M'Raven
Dämonenerbe Version: v1.0
»Meister San! Meister San!« Der junge Mann im sa frangelben Gewand der buddhistisc...
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M'Raven
Dämonenerbe Version: v1.0
»Meister San! Meister San!« Der junge Mann im sa frangelben Gewand der buddhistischen Mönche eilte mit einer Hast, die man einem älteren Bruder als mangelnde Disziplin ausgelegt hätte, zur Zelle seines Abts, wo er keuchend stehen blieb. »Nur der Bedächtige stolpert nicht«, zitierte der alte Meister eine Schrift. Der junge Mann errötete verlegen, konnte seine Auf regung aber trotzdem nicht beherrschen. »Meister San, die Steine!«, platzte er heraus. Der Abt hob die Hand, um jede weitere Erklärung zu unterbrechen. Er stand langsam auf. »Also zeige mir, was dich in solche Aufregung versetzt, Gao«, forderte er den Jungen auf.
Gao fiel es sichtlich schwer, sich dem gemessenen Schritt des Meis ters anzupassen, während sie über den Hof des Klosters Shenshende Shitou – Heiliger Stein – in den chinesischen Wu Dang Bergen zu dem Schrein gingen, in dem die Steine seit tausend Jahren aufbe wahrt wurden. Vor dem Schrein hatten sich inzwischen fast alle Mönche und Novizen des Klosters versammelt. Sie machten dem Abt ehrfürchtig Platz. Meister San trat vor den Schrein und betrachtete mit unbewegter Miene die beiden Steine, die darin ruhten. Sie hatten ihre Lage nicht verändert, wohl aber ihre Farbe. Waren sie bisher von dunkelroter, fast schwarzer Transparenz gewesen, so glühten sie jetzt von innen heraus in einem pulsierenden Licht. Das konnte nur eins bedeuten, jeder wusste das. »Meister San, wird es einen Kampf geben?«, fragte der junge Gao und konnte eine gewisse Furcht nicht aus seiner Stimme heraushal ten. »Das wird sich zeigen, wenn die Dämonen kommen«, antwortete der Abt. »Was geschehen soll, wird geschehen. Es kann nicht mehr lange dauern.«
* »Bruder Camillus, wer zum Teufel sind Sie wirklich?«, fragte Kara MacLeod den in die schwarze Robe der Bruderschaft des Reinen Lichts gekleideten Mönch, der sie gerade aus dem Haus ihrer Tante befreit hatte, wo man sie seit Tagen gefangen gehalten hatte. Seit vor einigen Wochen die dämonischen Kräfte des Sukkubus – eines weiblichen Sexdämons – in ihr überraschend erwacht waren, bestand ihr Leben nur noch aus Katastrophen der einen oder anderen Art. All die bisher 28 Jahre ihres Lebens hatte sie sich für einen ganz normalen Menschen gehalten. Dann erfuhr sie, dass sie
eine Halbdämonin der Rhu’u-Familie war, eine dämonische, aus In kubi und Sukkubi bestehende Verwandtschaft nebst einem Zwillingsbruder hatte – und dass die Bruderschaft des Reinen Lichts die ganze Familie auslöschen wollte. Viermal hatten die Mönche versucht, Kara zu töten. Und dieser Bruder Camillus, der so unendlich viel über ihre Familie zu wissen schien, hatte ihr schon einmal das Leben gerettet. Er kannte ihren dämonischen Namen und den ihres Cousins Kamal, der ihr eben falls bei der Flucht aus dem Haus seiner Mutter behilflich gewesen war. »Wer sind Sie?«, wiederholte sie ungeduldig. Camillus lächelte und strich ihr mit einer unglaublich sanften Ges te über die Wange. »Hast du das noch nicht erraten, Carana? In dem Fall erlaube, dass ich mich dir vorstelle.« Er machte eine tiefe Ver beugung. »Cousin Rhu’Camiyu, zu deinen Diensten … Und jetzt lass uns endlich hier verschwinden!« Er nahm sie am Arm und zog sie durch den nächtlichen Wald zur Straße, wo ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern wartete. Ca millus öffnete die hintere Tür, schob Kara hinein und folgte ihr. »Los geht’s, Mr. Kane«, sagte er zum Fahrer, der sich halb zu ih nen umdrehte »Hallo, Kara. Geht es dir gut?« »Ja, Jarod. Alles in Ordnung.« Sie war verwirrt, dass der Polizist von Scotland Yard und im Nebenberuf Jäger von Dämonen mit Camillus gemeinsame Sache machte, um sie zu befreien. Aber alles andere war genauso verwir rend. Sie wandte sich an den Mönch, während Jarod den Motor startete und losfuhr. »Du kannst unmöglich Cousin Camiyu sein! Du bist ein Mönch!« Er grinste. »Stimmt. Sogar mit allen echten Weihen, die dazu gehö ren. Aber erinnerst du dich an unsere erste Begegnung? Da habe ich dir gesagt, dass auch wir Dämonen ein Teil von Gottes Schöpfung
sind und nicht existieren könnten, wenn Er es nicht zuließe. Ich habe diese Information von allerhöchster Stelle.« Er deutete in Richtung Himmel und strich sich anschließend über das schwarze Haar. »Und unter dieser schwarzen Farbillusion ist mein Haar genauso rot wie deins.« Kara fiel es schwer, das zu verdauen. Ihre Familie hatte ihr nur sagen können, dass Camiyu vor etlichen Jahren die Familie verlassen hatte, um nach den verschollenen Teilen des Kristalls Ar rod’Sha zu suchen, der ein mächtiges magisches Instrument und das Erbe der Rhu’u war. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört »Aber … wieso bist du ins Kloster gegangen? Zu unseren Tod feinden? Wenn sie herausfinden, wer du bist …« »Versuchen sie, auch mich umzubringen«, vollendete er gelassen den Satz. »Ganz ohne Zweifel. Aber ich hielt es für das Beste, gerade bei unseren Todfeinden mit der Suche nach den fehlenden Kristallen zu beginnen. Ihre Aufgabe ist nicht nur die Vernichtung unserer Fa milie, sondern auch die des Arrod’Sha. Seine Macht erlischt nur, wenn der Letzte von uns tot ist. Natürlich mussten sie uns auch dar an hindern, die fehlenden Teile zu finden und somit den Kristall wieder zusammenzufügen. Das konnten sie am besten tun, indem sie selbst die fehlenden Teile suchten und an Orten versteckten, von denen sie glauben, dass wir keinen Zugriff darauf haben.« Jarod Kane spitzte die Ohren und ließ sich kein Wort entgehen, während er den Wagen sicher durch die Nacht lenkte. Hier erfuhr er zum ersten Mal einige Dinge, die weder Bruder Camillus noch Kara ihm bisher offenbart hatten. Dinge, die ihm helfen konnten zu ent scheiden, was er mit dieser Dämonenfamilie machen sollte, über die er zufällig gestolpert war. Seine Vorfahren hatten vor Jahrhunderten von einer höheren Macht – Gott? – den Auftrag bekommen, das Böse in der Menschen welt, das aus der Unterwelt kam, aufzuspüren und zu vernichten. Auch Jarod erfüllte diese Aufgabe, aber er vernichtete nicht wahllos. Es gab Dämonen wie Kara, Camillus und weitere Mitglieder ihrer
Familie, die vielleicht nicht unbedingt im herkömmlichen Sinn ›gut‹ waren. Aber sie waren definitiv auch nicht böse und fügten nie mandem Schaden zu, soweit Jarod das beurteilen konnte. Sie waren Sexdämonen, die mit Menschen schliefen und die dabei entstehende sexuelle Energie in sich aufsogen. Diese benötigten sie ebenso notwendig zum Überleben wie normale Nahrung. Und Jarod hatte mit Kara erlebt, welche unbeschreibliche Freude sie den Men schen dafür als Belohnung zurückgaben. Aber es gab auch andere, wie ihre Tante Catena und deren zwei Söhne, die Kara entführt und gefoltert hatten, um sie gefügig zu ma chen und als Druckmittel gegen ihre Familie benutzen zu können. Solche mussten vernichtet werden. Doch nach allem, was er bereits über die Rhu’u-Familie erfahren hatte, würden die das niemals zu lassen. Er musste sie entweder alle auslöschen – oder keinen von ih nen. Er durfte jedoch nicht sechs Unschuldige töten, nur um drei Schul dige erledigen zu können, oder? Andererseits konnte er die Drei auch nicht laufen lassen. Bis jetzt war ihm vollkommen schleierhaft, wie er diesen Konflikt lösen sollte. Deshalb lauschte er besonders aufmerksam dem Gespräch auf der Rückbank in der Hoffnung, da durch der Lösung seines Dilemmas näher zu kommen. »Ich habe also ihre alten Chroniken studiert und alle Quellen, in denen vielleicht Hinweise auf ihre Suche und etwaige Erfolge zu finden sein könnten«, fuhr Camillus fort. »Mit Erfolg?«, fragte Kara eifrig. »Ja«, bestätigte er. »Die Bruderschaft hat im Laufe der Jahr hunderte drei Kristalle gefunden. Ich habe das Versteck von zweien lokalisiert. Das dritte finde ich auch noch. Sobald ich das geschafft habe, steht der Wiedervereinigung des Arrod’Sha nichts mehr im Weg.« Genau das bereitete Kara Sorgen. Da fiel ihr etwas auf. »Es sind doch neun Teile. Wir haben fünf, die Mönche drei – wo ist das
neunte Stück?« Camillus grinste breit. »Den habe ich zufällig gefunden, bevor ich ins Kloster eingetreten bin. Du siehst, wir haben bald alle.« Er be merkte ihre Besorgnis und fasste sanft ihre Hand. »Carana, willst du mir sagen, warum du davongelaufen bist?« »Damit der Arrod’Sha nicht zusammengefügt werden kann«, gestand sie. »Ich habe, als ich das Wissen des Blutes erfahren habe, gesehen, welch furchtbare Waffe der Kristall sein kann, wenn er wieder ganz ist. Und du weißt besser als ich, wozu Catena seine Macht benutzen, besser gesagt missbrauchen will. Das kann ich nicht zulassen. Nur alle neun Rhu’u gemeinsam können den Ar rod’Sha zusammenfügen. Ich dachte, wenn ich nicht greifbar bin, kann das zu meinen Lebzeiten nicht geschehen.« Er legte den Arm um ihre Schultern und sah sie mitfühlend an. »Und um Catena an ihren Plänen zu hindern, wärst du bereit ge wesen, dein Leben lang auf der Flucht zu sein?« Sie nickte unglücklich. »Camiyu, wir dürfen nicht zulassen, dass Catena ihr Ziel erreicht! Wir dürfen es nicht!« Camillus zog sie an sich und barg ihren Kopf an seiner Schulter. »O Carana! Welch nobler und tapferer Geist wohnt in dir! Dabei wäre deine Flucht gar nicht nötig gewesen.« »Wieso?« Sie lehnte sich an ihn und genoss es, sich einmal auf je mand anderen als immer nur sich selbst stützen zu können. Camiyu strahlte eine Kraft und gleichzeitig Ruhe aus, in der sie sich ge borgen fühlte. Er strich ihr übers Haar. »Du hast das Ritual, um das Wissen des Blutes zu erlangen, nur einmal durchgeführt, nicht wahr?« Sie nick te. »Ich habe es viele Male getan, bis ich alles wusste. Ganz beson ders alles, was den Arrod’Sha und seine Macht betrifft. Hör mir ge nau zu, Carana. Und glaube mir, was ich sage. Es ist die Wahrheit. Die wahre Macht des Kristalls liegt darin, dass er mit unserem Blut verbunden ist. Was genau das heißt, erkläre ich dir ein anderes Mal.
Aber es bedeutet Einigkeit. Als unsere neun Urahnen sich mit ihrem Blut an ihn banden, waren sie sich absolut einig über ihr Ziel. Deshalb kann seine Macht nicht eingesetzt werden, wenn auch nur ein einziger der Neun, die mit ihm verbunden sind, nicht mit dem einverstanden ist, was er tun soll. Verstehst du?« »Nicht so ganz«, gestand Kara. »Nun, falls Catena ihn benutzen wollte, um ein Imperium für sich zu erschaffen – wozu der Arrod’Sha durchaus die Macht hat –, du aber damit nicht einverstanden bist, passiert gar nichts. Der Kristall wird nur aktiv, wenn sich alle neun über das Ziel einig sind. Damals, als er zersplittert wurde, konnte das nur geschehen, weil die Rhu’u sich zerstritten hatten. Wären sie einig geblieben, hätte das nie geschehen können.« »Woher weiß denn der Kristall, ob wir uns einige sind oder nicht?«, fragte Kara und lehnte sich noch etwas mehr an Camiyu. Es tat so gut, einmal von jemandem gehalten zu werden, bei dem sie nicht ständig auf der Hut sein oder mit ihm Sex haben musste, um weiterleben zu können. Er drückte sie sanft. »Der Arrod’Sha hat ein eigenes Bewusstsein. Natürlich nicht so wie wir. Er kann nicht fühlen oder denken im herkömmlichen Sinn. Aber er hat ein Bewusstsein. Frag mich nicht, wie so was möglich ist. Es ist einfach so.« Camiyu drückte Kara noch ein wenig fester an sich. »Und da gibt es noch etwas, weshalb der Kristall unbedingt wieder zusammenge setzt werden muss«, erklärte er schließlich. »Mit seiner Hilfe können wir Catena in ihre Schranken weisen.« »Wie das?«, fragte Kara gespannt. Der Gedanke gefiel ihr außer ordentlich gut. »Der Kristall kann jedem von uns – vorübergehend oder permanent – Kraft zuführen oder entziehen. Und mit einem kleinen magischen Trick können wir Catenas Kraft in den Kristall ziehen und dort festhalten, so dass sie keinen Zugriff mehr darauf hat.
Anders ausgedrückt: Wir können sie von der magisch Stärksten un ter uns zur magisch Schwächsten degradieren.« Kara lächelte böse. »Das würde mir sehr gefallen! Damit wären all ihre hochtrabenden Pläne null und nichtig. Das wäre die gerechte Strafe für ihren Größenwahn. Wenn ich mir vorstelle, dass sie den Rest ihres Lebens damit verbringen muss, in gewisser Weise auf uns angewiesen und ansonsten relativ machtlos zu sein … Oh, wie würde mir das gefallen!« Camiyu streichelte ihren Arm und schmunzelte. »Spricht das ge rade deine dämonische Hälfte aus dir?« »Ja«, gab sie unumwunden zu. »Ich gebe zu, ich bin rachsüchtig. Nach allem, was sie mir angetan hat, wünsche ich mir nichts mehr, als sie da zu treffen, wo es ihr so richtig weh tut! Und wie ich sie kennen gelernt habe, ist der Verlust ihrer Macht die größte Strafe, die es für sie geben kann.« »Stimmt«, bestätigte Camiyu. »Wenn sie die Wahl hätte, würde sie lieber tot sein als machtlos. Aber um ihr das Handwerk zu legen, muss der Arrod’Sha wieder zusammengesetzt werden. Und das können wir nur mit deiner Hilfe tun, Carana.« Er drückte sie wieder an sich. »Deshalb solltest du zu deiner Familie zurückkehren. Dort bist du sicher. Sie sind ohnehin auf dem Weg hierher, um dich zu befreien. Sobald ihr die Hauptstraße erreicht, werdet ihr sie treffen. Wenn du wieder bei ihnen bist, solltet ihr die zwei Kristalle holen, die ich ausfindig gemacht habe. Sie sind in den Wu Dang Bergen in China. Dort gibt es auf einem Gipfel ein Shaolin-Kloster, das Kloster Heiliger Stein. Dort werden sie seit fast tausend Jahren von den Mönchen gehütet. Sag deinem Vater, er soll, wenn ihr sie holt, mit Diplomatie vorgehen, auf keinen Fall mit Gewalt. Auch die Mönche haben magische Fähigkeiten.« Er tippte Jarod auf die Schulter. »Hal ten Sie mal an, Mr. Kane.« Der Polizist tat wie geheißen. Camiyu stieg aus dem Wagen. »Die Sonne ist schon aufgegangen.
Ich muss ins Kloster zurück, bevor sie mich vermissen. Wir sehen uns!« »Camiyu!«, hielt Kara ihn zurück. »Wie ist eigentlich dein menschlicher Name?« »Camillo. Als ich geboren wurde, lebte meine Mutter gerade in Italien. Also bekam ich einen italienischen Vornamen.« Er strich Kara noch einmal sanft über die Wange. »Wird schon werden, Cara na«, sagte er ernst. Er schloss die Tür und war im selben Moment in einem Wirbel flir render Luft verschwunden. Jarod starrte nachdenklich auf den Fleck, an dem er gerade noch gestanden hatte. »Wie macht ihr das eigentlich?« Kara stieg aus und setzte sich neben ihn auf den Vordersitz. »Keine Ahnung, ich kann das auch nicht. Aber die Möglichkeit be steht, dass ich diese Fähigkeit noch entwickele, wenn ich älter bin …« Jarod fuhr weiter. Sie blickte ihn von der Seite an. »Und?«, fragte sie. »Hast du dich inzwischen entschlossen, was du mit uns tun willst, nachdem du uns gerade so intensiv zugehört hast?« »Ihr habt euch keine Mühe gegeben zu flüstern«, verteidigte er sich. »Aber ich muss noch mehr über euch wissen, bevor ich eine Entscheidung treffen kann. Ich kenne nur dich und Bruder Camillus – Camillo. Und nach allem, was ich über diese Catena gehört habe, ist zumindest sie eine von denen, die ich vernichten müsste. Aber wenn es stimmt, was Camillo sagte, dass ihr sie … zur Räson bringen könnt, wäre das nicht nötig. Ich müsste allerdings erst den Rest deiner Familie kennen lernen, um beurteilen zu können, wie weit ich euch in dieser Hinsicht trauen kann.« Kara nickte. »Das lässt sich arrangieren.«
Sie bogen auf die Hauptstraße ein und stießen beinahe mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen. Beide kamen mit quiet schenden Reifen zum Stehen. Kara sprang aus dem Wagen und das taten auch die Insassen des anderen Autos. »Carana!« Cal MacLeod umarmte seine Tochter heftig, ebenso ihr Bruder Kyle, ihre Halbschwester Kassandra und ihre Tante Kay. »Haben sie dir was getan?« »Ich bin schon in Ordnung«, erklärte Kara und brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Ich sollte mich wohl hoch geehrt fühlen, dass so viele zu meiner Rettung aufgebrochen sind. Aber lasst uns nach Hause fahren. Mit etwas Glück hatten Catena und Kassim noch gar nicht bemerkt, dass ich weg bin. – Ich habe Neuigkeiten von Ca miyu.« »Mein nichtsnutziger Sohn hat sich doch nicht etwa mit den Ba shirs verbündet?«, fragte Kay entsetzt. Kara schüttelte den Kopf. »Du solltest deinen Sohn besser kennen, Tante Kay. Er hat die Bruderschaft des Reinen Lichts unterwandert und drei Kristallsplitter ausfindig gemacht. Aber das erzähle ich euch zu Hause.« Während ihre Geschwister sie ins Auto begleiteten, trat Cal zu Jar od an den Wagen und sah ihn lange mit unbewegtem Gesicht an. »Jäger Kane«, sagte er dann langsam. »Wir sollten mit einander re den.« Er zögerte. »Bitte Fahren Sie uns nach.« Das war ganz in Jarods Sinn und gleich darauf waren sie auf dem Weg nach Inverness …
* »Bruder Camillus ist verschwunden!« Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Kloster St. Ge orge the Pure und beunruhigte Abt Patricius zutiefst. Bruder Camil
lus hatte sich gestern, nach dem Besuch eines aufdringlichen Chief Inspectors von Scotland Yard, in seine Zelle zur Meditation zurück gezogen. Seitdem hatte niemand ihn mehr gesehen. Heute Morgen war er nicht zur Prim erschienen. Als Bruder Bene dictus ihn holen wollte, fand er Camillus’ Zelle leer und das Bett un berührt. So etwas hatte es in dem ehrwürdigen Kloster noch nie gegeben. Abt Patricius musste sich mit eigenen Augen davon über zeugen. Er ging zu Bruder Camillus’ Zelle, begleitet von einigen Brüdern, die ihre Neugier als Besorgnis tarnten. Wie Bruder Bene dictus gesagt hatte, war die Zelle leer und das Bett unberührt. Kein Anzeichen deutete auf den Verbleib von Camillus hin. Während der Abt und die Brüder noch ratlos in die leere Zelle starrten, tauchte der Vermisste urplötzlich aus einem flirrenden Luftwirbel vor ihnen auf. Die Mönche fuhren entsetzt zurück. »Ups!«, entfuhr es Camiyu erschrocken und konnte gerade noch verhindern, das ihm ein kräftiges ›Scheiße!‹ herausrutschte. Seine Tarnung war aufgeflogen. Jetzt galt es nur noch, einen möglichst sicheren Abgang zu machen – und vorher noch die ge heime Chronik der Bruderschaft aus ihrem Versteck in Patricius’ Zimmer zu bergen. Darin hoffte er die letzten Hinweise darauf zu finden, wo der neunte Kristallteil versteckt war. »Guten Morgen, Brüder«, sagte er leichthin. »Habt ihr mich vermisst?« Die Mönche starrten ihn kreidebleich und sprachlos an. Der alte Bruder Ambrosius, der Seher der Bruderschaft, den Camillus’ Verschwinden von seinem wohl verdienten Frühstück abgehalten hatte, streckte zitternd einen Finger gegen ihn aus. »Höllenbrut!«, kreischte er, so laut es seine Greisenstimme vermochte. »Dämon!« Camiyu zuckte mit den Schultern. »Tja, ich kann nichts dafür. Ich bin so geboren worden.« »Unmöglich!«, entfuhr es dem Abt. »Das kann nicht sein! Ich selbst
habe ihm die Weihen gegeben! Ein Dämon könnte doch niemals … Unmöglich!« »Tut mir Leid, Vater Abt, aber es ist sehr wohl möglich. Ich habe da eine brandheiße Neuigkeit für euch: Auch wir Dämonen sind ein Teil von Gottes Schöpfung und haben unsere Daseinsberechtigung.« »Blasphemie!«, donnerte der Abt erschüttert. »Gräuel! Scheußlich keit! Du …« Ihm fehlten die Worte. »Nein«, widersprach Camiyu sanft. »Die Wahrheit. Gott selbst hat es mir bestätigt, an dem Tag, als du mich geweiht hast, Vater Abt.« »Das ist doch nicht möglich!«, flüsterte Bruder Benedictus fassungslos. »Wie könnte ein Dämon …« »Nicht alle Dämonen sind per se böse, Bruder«, versuchte Camiyu zu erklären, obwohl er wusste, dass es keinen Zweck hatte. »Und ich bin immer noch derselbe Bruder Camillus, der ich gestern war. Und derselbe Rhu’Camiyu.« Abt Patricius gewann langsam seine Fassung wieder. »Bruder Am brosius!«, fuhr er den alten Seher an. »Wie konnte es passieren, dass du das nicht bemerkt hast? Wie konnte ein Dämon direkt vor un seren Augen mit uns leben, ohne dass du ihn bemerkst?« Ambrosius kroch in sich zusammen. »Das ist nicht seine Schuld«, nahm Camiyu ihn in Schutz. »Wir Dämonen verfügen über ausgezeichnete Schutzmechanismen, um uns zu verbergen. Oder was glaubt ihr, weshalb ihr immer nur neugeborene Babys oder gerade erwachte Dämonen wahrnehmen konntet?« Der Abt begriff plötzlich einige Zusammenhänge. »Die rothaarige Dämonin … Du hast sie befreit! Und du hast auch das Feuer in der Bibliothek gelegt, um uns von ihr abzulenken!« »Natürlich. Sie ist meine Cousine. Ich konnte unmöglich zulassen, dass ihr sie umbringt.« »Ich weiß, was du willst!«, erkannte der Abt. »Die Kristalle! Aber
die wirst du nie bekommen!« Camiyu machte ein bedauerndes Gesicht. »Tut mir Leid, dich noch mal enttäuschen zu müssen, Vater Abt. Aber ich habe schon zwei gefunden, die ihr versteckt hattet. Und den dritten bekommen wir auch noch. Die anderen haben wir ohnehin schon.« Abt Patricius wurde kreidebleich, als er erkannte, wie dicht er und seine Brüder davor waren, in ihrer einzigen Aufgabe, ihrem Lebens inhalt, komplett zu versagen. Er griff zum letzten Mittel. »Bruder Benedictus!«, rief er. »Die Silberdolche!« Camiyu hielt es für angebracht zu verschwinden. Normale Waffen konnten ihm und seiner Art zwar nichts oder nur wenig anhaben. Aber mit Silber war es etwas anderes. Die Dolche, von denen der Abt sprach, waren aus massivem Silber geschmiedet und hatten nur den einzigen Zweck, die Rhu’u zu töten. Camillo wartete nicht ab, bis Benedictus mit den Dolchen zurückkehrte. »Es tut mir sehr Leid, dass es so endet, Brüder«, sagte er. »Ich war trotz allem gern bei euch. Lebt wohl.« Im nächsten Moment war er verschwunden. Die Mönche bekreuzigten sich erschrocken. »Eine Katastrophe!«, murmelte Abt Patricius erschüttert. »Was für eine Katastrophe!« Wie groß die Katastrophe tatsächlich war, sollte er erst viel später erfahren. Camiyu war nicht einfach verschwunden. Bevor er das Kloster verließ, machte er noch einen Abstecher in das Zimmer des Abts und holte die dreibändige Chronik der Bruderschaft, die der dort in einem Versteck aufbewahrte. Mit dieser Beute unter dem Arm sprang er dann direkt nach Inverness ins Haus seiner Familie …
*
Rhu’Camulal – Kamal Bashir – duckte sich unter den Schlägen sei ner Mutter, die sie ihm körperlich und magisch reichlich verpasste. »Verräter! Schlappschwanz! Weichei! Feigling!«, fluchte sie und schlug ihn noch mehr. »Wie konntest du es wagen, meine Geisel freizulassen!« Camulal wimmerte nur und versuchte vergeblich auszuweichen. Doch er konnte der maßlosen Wut seiner Mutter nicht entkommen. Sein Bruder Casdiru – Kassim Bashir – fiel ihr schließlich in den Arm. »Lass es gut sein, Mutter! Du bringst ihn noch um!« Sie fuhr zu ihrem Ältesten herum. »Bist du etwa auch gegen mich?« »Nein, natürlich nicht!«, versicherte er hastig. »Aber Camulal hat nicht ganz Unrecht …« Er wich dem Energieblitz eines Levin-Pfeils aus, den seine Mutter auf ihn abschoss. »Hör mir doch mal zu!«, bat er eindringlich. Obwohl die Chancen dafür schlecht standen. Wenn Rhu’Catunua – Catena Bashir – in dieser Stimmung war, konnte nur wenig sie stoppen. Doch sie verschränkte die Arme über der Brust und starrte ihn auffordernd an. »Ich höre!«, knurrte sie. Camulal rappelte sich mühsam hoch. Sein Bruder half ihm auf die Beine. »Du hast natürlich vollkommen Recht, dass Carana eine wundervolle Geisel ist – aber jetzt war es dafür noch zu früh. Sie ist nutzlos, solange die neun Kristallteile noch nicht alle gefunden sind. Und wer weiß, wie lange das noch dauert. Wolltest du sie über Jahre oder Jahrzehnte hier gefangen halten? Das wäre ziemlich an strengend für uns gewesen. Wir holen sie uns wieder, wenn die MacLeods alle Teile haben. Bis dahin dürfte auch ihre Wachsamkeit wieder genug eingeschlafen sein, dass das nicht allzu schwierig werden wird. Natürlich war es falsch von Camulal, Carana einfach gehen zu lassen. Aber sobald die MacLeods herausgefunden hätten, dass sie hier ist, wären sie angerückt und hätten uns die Hölle heiß
gemacht. Du kannst dir sicherlich denken, wie Onkel Calibors Rache ausgesehen hätte.« Catunua verschwieg ihren Söhnen, dass die Familie ihres Cousins bereits auf dem Weg hierher gewesen war, um ihnen mehr als nur die Hölle heiß zu machen. Und dass Camulal sie im Grunde vor einer – höchst milde ausgedrückt – unerfreulichen Ausein andersetzung bewahrt hatte. Doch sie konnte Widerspruch und Eigenmächtigkeit weder ertragen noch dulden. »Geh mir aus den Augen, Camulal!«, befahl sie. »Ich will dich nicht mehr sehen!« In ihrer Wut und Empörung über den Verrat ihres Sohnes kam sie nicht auf den Gedanken, dass sie soeben möglicherweise einen schweren Fehler beging. Sie wollte diesen Wurm bestrafen. Außerdem fühlte sie sich stark genug, es notfalls auch allein mit den MacLeods aufnehmen zu können. Und sobald sie erst einmal den Arrod’Sha besaß …
* Die MacLeods staunten nicht schlecht, als sie und Jarod Kane end lich zu Hause ankamen und dort nicht nur Camiyu vorfanden, der seine schwarze Kutte gegen Jeans und T-Shirt getauscht hatte und wieder rote Haare trug – sondern auch Camulal. Letzterer bot einen erbärmlichen Anblick. Er war voll blauer Flecke, Platzwunden und fühlte sich offensichtlich nicht sehr wohl in seiner Haut. »Hallo, Onkel Calibor«, grüßte er schwach. »Würdest du einem abtrünnigen Bashir Asyl gewähren?« Cal blickte ihn finster an. »Kommt darauf an«, erklärte er gedehnt, »welche Motive dieser Abtrünnige hat. – Hallo, Camiyu. Schön dich wieder zu sehen.« Camiyu nickte, stand aus seinem Sessel auf und umarmte erst sei
ne Mutter Kay, danach den Rest der Familie. »Du kannst dir doch denken, weshalb Camulal hier ist«, sagte er anschließend. »Wo sollte er wohl sonst hingehen, nach allem, was Catunua mit ihm angestellt hat.« Kassandra trat zu ihm und strich ihm mit den Fingern über die verletzten Körperstellen, während sie kaum hörbar magische Worte murmelte. Dies war eine Eigenschaft, die Kara an ihrer Halb schwester neidlos bewunderte. Obwohl Kassie die Jüngste der Fa milie und ebenfalls nur eine Halbdämonin war, besaß sie die größ ten magischen Fähigkeiten. Was wahrscheinlich daran lag, dass ihre Mutter eine praktizierende Hexe gewesen war. Camulals Verletzungen verschwanden innerhalb von Sekunden. »Danke, Cassilya«, sagte er, nachdem Kassie fertig war und wand te sich an die anderen. »Meine Mutter hat mich rausgeworfen, weil ich Carana gehen ließ. Und Camiyu hat Recht. Ich wusste nicht, wo hin ich sonst hätte gehen sollen. Schließlich hatte ich nie Streit mit euch.« »Das stimmt«, gestand Cal ihm zu. »Aber woher wissen wir, dass das nicht nur ein Trick von Catunua ist und du ihr Spion bei uns sein sollst?« »Keine Sorge«, sagte Camiyu. »Ich habe ihn mit dem Wahrheits zauber überprüft. Er ist in Ordnung.« Das genügte Cal. Camiyu beherrschte den Wahrheitszauber in einer Intensität, dass nicht einmal der stärkste Schutzschild dem widerstehen konnte. »Wenn das so ist, sei uns willkommen, Camu lal. Wir haben ja hier im Haus zum Glück genug Gästezimmer. Sie werden nur langsam etwas knapp.« Er sah Kara besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie nickte. »Ja, geht schon. Ich bin nur ziemlich müde. Wieso seid ihr eigentlich nicht durch die Dimensionen gesprungen, um zu mir zu kommen? Das wäre doch viel schneller gegangen.« »Stimmt. Aber wir wussten nicht, ob es zu einer Ausein
adersetzung mit den Bashirs kommen und in welchem Zustand wir alle hinterher sein würden. Es hätte gut sein können, dass wir da nach zur Teleportation nicht mehr in der Lage gewesen wären. Das Auto zu nehmen war sicherer.« Er trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und drückte sie liebevoll an sich. »Vater, es tut mir Leid, dass ich euch Sorgen bereitet habe«, murmelte Kara. »Ist schon gut, Kind. Du hast getan, was du für richtig hieltest. Niemand macht dir deswegen einen Vorwurf. Aber wenn du noch eine Weile aushältst, ohne vor Müdigkeit umzufallen, sollten wir uns zusammensetzen und die letzten Neuigkeiten austauschen. Zum Beispiel, wieso du, Camiyu, wieder da bist. Carana hat uns er zählt, du wärst im Kloster.« »War ich auch. Aber ich bin zu spät zurückgekehrt. Sie hatten mich schon vermisst. Ich tauchte genau in dem Moment aus dem Nichts vor ihnen auf, als sie versammelt in meiner Zelle standen und rätselten, wohin ich wohl verschwunden war.« Seine Mutter Kay nickte. »Und natürlich haben sie dich als das er kannt, was du bist.« »Worauf ich es für besser hielt, zu verschwinden, bevor sie ihre Silberdolche holen und mir den Garaus machen konnten.« Er grins te. »Aber ich habe ein Souvenir mitgehen lassen.« Er nahm eins von drei Büchern, die neben ihm auf einem Beistelltisch lagen. »Die voll ständige Chronik der Bruderschaft. Darin steht irgendwo der Hin weis, wo sich der letzte fehlende Kristallteil befindet.« »Am besten, du erzählst der Reihe nach, Camiyu«, bat Cal seinen Neffen. Die nächste Stunde verbrachten sie damit, Informationen auszut auschen, während sich Jarod Kane in einem Sessel unsichtbar zu machen versuchte und jedem Wort lauschte, dessen Zeuge er werden durfte. »Also ist unser nächster Schritt«, resümierte Cal schließlich, »dass
wir uns nach China in dieses Kloster begeben und die zwei Steine holen, die sie dort hüten. Ich schlage vor, wir erledigen das, nach dem wir uns angemessen ausgeruht und gegessen haben.« Jeder wusste, dass er mit diesem Essen nicht nur normale Nah rung meinte. Seine Familie verstand das als das Ende der Bespre chung. Sie zogen sich alle zurück. Jarod blieb allein mit Cal MacLeod, der sie in einen Sessel ihm gegenüber setzte und intensiv musterte. Er fühlte sich unter diesem Blick unwohl, doch er hielt ihm stand und zuckte mit keiner Wim per. »Jarod Kane«, sagte Cal schließlich ruhig. »Ich hätte es vorgezo gen, dass sich unsere Wege niemals kreuzen. Aber da es nun einmal geschehen ist, interessiert es mich natürlich, mit wem ich es zu tun habe. – Sie sind ein Nachfahre von Joshua ›Slayer‹ Kane, nicht wahr?« »Das ist richtig, Sir.« Cal nickte. »Ich nehme an, Sie wissen, warum nicht nur wir ihn ›Slayer‹ nannten. Er hat ganze 47 Dämonen getötet. Fünf davon allein aus meiner Familie, womit er der Bruderschaft des Reinen Lichts die halbe Arbeit abgenommen hat. Plus 25 echte Hexen sowie 91 unschuldige Frauen, die er für Hexen hielt. – Ich vermute, Ihre Familienchronik feiert ihn als Helden.« »Absolut nicht«, widersprach Jarod. »Wahrscheinlich wissen Sie auch von seinem unrühmlichen, wenn auch durchaus gerechtfertig ten Ende. Er tötete zusammen mit dem letzten Sukkubus, den er ermordete, auch den Sohn des Lairds der MacDonalds of Glengarry. Der nahm das sehr persönlich und ließ ihn ohne viel Federlesen hin richten. Aber das geschah vor über dreihundert Jahren. Das hat mit uns heute nichts mehr zu tun.« »Bis auf die Tatsache, dass der letzte Sukkubus, den Ihr Vorfahr tötete, meine Mutter war.« Das war eine beunruhigende Neuigkeit. Jarod fühlte sich in
höchstem Maß unwohl. Vielleicht hatte Cal MacLeod ihn nur hierher geholt, um sich an ihm für den damaligen Mord an seiner Mutter zu rächen. Jarod wusste zwar, dass er durch seinen Status als Jäger gegen viele magische Praktiken immun war – aber leider nicht gegen alle. Und durch profane Angriffe mit Waffen war er genauso verletzlich wie jeder andere auch. »Das tut mir sehr Leid, Mr. MacLeod. Mein Vorfahr war ein ver blendeter Fanatiker. Und Fanatismus hat noch nie zu etwas anderem geführt als unermesslichem Leid. Ich weiß nicht, wie weit Sie über die Aufgabe von uns Jägern informiert sind?« »Ich denke, ich weiß genug«, meinte Cal mit unbewegtem Gesicht. »Aber sprechen Sie nur weiter.« »Wir wurden beauftragt, das Böse aus der Unterwelt aufzuspüren, das sich in Menschengestalt hier herumtreibt, es zu jagen und zu vernichten. Seien es Dämonen, Hexen, Geister, Werwölfe, Vampire oder was auch immer. Aber die Betonung liegt auf böse. Wir diffe renzieren sehr genau. Und wir töten niemals Wesen wie Sie, die nie mandem Schaden zufügen. Normalerweise. Mein Vorfahr Joshua war eine unrühmliche Ausnahme, für die wir uns heute noch schä men. – Aber, Mr. MacLeod, Joshua hat Ihre Mutter ermordet. Weder ich noch irgendein anderes Mitglied meiner Familie.« Cal nickte. »Das ist mir klar. Ich frage mich nur, welches Mitglied meiner Familie Sie zu vernichten gedenken. Vielleicht uns alle?« Jarod atmete einmal tief durch. Er wusste, dass er sich in einer sehr gefährlichen Situation befand, die ihn schnell das Leben kosten konnte. Trotzdem blieb er bei der Wahrheit. »Das kommt darauf an, wen Sie alles zu Ihrer Familie zählen«, er klärte er. »Nach allem, was ich bisher über eine gewisse Catena Ba shir gehört habe, sollte sie definitiv auf meiner Abschussliste stehen. Möglichweise auch ihr Sohn. Und wie weit man Ihrem … ›Asy lanten‹ trauen kann, weiß ich auch noch nicht.« Zu seiner Überraschung nickte Cal zustimmend. »Da haben Sie
Recht. Zumindest was meine Cousine zweiten Grades Catena be trifft. Camulal ist in Ordnung, wenn Camiyu für ihn bürgt. Was Ca tenas ältesten Sohn Casdiru betrifft, so stand der bisher immer loyal zu seiner Mutter, egal was sie tat. Aber«, fügte er nachdenklich hin zu, »vielleicht hat sich das inzwischen geändert … Wie dem auch sei, Mr. Kane, Sie können Catena uns überlassen. Ich habe Ihnen erlaubt zu hören, was wir planen, damit Sie sich selbst davon über zeugen können, dass die Familie Rhu’u keine Gefahr für irgend einen Menschen darstellt. Auch nicht Catena, wenn wir mit ihr fertig sind.« Jarod nickte bedächtig. »Sind Sie sich sicher, dass Sie mit Ihrer Cousine fertig werden? Sie scheint ziemlich mächtig zu sein.« »Das ist sie. Aber längst nicht so mächtig, wie sie selbst glaubt. Meine Cousine hat einen großen Fehler. Sie ist dermaßen arrogant, dass es fast schon an Größenwahn grenzt. Und genau das wird ihr das Genick brechen. Sehen Sie sich nur ihren letzten Fehler an. Sie hat ihren Sohn verstoßen, als könnte sie es sich leisten, einen Ver bündeten zu verlieren.« Cal schüttelte den Kopf. »Glauben Sie mir, Mr. Kane, sobald wir den Kristall wieder zusammengefügt haben, sind Catenas Tage als mächtige Dämonin gezählt.« Jarod überdachte das. »Ich würde Ihnen gern glauben, Mr. MacLeod. Aber ich habe den Menschen gegenüber eine Verant wortung und eine Verpflichtung. Nicht nur als Jäger, auch als Poli zist. Ich brauche Gewissheit.« Cal nickte. »Ich verstehe.« Er stand auf und trat vor Jarod hin und reichte ihm die Hand. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass keinem Mensch auf der Welt jemals absichtlich Schaden zugefügt werden wird von einem Mitglied meiner Familie.« »Das freut mich zu hören. Aber warum geben Sie mir Ihr Wort? Was ist Ihr Motiv?«, wollte Jarod wissen. »Was vor uns liegt, ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Wir können es uns nicht leisten, Sie zum Feind zu haben, Mr. Kane.
Außerdem«, er lächelte, »würde ein Konflikt zwischen uns meine Tochter zusätzlich belasten.« Jarod blickte ihn nachdenklich an. »Sie lieben Ihre Tochter sehr, nicht wahr?« »Wie ich alle meine Kinder liebe. Wie ich auch ihre Mutter geliebt habe.« Jarod schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, dass Dämonen gar nicht lieben können.« »Doch, können wir. Wenn auch nicht alle von uns. Normalerweise ist Dämonenliebe ganz anders als menschliche. Aber die Rhu’u haben schon so lange unter Menschen gelebt, dass gewisse … An passungen stattgefunden haben.« Er lächelte wehmütig. »Obwohl ich das selbst nicht wusste, bis ich Caranas und Caelus Mutter kennen lernte. Aber das ist eine andere Geschichte. Also, Mr. Kane, jagen Sie uns, oder können wir alle in Frieden unser Leben führen?« Jarod blickte den Mann nachdenklich an. Er sah wie ein ganz nor maler Mensch aus. Und er führte ein ganz normales menschliches Leben, sah man von gewissen dämonischen Anomalitäten ab. Ihm fiel ein, was Kara ihm kürzlich über ihre dämonische Natur gesagt hatte: »Ich bin so geboren worden. Ich kann nichts dafür.« Jarod traf seine Entscheidung. »Ich werde Sie nicht jagen, Mr. MacLeod. Keinen von Ihnen – solange Sie Ihr Wort halten.« »Das werde ich. Mir bleibt gar keine andere Wahl.« Kane erhob sich. »Dann werde ich mal wieder gehen. In Edin burgh wartet eine Menge Arbeit auf mich. Und ich werde versu chen, Ihnen die Bruderschaft ein bisschen vom Hals zu halten.« »Das können wir gut brauchen, Mr. Kane. Vielen Dank.« Die beiden Männer gaben sich die Hand. Cal begleitete Jarod zur Tür und ließ ihn hinaus. Während der Polizist nach Hause fuhr, machte sich Cal auf den Weg, seinen nagenden Inkubus-Hunger zu stillen.
* »Du hast gerufen, Meister San.« Der junge Mönch Gao verbeugte sich ehrfürchtig vor dem alten Mönch. »Läute die große Glocke, Gao. Alle sollen sich im Hof vor dem Eingang versammeln. Es ist so weit. Die Dämonen kommen.« Gao konnte sein Erschrecken nicht verbergen. »Aber Meister! Soll ten wir nicht besser alle den Schrein schützen?« Meister San lächelte nachsichtig. »Nein. Sei aufmerksam und be obachte gut, Gao. Nun geh und tu, was ich dir auf getragen habe.«
* Karas erster ›Sprung‹ durch die Dimension an der Hand ihres Vaters war ein verwirrendes Erlebnis. Eben noch waren sie in ihrem Wohnzimmer in Inverness gewesen. Es folgte ein Moment des Schwindels und ein kurzes Gefühl von eisiger Kälte. Im nächsten Moment standen sie auf einem Bergpfad vor dem Tor eines chinesischen Klosters und ein kalter Wind fauchte um sie herum. Die Klosterpforte war weit geöffnet und wie es aussah, hatte sich die gesamte Belegschaft davor und dahinter versammelt. Ganz vor ne stand ein alter Mönch mit kahl geschorenem Kopf im sa frangelben Gewand seiner Zunft. Eine Japamala, die buddhistische Gebetskette, hing ihm um den Hals. Er lächelte den Ankömmlingen freundlich entgegen. Seine Mitbrüder betrachteten sie allerdings mit Misstrauen und Besorgnis. »Spricht jemand von uns Chinesisch?«, fragte Kara leise Camiyu, der neben ihr stand. »Der Alte sieht nicht so aus, als verstünde er Englisch.«
»Dafür spricht er Unadru«, antwortete Camiyu ebenso leise. »Die Sprache der Dämonen.« Das verblüffte Kara gewaltig. Doch sie konnte sich gleich davon überzeugen, dass dem tatsächlich so war. Ihr Vater trat vor und ver beugte sich vor dem alten Mönch. »Rúma ído, kitán ‘ninn. Idek yíku ziyéllee«, sagte er. Obwohl Kara diese Sprache nie gelernt hatte, verstand sie jedes Wort: »Gruß dir, Meister. Ihr habt uns erwartet.« Der alte Mönch nickte lächelnd. »Ai. Kahánis. Enshímagee! Yi kitán ‘ninn San«, antwortete er mühelos in derselben Sprache. »Ja. Will kommen. Tretet ein! Ich bin Meister San.« Die MacLeods und Camulal folgten ihm ins Innere des Klosters. »Wir werden Tee trinken«, erklärte der Mönch. »Danke, Meister San«, antwortete Cal. »Das ist sehr freundlich. Aber du weißt, weshalb wir gekommen sind.« »Natürlich. Doch erst werden wir Tee trinken.« Wenig später saßen sie in einem kahlen Raum auf Meditationsbän ken auf dem Fußböden und hielten Teeschalen in den Händen, die junge Novizen ihnen reichten und sie dabei scheu und neugierig zu gleich anstarrten. »Sie haben noch nie Dämonen gesehen«, entschuldigte Meister San sie. »Und sind jetzt sicherlich ziemlich enttäuscht darüber, dass wir wie Menschen aussehen«, vermutete Camiyu grinsend. Meister San lachte. »Aber ja! Die Dämonen auf unseren alten Bildern sehen alle ganz fürchterlich und gefährlich aus und euch überhaupt nicht ähnlich.« Er wurde abrupt ernst. »Obwohl ihr na türlich nicht weniger fürchterlich und gefährlich seid als die, die auch aussehen wie das, was sie sind.« Cal nickte zustimmend. »Aber wir haben nicht vor, fürchterlich
oder gefährlich zu sein«, versicherte er. »Wir wollen nur holen, was rechtmäßig uns gehört.« Meister San nahm einen Schluck Tee und registrierte zufrieden, dass die Dämonen erst danach den ihren tranken, wie es die Höflichkeit erforderte. »Warum sollten wir es euch geben?«, fragte er schließlich. »Seit über tausend Jahren hüten wir die Steine, damit ihr sie nicht in die Hände bekommt. Was macht euch glauben, dass wir sie gerade euch geben würden?« »Weil sich die Zeiten geändert haben«, antwortete Cal ruhig. »Wir sind nicht diejenigen, vor denen die Steine damals verborgen werden mussten. Du, Meister San, bist weise. Du weißt besser als wir um das Gleichgewicht der Kräfte und die Notwendigkeit, es zu erhalten. Es ist an der Zeit, das Gleichgewicht wieder herzustellen.« »Vielleicht. Vielleicht nicht. – Was werdet ihr tun, wenn wir euch nicht geben, was ihr haben wollt? Es euch mit Gewalt nehmen?« Cal schüttelte vehement den Kopf. »Meister San, wir werden diesen heiligen Ort des Friedens niemals durch Gewalt entweihen. Wenn ihr uns die Kristalle nicht gebt, werden wir einen anderen Weg finden.« Der alte Mönch trank nachdenklich seinen Tee, schwieg und mus terte seine Gäste der Reihe nach. Schließlich stand er auf. »Ich werde mich mit meinen Brüdern beraten. Seid so lange unsere Gäste.« »Gern«, stimmte Cal zu. Meister San ging und ein junger Mönch kam kurz darauf, um sie in einen Raum zu führen, der genauso spartanisch eingerichtet war wie das Audienzzimmer. An der Wand entlang stand ein breites Holzgestell, das wie ein Tisch aussah. Doch die darauf ausgebreite ten Strohmatratzen und Decken zeigten, dass es ein Bettgestell sein sollte. Jetzt begriff Kara, weshalb ihr Vater sie angewiesen hatte, Rucksä cke mit dem Nötigsten für einen kurzen Campingausflug zu packen.
Sie legte ihren Rucksack auf einer Strohmatratze nieder und setzte sich darauf. Die anderen taten es ihr nach. Camiyu wählte den Platz neben ihr. »Wenn es dir recht ist?« Kara hatte nichts dagegen. Sie war gern in seiner Nähe. Einige Mönche brachten Tabletts mit Essen und Tee sowie einige Butterlampen. Andere stellten einen kleinen Altar mit einer Buddha statue in einer Ecke auf und entzündeten darauf Räucherwerk. Ca miyu nahm ebenfalls ein Räucherstäbchen, zündete es an und setzte es mit einer Verbeugung in das Räuchergefäß zu den anderen Stäb chen. Der würzige Duft des Rauchs breitete sich aus und zog lang sam durch den Raum. »Wie lange wird die Beratung wohl dauern?«, fragte Kassandra. Cal zuckte mit den Schultern. »Eine Stunde oder ein Tag. Oder eine Woche. Ein Monat … Es wird sich zeigen. Das Ganze ist ein Test. Und zwar in mehr als einer Hinsicht. Sie testen unsere Geduld und unser Verhalten. Ob wir würdig sind, unser Erbe zu über nehmen. Sie testen auch unseren Respekt vor ihren Sitten und Ge lübden. Das bedeutet, falls wir Hunger haben,« er meinte damit den dämonischen Hunger nach Sexualenergie, »werden wir uns beherr schen und notfalls ein paar Tage fasten. Das bringt uns nicht um. Die Mönche leben im Zölibat. Auf keinen Fall dürfen wir einen von ihnen verführen.« Das galt besonders Kassandra, die im Gegensatz zu Kara ihrer Sukkubusnatur nicht nur dann frönte, wenn der Hunger sie dazu zwang, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aus diesem Grund arbeitete sie ganz legal und offen als Callgirl. Kassandra nickte zustimmend. »Und natürlich dürfen wir keinen Versuch unternehmen, uns den Kristallen zu nähern«, fuhr Cal fort. »Seid euch immer bewusst, dass wir beobachtet werden. Sogar jetzt. Ansonsten sehen wir zu, dass wir den Aufenthalt hier genießen. Ich hoffe, jeder von euch hat ein möglichst dickes Buch eingepackt gegen mögliche Langeweile. Und
noch eins: diese Mönche beherrschen ebenfalls Magie, zumindest die Älteren unter ihnen. Und Meister San ist nicht nur Meister, weil er Abt des Klosters ist. Also benehmt euch.« Kassandra setzte sich zu Kara und stieß sie mit dem Ellenbogen an. »Wenn wir hier eh nichts weiter zu tun haben, können wir unse re Stunden – oder Tage – damit verbringen, dich weiter in Kampf kunst zu unterrichten. Da hast du noch eine Menge zu lernen. Vielleicht können die Mönche uns noch ein paar Tricks beibringen.« »Gute Idee«, stimmte Camiyu zu. »Ich kann mir nicht denken, dass sie etwas dagegen haben. Solange wir sie nicht stören.« Er zwinkerte Kara zu. »Ich habe die Chronik der Bruderschaft mitge bracht. Mit etwas Glück habe ich genug Zeit, darin zu finden, wo sie den dritten Kristallsplitter versteckt halten.« »Nachdem du das in zwanzig Jahren nicht geschafft hast?«, spotte te seine Mutter. Camiyu zuckte mit den Schultern. »Ich hatte leider nicht die Zeit, oft darin zu lesen. Zunächst hat es ein paar Jahre gedauert, bis ich herausgefunden hatte, wo der Abt die Bücher versteckt hält. Und dann konnte ich immer nur ab und zu ein paar Seiten in der Nacht lesen. Da ich leider nicht deine Fähigkeit geerbt habe, Dinge durch die Dimension transportieren zu können, ohne sie zu berühren, Mutter. Also musste ich die Chronik immer auf ganz profane Weise aus seinem Zimmer stehlen, während er darin schlief.« »Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Camiyu«, lobte Cal. »Natürlich, mein Sohn«, stimmte Kay rasch zu. »Aber wenn ich mir vorstelle, dass du tatsächlich in einem christlichen Kloster als echter Mönch gewesen bist, noch dazu in dem unserer Todfeinde …« Sie schüttelte den Kopf. »Auf so eine Idee konntest auch nur du kommen.« Camiyu lächelte nur schweigend, packte die Chronik aus und be gann zu lesen. Kassandra
nahm
Karas
Hand.
»Komm,
lass
uns
einen
Trainingsplatz suchen.«
* Die Nacht war kalt und still. Kara konnte nicht schlafen. Also stand sie leise auf und trat in den Klosterhof hinaus. Sie wanderte leise umher und blieb schließlich auf einem steinernen Balkon stehen, der direkt an den steil abfallenden Berghang gebaut worden war. Am Himmel stand ein silberner Vollmond, der heller strahlte, als Kara es je zuvor gesehen hatte. Auch die Sterne schienen hier heller zu sein als zu Hause. Bis auf einen leichten Wind, der um die Felsen strich, war alles still. Und so herrlich friedlich. Kara verlor sich in der Stille und fühlte sich losgelöst von allem, was sie bedrückte. Sie empfand ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als würden hier keine Sorgen existieren. Sie wusste nicht, wie lange sie so gestanden und den Mond be trachtet hatte, als sie merkte, dass sie nicht allein war. Ein Stück ent fernt stand Meister San und beobachtete sie. Sie verbeugte sich respektvoll. »Ich hoffe, ich bin hier nicht an einem Ort, wo ich gar nicht sein darf.« Sie sprach Unadru, obwohl sie noch nie zuvor ein Wort in dieser Sprache gesagt hatte. »Ich wollte niemanden stören. Ich konnte nur nicht schlafen. Es ist so friedlich hier.« »Ja«, stimmte der Meister zu. »Ich komme auch oft hierher, um zu meditieren. – Sage mir, was du mit eurem Kristall tun wirst, wenn ihr ihn wieder zusammengesetzt habt«, bat er übergangslos. »Mich und meine Familie schützen«, erklärte Kara spontan. »Da mit nie wieder Mütter ermordet werden und ihre Kinder als Halb waisen zurücklassen.« Ehe sie sich versah, erzählte sie Meister San alles. Von dem
Moment an, da ihre Sukkubus-Kräfte erwacht waren bis zu ihrer Ankunft in seinem Kloster. Sie berichtete von ihrem Abscheu vor ih rer eigenen dämonischen Natur, die sie zu einem Verhalten zwang, das sie niemals freiwillig ausleben wollte. Sie ließ nichts aus. Als sie geendet hatte – nach einer Ewigkeit, wie es ihr erschien – lächelte Meister San nur. Mit einer fast zärtlichen Geste berührte er ihre Stirn mit dem Zeigefinger. Im selben Moment überkam Kara ein Gefühl unbeschreiblicher Ruhe und ein Frieden, wie sie ihn nicht einmal vor ihrem Erwachen verspürt hatte. Sie fühlte sich vollkom men eins mit sich selbst, der Nacht und allem anderen. Meister San ließ sie allein mit ihrem Wunder und widmete sich dem zweiten Opfer seines Tests: Camulal. Der konnte auch nicht schlafen und war wie Kara durch das Klos ter gewandert. Doch seine Schritte hatten ihn zufällig zu dem Schrein geführt, in dem die beiden Kristallsplitter aufbewahrt wurden. Dort lagen sie – offen vor seinen Augen. Unbewacht. Sie pulsierten in einem dunkelroten inneren Licht, das ihn anlockte wie eine Kerzenflamme eine Motte. Sein erster Gedanke war, dass er hier die Chance hatte, bei seiner Mutter Punkte zu sammeln, wenn er die Steine nahm und sie ihr brachte. Er sah sich um. Niemand schien in der Nähe zu sein. Niemand be obachtete ihn. Er wäre verschwunden, ehe jemand ihn aufhalten konnte. Und seine Mutter würde ihn endlich respektieren. Oder auch nicht. Rhu’Catunua kannte nur eins: Macht. Respekt oder Anerkennung kamen in ihrer ohnehin nahezu nicht existenten Gefühlswelt nicht vor. Sie hatte sogar seinen Vater umgebracht, um durch seine Energie noch stärker zu werden. Sie war nicht nur ein Sukkubus, sondern zur Hälfte auch eine Blutdämonin, die ihre Kraft aus dem Blut und somit dem Tod ihrer Opfer zog. Sie hatte Kara grundlos misshandelt und ihn selbst auch.
Camulal wusste sehr wohl, was passierte, falls es ihr gelingen sollte, über den Arrod’Sha die Macht zu erlangen, die sie zu bekom men hoffte. Und – so sehr es ihn auch schmerzte, das zuzugeben – nachdem sie ihn verstoßen hatte, konnte es sehr wohl passieren, dass sie ihn zum Dank für sein Geschenk ebenso aussaugte wie je des andere ihrer Opfer. Sie würde ihn dabei nicht umbringen, nein. Aber sie würde ihn so schwach zurücklassen, dass er sich vielleicht nie mehr davon erholen konnte. Rhu’Catunua war nun einmal eine typische Dämonin, kalt und bö se. Sie durfte die Steine nicht erlangen. Camulal hoffte inständig, dass der Plan der MacLeods, ihr die Kraft zu nehmen, wirklich funktionierte. Er hatte seine Entscheidung getroffen, als er seine Verwandten um Aufnahme bat. Er würde sie jetzt nicht verraten. Verrat war das Metier seiner Mutter und manchmal auch seines Bruders. Nicht seins. Er wandte dem Schrein den Rücken zu – und stand unvermittelt Meister San gegenüber. Offenbar hatte der alte Mönch ihn die ganze Zeit über beobachtet, ohne dass er es gemerkt hatte. Der alte Mann lächelte wohlwollend. »Du hast eine weise Entscheidung getroffen, Rhu’Camulal«, sagte er leise. Er legte auch ihm den Finger auf die Stirn und Camulal fühlte nicht nur einen tiefen Frieden in sich einziehen, sondern auch eine Stärke, die er nie für möglich gehalten hatte. Es war, als wären alle inneren Wunden, die er jemals erhalten hatte, schlagartig geheilt. Er verbeugte sich tief vor dem Meister. »Danke!«, flüsterte er in brünstig. Als er aufsah, war er allein und der alte Meister verschwunden …
*
Die Rhu’u blieben sieben Tage zu Gast im Kloster. Jeder einzelne von ihnen wurde von Meister San einer Prüfung unterzogen. Am siebenten Tag ließ er sie alle zu sich kommen. Nachdem er mit ihnen wie am ersten Tag Tee getrunken hatte, reichte er Cal einen Baum wollbeutel. Als Cal ihn öffnete, lagen darin die beiden Splitter des Arrod’Sha. »Wie du gesagt hast, Rhu’Calibor, ist es an der Zeit, das Gleichge wicht wieder herzustellen. Tut das und nutzt die Macht des Ar rod’Sha weise. Ihr habt noch einen langen Weg vor euch, ehe ihr euer Ziel erreicht. Eure Feinde schlafen nicht.« Cal nahm die Steine ehrfürchtig mit einem Dank entgegen und reichte sie an Camiyu weiter, der sie einsteckte. »Da hast du Recht, Meister San. Und wir haben leider nicht nur menschliche Feinde, mit denen wir fertig werden müssen.« »Du denkst an die Zehn Mächtigen Fürsten der Unterwelt«, sagte der Mönch zu Cals Überraschung. »Sie sind wachsam, das ist wahr. Aber ihr werdet mit ihnen fertig werden, wenn die Zeit gekommen ist.« Cal stand auf und die anderen folgten seinem Beispiel. »Nochmals vielen Dank, Meister San!« »Ich danke euch! Nun, da die Kristalle wieder in den rechten Händen sind, ist meine Aufgabe endlich vollbracht und ich darf ge hen. Nach über tausend Jahren habe ich mir das redlich verdient.« Er lachte über ihre verständnislosen Gesichter. »Habt ihr es noch nicht erraten? Euer Camiyu ist nicht der einzige Dämon, der als Mönch in einem Kloster gelebt hat.« Meister Sans Gestalt zerfloss, wuchs in die Höhe und wandelte sich zu einer über zwei Meter großen menschenähnlichen Gestalt mit mächtigen Muskeln und einem wolfsähnlichen Kopf. Camiyu schüttelte lachend den Kopf. »Ein Wächterdämon! Jetzt verstehe ich die Andeutungen in der Chronik! Dort stand, dass ein Mönch der Bruderschaft mit den zwei Kristallteilen ›ans Ende der
Welt‹ geschickt wurde, um sie dort zu verstecken. Nach langer Reise und Mühsal traf er hier in den Wu Dang Bergen einen Bön-Scha manen. Er erzählte ihm von seinem Auftrag und der Schamane half ihm, ›den Kristallen einen Schrein zu bauen, den ein unbestechlicher Wächter hütet bis in alle Ewigkeit‹. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass dieses Kloster existiert, dachte ich natürlich, mit dem ›unbestechlichen Wächter‹ sei der jeweilige Abt gemeint.« »Was gar nicht so falsch ist«, bestätigte der Wächterdämon und nahm wieder die Gestalt des alten Meisters San an. »Die Bon-Religi on ist als Vorläufer des Buddhismus eine schamanische Religion. Bon bedeutet Beschwörung. Und davon verstanden ihre Schamanen eine Menge. Jener, der mich beschwor und mich an diese Aufgabe band, erkannte etwas, das die Bruderschaft des Reinen Lichts nie be griffen hat. Dass zum einen nicht alle Dämonen per se böse sind. Und dass zum anderen ein Tag kommen würde, an dem der Ar rod’Sha durch die richtigen Hände wieder zusammengefügt werden muss, um das universelle Gleichgewicht wiederherzustellen. Deshalb beschwor er mich und gab mir die Aufgabe, die beiden Kristallteile vor jedem unrechtmäßigen Zugriff zu schützen, bis dieser Tag gekommen sein würde. Bis die Erben des Arrod’Sha so weit sind, dass sie seine Macht nicht zu Eroberungen, Unter drückung und Krieg nutzen wollen. Denen sollte ich die Kristalle aushändigen und ihnen noch das letzte Geheimnis des Arrod’Sha offenbaren.« »Er hat ein Geheimnis, das wir noch nicht kennen?«, zweifelte Kay. »Das hört sich ziemlich unwahrscheinlich an.« Meister San lächelte und zuckte mit den Schultern. »Im Laufe der Jahrtausende hat sich das Blut der Rhu’u mit dem anderer Dämonen gemischt, die keine Inkubi und Sukkubi waren. Und auch mit dem von Menschen. Einiges von diesem Erbmaterial ist mit dem ursprünglichen Blut kompatibel. Anderes wiederum nicht.« »Catunuas Blutdämonenerbe«, vermutete Camulal.
Meister San nickte. »Und deins und das deines Bruders. Diese Elemente wird der Arrod’Sha, sobald er wieder zusammengesetzt wurde, auslöschen. Und alle Magie, die damit verbunden ist.« Er lä chelte breit. »Was ihr geplant habt, um ihr die Kräfte zu nehmen, die sie so unglaublich stark machen, wird durch das Zusammenfügen des Arrod’Sha von selbst geschehen.« Cal lächelte zufrieden. »Heißt das«, fragte Kassandra unbehaglich, »dass ich auch die Ma gie verlieren werde, die vom Hexenblut meiner Mutter stammt?« Meister San schüttelte den Kopf. »Nein. Hexenblut passt ganz gut zu einem Sukkubus. Aber einige Menschenelemente werden ge schwächt oder ausgelöscht und die Sukkubus-Kraft verstärkt.« Er blickte Kara und Kyle an. »Für euch bedeutet das, dass ihr einige Fähigkeiten dazu gewinnt, die euer Menschenblut bisher verhindert hat.« »Das wird eine interessante Erfahrung«, war Kyle überzeugt. »Gibt es noch etwas, das wir wissen müssen, Meister San?« »Nein. Ihr könnt gehen. Und je eher ihr das tut, desto eher kann auch ich endlich verschwinden.« Cal verneigte sich tief vor ihm und die anderen taten es ihm nach. »Wir danken dir sehr, Wächter, dass du die Kristalle so treu be schützt hast. Wenn wir mal was für dich tun können, lass es uns wissen.« Meister San lächelte. »Ich komme darauf zurück.« Er begleitete sie bis zum Tor und winkte ihnen zu, bis sie auf dieselbe dämonische Weise verschwanden, wie sie gekommen waren. »Nun, Gao«, wandte er sich später an seinen jungen Schüler. »Sind sie böse?« »Diese … sind es nicht, Meister. Aber andere sind es.« »Ganz genau so ist es. Merk dir, Gao: Auch Dämonen aller Art haben ihre Daseinsberechtigung und ihre Aufgabe im Kreislauf des
Seins.« »Ja, Meister. – Meister, was tun wir jetzt, nachdem die heiligen Steine fort sind?« San lächelte. »Ihr werdet tun, was ihr immer getan habt – Buddha dienen. Und ich werde auf eine Pilgerreise gehen, die meinen Kreis lauf beschließen wird.« »Meister!« »Nein, Gao«, unterbrach er den jungen Mann. »Diese Reise muss ich ganz allein machen. Wir werden uns nicht wieder sehen.« Eine Stunde später war er fort für immer …
* »Ich bin am Verhungern!«, stellte Kay fest, kaum dass sie wieder in ihrem Haus in Inverness angekommen waren. »Das sind wir wohl alle«, stimmte Kyle zu. »Und deshalb werden wir auch sofort auf die Jagd gehen«, stimm te Cal zu. »Aber einer von uns muss hier bleiben und auf die Steine aufpassen. Wenigstens bis einer wieder da ist.« »Ich mache das«, erbot sich Camiyu. »Ich halte es durchaus noch ein paar Stunden aus.« Er lächelte. »In diesem Punkt hatte die klösterliche Disziplin einen großen Vorteil. Seht nur zu, dass ihr nicht zu lange bleibt.« »Versprochen!«, erklärte Cal und verschwand. Kay und Camulal folgten seinem Beispiel und Kassandra und Kyle machten aus ihrem Sprint zum Auto ein Wettrennen. Kara zögerte. »Erzähl mir nicht, dass du keinen Hunger hättest«, sagte Camiyu leichthin. »Du kannst mich ruhig allein lassen. Ich kenne ein paar magische Tricks, um die Steine wirksam vor einem Überfall Catunu as und fast jedes anderen zu schützen.«
Kara lächelte. Sie war ihrem Cousin in den letzten sieben Tagen, in denen sie jede Nacht Seite an Seite geschlafen und auch tagsüber manche Stunde zusammen verbracht hatten, näher gekommen. Sie fühlte sich sehr zu ihm hingezogen. »Das glaube ich dir gern, Camiyu«, versicherte sie. »Ich wollte mich nur nicht der rasenden Meute anschließen.« Er nickte. »Das kann ich verstehen.« »Außerdem … dank Meister San oder wie immer sein Name ist – habe ich zwar Frieden mit dem Sukkubus in mir schließen können. Aber es wäre mir immer noch lieber, wenn ich mir nicht jedes Mal irgendeinen fremden Mann zum Stillen meines Hungers suchen müsste. Leider«, fügte sie mit ironischem Lachen hinzu, »kenne ich zu wenig Männer.« »Du kennst mich«, stellte Camiyu fest und breitete einladend die Arme aus. Kara lächelte gerührt. »Das ist ein nettes Angebot. Aber du musst dich nicht opfern. Außerdem warst du Mönch …« »Oh, ich versichere dir, es ist kein Opfer! Ich habe schließlich auch Hunger. Und die Keuschheit ist das einzige Gelübde, das ich nie mals eingehalten habe und auch niemals vorhatte einzuhalten. Ich wollte schließlich nicht verhungern.« Er trat auf sie zu und strich ihr sanft mit den Fingern über die Wange. »Natürlich ist es allein deine Entscheidung, Carana. Aber ich habe dich sehr gern. Und ich würde mich freuen, wenn wir auch dieses Erlebnis einmal mit einander teilen würden. Nachdem wir schon manches andere geteilt haben.« Kara lächelte. »Ich habe dich auch gern, Camiyu. Dabei kennen wir uns erst seit ein paar Tagen.« »Es kommt nicht darauf an, wie lange man sich kennt, sondern wie gut man sich versteht«, erklärte er ernst. »Und wir beide scheinen verwandte Seelen zu haben.«
Kara nickte. »Das Gefühl … hatte ich auch schon.« Sie lächelte. »Dann sollten wir wohl nicht länger hier herumstehen.« Camiyu nahm sie bei der Hand und führte sie in sein Zimmer. Ob wohl sie beide sehr hungrig waren, fielen sie nicht ungezügelt über einander her. Sie ließen sich Zeit und machten das Ganze zu einem wahren Festmahl, das sie in allen Details genossen. Kara fühlte sich zum ersten Mal seit ihrem Erwachen dabei vollkommen eins mit sich selbst. Und beinahe glücklich …
* Der Arrod’Sha spürte, wie seine Kraft wuchs. Acht seiner Teile ruhten zu sammen an einem Ort in unmittelbarer Nähe der Erben des Blutes. Nur ein Teil fehlte noch. War der gefunden, würde er endlich wieder ganz sein – nach über zweitausend Jahren. Der Kristall verwob erneut seine noch ge schwächte Kraft mit dem Blut der Erben. Der Tag seiner Heilung war nah. Bald. Und danach würde nie wieder Uneinigkeit die Rhu’u spalten können. Niemals wieder!
* Die MacLeods und Kamal Bashir saßen im Wohnzimmer ihres Hauses in Inverness mit Blick über den Moray Firth zusammen. »Hast du inzwischen was gefunden, Camiyu?«, fragte Caleb MacLeod. Der jung aussehende, 135-jährige Dämon schüttelte lächelnd den Kopf. »Meine Nachforschungen gehen auch nicht schneller voran, Onkel Cal, wenn du zehnmal täglich nachfragst«, tadelte er ihn nachsichtig. »Aber ja, ich habe die entscheidende Textstelle ge
funden, in der der damalige Abt beschreibt, wo der Kristall ver steckt ist. Ich werde nur nicht schlau daraus. Er war ein begnadeter Poet und hat alles sehr blumig und in Rätseln ausgedrückt.« »Die sicher ganz einfach sind – wenn man weiß, was er damit ge meint hat«, vermutete Carana – Kara MacLeod. Camiyu nickte. Er mochte Carana sehr und seit dem Aufenthalt im Kloster – und der daran anschließenden Nacht! – verband sie noch mehr, als dass sie beide eine Außenseiterrolle in der Familie be kleideten. »Wahrscheinlich hast du Recht«, stimmte er seiner Cousine zu. »Vielleicht bringst du ja einen Sinn hinein.« Er nahm die Chronik und las vor. »Verborgen an einem Ort aus Licht, wo der Herr in seiner Güte spricht, wo die Blumen Mariens blühen, der Sonne Strahlen in der Tiefe glühen, wenn die Glocke am Mittag singt, dort wo das Leben entspringt.« Er klappte das Buch wieder zu, legte es zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Falls jemand weiß, was das bedeuten soll – nur heraus damit!« Caelu lachte herzlich. »Poetisch in der Tat«, fand er. »Aber wir werden die Lösung schon finden. Wir sind so kurz vorm Ziel!« »Die Frage ist«, ließ sich seine Tante Cayuba, Camiyus Mutter, vernehmen, »was wir machen, sobald der Arrod’Sha wieder zu sammengesetzt ist. Wir haben dann eine ungeheure Macht zur Verfügung.« »Auf keinen Fall werden wir dieselben Fehler begehen wie unsere Vorfahren«, erklärte Cal entschieden. »Wir werden sie nicht benutzen, um uns ein eigenes Reich zu erobern oder dergleichen. Wir werden ihn in erster Linie benutzen, um uns vor Entdeckung zu
schützen. Und natürlich vor der Bruderschaft. Genau darüber wollte ich heute mit euch reden. Unabhängig davon, wann wir den letzten Kristallteil finden, sollten wir unseren Umzug ins Ausland vorberei ten. Wir sind hier nicht mehr sicher. Die Bruderschaft kennt unseren menschlichen Namen. Auch wenn MacLeod ein in Schottland sehr verbreiteter Name ist, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie uns hier lokalisiert haben und uns mit einem Killerkommando auf den Hals rücken.« »Die haben gegen uns doch gar keine Chance«, meinte Kamal Ba shir. »Unterschätze die Brüder nicht, Camulal«, mahnte Camiyu. »Sie haben Silberdolche, die speziell dafür geschmiedet und geweiht wurden, uns umzubringen. Und für den Fall der Fälle haben sie erheblich mehr als nur neun Stück davon. Ich stimme dir zu, dass sie keine Chance haben, sobald wir den Arrod’Sha wieder zu sammengefügt haben. Aber bis es so weit ist, können sie uns durch aus gefährlich werden. Sie sind Fanatiker mit nur einem einzigen Daseinszweck: unsere Vernichtung. Um dieses Ziel zu erreichen, fürchten sie weder Tod noch Teufel. Und sie sind völlig skrupellos. Jeder von ihnen würde bereitwillig ohne zu zögern sein Leben oder irgendein anderes opfern, wenn er dafür nur einen von uns mit in den Tod nehmen könnte. Das macht sie so gefährlich. Deshalb stimme ich Onkel Cal zu, dass ein Umzug ins Ausland das Beste wä re.« Die anderen nickten zustimmend. Bis auf Carana. Sie sah nur trau rig zu Boden. »Bist du nicht einverstanden, Carana?«, fragte Cal seine Tochter. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich sehe die Notwendigkeit natür lich ein. Aber ich bin nicht begeistert davon. Ich bin in Schottland aufgewachsen. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich liebe dieses Land. Ich habe hier meine Arbeit, meine Freunde … Das alles hinter mir lassen zu müssen fällt mir schwer.«
»Aber du warst doch schon einmal bereit, das alles hinter dir zu lassen, weil du es für notwendig hieltest«, erinnerte Caelu sie, setzte sich neben sie und nahm seine Zwillingsschwester in die Arme. Sie nickte. »Aber es hat mir das Herz zerrissen. Und plötzlich kehrte ich doch zurück und dachte, alles wäre wieder gut. Aber das ist es nicht.« Sie lehnte den Kopf an die Schulter ihres Bruders. »Ich habe akzeptiert, was ich bin. Und damit auch, dass ein Leben als normaler Mensch nie wieder möglich ist. Aber diese Tatsache macht mich immer noch traurig.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte Caelu mitfühlend. »Ich wünschte, ich könnte dich irgendwie trösten.« Carana schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Aber ich komme schon klar.« Cal hoffte es für sie. So glücklich er darüber war, noch eine Toch ter und sie nach über 28 Jahren endlich gefunden zu haben, so sehr bedauerte er die Nachteile, die das für Carana hatte. Die Familie zog sich langsam zurück, um mit den Vorbereitungen für einen Umzug zu beginnen. Carana blieb mit Camiyu im Wohnzimmer zurück. Er lächelte ihr aufmunternd zu und sie grins te ihn an. »Lass mich noch mal den Spruch aus der Chronik sehen«, bat sie und setzte sich neben ihn. »Was hat der Abt denn eingetragen, be vor er sein hübsches Gedicht verfasst hat?« Camiyu legte das Buch auf die Knie, so dass Carana es lesen konn te. »Nach der Beschreibung, in der die Abgesandten der Bruder schaft ihn gefunden haben, schreibt er nur: ›Wir haben den Splitter ge holt und verwahren ihn wohl.‹ Es folgt das Rätsel.« Sie nickte und las es sich mit gerunzelter Stirn mehrmals durch. »Was glaubst du, könnte mit dem ›Ort aus Licht, wo der Herr in seiner Güte spricht‹ gemeint sein?« Camiyu zuckte mit den Schultern. »Wenn wir davon ausgehen, dass er es metaphorisch und nicht wörtlich gemeint hat, dann
kommt so ziemlich jede Kirche und jedes christliche Kloster welt weit in Frage.« »Mariens Blumen?« »Jede Blume oder blühende Pflanze, die entweder Maria im Namen trägt oder gemäß einer Legende mit ihr in Verbindung ge bracht wird. Ich habe sie schon auf zwei eingegrenzt. Den Frauen mantel – auch Marienmantel genannt – und die Mariendistel. Zwar wird Maria auch oft mit Rosen in Verbindung gebracht, aber mein Gefühl sagt mir, dass es das nicht ist.« Carana dachte nach. »Wo entspringt das Leben?« »Im Mutterleib. In größerem Zusammenhang betrachtet, im Ozean, beziehungsweise Wasser allgemein. Der Ort könnte also eine Höhle sein.« »Die muss dann aber ein Loch in der Decke haben«, vermutete Ca rana. »›Wenn die Glocke am Mittag singt‹ – Kirchenglocken läuten doch immer noch um zwölf Uhr. Da steht die Sonne senkrecht, scheint also von oben in die Tiefe.« »Gute Idee!«, fand Camiyu und überdachte das Ganze noch ein mal. »Es müsste also ein Ort sein, vermutlich eine Kirche oder ein Kloster, in dessen unmittelbarer Nähe eine Höhle ist. Oder das selbst eine Höhle ist. Und da kommen eine Menge Felsklöster, Fels kirchen, Eremitagen usw. im Orient und Südeuropa in Frage. – Wir müssten die Suche noch etwas eingrenzen können. Aber ich entde cke in diesem Rätsel nichts, das uns noch weiterhelfen würde.« Carana nickte. »Es muss ein Ort sein, den sie für so absolut sicher gehalten haben, dass sie glaubten, kein Dämon könnte jemals hinge langen.« Sie grinste. »Schließlich wussten sie damals noch nicht, dass manche Dämonen überhaupt keine Schwierigkeiten haben, eine Kirche zu betreten oder jahrelang in einem Kloster zu leben.« Camiyu grinste zurück. »Stimmt. Aber das macht wieder jede Kir che und jedes Kloster zum möglichen Kandidaten.«
Carana nickte und starrte auf die Chronik. »Ich glaube, Wasser spielt auch eine Rolle«, sagte sie langsam. »Falls der Abt das Wort ›glühen‹ nicht nur deshalb verwendet hat, weil es sich auf ›blühen‹ reimt. Felsboden oder Erde in einer Höhle glüht normalerweise nicht. Aber die Reflexionen der Sonnenstrahlen auf Wasseroberflä che kann man durchaus als Glühen bezeichnen. Und wir sollten vielleicht noch etwas berücksichtigen. Als die Bruderschaft die beiden ersten Kristallteile fand und versteckte, geschah das kurz nach ihrer Gründung. Da waren sie sich selbst und ihrer Fähigkeiten noch ein bisschen unsicher und suchten deshalb nach Hilfe von außerhalb. Den dritten Kristall fanden sie ungefähr sechshundert Jahre später.« Ihr Cousin blickte sie aufmerksam an. »Und daraus folgerst du was?« »Dass das Versteck möglicherweise in unmittelbarer Nähe des Klosters der Bruderschaft liegt. Oder im Kloster selbst.« »Schlau gedacht!«, lobte er. »Du hast einen verdammt klugen Kopf, Carana.« Er wuschelte ihr durchs lange rote Haar, das sie heu te offen trug. »Ich bin Ethnologin«, erinnerte sie ihn. »Interpretation von rätsel haften Texten ist ein Teil meines Jobs.« »Aber das Kloster hat keine Höhle. Und auch keinen Keller oder etwas Ähnliches, das zu dem Rest des Rätsels passen würde. Das weiß ich genau.« »Aber wenn wir uns mehr auf das Wasser konzentrieren statt auf eine Höhle … Hat das Kloster einen Brunnen?« »Sogar drei!« Camiyus Augen leuchteten auf. »Und einer davon liegt mitten in einem Beet, auf dem schon seit ewigen Zeiten Frauen mantel wächst.« Er dachte kurz nach. »Und … ja, im Sommer strahlt die Sonne zur Mittagszeit auf die Wasseroberfläche dieses Brunnens.« Er schüttelte den Kopf. »Das wäre beinahe zu einfach! Dass sie den Splitter direkt unter ihrer Nase versteckt haben sollen
…« »Du hast dich doch auch direkt unter ihrer Nase versteckt, wäh rend sie die Rhu’u überall in der Welt gesucht haben, nur nicht im eigenen Kloster.« »Das ist ein Argument«, stimmte Camiyu zu. »Wir werden in je dem Fall nachsehen. Am besten gleich heute Nacht. – Onkel Cal!« Calibor kehrte ins Wohnzimmer zurück und sie berichtete ihm von ihrer Vermutung. »Könnte hinkommen«, stimmte er schließlich zu. »Camiyu und ich werden den Brunnen untersuchen. Wenn der Kristall dort ist, finden wir ihn.« »Ich komme mit«, entschied Carana. »Du? Warum?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe das Gefühl, ich sollte dabei sein. Ich kann es nicht erklären.« Ihr Vater nickte. »Deine magischen Sinne verschärfen sich lang sam. Das hat sicherlich damit zu tun, dass sich der Arrod’Sha fast vollständig in deiner unmittelbaren Nähe befindet. Ich bin gespannt, welche Fähigkeiten du noch entwickelst, wenn er erst wieder ganz ist. Vielleicht hast du sogar eine seherische Gabe.« »Vielleicht«, stimmte sie zu. »Es wird interessant sein, das her auszufinden.« Calibor lächelte. Diese Einstellung war ein gutes Zeichen. Bisher hatte Carana der Magie eher ängstlich gegenüber gestanden. Doch in letzter Zeit hatte sie ernsthaft begonnen, sie über die notwendigen Verteidigungsmechanismen hinaus zu erlernen. Auch nannte sie die Mitglieder Familie seit Neuestem nicht mehr bei ihren menschlichen Namen, wenn sie unter sich waren. Cal hielt das für eine sehr erfreuliche Entwicklung.
* Chief Inspector Jarod Kane vom Department of Occult Crimes bei Scotland Yard staunte nicht schlecht, als er einen Anruf von Abt Pa tricius aus dem Kloster St. George the Pure erhielt. Der Mönch bat ihn um ein Treffen im Kloster, wollte aber am Telefon keine näheren Angaben für den Grund machen. Jarod war die Sache suspekt, dennoch nach er die Einladung an. Abt Patricius empfing ihn in seinem Arbeitszimmer zusammen mit drei anderen Mönchen. »Danke, dass Sie gekommen sind, Mr. Kane. Ich möchte den Diebstahl der unersetzlichen Chronik unseres Klosters melden.« Jarod fühlte Ärger in sich aufsteigen. »Diebstahl«, erklärte er dem Abt trotzdem so ruhig wie möglich, »fällt nicht in mein Ressort, Abt Patricius. Hätten Sie mir am Telefon gesagt, worum es sich handelt, hätte ich Sie gleich an die richtige Stelle verweisen können.« »Sie sind die richtige Stelle, Mr. Kane«, beharrte der Abt. »Sie haben Informationen, die wir brauchen. Und Sie werden das Kloster nicht eher wieder verlassen, bis sie uns die gegeben haben.« Jarod erkannte die Gefahr, in der er schwebte, zu spät. Ehe er et was tun konnte, wurde er von hinten niedergeschlagen und verlor das Bewusstsein … Als er wieder zu sich kam, fand er sich an einen Stuhl gefesselt. Sein Kopf schmerzte höllisch. Der Abt, umgeben von einigen Mönchen, stand vor ihm und blick te mitleidlos auf ihn hinab. »Sie glauben doch nicht, dass Sie damit durchkommen, Abt«, knurrte Jarod aufgebracht. »Den Mordversuch an Miss MacLeod konnte ich Ihnen nicht beweisen. Das hier schon!« Der Abt lächelte kalt. »Sie glauben doch nicht im Ernst, Mr. Kane, dass Sie das Kloster jemals wieder verlassen werden.«
Jarod starrte ihn ungläubig an. »Wollen Sie mich etwa auch um bringen?« Patricius beugte sich vor, bis sein Gesicht dicht vor dem von Jarod war. »Aber natürlich werden wir das tun. Wir werden keine Höl lenkreatur oder einen ihrer Helfershelfer am Leben lassen!« »Und was ist mit ›Du sollst nicht töten!‹ Ich glaube kaum, dass Gott es gutheißt, wenn Sie einen Polizeibeamten ermorden.« »Gott«, donnerte der Abt, »hat uns durch Seinen Engel beauftragt, die Dämonen und ihre menschlichen Helfer vom Erdboden zu tilgen! Und Sie sind einer von denen. Wir erfüllen nur Gottes Auf trag.« Jarod schossen unzählige Gedanken durch den Kopf. Dass er tat sächlich in Todesgefahr schwebte. Dass niemand ihm zu Hilfe kom men würde, da niemand wusste, wohin er gefahren war. Dass Bru der Camillus alias Rhu’Camiyu MacLeod ihn bei seinem ersten Be such im Kloster genau hiervor gewarnt hatte. Dass das hier ein Alb traum war. Dass es nicht wahr sein, dass sein Leben doch nicht so enden konnte … »Doch bevor Sie sterben«, erklärte der Abt, »werden Sie uns noch sagen, wo wir Ihre dämonische Freundin und ihre Familie finden. Sie wissen es doch ganz genau.« »Den Teufel werde ich!« Der Abt schüttelte bedauernd den Kopf. »Dann lassen Sie mir keine Wahl … Bruder Philippus!« Einer der Mönche trat vor und legte eine Metallschale auf den Tisch neben Jarods Stuhl. In der Schale lagen verschiedene Instru mente, wie sie auch von Ärzten benutzt wurden. Hauptsächlich un terschiedlich lange Nadeln und Skalpelle. Jarod konnte nicht verhindern, dass ihm der Mund trocken wurde vor Angst. Sie wollten ihn foltern! »Ich kenne nur ihre Adresse in Edinburgh, die Ihnen auch schon
bekannt ist«, versuchte er zu bluffen. Ohne Erfolg. »Sie lügen«, fauchte der Abt. »Bruder Philippus.« Der Angesprochene nahm beinahe sanft Jarods Hand – und trieb eine lange Nadel mitten hindurch. Kane schrie vor Schmerz. Eine Welle von Übelkeit stieg in ihm auf und er musste sich beinahe übergeben. »Ich gebe Ihnen ein bisschen Zeit nachzudenken, Mr. Kane. Sie sollten kooperativ sein. Eines steht fest: Am Ende werden wir erfah ren, was wir wissen wollen. Ihr Widerstand hat überhaupt keinen Sinn. Er entscheidet lediglich über die Länge Ihrer Qualen. Doch wenn Sie uns sagen, was wir wissen wollen, verspreche ich Ihnen einen schnellen Tod.« »Sie sind wahnsinnig!«, knirschte Jarod. Der Abt zuckte mit den Schultern. »Denken Sie darüber nach. Die Gelegenheit gebe ich Ihnen. Wenn ich wiederkomme, werde ich erst wieder gehen, wenn ich weiß, was ich wissen will.« Er verließ den Raum und ließ sein Opfer zurück mit seinem Schmerz und sechs Bewachern. Der Abt ging kein Risiko ein. Die Nadel steckte immer noch in Jarods Hand, die wie Feuer brannte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass es dem Abt und den Brüdern bitterernst war. Und wenn nicht ein Wunder geschah, war es aus mit ihm. Doch er konnte Kara und ihre Familie nicht mit in den Untergang reißen. Sie waren Dämonen, ja. Und er war ein Jäger von Dämonen, Hexen und allem, in dessen Gestalt das Böse unter den Menschen lebte. Aber er hatte die MacLeods kennen gelernt und war der Über zeugung, dass von ihnen keine Gefahr für irgendeinen Menschen ausging. Sie hatten ihm vertraut und ihm einige ihrer Geheimnisse offenbart. Er konnte sie jetzt nicht verraten. Allerdings wusste er, dass er – wie jeder andere Mensch auch –
der Folter nur begrenzt widerstehen konnte. Seine einzige Chance war zu lügen, was das Zeug hielt. Und zu hoffen, dass sie ihm deshalb die Wahrheit auch nicht glauben würde, wenn er schließlich zusammenbrach und sie ausposaunte. Er betete zu Gott um ein Wunder.
* Die ›Aktion Brunnen‹ lief um zwei Uhr morgens an. Camiyu versi cherte, dass um diese Zeit alle Mönche in den Betten lagen und schliefen. Er, Cal, Carana und Cayuba ›sprangen‹ in schwarzer Tarnkleidung durch die Dimensionen direkt in den Klostergarten. Wie Camiyu gesagt hatte, war alles still und ruhig. Er führte sie zu dem fraglichen Brunnen, einem uralten Natur steinschacht, der bis etwa drei Meter unter den Rand mit Wasser ge füllt war. Cal leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Außer Wasser war nichts zu sehen. »Er ist da!«, flüsterte Cayuba aufgeregt. »Ich kann ihn spüren!« »Ich fühle ihn auch«, bestätigte Carana nicht weniger aufgeregt. Camiyu gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Deine Idee war Spitze!«, flüsterte er. »Wir sind am Ziel!« Er runzelte die Stirn. »Aber ich habe zwanzig Jahre hier gelebt. Wieso habe ich ihn in all der Zeit nicht gespürt?« »Weil er geschlafen hat«, vermutete Cal. »Auch die Kristalle, die wir seit Jahrhunderten besitzen, haben erst angefangen sich zu regen, als Caranas Kräfte freigesetzt und die Rhu’u wieder vollzäh lige Neun waren.« Cayuba konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die Schwingungen des Kristalls, die sie immer stärker spürte. Es war eindeutig, dass der letzte Splitter gefunden und befreit werden wollte. »Sie haben ihn eingemauert!«, flüsterte sie schließlich.
Sie streckte die Hand aus, sprach ein magisches Wort – und hielt im nächsten Moment ein schmutziges, schlammiges, faustgroßes Bündel in der Hand. Doch selbst durch die Verpackung und den Schlamm hindurch konnten die Vier das tiefrot pulsierende Leuch ten des Splitters erkennen. Im selben Moment ertönte aus dem Kloster ein markerschüttern der Schmerzensschrei, der sie alle zusammenfahren ließ. »Hast du nicht gesagt, die schlafen alle, Camiyu?«, zischte Cal erschrocken und warf einen Blick auf das Gemäuer. »Da brennt ja Licht!« Tatsächlich war am Ende des Gebäudes ein Fenster im Erdge schoss erhellt. »Das ist ein Nebenraum, der normalerweise gar nicht benutzt wird«, erklärte Camiyu. Ein neuer Schrei zerriss die Nacht. Und ein Wort: »Nein!« Carana erbleichte. »Das ist … Jarod! Jarod Kane! Verdammt, was tun die da!« Sie wollte hinüber laufen, doch Cal hielt sie zurück. »Du bleibst hier!«, entschied er. »Camiyu wird nachsehen.« Sein Neffe brauchte keine zweite Aufforderung. Er teleportierte di rekt neben das Fenster, beugte sich vorsichtig vor und schaute hin ein, als ein weiterer Schrei ertönte. Im nächsten Moment war er zurück und nickte. »Es ist Jarod Kane. Sie foltern ihn. Er soll ihnen verraten, wo wir wohnen.« Carana wollte zum Kloster stürzen. »Wir müssen ihn da rausho len!« Diesmal hielten alle drei sie zurück. »Bist du verrückt?«, zischte Cayuba. »Auf keinen Fall!«, befahl Cal. Camiyu fasste sie bei den Schulten und sah ihr in die Augen. »Hör mir zu, Carana!«, bat er eindringlich. »Im Moment können wir gar
nichts tun, um ihm zu helfen. Die Mönche sind achtzig an der Zahl, wir sind nur vier. Aber sobald wir den Arrod’Sah zusammengefügt haben und seine ganze Macht nutzen können, werden wir Jarod hier rausholen.« Carana liefen Tränen über die Wangen. Sie zuckte zusammen, als Jarod wieder in höchster Qual schrie. »Aber bis dahin ist er vielleicht tot! Oh, bitte!« »Ich kann etwas tun«, beruhigte Cayuba sie. »Ich kann ihn von hier aus mit einem Psi-Pfeil für einige Stunden betäuben. Ich glaube nicht, dass sie ihn foltern werden, solange er bewusstlos ist. Das würde nicht viel Sinn machen.« Sie konzentrierte sich. Carana spürte, wie sich die geistige Energie um ihre Tante zusammenballte und sie diese wie einen Pfeil ab schoss. Sie durchdrang die Mauern und traf zielstrebig Jarods Be wusstsein. Sein furchtbarer Schrei brach ab. »Das hält bis morgen früh vor«, versicherte Cayuba. »Und jetzt weg hier!«, kommandierte Cal, fasste seine Tochter am Arm – und stand mit ihr im nächsten Augenblick wieder in seinem Haus in Inverness. Sie wurden bereits erwartet – von Rhu’Catunua und ihrem Sohn Casdiru. »Hallo, Cousin!« begrüßte sie Cal mit honigsüßer Stimme. »Hast du geglaubt, ihr könntet vor mir verbergen, dass ihr den letzten Splitter habt und den Arrod’Sha allein zusammenfügen? Vielleicht hast du vergessen, dass ich Hellsehen kann.« Cal warf einen Blick in die Runde. Caelu lag verletzt am Boden, wo sich Cassilya um ihn kümmerte und ihn heilte. Camulal hatte ein blaues Auge und einige Einrichtungsgegenstände waren etwas ramponiert. »Caelu?«, fragte Calibor.
»Geht schon, Vater«, versicherte sein Sohn. »Tante Catunua war nur mal wieder brutal wie immer.« »Aber ich habe bekommen, was ich wollte.« Sie schwenkte tri umphierend den Beutel, in dem die MacLeods die acht Kristallteile aufbewahrten. »Und du wirst mir jetzt den letzten Splitter geben, Calibor, sonst …« Cal lachte herzlich. »Aber gern, Catunua! Und anschließend werde ich mit Freuden zusehen, wie du erkennen musst, dass du nicht ganz so schlau bist, wie du immer denkst.« »Und ich darf dabei zusehen!«, murmelte Camulal mit boshafter Genugtuung laut genug, dass seine Mutter es hören musste. Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Das wirst du Versager so schnell nicht erleben! Verräter! Wie ich sehe, hast du zusammen mit deiner Loyalität deine Haarfarbe gewechselt.« Camulal strich sich mit Hand über seinen roten Schopf und schüttelte den Kopf. »Ich habe nur die ursprüngliche Farbe wieder hergestellt, Mutter. Aber du hast Recht. Für mich ist es das äußere Zeichen dafür, dass ich mich für immer von deiner Tyrannei gelöst habe.« »Nichtsnutz!«, warf sie ihm voll tiefster Verachtung an den Kopf. »Calibor! Den Stein!« Cal nickte Cayuba zu, die Catunua das schlammige Bündel mit dem Kristall darin zuwarf. Die sprach ein Wort der Macht und der Kristall landete sauber und ohne Verhüllung in ihrer Hand. Sie lach te triumphierend, nahm den Beutel mit den anderen Kristallen und schüttete sie in ihre Hand. Die Splitter funkelten und pulsierten. Ca tunua ließ den Beutel achtlos fallen, hielt ihre andere Hand über die Splitter und sprach einen Zauber darüber. »Belshútunee, Arrod’Sha! Belshútunee! Yi ído zínkee! – Vereinige dich, Arrod’Sha! Vereinige dich! Ich befehle es dir!« Es geschah – nichts … Catunua starrte die Splitter irritiert an und wiederholte den Spruch. Die Splitter rührten sich nicht. Sie versuch
te es mit einem anderen Spruch. Mit demselben Erfolg. Auch ein Dutzend andere Sprüche führten zu keinem anderen Ergebnis. Schließlich fuhr sie wütend zu Cal herum. »Was hast du mit den Kristallen gemacht?« Er lachte. »Nichts. Ich sagte doch, liebe Cousine, dass du nicht so schlau bist, wie du immer denkst. Sonst wüsstest du nämlich, warum es nicht funktioniert.« »Du …« Catunua setzte an, sich auf ihn zu stürzen. Casdiru hielt sie zurück und wurde dafür mit einem schmerz haften Fausthieb ins Gesicht bestraft. Er nahm ihn kommentarlos hin. »Erklärst du es uns, Onkel Calibor?«, bat er und presste den Handrücken auf seine blutende Lippe, bis er die Wunde magisch ge schlossen hatte. Cal zuckte mit den Schultern. »Wenn ihr euch mal ein bisschen mehr mit dem Wissen des Blutes beschäftigt hättet, statt eure Macht gelüste auszuleben, musste ich euch nichts erklären. Dieses Wissen enthält unsere Geschichte von Anbeginn. Und bequemerweise tragen wir sie in unserem Blut und sie ist für jeden zugänglich, der sich die Mühe macht.« »Schon kapiert, Onkel«, sagte Casdiru ungeduldig. »Sagst du es uns nun oder nicht?« »Der Arrod’Sha wurde von unseren neun Urahnen gemeinsam er schaffen – in Einigkeit. Er kann deshalb auch nur von neun Rhu’u wieder zusammengesetzt werden, die sich einig sind. Wenn auch nur ein Einziger fehlt oder einer der Neun gegen eine Wiederver einigung wäre, kann der Arrod’Sha nicht wieder zusammengefügt werden. Kapiert?« Er wandte sich an Catunua. »Und deshalb, Cousine, war dein ge waltsames Eindringen hier und das Verletzen meines Sohnes voll kommen sinnlos. Wir hätten alles für das Ritual vorbereitet und euch dann sowieso hergebeten. Falls du also den Kristall geheilt se
hen und künftig an seiner Macht teilhaben willst, wirst du wohl übel mit uns zusammenarbeiten müssen, bis der Kristall wieder ganz ist.« Man sah Catunua an, dass ihr das ganz und gar nicht passte. Doch sie fühlte, dass Cal Recht hatte. Und ihre Gier nach Macht war so groß, dass sie sich dafür auch mit dem Herrn der Unterwelt persön lich verbündet hätte. Außerdem waren ihre Verwandten schwach und weich. Sobald der Kristall wieder ganz war, würde Catunua schon Mittel und Wege finden, ihn an sich zu bringen oder zu dik tieren, wie er zu nutzen war – zu ihren Zwecken natürlich. »Einverstanden«, erklärte sie. »Aber wir sollten keine Zeit ver lieren.« »Die hätten wir auch nicht verloren, wenn du hier nicht so ein Theater gemacht hättest, Mutter«, beschied ihr Camulal verächtlich. Er fragte sich, wieso er jemals Angst vor seiner Mutter gehabt hatte. Doch bei näherer Betrachtung wollte er das lieber nicht so ge nau wissen. Sie brachten die neun Kristallteile in den verborgenen Ritualraum im Keller. Der Raum war quadratisch und absolut schalldicht. In der Mitte stand ein quadratischer Altar aus massivem Stein inmitten eines auf den Boden gemalten roten Pentagramms. Entlang der Wände lagen Teppiche auf dem Fußboden mit Isomatten, Decken und Meditationskissen. An einer Wand stand ein vom Boden bis zur Decke reichendes Regal mit magischen Utensilien und Ritualgegen ständen. Sie legten die neun Kristallteile in die Mitte des Altars, verteilten dreizehn rote Kerzen im Kreis um das Pentagramm und zündeten sie an. Sie stellten fünf Räucherschalen in die fünf Spitzen des Penta gramms und entzündeten in jedem eine andere Art von Räucher werk korrespondierend mit den dazu gehörigen Elementen. Als die Kräuter in den Schalen brannten und sich ein angenehmer Duft im Raum ausbreitete, legten sie alle sämtliche Kleidung und
Schmuck ab und stellten sich nackt im Kreis um den Altar auf. Sie arrangierten die neun Splitter sternförmig, so dass sie sich mit einer Spitze in der Mitte berührten. Jeder Teil war etwa fünfzehn Zentimeter lang. Die äußeren Berei che waren fast schwarz und doch seltsam transparent. Im Kernbe reich aber pulsierte jeder Splitter mit dem dunkelroten Blut, das ihm einst seine Macht gegeben hatte. Die Rhu’u traten vor. Jeder berührte einen Splitter mit dem Zeig finger der linken Hand. Sie sprachen der Reihe nach ihre Namen und stellten sich dem Kristall vor. Die Splitter des Arrod’Sha glühten auf. Incubi und Succubi fassten sich bei den Händen, hielten ihre vereinigten, ineinander verschränkten Hände über die Splitter und begannen mit einem Sprechgesang in Unadru, der uralten Dä monensprache: »Arrod’Sha, be’u aniyika iku! Belshútunee! Aitakee, Arrod’Sha! Aitakee o shútunee iku kéka Rhu’u! – Arrod’Sha, Stein mit unserem Blut! Vereinige dich! Lebe, Arrod’Sha! Lebe und einige das Blut der Rhu’u!« Sie wiederholten den Gesang neun Mal, während sie dabei lang sam im Uhrzeigersinn um den Altar schritten, ohne einander loszu lassen. Zunächst geschah nichts. Doch plötzlich begannen die Splitter zu vibrieren und zu summen. Erst leise, dann immer lauter, bis das Geräusch dieselbe Lautstärke hatte wie der Gesang, dem es sich in Melodie und Intonation an passte, als würde der Arrod’Sha die Beschwörung mitsingen. Endlich verstummten die Rhu’u, doch der Kristall summte die Me lodie noch einmal komplett selbst. Gleichzeitig richteten sich die Splitter auf und fügten sich zusammen. Mit dem letzten Summton des Kristalls schlossen sie sich zu einer perfekten Kugel zusammen. Die Ränder der Splitter glühten kurz auf und verschweißten sich un trennbar miteinander – und das Glühen erlosch.
Vor ihnen lag der Arrod’Sha, heil und ganz und das Blut der Rhu’u pulsierte sanft leuchtend in seinem Herzen …
* Vereinigung! Es war vollbracht! Arrod’Sha war wieder im Vollbesitz seiner alten Macht. Die Erben des Blutes hatten sich um ihn versammelt und ihn ge heilt. Er würde ihnen dienen, wie er ihren Vorfahren gedient hatte. Jedem auf seine Weise und allen gemeinsam. Mit einem wichtigen Unterschied. Er würde sie einen. Untrennbar. Für alle Zeit. Damit sie immer nur wie Einer handelten, wenn sie sich seiner Macht bedienten. Nie wieder durften sie sich uneins sein! Arrod’Sha berührte den Ersten. Er erfasste sein Wesen, seine Magie, seine Motive, sein Blut. Er tilgte ne gative Fremdeinflüsse und brachte seine magischen Fähigkeiten zur größt möglichen Entfaltung. So verfuhr er mit jedem von ihnen. Als er Catunua berührte, löschte er das Bluterbe von Seelenfressern und Blutdämonen in ihr vollständig aus. Er erkannte sie als Störenfriedin, die die Rhu’u ins Verderben führen würde und sog ihr die magischen Fähigkeiten aus, bis nur noch die reine Sukkubus-Magie in ihr übrig blieb. Dann versiegelte er ihre Verbindung mit sich selbst und schloss sie für immer von dem Zugriff auf seine Macht aus. Dasselbe tat er mit Casdiru. Ihre Fähigkeiten gab er anderen Rhu’u. Nachdem alles getan war, wirkte er noch eine letzte Veränderung. Er verankerte die Einigkeit in den Genen der Rhu’u, so dass sie sich niemals gegeneinander wenden konnten oder im Fall einer Gefahr einer dem anderen die Hilfe verweigern konnte. Welche Differenzen sie auch sonst haben und behalten mochten – sobald es darauf ankam, würden sie nichts anderes sein können als einig.
* Es geschah innerhalb von Sekunden. Als der Arrod’Sha zu sammengefügt war, zuckte ein dunkelrotes Licht von ihm auf, das zuerst Cals Stirn berührte, kurz seinen Körper einhüllte, zu Catunua weiterwanderte und mit ihr dasselbe tat. Von dort sprang es der Reihe nach zu den anderen und erlosch, nachdem es als Letzte auch Cassilya eingehüllt hatte. Die Rhu’u fühlten nur eine Hitzewallung durch ihre Körper gehen und waren etwas verblüfft oder auch erschrocken. Die Einzigen, die noch mehr spürten, waren Catunua und Casdiru. Die äußerliche Veränderung war für jeden sichtbar. Ihre Haare, die sie mit Magie schwarz gefärbt hatten, nahm wieder seine ursprüngliche rote Farbe an. Casdiru keuchte erschrocken auf und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Catunua dagegen begann zu kreischen. Und es waren eindeutig Laute der Wut. »Was habt ihr getan?«, schrie sie Cal an und schlug auf ihn ein. »Ihr habt mir meine Magie genommen! Gebt sie mir zurück, oder …« Cal fing ihre Hände ein und hielt sie eisern fest. »Falls du es noch immer nicht begriffen haben solltest, Catunua: Wir haben gar nichts getan! Was immer in uns verändert wurde, es war der Kristall. Ver stehst du? Niemand von uns hat irgendwas gemacht.« »O verdammt!«, fluchte Casdiru und versuchte vergeblich, einen Zauber zu manifestieren, der ihm sonst immer leicht gefallen war. Nichts geschah. »Nein!« Catunua riss sich von Calibor los und wiederholte den Versuch ih res Sohnes mit demselben Ergebnis. Als Nächstes versuchte sie, auf die Kraft des Kristalls zuzugreifen. Sie flog wie von einer Riesen hand gestoßen rückwärts gegen die Wand. Der Arrod’Sha hatte sie
nachdrücklich zurückgewiesen. Casdiru half ihr vom Boden hoch. Seine Mutter starrte den Kristall hasserfüllt an. »Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich euch niemals gehol fen, ihn wieder zusammenzusetzen!« »Ja, das glaube ich, Mutter«, sagte Camulal und nickte. »Was du nicht haben kannst, dürfen andere auch nicht besitzen. Aber wie es aussieht, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden, dass der Arrod’Sha die Spielregeln diktiert und nicht du.« Er maß sie mit einem verächtlichen Blick von oben bis unten. »Du solltest den Verlust deiner Macht als Chance sehen, mit den restlichen hundert oder hundertfünfzig Jahren deines Lebens was Vernünf tiges anzufangen. – Entschuldige, ich vergaß, dass Vernunft gar nicht in deinem Wortschatz vorkommt.« Er wandte sich ab und zog sich an. Die anderen folgten seinem Beispiel. »Was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Caelu. »Jarod befreien!«, vergessen?«
verlangte
Carana.
»Oder
habt
ihr
ihn
»Natürlich nicht«, antwortete Cal. »Dafür braucht ihr uns ja nicht.« Catunua wollte mit Casdiru durch die Dimension zurück in ihr Haus nach Kairo ›springen‹. Es funktionierte nicht. »Sieht so aus, als würdest du hier noch gebraucht«, vermutete Ca miyu. »Ich wüsste nicht wozu!«, fauchte sie wütend. »Ich schon«, erklärte Cayuba. »Die Bruderschaft des Reinen Lichts. Ich meine, wenn wir schon mal dabei sind, Jarod Kane zu befreien, können wir sie uns auch gleich ganz vom Hals schaffen.« »Gute Idee!«, stimmte Casdiru zu. »Die Macht dazu haben wir ja jetzt. – Habt ihr jetzt«, korrigierte er missmutig, schien sich aber besser als seine Mutter mit den neuen Umständen abzufinden.
»Ja, das sollten wir tun«, fand auch Cal. »Und wie?«, fragte Carana. »Willst du sie alle umbringen? Da ma che ich nicht mit!« »Und ich auch nicht«, pflichtete Camiyu ihr bei. »Seid ihr verrückt?«, fragte Casdiru. »Die haben seit unzähligen Generationen nichts anderes getan, als jeden von uns umzubringen, den sie erwischen konnte. Auch deine Mutter, Carana, wenn ich dich mal erinnern darf. Das Letzte, was die Brüder verdient haben, ist Schonung!« »Und wenn wir sie umbringen, stellen wir uns damit auf ein und dieselbe Stufe wie sie«, hielt Carana ihm vor. »Wahrscheinlich sehe ich das anders als du, weil ich zur Hälfte ein Mensch bin, Casdiru. Aber ich möchte ums Verrecken nicht mit denen auf einer Stufe stehen. Wir haben die Macht des Arrod’Sha zur Verfügung. Damit stehen uns andere Möglichkeiten zur Verfügung.« »Stimmt«, fand auch Camiyu. »Allerdings sollten wir vorsichtig mit ihm sein. Er hat sich verändert, seit er damals zersplittert wurde. Zum einen hat er eine Art Bewusstsein entwickelt. Zum anderen, wie wir deutlich an Catunua gesehen haben, bestimmt er die Spiel regeln. Eigentlich müssten wir seine neue Wirkungsweise erst genau studieren, bevor wir ihn einsetzen.« »Eigentlich«, stimmte Cal zu. »Aber dazu haben wir nicht die Zeit. Ich darf euch mal an die Zehn Mächtigen Fürsten erinnern. Die haben unsere Familie immer im Auge behalten. Sie werden wissen, dass wir den Arrod’Sha wieder zusammengefügt haben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie uns einen Besuch abstatten. Ich hof fe nur, sie reden erst mit uns, bevor sie uns angreifen. Damit ich sie dann – hoffentlich – davon überzeugen kann, dass die Rhu’u trotz des Arrod’Sha keine Gefahr mehr für sie darstellen.« Er warf Catunua einen bezeichnenden Blick zu. »Aber vorher soll ten wir das Problem mit der Bruderschaft unbedingt gelöst haben. Egal wie.«
»Vielleicht sollten wir sie frontal angreifen«, sagte Cassilya mit einem Grinsen. »Damit rechnen sie bestimmt nicht …«
* Jarod Kane erwachte aus der tiefen Bewusstlosigkeit und wünschte sich, sofort wieder darin versinken zu können. Sein ganzer Körper schmerzte höllisch. Die Hände waren geschwollen, weil man ihm alle zehn Finger der Reihe nach gebrochen hatte. Ein Daumen war zerquetscht, so dass er ihn nie wieder würde benutzen können. Sei ne Nase und mehrere Rippen waren gebrochen und ein Knie zertrümmert, die Augen fast komplett zugeschwollen. Jeder Atem zug war eine unsagbare Qual. Und man hatte ihm an besonders empfindlichen Stellen seines Körpers ganze Streifen der Haut her ausgeschnitten. Er hatte sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass es solche Schmerzen geben konnte. Und ein Teil seines Verstandes konnte immer noch nicht fassen, dass es Mönche waren, Männer Gottes, die ihm all das antaten. Das erschütterte seinen Glauben zutiefst. Gott, wie kannst du das zulassen!, dachte er verzweifelt. Das kann doch nicht wirklich dein Wille sein! Undeutlich erkannte er, dass Abt Patricius mit dem schrecklichen Bruder Philippus vor ihm stand. »Schön, dass Sie wieder wach sind, Mr. Kane. Dann können wir ja fortfahren.« Der Abt schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wieso Sie sich das alles antun. Sie brauchen mir nur zu sagen, was ich wissen will und ich erlöse Sie sofort.« Jarod hatte nicht die Kraft, darauf zu antworten. Gott, lass mich sterben!, flehte er stumm. Wenn du mich schon nicht rettest, lass mich wenigstens sterben. Jetzt!
»Schade, Mr. Kane, dass Sie so dickköpfig sind. Ich bedauere das wirklich. Aber wenn Sie es nicht anders wollen … Bruder Philippus!« Der Folterknecht packte Jarods rechten Arm und eine neue Welle von Schmerz zuckte durch dessen Körper. Doch bevor Philippus mit der Folter fortfahren konnte, wurde die Tür aufgerissen. Einer der Mönche stürmte vollkommen aufgelöst in den Raum. »Vater Abt! Die Dämonen! Sie sind hier!« »Was?« Der Abt starrte ihn einen Moment fassungslos an. Der Mönch rannte zum Fenster, riss es auf und deutete aufgeregt nach draußen. »Da sind sie! Sieh doch!« Abt Patricius eilte zum Fenster, beugte sich hinaus und sah. Mitten im Klosterhof standen sie – die Erzfeinde. Alle Neun. Selbstsicher aufgereiht, als gehörte das Kloster ihnen. Und sie hielten eine dun kelrote pulsierende Kristallkugel in der Hand. Der Abt fuhr zurück. »Die Dolche, Bruder Benedictus! Und die anderen Waffen! Ruf die Brüder zusammen! Läute die Glocken! Der Tag unseres Sieges ist da!« Er eilte hinaus, gefolgt von Philippus. Die Gelegenheit wäre überaus günstig für einen Fluchtversuch ge wesen. Doch Jarod fehlte dazu nicht nur die Kraft. Sein ge schundener Körper war dazu einfach nicht mehr in der Lage. Er bezweifelte sogar, dass er selbst dann am Leben bleiben würde, falls die MacLeods ihn hier herausholten. Seine Verletzungen waren möglicherweise zu schwer. Er nahm wahr, dass jemand durch das Fenster, das der Abt offen gelassen hatte, ins Zimmer kletterte. »Mr. Kane!« Er erkannte die Stimme von Kassandra MacLeod, Ka ras jüngerer Halbschwester. »O Mann! Die haben Ihnen aber ver dammt übel mitgespielt. Halten Sie still. Ich versuche, Sie zu heilen.«
Jarod hatte nicht vor, sich freiwillig auch nur einen Millimeter zu bewegen. Er fühlte, wie eine Hitzwelle seinen Körper durchströmte. Im nächsten Augenblick waren die Schmerzen schlagartig verschwunden. Er spürte, wie die Schwellungen im Gesicht und an den Händen langsam zurückgingen. Er konnte hören, wie sich seine gebrochenen Rippen knirschend wieder in ihre ursprüngliche Positi on schoben und die Splitter seiner zertrümmerten Kniescheibe dasselbe taten. Er konnte wieder frei atmen, die Finger bewegen und die Augen öffnen. Kassandra kniete vor ihm und hielt ihre Hände wenige Zentimeter über seinen Körper. Von denen ging die Hitzewelle aus, die sich in wohlige Wärme verwandelte. Schließlich sackte sie etwas zusammen und ließ ihre Hände sinken. »Geschafft!«, murmelte sie erleichtert und grinste schwach. Sie stand mühsam auf und band ihn los. »Hören Sie, Mr. Kane«, sagte sie eindringlich. »Sie werden jetzt aus diesem Fenster klettern und machen, dass Sie hier wegkommen. – Keine Widerrede! Ihre Verletzungen sind nur oberflächlich geheilt. Sie brauchen unbedingt Ruhe und Erholung. Sie sind nicht in der Lage, uns zu helfen. Fah ren Sie ins Krankenhaus. Rufen Sie meinetwegen von da aus die Ka vallerie. Aber verschwinden Sie von hier und kümmern Sie sich nicht um uns!« Als Jarod versuchte aufzustehen, erstarb jeder Protest auf seinen Lippen. Kassandra hatte Recht. Er war verdammt schwach und nicht in der Lage, irgendeine Rolle in dem Kampf zu spielen, den er draußen toben hörte – außer der eines Opfers. Kassandra half ihm, aus dem Fenster zu klettern, das zum Glück im Erdgeschoss und nur einen guten Meter über dem Boden lag und sprang selbst hinterher. Sie stieß ihn in Richtung Pforte. »Laufen Sie!« Kassandra selbst rannte in die andere Richtung, auf einen Mönch zu, der sich gerade anschickte, ihrem Bruder Kyle einen silbernen
Dolch in den Rücken zu stoßen. Aus ihrer plötzlich glühenden Hand brach ein Energieblitz und fuhr in den Rücken des Mönchs, der ihn auf der Stelle mit schmauchendem Gewand zu Boden schickte. Im nächsten Moment traf sie ein silberner Pfeil von der Armbrust eines anderen Mönchs ins Herz. »Nein!«, brüllte Jarod und wollte sich auf den Mönch stürzen. Doch eine unsichtbare Kraft hielt ihn zurück. »Fliehen Sie!«, flüsterte Kassandra mit letzter Kraft – und brach zusammen. Obwohl es Jarod zutiefst widerstrebte, die Flucht zu ergreifen, er kannte er, dass er keine andere Wahl hatte, wenn er am Leben bleiben wollte. Flüchtig nahm er wahr, dass alle MacLeods und Ba shirs – alle neun Rhu’u – zu seiner Rettung gekommen waren. Und dass sie den Kampf gegen die Übermacht der achtzig Mönche wohl verlieren würden. Trotz des Kristalls, den Cal MacLeod in der Hand hielt und mit ihm irgendwelche Magie wirkte. Ein Silberpfeil durchbohrte ihn von hinten. Jarod hörte Kara schreien. »Vater!« Sie stürzte zu ihm, nahm ihn in die Arme und suchte vergeblich nach einem Lebenszeichen in ihm. Tränen liefen ihr über die Wange. Derart abgelenkt bemerkte sie den Mönch zu spät, der sich ihr von hinten näherte. Im nächsten Moment hatte er ihr einen Dolch in den Rücken gestoßen. Sie brach ohne einen Laut zusammen. »Kara! Nein!«, schrie Jarod verzweifelt. Da traf ihn etwas am Kopf und er brach bewusstlos zusammen. Er sah nicht mehr, wie die Mönche mit kalter Effektivität einen Rhu’u nach dem anderen töteten, die ihnen trotz erbitterter Gegen wehr nicht zu entkommen vermochten. Kyle starb als Letzter, wäh rend er in einem Arm seinen Vater und im anderen seine Zwillings schwester hielt. Endlich war es vorbei. Das Leuchten des Arrod’Sha, der unbeach
tet im Gras lag, erlosch. Nun, da die Rhu’u tot waren, war seine Macht gebrochen. Unheimliche Stille senkte sich für einen langen Moment über den Klosterhof von St. George the Pure – bis sie von Abt Patricius’ Jubel schrei zerrissen wurde. »Wir haben gesiegt!«, rief er. »Brüder! Wir haben unsere Aufgabe erfüllt! Endlich! Nach Hunderten von Jahren! Unser Auftrag ist be endet! Lobet den Herren!« Freudentränen rannen ihm über die alten Wangen. Er fiel auf die Knie und betete. Die Brüder taten es ihm nach. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie das Wunder ihres Sieges fassen konnten. »Was tun wir jetzt, Vater Abt?«, fragte Bruder Philippus. »Und vor allem: was tun wir mit ihm?« Er deutete auf den bewusstlosen Jarod. »Er hat alles gesehen und wird uns vor Gericht bringen.« Abt Patricius untersuchte den Bewusstlosen. »Wir bringen ihn ins Krankenhaus«, entschied er. »Die Dämonen sind tot. Sie können sei ner Seele nicht mehr schaden. Und der Beule an seinem Kopf nach zu urteilen, wird er wohl eine Gehirnerschütterung haben. Falls er uns vor Gericht bringen will, können wir behaupten, er hatte Wahn vorstellungen. Bis er wieder in der Lage ist, ein vernünftiges Wort herauszubringen, haben wir alle Spuren dessen, was hier geschehen ist, beseitigt. Anschließend steht sein Wort gegen unseres und er wird nichts beweisen können.« Philippus warf einen unsicheren Blick von Jarod Kane zu den to ten Dämonen. »Haben wir wirklich richtig gehandelt, Vater? Hast du gesehen, dass seine Wunden alle geheilt sind?« »Gottes Werk, Bruder Philippus!«, erklärte der Abt streng. »Gottes Gnade, mit der Er dieser armen, verblendeten Seele ihre Sünden vergeben hat! Gottes Werk! Zweifele niemals daran, Bruder. Nie mals!« Philippus schwieg, aber seine Zweifel schwiegen nicht. Trotzdem tat er, was der Abt ihm auftrug und fuhr Jarod mit dessen Wagen
ins nächste Krankenhaus. Seine Brüder räumten in der Zwischenzeit auf. Als wenn es sich bei den Toten um Vampire handelte, stießen sie jedem zur Sicherheit noch einen geweihten Silberdolch mitten ins Herz und ließen ihn darin stecken. Danach verbrannten sie die Lei chen und verstreuten die Asche auf dem Loch Lundie. Sie zertrümmerten den erloschenen Arrod’Sha mit einem Hammer und streuten die Splitter der Asche hinterher. Anschließend ver brachten sie die darauf folgende Nacht in tiefem Gebet und be gannen am nächsten Morgen mit den Vorbereitungen für die Auflö sung ihres Ordens und die Schließung des Klosters. Ihr Werk war getan …
* Als Jarod Kane nach zehn Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war der ›Fall Klostermord‹ bereits abgeschlossen. Er hatte, kaum dass er wieder in der Lage war zu sprechen und zu tele fonieren, seinen Vorgesetzten über die Vorfälle in St. George the Pure unterrichtet, der sich daraufhin im Kloster umgesehen hatten. Es gab nirgends die Spur eines Kampfes und im ganzen Kloster keine Armbrüste, keine silbernen Dolche, keine Blutspuren oder auch nur den geringsten Beweis für Jarods Behauptungen. Statt dessen hatten alle Brüder ein Schweigegelübde abgelegt und waren dabei, ihren Orden aufzulösen. Sie würden in verschiedenen Klöstern des Benediktinerordens unterkommen, aus dem sie ursprünglich entstanden waren. Die MacLeods hatte man zwar zu Hause nicht angetroffen, aber Nachbarn vermuteten, dass sie ver reist waren. Sein Vorgesetzter erklärte Jarods Anschuldigungen für Halluzina tionen, verursacht durch seine schwere Kopfverletzung, die er sich während seines Besuchs im Kloster bei einem Sturz zugezogen hatte. Zwar ließ der Mann durchblicken, dass er persönlich Jarod
durchaus glaubte, aber dass es ohne Beweise gar keinen Fall gab. Außerdem war es keine gute Idee, sich in irgendeiner Form mit der Kirche anzulegen, wenn man nichts beweisen konnte. Aber Jarods Gerechtigkeitssinn ließ es nicht zu, die Sache einfach unerledigt zu den Akten zu legen. Zwar war er auch ein Jäger des Bösen und die Rhu’u eigentlich Feinde. Aber er hatte sie kennen ge lernt und sich davon überzeugen können, dass sie zwar Inkubi und Sukkubi waren, von ihnen aber keine Gefahr für die Menschen aus ging. Cal MacLeod hatte ihm sogar sein Wort gegeben, dass er die beiden ›schwarzen Schafe‹ der Familie – Catena und Kassim Bashir – unter Kontrolle halten konnte. Darüber hinaus gab es aber noch zwei sehr persönliche Gründe. Jarod hatte mit Kara die wunderbarste Nacht seines Lebens ver bracht. Und Kassandra hatte ihm mit ihren Heilkünsten das Leben gerettet. Nein, er konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Kaum war er aus dem Krankenhaus entlassen, verschaffte er sich Zutritt zum Haus der MacLeods in Inverness – und fand es voll kommen leer vor. Ausgeräumt. Nichts deutete darauf hin, dass hier noch vor zehn Tagen eine siebenköpfige Familie gelebt hatte. Das Haus stand zum Verkauf. Jarod rief den Makler an und erfuhr von ihm, dass Mr. MacLeod persönlich ihn beauftragt hatte, das Haus zu verkaufen – und zwar einen Tag, nachdem die Mönche ihn vor Jarods Augen umgebracht hatten. Schlagartig wurde ihm klar, was wirklich passiert war. Die Rhu’u hatten offensichtlich alle Teile ihres Kristalls gefunden und zusammengefügt. Mit seiner Macht hatten sie eine grandiose und absolut lebensechte Illusion geschaffen, die nicht nur in der Lage war, Jarod zu heilen, sondern in der sie sich auch alle von den Mönchen töten ließen. Worauf die Bruderschaft des Reinen Lichts ihre Aufgabe als beendet ansah und den Orden auflöste. Und die Rhu’u hatten sich irgendwohin abgesetzt, wo sie in Sicherheit
waren. Aber sie waren alle noch am Leben. Der Makler würde nie begreifen, weshalb sein Gesprächspartner übergangslos in ein befreites, glückliches Lachen ausbrach.
* Jonathan Brooke lächelte zufrieden und überreichte dem Mann einen dicken Schlüsselbund. »Mr. O’Shea, das Haus gehört Ihnen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl darin.« »Oh, mit Sicherheit«, antwortete Caleb O’Shea. »Von so einem Haus haben meine Familie und ich schon immer geträumt. Mitten im sonnigen Kalifornien, San Francisco direkt vor der Tür … Ja, wir werden uns hier sehr wohl fühlen.« Brooke war hoch zufrieden mit dem Verkauf dieses Hauses in Redwood City. Seit Jahren hatte es niemand haben wollen, weil es angeblich darin spukte. Aber diese frisch aus Irland eingewanderte Künstlerfamilie störte das offenbar nicht. Sie sahen genauso aus, wie man sich Iren klischeehaft immer vorstellte: rote Haare, grüne Augen, helle Haut. Und sie zahlten gut. »Suchen Sie für mich bitte noch ein kleines Häuschen in San Rafael oder Umgebung, Mr. Brooke«, beauftragte ihn die ältere Tochter, Kara O’Shea. »Ich brauche einen Ort für mich mit etwas Abstand von der Familie«, fügte sie lächelnd mit einem Augenzwinkern hin zu. »Verstehe. Ich hätte da etwas, das Ihnen gefallen dürfte.« »In dem Fall werde ich morgen in ihr Büro kommen und Sie zeigen mir, was mir gefallen würde.« Und da sich morgen garantiert wieder ihr Sukkubus-Hunger melden würde, konnte sie den noch als nette Dreingabe mit ihm stillen. »Bis morgen.« Brooke verstand einen Hinauswurf, wenn er ihn hörte und verab schiedete sich.
»Carana«, wandte Cal ein, nachdem er gegangen war. »Es ist doch nicht nötig, dass du …« Die Zeit schien plötzlich stehen zu bleiben. Die Geräusche auf der Straße erstarben schlagartig, die Vögel hörten auf zu singen. Nichts bewegte sich mehr. Unnatürliche Stille breitete sich aus. Im nächsten Moment waren sie von Männern in Militäruniformen umzingelt, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und mit Ge wehren auf sie zielten. Es mussten über Hundert sein. Doch bei ih nen handelte es sich nicht um Menschen. Sie waren Dämonen, ange führt von zehn ›Zivilisten‹. Carana wusste, ohne je einen gesehen zu haben, dass dies die Zehn Mächtigen Fürsten waren. Sie hatten Menschengestalt ange nommen, aber sie sahen alle gleich aus: dasselbe Gesicht, schwarze Augen, schwarze Haare und dunkle Haut. Ihre Macht umgab jeden von ihnen wie ein Mantel. Gegen diese geballte Kraft würde auch der Arrod’Sha Mühe haben etwas auszurichten. Einer von ihnen trat vor. »Ihr habt also den Arrod’Sha wieder zu sammenfügen können«, sagte er zu Cal. Seine Stimme war kalt und ohne jede Gefühlsregung. »Du kannst dir denken, Calibor, dass uns das nicht sehr gefällt.« Cal nickte. »Ja. Aber wir sind keine Gefahr für euch.« »Seid ihr nicht?«, fragte der Fürst. »Mit einem so mächtigen Instru ment zu eurer Verfügung, was sollte euch daran hindern, da fortzu fahren, wo Rhu’Ca und ihre Geschwister damals aufgehört haben?« »Die Zeit, die inzwischen vergangen ist«, antwortete Cal ruhig. »Die Rhu’u leben seit über zweitausend Jahren in der Menschen welt. Wir haben kein Verlangen danach, in die Unterwelt zurückzu kehren, um dort zu leben. Geschweige denn sie zu beherrschen. In diesem Punkt ist uns unsere Familiengeschichte eine Lehre gewesen. Wir wollen nur unbehelligt unser Leben als einfache Sexdämonen unter den Menschen führen. Weiter nichts.« »Und das sollen wir glauben?«, höhnte der Fürst. »Wir sollen glau
ben, dass ihr euren mächtigen Arrod’Sha zu nichts anderem einsetzen wollt, als euch unter den Menschen ein gutes Leben zu machen?« »Das ist zufällig die Wahrheit, Fürst. Ihr habt von uns nichts zu be fürchten. Niemals wieder.« Der Fürst schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Ich denke, es wäre besser, wenn wir das absolut sicherstellten.« Womit er zweifel los die Vernichtung der Rhu’u meinte. »Einverstanden«, antwortete Cal. »Doch da ihr mit uns redet, statt uns ohne Vorwarnung anzugreifen, habt ihr offenbar selbst Zweifel, ob wir eine Gefahr für euch darstellen. Ich werde euch diese Zweifel nehmen.« Er legte die Fingerspitzen seiner linken Hand auf die Stirn. »Ich schwöre bei Thorluks Schädel«, er legte die Fingerspitzen auf die Brust über seinem Herzen, »und Kallas Blut, dass niemals wieder ein Rhu’u versuchen wird, in der Unterwelt Eroberungen durchzuführen oder anderweitig Unruhe zu stiften oder einen der Zehn Mächtigen oder seine Verbündeten direkt oder indirekt anzu greifen. Wir werden unser Leben hier unter den Menschen führen und die Macht des Arrod’Sha nur zur Verteidigung nutzen. Für alle Zeit.« Der Fürst starrte ihn kalt an. Endlich nickte er. »Gut. Der Schwur ist bindend. Du kennst die Folgen, falls du ihn brichst. Wir werden euch also unbehelligt lassen, solange ihr ihn einhaltet.« »Und im Gegenzug verlange ich euren Schwur, dass ihr uns in Ruhe lasst, solange wir ihn einhalten.« »Du wagst es, uns Bedingungen zu stellen, Rhu’Calibor?« »Für die Sicherheit meiner Familie – ja.« Der Fürst lachte. »Nun gut. Es sei. – Wir schwören bei Thorluks Schädel und Kallas Blut«, sprach er feierlich und die neun übrigen Fürsten wiederholten seine Worte, »dass wir die Familie Rhu’u un behelligt lassen, solange sie ihren Schwur einhält. – Sollten wir aber jemals mehr als drei von euch zur selben Zeit in der Unterwelt an
treffen, vernichten wir euch alle.« Übergangslos verschwand er und mit ihm die anderen Fürsten und ihre Dämonentruppe. Die Zeit lief wieder weiter wie gewohnt. Cal stieß geräuschvoll den Atme aus. »Puh! Das war knapp. Aber wenigstens haben wir von ihnen nichts mehr zu befürchten.« »Thorluks Schädel und Kallas Blut?«, fragte Carana. »Die einzige Schwurformel, an die sich alle Dämonen gebunden fühlen«, erklärte Camiyu. »Falls man sie denn dazu bringt, sie zu schwören. Was ziemlich selten ist. Es heißt, jeder Dämon, der einen solchen Schwur bricht, erleidet auf ewig unvorstellbare Qualen.« »Sind Thorluk und Kalla … Götter der Dämonen?« »Mehr so etwas wie Adam und Eva«, erklärte Cal. »Sie waren die allerersten Dämonen. Vielleicht sind sie aus Göttern entstanden. Das weiß niemand. Aber sie waren die Mächtigsten, die jemals lebten. Das heißt, vielleicht leben sie immer noch. Jedenfalls sind sie die einzige Institution, die alle Dämonen bedingungslos als übergeord net anerkennen.« »Und nachdem wir die Zehn Mächtigen Fürsten beruhigt haben, können wir unser Leben hier einrichten und genießen.« Er legte den Arm um die Schultern seiner Tochter. »Carana, wegen deines eigenen Hauses … Willst du denn nicht bei uns leben? Wir sind doch deine Familie.« Sie lehnte sich an ihn. »Und das werdet ihr auch immer bleiben. Ich ziehe nicht weit weg. Und ich werde euch oft genug besuchen. Schließlich brauche ich immer noch Unterstützung in der Ausbil dung meiner Magie.« »Warum willst du dann nicht bei uns wohnen?«, beharrte Cal. »Vater, es ist in nur acht Wochen so viel passiert mit mir. Ich bin nicht mal mehr ein Mensch. Ich brauche einfach Abstand, um mein neues Leben zu ordnen. Ich brauche einen neuen Arbeitsplatz …« »Den wir dir mit Hilfe des Arrod’Sha beschaffen können. Welchen
immer du haben willst. Wo wir seiner Magie doch schon unsere neuen Papiere verdanken und das Geld für das Haus.« Carana nickte. »Ich werde darauf zurückkommen, sobald ich weiß, was ich machen will.« Cassilya hakte sich bei ihr unter. »Caelu und ich werden wieder eine Agentur für Callboys und -girls aufmachen. Da ist natürlich immer auch ein Platz für dich, große Schwester.« Carana lachte. »Nein, danke! Geht ihr ruhig diesem Beruf nach. Für mich ist das nichts.« »Du könntest Teilhaberin in meinem Tattoo-Studio werden«, bot ihre Tante Cayuba an. »Würde mich freuen.« »Oder du könntest mit mir zusammen dein künstlerisches Talent entdecken«, fügte Cal hinzu. »Ich werde mich mal als Galerist betä tigen. Oder so was Ähnliches.« »Bestimmt hätten Tante Catunua und Casdiru auch einen Job für sie«, meinte Camiyu ironisch. »Falls die nicht schon wieder nach Kairo zurückgekehrt wären. Und Camulal arbeite auf einem Kreuz fahrtschiff. Der kann ihr bestimmt auch einen Job verschaffen.« Alle lachten. »Ich habe schon verstanden«, erklärte Cal und drückte Carana noch einmal an sich. »Du wirst schon deinen eigenen Weg finden. – Wir sollten jetzt mal langsam anfangen uns häuslich einzurichten. Vor allem sollten wir als Erstes die Geister vertreiben, die das Haus als Domizil gewählt haben.« Sie gingen hinein. »Und welche Pläne hast du, Camiyu?«, fragte Carana ihren Cou sin. »Da ich dank des Arrod’Sha nun unter anderem die ausgeprägte Fähigkeit habe, meinen Geist mit dem von Tieren zu verbinden, wollte ich es als Tiertrainer und Pferdeflüsterer versuchen. Das ist mal was anderes.«
Carana nickte. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass das zu dir passt.« »Carana«, sagte Camiyu. »Ich werde mir auch etwas Abstand von der Familie schaffen.« Er sah ihr in die Augen und sie gewahrte in seinen einen überaus zärtlichen Schimmer. »Ich kann mir natürlich etwas Eigenes suchen. Aber … ich würde mich sehr freuen, falls du in deinem künftigen Domizil auch einen kleinen Platz für mich hät test.« Sie lächelte und nahm seine Hände in ihre. »Camiyu, als ich sagte, dass ich mein eigenes Leben führen will, meinte ich damit nicht un bedingt, dass ich dieses Leben allein führen möchte. Ich … würde mich sehr freuen, es mit dir zu teilen.« Er blickte sie fragend an. »Heißt das, was ich hoffe, dass es heißt?« Sie lachte, nahm ihn in die Arme und küsste ihn. »Ich schlage vor, wir finden es gemeinsam heraus.« Und auf einmal schien alles so einfach zu sein. Während Kara MacLeod in Schottland zurückgeblieben war, hatte Rhu’Carana in einem anderen Land ihren Platz gefunden. Und vielleicht sogar die Erfüllung eines Herzenswunsches … ENDE