicht mit Spott oder betonter Coolness begegnete. Vielleicht waren Dämonen doch nicht ganz so schlimm, wie Kara bisher geglaubt hatte. Was blieb ihr auch anderes übrig, als ihre Natur anzunehmen und sich damit zu arrangieren? Ein geschlüpftes Küken konnte nicht wieder ins Ei zurückkehren. Und ein erwachter Sukkubus konnte nie mehr ohne Sexualenergie existieren …
* Kara erwachte mitten in der Nacht. Zuerst glaubte sie, von einem Geräusch auf der Straße geweckt
worden zu sein. Doch da merkte sie, dass etwas im Haus vor sich ging. Zwar war es vollkommen still, dafür fühlte sie etwas, das sie nach einer Weile als magische Energie identifizierte. Es kam aus dem Keller, wo sich nicht nur der Fitnessraum befand, sondern auch, hinter einer Geheimtür verborgen, der Ritualraum, in dem die magischen Aktivitäten der Familie stattfanden. Neugierig stieg Kara aus dem Bett und schlich hinunter. Der Raum war – natürlich – verschlossen. Kassandra hatte ihr erklärt, dass die unsichtbar in die Mauer eingelassene Geheimtür nur durch Magie geöffnet werden konnte. Diesen Trick beherrschte Kara noch nicht. Sie presste ihr Ohr gegen die Mauer und lauschte. Obwohl kein Laut an ihr Ohr drang, vernahmen sie einen mehrstimmigen Sprechgesang in einer fremden Sprache, als wären die Töne direkt in ihrem Kopf. »Idu yíko pátiree, Arrod’Sha! Idu yíko pátiree!« Obwohl Kara diese Sprache nie zuvor gehört hatte, konnte sie sie verstehen. »Zeige dich uns, Arrod’Sha! Zeige dich uns!« Sie fragte sich, was das bedeuten mochte. Offensichtlich führte ihre Familie hier ein Ritual durch – vielleicht eine Beschwörung? –, von der Kara ausgeschlossen war. Wen riefen sie herbei? Welches Geheimnis verbargen sie vor ihr? Schlagartig erwachte ein tiefes Misstrauen gegenüber ihrer Fa milie. Sie verheimlichten ihr Dinge. Vielleicht war ihre Freundlich keit und Besorgnis um sie nicht so selbstlos, wie sie sie glauben ma chen wollten. Immerhin waren sie Dämonen – egoistisch, rücksichts los und nach menschlichen Maßstäben ohne Moral, auch wenn sie sich an eine Art Ehrenkodex hielten, den Kara noch nicht begriffen hatte. Außerdem – wer waren diese … Wesen? Ihre Blutsverwandten, wie die frappierende Ähnlichkeit eindeutig bewies. Aber auch Fremde, die erst vor einigen Wochen in ihr Leben getreten waren. Da konnte man wirklich nicht von ›kennen‹ spre
chen. Verfolgten sie vielleicht doch irgendwelche dunklen Ziele, mit denen Kara niemals einverstanden sein würde? Sie schlich wieder in ihr Bett zurück und nahm sich vor, ihren Vater morgen zur Rede zu stellen. Hoffentlich hat er ein paar gute Ant worten …
* Gleich am nächsten Morgen, als alle gemeinsam beim Frühstück sa ßen, setzte Kara ihr Vorhaben in die Tat um. »Was verheimlicht ihr mir?«, fragte sie ihren Vater. Cal sah sie erstaunt an. »Was meinst du, Carana.« »Ihr verheimlicht mir was! Ich bin inzwischen sensibel genug, um eure geheimen Rituale zu spüren. Welches Geheimnis soll ich erst später erfahren? Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass ich noch einen Cousin habe? Und wer ist Arrod’Sha?« Ihr Vater starrte sie einen Moment verblüfft an – und lächelte schließlich. »Du hast Recht, Carana. Es gibt ein paar Dinge, die wir dir noch nicht gesagt haben. Aber ich bitte dich, uns zu vertrauen. Ich gebe dir mein Wort, dass du das Geheimnis erfahren wirst. Es ist schließlich auch ein Teil von dir. Wir haben es dir bisher verschwiegen, weil wir dachten, dass es für dich zu viel auf einmal wäre. Du hast dich noch nicht genug an deine Veränderung ge wöhnt. Es belastet dich noch zu sehr. Du musst erst deine innere Stabilität zurückgewinnen, ehe du mehr erfahren darfst. Bitte, glaub mir. Es ist kein Misstrauen gegen dich. Aber es gibt Dinge, die zu erfahren deine Seele noch nicht bereit ist. Und ich möchte dir auf keinen Fall noch mehr aufbürden, als du ohnehin schon tragen musst.« Kara blicke ihn zweifelnd an. Seine Worte klangen aufrichtig. Si cher hatte er Recht. Wahrscheinlich war dieses Geheimnis im
Moment wirklich zu viel für sie. Sie musste Geduld haben. »In Ordnung, Vater«, sagte sie. »Aber wenn ich ein Teil dieser Fa milie werden soll, dürft ihr mich nicht ausschließen.« »Das werden wir nicht, Carana. Versprochen. Wir werden dich in so vieles wie möglich einbeziehen.« Kara gab sich für den Moment zufrieden. Trotz des unguten Ge fühls, dass sie dabei hatte. »Du solltest vielleicht deine Wohnung in Edinburgh auflösen«, schlug Cal vor. »Deine Ausbildung wird noch eine Weile dauern. Und die Bruderschaft hat sicher nicht aufgegeben, nach dir zu su chen. Außerdem würden wir alle uns freuen, wenn du unser Zu hause auch als dein Zuhause betrachten würdest.« »Hältst du das wirklich für klug? Du sagtest doch selbst, dass wir so wenig wie möglich auffallen und ein möglichst normales Leben führen sollen. Wenn ich mein bisheriges Leben und meine Arbeit aufgebe, könnte ich Verdacht erregen. Außerdem habe ich dir von Anfang an gesagt, dass ich nur so lange bei euch bleibe, bis ich meine Kräfte beherrsche. Danach führe ich mein eigenes Leben.« Cal hob abwehrend die Hände. »Sollst du ja auch. Aber die Bru derschaft weiß, wo du wohnst. Deine Wohnung ist nicht mehr si cher.« Das stimmte. Der erste Angriff der Bruderschaft auf sie hatte nur wenige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt stattgefunden. Aber Kara wollte sich nicht von ihrer Familie vereinnahmen lassen. »Wir sollten ein Umzugsunternehmen beauftragen, deine Wohnung zu räumen«, schlug Kyle vor. »Du solltest dort nicht mehr auftauchen und vorläufig von der Bildfläche verschwinden. Wir haben hier mehr als genug Platz im Haus.« Kara gefiel der Gedanke nicht. Trotzdem schien es – zumindest für die nächste Zeit – die beste Lösung zu sein. »Ich muss mich aber von Dr. Mortimer verabschieden.«
»Wer ist Dr. Mortimer?«, fragte Tante Kay. »Mein Chef, der Direktor des Museums. Er ist für mich immer wie ein Vater gewesen.« Trotz einer bösen Vorahnung hielt Cal es für besser, ihr in diesem Punkt ihren Willen zu lassen. »Caelu wird dich begleiten. – Du solltest deinem Chef auf keinen Fall sagen, wo du jetzt wohnst. Die Bruderschaft könnte es aus ihm herauspressen.« Kara schüttelte den Kopf. »Wie könnt ihr so leben? Ständig in Angst vor den Verfolgern …« »Wir leben nicht in Angst vor ihnen«, erklärte Kay. »Da sie nicht in der Lage sind, unsere dämonische Aura durch unsere Schutzschilde hindurch zu erkennen, könnten wir direkt vor ihrer Nase herum tanzen, ohne dass sie unsere wahre Natur bemerken.« Sie lächelte. »Wenn du erst so weit bist, Carana, dann bist du auch vor ihnen si cher.« »Hoffentlich bald«, wünschte sich Kara. »Hoffentlich bald.«
* Was Jarod Kane über Kara MacLeod herausgefunden hatte, war ab solut gewöhnlich. Sie führte ein normales, unscheinbares Leben. Also beschloss Jarod, seinem Onkel einen Besuch abzustatten und ihn nach Kara auszufragen. »Sie interessiert dich wohl, wie?«, fragte Dr. James Mortimer sei nen Neffen mit einem verschmitzten Grinsen, als der ihn ›rein zufäl lig‹ besuchte und betont beiläufig nach Kara fragte. »Das kann ich nicht leugnen«, antwortete Jarod wahrheitsgemäß. »Was weißt du über sie?« »Ich kenne sie seit fast sechs Jahren. Sie ist … nun, ehrlich gesagt … die Tochter, die ich mir gewünscht hätte, wenn Linda und mir Kinder vergönnt gewesen wären. Sie ist intelligent, liebenswürdig,
freundlich, umgänglich – einfach nett.« Dr. Mortimer kam in Fahrt und erzählte Jarod alles, was er wusste. Viel war es nicht. Karas Leben schien tatsächlich so normal zu sein, wie es den Anschein hatte. Wäre da nicht … Es klingelte an der Tür. Gleich darauf führte Jarods Tante Linda einen weiteren Gast herein. »Seht mal, wer gekommen ist!« In der Tür stand Kara MacLeod. Jarod erstarrte bei ihrem Anblick ebenso wie sie bei seinem. »Kara!« Dr. Mortimer sprang auf und begrüßte sie mit einer herzli chen Umarmung. »Sie sind schon zurück? Ich hatte Ihnen doch Urlaub befohlen, nachdem Sie mit Ihrer Arbeit in Lochinver fertig waren. Übrigens haben Sie wirklich schöne Stücke fürs Museum ergattert. Sie sind wohl behalten angekommen. – Aber setzen Sie sich doch! Sie erinnern sich noch an meinen Neffen Jarod?« »Ja, natürlich.« Sie reichte Jarod die Hand und verspürte wie bei ihrer ersten Be gegnung diese seltsame Mischung aus Anziehung und Furcht. Er strahlte eine tiefe Ruhe und Kraft aus – eine Kombination, die Kara schon immer unwiderstehlich gefunden hatte. Doch da war noch et was anderes, etwas das ihr Angst machte. Und der Blick, mit dem er sie fast schon sezierte, jagte ihr Schauer über den Rücken. Sie schloss einen Moment die Augen und als sie sie wieder öffnete, wandte sie sich an Dr. Mortimer. »Ich habe meinen von Ihnen befoh lenen Urlaub nur unterbrochen, um Sie zu fragen, wie lange Sie mich entbehren können.« Dr. Mortimer machte ein besorgtes Gesicht. »Geht es Ihnen immer noch nicht besser?« Kara zwang sich zu einem Lächeln. »Doch, schon viel besser. Ich schlafe wieder gut. Aber …« Sie zögerte. »Sie können mir doch alles sagen, Kara. Ich hoffe, das wissen Sie.« Sie nickte. »Ja. Und …« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist etwas ganz
Unvorhergesehenes passiert. Als ich meine Mutter besuchte, hat sie mir gesagt, dass ich ein Adoptivkind bin. Jetzt habe ich meine richtige Familie gefunden.« »Aber Kara, das ist ja wunderbar!«, freute sich Dr. Mortimer. »Und sicherlich sehr verwirrend.« Sie nickte nachdrücklich. »Ja, sehr! Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Ich möchte jetzt natürlich gern einige Zeit mit meiner Fa milie verbringen. Sie kennen lernen. Aber ich fürchte, ich werde mich für längere Zeit nicht auf meine Arbeit konzentrieren können.« »Das ist doch nur zu verständlich!« »Wäre es möglich, dass ich auf unbestimmte Zeit unbezahlten Urlaub bekomme?« »Aber ja!«, stimmte Dr. Mortimer sofort zu. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Das Museum wird schon ein paar Wo chen oder auch Monate ohne Sie auskommen können. – Ach, sind das wundervolle Neuigkeiten! Wie ist denn Ihre Familie so?« Kara lieferte einen detaillierten Bericht, ohne etwas wirklich Wichtiges zu erwähnen. Sie beschränkte sich darauf, zu erzählen, wie glücklich die Familie war und wie gut sie sich mit allen verstand. Die ganze Zeit über beobachtete Jarod Kane sie, als wollte er jedes Wort in sich aufsaugen. Als Kara sich schließlich gegen Mitternacht von den Mortimers verabschiedete, bot er ihr wieder an, sie nach Hause zu begleiten. Da sie keinen plausiblen Grund fand abzu lehnen und Dr. Mortimer von der Idee begeistert war, stimmte sie notgedrungen zu. »Sie haben Ihre Unschuld verloren, Kara«, sagte Jarod bedauernd, als sie draußen auf der Straße waren. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Ich denke, das wissen Sie sehr genau.« Er blieb stehen und sah sie an. »Bei unserer letzten Begegnung hatten Sie keine Ahnung, wer
oder was Sie wirklich sind. Jetzt wissen Sie es – und leben es auch, nicht wahr?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«, wiederholte Kara be stimmt. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie mich nicht belügen können. Es hat mit Ihrer richtigen Familie zu tun …« Kara schwieg. »Sie sollten wissen, dass ich gerade den Überfall auf Sie bearbeite. Wir können die Sache natürlich abkürzen, indem Sie mir einfach sagen, was Sie wissen. Zu welchem Orden der Mönch gehörte und warum er Sie umbringen wollte.« »Keine Ahnung …« »Schon wieder eine Lüge«, stellte Jarod fest. Kara ging weiter. Zu ihrem Entsetzen erwachte gerade jetzt der Hunger in ihr. Einen unpassenderen Zeitpunkt gab es wohl kaum. »Es … ist wohl besser, Sie lassen mich allein.« Denn wenn er es nicht tat, konnte es gut passieren, dass er ihr nächstes Opfer wurde. Zwar beherrschte sie den Hunger inzwischen einigermaßen. Aber Jarod stellte eine Gefahr für sie dar, wenn sie auch nicht sagen konnte, warum. Sich mit ihm einzulassen wäre ein schlimmer Fehler. Er wich abrupt von ihrer Seite und starrte sie aus zusammenge kniffenen Augen kalt an. »Lassen Sie Ihre Spielchen, Kara! Das wirkt bei mir nicht. Sie haben nicht zufällig etwas mit vier Fällen spon taner Alterung und wundersamer Heilung zu tun, die sich in Elgin ereignet haben? Diese Fälle bearbeite ich nämlich auch. Und ich bin entschlossen, sie alle zu lösen.« Kara wich vor ihm zurück. Er wusste Bescheid! Oder zumindest hatte er eine fundierte Ahnung. Und er war Polizist. Verdammt, konnte ihr Hunger nicht jemand anderen begehren? »Lassen Sie mich in Ruhe!«, rief sie, wandte sich ab und rannte los.
Er folgte ihr, holte sie ein und packte sie am Arm. »Warten Sie, Kara! Wer immer für die Sache in Elgin verantwortlich ist, hat ver sucht, den Schaden wieder gutzumachen. Das ist okay. Aber ich muss wissen …« »Kara! Ist alles in Ordnung?«, ertönte zu ihrer großen Erleichte rung Kyles Stimme hinter ihr. Sie riss sich von Jarod los und flüchtete zu ihrem Bruder. »Mir geht es gut.« Kyle blickte Jarod kalt an. »Das sah aber gerade nicht so aus. Was wollen Sie von meiner Schwester, Sir?« Jarod hob beschwichtigend die Hände. »Nichts. Ich habe nur ein paar Fragen an sie.« »Er ist bei der Polizei«, erklärte Kara und fügte zu Jarod gewandt hinzu: »Aber ich kann seine Fragen nicht beantworten.« »Dann würde ich vorschlagen, Sir, dass Sie meine Schwester in Ruhe lassen.« Jarod nickte und ging langsam rückwärts. Karas Bruder besaß zwar die ganz normale Ausstrahlung eines Menschen, aber Jarod wusste mit instinktiver Sicherheit, dass unter dieser Tarnung dieselbe dämonische Aura steckte wie Kara sie hatte. Offenbar war er hier auf ein Nest gestoßen, das es möglicherweise auszumerzen galt. Schade eigentlich. Kara war eine sympathische junge Frau. Nur leider nicht mehr menschlich. Da er die Kräfte der beiden nicht ein schätzen konnte, hielt er es für vernünftiger, für heute den Rückzug anzutreten. »Wir werden uns wieder sehen«, versprach er, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Kara lehnte sich aufatmend gegen ihren Bruder, der sie zu ihrer Wohnung zerrte und dort sorgfältig die Tür hinter ihnen schloss. »Verdammt, Carana!«, fluchte er. »Wie konnte der Kerl dir auf die
Schliche kommen? Woher kennst du ihn überhaupt?« »Er ist Dr. Mortimers Neffe. Aber ich verstehe nicht …« »Er ist ein Jäger!« »Ein was?« Kara blickte verwirrt auf. »Ein Jäger des Bösen«, erklärte Kyle. »Und uns Dämonen jagt sei ne Sorte besonders gern.« »Seine Sorte? Wie kommst du darauf, dass er ein … ein Jäger des Bösen ist? Was ist das überhaupt?« »Seine Ausstrahlung. Hast du sie nicht gespürt?« Sie nickte zögernd. »Ich habe etwas an ihm gefühlt, das mir Angst macht.« Kyle nickte nachdrücklich. »Seine Art … nun, es heißt, dass sie von einer höheren Macht beauftragt wurden, das Böse, das von den Geschöpfen der Unterwelt auf die Erde gebracht wurde, zu be kämpfen und zu vernichten. Dafür hat man sie mit besonderen Fä higkeiten ausgestattet. Unter anderem der, uns spüren zu können, wenn wir uns nicht abschirmen. Ich glaube, er hat dich als das er kannt, was du bist. Deshalb weiß er jetzt auch über unsere Familie Bescheid. Zu allem Übel ist er auch noch bei der Polizei. Das kann uns in große Schwierigkeiten bringen. Halt dich unter allen Um ständen von ihm fern, Schwesterchen! Er ist gefährlich. Und du hast ihm noch nicht viel entgegenzusetzen.« Kara erbleichte. »O Gott!« Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Auf einmal schien ihr der Umzug nach Inverness geradezu verlockend. Noch verlockender wäre allerdings ein Umzug ans Ende der Welt gewesen. Und außerdem … »Ich hab Hunger«, sagte sie unglücklich. Kyle nickte. »Ich weiß.« Er schloss die Augen. Kara spürte, dass er mit seinen magischen Sinnen die Umgebung abtastete. »Im Umkreis von etwa fünf Kilometern ist alles sicher«, stellte er dann fest. »Ich denke, eine nächtliche Jagd dürfte ungefährlich sein.«
»Und Jarod?« »Der ist im Moment keine Gefahr. – Komm, lass uns gehen. Ich könnte auch einen Snack vertragen.«
* John Smith – dessen Name nicht wirklich ›John Smith‹ war – saß in seinem Wagen und beobachtete die Rothaarige. Wie seine Auftrag geber ihm gesagt hatten, würde sie früher oder später zu ihrer Wohnung an der George IV. Bridge zurückkehren. Endlich war sie da, wenn auch nicht allein. Der Mann bei ihr musste, der Ähnlichkeit nach zu urteilen, ihr Bruder sein. Of fensichtlich war er auch ihr Beschützer. Schließlich ließ er sie kaum aus den Augen. Das war nicht weiter tragisch. John Smith hatte Zeit. Bis jetzt hatte er noch nie einen Auftrag von einem Mönchskloster bekommen. Dass Mönche den Mord an einer jungen Frau beauftrag ten, hatte es in der Branche noch nie gegeben. Doch das kümmerte ihn nicht. Er wurde bezahlt. Wer sein Opfer war oder warum es sterben sollte, interessierte ihn nicht im Geringsten. Er würde den Auftrag erledigen, sobald sich eine gute Gelegenheit ergab. Die Rothaarige war schon so gut wie tot …
* Sie mussten nicht lange nach ihrem ›Snack‹ suchen. In der Nähe einer Diskothek fanden sie ein junges Pärchen, das sich knutschend in einen Hauseingang drückte und offensichtlich plante, ihre Aktivi tät nicht nur beim Knutschen zu belassen. Kara spürte, wie Kyle seine Inkubus-Magie einsetzte, die auf die Frau wie ein Magnet wirkte. Ihr Partner war schlagartig unwichtig.
Sie stieß ihn weg und hatte nur noch Augen für Kyle, der ihr ein ladend die Hand entgegenstreckte. Sie eilte mit einem entrückten Lächeln zu ihm und warf sich ihm in die Arme. Er lachte leise und zog sie mit sich in die nahe gelegenen West Princes Street Gardens, wo es etliche lauschige Plätzchen gab, die für ungestörten Sex unter freiem Sommerhimmel eine herrliche Kulisse abgaben. Kara übernahm den Partner der jungen Frau. Ehe der mehr als ein wütendes »Hey, was zum Teufel soll das!« hervorgebracht hatte, ließ sie dem Sukkubus in sich freien Lauf. Augenblicklich hatte der Mann seine Partnerin vergessen und zog Kara mit den Augen aus, während er es kaum abwarten konnte, selbst seine Kleidung von sich zu werfen. Kara wollte ihn ebenfalls zu den Gardens ziehen, als ihn etwas Helles traf und zu Boden warf, wo er reglos liegen blieb. Sie fuhr herum, noch ehe ein Teil ihres Gehirns das angreifende Etwas als Psi-Pfeil identifiziert hatte. Ein paar Meter entfernt stand ein hellhäutiger, schwarzhaariger Mann und lächelte sie entschuldigend an. »Tut mir Leid, dass ich dein Dinner störe«, sagte er mit einer angenehm tiefen Stimme. »Aber ich muss mit dir dringend unter vier Augen reden. Ohne deinen Wachhund.« Er deutete mit dem Kinn in die Richtung, in der Kyle mit dem Mädchen verschwunden war. »Wer sind Sie?«, fragte Kara und versuchte mit aller Macht, ihren angestachelten Hunger zu unterdrücken, der brüllend dagegen protestierte, dass er nicht befriedigt wurde. Sie blickte auf den reglosen jungen Mann. »Ist er …?« »Nur bewusstlos«, beruhigte der Fremde sie. »Ich bin dein Cou sin.« »Camiyu?« »Casdiru. Kassim Bashir für die Menschen. Und Cousin um drei Ecken wäre wohl richtiger. Meine Mutter ist eine Cousine zweiten
Grades deines Vaters.« Kara hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Woher wissen Sie von mir? Wie haben Sie mich gefunden?« »Das war nicht schwer«, erklärte er. »Dein Erwachen hat die Dimensionen durchdrungen. Alle wissen, dass die Rhu’u jetzt wieder vollzählig sind. Und etliche fürchten nun, dass sie jetzt nach ihrem Erbe greifen werden. Was auch wir vorhaben, zugegeben.« Kara schüttelte den Kopf und rief sich fieberhaft die wenigen ma gischen Abwehrstrategien ins Gedächtnis, die sie bisher gelernt hatte. »Wovon reden Sie?« Kassim Bashir zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Hat dir das die Familie nicht gesagt?« Er wartete einen Moment auf Antwort. »Nein, ich denke nicht.« Er blickte sich suchend um. »Wir sollten diese Unterhaltung nicht hier auf der Straße führen. Mein Hotel ist gleich um die Ecke. Dort haben wir mehr Ruhe.« »Warum sollte ich Ihnen trauen?« Er trat dicht an sie heran, dass sie seine Augen sehen konnte, die genauso grün waren wie ihre eigenen. »Weil du fühlst, dass wir verwandt sind, Carana. Blut erkennt immer gleiches Blut.« Er hatte Recht. Kara fühlte eine Bindung zu ihm. Die war zwar nicht annähernd so stark wie die zu Kyle, Kassie oder Cal, aber sie war unleugbar da. »Komm, Carana. Und bevor wir reden, kannst du deinen Hunger stillen.« Obwohl Karas Misstrauen keineswegs besänftig war, hatte sie in zwischen einen Punkt erreicht, an dem sie fast nur noch aus Instinkt bestand. Und der verlangte nachdrücklich nach Nahrung. Sie folgte Kassim …
*
Eine halbe Stunde später lag sie vollkommen gesättigt, kraftvoll und entspannt in Kassims Hotelzimmer. Die Vereinigung mit ihm hatte zumindest zweifelsfrei bewiesen, dass er ein Inkubus war, denn sei ne Energie war schier unerschöpflich. »Du wolltest mir etwas erzählen«, erinnerte sie ihn. Nachdem der Hunger gestillt war, kam die Neugier zurück. »Von einem Erbe.« »Das ist eine lange Geschichte«, begann er und stützte sich auf einen Ellbogen. »Wir sind die rechtmäßigen Erben des Arrod’Sha.« »Wer ist das?« Kara erinnerte sich, dass sie diesen Namen gehört hatte, als ihre Familie ihr heimliches Ritual im Keller ausgeführt hatte. »Nicht wer – was ist er. Ein Kristall. Eine Kugel, um genau zu sein. Vielmehr war sie das einmal. Vor über dreitausend Jahren nach menschlicher Zeitrechnung gab es einen Dämonenfürsten namens Daruluk, an dessen Thron so mancher sägte. Anders ausgedrückt, er hatte mehr Feinde, als er verdauen konnte. Um vor seinen Gegnern sicher zu sein, scharte er eine Gruppe von Leibwächtern um sich. Da er den mächtigen Dämonen nicht trauen konnte, suchte er sich dazu eine kleine Gruppe unbedeutender Inkubi und Sukkubi aus, die Rhu’u, deren Magie so schwach war, dass sie nicht einmal in ihren kühnsten Träumen in Betracht gezogen hätten, sich gegen Daruluk zu stellen, geschweige denn sich mit ihm oder seinen Gegnern zu verbünden. Mit anderen Worten: Sie waren absolut unbedeutend.« Kassim lächelte schief. »Als er ihnen anbot, ihnen Macht zu verlei hen, wenn sie ihm dienten, nahmen sie das Angebot ohne zu zögern an. Kein Dämon würde jemals angebotene Macht ausschlagen. Aber natürlich hatte diese Macht ihren Preis. Daruluk schuf den Arrod’S ha, der künftig die Quelle ihrer Kräfte sein würde. Und er band alle Rhu’u – neun an der Zahl – mit ihrem Blut an den Kristall. Sie wurden dadurch mächtig genug, um alle Gegner ihres Herren in Schach zu halten. Eigentlich sogar mächtig genug, um Daruluk zu
entthronen. Der hatte sich allerdings abgesichert. Er kontrollierte der Kristall. Die Rhu’u konnten ihn nur in seinem Sinn benutzen, niemals gegen ihn. So konnte er sich ihrer Loyalität absolut sicher sein. Dachte er zumindest.« »Doch es kam anders«, vermutete Kara. Die Geschichte hatte ihre Neugier geweckt. Obwohl sie sich immer noch fragte, wieso sie ihm eigentlich zuhörte. Schließlich kannte sie ihn nicht. Und die ganze Geschichte konnte eine Lüge sein. »Es kam anders«, bestätigte Kassim. »Den Rhu’u gefiel es ganz und gar nicht, ihr Dasein als Sklaven von Daruluk zu fristen. Sie setzten alles daran, das zu ändern. Eines Tages fanden sie heraus, wie er den Arrod’Sha beherrschte und entrissen ihm die Kontrolle. Damit war Daruluks Schicksal besiegelt. Sie töteten ihn und setzten sich an seine Stelle. Sie begannen, die Macht des Kristalls gezielt dazu einzusetzen, ihre Feinde und alle, die sie dafür hielten, zu be seitigen. Es kam zu einem regelrechten Krieg im Dämonenreich, an dessen Ende der Kristall zerstört wurde. Er wurde in neun Teile ge spalten. Diese Teile rissen die Feinde der Rhu’u an sich. Wohl in der Hoffnung, die Macht gegen die Neun benutzen zu können. Aber der Arrod’Sha ist an das Blut der Rhu’u gebunden und kann nur von ih nen oder jemandem, der von ihrem Blut ist, benutzt werden. Also haben die Diebe die neun Teile in allen Dimensionen versteckt und damit die Macht der Rhu’u gebrochen.« »Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Kara. »Oder mit dir?« »Einiges. Inzwischen befinden sich alle neun Teile des Kristalls in dieser Dimension, also hier auf der Erde. Deine Familie hat schon fünf von ihnen in Besitz. Fünf! Um ihre Kraft zu aktivieren, müssen sie zu fünft sein. Du verstehst? Bevor du erwacht bist, waren sie nur zu viert. Nur mit dir können sie die Macht der fünf Kristalle nutzen. Nur deshalb sind sie so sehr um dich bemüht.« Das war eine erschütternde Offenbarung – falls sie der Wahrheit entsprach. »Warum erzählst du mir das alles?«
»Ich denke, dass du es wissen solltest. Du bist eine Rhu’u. Du musst die ganze Wahrheit kennen.« Karas Instinkt riet ihr, ihm nicht zu trauen. Kassim hatte ihr das alles sicherlich nicht aus reiner Freundlichkeit erzählt. »Was bezweckst du damit, Kassim?«, fragte sie, stand auf und zog sich wieder an. »Du hast Hintergedanken bei der ganzen Sache.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Ich hoffe, dass du das, was deine Familie dir erzählt, kritisch betrachtest und dich nicht vor ihren Kar ren spannen lässt. Du interessierst sie nicht. Sie brauchen dich nur, um die Macht des Arrod’Sha zu aktivieren. Sie manipulieren dich. Sobald sie die Kraft des Kristalls zu ihrer Verfügung haben, werden sie sie einsetzen, um die alte Macht der Rhu’u und ihre Vormacht stellung unter den Dämonen wieder herzustellen. Das können sie aber nur erreichen, wenn du mit Leib und Seele auf ihrer Seite stehst. Ohne deine Hilfe und deine Kraft sind sie machtlos.« Er zuckte mit den Schultern. »Du musst mir nicht glauben. Nur: Falls du irgendwann mal genug von den McLeods hast, kannst du jederzeit zu uns kommen. Wir sind auch ein Teil deiner Familie. Meine Mutter, mein Bruder und ich würden uns freuen, dich bei uns zu haben. Schließlich …« Kassim kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden. Die Zimmer tür wurde regelrecht aufgesprengt. Kyle stürzte herein, sein Gesicht eine Maske des Zorns. »Lass meine Schwester in Ruhe!«, brüllte er Kassim an. »Verschwinde!« Er schleuderte eine Salve Levin-Pfeilen auf sein Opfer. Kara konnte ihre tödliche Energie spüren. Sie schrie erschrocken auf. Doch Kassim war plötzlich verschwunden. Die Pfeile fuhren in das Bett, auf dem er gerade noch gelegen hatte und sprengten vier tiefe Löcher hinein. Von Kassim blieb nur noch ein verächtliches La chen im Raum zurück, das geisterhaft verhallte.
Kara sank verwirrt auf einen Stuhl. »Was war das denn?«, fragte sie und meinte damit sowohl Kyles unverständliches Verhalten wie auch Kassims Verschwinden. Ihr Bruder fluchte heftig, wandte sich dann Kara zu und packte sie bei den Schultern. »Hat er dir was getan?« »Nein. Was soll das? Ich denke, er ist ein Verwandter.« Sie befreite sich aus seinem Griff. »Ja!«, knurrte Kyle böse. »Leider! Die Bashirs sind ein verlogenes Pack. Du darfst ihnen kein Wort glauben! Was hat er gewollt?« »Er hat mir etwas von Arrod’Sha erzählt. Von unserer … Famili engeschichte. Ist es das, was ihr mir bisher verheimlicht habt?« Kyle blickte sie besorgt an. »Hat er es geschafft, die Saat des Zweifels in dir zu sähen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wohin ist er verschwunden? Wie hat er das gemacht?« »Das ist so etwas wie Teleportation. Die meisten Dämonen können das.« »Wir auch?« »Wir – du, ich und Cassilya – nicht«, sagte Kyle. »Möglicherweise sind wir noch zu jung dafür. Vielleicht entwickeln wir diese Fähig keit aber auch nie, weil wir nur Halbdämonen sind.« »Kassim sah nicht so viel älter aus als wir. Mitte Dreißig, höchstens Vierzig.« Kyle schnaufte. »Ein bisschen älter ist er schon. So ungefähr … zweihundert Jahre älter.« »Was?« Kara klappte vor Verblüffung die Kinnlade herunter. »Wenn ich mich recht erinnere, ist Casdiru 243 Jahre alt.« Er zuck te mit den Schultern. »Dämonen leben ziemlich lange, wenn auch nicht ewig. Und wir haben gute Chancen, doppelt zu alt zu werden wie jeder normale Mensch.« Kara sprang auf. »Und wann wolltet ihr mir das sagen?«, fragte sie
wütend. »Ich glaube, Kassim hatte doch Recht. Ihr versucht, mich zu manipulieren und zu benutzen! Aber das mache ich nicht mit! Wir werden jetzt meine Sachen aus meiner Wohnung holen und an schließend nach Inverness zurückfahren. Unser Vater schuldet mir ein paar Erklärungen!« Sie wartete Kyles Antwort nicht ab, sondern stiefelte an ihm vor bei zur Tür hinaus. Zwei Stunden später fuhren sie durch die Nacht zurück nach In verness – während eine dämonische Wut in Karas Bauch tobte … Forsetzung folgt