M'Raven
Dämonenmacht Version: v1.0 Sie waren Neun. Neun Rhu’u, die dasselbe Blut teilten, das auch der Arrod’Sha in si...
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M'Raven
Dämonenmacht Version: v1.0 Sie waren Neun. Neun Rhu’u, die dasselbe Blut teilten, das auch der Arrod’Sha in sich trug. Er konnte sie in jedem seiner Teile spüren. Er rief sie und sie riefen ihn. Er begann zu pulsieren. Die Zeit der Vereinigung würde kommen. Bald. Der Arrod’Sha wartete … Der Energieblitz eines Levin-Pfeils zischte dicht an Caleb MacLeod vorbei und zertrümmerte einen Stuhl, der neben ihm stand. Cal zuckte mit keiner Wimper und sah seiner Tochter Kara ruhig in die grünen Augen, die vor Wut blitzten. »Verdammt, Vater!«, schrie sie. »Ich will endlich die Wahrheit wissen! Und zwar die ganze Wahrheit! Seit ich euch kenne, ist mein Leben aus den Fugen geraten! Ich bin kein Mensch mehr, fanatische Mönche wollen mich umbringen, ein Dämonenjäger ist wahrscheinlich hinter mir her und ihr – ihr gebt mir wichtige Informationen nur häppchenweise! Aber ich habe ein Recht darauf, alles zu wissen!«
Kara ließ sich in einen Sessel fallen und starrte ihren Vater heraus fordernd an. Rhu’Calibor – ein Inkubus-Dämon, der sich von der Se xualenergie ernährte, die er mit seinen weiblichen Opfern erzeugte. Noch vor wenigen Wochen hatte Kara MacLeod ein ganz norma les Leben geführt und geglaubt, ein ganz normaler Mensch zu sein. Dann waren zusammen mit beängstigenden Träumen seltsame Kräfte ihn ihr erwacht und ein Hunger, der mit normaler Nahrung nicht zu stillen gewesen war. Von dem Moment an war ein Schock dem anderen gefolgt. Magie war plötzlich real und kein Produkt fantasievoller Bücher und Fil me. Der Mönchsorden ›Bruderschaft des Reinen Lichts‹ hatte bisher dreimal versucht, sie umzubringen. Von der Frau, die sie ihr Leben lang für ihre Mutter gehalten hatte, hatte sie erfahren, dass sie ein Adoptivkind war. Ihre leibliche Familie hatte Kara ausfindig ge macht. Plötzlich gab es einen Zwillingsbruder, eine jüngere Halb schwester, einen Vater und eine Tante. Alles Sexdämonen – Buhlteu fel, wie man sie im Mittelalter genannt hatte. In einem magischen Ritual hatte die Familie Karas dämonische Hälfte vollständig befreit. Von dem Moment an war sie gezwungen, als Sukkubus zu leben und mindestens drei- bis viermal die Woche Sex mit irgendwelchen Männern zu haben, um überhaupt am Leben zu bleiben. Die ersten Male hatte sie deren Energie so intensiv auf gesogen, dass diese um Jahrzehnte gealtert waren und beinahe dar an gestorben wären. Doch Kara hatte ihren Zwilling Kyle dazu ver anlasst, ihnen die gestohlene Lebensenergie wieder zurückzugeben. Aber das hatte Jarod Kane auf ihre Spur gebracht, einen Polizisten, der eine neue Abteilung von Scotland Yard leitete, das ›Department of Occult Crimes‹. Zu allem Überfluss war er auch noch ein Jäger des Bösen. Er jagte und vernichtete die Kreaturen der Unterwelt, die in der Welt der Menschen lebten und das Böse verbreiteten. Zu Ka ras persönlichem Leidwesen war er obendrein der Neffe ihres Chefs und hatte sie als das erkannt, was sie wirklich war …
Kara hatte sich verändert und Seiten an sich entdeckt, die sie zu tiefst erschreckten und die sie verabscheute. Ihre neue Familie hatte Geheimnisse vor ihr. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen war gestern ein Mann aufgetaucht, Kassim Bashir, der sich als Verwandter ausgab. Er hatte ihr erzählt, das einzige Interesse der MacLeods an ihr sei die Tatsache, dass sie sie brauchten, um einen uralten Kristall der Macht wiederzuerwecken. Deshalb forderte Kara jetzt von ihrem Vater Rechenschaft und würde sich nicht mehr mit Ausreden hinhalten lassen. »Du machst Fortschritte«, stellte Cal trocken fest und bezog das auf den Levin-Pfeil, den sie auf den Stuhl abgeschossen hatte. »Wohl dosiert und gut gezielt.« »Lenk nicht ab!«, verlangte Kara. »Sagt mir endlich die Wahrheit! Hat Kassim Recht?« Cal nickte ernst. »Ja. Und nein. Er hat Recht, was die Tatsache be trifft, dass die Rhu’u die Hüter des Arrod’Sha sind und die rechtmä ßigen Erben der Macht des Kristalls. Aber er hat Unrecht mit der Be hauptung, dass wir dich nur bei uns haben wollen, um dieses Erbe antreten zu können. Du bist meine Tochter, Carana. Und ich liebe dich ebenso sehr wie deine Geschwister. Wie ich auch eure Mutter geliebt habe. Nur deshalb wünsche ich mir, dass du bei uns lebst und alles lernst, was zu deiner neuen Existenz gehört, damit du dich damit vor unseren Feinden schützen kannst.« Das hörte sich sehr plausibel an. Doch es konnte trotzdem eine Lüge sein. »Dass ihr mir Dinge verheimlicht, macht dich nicht gerade glaub würdig, Vater«, beharrte Kara. »Kassim hat gesagt, ihr braucht mich, um die fünf Teile des Kristalls, die ihr schon besitzt, benutzen zu können.« »Das stimmt nicht. Wir können die Macht dieser Teile auch ohne dich nutzen. Tatsache ist vielmehr …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine komplizierte Geschichte.«
»Ich bin ganz Ohr«, erklärte Kara. »Und ich gehe nirgendwo hin, bis ich sie gehört habe. Vollständig!« Cal schmunzelte unterdrückt. »In Ordnung. Die Rhu’u waren von Anfang an immer Neun. Das heißt, zwischendurch fielen mal einer oder zwei aus. Es gab sogar mal eine Zeit, da waren wir nur noch zu viert. Auch Dämonen sind sterblich.« »Aber wir leben sehr lange? Kyle erwähnte so was.« Cal nickte. »Ich bin 353 Jahre alt und damit für unsere Begriffe im besten Dämonenalter. Wir schaffen es locker auf fünfhundert, sechs hundert Jahre. Falls uns nicht ein gewaltsamer Tod vorzeitig dahin rafft. – Nun, wie dem auch sei, unsere Familie zählte niemals mehr als neun Mitglieder. Die ersten Neun wurden mit ihrem Blut an den Kristall Arrod’Sha gebunden. Was bedeutet, dass nur wir seine Macht überhaupt nutzen können. Du musst dir das in etwa vor stellen wie den Schlüssel für einen Computer, der nur mit Fingerab druck aktiviert werden kann. Nur derjenige, dessen Fingerabdrücke gespeichert sind, kann ihn benutzen.« Kara nickte. »Und weiter?« »Wenn alle neun Rhu’u zusammen an einem Strang ziehen, ist die Macht des Arrod’Sha … nun, vielleicht nicht unbegrenzt, aber es dürfte in dem Fall nur sehr wenig geben, was wir mit ihm nicht voll bringen könnten. Wenn die Neun sich aber nicht einig sind, kann zwar jeder einzelne von ihnen ihn benutzen, aber eben nur in be grenztem Ausmaß. Und hier kommen jetzt die Interessen der Ba shirs ins Spiel. Sie sind echte Rhu’u, durch und durch, kein Zweifel. Ihre Matriarchin Catunua – Catena Bashir – ist, würden wir unsere magischen Kräfte einzeln miteinander messen, die Stärkste von uns. Zusammen mit ihren beiden Söhnen Casdiru und Camulai sind sie uns ebenbürtig.« Kara begann zu begreifen. »Wenn sie noch eine Kraft dazu be kämen«, vermutete sie, »meine zum Beispiel, würden sie zur mächtigsten Fraktion aufsteigen?«
Cal nickte. »Und den Kristall kontrollieren können. Das Problem ist, dass die Bashirs der dunkle Teil unserer Familie sind. Machtgie rig, egoistisch, rücksichtslos und brutal. Deswegen haben wir auch so wenig wie möglich mit ihnen zu tun. Durch dein Erwachen, Ca rana, bist du praktisch zum Zünglein an der Waage geworden. So lange du auf unserer Seite stehst, kann Catunua ihre Pläne mit dem Kristall – welche das auch immer sind – vergessen. Wenn es ihr aber gelingt, dich auf ihre Seite zu bringen, dürfte es schwer sein, ihr Einhalt zu gebieten.« Kara blickte nachdenklich zu Boden. Das machte Sinn. Besonders im Hinblick darauf, dass Kassim – Casdiru – massiv versucht hatte, sie ihrer Familie zu entfremden. »Was ist mit unserem Cousin Camiyu?«, fragte sie schließlich. »Wo steht er bei der ganzen Sache? Und wo ist er überhaupt?« Cal zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Du hast offenbar schon mehr herausgefunden, als ich dachte.« »Ja«, knurrte sie bissig. »Ich bin schließlich deine Tochter. Aber dass ihr mir diese Dinge nicht von selbst gesagt habt, macht es mir nicht gerade leichter, euch zu vertrauen. Also, Vater, wenn ihr meine uneingeschränkte Loyalität und Unterstützung wollt, dann sag mir endlich alles! Bitte!« »Okay. Wie du weißt, haben wir bereits fünf Teile des Arrod’Sha gefunden. Vier fehlen noch. Camiyu ist seit Jahren auf der Suche nach ihnen. Wo genau er sich im Moment aufhält, wissen wir nicht. Wir haben schon lange nichts mehr von ihm gehört. Über zwanzig Jahre, um genau zu sein.« »Ich habe Tante Kay sagen hören, er hätte sich für den falschen Weg entschieden. Was hat sie damit gemeint?« Cal zuckte mit den Schultern. »Sie und Camiyu haben sich kurz vor seinem Aufbruch gestritten. Wir versuchen die ganze Zeit, die fehlenden Teile auf magische Weise aufzuspüren. Scrying, Pendeln, Suchrituale und so. Er wollte in alten Schriften der Menschen nach
Hinweisen suchen. Cayuba fand allein schon den Gedanken lächer lich, erklärte ihn für einen Dummkopf – und das war’s. Camiyu verschwand und ward seitdem nicht mehr gesehen.« »Wenn er wiederkommt – auf welcher Seite wird er dann stehen?« »Auf unserer. Camiyu würde niemals auf derselben Seite stehen wie Casdiru. Die beiden hegen keinerlei Sympathie für einander. Warum, das wissen nur sie allein.« Cal blickte seine Tochter eindringlich an. »Und damit bist du der entscheidende Faktor, so lange mein Neffe, dein Cousin verschwunden bleibt.« Kara wollte ihm gern glauben. Er war ihr Vater. Aber er war auch ein Dämon. Gab es überhaupt Dämonen, die die Wahrheit sprachen und … gut waren? Laut Bruder Camillus – dem Mönch der Bruder schaft des Reinen Lichts, der ihr das Leben gerettet hatte, als sie diesen Fanatikern unglücklicherweise in die Hände gefallen war – waren auch Dämonen Geschöpfe Gottes, die sich bewusst zwischen Gut und Böse entscheiden konnten. Kara wollte so sehr glauben, dass sich ihr Vater – und der Rest der Familie – für das Gute ent schieden hatte. Wenigstens in demselben Maß wie normale Men schen, die schließlich auch keine Heiligen waren. »Carana, dein Erwachen war problematisch und beängstigend für dich«, sagte Cal. »Alles, was seither geschehen ist, hat dich aus der Bahn geworfen. Deine Seele musste so viel verkraften, dass eine in nerlich weniger gefestigte Person schon längst dem Wahnsinn verfallen wäre. Wir waren der Überzeugung, dass die ganze Ge schichte um den Arrod’Sha, die Differenzen mit den Bashirs und alles andere zu viel für dich gewesen wäre. Das ist der einzige Grund, weshalb wir dir diese Dinge verschwiegen haben.« Er zö gerte kurz. »Aber es gibt eine Möglichkeit, wie du dich selbst von der Wahrheit überzeugen kannst: das Wissen des Blutes.« Kara blickte ihn fragend an. »Was ist das?« »Unser Blut hat eine Besonderheit. Es speichert die Informationen, die Erinnerungen, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln. Und
die wird an unsere Kinder weitervererbt. Jeder von uns hat auf diese Weise Zugriff auf die Erinnerungen und das Wissen aller Vorfahren. Wir können sie mit einem Ritual aktivieren. Auf diese Weise kannst du dich persönlich von den Ereignissen damals überzeugen – und auch von meinen Gefühlen für meine Familie …« Nach einer Sekunden währenden Ewigkeit nickte sie. »Einver standen. Was muss ich tun?« »Komm mit.« Cal führte seine Tochter in den Keller, wo sich hinter einer un sichtbaren Geheimtür ein Raum befand, in dem die MacLeods ihre Rituale und Magie praktizierten. In der Mitte stand ein steinerner Altar umgeben von einem auf den Boden gemalten Pentagramm. An den Wänden entlang war der Boden mit weichen Teppichen be legt, auf denen Meditationskissen, Isomatten und Decken lagen. Ein vom Fußboden bis fast zur Decke reichendes Regal beherbergte alle notwendigen Gerätschaften und Utensilien für die magische Arbeit. Cal wies Kara an, sich auf eines der Kissen zu setzen und gab ihr eine silberne Schale, in die er aus einer Phiole eine dunkelrote Flüssigkeit goss. Kara musste einen Tropfen davon in den Mund nehmen und dann in die Schale sehen. Die Oberfläche der Flüssig keit wirkte wie ein dunkler Spiegel. Die Flüssigkeit schmeckte bittersüß und scharf. Kara wurde augenblicklich schwindelig. Sie fühlte sich, als hätte sie einen kräf tigen Schluck Alkohol genommen, der sie schweben ließ. »Geh zurück zu den Anfängen des Arrod’Sha«, hörte sie ihren Vater wie aus weiter Ferne noch sagen. Im nächsten Augenblick stürzte sie in die Flüssigkeit in der Schale und fiel und fiel …
*
Das Land war öde, heiß und ungemütlich – für menschliche Begriffe. Rhu’Ca und ihresgleichen fühlten sich hier sehr wohl. Die Hitze der Vul kane und Feuerquellen war wie ein Lebenselixier für sie. Der rote Himmel mit der grünen Sonne darin zeigte ihnen, dass sie zu Hause waren. Le diglich der Mond, der die Nacht begleitete, war ebenso bleich und silbern wie in der Menschenwelt. Doch daran verschwendete Rhu’Ca keinen weiteren Gedanken. Ein wichtiges Ereignis stand bevor. Daruluk hatte die Rhu’u gerufen. Der Fürst der Feuerflüsse hatte noch nie Interesse an irgendeiner Dä monensippe der niederen Ordnung gezeigt. Deshalb war es eine große Ehre, nun vor ihm erscheinen zu dürfen. Rhu’Ca fragte sich allerdings ebenso wie ihre acht Brüder und Schwestern, was der Fürst von ihnen wollte. Ihre Sippe war noch nicht sehr alt und sie besaßen keine nennenswerte Macht. Der Herr der Unterwelt hatte sie zwar persönlich erschaffen. Doch ihr einziger Daseinszweck war es, mit Menschen zu schlafen. Die Energie, die sie ihnen dabei abzapften, leiteten sie in eine Art Sammelbecken. Bis auf den Teil, den sie selbst brauchten, um zu überleben. Keiner von ihnen wusste, wozu der Herr der Unterwelt diese gesammelte Energie benutzte. Sie führten seine Befehle aus und dienten ihm. Dafür konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Solange das Reservoir immer voll blieb. Da die Rhu’u den Menschen in ihrer Gestalt nachgebildet waren und de ren Empfindungen teilweise übernommen hatten, fanden sie an der ihnen gestellten Aufgabe durchaus Vergnügen. Sie hätten bis in alle Ewigkeit mit dieser Form der Existenz fortfahren können, hätte Daruluk sie nicht ge rufen. Der Fürst der Feuerflüsse hatte eigentlich andere Sorgen, als sich mit einer niederen Dämonensippe zu befassen. Er hatte sich mächtige Feinde gemacht, als er sich erdreistete, Magie zu beanspruchen, auf die er kein Anrecht hatte. Er riss sie schließlich mit Gewalt an sich – und war plötz lich von mehr Feinden umgeben, als er verdauen konnte. Daruluk suchte sich Unterstützung und knüpfte Allianzen mit Dä
monen, die hofften, von seiner neuen Macht zu profitieren. Natürlich konnte er ihnen nicht trauen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu einem offenen Krieg zwischen den einzelnen Fürsten und ihren Va sallen kam. »Wir sind gekommen, Fürst«, richtete Rhu’Ca jetzt das Wort an Daru luk. Als Älteste der Sippe sprach sie für alle. »Was willst du von uns?« »Ich will euch ein Angebot machen«, antwortete der Dämon und verzog das Gesicht, das der verzerrten Fratze eines Trolls glich, zu einem zäh nebleckenden Grinsen. »Wir dienen dem Herrn der Unterwelt«, erklärte Rhu’Ca scheinbar un beeindruckt. »Warum sollten wir an einem Angebot von dir interessiert sein?« Daruluk erschuf mit einer lässigen Bewegung seiner klauenbewehrten Vogelhand einen steinernen Thron und schwang sich ebenso lässig darauf. Anschließend beugte er sich vor und ließ den Reptilschwanz wie ein Pendel hinter seinem Rücken schwingen. Seine glühenden gelben Augen bohrten sich in die des Sukkubus. »Weil ich euch etwas geben kann, das euer Herr euch bis jetzt immer vorenthalten hat: wahre Macht.« Rhu’Ca reagierte mit keiner Regung auf diesen Köder. Ihre Geschwister folgten ihrem Beispiel. Daruluk kniff die Augen zusammen und knurrte. »Ich weiß, dass euch das interessiert. Was seid ihr denn schon: Schwächlinge, die gerade mal Energie sammeln, aber sie kaum selbst erzeugen können. Ich kann das ändern.« »Und falls wir diese Änderung wünschen?«, fragte Rhu’Ca vorsichtig. »Was wäre der Preis dafür?« »Nur dass ihr dann mir dient und niemandem sonst. Dass ihr mir abso luten Gehorsam und Treue leistet.« »Ein interessantes Angebot, Daruluk. Aber unser Herr dürfte damit kaum einverstanden sein. Er hat uns erschaffen.«
»Als seine Sklaven!«, brüllte Daruluk. »Ihr seid nicht die Einzigen, die sein Reservoir füllen. Er hat so viele Buhldämonen erschaffen, dass er nicht bemerken wird, wenn neun von ihnen nicht mehr da sind.« Davon war Rhu’Ca keineswegs überzeugt. Im Gegenteil. Sie war sich si cher, dass der Herr es auf der Stelle bemerken würde. Spätestens wenn – falls! – Daruluk sein Wort hielt und plötzlich neun mächtige neue Dä monen aus dem Nichts auftauchten. Selbst der Herr der Unterwelt konnte es sich nicht leisten, das zu ignorieren. »Ich sehe, ihr seid interessiert«, interpretierte Daruluk ihr Schweigen vollkommen richtig. »Ich verlange nicht von euch, dass ihr euch gegen eu ren Schöpfer stellt. Ich will euch als Leibwächter. Ihr sollt mir meine Feinde vom Hals halten. Und ich werde euch mit aller dafür erforderlichen Macht ausstatten.« »Heißt das, du willst uns mächtig genug machen, dass wir gegen deinen schlimmsten – und stärksten – Feind, Fürst Naguruth, bestehen könnten?«, fragte Rhu’Cas Bruder Cabu dazwischen. Sie strafte ihn mit einem kalten Blick für seine Eigenmächtigkeit. »Genau das heißt es«, bestätigte Daruluk. »Natürlich wird keiner von euch allein gegen ihn bestehen können. Aber ich kann jedem Einzelnen so viel Macht verleihen, dass ihr gemeinsam sogar eurem Herr trotzen könn tet.« Rhu’Ca schnitt mit einer Handbewegung das aufgeregte Flüstern ihrer Geschwister ab, das Daruluks Behauptung ausgelöst hatte. »Wir werden beraten!« »Tut das. Ich werde auf eure Antwort warten.« Die Rhu’u brachten genug Abstand zwischen sich und den Fürsten, dass selbst seine guten Ohren ihr Gespräch nicht mehr hören konnten. »Wir sollten sein Angebot annehmen«, drängte Caia, die Jüngste von ih nen. »Eine Macht, die groß genug ist, sogar unserem Herren zu trotzen …« »Närrin!«, schalt Rhu’Ca. »Er lügt. Wenn wir eine so große Macht hät ten, könnten wir sie auch gegen ihn wenden, ihm alles entreißen und sei
nen Thron einnehmen. Das wird er auf keinen Fall riskieren. Eher wird er uns vernichten, sobald wir ihm seine Feinde aus dem Weg geräumt haben.« »Ich glaube schon, dass er uns Macht verleihen will«, vermutete Cabu. »Sonst hätte sein Angebot ja gar keinen Sinn.« »Dem stimme ich zu«, bestätigte Cafu. »Aber es wird mit Sicherheit nicht die große Macht sein, die er uns versprochen hat, um uns zu ködern.« »Ca hat sicher Recht mit ihrer Vermutung, dass Daruluk uns am Ende auch vernichten wird«, warf Cada ein. »Aber wer sagt denn, dass wir seine Feinde schnell vernichten müssen? Mein Vorschlag ist: Wir nehmen, was er uns anbietet. Wir halten ihm seine Feinde vom Leib, lassen uns aber mit deren Vernichtung viel Zeit. In dieser Zeit arbeiten wir an einem Plan, mit dem wir uns schützen können, falls er uns tatsächlich töten will, sobald seine Feinde alle erledigt sind.« Der Plan fand allgemeine Billigung. »Was aber tun wir, wenn der Herr der Unterwelt uns für unseren Verrat bestraft?«, wandte Rhu’Ca ein. »Er wird uns wohl kaum am Leben lassen.« »Na und?«, schnaufte Cafu verächtlich. »Dann sterben wir wenigstens als mächtige Dämonen und nicht als machtlose Buhlteufel, deren Magie gerade mal ausreicht, um schwache Menschen anzulocken.« Dem Argument konnte sich auch Rhu’Ca nicht verschließen. Sie kehrten zu Daruluk zurück. »Wir nehmen dein Angebot an, Daru luk. Wir werden dir dienen, solange du uns Macht gibst.« Der Dämon grinste. »Ich habe nichts anderes erwartet. Wir werden so fort beginnen.« Er sprang von seinem Thron und bedeutete ihnen, sich im Kreis um ihn herum aufzustellen. Auf ein Wort von ihm öffnete sich zu seinen Füßen ein tiefes Loch im Boden. Daraus stieg feuriges Gestein empor. Daruluk ergriff eine Hand voll davon. Die Rhu’u spürten, wie sich Macht zusammenballte
– große Macht! – und in das Gestein gesogen wurde. Daruluk trat zu Rhu’Ca, stach ihr mit einer Klaue in die Handfläche und ließ ihr Blut in den flüssigen Stein tropfen, der langsam die Gestalt einer Kugel annahm. Dasselbe tat er mit den übrigen Rhu’u. Sie fühlten, dass ihr Blut den Stein vollkommen durchtränkte und ein Band zwischen ihnen formte, das niemals wieder aufgelöst werden konnte. »Arrod’Sha!«, rief Daruluk neun Mal das Wort der Macht und siegelte damit die Kraft in den Stein, der zu einer perfekten Kugel erstarrte. Diese glühte noch einmal auf, verblasste langsam und blieb schließlich als dunkelroter, fast schwarzer, schwach durchsichtiger Kristall in der Hand des Dämons zurück. Er reichte ihn Rhu’Ca. Sie hielt ihn in einer Hand und legte einen Finger der anderen Hand auf ihn. Dasselbe taten ihre Geschwister. Als ihre neun Finger einander mit den Spitzen berührten, floss eine schier unglaubliche Kraft aus dem Kris tall in sie alle über. Mächtiger und stärker als alles, was sie sich in ihren kühnsten Träumen erhofft hatten. Mit einem kleinen Schönheitsfehler. Nicht die Rhu’u kontrollieren den Kristall Arrod’Sha – sondern Daruluk. Ohne seine Zustimmung, seinen Willen, waren sie genauso machtlos wie zuvor. Rhu’Ca erstickte ihre aufkeimende Wut und die ihrer Geschwister mit eisernem Willen und lächelte Daruluk an. »Vielen Dank – Meister«, sagte sie ruhig. »Die Rhu’u werden dir treu dienen bis zum Tod.« Bis zu deinem Tod!, fügte sie in Gedanken hinzu. Daruluk lachte zufrieden. »Dann macht euch ans Werk, meine Scharf richter. Tötet Naguruth!« »Wir sind schon unterwegs.« Rhu’Ca führte ihre Geschwister zu ihrem eigenen Lager zurück, wo sie den Arrod’Sha sorgfältig auf einen Sockel setzten und mit ihren magischen Sinnen seine Macht sondierten. »Daruluk hat uns reingelegt!«, knurrte Cabu wütend. »Er hat uns Macht gegeben, oh ja! Aber er kontrolliert sie!«
»So etwas war zu erwarten«, sagte Rhu’Ca gelassen. »Immerhin hat er in einem Punkt Wort gehalten. Die Macht, die er uns gab, ist zwar nicht groß genug, um dem Herrn der Unterwelt die Stirn zu bieten. Und so hoch wollen wir ja auch gar nicht hinaus. Aber sie reicht aus, uns an die Spitze der Dämonendynastien zu setzen und eine der Zehn Mächtigen Fürstenfa milien zu werden. Solange wir zusammenhalten.« Sie betrachtete den Kristall von allen Seiten. »Daruluk kontrolliert ihn nicht mit seinem Blut«, stellte sie fest. »Es ist etwas anderes.« Sie lächelte böse. »Und wir haben viel Zeit herauszufinden, was es ist und die Kon trolle zu brechen. Und dann …«
* Daruluk lag am Boden – besiegt. Die neun Rhu’u blickten mitleidlos auf ihn herab. Ihr ehemaliger Meister erwartete keine Gnade und bat auch nicht darum. Unter anderem, weil ihm und seiner Art das Konzept der Gnade vollkommen fremd war. »Hast du gedacht, du könntest uns ewig versklaven?«, fragte Rhu’Ca ihn kalt. »Wir hatten in diesem Punkt eigene Pläne. Und nachdem wir her ausgefunden haben, wie du den Kristall kontrollierst, war es leicht, dir diese Kontrolle zu entreißen. Jetzt sind wir die Herren in deinem Reich.« Daruluk grinste. »Dann freut euch daran, solange ihr noch könnt. Ihr werdet feststellen, dass es ziemlich schwer ist zu behalten, was man ge wonnen hat.« Das waren seine letzten Worte. Ein mächtiger Energieball tötete ihn und die Rhu’u übernahmen die Herrschaft über die Feuerflüsse. Als Erstes töte ten oder unterjochten sie mit der Magie des Kristalls alle Dämonen, die sie für ihre Feinde hielten und genossen die Furcht, die sie damit in der Un terwelt verbreiteten. Aber unmittelbar danach begann die Spaltung. Die Hälfte der Rhu’u, unter Führung von Cabu, dem Zweitältesten, wollte die gesamte Un
terwelt unterwerfen. Die andere Hälfte unter Rhu’Cas Leitung wollte die Stellung, die sie erreicht hatten, festigen und ansonsten ihr Leben genießen. Es kam zu einem ernsten Zerwürfnis zwischen den beiden Parteien. Was einige der übrigen Dämonen ausnutzten, um sie anzu greifen in dem Bestreben, sich der Gefahr zu entledigen, die ihnen so plötz lich durch die Rhu’u entstanden war. Durch den internen Streit war die Macht des Arrod’Sha geschwächt. Zwar reichte sie noch aus für einen erbitterten Widerstand der Neun gegen ihre Angreifer, doch auch unter Dämonen sind viele Hunde schließlich des Hasen Tod. Während einige Dämonen sieben Rhu’u durch ein Duell ablenkten, über fielen andere deren Lager, töteten die beiden zurückgebliebenen Wächter des Arrod’Sha und versuchten, die Macht des Kristalls zu benutzen, um die verhassten Rhu’u endgültig zu vernichten. Doch etwas ging schief. Da der Kristall mit dem Blut der Rhu’u geschaf fen worden war, konnte er nicht gegen sie eingesetzt werden. Er weigerte sich, gegen sie zu arbeiten, als hätte er eine eigene Seele. Mit dem Tod zweier seiner Schöpfer war aber seine Kraft schwächer geworden. Die Feinde machten sich das zunutze und versuchten nun, ihn zu vernichten. Obwohl sie ihre geballten Kräfte auf ihn warfen, erwies er sich als unzer störbar. Doch der Angriff spaltete ihn in neun Teile – von denen zwei kaum noch Energie besaßen … So waren die Feinde zufällig auf das Geheimnis der Rhu’u und des Ar rod’Sha gestoßen. Der Stein konnte nur vernichtet und seiner Macht be raubt werden, wenn der letzte Rhu’u tot war. Aber auch Rhu’Ca und ihre restlichen sechs Geschwister hatten bemerkt, dass ihr Kristall zersplittert und ihre Macht geschwächt war. Wenn sie überleben wollten, mussten sie fliehen. Da sie in der Unterwelt nirgends mehr sicher sein konnten, flohen sie an den einzigen Ort, der ihnen vielleicht einen gewissen Schutz bieten konnte: in die Welt der Menschen. Ihre Feinde versteckten die neun Kristallsplitter in verschiedenen Dimensionen, damit die Macht der Rhu’u für alle Zeiten gebrochen
blieb …
* Karas Geist machte einen Sprung vorwärts in der Zeit, während die Ereignisse dazwischen mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs an ihr vorbeirauschten. Schließlich befand sie sich im frühen Mittel alter und wurde Zeugin der Gründung der Bruderschaft vom Reinen Licht …
* Rhu’Camur hatte schon lange gespürt, dass seiner Familie Gefahr drohte. Genauer gesagt, seit die Schwarzroben gekommen waren, Männer, die dem neuen Gott dienten, den sie Christus nannten. Sie versuchten den Leuten des Dorfes einzureden, ihre alten Götter seien böse Geister – Teufel – und vollkommen machtlos. Camur wusste es besser. Aber die Schwarzroben hatten langsam Erfolg und schon die Hälfte der Dorfbewohner überzeugt. Jetzt war in dieser Angelegenheit sogar eine Versammlung einberufen worden und die Neuigkeiten des Dorfältesten waren mehr als nur beunru higend. Camur saß in der Versammlung hörte schweigend zu und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Nachricht ängstigte. »Der Seher der Mönche hat Höllenkreaturen unter uns entdeckt«, er klärte der Älteste. Einige Männer lachten. »Die hat er bestimmt auf dem Grund seines Metkrugs gesehen!«, witzelte einer. »Oder hat irgendeiner von uns schon mal einen ihrer Teufel zu Gesicht bekommen?« Allgemeines Kopfschütteln antwortete ihm. »Ich sage, unser Dorf ist von guten Mächten gesegnet! Die Sidhe, die
guten Feen, besuchen uns regelmäßig und schenken uns Freude. Sie würden uns auch vor ›Höllenkreaturen‹ beschützen. Falls das, was die Schwarzroben ›Hölle‹ nennen, tatsächlich existiert.« Camur unterdrückte ein Schmunzeln. Die Freuden spendenden Sidhe waren er und seine Familie, die mit den Menschen als Inkubi und Sukkubi schliefen: Dabei zeigten sie jedem das Gesicht und die Gestalt, die er als be gehrenswertestes Geschöpf der Welt empfand. Deshalb konnte niemand in den ›Sidhe‹ die harmlosen Dorfbewohner erkennen, die hier mitten unter ihnen lebten. Immerhin war die Hölle der Mönche tatsächlich identisch mit der dä monischen Unterwelt. Aber es war Camur ein Rätsel, wie sie davon erfah ren hatten. »Aber wenn sie Recht haben?«, beharrte der Dorfälteste. »Wenn die Sid he wirklich Teufel sind, wie sie sagen?« »Ach, Unsinn! Nach ihren eigenen Worten sind ihre Teufel böse. Aber hat uns je ein Sidhe etwas Böses angetan?« Das entfachte eine heftige Diskussion, in der es dem Dorfältesten und seinen Anhängern immer mehr gelang, Zweifel in den Herzen der Men schen zu wecken. Camur entschied, dass es an der Zeit war, dieses Dorf zu verlassen und sich anderswo eine neue Heimat zu suchen. Vielleicht besaß der Seher der Schwarzroben tatsächlich die Gabe, die Rhu’u als das erkennen zu können, was sie waren. Falls es ihm und seinen Brüdern gelang, die Dorfbewohner von seinen Visionen zu überzeugen, war das Leben der Rhu’u in Gefahr. Der Sukkubus verließ unbemerkt die Versammlung und machte sich auf den Heimweg. Als er an dem Hof vorbeikam, den die Mönche bewohnten, sah er sie alle im Hof versammelt vor einer leuchtenden Erscheinung kni en. Camur stockte der Atem. Er erkannte die Erscheinung sofort als einen Dämon niederer Ordnung, wie sie die höheren Dämonen für Botengänge benutzten. Dieser hier hatte sich unter einer Illusion verborgen, die den Mönchen die geflügelte Licht gestalt eines Boten ihres Gottes zeigte.
Camur zog seine magischen Schutzschilde so fest um sich zusammen, wie er nur konnte. Besonders den, der seine Ausstrahlung verdeckte, damit weder der Dämon noch der Seher der Mönche ihn wahrnehmen konnte. Anschließend schlich er sich unter einem Mantel der Unsichtbarkeit näher. »Dies sind die Worte eures Herrn!«, donnerte der Dämon und umfasste die versammelten Mönche mit einer Handbewegung. »Ihr seid dazu aus erwählt, die Höllenbrut zu vernichten, die unter euch weilt! Das ist von heute an eure einzige Aufgabe! Die schlimmste Brut ist ein Pack von neun Dämonen. Ihr Name ist Rhu’u. Ihre Kraft beziehen sie aus einem Kristall.« Er machte eine Handbewegung. In der Luft vor ihm erschien in einer Se hersphäre das Abbild der neun Splitter des Arrod’Sha. »Der Herr hat ihre Macht zersplittert«, erklärte der als Engel getarnte Dämon. »Ihr müsst verhindern, dass sie sie jemals wiedererlangen. Findet sie! Zerstört sie! Ihr sollt nicht eher ruhen, als bis diese abscheulichen Kreaturen vom Antlitz der Welt getilgt sind bis auf den Letzten! Vernich tet die Rhu’u, dann kann ihr Kristall der Macht endlich zerstört werden. So lautet der Wunsch eures Herren!« Die Mönche neigten gehorsam die Köpfe. »Aber«, wagte ein noch recht junger Mann einzuwenden, »der Herr gab uns doch das Gebot ›Du sollst nicht töten!‹ – Wie kann er denn jetzt von uns verlangen, dass wir … morden sollen?« »Bruder Pius!«, wies ihn ein Älterer entsetzt zurecht. Doch der Dämonenengel lächelte nur. »Du hast vollkommen Recht. Aber das Gebot des Herren bezieht sich nur auf Menschen, Bruder Pius. Du sollst keine Menschen töten. Doch die Rhu’u sind keine Menschen, obwohl sie in menschlicher Gestalt auftreten. Lasst euch nicht von ihrem Aussehen täuschen! Der Wille des Herren lautet: Vernichtet sie! Alle!« »Wir werden gehorchen«, versprach der Älteste und der Dämonenengel verschwand. »Ihr habt den Willen des Herren gehört, Brüder! Wir werden ihm folgen! Wir werden diesen Ort zu einer Festung gegen das Böse aus bauen! So wie der heilige Georg den Drachen erschlug, werden wir die Rhu’u erschlagen und ihren Kristall des Bösen mit dem reinen Licht
Gottes säubern, ehe wir ihn für immer zerstören! Sie sind Neun – wir werden ihnen neunmal neun reine Diener Gottes entgegen werfen! Von heute an sind wir nicht mehr Benediktiner, sondern die Bruderschaft des Reinen Lichts Gottes! Und unsere Festung wird das Kloster St. George the Pure sein!« Er sah sich kurz um, doch natürlich regte sich kein Widerstand. »An die Arbeit, Brüder!« Camur hatte genug gehört. Er teleportierte sich nach Hause und brachte sich und seine Familie noch in derselben Nacht weit weg von Schottland in Sicherheit. Gern hätte er noch dem Dämonenengel nachgespürt, um zu erfahren, wer ihn geschickt hatte. Doch er konnte es sich denken. Die Einzigen, die nach über tausend Menschenjahren immer noch ein Interesse an der Ver nichtung der Rhu’u hatten, waren die Zehn Mächtigen Fürsten, ihre Fa milien und die Anhänger jener Dämonen, die Rhu’Ca und ihre Geschwis ter vernichtet hatten. Dabei hatten die heute lebenden Rhu’u gar kein Interesse mehr an der Eroberung irgendwelcher Bereiche der Unterwelt. Wahrscheinlich, weil sie schon zu lange unter den Menschen gelebt hatten. Aber die Dämonen fürsten würden ihnen das niemals glauben. Camur hielt es für wichtiger denn je, die neun Splitter des Arrod’Sha zu finden und den Kristall wieder zusammenzufügen, damit seine Macht die Familie vor den anderen Dä monen schützten konnte. Doch sie besaßen erst drei Teile. Camur ahnte, dass es noch Jahrhunderte und vielleicht mehrere Generationen dauern würde, bis der Arrod’Sha wieder vollständig und heil war …
* Erneut machte Karas Geist einen Zeitsprung, diesmal fast bis zur Gegenwart. Sie erlebte die erste Begegnung ihrer Eltern vor dreißig Jahren …
Rhu’Calibor saß in der Höhle des Mount Canisp im Glencanisp Forest. Er liebte diesen Ort, an dem alle Rhu’u gezeugt worden waren, seit die Fa milie unter dem Clannamen MacLeod in der Gegend lebte. Seit mittlerwei le siebenhundert Jahren. Einige, wie er selbst, waren hier sogar geboren worden. Im Volksmund wurde dieser Ort ›Demon’s Leap‹ genannt, denn er war der bevorzugte Ort, an dem die Inkubi und Sukkubi der Rhu’u-Familie ihre menschlichen Opfer zum Sex verführten. Doch Cal suchte die Höhle so oft er konnte nur auf, um dort in Ruhe zu meditieren. Obwohl es nicht ungefährlich war. Die Bruderschaft des Reinen Lichts hatte diesen Ort schon vor Jahren ausfindig gemacht und überprüfte ihn in regelmäßigen Abständen, ob sie hier nicht einen Rhu’u erwischen und tö ten konnten. Deshalb waren auch all seine Sinnen schlagartig hellwach, als er einen Menschen sich nähern fühlte. Doch es war nur eine Frau, die den Busch zur Seite bog, der den Eingang halb zu gewuchert hatte und jetzt mit einem überraschten »Oh!« stehen blieb. »Oh!«, echote Cal erleichtert und fügte dann mit seinem gewinnendsten Lächeln hinzu: »Hallo!« Da er im Moment nicht hungrig war, zeigte er sich ihr in seiner wahren Gestalt. Sie lächelte zurück. »Ich … ich habe von dieser Höhle gehört«, erklärte sie verlegen. »Ich … wollte einmal sehen, ob die Legenden wahr sind, dass hier Buhldämonen … Na, Sie wissen schön. Und da sitzen Sie …« Er lachte leise. »Sehe ich aus wie ein Dämon? Buhl- oder nicht?« Sie erwiderte sein Lachen, immer noch verlegen. »Nein. Aber wenn die Legenden wahr sind, haben alle Buhldämonen ausgesehen wie unwahr scheinlich anziehende Männer.« »Oh, vielen Dank für das Kompliment!« Er lachte, als sie errötete und stand auf. »Ich bin Caleb MacLeod, Fischer aus Lochinver. Und wenn sich die Gelegenheit ergibt, fahre ich Touristen mit meinem Boot aufs Meer hin aus. Hierher komme ich, um mal allein zu sein.« »Oh, dann will ich Sie nicht weiter stören!« Sie wandte sich zum Gehen.
»Bitte, bleiben Sie! Mein Bedarf an Einsamkeit ist für heute gedeckt. Sie können gern dieses Mooskissen mit mir teilen, wenn Sie wollen.« Sie zögerte und sah ihn misstrauisch an. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee wäre.« »Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Wenn ich ein Inkubus wäre, würden Sie schon längst widerstandslos in meinen Armen liegen und von mir leidenschaftlich geliebt werden.« »Sie könnten auch ein Sittenstrolch sein.« Er verzog das Gesicht, als hätte er plötzlich Schmerzen und schüttelte sich. »Dann schon lieber ein Inkubus. Die haben es nicht nötig, Frauen zum Sex zu zwingen.« Sie setzte sich neben ihn und reichte ihm die Hand. »Ich bin Mirjana Cameron, Buchhändlerin aus Nairn. Ich mache ein bisschen Ferien in Lo chinver.« Sie kicherte verlegen. »Was tue ich eigentlich hier?« »Vielleicht warten. Sie darauf, von einem Inkubus verführt zu werden?« »Und meine Seele verlieren?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was sollten wir Inkubi denn mit Seelen anfangen? Nein, das Gerücht haben die Christenpriester in die Welt gesetzt. Wir schenken nur Freude und Spaß. Und wer Spaß hat, hat keine Angst. Nicht einmal vor Gott. Und damit waren die Men schen für die Priester nicht kontrollierbar. Also behaupteten sie, die Inkubi und Sukkubi stehlen den Menschen, die Seelen.« »Aber … irgendwas müssen die doch davon haben.« »Haben sie auch. Sie ernähren sich von der Energie, die während des Ak tes erzeugt wird. Und das ist schließlich eine Menge!« Mirjana lachte. Er legte sanft den Arm um sie. Sie schmiegte sich zö gernd an ihn. Im nächsten Augenblick lag sie plötzlich in seinen Armen und küsste ihn scheu. Plötzlich spürte Cal etwas, das er in seinem ganzen Leben noch nie ge fühlt hatte. Und er benötigte viele Wochen, ehe er dieses Gefühl, das sich ständig verstärkte, identifizieren konnte: Liebe.
Er und Mirjana verbrachten den Rest ihres Urlaubs zusammen und kehrten währenddessen fast täglich in die Höhle zurück, um sich zu lieben. Eines Tages, als sie wieder einmal in ein wundervolles Liebesspiel vertieft waren, tauchten einige Mönche der Bruderschaft auf, um sie zu töten. Cal konnte sich und Mirjana nur retten, indem er mit ihr teleportierte – und ihr damit offenbarte, was er war. Mirjana war darüber mehr fasziniert als erschrocken. Doch trotz ihres Protests und der Versicherung ihrer Liebe schickte er sie weg. »Ich liebe dich auch, Mirjana«, erklärte er. »Und darum musst du gehen. Sie werden dich wegen unserer Liebe gnadenlos töten. Das könnte ich nicht ertragen. Wir dürfen uns nicht wieder sehen.« Mirjana ging und Calibor litt. Er hungerte, weil er keine andere Frau mehr haben mochte, bis er beinahe daran zugrunde ging. Und bis Mirjana plötzlich wieder vor seiner Tür stand. »Ich liebe dich, Caleb MacLeod«, erklärte sie fest. »Egal, was du bist und egal, wer hinter dir her ist. Ich werde dich freiwillig nie wieder verlassen!« Cal schloss sie in die Arme und fühlte ein unbeschreibliches Glück, das sein Herz zu sprengen drohte und ihm …
* … die Tränen in die Augen trieb. Kara weinte in den Armen ihres Vaters mit der Liebe, die er für ihre Mutter gefühlt hatte und von der sie jetzt wusste, dass er sie auch für sie und ihre Geschwister empfand. »Verzeih mir, dass ich an dir gezweifelt habe«, bat sie ihn, nach dem sie sich wieder beruhigt hatte. »Ist schon gut, Kind. Das war dein gutes Recht.« Er lächelte sie an. »Komm, lass uns nach oben gehen. Du musst unbedingt etwas essen. Solche geistigen Reisen zehren viel Energie auf.«
Er hatte Recht, Kara war immens hungrig. Diesmal zum Glück auf rein kulinarischer Basis. Nachdem sie eine riesige Portion Pfannkuchen mit Honig ver drückt hatte, die Cal als bestes ›Heilmittel für magische Nachwehen‹ bezeichnete, setzten sie sich zusammen ins Wohnzimmer. »Nun hast du deine Wurzeln kennen gelernt, Carana. Rhu’Ca war die Erste von uns. Ihr zu Ehren und zur Erinnerung an sie haben wir alle Namen, die mit ›Ca‹ beginnen.« »Ich hatte mich schon gewundert.« Kara war von der Fülle der In formationen, die sie erhalten hatte, immer noch etwas verwirrt und hatte einige Fragen. »Vater, Casdiru sagte mir, dass mein Erwachen die Dimensionen durchdrungen hat.« Auf einmal fiel es ihr nicht mehr schwer, ihn ›Vater‹ zu nennen, nachdem sie seine Gefühle geteilt hatte. »Und dass etliche Dämonen fürchten, dass wir jetzt verstärkt nach un serem Erbe greifen. Hat er damit die Zehn Mächtigen Fürsten ge meint?« Cal nickte. »Und ihre Anhänger und Untertanen. Sie werden künf tig ein scharfes Auge auf uns haben. Doch solange wir den Arrod’S ha nicht wieder zusammengesetzt haben, sind wir keine Gefahr für sie. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie uns als solche be trachten, sobald der Kristall wieder ganz ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie fürchten immer noch, dass wir dann mit seiner Macht versuchen werden, die Unterwelt zu er obern.« »Aber das haben wir doch nicht vor – oder?« »Wir nicht, Carana. Du hast die Unterwelt gesehen, aus der wir stammen. Ist das ein Ort, an dem du leben willst?« »Ganz sicher nicht!« Cal nickte. »Ich auch nicht. Wir MacLeods fühlen uns unter den Menschen ganz wohl.«
»Aber?«, hakte Kara nach, die fühlte, dass da noch etwas war. »Aber … ich fürchte, die Bashirs haben solche Ambitionen. Catu nua mit Sicherheit. Sie ist eine direkte Nachfahrin von Rhu’Cabu, mit dem das ganze Elend angefangen hat. Casdiru unterstützt sie darin und Camulai gehorcht ihr, weil er ihr Sohn ist. Ob er mit ihren Plänen einverstanden ist, weiß ich nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Noch ist es müßig, darüber zu spe kulieren. Wir haben zwar fünf der Splitter des Arrod’Sha, aber die Bruderschaft hat im Laufe der Jahrhunderte drei gefunden und gut vor uns versteckt. Wir konnten sie bis jetzt nicht aufspüren. Und wo der letzte Teil verborgen ist, wissen die Götter. Vielleicht wird es noch weitere Jahrhunderte und Generationen dauern, bis wir alle Teile gefunden haben. Falls es uns überhaupt jemals gelingt. Wir waren in der Vergangenheit schon öfter neun an der Zahl. Doch es hat nie etwas genützt, weil wir die neun Kristallsplitter nicht hatten. Solange das nicht der Fall ist, werden uns die Zehn Mächtigen Fürsten zwar im Auge behalten, uns aber nicht weiter behelligen.« »Im Gegensatz zur Bruderschaft des Reinen Lichts«, stellte Kara bitter fest. »Wenn ich das richtig verstanden habe, sind sie gar nicht hinter allen Dämonen her, sondern nur hinter uns.« Cal nickte. »Und den Menschen, die wir lieben. Darum haben sie deine Mutter ermordet und Cassilyas Mutter auch. Und sie werden genauso gnadenlos jeden töten, in den einer von euch sich irgend wann mal verlieben sollte. Nur wenn wir alle tot sind und keine Saat von uns mehr in irgendeinem Menschen oder Dämon lebt, wird die Macht des Kristalls gebrochen. Er wäre dann nur noch ein einfa cher Stein mit nicht mehr Macht als die Kristallkaraffe dort auf dem Tisch.« Er blickte seine Tochter ernst an. »Es tut mir Leid, Carana. Falls uns nicht irgendwas einfällt, wie wir ihnen das Handwerk legen können, wirst du zwangsläufig ein ziemlich einsames Leben führen müssen. Sie sind immer einundachtzig, wir nur neun. Und ohne den
Arrod’Sha ist unsere Macht begrenzt.« Kara schüttelte den Kopf. »Das ist … alles ziemlich viel«, sagte sie und fühlte sich auf einmal sehr erschöpft. »Ich muss darüber nach denken.« »Tut das. Es ist am besten, du legst dich hin und ruhst dich aus. Morgen sieht die Welt wieder ein bisschen besser aus.« Er lächelte ihr aufmunternd zu und Kara lächelte zurück. Sie hatte allerdings ganz und gar nicht das Gefühl, dass die Welt morgen oder irgendwann besser aussehen würde. Sie ging auf ihr Zimmer, ließ die Jalousien herunter und legte sich ins Bett. Doch der erhoffte Schlaf kam nicht. Stattdessen wirbelten ihre Gedanken um alles, was sie in Erfah rung gebracht hatte. Sie war erleichtert darüber, dass ihre Familie sie tatsächlich nur um ihrer selbst Willen bei sich haben wollte. So unglaublich es auch sein mochte, aber ihr Vater und ihre Geschwis ter liebten sie aufrichtig. Dämonen und Liebe – bisher hatte sie ge glaubt, dass das niemals zusammenpasste. Und nun … Doch etwas andres beunruhigte sie weit mehr. Sie konnte nicht sagen, woher sie die Gewissheit nahm, aber sie wusste, dass alle fehlenden Teile des Arrod’Sha noch zu ihren Lebzeiten gefunden werden würden. Und sie war das Zünglein an der Waage des fragi len Gleichgewichts der Kräfte. Niemand wusste, ob oder wann Cou sin Camiyu wieder auftauchen würde. Möglicherweise hatte die Bruderschaft ihn erwischt und er war bereits tot. In dem Fall musste irgendeiner der Rhu’u einen neuen Erben an seiner Stelle produzieren, damit die Neun vollzählig waren, um den Kristall zusammenfügen zu können. Kara hatte in ihrer Vision gesehen, zu was die volle Macht des Kristalls fähig war. Als Waffe eingesetzt war verglichen mit ihm selbst eine Atombombe harmlos in ihrer Zerstörungskraft. Und die magischen Kräfte, die er den Rhu’u verlieh, waren so gewaltig, dass nichts sie aufhalten konnte, wenn sich alle in ihren Zielen einig
waren. Mit dem Arrod’Sha heil und ganz in ihren Händen, konnten sie die Welt beherrschen. Wenn sie schon die Unterwelt nicht woll ten. Sie glaubte ihrem Vater, dass er und der Rest der MacLeods nicht an der Herrschaft über Welt oder Unterwelt interessiert waren. Aber mit den Bashirs sah es ganz anders aus. Wie sehr würde ihre Macht durch den Kristall gestärkt werden? In Anbetracht dessen wäre es sogar fast besser, die Bruderschaft des Reinen Lichts vollendete ihr Werk und vernichtete die Rhu’u alle. Doch Kara wollte leben! Sie hatte es sich nicht ausgesucht, als Tochter eines Inkubus und einer Menschenfrau geboren zu werden. Aber sie konnte verhindern, dass ihre dämonische Familie die Macht des Arrod’Sha in die Hände bekam. Es konnte niemals mehr als neun Rhu’u gleichzeitig geben. Warum, das war ein Geheimnis der Dämonenwelt, das nicht einmal die Familie selbst kannte. Also konnten sie ohne Kara ihre Zahl ma ximal bei acht halten. Erst wenn sie starb, konnten sie einen neunten Erben produzieren. Und wenn Kara verschwand und sich irgendwo auf der Welt vor ihnen versteckte, wurde die Heilung des Kristalls auf unbestimmte Zeit verschoben. Vielleicht kamen in jener fernen Zukunft auch noch andere Fakto ren erschwerend hinzu, so dass es noch weitere Jahrhunderte dau erte, bis die Rhu’u ihr Ziel erreicht hatten. Mit etwas Glück würde der Arrod’Sha niemals zusammengefügt werden können. Das hieß aber, dass Kara heimlich ihre Familie verlassen und sich so gut verbergen musste, dass sie nicht mehr gefunden werden konnte. Der Gedanke schnitt ihr ins Herz. Sie empfand nach den wenigen Wochen, die sie ihre Familie nun kannte, bereits eine sehr tiefe innige Bindung zu ihrem Zwillingsbruder Kyle und ihrem Vater. Sie hatte sogar ihre Halbschwester Kassandra gern. »Du wirst zwangsläufig ein ziemlich einsames Leben führen müssen«,
hörte sie wieder die Worte ihres Vaters. Genau das war ihr Schicksal, wenn sie ihren Plan in die Tat um setzte. Immer auf der Flucht, da sie aus Sicherheitsgründen nie lange an einem Ort bleiben konnte. Nie würde sie eine Familie gründen oder gar Kinder haben dürfen. Aber eine andere Möglichkeit, die Zusammenfügung des Arrod’S ha zu verhindern, sah sie nicht. Noch einmal überdachte sie alles, ging das Problem von allen Seiten an und spielte in Gedanken jede nur denkbare Möglichkeit durch. Das Ergebnis blieb immer dasselbe. Entschlossen, wenn auch mit blutendem Herzen, setzte Kara ihren Plan in die Tat um …
* »Vater, Carana ist weg!«, teilte Kyle ihm am nächsten Morgen mit. »Nicht schon wieder!«, entfuhr es Cal. Er erinnerte sich nur zu gut, was bei ihrem letzten Verschwinden unmittelbar nach ihrer Erweckung passiert war. In der Hoffnung, von der Kirche durch einen Exorzismus von ihrer dämonischen Hälfte befreit werden zu können, war sie unwissentlich schnurstracks der Bruderschaft in die Hände gelaufen. Das hatte sie fast mit dem Leben bezahlt. »Doch«, bestätigte Kyle. »Und sie plant keine Rückkehr. Sie hat das hier zurückgelassen.« Er reichte Cal einen Zettel. »Lieber Vater, Kyle, Kassandra und Kay!«, las der vor. »Ich habe lange über alles nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es nicht verantworten kann, zur neuen Erweckung des Arrod’Sha beizu tragen. Er ist ein zu gefährliches Instrument der Macht. Ich kann und werde nicht dazu beitragen, dass er aktiviert und benutzt wird. Ich gehe und kehre nie zurück. Ich werde alles, was ihr mir beigebracht habt, dazu
benutzen, meine Spur zu verwischen. Bitte, sucht nicht nach mir. Es tut mir Leid! Ich liebe euch. Aber ich kann nicht anders handeln. In Liebe«, Cal sah auf, »Carana.« Einen Moment herrschte Stille. »Verdammt!« Cal knüllte den Zettel zusammen und schleuderte ihn in die Ecke. »Tja«, erklärte Kay schnippisch, »deine Tochter ist genauso ver rückt wie ihre Mutter.« »Halt die Klappe, Cayuba!«, fauchten alle drei gleichzeitig sie an. Kay hob abwehrend die Hände. »Carana hat nur getan, was sie für richtig hält«, fügte Cal hinzu. »Aber das macht doch keinen Sinn«, wandte Kay ein. »Solange wir nicht alle Splitter haben, stellt sich das Problem doch gar nicht.« »Ich glaube, Carana hat gestern etwas wahrgenommen, das ich auch schon mal gespürt habe«, sagte Cal mit einem besorgten Gesichtsausdruck. »Dass wir alle fehlenden Teile in absehbarer Zeit finden werden.« »Das wäre ja …«, begann Kay begeistert. Cal unterbrach sie. »Im Moment ist nur wichtig, dass wir Carana wieder finden.« »Stimmt«, bestätigte Kyle. »Ich wage nicht daran zu denken, was passiert, wenn die Bruderschaft sie noch mal in die Finger be kommt.« Cal schnaufte. »Mir macht viel größere Sorgen, was mit ihr passiert, wenn sie Catunua und ihrer Brut in die Hände fällt. Suchen wir sie! Und hoffen wir, dass sie noch nicht zu gut gelernt hat, sich zu tarnen.«
*
Kara schlenderte durch das nächtliche Edinburgh. Sie hatte nicht vor, sich hier lange aufzuhalten. Sie wollte nur von der Stadt Abschied nehmen, in der sie fast zehn relativ glückliche Jahre verbracht hatte. In ihre Wohnung traute sie sich nicht zurück. Es konnte gut sein, dass die Bruderschaft sie beobachtete. Immerhin hatte der erste Angriff auf sie nur ein paar hundert Meter vor ihrer Haustür stattgefunden. Sie hatte sich noch keine konkreten Gedanken gemacht, wohin sie gehen wollte. Ins Ausland, so viel war klar. Etwas anderes blieb ihr kaum übrig. Und da man Kreditkartenzahlungen zurückverfolgen konnte, musste sie ihr Konto plündern und nur noch in bar bezah len. Irgendwo hier in der Nähe musste ein Bankautomat sein. Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich alarmiert um. Fast befürchtete sie, dass die Familie ihr Verschwinden schon bemerkt und sie aufgespürt hatte. Doch es war schlimmer! »Hallo, Kara«, sagte Jarod Kane. »Ich hatte Ihnen doch verspro chen, dass wir uns wieder sehen.« Sie verdrehte die Augen. »Sie haben mir gerade noch gefehlt! Was wollen Sie?« »Immer noch Antworten auf dieselben Fragen wie beim letzten Mal. – Ich würde Ihnen allerdings nicht empfehlen, in Ihre Wohnung zu gehen. Die wird von einem Mann observiert, der ein Mönch in Zivil sein könnte. Ich glaube nicht, dass der Ihnen Gottes Segen geben will.« »Sie sind doch bei der Polizei. Können Sie ihn nicht verhaften?« »Weswegen?«, erkundigte er sich. »Dafür, dass er in einer gebüh renfreien Zone vorschriftsmäßig parkt und den lieben langen Tag das Haus beobachtet, in dem Sie wohnen? Das ist noch kein Verbre chen. Außerdem steht gar nicht fest, ob er wirklich ein Mönch ist und ob er auf Sie wartet.« Das stimmte natürlich.
»Ich habe die Wohnung sowieso nicht mehr«, teilte Kara ihm mit. »Und was tun Sie hier mitten in der Nacht auf der Straße?« »Das könnte ich wohl eher Sie fragen. Von mir als Polizeibeamten erwartet man schließlich, dass ich auf der Straße für Sicherheit sorge. Auch wenn ich zu einer ganz anderen Abteilung gehöre.« Er fasste sie vorsichtig am Arm. »Wollen Sie mir nun meine Fragen be antworten?« Kara machte sich von ihm frei. »Und dann? Was haben Sie dann mit mir vor? Ich weiß, was Sie sind. Und ich habe schon genug Leu te auf den Fersen, die mich umbringen wollen.« Jarod blickte sie prüfend an. Sie hatte ihre dämonische Ausstrah lung, die er früher an ihr wahrgenommen hatte, gut verdeckt. Aber natürlich wusste er, was sie war. Seine Familie hatte es sich seit Generationen zur Aufgabe gemacht, das Böse in Form von Krea turen der Unterwelt zu jagen und zu vernichten. Aber er mochte Kara MacLeod und war sich noch nicht sicher, wie er sie einschätzen musste. »Also, Kara, wohin wollen Sie, wenn Sie schon nicht in Ihre Wohnung können?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich … verlasse das Land. Ich wollte nur Abschied nehmen.« »In dem Fall können Sie mir ja vorher noch meine Fragen beant worten«, beharrte er. »Hören Sie, Kara, Sie haben jetzt die einmalige Gelegenheit, mich von Ihrer Harmlosigkeit und der Ihrer Familie zu überzeugen. Also?« »Warum sollte ich das tun?«, fragte sie misstrauisch. »Weil die Jäger des Bösen in der Regel sehr genau differenzieren zwischen Kreaturen der Unterwelt, die wirklich böse sind und sol chen, die zwar der Unterwelt entstammen, aber niemandem was zu Leide tun. Letztere behalten wir zwar im Auge, lassen sie aber unbe helligt.« Sie fühlte, dass er die Wahrheit sagte und gab nach. »In Ordnung.
Was wollen Sie wissen?« »Nicht hier auf der Straße. Ich wohne nicht weit von hier. Kom men Sie. Die Pubs haben leider schon lange geschlossen.« Zehn Minuten später waren sie in Jarods Wohnung. Kara war sich bewusst, dass sie sich damit unter Umständen in Gefahr begab, doch sie nahm es in Kauf. Jarod servierte ihr einen Tee. »Echter japanischer Genmaicha«, er klärte er. »Ich glaube, der wird Ihnen schmecken.« Er schien ein Faible für Japan zu haben. An den Wänden seines Wohnzimmers hingen japanische Rollbilder, in den Regalen standen japanische Figuren und auf einem speziellen Ständer lag ein ja panisches Schwert. Kara glaubte nicht, dass es nur zur Zierde da war. Bestimmt konnte er damit umgehen. Sie hatte sich seit ihrer ersten Begegnung zu Jarod Kane hingezo gen gefühlt. Doch diese Anziehung war gepaart gewesen mit einer instinktiven Furcht. Jetzt war die Angst vor ihm verschwunden. Jarod ließ ihr Zeit, ihren Tee zu trinken und sich an die neue Um gebung zu gewöhnen. Schließlich fragte er: »Sie sind ein Sukkubus, stimmt’s?« Was eigentlich mehr eine Feststellung als eine Frage war. Kara zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts dafür. Ich bin so geboren. Und bis vor wenigen Wochen wusste ich nicht einmal was davon. Jetzt bin ich gezwungen, ein Leben zu führen, wie ich es nie gewollt habe. Alle zwei bis drei Tage muss ich mit irgendeinem Kerl schlafen, nur um am Leben bleiben zu können.« Sie sah ihm in die Augen. »Wollen Sie mich jetzt umbringen? Sie täten mir damit sogar einen Gefallen.« Jarod konnte nicht verhindern, dass er Mitleid empfand – und das war ihm noch nie bei einem Dämon passiert. »Erzählen Sie mir alles«, bat er. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« »Das wohl kaum.«
Trotzdem erzählte sie ihm in groben Zügen, was er wissen durfte, ohne dass sie damit ihre Familie in Gefahr brachte. Den Arrod’Sha erwähnte sie allerdings mit keinem Wort. Vielmehr konzentrierte sie ihren Bericht auf die Bruderschaft des Reinen Lichts und ließ es so aussehen, als sei ihre Veränderung und die Verfolgung durch die Mönche der Grund, weshalb sie das Land verlassen wollte. »Mein Vater ist sich sicher, dass die Bruderschaft meine Mutter und auch die Mutter meiner Halbschwester ermordet hat«, schloss sie ihren Bericht. »Beweisen können wir es natürlich nicht.« Jarod hatte schweigend zugehört. »Vielleicht sollte ich mir diese Bruderschaft mal genauer ansehen«, überlegte er laut. »Schließlich fällt das genau in mein Ressort. Seltsame Kulte und Ritualmorde und so. Und Sie sollten Anzeige erstatten, Kara. Immerhin haben die versucht, sie umzubringen.« Die Idee war ihr noch gar nicht gekommen. »Ich glaube nicht, dass das viel Sinn hat. Die halten doch alle zusammen und werden Stein und Bein schwören, mich nie gesehen zu haben. Und ich habe keine Beweise.« »Trotzdem werde ich mir die Brüder mal ansehen«, versprach Jar od. »Es kann nicht schaden, wenn die wissen, dass ich sie im Visier habe. Und wer weiß. Vielleicht finde ich etwas, was ich denen ganz legal am Zeug flicken kann. Wozu bin ich bei der Polizei?« Er lä chelte und Kara lächelte zurück. »Dann darf ich davon ausgehen, dass Sie nun nicht mehr vor haben, meine Familie zu – vernichten, Jarod?« Er schüttelte den Kopf. »Kara, meine Familie bekämpft und ver nichtet nur das Böse, sofern es unterweltlichen Ursprungs ist auf die eine oder andere Art. Das ist der Auftrag, den vor ein paar Jahr hunderten eine höhere Macht – wir sind überzeugt, dass es Gott persönlich war – meiner Familie gegeben hat. Aber wir haben immer Wert darauf gelegt zu differenzieren und niemals Unschul dige zu töten. Wenn es stimmt, was Sie mir über Ihre Familie erzählt
haben, richten Sie keinen Schaden an. Im Gegenteil. Und was Ihnen mit den vier Männern in Elgin passiert ist, war ein – Unfall. Den Sie wieder korrigiert haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Leider bei den ersten Fällen nicht vollständig. Ich wünschte, es wäre möglich gewesen, die Beherr schung meines … Hungers an jemandem von meiner Art zu üben. Das funktioniert aber leider nicht. Wenigstens haben alle überlebt und seit dem sechsten Versuch geht alles glatt.« Jarod sah sie nachdenklich an. »Eigentlich sind Sie und Ihre Art wie … Vampire. Nur dass Sie kein Blut saugen.« Kara schüttelte den Kopf. »Das kann man nicht mit einander ver gleichen. Wenn Menschen miteinander schlafen, erzeugen sie dabei ein gewisses Maß an Energie. Unter anderem Wärmeenergie. Aber sie können sie nicht nutzen. Sie verpufft sozusagen. Inkubi und Suk kubi dagegen können diese Energie aufnehmen, speichern und in eine Art Nahrung umwandeln. Wir leben davon genauso wie von normalem Essen. Ein erfahrener Sukkubus weiß ganz genau, wo diese frei werdende Energie aufhört und die substanzielle Lebens energie des Menschen beginnt. An dem Punkt hören wir auf.« Sie sah ihn traurig an. »Wir brauchen diese Energie zum Leben. Ohne sie können wir nicht existieren. Es ist wie … wie wenn Sie einem Menschen eine Unmenge Wasser zur Verfügung stellen, aber kein Essen. Er wird verhungern. Wenn wir nur normale Nahrung bekommen, aber keine Sexualenergie, verhungern wir genauso.« Jarod nickte. »Ich verstehe. Und ich muss zugeben, ich habe mir bisher nie die Mühe gemacht herauszufinden, wie das bei Ihrer Art funktioniert.« Er grinste entschuldigend. »Ich hatte bisher auch noch nie die Gelegenheit, einen Sukkubus direkt danach zu fragen.« Kara drehte die Teetasse in ihren Händen. Jarod schenkte ihr auf merksam nach. »Sie ahnen nicht, was ich darum geben würde, wieder ein ganz normaler Mensch zu sein«, sagte sie leise. »Ich wünschte, der Kelch
mit diesem … Gendefekt oder was immer das biologisch gesehen sein mag, wäre an mir vorüber gegangen. Mein Vater hat mir ein sehr einsames Leben prophezeit. Die einzige Familie, die wir haben, sind unsere Blutsverwandten. Aber wir werden nie eine normale Fa milie haben können. Meine Eltern haben es versucht und es hat meine Mutter das Leben gekostet.« »Und deshalb wollen Sie weg?« Kara nickte. »Unter anderem. Ich brauche Abstand. Und ich weiß nicht, ob ich mich jemals so hundertprozentig wie meine Familie daran gewöhnen werde, was ich bin. Ich habe es akzeptiert, weil es unabänderlich ist. Ich kann nicht anders, als dem Hunger nach zugeben, wenn er kommt, falls ich am Leben bleiben will. Aber ich habe im Gegensatz zu meinen Verwandten keine Freude daran. Nur die unmittelbare Freude des Augenblicks.« Sie sah ihm in die Augen und zwang sich zu einem Lächeln. »Jetzt habe ich Ihnen genug vorgejammert. Ich sollte gehen.« »Wohin? Die Flughäfen sind über Nacht geschlossen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde schon ein Hotel für die Nacht finden.« »Sie können mein Bett haben«, bot er spontan an. »Ich schlafe auf der Couch.« Sie sah ihn überrascht an. »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?« »Sonst hätte ich es nicht gesagt. Also? Nehmen Sie an?« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich … sind Sie ein Feind. Ein Jä ger. Ich hätte nicht mal mit Ihnen nach Hause gehen dürfen.« »Aber Sie sind hier. Und morgen ist immer noch Zeit genug zu ge hen. Außerdem haben wir doch gerade Waffenstillstand ge schlossen. Oder nicht?« Sie nickte ergeben und stand auf. »Also gut. Ich gebe zu, ich bin viel zu müde, um jetzt noch irgendwohin zu gehen.« In diesem Moment meldete sich der Hunger mit Macht.
»Oh nein!«, stöhnte sie. »Nicht jetzt!« Jarod spürte, dass sich etwas an ihr veränderte, fühlte den Sog, der plötzlich von ihr ausging. Zum ersten Mal bedauerte er, dass seiner Familie eine Immunität gegen solche Manipulationen und Illusionen gegeben war. Er hätte zu gern gewusst, in welcher Gestalt sie ihm erschienen wäre. Wahrscheinlich als Japanerin. »Ich muss gehen!«, erklärte sie gequält und wollte an ihm vorbei zur Tür. Er hielt sie zurück. »Ich glaube nicht, dass Sie um diese Zeit draußen noch jemanden finden, der Ihren Hunger stillt«, sagte er und fügte mit einem schiefen Grinsen hinzu: »Ich wäre ein schlech ter Gastgeber, wenn ich Sie hungrig gehen ließe, Kara.« »Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen!«, protestierte sie. Da hatte sie verdammt Recht. Vielleicht war er doch nicht ganz immun gegen ihre Sukkubus-Magie, aber er wollte sie. Hier und jetzt. »Ich denke, das werde ich gleich herausfinden«, beharrte er. Ein Teil seines Gehirns teilte ihm unmissverständlich mit, dass er ein Vollidiot war und hier gerade ein sehr gefährliches Spiel spielte. Er ignorierte diesen Teil und nahm Kara in die Arme. Sie gab nach. Und das Schlafzimmer schien auf einmal unendlich weit entfernt zu sein …
* Als Jarod am nächsten Morgen erwachte, war er allein mit seinen Erinnerungen an die wunderbarste Liebesnacht seines Lebens. Kara MacLeod war verschwunden … Fortsetzung folgt