M'Raven
Dämonenjagd Version: v1.0
John Smith sah unauffällig zu der rothaarigen Frau hinüber, die in der Wartehalle d...
42 downloads
522 Views
553KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
M'Raven
Dämonenjagd Version: v1.0
John Smith sah unauffällig zu der rothaarigen Frau hinüber, die in der Wartehalle des Flughafens von Edinburgh saß und auf ihren Abflug wartete. Es war noch sehr früh am Tag, erst vier Uhr morgens. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Entspre chend wenige Passagiere saßen in der Halle. Eine große Menge wäre ihm sehr viel lieber gewesen. Die Menge hätte verdeckt, was er vorhatte. An schließend hätte er in ihr untertauchen und uner kannt verschwinden können. Doch es ging auch so. Er musste nur Geduld haben …
Er beobachtete die Rothaarige seit einigen Tagen und wartete auf seine Chance. Bisher war er nicht an seine Zielperson herangekom men, weil sie ständig in Begleitung gewesen war. Beim ersten Mal war ein rothaariger Mann bei ihr gewesen, der Ähnlichkeit zwischen den beiden nach zu urteilen ihr Bruder. Sie hatten sich kaum jemals getrennt. Doch John Smith hatte Geduld. Später war er ihnen nach Inverness gefolgt, wo sie im Haus ihrer Familie wohnte. Letzte Nacht hatte sie es endlich allein verlassen und war nach Edinburgh gefahren. Smith glaubte sich endlich am Ziel, als sie ihren Wagen offenbar grundlos abstellte und zu Fuß durch die menschenleeren Straßen schlenderte. Aber sein Auftrag schien vom Pech verfolgt zu sein. Als die Ge legenheit zum ersten Mal günstig genug zum Zuschlagen gewesen war, tauchte plötzlich dieser dunkelhaarige Kerl auf, der für Smiths darauf geeichte Sinne regelrecht nach Polizei stank und schleppte sie in seine Wohnung ab. Nachdem sie die vor einer knappen Stunde endlich verlassen hatte, hoffte Smith, dass seine Zeit nun bald gekommen sein würde. Falls er sie nicht im Gedränge einer Menschenmenge unbemerkt eliminieren konnte, dann spätestens, wenn sie hier oder an Bord oder an ihrem Zielort eine Toilette aufsuchte. Sie würde ihm nicht entkommen. Er war ein Profi und die Frau praktisch schon tot …
* Kara MacLeod sah ungeduldig abwechselnd zur Anzeigetafel des Flughafens und auf ihre Armbanduhr. Doch die Zeit verging einfach nicht schneller, egal wie sehr sie beides zu hypnotisieren versuchte. Ihr Flug nach Paris ging in einer halben Stunde. Sie konnte es kaum erwarten, an Bord des Fliegers und in der Luft zu sein. Jede Minute,
die bis dahin verstrich, konnte ihre Verfolger auf den Plan rufen und ihre Flucht verhindern. Ja, sie musste fliehen. Es gab keinen anderen Ausweg. Der Ge danke erfüllte sie mit tiefer Traurigkeit, die ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie unterdrückte sie tapfer. Sie würde für den Rest ih res Lebens genug Zeit haben, sich die Augen auszuweinen. So vieles war in nur wenigen Wochen passiert! Ihr ganzes Leben war ein einziger Trümmerhaufen. Sie hatte aus heiterem Himmel erfahren, dass sie ein Adoptivkind war. Eine Bruderschaft fanatischer Mönche hatte versucht, sie um zubringen. Ihre leibliche Familie hatte sie ausfindig gemacht und zu sich geholt – und Kräfte in ihr geweckt, die Kara niemals hatte haben wollen. Denn ihr Vater war ein Inkubus – ein Sexdämon – und hatte sie und ihren Zwillingsbruder Kyle mit einem seiner weiblichen Opfer gezeugt. Zu Karas Entsetzen waren auch in ihr das Dämonenblut mit all seinen magischen Kräfte erwacht und hatten sie zum Sukku bus gemacht. Seitdem musste sie sich alle zwei bis drei Tage zusätzlich zur nor malen Nahrung auch von Sexualenergie ernähren und zu diesem Zweck mit irgendeinem Mann schlafen und die während des Akts erzeugte Energie in sich aufnehmen. Tat sie es nicht, verhungerte sie ebenso, wie wenn sie Essen und Trinken verweigerte. Kara hasste den Sukkubus in sich. Sie hatte nie zu Promiskuität geneigt und war immer eine glühende Verfechterin von Monogamie und Treue gewesen. Sie hatte immer davon geträumt, eines Tages eine ganz normale Familie zu haben, einen Ehemann und mindes tens zwei oder drei Kinder. Als Sukkubus war das nicht mehr möglich. Ihre Eltern hatten das Experiment gewagt und es hatte ihre menschliche Mutter das Leben gekostet. Die Bruderschaft des Reinen Lichts hatte sie ermordet, deren einziges Ziel und einziger Existenzgrund es war, Karas Familie aus
zulöschen. Diese war der Erbe eines machtvollen magischen Kris talls, dessen Kraft an das Blut der Dämonen-Familie Rhu’u ge bunden war. Erst wenn der letzte Rhu’u tot war, würde seine Macht erlöschen. Kara hatte in einer Art geistiger Reise in die Vergangenheit die Ge schichte ihre Familie seit ihrer Gründung vor über dreitausend Jah ren miterlebt. Die Macht des Kristalls war unbeschreiblich. Als Waffe eingesetzt konnte er eine Verwüstung anrichten, gegen die die Wirkung einer Atombombe harmlos war. Allerdings war der Kristall vor gut zweitausend Jahren von anderen Dämonen in neun Teile zersplittert worden, die sie an schließend in verschiedenen Dimensionen vor den Rhu’u versteckt hatten. Im Laufe der Zeit war es Karas Familie gelungen, fünf dieser Splitter zu finden. Wenn sie auch die restlichen vier in ihren Besitz bringen konnten, würden sie den Kristall wieder zusammenfügen und seine Macht benutzen können. Kara war sich sicher, dass ihr Vater, ihr Bruder, ihre Halb schwester und ihre Tante diese Macht nicht missbrauchen würden. Aber da gab es noch eine zweite Fraktion der Rhu’u: die Familie Bashir – Catena, Kassim und Kamal. Kassim hatte Kara aufgesucht und versucht, sie mit Halbwahrheiten ihrer neu gefundenen Familie zu entfremden und auf die Seite der Bashirs zu ziehen. Die wollten die Macht des Kristalls nutzen, um entweder die Unterwelt, aus der sie stammten, oder die Welt der Menschen zu beherrschen. Das konnte Kara auf keinen Fall zulassen. Sie war die entscheide Person, von der es abhing, ob der Kristall jemals wieder zu sammengefügt werden konnte. Es hatte alles mit irgendwelchen ma gischen Gesetzmäßigkeiten zu tun, von denen Kara noch nicht allzu viel begriff. Tatsache war zum einen, dass es niemals mehr als neun Rhu’u gab; manchmal weniger, aber niemals mehr. Das hing damit zu sammen, dass es Neun gewesen waren, mit deren Blut der Kristall
Arrod’Sha erschaffen worden war. Solange alle neun lebten, konnte kein weiterer Rhu’u geboren werden. Dazu kam zum anderen die Tatsache, dass es auch aller Neun bedurfte, um die Splitter wieder zusammenzufügen. Kara wusste mit absoluter Sicherheit, ohne sagen zu können wo her, dass die fehlenden Teile in absehbarer Zeit gefunden werden würden. Und sobald der Kristall wieder ganz war, würden die Ba shirs versuchen, ihn für ihre Zwecke einzusetzen. Kara befürchtete einen daraus resultierenden Familienkrieg, der möglicherweise so gar in familiärem Blutvergießen enden konnte – von den möglichen Folgen für die Menschheit gar nicht zu reden. Nach langem Überlegen war sie zu dem Schluss gekommen, dass es nur einen einzigen Weg gab, die Vereinigung des Kristalls wenigstens zu ihren Lebzeiten zu verhindern: Sie musste verschwinden und sich irgendwo auf der Welt vor ihrer Familie ver stecken, so dass diese sie nicht finden würde. Sie hoffte, dass sie in den vergangenen Wochen genug über magische Abschirmzauber gelernt hatte, um das zu schaffen. Doch solange sie sich dessen nicht sicher sein konnte, blieb ihr nur die Möglichkeit, ständig in Bewegung zu bleiben, von einem Ort zum anderen zu ziehen und sich nie länger als einen Tag dort aufzu halten. Das allein würde schon eine kleine Hölle für einen so häusli chen und erdgebundenen Menschen wie Kara sein. Dazu kam noch die für sie viel schlimmere Hölle ihres zukünf tigen Broterwerbs. Sie hatte ihr Konto restlos leer geräumt. Darauf war zwar eine nicht unbescheidene Summe gewesen; aber sie reich te nicht ewig, denn Reisen war teuer. Irgendwann musste sie neues Geld verdienen. Es gab aber nur sehr wenige Jobs für einen Tag oder ein paar Stunden, die sie annehmen konnte. Also blieb als einziger Ausweg, dass sie ihre sukkubische Nahrungsaufnahme gleichzeitig zur Geldquelle machte und sich ihre ›Dienstleistungen‹ von ihren Opfern bezahlen ließ.
Allein bei dem Gedanken empfand Kara Abscheu, obwohl dieser Gelderwerb in ihrer Familie Tradition hatte. Sowohl ihr Bruder Kyle wie auch ihre Halbschwester Kassandra arbeiteten ungeniert und ganz legal mit Lizenz und Steuererklärung als Callboy und Callgirl. Und sie würde für die nächste Zeit wohl auch auf diesen ›Beruf‹ zu rückgreifen müssen. Alles andere war zu gefährlich. Ihre Familie verfügte über ma gische Praktiken – von Scrying über Pendeln bis zu Suchritualen und dergleichen mehr –, mit denen sie Gegenstände und Menschen ausfindig machen konnten, egal wo die sich befanden. Außerdem konnten die Volldämonen unter ihnen in einer Art Teleportation in nerhalb von Sekunden von einem Ort zum anderen springen. Mit anderen Worten: Sobald sie Kara irgendwo aufgespürt hatten, konn ten sie in wenigen Minuten dort sein und sie zurückholen. Zwar glaubte Kara nicht, dass ihre Familie gegen sie Gewalt anwenden würde – nicht die MacLeods! Bei den Bashirs war sie sich dagegen nicht sicher. Kassim – oder Rhu’Casdiru –, der einzige Vertreter, den sie bisher kennen gelernt hatte, erschien ihr nicht nur verlogen, sondern auch skrupellos genug dazu. Und ihres Vaters Meinung über dessen Mutter Catu nua, seine Cousine zweiten Grades, war denkbar schlecht. Also war es besser, wenn Kara kein Risiko einging. Ihre ganze Flucht war schon riskant genug. Und sie war sich nicht sicher, ob sie das alles durchstehen würde. Sie warf einen erneuten Blick zur Uhr. Ihr Flug musste in ungefähr zwanzig Minuten aufgerufen werden. Zeit genug, um vorher noch einmal die Toilette aufzusuchen. Sie stand auf und ging zu den Waschräumen hinüber. Dabei sah sie sich ständig um, ob sie irgend wo jemanden von der Familie entdeckte. Oder Jarod Kane, Polizist und Jäger des Bösen, den sie erst vor wenigen Stunden von ihrer Harmlosigkeit und der ihrer Familie überzeugt hatte, wie sie hoffte. Sie hatte immer noch leise Zweifel, ob ihr das wirklich gelungen war.
Ein Grund mehr, aus dem Land zu verschwinden …
* John Smith war ein zu geübter Profi, um sich seine Freude über die günstige Gelegenheit mit der Regung eines einzigen Muskels anmerken zu lassen. Gelassen faltete er die Zeitung zusammen, in der er vorgegeben hatte zu lesen, als die Rothaarige aufstand und zu den Waschräumen hinüberging. Er tat, was jeder normale Reisende zu tun pflegte. Er sah auf seine Armbanduhr, studierte daraufhin die Anzeigetafeln, warf eine nachdenklichen Blick zu den Toiletten hinüber und ging schließlich ohne Hast darauf zu. Jetzt war es ein Vorteil, dass nur so wenig Passagiere auf ihre Ab fertigung warteten. Smith hatte niemanden sonst in den Waschräu men verschwinden sehen. Das bedeutete, er und die Rothaarige würden allein dort sein. Er öffnete die Tür zum Vorraum, der die Herren- und Damentoi letten trennte. Er war leer. Vorsichtig und beinahe lautlos schob er die Tür zur Damentoilette auf. Dort stand sein Opfer am Waschbe cken, drehte ihm den Rücken zu und schaute nicht einmal in den Spiegel. Smith zog lautlos seine Pistole. Im selben Moment fuhr die Rothaarige herum – und John Smith sah plötzlich seinem eigenen Tod ins Auge …
* Kara hörte nicht, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde. Doch sie spürte die plötzliche Gefahr mit einer Intensität, die sie herumfahren ließ und etwas in ihr weckte, das sie noch nie gespürt hatte.
Hinter ihr stand ein Mann mit einer Pistole in der Hand und zielte auf sie – und das Etwas in ihr schlug augenblicklich zu! Es griff nach dem Mann, presste ihm die Arme an den Körper und paralysierte ihn. Seine Augen weiteten sich in panischem Entsetzen, aber das Etwas war noch nicht zufrieden. Es saugte sich an ihm fest und sog das Leben aus ihm. Smith kam nicht einmal mehr dazu zu schreien. Er spürte nur noch, wie er immer schwächer wurde. Seine Haut bekam erst Falten, dann tiefe Furchen. Sein Haar wurde schneeweiß, die Sehfähigkeit ließ im selben Maß nach wie seine Kraft. Die Pistole klapperte zu Boden. Als seine Beine nachgaben und er zu Boden stürzte – zu schwach, um je wieder aufzustehen – war er ein uralter Greis. Die Rothaarige trat langsam auf ihn zu und starrte ihn aus glü henden grünen Augen mitleidlos an. Smith begriff, dass sein Leben zu Ende war. Man hatte ihn gewarnt, dass diese Frau kein Mensch, sondern der Teufel persönlich sei. Er hatte darüber nur gelacht. Jetzt lachte er nicht mehr … »Wer hat Sie geschickt?«, fragte sie kalt. »Warum wollten Sie mich umbringen?« Smith war zu entsetzt, um noch an seinem Grundsatz, niemals sei nen Auftraggeber zu verraten, festhalten zu können. »… Bruderschaft vom … Reinen Licht«, krächzte seine zittrige Greisenstimme kaum hörbar und bettelte im nächsten Augenblick sinnlos um sein Leben. »Hilfe … bitte …« Die Rothaarige schnaufte nur verächtlich, wandte sich ab und ließ ihn liegen.
* Kara stürzte aus dem Waschraum und musste an sich halten, um sich nicht zu übergeben, wo sie stand. Sie begriff nicht, was soeben
passiert war. Sie erfasste nur, dass sich in Todesgefahr ein Verteidi gungsmechanismus entfaltet hatte, der sehr wirkungsvoll und sehr tödlich war. Er hatte sie mit einer schier unermesslichen Energie versorgt. Aber nicht ohne Nebenwirkung. Zusammen mit der Energie hatte sie einige elementare Teile des Wesens dieses Mannes eingesogen, die sie jetzt überdeutlich spürte. Seine Gefühlskälte, seine Mordlust, seine Menschenverachtung. Sie fühlte sich zutiefst davon abge stoßen und wollte es auf der Stelle wieder loswerden. Doch sie wusste nicht wie – falls es überhaupt möglich war … Jetzt hätte sie gerne jemanden von ihrer Familie bei sich gehabt. Kyle oder ihr Vater wüssten sicherlich Rat. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit dieser Misere und allen ähnlichen, die da noch folgen mochten, allein fertig zu werden. Ihr Flug wurde aufgerufen und sie eilte zur Schleuse. Wenig spä ter saß sie im Flugzeug. Als es endlich abhob, ohne dass jemand von ihrer Familie oder der Polizei gekommen war und sie wieder her ausgezerrt hatte, schloss sie die Augen und versuchte ein wenig zu schlafen. Sie hatte das Gefühl, dass sie all ihre Kraft noch brauchen würde …
* Jarod Kane hörte sich schweigend den Bericht an, den ein Constabler ihm am Telefon gab. »Wir haben ihn am Flughafen im Waschraum gefunden. Laut sei nem Pass ist der Mann 39 Jahre alt. Aber er sieht aus wie hundert und schon dreimal gestorben. Und er faselt dauernd etwas von einem rothaarigen Teufel. Ich dachte, das könnte vielleicht was für Ihr Department X sein, Sir. Sie beschäftigen sich doch mit so was.« »Department of Occult Crimes«, verbesserte Jarod automatisch. Er
wusste sehr wohl, dass man seine neu gegründete Spezialabteilung in Anlehnung an die Serie ›Akte X‹ kurz ›Department X‹ und ihn selbst ›Mulder‹ Kane nannte. »Ich sehe mir den Mann mal an.« Was der Constabler beschrieb, passte zu vier Fällen rapider und unnatürlicher Alterung, die ihm vor einigen Wochen aus Elgin ge meldet worden waren. Inzwischen wusste er, dass Kara MacLeod dafür verantwortlich war. Es handelte sich um eine Nebenwirkung ihrer neu erwachten Sukkubus-Kräfte, die sie damals noch nicht be herrscht hatte. Sie hatte ihm aber gestern versichert, sie jetzt im Griff zu haben. Außerdem hatte sie ihren vier Opfern ihre Lebenskraft und Jugend kurz danach weitgehend wieder zurückgegeben. Aber das hier? Was mochte da passiert sein? Als Jarod eine Stunde später im Krankenhaus eintraf, in das man den Mann mit Namen John Smith gebracht hatte, sah er sich einem lebenden Leichnam gegenüber. Sein Mitleid mit diesem Mann hielt sich allerdings in sehr engen Grenzen. Inzwischen hatte ein Ab gleich der von ihm genommenen Fingerabdrücke ergeben, dass er für mindestens achtzehn Morde weltweit verantwortlich war. Bisher hatte man ihn nur noch nicht erwischt. Und natürlich hieß er nicht ›John Smith‹. Jarod setzte sich neben das Bett. »Könnte es sein, Mister Jeremia, Cuthbert«, konfrontierte er den Killer mit dessen richtigem Namen, »dass Ihr letztes Opfer den Spieß umgedreht hat?« Jeremia Cuthbert wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Und der Horror seiner Begegnung mit Kara MacLeod machte ihn erstaunlich gesprächig. »Die Rothaarige …«, krächzte seine Greisenstimme kläglich, »ist der Teufel! Ich … sollte sie eliminieren … Auftrag von der Bruder schaft vom Reinen Licht … Teufel … hat mein Leben ausgesogen …« Tränen liefen ihm über die verrunzelte Wange. Jarod verzog den Mund. »Betrachten Sie es als ausgleichende Ge rechtigkeit für all die Menschen, deren Leben Sie beendet haben.
Wir werden ein Protokoll aufsetzten, das Sie unterzeichnen, worin Sie bezeugen, dass diese Bruderschaft Sie beauftragt hat.« Er beugte sich zu ihm hinunter. »Und wenn Sie sich weigern, lasse ich den rothaarigen Teufel noch mal auf Sie los. Kapiert?« Cuthbert nickte. Jarod ließ ihn allein und veranlasste alles Nötige. Leider zu spät. Noch ehe seine Aussage aufgenommen werden konnte, war Jeremia Cuthbert tot, gestorben an Altersschwäche im Alter von 39 Jahren.
* Caleb MacLeod – Rhu’Calibor – saß im Wohnzimmer seines Hauses in Inverness und sorgte sich um seine Tochter Carana – Kara. Sie hatte in einem Abschiedsbrief erklärt, weshalb sie ihre Familie verlassen hatte. Cal konnte es einerseits verstehen. Andererseits hatte sie sich damit in große Gefahr begeben. Ihre magischen Fähig keiten waren noch zu untrainiert, als dass sie allein zurechtkommen konnte. Die Bruderschaft des Reinen Lichts war immer noch hinter ihr her. Sie besaßen eine Art Seher, der die Rhu’u aufspüren konnte, sobald sie ihre Aura nicht fest unter einem magischen Schutzschild hielten. Den konnte Carana aber noch nicht ständig aufrecht halten. Außerdem waren da noch die Bashirs. Seine Cousine Catunua be saß die Gabe des Hellsehens. Da Carana für sie ungeheuer wichtig war, würde sie alles daransetzen, sie ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Und Cal mochte nicht daran denken, wie dieser Kon takt enden würde, falls Carana sich nicht angemessen kooperativ zeigte. Zwar würden sie sie nicht umbringen, aber … Er musste sie finden und in Sicherheit bringen, bevor sie der Bru derschaft oder den Bashirs in die Hände fiel – falls es dazu nicht längst zu spät war.
Sein Sohn Caelu trat ins Zimmer. Als Caranas Zwilling hatte er die stärkste Bindung zu ihr und konnte sie besser aufspüren als der Rest der Familie. Doch Cal sah ihm an, dass er keine guten Nachrichten brachte. »Sie hat in Edinburgh ein Flugzeug nach Paris genommen«, be richtete er seinem Vater. »Von dort ist sie nach Budapest geflogen und anschließend weiter nach Kairo. Und dort ist sie verschwunden wie vom Erdboden verschluckt. Ich kann sie nicht mehr aufspüren.« Cal stöhnte. »Ausgerechnet Kairo! Wir hätte sie warnen sollen, dass dort die Bashirs ihr Hauptquartier haben.« Er sah seinen Sohn an. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass sie bei ihnen ist?« Caelu schüttelte den Kopf. »Außer dass ich das abrupte Abbre chen ihrer Spur dort für mehr als nur einen Hinweis halte. Ich bin mir sicher, sie ist bei ihnen. Aber bestimmt nicht freiwillig!« Cal schüttelte den Kopf. »Sicher nicht«, stimmte er zu. »Was tun wir, Vater?« Rhu’Calibor dachte nach. »Zweifellos werden sie jetzt nicht mehr in Kairo sein, weil sie wissen, dass wir sie dort zuerst suchen werden. Eigentlich könnten sie im Moment überall auf der Welt sein. Aber wir werden Carana trotzdem finden. Wir haben sie schon einmal gefunden. Das Band des Blutes kann durch keinen Zauber abgeschirmt oder gar zerschnitten werden.« Caelu nickte. »Der Mond steht heute Nacht günstig für das Ritual. Ich bereite mich gleich darauf vor.« Er zögerte. »Ich mache mir große Sorgen«, gestand er dann. »Ich fühle, dass sie lebt. Aber …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, mein Junge.« Cal legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun.«
*
Kairo empfing Kara mit einer unglaublichen Hitze und sie war froh, dass sie nicht lange auf ihren Anschlussflug nach Bombay warten musste. Sie hatte es für das Beste gehalten, sich erst am jeweiligen Zielort für die nächste Etappe zu entscheiden und hatte jedes Mal den ersten Flug gewählt, der nach ihrer Landung abhob. Und der nächste von Kairo aus ging nach Bombay. Kara betrat die Wartehalle und sah sich nach einem Restaurant um, in dem sie etwas essen und vor allem trinken konnte. Sie hatte furchtbaren Durst. Im selben Moment spürte sie eine Präsenz, noch ehe sie die Stimme hörte. »Hallo, Carana!« Hinter ihr stand Kassim Bashir und lächelte sie gewinnend an. »Schön, dass du uns besuchen kommst. Meine Mut ter hat dich schon erwartet.« »Tatsächlich?« Kara war misstrauisch. »Das kann nicht sein. Ich wusste vor ein paar Stunden selbst nicht mal, dass ich nach Kairo kommen würde.« Falls die Bashirs tatsächlich hier wohnten, hätte sie sich keinen schlechteren Ort aussuchen können. »Aber meine Mutter wusste es. Sie kann hellsehen.« Falls das der Wahrheit entsprach, erklärte das natürlich, dass er hier als Empfangskomitee auftauchte. »Sie hat mich geschickt, dich in unser Haus einzuladen«, fuhr er fort. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit, Kassim. Mein Flugzeug geht in einer knappen Stunde.« »Du kannst auch das nächste nehmen«, schlug er mit einem ge winnenden Lächeln vor. »Willst du nicht den Rest deiner Familie kennen lernen?« Kara fiel nicht darauf herein. »Was willst du, Kassim? Ganz ehr lich: Ich möchte mit euch nicht unbedingt was zu tun haben. Bei un serer letzten und zum Glück einzigen Begegnung hast du mich
belogen. So was mag ich nicht.« »Hat dir das dein Vater gesagt? Es sollte dir eigentlich klar sein, dass er uns … nun … nicht gerade wohl gesonnen ist.« »Nein, Kassim, das hat mir das Wissen des Blutes verraten. Ich weiß Bescheid.« Er zuckte mit den Schultern. »Trotzdem solltest du uns als deinen Verwandten wenigstens die Höflichkeit eines Kurzbesuchs ver bunden mit einer Tasse Tee erweisen.« »Danke, aber danke nein!«, sagte Kara mit Nachdruck. »Tut mir Leid, das zu hören, Carana.« Der Levin-Pfeil, ein magischer Energieblitz, der einen Menschen töten oder nur betäuben konnte, traf sie vollkommen unvorbereitet. Kassim fing sie auf, ehe sie zu Boden stürzte und verschwand durch die Dimensionen unbemerkt mit ihr aus der Wartehalle …
* Als Kara erwachte, befand sie sich in einem fremden Zimmer und lag auf einem Bett. Sonnenlicht fiel durch ein Fenster herein und malte ein Gittermuster auf den Boden. Gitter? Kara wandte den Kopf und sah zum Fenster hin. Es war tatsächlich vergittert. Von der anderen Seite ertönte das leise Lachen einer Frau. »Wie du siehst, Rhu’Carana, ist ein Entkommen unmöglich.« Kara richtete sich vorsichtig auf. Außer einem leichten Schwindelgefühl ging es ihr gut. Sie warf der Frau einen finsteren Blick zu. »Rhu’Catunua, nehme ich an.« Die Angesprochene nickte. »Oder Catena Bashir für die Men schen.« Sie war wunderschön und sah keinen Tag älter aus als fünfund
dreißig. Da ihr Sohn Kassim aber, wie Kara wusste, fast 250 Jahre zählte, musste sie noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel haben. Ihr langes Haar reichte ihr bis zu den Hüften und war von einem so dunklen Rot, dass es beinahe schwarz wirkte. Sie saß mit einer lässigen Eleganz in einem Sessel, um die Kara sie beinahe beneidete. Ihre beiden Söhne standen wie Leibwächter links und rechts neben ihr. »Casdiru kennst du ja schon«, sagte Catena. Sie deutete auf den Mann zu ihrer Linken. »Und das ist Camulai oder Kamal, wie du willst.« Kamal verbeugte sich leicht und lächelte ihr zu. »Was willst du, Catena?«, fragte Kara mit mehr Gelassenheit als sie fühlte. »Casdiru hat mir erzählt, dass du das Wissen des Blutes erlangt hast. Also weißt du doch genau, was ich will. Was wir wollen.« »Ich möchte es aber gern von dir im Detail hören. Es gibt da näm lich so einige Dinge, die ich immer noch nicht ganz verstehe.« Catenas grüne Augen leuchteten auf. Wahrscheinlich hoffte sie, Kara doch noch überzeugen zu können. »Nun, du weißt, dass wir die Erben des Arrod’Sha sind. Mit seiner Macht, sobald er wieder ganz ist, können wir alles erreichen, was wir wollen. Und du wirst ein Teil davon sein. Er ist auch dein Erbe.« »Das ist mir bekannt. Aber wozu wollt ihr ihn benutzen?« Catena zuckte mit den Schultern. »Nun …« Sie unterbrach sich und lachte. »Ich will offen sein, Carana. Wir können uns unsere Vor machtstellung, die unsere Familie einst im Dämonenreich hatte, wieder zurückholen. Oder wir können uns hier unter den Menschen eine Stellung schaffen, die uns mehr Macht gibt, als du dir bisher hast träumen lassen.« Kara schüttelte den Kopf. »Ich habe die Unterwelt gesehen, aus der wir stammen. An dem Ort will und werde ich ums Verrecken nicht leben.«
Catena zuckte mit den Schultern. »In dem Fall bauen wir uns hier was auf. Mit dem Arrod’Sha ist das ganz leicht möglich.« »Und weil die MacLeod-Fraktion der Familie geschlossen zu stark ist und du gegen uns nicht ankommst, willst du mich auf deine Seite ziehen«, stellte Kara fest. »Das funktioniert nicht, Catena. Kassim hat mir vorgelogen – in deinem Auftrag, nehme ich an –, dass mein Vater derjenige wäre, der unsere frühere Stellung in der Unterwelt zurückerobern will. In Wahrheit bist du es. Und weißt du, liebe Tante Catena, das disqualifiziert euch als meine Bundesgenossen. Außerdem habt ihr mich entführt und haltet mich hier gegen meinen Willen fest. Das disqualifiziert euch doppelt. Also schlag dir meine Mithilfe bei euren Plänen aus dem Kopf.« Catena lächelte nachsichtig und erhob mit einem eleganten Schwung aus dem Sessel. »Ach Kind, du wirst mich unterstützen. Ob du willst oder nicht.« Sie deutete mit einem Finger auf ihre Gefangene. Ein grüner Blitz schoss heraus, hüllte Kara ein und tauchte jede Fa ser ihres Körpers in ein Flammenmeer aus Schmerzen. Sie schrie auf und versuchte vergeblich, dem Blitz zu entkommen. Catena lächelte immer noch. »Mutter! Hör auf!« Kamal fiel ihr in den Arm und der Blitz verschwand. Kara stürzte zu Boden. Catena fuhr zu ihrem Sohn herum herum. »Was fällt dir ein, Ca mulai!« »Sie ist eine Verwandte, Mutter«, wandte er ein. »Und sie hat in einem Punkt Recht. Wir gewinnen ihre Kooperation nicht, indem wir sie foltern!« »Nun gut. Lassen wir das fürs Erste. Es gibt noch andere Möglich keiten.« Sie rauschte hinaus und Kassim folgte ihr. Kamal blieb zurück und half Kara, sich wieder auf das Bett zu
legen. »Tut mir Leid«, flüsterte er, eilte seiner Mutter nach und schloss die Tür hinter sich ab. Kara wartete, bis der Schmerz in ihrem Körper abgeebbt war. Schließlich raffte sie sich auf, stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Zu ihrer Überraschung war dort draußen nicht die von Hitze flirrende Landschaft Ägyptens, sondern ein Wald- und Heidegebiet, das aussah wie die schottischen Highlands. Sie öffnete das Fenster. Die Luft, die hereinströmte, war kühl und würzig und trug tatsächlich den vertrauten Duft der Highlands. Sie war also wieder in Schottland. Aber wie war sie hierher gekommen? Wahrscheinlich hatten die Bashirs sie mittels Teleportation herge bracht. Alles andere machte keinen Sinn. Das Haus, in dem sie sich befand, schien irgendwo allein weitab jeder Ansiedlung zu liegen. Und es war mit Sicherheit magisch so gut abgeschirmt, dass die MacLeods sie nicht würden orten können. Kara bewunderte widerwillig Catenas Scharfsinn. Mit Sicherheit würde ihre Familie nicht im Traum auf den Gedanken kommen, dass die Bashirs in Schottland quasi unter ihrer Nase saßen. Ob sie schon wussten oder wenigstens ahnten, dass Kara dem anderen Fa milienzweig in die Hände gefallen war? Sie hoffte es. Aber sie konnte sich nicht darauf verlassen! Sie musste selbst einen Weg hier heraus finden. Zunächst einmal rief sie sich alle Informationen ins Gedächtnis, die sie über die Ba shirs, besonders Catena, hatte. Sie war, für sich allein genommen, auf magischem Gebiet die Stärkste der Rhu’u. Aber auch mit ihren Söhnen als Bundesgenossen waren alle MacLeods zusammen ihr überlegen. Kassim stand voll auf der Seite seiner Mutter. Kamal dagegen … Kara hatte den Eindruck, dass er eher ein Mitläufer war, der seiner Mutter aus Gewohnheit oder auch aus Angst gehorchte, aber nicht unbedingt auf ihrer Seite stand. Doch darauf wollte sie keinen Fluchtplan aufbauen. Aber sie konnte etwas tun. Sie konnte mit ihrem Geist versuchen,
Kyle durch das Band des Blutes zu erreichen, das sie intensiv teilten. Wenn sie es schaffte, würde die Familie wissen, wo sie sie suchen musste. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und versetzte sich in Trance, wie ihr Vater es sie gelehrt hatte …
* Jarod Kane blickte auf die alte Mauer des Klosters St. George the Pure, die alles andere als einen einladenden Eindruck machte. Sie sah im Gegenteil sehr abweisend aus und ließ ihn ahnen, was ihn wahrscheinlich im Innern erwarten würde: Ablehnung. Er betätigte die verrostete Klingel an der Pforte. Zu seiner Überra schung musste er nicht lange warten, bis ihm geöffnet wurde. Er hielt dem ältlichen Mönch, der ihn zurückhaltend begrüßte, sei nen Polizeiausweis unter die Nase. »Chief Inspector Jarod Kane vom Scotland Yard. Ich möchte den Abt sprechen. Es handelt sich um eine polizeiliche Ermittlung.« Der Mann ließ ihn ein und bedeutete Jarod mit einer Handbewe gung, ihm zu folgen. Der Innenhof des Klosters bestand aus einem ausgedehnten Garten, in dem Obst, Gemüse und Kräuter angebaut wurden. Die Bruderschaft des Reinen Lichts versorgte sich weitge hend selbst, wie Jarod recherchiert hatte. Sie kamen nur selten in das nahe gelegene Dorf Shieldaig. Einmal im Jahr brachten sie ihren selbst gemachten Cidre, Kräuterseifen und Heilkräuter zum Verkauf und kauften alle drei Monate ein paar Vorräte. Den Rest des Jahres lebten sie für sich in ihrem Gemäuer im Glenshieldaig Forest am Loch Lundie. Doch trotz der Abgeschiedenheit waren sie modern eingerichtet und verfügten über alle Annehmlichkeiten der Zivilisation. Strom, fließend Heißwasser, Telefon, Radio und Computer. Der Abt – ein hagerer, weißhaariger Mann von sicherlich über
siebzig Jahren – empfing Jarod in seinem Arbeitszimmer mit einem: »Gelobt sei Jesus Christus! Was können wir für Sie tun, Chief In spector?« »Nun, Sie könnten mir vielleicht etwas erklären. Erstens liegt uns eine Anzeige einer Kara MacLeod vor, die Sie der Freiheitsberau bung und des versuchten Mordes beschuldigt. Sie beschuldigt Sie ebenfalls, vor 28 Jahren ihre Mutter ermordet zu haben.« Das stimmte zwar nicht, denn Kara hatte auf eine Anzeige verzich tet mit der Begründung, dass die Brüder sowieso zusammenhalten und alles abstreiten würden. Aber er wollte die Reaktion des Abts sehen. Dessen Gesicht war eine interessante Studie von Entrüstung, Fassungslosigkeit und Zorn, ehe er sich fasste und eine Maske from mer Rechtschaffenheit aufsetzte. »Ich kenne keine Kara MacLeod«, erklärte er bestimmt. »Das kann ich vor Gott beschwören.« Schließlich hatte ihm die rothaarige Höl lenbrut niemals ihren Namen genannt. »Demnach kenne ich auch nicht ihre Mutter und kann zu diesen Anschuldigungen nur sagen, dass sie mit uns nichts zu tun haben.« Jarod nickte. Du gerissener Lügner!, dachte er bei sich. »Es liegt uns auch die Aussage eines Auftragskillers namens Jeremia Cuthbert ali as John Smith vor, dass Sie ihn dafür bezahlt haben, dieselbe Kara MacLeod, die Sie angeblich nicht kennen, zu töten. Was sagen Sie dazu?« »Wir sind Männer Gottes, Chief Inspector Kane«, erklärte der Abt würdevoll. »Wir töten keine Menschen und beauftragen auch nie manden, das zu tun. Alle meine Brüder können das bezeugen. Wir führen ein Leben in Kontemplation. Das Einzige, was wir zu ver nichten trachten, ist das Böse, in welcher Gestalt es sich auch immer zeigen mag. Die Bruderschaft des Reinen Lichts Gottes hat eine lange Tradition als Vernichter von Dämonen. Und Sie werden mir sicherlich darin zustimmen, dass Dämonen keine Menschen sind.« Jarod neigte den Kopf zur Seite. Gut pariert, alter Fuchs! »Da haben
Sie sogar Recht. Aber kann es nicht sein, dass Sie in der Vergangen heit – in der ziemlich jüngsten Vergangenheit – Menschen mit Dä monen verwechselt haben? Miss MacLeod, zum Beispiel. Und ihre Mutter.« »Sie hatte den Teufel im Leib und bat uns, von ihm erlöst zu werden!«, rechtfertigte sich der Abt. »Wir wollten sie exorzieren, aber der Teufel hat sie uns entrissen!« »Dann kennen Sie sie also doch und geben die Vorwürfe zu!« Der Abt biss sich auf die Lippen, verärgert darüber, dass er sich von seinem heiligen Zorn in die Falle hatte locken lassen. »Ich gebe gar nichts zu! Sie hat uns keinen Namen genannt, als sie kam. Und sie ist gegangen, bevor wir den Exorzismus durchführen konnten. Lebendig.« Und darüber ärgerte sich Abt Patricius noch immer maßlos. Ge rade als Bruder Innocencius dem Dämon den Garaus machen wollte, war ein Feuer in der Bibliothek ausgebrochen, von dem der Abt überzeugt war, dass die Dämonin es mit ihren unheiligen Kräf ten entfacht hatte. Natürlich hatten die wertvollen und unersetzli chen Bücher zuerst gerettet werden müssen. Und als die Mönche ihr Werk vollenden wollten, war die Höllenkreatur verschwunden. Aber wie konnte sie es wagen, zur Polizei zu gehen und die Bru derschaft anzuzeigen! Diese Dreistigkeit verschlug ihm beinahe die Sprache. Zum Glück konnten weder sie noch dieser Polizist irgend was beweisen. Und das gab Abt Patricius sein Selbstbewusstsein zu rück. »Chief Inspector Kane«, begann er, »falls Sie Beweise für Ihre An schuldigungen haben, verhaften Sie uns. Falls nicht, dann gehen Sie. Jetzt!« »Gut, ich gehe. Für heute. Aber ich komme wieder. Und die Be weise werde ich schon finden. Verlassen sie sich darauf!« Der Abt begleitete ihn zur Tür und schob ihn hinaus. »Bruder Camillus!«, rief er einen vergleichsweise jungen Mönch,
der gerade gemessenen Schrittes an ihnen vorbeiging. »Ja, Vater Abt?« »Begleite Chief Inspector Kane hinaus.« Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern schloss nachdrücklich die Tür. Bruder Camillus schmunzelte leicht und deutete mit einer Hand bewegung in die Richtung, in die sei gehen mussten. »Das war ein sauberer Rauswurf. Was haben Sie verbrochen?« Jarod sah den Mönch scharf an. Er mochte um die Vierzig sein, hatte schwarzes Haar und auffallend grüne Augen, die Jarod an Kara erinnerten. »Ich habe ihn des versuchten Mordes und der An stiftung zum Mord beschuldigt. Sie wissen nicht zufällig etwas dar über?« »Doch, alles«, gab Bruder Camillus unumwunden im Flüsterton zu. »Aber wir werden draußen reden. Hier drinnen haben die Wände zu viele Ohren. Wenn wir draußen sind, sehen Sie mich nicht an, sondern stur geradeaus. Der Abt kann uns nämlich von sei nem Fenster aus sehen und ich bin mir sicher, er steht jetzt genau dort und beobachtet uns, sobald wir den Hof betreten. Also sehen Sie sich auch nicht um.« Jarod konnte sein Glück kaum fassen. Aber er befolgte den Rat des Mönchs und ging neben ihm her, als würden sie gar nicht mitein ander reden. »Die Beweise, die Sie suchen«, fuhr Bruder Camillus fort, als sie den Klosterhof betreten hatten, »finden Sie im Zimmer des Abts. Es ist eine uralte Chronik der Bruderschaft, worin all ihre Erfolge in Sa chen Dämonenjagd und Vernichtung aufgelistet sind.« »Das hört sich ja fast so an, als hätte die Bruderschaft schon öfter Menschen ermordet!« »In erster Linie Dämonen, Mr. Kane. Aber sie tötet auch alle Men schen, von denen sie der Überzeugung sind, dass sie mit den Dä monen in irgendeiner Form fraternisieren. Ja, die Bruderschaft hat Karas Mutter ermordet und auch die Mutter ihrer Halbschwester.
Und ja, sie hat versucht, Kara zu töten.« Er grinste. »Zum Glück gab es gerade rechtzeitig diese Feuer …« »Mit dem Sie nicht zufällig etwas zu tun hatten?«, fragte Jarod. »Sehen Sie die gelbe Blume dort links am Beetrand? Sie ist sehr selten. Bleiben Sie stehen und tun Sie so, als fragten Sie mich etwas darüber. Auf diese Weise können wir noch etwas länger plaudern, ohne dass der Abt Verdacht schöpft.« Jarod blieb stehen und deutete auf die Blume und tat, als stelle er eine Frage. Der Mönch blieb ebenfalls stehen und tat, als gäbe er darauf Antwort. Ein etwaiger Beobachter musste es für eine voll kommen harmlose Angelegenheit halten. »Das ist eine Amica montana«, erklärte Camillus. »Dass sie hier wächst, ist den zehn grünen Fingern unseres Bruders Gärtner zu verdanken. Eine wirkliche Seltenheit.« »Ich bin nicht an Blumen interessiert, Bruder!« »Nein, aber jetzt kann ich dem Abt wahrheitsgemäß versichern, dass ich mit Ihnen über Blumen gesprochen habe.« Jarod grinste. »Für einen Mönch sind Sie ganz schön gerissen.« Bruder Camillus grinste zurück. »Und was macht Sie glauben, dass Mönche nicht gerissen sein können? – Natürlich hatte ich mit dem Feuer zu tun«, beantwortete er dann Jarods ursprüngliche Frage. »Ich habe es gelegt. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Kara umgebracht wird.« »Kennen Sie Miss MacLeod?« Camillus schüttelte den Kopf. »Ich habe sie an dem Tag, an dem sie sich unglücklicherweise hierher verirrte, zum ersten Mal gese hen. Aber sie ist ein Mitglied der Dämonenfamilie Rhu’u. Ganz ohne Zweifel.« Jarod deutete auf eine andere Pflanze, die ein paar Schritte entfernt stand und Camillus tat, als gäbe er ihm auch dazu detailliert Aus kunft.
»Calendula officinalis oder Ringelblume. – Die Bruderschaft des Reinen Lichts wurde vor über tausend Jahren gegründet zu dem einzigen Zweck, die Rhu’u auszulöschen. Sie sind der Überzeugung, dass ihnen dieser Auftrag von einem Engel Gottes erteilt wurde.« »Aber Sie glauben das nicht, Bruder Camillus?«, hakte Jarod nach. »Nein. Ich habe mich intensiv mit der einschlägigen Geschichte bzw. Dämonologie befasst. Die Rhu’u besaßen ursprünglich ein In strument, das ihnen ungeheure magische Macht verlieh. Damit haben sie sich unter Ihresgleichen viele Feinde gemacht. Die haben sich – aus Gründen, die niemand außer ihnen kennt – aber nicht selbst die Hände schmutzig machen wollen. Also schickten sie einen Boten zu den Mönchen, die damals noch einfache Benediktiner waren, der ihnen unter der Illusion eines Engel den Auftrag gab, ihre ganze Existenz der Vernichtung der Rhu’u zu widmen. Denn erst wenn der letzte Rhu’u tot ist, erlischt die Macht ihres magischen Gegenstandes.« Camillus pflückte ein Blatt von einer weiteren Pflanze, zerrieb es zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie Jarod unter die Na se. Der Polizist roch den aromatischen Duft von Rosmarin. »Die Bruderschaft hat einen Seher«, fuhr Camillus fort. »Bruder Ambrosius. Seine einzige Aufgabe ist es, seine Tage in Trance zu verbringen und die Welt nach der speziellen magischen Signatur der Rhu’u abzusuchen.« »Wenn das funktionieren sollte«, wandte Jarod zweifelnd ein, »wieso hat er nicht schon alle Rhu’u gefunden? Kara ist doch nicht die Einzige, die es gibt.« »Nein, es gibt neun. Aber die haben einen Tarnzauber, der ihre Ausstrahlung so komplett verdeckt, dass der Seher sie nicht aufspü ren kann. Allerdings haben Neugeborene diesen Schutz noch nicht.« Jarod starrte Camillus ungläubig an. »Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Bruderschaft auch nicht davor zurückschreckt, Babys zu tö
ten?« Der Mönch nickte. »Das haben sie in der Vergangenheit schon ge tan. Die Mutter von Kassandra MacLeod – Karas Halbschwester – starb bei dem Versuch, ihr Baby vor dem Mordanschlag der Bruder schaft zu retten. Karas Mutter wurde ermordet, weil sie den Aufent haltsort ihres Kindes nicht verraten wollte.« Camillus blickte Jarod wissend an. »Und wenn sie herausfinden, dass Sie mit Kara ge schlafen haben, stehen Sie als Nächster auf der Abschussliste.« »Wie kommen Sie darauf, dass ich …«, entfuhr es Jarod verblüfft. Er konnte nicht verhindern, dass er knallrot wurde. Er hatte tat sächlich vor wenigen Tagen mit Kara eine Nacht verbracht. Unge plant. Es war einfach so passiert. Aber es war die schönste Liebes nacht, an die er sich erinnern konnte. Wenn diese unbeschreibliche Freude und Ekstase die Belohnung war, die ein Sukkubus dafür gab, dass sie sexuelle Energie zum Leben nahm, dann konnten Sukkubi und ihr männlicher Gegenpart, die Inkubi, so übel nicht sein. Dieser Gedanke erschreckte Jarod nicht zum ersten Mal. Er war Nachfahre einer Familie, die seit Generationen das Böse in Gestalt von Kreaturen aus der Unterwelt jagte, die sich unter den Menschen aufhielten. Auch Jarod fühlte sich dieser Aufgabe verpflichtet. Trotzdem hatte er nicht nur mit einer Dämonin – Halbdämonin!, rief eine freundliche innere Stimme – geschlafen, sondern empfand auch noch Sympathie für sie. Das stürzte ihn in einen tiefen Ge wissenskonflikt, von dem er noch nicht wusste, wie er ihn lösen sollte. »Instinkt«, beantwortete Camillus seine Frage. »Und ich werde Sie bestimmt nicht verraten.« Jarod fasste sich wieder. »Aber wenn die Rhu’u über einen Schutz mechanismus verfügen, wieso hat die Bruderschaft Kara jetzt doch aufgespürt?« Camillus lotse Jarod zu einer weitern Pflanze und tat, als gäbe er umfangreiche Erklärungen dazu ab. »Das hat damit zu tun, dass sie
ein Zwilling ist. Eigentlich sind Inkubi und Sukkubi mit Menschen nicht fortpflanzungsfähig, nur untereinander. Aber es gibt bei Dä monen alle paar hundert Jahre eine genetische Mutation, die das möglich macht. Nicht immer werden die dämonischen Fähigkeiten und Kräfte auf jeden halbmenschlichen Nachkommen übertragen. Bei Zwillingen hat sie immer nur einer von ihnen. In der Regel der Stärkere, der auch zuerst geboren wird. Der zweite geht leer aus.« »Aber Kara … ist ein Zwilling – und hat diese Kräfte trotzdem.« Camillus nickte. »Richtig. Das ist eine weitere Mutation. Sie hätte sie eigentlich nicht haben und deshalb sicher sein sollen. Aber nach 28 Jahren entschließen sich ihre Gene, diese Kräfte trotzdem frei zugeben.« »Und Kara, die bis dahin von ihrer wahren Herkunft nichts wuss te, wurde da von vollkommen überrascht. Das muss furchtbar für sie gewesen sein.« »Mit Sicherheit«, stimmte Camillus zu. »Und natürlich wusste sie auch nichts von Magie und wie man seine Aura abschirmt. Und da mit war sie wie ein Leuchtfeuer für Bruder Ambrosius.« »Hat sie diese … Abschirmung denn inzwischen gelernt?«, wollte Jarod wissen. »Sie hat mir gesagt, dass sie ihre Kräfte jetzt be herrscht.« »Die Kräfte des Sukkubus – ja. Die Magie – nein. Das dauert Jahre. Und bis dahin ist sie in Gefahr.« »Ich werde Ihrer Bruderschaft das Handwerk legen, Bruder Camil lus«, versprach Jarod grimmig. »Wenn Sie das, was Sie mir gerade erzählt haben, vor Gericht wiederholen – ohne die Magie natürlich – , dann …« »Nein«, unterbrach Camillus nachdrücklich. »Das werde ich nicht tun. Weil es das Problem nicht löst. – Denken Sie die Sache doch mal zu Ende, Mr. Kane. Der Abt würde vor Gericht alle Schuld auf sich nehmen und den Rest der Brüder schützen. Abgesehen davon, dass die meisten von ihnen tatsächlich nichts Verwerflicheres getan
haben, als irgendwann der Bruderschaft beizutreten und durch ihre Arbeit finanziell mit unterhalten. Der Mönch, der Karas Mutter ermordet hat, ist schon seit Jahren tot. Der, der sie töten wollte, kommt mit einer Strafe für versuchten Mord davon. Das Ende wird sein: Das Kloster bekommt einen neuen Abt und einen neuen Bru der – und macht weiter wie bisher. Nur werden sie anschließend et was vorsichtiger zu Werke gehen. Und Kara und ihre Familie werden um keinen Deut sicherer sein.« Camillus hatte Recht, so ungern Jarod das auch zugeben mochte. »Aber ich kann die Sache doch nicht laufen lassen!«, protestierte der Chief Inspector. »Es wird auch nicht mehr lange so weitergehen, Mr. Kane. Das kann ich Ihnen versprechen. Bis dahin können Sie Kara helfen, in dem Sie die Bruderschaft ein bisschen nervös machen. Jetzt, wo der Abt weiß, dass Sie von seinen Machenschaften wissen, wenn Sie auch nichts beweisen können, wird er vorsichtig sein. Das verschafft Kara ein bisschen mehr Zeit, ihre Kräfte zu trainieren.« »Ich hoffe nur, das kommt nicht zu spät. Sie hat das Land verlassen.« »Verdammt!«, entfuhr es dem Mönch. »In dem Fall ist sie wo möglich in noch größerer Gefahr als vorher.« »Mir drängt sich da eine Frage auf, Bruder Camillus. Woher wissen Sie das alles? Und was haben Sie vor?« Camillus lächelte. »Das waren jetzt schon zwei Fragen. Die Ant wort auf die erste lautet: intensives Quellenstudium. Sie müssten mal unsere Bibliothek sehen. Das ist eine wahre Schatzkammer. Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Das ist vorläufig noch mein Ge heimnis. Ich hoffe nur, Sie wissen, dass wir beide auf derselben Seite stehen. – Und jetzt sollten Sie gehen. Sonst wird der Abt doch noch misstrauisch.« Er begleitete Jarod zur Pforte, ließ ihn hinaus und kehrte ins Haupthaus zurück.
Der Abt erwartete ihn am Eingang. »Hat der Polizist versucht, dich auszufragen, Bruder?« Camillus grinste. »Natürlich, Vater Abt. Unter dem Vorwand, sich für unsere Pflanzen zu interessieren.« »Und? Hast du ihm gesagt, was er wissen wollte?« Bruder Camillus’ Gesicht drückte beleidigte Verletztheit aus, als er indigniert antwortete: »Ich habe mich mit ihm über die Pflanzen un terhalten, für die er sich angeblich so interessiert hat, Vater Abt. – Darf ich mich jetzt in meine Zelle zur Meditation zurückziehen? Ich würde auch gern den Rest des Tages in Klausur gehen. Der Polizist hat sehr viel Unruhe in unser Kloster gebracht.« »Tu das, Bruder. Das ist eine gute Idee.« Abt Patricius entließ ihn wohlwollend. Obwohl Bruder Camillus der jüngste Mönch des Klosters und erst zwanzig Jahre bei ihnen war – Patricius hatte ihm selbst die Weihe erteilt –, war er doch eifrig bei der Sache und ein großer Gewinn für die Bruderschaft. Er studierte die Bücher und Chroniken und pflegte die Bibliothek. Er war ein Vorbild an Standfestigkeit im Glauben und in ihrer Mission.
* Kara brach den nächsten Versuch, mit ihrer Familie auf geistiger Ebene in Kontakt zu treten, erschöpft ab. Zwar hatte sie in den letzten Tagen erheblich darin an Praxis ge wonnen, aber es nutzte nichts. Die Bashirs hatten offensichtlich eine Art Schutzschild um das Haus gelegt, den Kara nicht durchdringen konnte. Immerhin hatten die fruchtlosen Versuche ihr die Methode gezeigt, mit der sie einen solchen Schild abtasten und ausloten konnte. Sie hatte sogar festgestellt, dass Catena dessen Kraftquelle war. Der nächste logische Schritt wäre, Catena irgendwie auszuschal
ten, um damit den Schild zum Einsturz zu bringen. Aber zum einen war sich Kara nicht sicher, ob das so funktionierte. Zum anderen kam Catena nie allein zu ihr, sondern immer in Begleitung von mindestens einem ihrer Söhne. Und ihre Besuche waren stets unangenehm. Catena versuchte alles, Kara auf ihre Seite zu bringen. Sie demonstrierte ihr ihre eigene magische Macht und versprach ihr, Karas Kräfte bis zum selben Niveau auszubilden, wenn sie ihr dafür Loyalität schenkte. Doch Kara wusste von ihrem Vater, dass man die angeborene Fähig keit für ein solches Niveau haben musste. Sonst war alle Ausbildung nutzlos. Außerdem glaubte sie nicht, dass Catena eine gleich mächtige Konkurrenz neben sich dulden würde. Sie lehnte ab und Catena bestrafte sie mit einem ihrer Energie blitze. Als Nächstes folgten Drohungen und weitere Qualen, um sie gefü gig zu machen. Kara ließ sich nicht erweichen. Doch sie wusste, dass sie dieser Folter auf Dauer nicht würde standhalten können. Schon jetzt packte sie jedes Mal die Angst vor den nächsten Schmerzen. Aber eine Flucht schien ohne Hilfe von außen unmöglich. Ihr Zimmer war ständig abgeschlossen, die Fenster vergittert. Da sie ihre Familie nicht erreichen konnte, war der nächste lo gische Schritt, den Zusammenbruch ihres Widerstands vorzutäuschen, sich kooperativ zu geben und zu hoffen, dass das ir gendwann die Wachsamkeit der Bashirs ihr gegenüber einschläfern würde, damit sie eine Gelegenheit zur Flucht bekam. Das Problem war nur, das überzeugend darzustellen. Außerdem trieb sie ihr seit über einer Woche unbefriedigter Sukkubus-Hunger langsam in den Wahnsinn. Die Tür ihres Zimmers wurde aufgeschlossen und Kamal trat ein mit einem Essenstablett in der Hand. Er lächelte ihr zu und musterte sie intensiv. »Hungrig?«, fragte er.
Kara wusste, dass er damit nicht ihren knurrenden Magen meinte. Natürlich war sie hungrig und dabei, den Verstand zu verlieren. Aber um nichts in der Welt hätte sie das zugegeben. Sie schüttelte trotzig den Kopf. Kamal lachte. »Kein Grund sich zu schämen, Cousine. Und es gibt auch keinen Grund es zu leugnen. Ich kann es fühlen.« Er schloss die Tür und wandte sich ihr wieder zu. »Du musst Nahrung zu dir nehmen«, sagte er, während er sich ungeniert auszog, bis er voll kommen nackt war. »Du musst bei Kräften bleiben.« Er legte sich auf das Bett, streckte ihr einladend die Arme entgegen und setzte seine lockende Inkubusmagie ein. Das wäre gar nicht nötig gewesen. Karas Widerstand brach zu sammen wie ein Kartenhaus. Sie riss sich die Kleider vom Leib und fiel regelrecht über ihn her, sog seine Energie ein, die er ihr so groß zügig schenkte, bis auch die letzte Zelle ihres Körpers davon vibrierte. Sie ließ erst von ihm ab, als sie nichts mehr aufnehmen konnte. Gesättigt rolle sie sich schließlich zur Seite. Er lachte leise und küsste ihren Nacken. »Geht es dir jetzt besser?« »Ja«, knurrte sie ungehalten und fügte widerstrebend hinzu: »Danke.« »Keine Ursache. Weißt du, ich bin nicht dein Feind, Carana.« Sie wandte sich zu ihm um. »Dann lass mich gehen, Kamal!« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht tun.« »Weil dich dann deine Mutter vierteilen würde?«, spottete sie verächtlich. »Da siehst du lieber zu, wie sie mich langsam um bringt.« »Das kann sie nicht«, erklärte Kamal ernst, stand auf und zog sich wieder an. Auch Kara schlüpfte wieder in ihre Sachen. »Da habe ich aber einen ganz anderen Eindruck!«
Er schüttelte den Kopf. »Kein Rhu’u kann einen anderen töten. Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass unser Blut durch den Ar rod’Sha verbunden ist.« Er lächelte sie entschuldigend an. »Aber na türlich kann meine Mutter dir das Leben zur Hölle machen.« »Oh ja! Das tut sie bereits gründlich! – Aber ich verstehe das nicht, Kamal. Was genau will sie eigentlich von mir? Mein Vater sagt, dass ihr selbst mit mir auf eurer Seite nicht stärker seid als die MacLeods. Und dann gibt es da noch meinen mir bisher unbekannten Cousin Camiyu, der, wie mir gesagt wurde, niemals auf eurer Seite stehen würde.« Kamal nickte. »Aus gutem Grund. Aber der geht nur ihn und meinen Bruder etwas an.« Er setzte sich wieder zu Kara aufs Bett und sah sie an. »Meine Mutter will dich als Geisel. Wenn der letzte Teil des Kristalls gefunden ist – egal wer sie findet. Sie plant, sie alle an sich zu bringen. Die von deiner Familie will sie dadurch bekom men, dass sie …« Kamal blickte verlegen zu Boden. »Dass sie dich vor den Augen deines Vaters foltert. Da er niemals zulassen wird, dass dir Schmerzen zugefügt werden – anders als meine Mutter mit uns umgehen würde –, wird er ihr geben, was sie verlangt.« Kara schüttelte den Kopf. »Deswegen ist es doch nicht nötig, mich jetzt schon zu quälen!« Ihr Cousin zuckte mit den Schultern. »Sie glaubt, dich dadurch doch noch auf ihre Seite zu bringen. Eine Verbündete mehr kann nie schaden. Außerdem«, fügte er verlegen hinzu, »macht es ihr unge heuren Spaß.« »Was ist wohl eine Verbündete wert, die man zum Bündnis ge zwungen hat? Und wieso machst du da mit, Kamal? Ich habe eigent lich den Eindruck, dass du ganz vernünftig bist.« Kamal kam nicht dazu, ihr zu antworten. Die Zimmertür flog auf und Catena stand wie ein Racheengel vor ihnen. »Was tust du hier, Camulai?«, verlangte sie zu erfahren. Ihr Sohn sprang auf, schuldbewusst wie ein ertappter Schuljunge.
Offenbar, stellte Kara fest, gab es auch unter Dämonen Muttersöhn chen. »Ich habe Carana gefüttert, Mutter.« »Ich kann mich nicht erinnern, dir das gestattet zu haben!«, fauch te Catena ihn an. Kamal zuckte mit den Schultern. »Wir können sie doch nicht verhungern lassen. Tot ist sie eine verdammt nutzlose Geisel.« Etwas Unverständliches knurrend scheuchte Catena ihren Sohn aus dem Raum. »Nun, Carana, bist du einsichtig geworden?« »Ach, leck mich doch am Arsch!« Kara schnaufte verächtlich. Catenas Antwort bestand in einem schmerzhaften Levin-Pfeil in Karas Bauch, begleitet von einem bösartigen Grinsen. Kara klappte stöhnend zusammen und ihre Peinigerin rauschte hinaus.
* Kyle klappte stöhnend zusammen und hielt sich mit den Händen den Bauch. Er fühlte sich schon seit Tagen sporadisch unwohl mit undefinierbaren Schmerzen, denen er aber nie eine besondere Be deutung beigemessen hatte. Jetzt war es anders. Er wusste auf ein mal, dass das nicht seine eigenen Schmerzen waren, sondern Karas! Er rannte ins Wohnzimmer, wo die Familie vollzählig beisammen saß und diskutierte, wo man Kara suchen sollte. »Carana!«, stieß er hervor. »Sie hat Schmerzen! Und … sie ist nicht allzu weit weg von uns.« »Schmerzen?«, wiederholte sein Vater Cal entsetzt und fluchte. »Catunua! Ich bring sie um, wenn ich sie in die Finger kriege! – Aber was meinst du damit, sie ist nicht allzu weit weg von uns?« »Ich bin mir sicher, dass sie sich in Schottland befindet. Wo genau kann ich leider nicht sagen.«
»Das sähe Catunua ähnlich«, stimmte Kay zu. »Sie direkt unter un serer Nase zu verstecken.« Cal nickte und fragte seinen Sohn: »Konntest du irgendeine Rich tung wahrnehmen, in der wir suchen sollten?« Kyle schüttelte den Kopf und grinste. »Aber wir können es mal auf ganz profane Weise versuchen herauszufinden. Wozu gibt es Computer und Internet? Hacken wir uns in die Datenbank der Grundstücksbehörde ein und finden heraus, ob die Bashirs irgend wo in Schottland ein Haus besitzen oder gemietet haben.« »Gute Idee!«, stimmte Cal zu. »Wie ich meine arrogante Cousine kenne, hat sie garantiert keinen falschen Namen benutzt.« Er blickte seine Schwester auffordernd an. »Cayuba, Computerhacken ist doch deine Spezialität. An die Arbeit!« Kay grinste und verschwand im Arbeitzimmer. Fünf Stunden spä ter hatten sie die Antwort und vier wütende MacLeods machten sich auf den Weg, Kara zu befreien …
* Bruder Camillus’ ›Meditation‹ hatte ihm einige interessante Dinge offenbart. Nachdem sich die Brüder um acht Uhr Abends in ihre Zellen zu rückgezogen hatten, schlich er sich in das Arbeitszimmer neben der Bibliothek, wo einer der drei klostereigenen Computer stand und stellte einige Nachforschungen im Internet an. Eine gute Stunde spä ter hatte er erfahren, was er wissen wollte. Unbemerkt von seinen Brüdern verließ er das Kloster …
*
Jarod Kane staunte nicht schlecht, als er auf ein ausgesprochen stür misches Klingeln die Tür öffnete und einen Mönch davor fand. »Bruder Camillus!«, entfuhr es ihm. »Was tun Sie denn hier? Haben Sie es sich anders überlegt und wollen doch gegen Ihre Brüder aussagen?« Er bat ihn mit einer Handbewegung herein. Camillus schüttelte den Kopf und trat ein. »Nein. Aber ich weiß, wo Kara ist. Ich brauche allerdings Ihre Hilfe, sie da rauszuholen.« Jarod nickte und griff zum Telefon. »Sagen Sie mir, wo sie ist und ich schicke die Kavallerie.« Erneut schüttelte Camillus den Kopf. »Nein. Nur Sie und ich. Und ich muss gestehen, ich brauche Sie eigentlich nur als Ablenkungs manöver.« Jarod legte den Telefonhörer wieder auf und blickte den Mönch misstrauisch an. »So eine Aufgabe gefällt mir nicht. Hat mir noch nie gefallen. In jedem Fall schulden Sie mir eine Erklärung. Woher wissen Sie, wo Kara ist?« Camillus zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein paar Nachfor schungen angestellt und intensives Quellenstudium betrieben. Er innern Sie sich an das, was ich Ihnen heute Nachmittag über die Rhu’u erzählt habe? Dass sie zu neunt sind.« Jarod nickte. »Innerhalb dieser Neun gibt es zwei Fraktionen. Die einen sind die MacLeods, die anderen die Bashirs. Deren Residenz ist in Kairo. Aber sie besitzen auch ein abgelegenes Haus hier in Schottland. Meine Nachforschungen haben nun ergeben, dass Kara auf ihrer … Reise bis Kairo kam und dort verschwand.« »Und Sie glauben, sie ist bei diesen Bashirs?« »Ich bin mir absolut sicher«, bestätigte Camillus. »Vielleicht ist sie freiwillig bei ihnen. Es sind ja wohl Verwandte von ihr.« »Stimmt, aber sie ist ganz sicher nicht freiwillig dort.«
Jarod warf ungeduldig die Hände hoch. »Kommen Sie schon, Bru der Camillus! Lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wenn Sie meine Hilfe wollen, müssen Sie schon etwas mehr erzäh len.« »Also gut. Die MacLeods besitzen fünf Teile des magischen Artefakts, das ich heute Nachmittag erwähnt habe. Die Bashirs wollen sie unbedingt haben.« »Aber die MacLeods rücken sie nicht freiwillig raus«, vermutete Jarod. »Also nehmen sie Kara als Druckmittel.« »Exakt.« Jarod ging nachdenklich auf und ab. »Das hört sich aber für mich so an, als sollten wir doch die Kavallerie einschalten.« »Das würde nichts bringen. Vergessen Sie bitte nicht, dass die Ba shirs Dämonen sind. Sie haben eine Art magisches Alarmsystem um ihr Haus gelegt. Sobald irgendetwas den Alarm auslöst, werden sie aufgescheucht.« »Ich verstehe«, sagte Jarod gedehnt. »Ich soll sie aufscheuchen. Und während sie mit mir beschäftigt sind, befreien Sie Kara.« »Genau. Sie brauchen nur den Touristen zu spielen, der sich ver irrt hat. Lassen Sie sich von ihnen eine Landkarte zeigen oder bitten Sie sie, ihr Telefon benutzen zu dürfen – irgend so etwas. Ich brau che nur etwa knapp zehn Minuten, wahrscheinlich weniger.« Jarod blickte ihn misstrauisch an. »Bruder Camillus, Sie verheimli chen mir einiges«, sagte er ihm auf den Kopf zu. »Natürlich«, gab der Mönch unumwunden zu. »Aber ich werde Ihnen nicht mehr sagen, egal wie sehr Sie mich drängen. Also, hel fen Sie mir nun oder nicht?« Fünf Minuten später waren sie unterwegs …
*
Kara stand am vergitterten Fenster ihres Zimmers und starrte hin aus in die Nacht. Sie konnte nicht schlafen und grübelte fruchtlos über einen Fluchtplan. Sie war nicht bereit, einfach aufzugeben und sich von Catena zum Spielball machen zu lassen. Als sie in der Ferne die Scheinwerfer eines Wagens näher kommen sah, schöpfte sie Hoffnung. Sie öffnete das Fenster und presste den Kopf gegen die Gitterstäbe, um zu sehen, wer sich dort näherte. Vielleicht handelte es sich um ihre Familie. Doch der Wagen hielt vor dem Haus in einem Winkel, dass Kara ihn nicht sehen konnte. Kurz darauf schallte die Türklingel durch das Haus. Und wenig später hörte sie die vertraute Stimme von – Jarod Kane? Ihr erster Impuls war, sich bemerkbar zu machen und ihm zuzu rufen. Aber sie schwieg. Die Bashirs würden mit ihm wahrscheinlich kurzen Prozess machen, wenn sie ihn dadurch als Feind einstuften. Falls sie ihn nicht ohnehin als Jäger erkannten … Aber irgendetwas musste sie doch tun können, ohne ihn Gefahr zu bringen. »Entschuldigen Sie die späte Störung«, hörte sie Jarod sagen. »Aber ich habe bemerkt, dass in Ihrem Haus noch Licht brannte. Ich habe mich total verfahren. Können Sie mir sagen, wie ich nach Blair gowrie komme? Haben Sie vielleicht eine Landkarte?« Im selben Moment öffnete sich die Tür zu Karas Zimmer und Kamal trat ein. Er legte einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr so zu schweigen. »Komm!«, flüsterte er. Kara ließ sich nicht zweimal bitten. Ihr Cousin führte sie fast lautlos durch das Haus in den Keller und durch eine Hintertür ins Freie. »Bleib ganz dicht bei mir. Um das Haus liegt ein Schutzschild, wie du sicher schon bemerkt hast.« »Den deine Mutter kontrolliert.«
»Ja. Und sie spürt genau, ob einer von uns ihn durchschreitet oder ein Fremder. Ich werde meine Aura über deine legen. Dann nimmt sie nur mich wahr, aber nicht dich.« Kara nickte. Kamal nahm sie in die Arme und führte sie vom Haus weg in den Wald, der unmittelbar dahinter begann. Als sie die Grenze des Schutzschilds überschritten, fühlte Kara ein leichtes Kribbeln, sonst nichts. Kamal führte sie mit schlafwandlerischer Sicherheit tiefer zwischen die Bäume. Zu ihrem Erstaunen bemerkte Kara, dass sie in der Dunkelheit se hen konnte, als wäre die Welt in das fahle Licht der Morgendämme rung getaucht, kurz bevor die Sonne aufging. Offenbar war dies eine weitere Fähigkeit, die auf das Erwachen ihres Dämonenbluts zu rückzuführen war. Kamal blieb stehen. »Jetzt sind wir weit genug vom Haus weg. Wenn du noch ein paar hundert Schritte in diese Richtung gehst, triffst du auf die Straße. Der Wagen, der gleich dort entlangfahren wird, wird dich mitnehmen.« »Vielen Dank, Kamal!«, sagte Kara und drückte ihm die Hand. »Ich hoffe nur, du bekommst keine Schwierigkeiten, wenn deine Mutter mein Verschwinden bemerkt.« »Die bekommt er garantiert«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Aber er hat zum ersten Mal in seinem Leben etwas Vernünftiges getan – und mir dadurch einige Arbeit erspart. Also nimm auch meinen Dank, Camulal.« Kara fuhr herum. Hinter ihnen stand ein in die schwarze Kutte der Bruderschaft des Reinen Lichts gekleideter Mönch, den sie sofort er kannte. »Bruder Camillus! Was tun Sie denn hier?« »Mr. Kane und ich sind gekommen, um dich hier herauszuholen. Und dank Camulal ging das viel leichter, als wir erwartet haben.« Er nickte Kamal zu, der ebenfalls kurz nickte und sich eilig wieder zu rückzog. »Komm, Carana. Mr. Kane wartet auf uns an der Straße.
Ich erkläre dir alles, wenn wir im Auto sind.« »Das will ich hoffen! Aber kann Catena uns nicht irgendwie auf spüren?« Camillus schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Mit etwas Glück wird sie erst in ein paar Stunden merken, dass du weg bist. Und bis dahin bist du wieder in Sicherheit. Deine Familie ist auf dem Weg hierher. Wir treffen sie, sobald wir die Hauptstraße erreichen.« Kara blieb stehen und fasste den Mönch am Arm. »Bruder Camil lus, wer zum Teufel sind Sie wirklich?«
* Der Arrod’Sha regte sich. Er spürte die Veränderungen im Gefüge der Macht. Die Zeit rückte näher. Bald würde er wieder ganz und heil sein. Und die Aufgabe erfüllen, für die er einst erschaffen worden war … Fortsetzung folgt